HELMUT BERVE
Die Tyrannis bei den Griechen ERSTER BAND
DARSTELLUNG
Komm. f. Alte Ge�chichic
u.
t;:.igrophik
deI Deut$chen Ar,-häo:ogischen Instituts
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG MÜNCHEN 1967
Umsehlagentwurf von ChristI Kreutner, Landshut © '967 C. H. Beck'sehe Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), Mündlen Gesamtherstellung Graphisehe Werkstätten Köse], Kempten Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
ERSTER BAND IX
VORWORT .
ERSTER TEIL DIE ÄLTERE TYRANNIS EINLEITUNG. DAS AUFKOMMEN DER TYRANNIS
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3
ERSTES KAPITEL. DAS MUTTERLAND AUSSER ATHEN I. Die Kypseliden von Korinth Kypselos 15 Periandros 1 9 11. Die Orthagoriden von Sikyon Kleisthenes 2 7 II I . Theagenes von Megara . . . I V. Die Peloponnes . . . . . . V. Mittel- und Nordgriechenland
33 34 37
ZWEITES KAPITEL. ATHEN I . Die Zei t vor Peisistratos . 11. Peisistratos . . . . . . BI. Die Söhne des Peisistratos
DRITTES KAPITEL. INSELN UND NORDKÜSTE DER ÄGÄIS . I. I nseln .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Die thrakische Chersones. . . . . . . . . . . . . . .
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III. Persische Vasallentyrannen in Thrakien und an den Meerengen.
VIERTES KAPITEL. DIE WESTKÜSTE KLEINASIENS .
I. Aiolische Städte 1. Festland . 2. Lesbos. . H.I onische Städte 1. Festland .
a) Erythrai 96 b) Kolophon 97 c) Ephesos 98 d) Milet 100
2 . Inseln . . . .
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106
a) Chios 106 b) Samos 107 Polykrates 107 Tyrannen nach Polykrates 11 4 3. Charakter der Tyrannis in I onien . . . . HI. Dorische Städte . . . . . . . . .. . . . . .
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116 118
Inhaltsverzeichnis
VI
12)
FÜNfTES KAPITEL. KYPROS UND KYRENE
1 2) 1 24
Kypros I. H. Kyrene. . ... . ... .
SECHSTES KAPITEL. SIZILIEN
128
I . Leontinoi ..... . . II . Akragas . . .. . . .. PhaIaris 1 2 9 Theron 1) 2 III. Selinus ........ I V. GeIa .. .. . ... . Hippokrates 1) 7 Gelon 1 40 V . Syrakus . . ..... . . GeIon 1 4 2 Hieron 1 47 Ende der Tyrannis auf Sizilien. VI.
1 29 12 9 1) 6 1) 7 142 15 2 155
SIEBENTES KAPITEL. UNTERITALIEN
155 15 8 15 9 1 60
I. Rhegion ..... . . . .. I I . Städte am Tarentinischen Golf. I II . EIea . . . . . . ... ... I V. Kyme . .
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. .. . . . .
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ACHTES KAPITEL. DIE HISTORISCHE FUNKTION DER ÄLTEREN TYRANNIS
1 64
Z W EITER TE IL D AS F Ü N F T E J A HRHUNDERT
ERSTES KAPITEL. NACHfAHREN DER ÄLTEREN TYRANNIS . I . Athen ....
. ...
1 71 171 176 1 81 1 86
II . Sparta. . . . . . . . .. II I. Das übrige Griechenland . . I V . Die griechischen Randgebiete
ZWEITES KAPITEL. DER TYRANN IM URTEIL DES fÜNfTEN JAHRHUNDERTS DRITTES KAPITEL. VORLÄUFER DER JÜNGEREN TYRANNIS
1 90
207 208
I. Athen . II. Sparta . I II. Sizilien
212
215 DRITTER TEIL DIE JÜ N G E R E TYR A N N I S
ERSTES KAPITEL. SIZILIEN UND UNTERITALIEN
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I. Dionysios I.. .. . ... . . 1. Die Errichtung der Tyrannis..... . 2. Die Begründung der Territorialherrschaft .
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a) Sizilien 22 7 b) Italien und Adria 233
). Art und Form der Tyrannis .... .
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a) Syrakus 236 b) Das übrige Herrschaftsgebiet 245 c) Das Verhältnis zum griechischen Mutterland 247
Familie und Hofhalt .... 4. 5· Persönlichkeit und Leistung.... . . . . ..
221 222 222
22 7
V II
Inhaltsverzeichnis 11. Dionysios II. und gleichzeitige Tyrannen .
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260 260 272
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Dionysios II . bis zu seinem Sturz durch Dion. 2. Sizilische Tyrannen um die Jahrhundertmitte :J:.
ZWEITES KAPITEL. DAS MUlTERLAND .
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283
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283
. . . . . .. . .. . . . . Jason von Pherai 285 Alexandros von Pherai 290
1. Thessalien
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Tyrannen um die Jahrhundertmitte 293
296 296
11. Mittelgriechenland . . . Phokis 2. Ozolj,sches Lokris . 3. Theben L
299 299 300
4. Euboia
303 304
5. Athen III. I sthmos und Peloponnes
DRITTES KAPITEL. NORDÄGÄIS UND PONTOS EUXEINOS
3:1:0
1. Das Gebiet der Meerengen . . . . . . . . . . . .
3:1:0 3:1:5
II. Herakleia am Pontos. . Klearchos 3:1:5 Satyros und Timotheos 3:1:9 Dionysios 320 Nachfolger des Dionysios 322 .
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III. Der Kimmerische Bosporos . . . . . . . . . . . . Satyros 324 Leukon 325 Pairisades und seine Söhne 328 .
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VIERTES KAPITEL. DIE WESTKÜSTE KLEINASIENS
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1. Mysien und Aiolis.. . ....
323
332 332
Hermeias von Atarneus 332 II .I onien. . . . . .
335 336
IIr. V orgelagerte I nseln . . :J:. Lesbos. . ... . 2. Chios und Rhodos . IV . Karien und Lykien. Nichtlokalisierbarer Tyrann
336 338 339
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34:1:
FÜNFTES KAPITEL. KYPROS UND KYRENE
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SECHSTES KAPITEL. DER TYRANN IM URTEIL DES VIERTEN JAHRHUNDERTS
1. Allgemeine Einstellung zur Tyrannis . . . .. II. Das Bild der reinen Tyrannis . . . . . . . . III. Der Tyrann und das Bemühen um seine Bildung SIEBENTES KAPITEL. DIE HISTORISCHE FUNKTION DER JÜNGEREN TYRANNIS .
VIERTER TEIL D I E TYRA N N I S IN H ELLENI S T I S CHER ZEIT
ERSTES KAPITEL. DAS MUTTERLAND UND MAKEDONIEN .
1. Die Zeit der Diadochen (323--276) :1:. Athen ....... 2. Das übrige Griechenland 3. Makedonien .....
343 343 352. 360 373
Inhaltsverzeichnis
VIII
393 393 396
11. Die Zeit der Antigoniden (276-168) 1. Sikyon 2. Argolis . 3. Arkadien
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4°0
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5 . Sparta I II . Die Zeit der römismen Herrsmaft (168 bis Augustus) 1. Athen. . . . . . . . . . . . . . 2. Sparta. .
41 7
ZWEITES KAPITEL. DER GRIECHISCHE OSTEN .
1. Die Zeit der Diadomen (323-281 )
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417 424
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11. Die Zeit des Seleukidenreimes (281 -66) 1. Kleinasien 2. Kyrene
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424 .
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3. Vorderer Orient. . . . . . . . III. Die Zeit der römismen Herrsmaft (66 bis Augustus) .
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DRITTES KAPITEL. DER GRIECHISCHE WESTEN . 1. Agathokles .. . . 11. Tyrannen nam Agathokles' Tod .
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. . . . . III. Hieron Ir. . . . . .. . . I V. Hieronymos . . . .. . .. . . . . . . . . . . . •
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VIERTES KAPITEL. DER TYRANN IM URTEIL DER HELLENISTISCHEN ZEIT
1. Die allgemeine Beurteilung 11. Das Bild des Tyrannen •
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III. Der Tyrann in der Literatur . 1.Dimtung 2. Gesmimtssmreibung 3· Philosophie .. . . 4· Rhetorik . .
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�
405 41 2 41 2 415
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431 432 435 441 441 45 8 462 471 476 476 482 484 485 488 493 498
V O RW O R T
Ein Werk über die Tyrannis bei den Griechen bedarf in heutiger Zeit weder wissen schaftsgeschichtlich noch hinsichtlich der aktuellen Bedeutung des Gegenstandes besonderer Rechtfertigung. Mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seit die einzige zusammenfassende Behandlung des gesamten Komplexes, das Buch «Die Tyrannis in ihren beid�n Perioden bei den alten Griechen» von H. G. PIaß erschien. Es fußte auf dem damals bekannten Quellenbestand und entsprach in Problemstellung, Me thode und Wertmaßstäben den um die Mitte des :19. Jahrhunderts geltenden Maxi men und Urteilen. Eine eigene Note zeigte es nicht, geschweige daß es nach For schung und Darstellung zu den bedeutenden Leistungen der Altertumswissenschaft jener Jahrzehnte zu rechnen wäre. Schon längst war daher eine neue Bearbeitung des großen Themas, das sich durch die ganze griechische Geschichte von der archa ischen Epoche bis zum Ende der großen hellenistischen Reiche zieht, erwünscht, zumal da inzwischen durch die Arbeit der Gelehrten mancherlei neues Material zutage gefördert wurde und früher unbekannte Aspekte sich aufgetan haben. Es fehlt denn auch weder an feinsinnigen Einzeluntersuchungen, an monographi schen Behandlungen einiger Tyrannen oder Skizzen der Tyrannenherrschaften in vorklassischer Zeit noch an Versuchen, die politische Form der griechischen Ty rannis zu bestimmen. Da diese aber nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch nach Charakter, Leistung und Schicksal ihrer Träger verschiedene Gesichter zeigt, ist es für das rechte Verständnis der Gesamterscheinung und ihrer Geschichte unerläß lich, alle uns bekannten Tyrannen zu mustern und, soweit die überlieferung es gestattet, ihr Aufkommen und ihre Stellung zum Gemeinwesen, ihre Persönlich keit und ihr Wirken sowie ihre historische Funktion zur Darstellung zu bringen. Der Versuch, dieser Aufgabe in ihrer ganzen bunten Fülle gerecht zu werden, der in dem vorliegenden Buche gewagt wird, darf im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts und eigenes Erleben des Interesses weiterer Kreise gewiß sein. Eben deshalb jedoch soll gleich hier vor einer kurzschlüssigen Gleichsetzung von antiker Tyrannis und moderner Diktatur gewarnt und auf die trotz frappierenden Ähnlichkeiten bestehenden wesentlichen Unterschiede hingewiesen werden, wie dies schon Jules Monnerot in seiner «Sociologie du Communisme» vor Jahrzehnten getan hat. Sie liegen weniger in den größeren Dimensionen und der Kompliziert heit moderner Verhältnisse als darin, daß der griechische Tyrann nicht Träger so zialer, politischer, nationaler oder quasireligiöser Ideen, sondern gewissermaßen nur Individuum ist. Seine Herrschaft dient im wesentlichen der Behauptung und
x
Vorwort
dem Ausbau einer persönlichen Machtstellung. Sie kennt trotz grausamen Siche rungsmaßnahmen und Willkürakten keinen fanatischen Gewissenszwang, kein grundsätzliches Durchdringen der privaten Lebenssphäre der Bürger. Sie ist, mit einem Worte gesagt, nicht totalitär. Darf es vorerst bei diesem sehr allgemeinen Hinweis sein Bewenden haben und alles Nähere der folgenden Darstellung über lassen bleiben, so ist es andererseits doch nötig, vorher mit wenigen Worten zu sagen, was die Griechen selbst unter Tyrann und Tyrannis verstanden. Denn nur ihre Auffassung kann das Kriterium dafür abgeben, ob oder wieweit eine Per sönlichkeit in diesem Buche zu behandeln ist oder nicht. Nun hat zwar der poli tische Tyrannenbegriff der Hellenen, um den es hier geht, im Laufe des ersten Jahrtausends v. ehr. gewisse Nuancierungen erfahren, ist aber im wesentlichen trotz manchem Mißbrauch doch der gleiche geblieben, so daß aufs Ganze ge sehen die in klassischer Zeit gegebene Definition durchgehend gelten kann. Sie besagt, daß Tyrann ist, wer ohne Verankerung im Nomos und ohne Bindung an ihn gegen den Willen der Bürger eigenmächtig und zu eigenem Nutzen die Herrschaft ausübt. Damit ist der fundamentale Gegensatz aufgezeigt, in dem der Tyrann schon zu den Ordnungen und Bräuchen der Adelsgesellschaft, vol lends aber zum Rechtsstaat der ausgebildeten Polis steht. Denn der Tyrann ist der Gegenspieler der Polis. Seine illegale, letztlich auf Gewalt ruhende Herrschaft erstreckt sich im allgemeinen über einen oder mehrere Stadtstaaten, selten und nur in späterer Zeit über einen Stammstaat, da dieser in seiner lockeren Struktur kaum jene Art von inneren Spannungen zeitigt, welche das Aufkommen von Tyrannen begünstigt. Daß ein regelrecht gewählter Oberbeamter, mag er noch so große Be fugnisse besitzen und sie rücksichtslos gebrauchen, ebensowenig den Tyrannen zu zuzählen ist wie ein legitimer, aber harter König, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Erst das Mißachten und überschreiten der ihnen verliehenen Kompe tenzen läßt sie zu Tyrannen werden, wie andererseits illegale Machthaber nicht darum weniger Tyrannen sind, weil sie sich ihrer Gewalt mit Maß und Milde be dienen. Dieser politisch-staatsrechtliche, nur im Sinne der Staatsethik moralische Begriff ist es, der einer Geschichte der Tyrannis bei den Griechen zugrunde zu legen ist. Wollte man die individualethische Wertung zum Kriterium nehmen, wie sie seit der Sophistenzeit häufig für den Gebrauch der Worte «Tyrann» und «Tyran nis» bestimmend war, so müßte das politische Phänomen der Tyrannis, das in der griechischen Geschichte eine so bedeutende Rolle spielt, sich verflüchtigen. Die Scheidung von älterer und jüngerer Tyrannis hat der Verfasser nicht deshalb sich zu eigen gemacht, weil sie - mindestens in Deutschland - seit mehr als einem Jahrhundert eingebürgert ist, sondern wegen ihrer historischen Berechtigung. Sind doch die beiden Tyrannisperioden nicht zufällig durch eine tyrannenlose, zwei Ge nerationen dauernde Zeit getrennt und sowohl in ihren geistigen und politischen,
Vorwort
XI
ökonomischen und sozialen Voraussetzungen wie in Art, Form und Wirkung der Herrschaftsgebilde verschieden. Die Tyrannis des hellenistischen Zeitalters in einem eigenen Hauptteil zu behandeln, schien im Hinblick auf die seit Alexander völlig veränderte Weltlage sowie wegen der Überschattung der griechischen Stadt staaten durch die neuen Königreiche und wegen des Einflusses, den diese auf Ent stehen, Bestand und Erscheinungsbild der Tyrannenherrschaften ausübten, gebo ten. Innerhalb der Hauptteile ist der Stoff, mit Ausnahme der dem Tyrannenbild gewidmeten Kapitel, geographisch angeordnet, wodurch sinnvolle Zusammenfas sungen ermöglicht werden und den verschiedenartigen Ausprägungen der Tyrannis in den zentralen, östlichen und westlichen Siedlungsgebieten der Griechen besser Rechnung getragen werden kann. Dargeboten wird nach Möglichkeit alles, was über Tyrannen und Tyrannis bei den Hellenen überliefert ist oder mit Vorsicht er schlossen werden kann. Dabei sind jedoch die von Tyrannen geführten militäri schen Operationen, soweit sie nicht für den betreffenden Gewalthaber als solchen charakteristisch sind, nur summarisch, ohne Eingehen auf strategische Einzelheiten, behandelt. Die Absicht des Autors, das Material zur griechischen Tyrannis mög lichst vollständig darzubieten, bringt es andererseits mit sich, daß auch Tyrannen Erwähnung finden, von denen nur der Name oder ein Einzelzug bekannt ist, und daß selbst geringe Spuren von Maßnahmen zur Verhütung einer Tyrannis oder zur Bestrafung gestürzter Tyrannen und ihrer Helfer berücksichtigt werden. Gleich wohl ist versucht worden, nicht bloß eindrucksvolle Tyrannenpersönlichkeiten zu schildern, sondern durchgehend sowohl von den zahllosen Gestalten und Vorgän gen wie von der geistigen Auseinandersetzung mit der Tyrannis eine Darstellung zu geben, die auch den nichtfachwissenschaftlichen Leser anzusprechen vermag. Der erste Band, der diese Darstellung enthält, ist deshalb bewußt von Anmerkungen oder auch nur Hinweisen auf Anmerkungen freigehalten worden. Den wissen schaftlichen Unterbau bringt der zweite Band, dessen Anlage genau derjenigen des ersten entspricht. In ihm nehmen die Überschriften der Kapitel- und Unterteile auf die ebenso benannten Partien des ersten Bandes, die Stichwörter auf die dort er wähnten Einzelerscheinungen Bezug, so daß jeweils die entsprechenden Quellen angaben und die etwa vorhandene Spezialliteratur unschwer zu finden sind. Anschließend sei ein Wort zur Benutzung und Verwertung der Quellen und zur Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Forschung gesagt. Die antike Tradition über die griechischen Tyrannen ist ganz überwiegend ihnen feindlich und häufig tendenziös, so daß ihr gegenüber von vornherein Vorsicht am Platze ist. Zudem macht die wahllose Verwendung von Elementen einer schon früh ausgebildeten Tyran nentypologie und die Neigung zu novellistischer oder dramatischer Ausgestaltung nicht wenige Erzählungen, im besonderen solche, die sich erst bei späten Autoren finden, suspekt. Wieweit ein Bericht der historischen Wahrheit entspricht, wie-
xr1
Vorwort
er diese entstellt oder gar rein Erfundenes, wenn auch oft Wiederholtes, bietet, weit � daher bei unserem Thema noch schwieriger zu bestimmen als sonst. Moderne ISv �ellenanalysen, an denen es für die erhalte�en Ges� hichtswerke des Altertums Q . der Versu . /'ht fehlt, leisten zwar an manchen Stellen HIlfe, erlIegen aber leIcht nl .... zu wollen, als sich beim Verlust der Primärberichte festng, mehr feststellen ch-o "",Hen läßt, oder laufen Gefahr einer Hyperkritik zu verfallen, mit der manches stv "-stört und wenig gewonnen wird. In einem Werk wie dem vorliegenden, das ze -'" ne mehr oder weniger subjektive Auswahl bieten will, scheint es daher angeei k sich nicht in unsichere Thesen über Herkunft und Wert der Überlieferung �cht, br verlieren und Erzählungen nur dann zu verwerfen, wenn ihre Unglaubwürdig zu. t auf der Hand liegt oder erwiesen werden kann. Es sind dementsprechend nicht kei ß die einigermaßen zuverlässigen, sondern auch zweifelhafte Angaben berück lO b tigt, mindestens mitgeteilt worden. Positive Züge an Tyrannen, etwa ein Wir ich s zu Nutzen und Gedeihen des Gemeinwesens, sind bei den antiken Autoren in keß ge der erwähnten Tendenz wenig zu finden und auch durch Quellenanalyse oder fol i e möglichst unbefangene Würdigung unbestrittener Tatsachen nur selten mit e fl iger Sicherheit festzustellen. Der Verfasser hat sich daher auch hier bloßer Hy eifl othesen enthalten und allgemein darauf verzichtet, Lücken der Überlieferung p quellenmäßig nicht oder ungenügend fundierte Vermutungen zu schließen, dv!ch in der Forschung gerade dort zu wuchern pflegen, wo die Tradition ganz dürftig die st- Schon die Besinnung darauf, wie wenig wir - selbst bei relativ reichem Quel i flbestand - wissen können, wie vielfach und schillernd andererseits die Mög le ichkeiten der Motive und Reaktionen, der Sachverhalte und Vorgänge samt ihren l Atlswirkungen sind, sollte vor kühnen Kombinationen zurückhalten, mag auch .
die Neigung zu ihnen in einer Zeit, der kaum noch neue Quellen zufließen und die dilher alte, vielbehandelte Probleme immer wieder aufgreift, verständlich sein. Aus n alle diesen Gründen wird im Anmerkungsbande auf Argumente anderer Gelehr welche die von uns gegebene Darstellung in Frage stellen könnten, des näheren et, t
nV! dann eingegangen, wenn auf Grund der Quellenlage Probleme zur Debatte stehen, welche für die Tyrannis als solche oder für Geschichte und Beurteilung ein zelner Tyrannen wesentlich sind. Der Autor ist darauf gefaßt, daß seinem Buch
der Vorwurf eines rückständigen Positivismus gemacht werden könnte. Er wird
sich damit abfinden in der Hoffnung, auf seine Weise der Wissenschaft den Dienst g el eistet zu haben, dessen sie, was die Erforschung der Tyrannis bei den Griechen betrifft, heute bedarf .
Bechendorf am Pilsensee i
y11 Mai 1967
Helmut Berve
ERSTER TEIL
DIE ÄLTERE TYRANNIS
EINL E ITUNG
D A S AU F KO M M E N D E R TY R AN NI S «Tyrannos» ist kein griechisches Wort. Wenn man es im Altertum mit den Tyrrhe
nern, einem der vorgriechischen Völker des östlichen Ägäisraumes, in Zusam
menhang brachte, so haben moderne sprachwissenschaftliche Untersuchungen
dieser Beziehung insofern recht gegeben, als sie seine Herkunft aus vorgriechischer
oder asiatischer Wurzel wahrscheinlich machen konnten. Daß im besonderen der
kleinasiatische Sklavengott Men den Beinamen Tyrannos führte, weist in dieselbe
Richtung. Ursprünglich war die Bedeutung des Wortes wohl eine recht allgemeine,
nämlich «Herr», doch mag der Begriff des Despotischen von vornherein mit im
Spiele gewesen sein. Daß in den homerischen Gedichten die Bezeichnung «tyran nos» nicht vorkommt, wie schon der Sophist Hippias von Elis bemerkte, ist kein Beweis dafür, daß die Griechen den Ausdruck erst später von einem fremden
Volk, etwa den Lydern, übernommen hätten; er könnte in der Umgangssprache,
die gewiß viele Lehnwörter enthielt, geläufig gewesen sein. Für das letztere spricht
einmal, daß er niemals titular für einen Fürsten gebraucht wurde, sondern den
Herrn aus der Sicht des Geknechteten, mindestens mit Knechtung Bedrohten, cha rakterisierte, zum anderen, daß er zum ersten Male schon bald nach Homer bei
dem revolutionären Archilochos von Paras erscheint. Der Dichter spricht von dem
Reichtum des Lyderkönigs Gyges, nach dem er ebensowenig verlange wie nach einer großen Tyrannis, wobei es nicht ganz sicher ist, ob er mit dieser Tyrannis die
Herrschaft des Gyges meint. So bleibt als Wichtigstes, was seine Verse lehren, die
Tatsache, daß man in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts nicht nur einen Macht
haber als Tyrann bezeichnen konnte, sondern daß es auch den Begriff der Tyrannis
gab. über den Inhalt dieses Begriffes geben freilich weder jene Worte noch ein auf
Papyrus zutage gekommenes Archilochos- Fragment, das ebenfalls von Tyrannis
zu sprechen scheint, Auskunft; höchstens eine gewisse negative Wertung, nicht frei
von Neid, ließe vielleicht sich spüren. Sie findet zwei Menschenalter später einen sehr viel schärferen und deutlicheren Ausdruck in Gedichten des streitbaren Les biers Alkaios, der wutentbrannt feststellt, seine Landsleute hätten den Pittakos
«als Tyrannen eingesetzt». Kein Zweifel, daß dem Dichter das Wort dazu diente,
den Mann, dem durch Wahl zum Aisymneten diktatorische Vollmachten übertra gen worden waren, als schrankenlosen Gewalthaber hinzustellen.
Dem entspricht der Gebrauch des Wortes in den etwa gleichzeitigen Gedichten
4
Das Aufkommen der Tyrannis
Solons, nur daß sie nicht von blindem Haß gegen einen bestimmten Mann dik tiert sind, sondern in grundsätzlicher Stellungnahme zum ersten Male eine klare Begriffsbestimmung geben: Tyrann ist ein adliger Herr, dessen Gier nach Reich tum und Herrschaft ihn dazu verführt, das Gemeinwesen zu vergewaltigen, über seine Mitglieder hemmungslos zu gebieten und sie brutal zu knechten. Sein leidenschaftliches Verlangen läßt ihn die Grenzen nicht sehen, die dem Menschen gesetzt sind; er verfällt der Hybris. Einer rechten Ordnung des öffentlichen Le bens (Eunomie) steht er mit seinem radikalen Egoismus als Feind entgegen. Seine Herrschaft ist ungesetzlich, daher wird ihn wie alle, welche die ehrwürdigen Sat zungen mißachten, Dike, die Wahrerin des Rechtes, treffen. Zwar eilt Solon, der prophetisch den Rechtsstaat verkündet und seine Verwirklichung anbahnt, der Zeit voraus, aber die adligen Herren in den noch wenig konsolidierten Gemein wesen verbinden mit dem Wort Tyrann ähnliche Vorstellungen. Für sie, die zu meist gern selbst eine solche Machtstellung gewinnen möchten, ist vor allem die Tatsache, daß ein Mann ihres Standes sich die Herrschaft über sie anmaßt, er bitternd, weniger die Verletzung der Rechtsordnung, mag von ihnen ange sichts drohender Tyrannis auch auf diese warnend hingewiesen werden. In der unter dem Namen des Theognis überlieferten Gedichtsammlung, die vom Geist der Aristokraten des 6. Jahrhunderts zeugt, wird denn auch die Tyrannis kaum anders charakterisiert als von Solon. Gewinnsucht, Machtgier, Gesetz losigkeit, Hybris sind die Kennzeichen des «volksverzehrenden» Tyrannen. Auch die Neigung, sich durch Entfaltung eines die Sitte verletzenden Prunkes sinn fällig über die Standesgenossen zu erheben, gehört zum Bild eines solchen Ge walthabers. «Nur ein Tyrann oder Szepterträger», sagt Solons Zeitgenosse Semo nides, «glänzt wie eine geputzte Frau.» Sowohl von der Basis der Adelsgesell schaft wie namentlich von der des sich mehr und mehr festigenden Gesetzesstaates aus sah man als Tyrann denjenigen an, der eine von ihm errungene oder ihm zugefallene Machtstellung ohne Rücksicht auf Standessolidarität, Sitte und Sat zungen zu eigenem Nutzen und zur Unterdrückung anderer, im besonderen des heimischen Gemeinwesens, mißbrauchte. Den Sieben Weisen und anderen Män nern des 6. Jahrhunderts, die als Mahner zur Vernunft, zu Maß und Ge setzlichkeit galten, sind später Aussprüche zugeschrieben worden, die ironische oder abfällige Urteile über Tyrannen enthielten, etwa daß es erstaunlich sei, einen alten Tyrannen zu treffen, womit auf die Kurzlebigkeit der Gewaltherrschaft hin gewiesen wurde, oder daß der Umgang mit Tyrannen entweder möglichst selten oder möglichst genußreich sein solle. In dem weisen Spartaner Cheilon, der um 560/56 Ephor war, sah man geradezu einen Vorkämpfer gegen Tyrannis, und sogar dem Tyrannen Periandros konnte, da man ihn zu den Sieben Weisen zählte, das Wort in den Mund gelegt werden, Demokratie sei besser als Tyrannis.
Der Begriff «tyrannos» in archaischer Zeit
5
Derartige Zuweisungen bewahrten die Erinnerung daran, daß die legalistische Strömung der spätarchaischen Zeit, die in jenen Männern verkörpert schien, gegen die Tyrannis gerichtet war. Nicht erst der Geist der reifen Polis des 5. Jahr hunderts hat dem Wort «tyrannos» den schlimmen Sinn gegeben. Dieser ist ihm bis zu einem gewissen Grade von Anfang an eigen gewesen und um so schärfer ausgeprägt worden, je tiefer eine erstarkende Staatsgesinnung die Ungesetzlich keit der Tyrannis empfand. Der affektbestimmte Gebrauch des Wortes hat seine Verwendung als Titel ausgeschlossen. Auch konnte es nicht den legalen Amtsträger eines Gemein wesens bezeichnen, weil dieser ja eine Ordnung repräsentierte, deren Verletzung für den Tyrannen charakteristisch war. Alkaios' Äußerung über die Einsetzung des Pittakos als Tyrannen entstellt mithin den wahren Tatbestand der legalen Berufung zum Aisymneten. Zwar hat die dem Aisymneten zugebilligte außer ordentliche Gewalt den Aristoteles später von einer «gewählten Tyrannis» spre chen lassen, was ähnlich auch für die großen Gesetzgeber (Nomotheten) der archa ischen Zeit oder für den zum «Versöhnen> bestellten Solon gelten könnte, doch betont er, obwohl er sich auf Alkaios beruft, ausdrücklich die Gesetzlichkeit und damit den «königlichen» Charakter des Amtes. «König über die große Mytilene» wurde Pittakos schon früh in einem lesbischen Volkslied genannt, wie denn seine quasimonarchische Stellung von den ihm freundlich Gesinnten als eine Art von Königtum, von seinen erbitterten Feinden dagegen als Tyrannis empfunden wer den konnte. Weniger gefühls- und wertbetont als «tyrannos» war das Wort «monarchos», wenngleich auch ihm nach Beseitigung des alten Königtums in den meisten griechischen Gemeinwesen etwas Negatives anhaftete, zumal da es nun mehr in Hellas Monarchen fast nur noch als Tyrannen gab. Solon und Theognis meinen dementsprechend, wenn sie von einem monarchos sprechen, einen Tyran nen. Schon dies muß davor warnen, nur dort eine Tyrannis als gegeben anzu sehen, wo sich in der überlieferung das Wort «tyrannos» bzw. «tyrannis» findet. Es kann vielmehr gerade in früher Zeit eine echte Tyrannis auch anders als durch Gebrauch des Wortes gekennzeichnet werden, etwa indem die brutale Macht (Kratos) eines einzelnen Mannes hervorgehoben wird, wie es hinsichtlich eines Leophilos durch Archilochos geschieht. Es wäre möglich, daß es sich da um einen Tyrannen handelt, ja daß der scheinbare Eigenname Leophilos (Volks freund) nichts ist als eine höhnische Bezeichnung für einen uns unbekannten Machthaber, der als Vergewaltiger seines Gemeinwesens «Volksfeind» heißen sollte. Anderer seits gibt, wie das Beispiel des Alkaios zeigt, die Verwendung des Wortes «tyran nos» noch keine Gewähr dafür, daß wirklich eine Tyrannis bestand. Unter sol chen Umständen und angesichts des Mangels an zuverlässigen zeitgenössischen Angaben ist in manchen Fällen kaum auszumachen, ob oder wieweit wir es mitTy-
6
Das Aufkommen der Tyrannis
rannis im Sinne der ungesetzlichen, einem Gemeinwesen aufgezwungenen Allein herrschaft eines Einzelnen zu tun haben. Für das Aufkommen von Tyrannen hat Aristoteles rückschauend vier Arten feststellen zu können geglaubt: daß Demagogen sich durch Verleumdung der Vornehmen zum Herrn der Polis aufwerfen, daß Könige sich über die väterlichen Satzungen hinwegsetzen und despotisch regieren, daß Inhaber höchster Wahl ämter diese zur Errichtung einer Tyrannis mißbrauchen, daß in Oligarchien einem Mann die wichtigsten Herrschaftsfunktionen übertragen werden. Während die erste, bei weitem häufigste Art erst Platz gegriffen habe, als die Städte gewachsen waren - mindestens für Korinth ist dabei an die Mitte des 7. Jahrhunderts gedacht -, gehörten die zweite und dritte in frühere Zeit, als die meisten Gemein wesen noch unter Königen standen oder nach deren Sturz die höchsten Wahl ämter noch keine Jahresämter waren, ihre Inhaber vielmehr längere Zeit fungier ten. Die vierte Art, bei der offenbar an die Bestellung von Gesetzgebern, «Ver söhnern); oder Aisymneten gedacht ist, wird zeitlich nicht fixiert, doch ist uns die Betrauung mit solchen außerordentlichen Ämtern aus dem 7. und 6. Jahr hundert hinreichend bekannt. In dieser Reihe nimmt das Entstehen der Ty rannis durch Entartung des Königtums insofern eine Sonderstellung ein, als hier die Alleinherrschaft nicht usurpiert wird, sondern bereits besteht. Wenn gleich wohl das entartete Königtum als Tyrannis bezeichnet wird, so zeigt sich, daß für Aristoteles - und, wie wir sehen werden, nicht erst für ihn - die Usurpierung der monarchischen Gewalt nicht unbedingt zum Begriff der Tyrannis gehörte, der vielmehr durch Verachtung der überkommenen oder gesetzlich festgelegten Ord nung determiniert war und nur insofern die Usurpation miteinschloß. Es ist denn auch kein Zeugnis aus dem griechischen Altertum bekannt, das sie als entschei dendes Merkmal nennt. Immerhin nimmt das Entstehen einer Tyrannis aus dem Erbkönigtum neben den anderen Entstehungsarten eine Sonderstellung ein. Dies und der Umstand, daß die Erscheinung sich in der Poliswelt mit Ausnahme von Sparta, Argos und Kyrene nur zu einer Zeit einstellen konnte, die derjenigen der älteren Tyrannis vorausliegt, mag es rechtfertigen, wenn schon hier Beispiele aus der frühen Epoche zur Sprache kommen. Aristoteles kennt mehrere Fälle, nennt aber mit Namen nur den König Phei
don von Argos, dessen Regierung wahrscheinlich um die Mitte des 8. Jahrhun derts anzusetzen ist. Ihn hatte schon Herodot als Tyrannen bezeichnet. Es han delt sich also nicht um eine Bestimmung, die erst im Banne der von der spä teren griechischen Staatstheorie aufgestellten Folge der jeweils entartenden Ver fassungen getroffen wurde, sondern um ein bereits früher gefälltes Urteil, das vermutlich Herodot schon vorgebildet fand. Die Frage nach dem zugrunde lie genden Tatbestand beantwortet sich relativ leicht. Der König sollte (angeblich
Entstehung 'Von Tyrannis aus Königtum
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748 v. Chr.) die Ausrichtung der Olympischen Spiele unter Ausschaltung der eleiischen Festbehörden eigenmächtig vorgenommen haben. Im Hinblick auf diesen Akt bemerkt der Historiker, daß Pheidon unter allen Griechen die größte Hybris gezeigt habe, jene Eigenschaft also, die schon in archaischer Zeit als charakteristisch für Tyrannen galt. Bezeichnenderweise nennt denn auch die bei Pausanias vorliegende eleiische Tradition den die Festesordnung willkürlich än dernden König «Tyrann». Daneben mag die Ausbreitung von Pheidons Herr schaft über weite Teile der Peloponnes, das Isthmosgebiet und Aigina - er wollte angeblich das gesamte Landlos des sagenhaften Herakliden Temenos in seiner Hand vereinen - dazu beigetragen haben, in ihm einen Tyrannen zu sehen. Mußte er, der nur in Argos legaler König war, doch als Vergewaltiger zahlreicher ande rer Gemeinwesen erscheinen, als einer, der mit brutaler Macht allenthalben die «väterliche Ordnung» niedertrat. Ob Pheidon darüber hinaus auch in Argos selbst despotisch verfuhr, was man aus der allgemeinen Bemerkung des Aristo teles über die zu Tyrannen gewordenen Könige folgern könnte, entzieht sich un serer Kenntnis; die Einführung von Maß- und GewichtsnOlmen, so neuartig sie war, dürfte kaum als tyrannische Maßnahme empfunden worden sein. Nach Meinung des Aristoteles war auch der frühe Lakedaimonierkönig Cha
rillos ( Charilaos) zum Tyrannen geworden: sein einstiger Vormund Lykurgos hätte ihn deshalb gestürzt und die aristokratische Staatsordnung Spartas be gründet. Ähnliche Vorstellungen waren dem greisen Platon eigen. Als Lykurgos, so bemerkt er, sah, daß Argos und Messenien aus der Macht von Königen in diejenige von Tyrannen gerieten, schuf er durch Einführung von Gerusia und Ephorat in seiner Heimat ein Heilmittel dagegen, während in jenen beiden Land schaften das Königtum weiter entartete und die Stärke Griechenlands zugrunde richtete. Weder Aristoteles' Angaben über Charillos, die einer Version der Lykurg legende entstammen, noch Platons mehr spekulative als historiographische Schil derung können als glaubwürdige Zeugnisse für die erwähnten Vorgänge ange sehen werden, doch ist es nicht nur möglich, sondern durchaus wahrscheinlich, daß in einer Zeit des zunehmenden Schrumpfens der monarchischen Gewalt manche Könige diese durch ein despotischeres Regiment zu erhalten suchten, das weder bestehenden Brauch noch die Haltung der adligen Herren respektierte und daher als Tyrannis angesehen werden konnte. Für das Entstehen einer Tyrannis aus langfristiger Führung eines höchsten Amtes, wie sie in der auf die Königszeit folgenden Epoche offenbar vielerorts üblich war, weist Aristoteles im besonderen auf die Demiurgen und Theoren hin, von denen wir auch sonst wissen, daß sie einst in nicht wenigen Gemein wesen eine leitende Stellung innehatten. Leider nennt er keinen Mann aus diesen Kreisen, der sein Amt zur Errichtung einer Tyrannis benutzte, und auch die
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Das Aufkommen der Tyrannis
übrige überlieferung bietet kein sicheres Beispiel. Die uns bekannten Tyrannen herrschaften der archaischen Zeit, von denen in den folgenden Kapiteln zu handeln sein wird, gehören, soweit es sich nicht um Vergewaltigung einer Polis durch einen auswärtigen Machthaber handelt - Fälle, die im Rahmen seines auf die innen politischen Zustände eingestellten Systems Aristoteles nicht zu erwähnen hatte -, der ersten und vierten seiner Kategorien an. Die letztere, bei der die Wahl zu einem außerordentlichen Amt mit fast monarchischen Vollmachten die Vorstufe zur Tyrannis bildet, bedurfte keiner näheren Erläuterung. Hinsichtlich der Er richtung einer Tyrannis durch Demagogie jedoch bemerkt der Philosoph an an derer Stelle erläuternd, in alter Zeit sei Volksführer und Heerführer in einer Person vereinigt gewesen, die Amtsträger hätten große Befugnisse besessen, und der Demos wäre, als die Poleis noch klein waren, durch seine Arbeit auf dem Lande festgehalten worden, so daß kriegerisch gesinnte Vorsteher der Gemein wesen sich zu Tyrannen hätten aufwerfen können. Die Richtigkeit dieser Be obachtung wird sich uns in zahlreichen Fällen erweisen. Auf die allgemeinen geschichtlichen Voraussetzungen des Entstehens der Tyran nis hat bereits der Historiker Thukydides seinen Blick gerichtet. «Als Hellas mächtiger wurde», heißt es bei ihm, «und noch mehr als früher den Erwerb von Besitz betrieb, wurden vielfach Tyrannenherrschaften errichtet, da die Einkünfte größer wurden - vorher hatten herkömmliche Königsherrschaften auf Grund vereinbarter Ehrenrechte bestanden -, und Hellas rüstete Flotten aus und wandte den Sinn mehr auf die See.» Freilich wären die Tyrannen nur auf ihren eigenen Vorteil, auf ihre Person und die Mehrung ihres Hauses in möglichster Sicherheit bedacht gewesen, und so sei, außer Kriegen mit den jeweiligen Nachbarn, von ihnen keine erwähnenswerte Tat vollbracht worden, erwähnenswert nämlich im Hinblick auf politisdle Zusammenschlüsse oder Machtbildungen, nach deren Be stehen in früheren Zeiten der Historiker fragt. Wichtige Feststellungen werden hier getroffen: Die Tyrannis entsteht in Zusammenhang mit dem Aufkommen eines das frühere Maß übersteigenden Verlangens nach Besitz, sie wird durch das Wachsen der Einkünfte der Gemeinwesen begünstigt, sie hat nur die egoistischen Interessen des Gewalthabers und seines Hauses im Auge. Das letztere war, wie wir sahen, schon die Auffassung der archaismen Zeit. Auch von dem neuartigen Streben nach möglichst großem Reichtum an beweglicher Habe künden bereits zeitgenössische Stimmen. Der einem Spartaner zugeschriebene Ausspruch: «Schät ze, Schätze machen den Mann», war zur Zeit des Alkaios ein geflügeltes Wort. Nicht ohne Bitterkeit wird in ihm das Schwinden des alten Adelsgeistes kon statiert, der zwar auch nach Besitz, nicht minder aber nach edler Herkunft, Hel dentum und anderen ideellen Maßstäben gewertet hatte. Die zunehmende Er werbsgier verführte die vornehmen Herren dazu, ihre Einkünfte aus den als Be-
Allgemeine Voraussetzungen
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sitz und eine Art von Pfründe geltenden Ämtern über die durch Brauch und Satzung gezogenen Grenzen hinaus zu steigern, im besonderen die Erträgnisse, die das Richteramt abwerfen konnte. Schon Hesiod spricht von den «geschenke fressenden Königen». Ein die väterlichen Ordnungen mißachtender Egoismus ist also nicht bloß denen eigen gewesen, die sich der Tyrannis bemächtigten; nur sein Ausmaß war es, was diese von vielen ähnlich gesinnten Standesgenossen unterschied. Denn die Tyrannis verhieß, wie Thukydides' Worte lehren, dem, der sie gewann, die persönliche Verfügung über die durch das Anwachsen von Schiff fahrt, Handel und Gewerbe vermehrten Einkünfte des Gemeinwesens. Die Tyrannis, die in zahlreichen griechischen Städten errichtet wurde, hatte ihre Wurzeln aber nicht allein in den von dem Historiker erwähnten Erscheinungen. Sie war Frucht und Symptom eines allgemeinen Prozesses der archaischen Zeit, der kurz wohl als Heraustreten des Einzelmenschen aus naiver Befan genheit in überkommenen Zuständen, Sitten und Bindungen bezeichnet werden kann. Das Individuum erwacht zu größerer Selbstbewußtheit und wagt sein Ich der Umwelt gegenüberzustellen, es entfaltet eine kühne, rational bestimmte Energie. In erster Linie gilt dies von den adligen Herren, welche ihre vitalen Kräfte ungehemmt entfalten, die ihnen gegebenen Möglichkeiten für sich selbst ausnutzen wollen. Sie streben nicht nur wie früher nach Geltung unter den Stan desgenossen und weitreichendem Ruhm, sondern nach persönlicher Macht und Herrschaft. Die lockere Fügung der aristokratischen Gemeinwesen, in denen es den großen Geschlechtern freisteht, auf eigene Faust und zu eigenem Gewinn Raub-, Eroberungs- oder Kolonistenzüge zu unternehmen, in denen noch weithin das Recht der Selbsthilfe waltet und bei Entscheidung von Streitfällen Ansehen und Reichtum der Kontrahenten von ausschlaggebender Bedeutung sind, schränkt die freie Betätigung großen Stiles nur wenig ein. Das öffentliche Leben wird denn auch weniger durch staatliche Ordnungen bestimmt - diese sind erst schwach ausgebildet - als durch Adelssippen samt deren bäuerlichem Anhang, ihren Ver bindungen und Feindschaften oder durch rivalisierende Vereinigungen vorneh mer Männer, die sich jeweils um eine, bisweilen auch mehrere Persönlichkeiten scharen (Hetairien). Beide Gruppen sind darauf aus, im Gemeinwesen eine maß gebende, womöglich beherrschende Rolle zu spielen. Winkt ihnen in der Hei mat kein Erfolg, so läßt sich vielleicht mit der Gefolgschaft und freiwilligen Zu läufern in der Ferne eine Kolonie anlegen, wo dann der Führer des Zuges als Gründer (Oikistes) eines neuen Gemeinwesens eine fast monarchische Stellung innehaben kann. Das begehrteste Ziel bleibt aber für viele adlige Herren, wie schon Solon feststellte, die Gewinnung der Herrschaft über die eigene Stadt für sich selbst und ihre Sippe. In der Tyrannis kulminieren daher, wenigstens was den politischen und sozialen Bereich betrifft, die auf Entfesselung und Entfaltung
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Das Aufkommen der Tyrannis
des Individuums gerichteten Tendenzen der archaischen Adelsgesellschaft. Der selbstherrliche Gewalthaber verkörpert sie in seiner Person absolut. Es versteht sich von selbst, daß nur ein seinen Standesgenossen überlegener Mann sich zum Herrn über sie aufwerfen konnte. Manche künftige Tyrannen umgab bereits der Ruhm des Sieges in Olympia, den auch zur Tyrannis gelangte Männer noch suchten um der Autorität willen, die er verlieh. Andere macht lüsterne Persönlichkeiten hatten sich als Heerführer ausgezeichnet und dadurch auch beim einfachen Volk Anklang gefunden. Wieder andere waren dank ihrem großen Reichtum in der Lage, Leute jedes Standes an sich zu ziehen und gege benenfalls auswärts Söldner anzuwerben. Mochten nun auch mehrere dieser Mo mente bei einem Manne zusammentreffen, weit wichtiger war, aufs Ganze der Situation gesehen, die allmähliche Aushöhlung der aristokratischen Gemeinwesen und die wachsende Erbitterung der unteren Schichten über das willkürliche und eigensüchtige Gebaren der adligen Herren. Neben dem Mißbrauch der Ämter und der Beugung der überkommenen Satzungen zu eigenem Vorteil, wirkte es sich der bäuerlichen Bevölkerung gegenüber vor allem in der brutalen Handha bung des Schuldrechtes aus, die im 7. Jahrhundert gewiß nicht nur in Attika zur Knechtung der Personen und Konzentrierung des Bodens in wenigen Händen führte. War die Lage des Landvolkes infolge der Beschränktheit der anbaufähigen Gebiete in Griechenland an sich schon schwer genug, so daß von denen, die es konnten, viele eine bessere Existenz in der Ferne suchten, die zunehmende Bedrückung durch die Vornehmen und Mächtigen machte sie vielerorts unerträg lich, löste die patriarchalischen Bande und erzeugte eine revolutionäre Stimmung. Bis zu einem gewissen Grade stellte sich diese auch bei denjenigen Bauern ein, denen weiterhin ein Landbesitz verblieb, groß genug, daß sie aus eigenen Mitteln sich als schwerbewaffnete Kämpfer ausrüsten konnten. Denn da die geschlossenen Verbände dieser Hopliten mehr und mehr zum entscheidenden Faktor in den krie gerischen Auseinandersetzungen wurden und dementsprechend der Adel auf sei nem eigensten Gebiet an Bedeutung verlor, wurde einer der tragenden pfeiler seiner Vorzugsstellung brüchig, deren skrupellose Ausnutzung nun vollends aufreizend wirken mußte. Und das um so mehr, als gerade angesichts der Willkür und des krassen Egois mus so vieler Herren der Sinn für Recht und Gerechtigkeit, der Glaube an Dike als Wahrerin der Satzungen und Rächerin des Frevels erstarkte. Der immer lauter und dringender werdenden Forderung nach schriftlicher Fixierung des Rech tes ist der Adel zwar früher oder später nachgekommen, gewiß nicht zuletzt, um die alten, ihm günstigen Satzungen für die Dauer festzulegen, der wirtschaft lichen Bedrückung jedoch und der persönlichen Knechtung Einhalt zu tun, hat er nur selten Einsicht genug gehabt. So blieb weithin bei den Geknechteten wie bei
Soziale Voraussetzungen denen, welchen Knechtung drohte, die Erbitterung über die herrschenden Zustände bestehen. Ja, sie mußte sich in dem Maße steigern, in dem das wachsende Selbst bewußtsein nicht nur den vornehmen, sondern auch den einfachen Mann ergriff. Der sich immer ferner spannende Handelsverkehr und namentlich die Kolonisten fahrten, an denen ihre Söhne und Brüder teilnahmen, weiteten den Horizont auch derer, die auf der Scholle verharrten, machten sie kritischer gegenüber den hei matlichen Verhältnissen und aufgeschlossener für Neuerungen jeglicher Art, welche den Rahmen des Überkommenen sprengten. Wenn jetzt bedeutende tech nische Fortschritte erreicht wurden, wenn Gewerbe und Handwerk einen erstaun lichen Aufschwung nahm und in Zusammenhang damit an größeren Orten städti sche Lebensformen Platz griffen, so entstand nicht nur eine neue soziale Schicht, es konnte von diesem die alte gesellschaftliche Struktur auflockernden und ver ändernden Prozeß auch die ländliche Bevölkerung nicht unberührt bleiben. Den bäuerlichen Hopliten gibt ihre Unentbehrlichkeit im Phalanxkampf jetzt ein Gefühl für den eigenen Wert und für die Stellung, die ihnen im Gemeinwesen ge bühre, die Verarmten und Geknechteten aber werden nun erst recht ihrer kläg lichen und unwürdigen Lage inne und verlangen nach einer radikalen Änderung. Nicht daß die Führerstellung adliger Herren bestritten würde - davon kann noch lange Zeit keine Rede sein -, doch ist man begreiflicherweise leicht bereit, sich einem vornehmen Manne anzuschließen und zu unterstellen, der ein Ende der Misere oder gar einen grundsätzlichen Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Struktur zu bringen verspricht, wenn man ihm zur Herrschaft über das Gemein wesen verhilft. Der damit aufsteigenden Gefahr, unter die tyrannische Herrschaft eines Stan desgenossen zu geraten, ist an einigen Plätzen der Adel nicht bloß mit schriftlicher Fixierung und Neuformung geltender Satzungen durch einen Nomotheten begeg net, sondern hat auch durch Bestellung eines mit gesetzgeberischen Befugnissen ausgestatteten Schlichters oder Versöhners, der eine gerechte Ordnung herstellen sollte, die soziale Krise zu meistem gesucht. Es antwortet hier der Hemmungs losigkeit und Rechtsverachtung, wie sie in einzelnen adligen Herren und zumal in Tyrannen sich verkörpern kann, ein Wille nach Bindung und Gesetz, der eben falls in einzelnen adligen Herren seine Vertreter und Vollstrecker findet. Als Antipoden gleichsam stehen sich Tyrann und Gesetzgeber gegenüber, eine Erschei nung, die an grundsätzlicher Bedeutung dadurch nicht verliert, daß verantwor tungslose Gesetzgeber ihre außerordentlichen Vollmachten zur Errichtung einer Tyrannis benutzen, andererseits sich Tyrannen als gute Gesetzgeber erweisen konnten. Der Gegensatz der beiden Strömungen, der ausschweifenden und der nach Bindung verlangenden, ist im übrigen ein allgemeines Kennzeichen der archaischen Zeit. Er begegnet ähnlich in der Religion, wo der ekstatischen Schran-
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kenlosigkeit dionysischer Begehungen eine legalistische Haltung entspricht, reprä sentiert vor allem durch den Gott zu Delphoi und die Sieben Weisen, deren an gebliche Aussprüche den Mahnungen pythischer Orakel gleichen. Je mehr nun der Legalismus zunahm, wie es im Laufe des 6. Jahrhunderts geschah, um so mehr mußte der Tyrann nicht nur als Feind der Adelsgesellschaft, sondern als Frevler an den gottgewollten Ordnungen erscheinen, die er in seiner Hybris miß achtete. Gleichwohl blieb sein eigentlicher Gegenspieler, zumal wenn die Allein herrschaft eine gewisse Nivellierung der Stände begünstigte, der Adel, gerade weil der Tyrann ihm durch Herkunft angehörte und desselben Geistes war wie die Mehrzahl seiner Standesgenossen, die trotz Erstarken des rechtsstaatlichen Sinnes auch weiterhin den Verlockungen von Reichtum und Macht nicht zu widerstehen vermochten. Zwar rufen sie gegen drohende oder bereits Wirklichkeit gewor dene Tyrannis die Verfechter von Recht und Gesetzlichkeit zu Hilfe, sei es in der Heimat, sei es von außen, aber viele, wo nicht die meisten, würden ohne Be denken sich selbst zum Tyrannen aufwerfen, wenn sie nur die Möglichkeit dazu hätten. Es ist denn auch weit mehr Rivalität, Neid und Haß gegen den, der sich als Herr über sie erhebt, als echte sittliche Empörung und grundsätzliche Ablehnung, was ihre Tyrannenfeindschaft bestimmt. Spüren sie doch anscheinend kaum, daß vor allem ihre Eigensucht den Boden für das Aufkommen eines Tyrannen be reitet. Die vorstehenden Andeutungen mögen vorerst genügen, die soziale und gei stige Atmosphäre zu kennzeichnen, in der es während des 7. und 6. Jahrhunderts zum Entstehen zahlreicher Tyrannenherrschaften gekommen ist. Näheres kann erst die Darstellung des Aufstiegs und Wirkens der einzelnen Machthaber er geben. Ihr stehen freilich nicht geringe Schwierigkeiten entgegen. Denn wir be sitzen nur sehr wenige literarische oder gar inschriftliche Zeugnisse aus der ar chaischen Zeit und sehen uns daher bestenfalls auf die Erzählungen, welche Hero dot im 5. Jahrhundert bot, sehr häufig aber auf Angaben viel späterer Autoren angewiesen, deren Quelle nur selten zu ermitteln ist. Die Frage nach der Glaub würdigkeit der Berichte, die unter diesen Umständen an sich schon schwer zu be antworten ist, wird noch prekärer, weil man in klassischer Zeit, als der autonome Rechtsstaat sich durchgesetzt hatte, in jedem Tyrannen den Feind der Polis und Vergewaltiger ihrer freien Bürger sah. Das abstoßende Bild, das damals geprägt wurde und durch die ganze Antike in Geltung blieb, hat seine düsteren Züge gewiß von einigen besonders skrupellosen und grausamen Machthabern der Vergangenheit entlehnt. Doch wenn im 6. Jahrhundert, wie gelegentlich noch zu ahnen ist, auch positive Eigenschaften oder Maßnahmen einzelner Tyrannen in der Erinnerung fortlebten, so hat die spätere, durch die großen Staatsphiloso phen vollendete Tyrannentypologie sie verschüttet. Nur wenige, aber gewichtige
Gberlieferung. Chronologie
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Stimmen haben sich seit dem Ende der archaischen Epoche noch für diesen oder jenen Tyrannen erhoben. In den meisten Fällen jedoch sieht sich der moderne Historiker vor die Aufgabe gestellt zu entscheiden, was an der überwiegend feind seligen Tradition alt und auch glaubwürdig ist, was erst in jüngerer Zeit aus den erwähnten Gründen ohne historische Gewähr Tyrannen der vorklassischen Zeit zugeschrieben oder angedichtet wurde. Ist eine solche Entscheidung auch häufig nicht einmal mit Wahrscheinlichkeit, geschweige mit Sicherheit zu treffen, muß der Versuch gleichwohl immer wieder gewagt werden. Eine rein chronologische Anordnung des Stoffes verbietet sich schon durch die Unmöglichkeit einer genauen Datierung zahlreicher Vertreter der älteren Tyran nis, sie würde aber auch weder der Eigenständigkeit hellenischer Gemeinwesen noch der lokal bedingten Verschiedenheit der jeweiligen Voraussetzungen wie der Erscheinungen selbst genügend Rechnung tragen. Es ist deshalb die Grup pierung nach den griechischen Siedlungsgebieten gewählt worden. Begonnen wird mit dem Bereich um den Isthmos von Korinth, wo die ältesten Tyrannen herrschaften im Mutterlande entstanden. Ihre chronologische Fixierung, im be sonderen diejenige der Kypseliden, ist freilich seit langem heftig umstritten. während die Mehrzahl der Forscher die von den antiken Chronographen ge gebene zeitliche Ansetzung im großen ganzen für richtig hält, sind immer wie der einige Gelehrte bemüht gewesen, sie als späte, unverbindliche Konstruk tion zu erweisen und die betreffenden Tyrannen um Jahrzehnte, wo nicht gar um ein halbes Jahrhundert, später zu datieren. Sie berufen sich dabei vor allem auf einige Erzählungen des Herodot, welche diese Verschiebung verlangten. Da ihre Thesen nicht nur die Tyrannen von Korinth und Megara, sondern mit Alkaios und Sappho auch die Zeit der Tyrannis auf Lesbos betreffen, sei schon hier ge sagt, daß unserer Darstellung die Ansetzung der Chronographen zugrunde ge legt ist. Den gesamten, zum Teil recht verwickelten Fragenkomplex im Rahmen dieses Buches zu erörtern, würde zu weit führen. Der Hauptgrund, der uns den Vertretern jener Thesen den Glauben versagen läßt, ist ihre Interpretation der einschlägigen Stellen in Herodots Werk, die der darstellerischen Eigenart des Historikers und seinen chronologischen Möglichkeiten nicht gerecht wird. Die übrigen Indizien, die man für eine Herabdatierung gefunden zu haben glaubt, sind meist vieldeutig und verlieren im übrigen ohne die Stütze an Herodot ihr Gewicht.
ERSTES KAPITEL
D A S M U TTE R LA N D A U S SE R AT HEN
1. D IE KYP S EL I D EN V O N KaRINTH
Vor dem Aufkommen der Tyrannis gebot über Korinth das mächtige Geschlecht der Bakchiaden, das wie der gesamte dorische Adel des Ortes sich auf Herakles zurückführte, so daß es in der überlieferung bisweilen auch als Herakliden be zeichnet wird. Neunzig Jahre soll es die Herrschaft besessen haben, das heißt, wenn wir uns ungefähr an die zeitlichen Ansetzungen der antiken Chrono graphen halten, die zwar von einigen Forschern bestritten, aber nicht als falsch erwiesen werden konnten, seit der Mitte des 8. Jahrhunderts, denn die Errichtung der Tyrannis datierte man auf das Jahr 657/6. Die Bakchiaden waren eine Sippe von angeblich mehr als zweihundert Männem. Sie walteten über der Stadt, gaben und nahmen die Frauen untereinander, heißt es bei Herodot; Späteren konnten sie sogar als Tyrannen erscheinen. Wenn sie aus ihren Reihen einen Vorsteher bestellten, der möglicherweise den Königstitel trug, so dürfte dieser kaum mehr als ein primus inter pares gewesen sein, wird doch ausdrücklich vermerkt, daß sie gemeinsam die Stadt leiteten und ihren Reichtum den Zöllen und Gebühren des Hafenplatzes verdankten, die sie für sich in Anspruch nahmen. Davon daß sie selbst Handel getrieben hätten, verlautet nichts; man muß vielmehr in ihnen wie im Adel der hocharchaischen Zeit überhaupt Grundherren sehen, nur daß die günstige Verkehrslage Korinths ihnen auch andere als agrarische Ein künfte verschaffte. Wieweit zur Zeit der Samtherrschaft des großen Geschlechtes schon eine fest geregelte Verfassung des Gemeinwesens bestand, läßt sich schwer erkennen. Die Gesetze eines korinthischen Nomotheten Pheidon, der wohl zu den Bakchiaden gehörte, betrafen nach der spärlichen Tradition nur die Sicherung des adligen Grundbesitzes, wie auch die Anordnungen eines nach Theben aus gewanderten und dort als Gesetzgeber tätigen Bakchiaden Philolaos ein ähnliches Ziel verfolgten. Die Bevölkerung dürfte, soweit sie zum korinthischen Gemein wesen zählte, in die drei dorischen Phylen gegliedert gewesen sein. Ob daneben noch eine vierte Phyle bestand, in welcher nichtdorische Familien zusammen geschlossen waren, ist nicht sicher. Gewisse Rechte werden die Phylen angehörigen besessen haben, doch lassen einzelne, wohl auf den Historiker Ephoros zurück-
Herrschaft der Bakchiaden über Karinth
1.5
gehende Angaben mit spätem Kolorit keine sicheren Schlüsse auf das Fungieren einer Volksversammlung zu. Desgleichen bleibt es fraglich, ob die Bakchiaden ein Ratskollegium bildeten. Nur daß sie außer dem Vorsteher auch einen «Kriegs herrn» ( Polemarchos) aus ihrer Mitte wählten, scheint ziemlich gewiß. Es kann kein Zweifel sein, daß in dem Jahrhundert der Bakchiadenherrschaft das Gewerbe, zumal die keramische Produktion, sich in Korinth zu entfalten begann und der Handelsverkehr am Isthmos bei allgemein zunehmender Schiff fahrt für das Geschlecht immer einträglicher wurde. Ihn im eigenen Interesse zu schützen und wohl auch durch Seeraub weiteren Gewinn zu erzielen, haben die Bakchiaden eine gewisse Seemacht begründet. Sie als erste bedienten sich neu artiger, von dem Korinther Ameinokles konstruierter Kriegsschiffe; zwischen ihnen und den feindlich gesinnten Kolonisten auf der im 8. Jahrhundert von Korinth aus besiedelten Insel Korkyra wurde um 664 die erste Seeschlacht der griechischen Geschichte geschlagen. Auch zu Lande scheinen sie ausgegriffen und eine Zeitlang das benachbarte Megara in Untertänigkeit gehalten zu haben. Vielleicht war es der Verlust dieser Stadt und der offenbar erfolglose Ausgang des Kampfes gegen die Korkyraier, was ihre Herrschaft über Korinth ins Wanken brachte. Ihr Sturz ist jedoch eine Folge der wachsenden Unzufriedenheit der Ko rinther mit dem Regiment der Sippe gewesen, deren Mitglieder sich dem Wohl leben hingegeben und zuletzt hochfahrend und gewalttätig aufgetreten sein sollen. Kypselos war es, der die Unzufriedenen um sich scharte und um 657 den entscheidenden Schlag führte. Kypselos Herkunft, Kindheit und Aufstieg des Begründers der Tyrannis in Korinth sind schon früh von Legenden derart umwoben worden, daß der wahre Sachverhalt kaum noch zu ermitteln ist. Eetion, so läßt Herodot den Korinther Sokles um 500 erzählen, war im Landbezirk Petra ansässig und führte sein Geschlecht auf den Lapithen Kaineus zurück. Mit Labda, der Tochter des Bakchiaden Amphion, ver mählt, die wegen ihrer Lahmheit keinen Freier aus der Sippe gefunden hätte, sei ihm durch einen Orakelspruch gekündet worden, daß der von Labda erwartete Sohn über die Herrschenden kommen und über Korinth walten werde. Die Bak chiaden, durch ein ähnliches Orakel gewarnt, hätten Häscher ausgesandt, die jedoch vor dem lächelnden Kind gerührt zurückwichen, so daß die Mutter, ehe sie wiederkehrten, es in einem Bienenkorb ( Kypsele) verbergen und retten konnte. Der Knabe wurde nach jener Kypsele benannt, wuchs heran und erhielt, zum Manne geworden, in Delphoi einen Spruch, in dem er als « König von Korinth» angeredet und ihm selbst samt seinen Kindern, nicht jedoch seinen Enkeln, die Herrschaft verheißen wurde. Wirklich machte sich Kypselos nun zum Tyrannen
Das Mutterland außer Athen von Korinth. - Es liegt auf der Hand, daß wir eine im Volke umgehende Er zählung vor uns haben mit Namenspielereien und so beliebten Motiven wie der Rettung eines zur Herrschaft berufenen Kindes in einem Korb, eine wohlwollende Erzählung, die noch aus den Tagen des Kypselos oder seines Sohnes Periandros stammen könnte. Für den historischen Sachverhalt ist ihr außerordentlich wenig zu entnehmen. Daß Kypselos, mindestens väterlicherseits, kein Dorier war, ließe sich ohnedies aus seinem Namen folgern, den auch ein arkadischer König trug; was von der Mutter berichtet wird, einschließlich ihres Namens Labda (Hinkfuß), ähnelt dagegen so sehr verwandten Legenden, daß ihre Zugehörigkeit zum Bak chiadengeschlecht nicht als gesichert gelten kann. Von den Orakeln schließlich kann keines auf Authentizität Anspruch erheben. Etwas besser steht es anscheinend mit dem wohl auf Ephoros zurückgehenden Bericht des Nikolaos von Damaskos über die Art, wie Kypselos zur Herrschaft gelangte. Er soll zuvor das Amt des Polemarchos innegehabt haben. Könnte darin auch eine spätere Erfindung in Anlehnung an ähnliche Fälle, wie den des Peisistratos, gesehen werden, so weist doch ein Umstand auf alte Tradition, näm lich daß im Sinne der archaischen Zeit das Amt noch als Besitz seines Trägers sich darstellt : Kypselos erließ Verurteilten den Teil der Geldstrafe, der ihm persönlich zustand, und machte sich dadurch bei der Menge beliebt. Eine gewisse Bestätigung bringt ferner Aristoteles. Er zählt Kypselos zu denen, die von einem Amte aus zur Tyrannis gelangten, und die Verbindung von Feldherrnamt und Demagogie gilt ihm als typisch für die Art, wie in alter Zeit Tyrannenherrschaft sich anbahnte. War aber Kypselos Polemarchos, dann ist es auch wahrscheinlich, daß er mütterlicherseits mit der Bakchiadensippe, die aus ihren Reihen die höch sten Ämter besetzte, verwandt war, und man wird annehmen dürfen, daß er bei seinem Staatsstreich die wehrfähigen Bauern hinter sich hatte. Doch nicht nur sie und straffällige Leute, die er geschont hatte, sondern anscheinend auch adlige Herren außerhalb des Bakchiadengeschlechtes ! Ist doch an der Angabe des Nikolaos, Kypselos habe eine private Vereinigung von Standesgenossen (Hetairie) gebildet, kaum zu zweifeln. Auch daß Kypselos den Vorsteher der Bakchiaden, Patrokleides oder Hippokleides mit Namen, tötete, wird dem Autor zu glauben sein, während seine Behauptung, es hätte daraufhin der Demos Kyp selos als König eingesetzt, starken Bedenken begegnen muß. Ist es schon unwahr scheinlich, daß der Demos in dieser Zeit einen rechtsgültigen Akt solcher Art vornehmen konnte, so wirkt die Bestellung zum lebenslänglichen König in einer Epoche der Einrichtung von Jahresämtern anachronistisch. Anlaß zu jener Be hauptung dürfte schon dem EphoIOS die Anrede des Kypselos als König im dritten der von Herodot genannten Orakel gegeben haben. Dieser selbst sagt jedoch bezeichnenderweise nur, daß Kypselos sich zum Tyrannen machte und dement-
Tyrannis des Kypselos
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sprechend verfuhr, und auch Aristoteies hat sichtlich nichts von einer übernahme des Königsamtes gewußt, das im übrigen durch die letzten Bakchiaden beim Volk in Verruf gekommen war. Höchstens eine spontane Kundgebung derart, daß der Befreier vom verhaßten Joch die Gewalt übernehmen solle, mag stattgefunden haben. Die 13akchiaden, soweit sie nicht getötet wurden, mußten in die Verbannung gehen; nur einige wenige, die sich wohl dem neuen Herrn fügten, sollen in Korinth geblieben sein. Während die Mehrheit der Vertriebenen sich nach Korkyra wandte, wo man in ihnen, da der Gegensatz zur Mutterstadt Korinth fortbestand, nunmehr eher Freunde als Feinde erblickt haben wird, gingen andere nach Sparta, wieder andere nach Makedonien. Ja sogar nach Kaunos an der karischen Küste sind vielleicht Angehörige der Sippe damals gekommen. Der Bakchiade Dema ratos aber fuhr nach dem fernen, mit Korinth in Handelsbeziehungen stehenden Etrurien, wo er angeblich dank den Schätzen, die er aus der Heimat hatte mit führen können, die Hand einer Tochter des Fürstenhauses von Tarquinii gewann. Einer seiner Söhne wäre nach der freilich stark legendären römischen Überliefe rung Tarquinius Priscus gewesen, der sich zum Herrn von Rom gemacht hätte. Die Güter der getöteten oder verbannten Bakchiaden hat Kypselos eingezogen und, wie es scheint, an seine bäuerliche Anhängerschaft verteilt. Daß er sich auf diese auch weiterhin stützte, lehrt eine Bemerkung des Aristoteles, die den Ver zicht des Tyrannen auf Leibwächter dem Umstand zuschreibt, daß er dem Demos verbunden blieb. Auch an den von ihm in die Heimat zurückgerufenen Feinden der Bakchiaden wird er einen Rückhalt besessen haben, während die Haltung des Heraklidenadels gegenüber dem Machthaber nichtdorischer Abkunft weniger freundlich gewesen sein dürfte. Wie es mit dem korinthischen Gemeinwesen unter seiner Herrschaft stand, bleibt unklar; von Amtsträgern, Rat oder Volksversamm lung erfahren wir nichts. Nur so viel wird deutlich, daß Kypselos, dem kein legales Oberamt übertragen worden war, weder als Beauftragter des Gemeinwesens han delte noch dieses repräsentierte, sondern über und gleichsam neben ihm stand. Die Inschrift eines Schatzhauses, das er in Delphoi errichten ließ, nannte ihn, nicht etwa die Korinther, die den Bau erst nach dem Sturz der Tyrannis für sich in An spruch nahmen, und ähnlich steht es mit dem Epigramm einer goldenen Zeus statue, die Kypselos anscheinend gegen Ende seines Lebens nach Olympia stiftete. Mit diesem kostspieligen Weihgeschenk verband sich später die Erinnerung an eine von dem Tyrannen den Korinthern auferlegte außerordentliche Vermögens abgabe, die zehn Jahre lang erhoben worden wäre. Die zum Teil unwahrschein lichen oder unklaren Angaben später Autoren lassen immerhin erkennen, daß Kypselos für eigene Zwecke mehrere Jahre hindurch eine wohl hauptsächlich die größeren Grundbesitzer treffende Vermögenssteuer eintrieb, und bestätigen in-
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Das Mutterland außer Athen
sofern seine selbstherrliche Stellung gegenüber dem korinthischen Gemeinwesen. Ob dieses bereits von ihm durch Einbeziehung bisher vom Bürgerrecht ausge schlossener Teile der Bevölkerung erweitert wurde, ist mit Sicherheit nicht zu sagen, weil acht Phylen statt der einstigen drei oder vier erst für die Zeit unmit telbar nach dem Sturz der Kypseliden (um 5 84) einigermaßen zuverlässig bezeugt sind. Da aber die Einrichtung lokaler Phylen - denn um solche soll es sich ge handelt haben - eine «demokratische» Maßnahme darstellt und kaum von der später bestehenden Oligarchie vorgenommen worden ist, andererseits der mit Hilfe der nichtadligen Schichten zur Herrschaft gelangte Kypselos mehr als sein Nachfolger Periandros bestrebt gewesen sein dürfte, sich diese Kreise dauernd zu verbinden, wird man die Erweiterung des Bürgerkreises, die mit der Konstitu ierung lokaler Phylen zweifellos verbunden war, dem ersten Tyrannen zuschrei ben wollen. Ob außer Kleinbauern auch Gewerbetreibende in die neuen Gruppen aufgenommen wurden, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Verteilung von Grundbesitz der Bakchiaden, die Kypselos, wie sich zeigte, durchgeführt zu haben scheint, hat die Landnot auf dem engen korinthischen Territorium offenbar nicht beheben können, so daß der Tyrann Unwillen und Feindschaft von seiten der Nichtversorgten fürchten mußte. Während nun anders wo Leute, denen der heimische Boden keine rechte Existenzmöglichkeit mehr bot, unter Führung adliger Herren auswanderten und in der Ferne eine eigene, selb ständige Pflanzstadt gründeten, hat Kypselos seinerseits Kolonistenzüge organi siert und gern einen seiner Söhne von Nebenfrauen nicht nur zum Leiter des Unternehmens, sondern auch zum Herrn der anzulegenden Siedlung bestimmt. Bezeugt ist dieses Verfahren für Leukas, Anaktorion und Ambrakia, als deren Oikisten und Gebieter die Söhne Pylades, Echiades und Gorgos erscheinen, doch mögen noch weitere, kleinere Plätze an der aitolischen und akarnanischen Küste auf ähnliche Weise ins Leben gerufen und mit der Tyrannis in Korinth verbun den worden sein. Nur für die weit im Norden an der illyrischen Küste um 627 vom feindlichen Korkyra aus angelegte Stadt Epidamnos steht es fest, daß die an ihrer Gründung beteiligten Korinther unter einem Mann aus dem Herakliden adel standen und aus dem Bereich der Tyrannenherrschaft heraustraten. Diese scheint die übrigen Kolonien als «speergewonnenen» Besitz des Kypselidenhauses umfaßt zu haben, einen Besitz, zu dessen Erben sich nach dem Sturz der Tyrannis das Gemeinwesen der Korinther machen konnte, wie es auch des Kypselos Weih geschenke in Olympia und Delphoi später als eigene in Anspruch nahm. Es ist be zeichnend, daß die Gründung eines solchen «Kolonialreiches» nicht durch die von Natur mehr statische und einwäns gerichtete Polis, sondern durch die ausladende dynamische Kraft eines über sie erhobenen Machtmenschen erfolgte. Von freundlichen oder feindlichen Beziehungen des Tyrannen zur Umwelt ver-
Kypselos und die Umwelt
lautet nichts, als daß er sich um die Gunst des Zeus in Olympia und des Apollon in Delphoi bemühte. Jenem brachte er, vielleicht in Erfüllung eines Gelübdes, das er für den Fall der Gewinnung der Tyrannis getan hatte, die bereits erwähnte goldene Statue dar, diesem, der möglicherweise durch Orakel ihn zum Sturz der Bakchiaden ermutigt hatte, zeigte er sich durch Weihung eines ehernen Palm baumes und gewiß noch durch andere Gaben erkenntlich, für deren Menge die Errichtung eines eigenen Schatzhauses spricht. Bekundete sich in solchen Stiftun gen auch die Ruhmsucht des Kypselos, der an den vielbesuchten heiligen Stätten durch Denkmäler seines Reichtums und seiner Macht Bewunderung erwecken wollte, so ist doch an dem echten religiösen Anliegen, sich des Wohlwollens der großen Götter zu versichern, das gerade ein Tyrann für den Bestand seiner von keiner Tradition getragenen Herrschaft nötig hatte, nicht zu zweifeln. Daß für die Koloniegründungen Weisungen von Delphoi eingeholt wurden, entsprach der allgemeinen übung ; im Fall von Ambrakia wird es zudem bezeugt. Auffallend jedoch ist angesichts dieser Haltung des Kypselos die Notiz eines späten Autors, nach der die Feier der Isthmischen Spiele eingestellt und erst nach dem Sturz der Tyrannis gegen Ende der achtziger Jahre des 6. Jahrhunderts wiederaufgenom men worden sei. Trifft die Angabe zu, so müssen besondere, lokalbedingte Gründe vorgelegen haben, die wir nicht zu erkennen vermögen. Dreißig Jahre hat Kypselos über Korinth geboten, ohne daß sich ernsthafter Widerstand geregt zu haben scheint. Als er um 627 eines natürlichen Todes starb, konnte er Besitz und Herrschaft seinem vierzigjährigen Sohn Periandros vermachen, den ihm seine legitime Gemahlin - sie soll Krateia geheißen haben geboren hatte, während Pylades, Echiades und Gorgos angeblich Söhne von Nebenfrauen waren. Periandros Die Herrschaft des Periandros hat im Altertum für tyrannischer gegolten als die seines Vaters, und zwar in einem Maße, daß durch ihn erst die volle Tyrannis im Sinne einer egoistischen, gesetzlosen und grausamen Gewaltherrschaft über Ko rinth gekommen zu sein schien und er selbst zum Muster des skrupellosen Ty rannen werden konnte. Aber schon unser ältester Gewährsmann, Herodot, gibt zu erkennen, daß es über den Sohn des Kypselos auch eine freundliche über lieferung gab, wenn er den Korinther Sokles sagen läßt, Periandros sei erst unter dem Einfluß des Thrasybulos von Milet zum Wüterich geworden, und neben Schauergeschichten, wie man sie wohl schon im 6. Jahrhundert erzählte, ver söhnliche, menschlich ergreifende Züge anführt. Noch deutlicher zeigt sich die Verschiedenheit der Beurteilung darin, daß derselbe Mann als Prototyp der Ty rannen schlimmster Art angesehen, aber auch zu den Sieben Weisen gezählt wer-
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den konnte, ein Widerspruch, der sich wohl nur aus der eigenartigen, die Phan tasie der Mit- und Nachwelt im guten wie im bösen anregenden Persönlichkeit des Periandros erklärt. Leidenschaftlich und gewiß nicht selten brutal, dürften ihm zartere Regungen doch nicht fremd gewesen sein, und mit rücksichtsloser Tat kraft scheint er ungewöhnliche praktische Klugheit und überlegene Einsicht ver bunden zu haben. Was wir von seiner vierzigjährigen Herrschaft (etwa 627 bis 587) unter dem Gestrüpp von Legenden, Novellen und Erfindungen als histori schen Kern erkennen können, ist geeignet, diesen Eindruck zu bestätigen. Als Erbe des Reichtums und der Macht eines Mannes, der seine Herrschaft über Korinth in drei Jahrzehnten hatte verwurzeln können, so daß sie der inzwischen herangewachsenen Generation als der natürliche Zustand erscheinen mochte, nahm Periandros unter den Stadtherren der Gebiete am Isthmos von vornherein eine außerordentliche Stellung ein. Während der Vater seine Gattin wohl aus der Bakchiadensippe genommen hatte, vermählte sich der Sohn, noch bevor er die Nachfolge antrat, mit der Tochter des Tyrannen Prokles von Epidauros und Enkelin des arkadischen Königs Aristokrates, Melissa, die als Mädchen Lysidike geheißen hatte. Sie gebar ihm eine Tochter und zwei Söhne, Kypselos und Lyko phron, von denen der ältere jedoch schwachsinnig gewesen sein soll, so daß er für die Nachfolge nicht in Betracht gekommen wäre. Drei weitere Söhne, Euago ras, Gorgos und Nikolaos, entstammten der Verbindung mit einer oder mehreren Nebenfrauen. Es besteht kein Grund, die Erzählung, daß der heißblütige Perian aros durch Mißhandlung der schwangeren Melissa ihren Tod herbeigeführt habe, als tyrannenfeindliche Erfindung abzutun, zog diese Tat doch politische Folgen nach sich, die nicht bezweifelt werden können. Prokles nämlich, über das seiner Tochter Widerfahrene erbittert, wiegelte den damals siebzehnjährigen Lykophron auf, der daraufhin früher oder später eine eigene, wohl kurzlebige Tyrannis in ·den Randgebieten errichtete. Periandros aber griff den Prokles an, nahm ihn ge fangen und eroberte Epidauros. Indem er die Stadt sich aneignete, gewann er einen wichtigen platz am Saronischen Golf. Sein Vater Kypselos hatte, soweit wir sehen können, sein Augenmerk noch nicht auf die Aegaeis gelenkt. Perian dros dagegen unterhielt wie im Korinthischen Meerbusen so auch dort Schiffe, und wenn es gleich fraglich bleibt, ob wirklich schon er den Plan einer Durch stechung des Isthmos faßte, so scheint er nach Ausweis neuester Funde doch den Anstoß zum Ausbau einer Schiffsschleife (Diolkos) über die Landenge gegeben zu haben. Jedenfalls aber griff er im östlichen Meer nach Norden aus, indem er - wie Kypselos - die Führung eines Kolonistenzuges einem seiner Söhne, Euago ras, übertrug, der auf der Chalkidike, am Ansatz der Halbinsel Pallene, die Pflanzstadt Poteidaia anlegte. Die Hausmacht der Tyrannenfamilie erfuhr durch aie Gewinnung dieses Platzes, der wegen des Holzreichtums im Hinterland für
Periandros und die Umwelt
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den Schiffbau von großer Bedeutung war, eine wesentliche Erweiterung. Denn auch hier gebot jetzt ein Kypselide als Tyrann. Es konnte nicht ausbleiben, daß Periandros, kriegerisch, wie er nach dem Zeug nis des Aristoteles war, eine Vermehrung des Tyrannenbesitzes auch an den Ge staden des westlichen Meeres erstrebte, wo an einzelnen Orten bereits seine Halb brüder oder deren Nachkommen herrschten. Im Besonderen mußte zur Eroberung Korkyra locken, sowohl um seiner feindlichen Haltung willen wie wegen seiner Fruchtbarkeit und seiner günstigen Lage für den wachsenden Schiffsverkehr nach Italien und Sizilien. Er unterwarf die Insel und übertrug die Herrschaft ver mutlich seinem Sohn Nikolaos. Später, gegen Ende seines Lebens, versuch ten die Korkyraier das verhaßte Joch abzuschütteln, angeblich weil Perian dros selbst Korkyra zu übernehmen wünschte, während der maßvolle, längst zum Nachfolger bestimmte Sohn nach Korinth übersiedeln sollte. Diese Begründung, die offenbar dem harten Vater einen milden Sohn gegenüberstellen will, verdient um so weniger Glauben, als die Korkyraier den Nikolaos erschlugen, dessen Regi ment sie also nicht weiter ertragen wollten. Periandros hat darauf die Insel aber mals unterworfen und an den vornehmen Familien furchtbare Rache genommen. Dreihundert edle Knaben wurden versklavt und gerieten in Gefahr, an den Lyder könig Alyattes verhandelt zu werden, ein Schicksal, vor dem sie auf dem Trans port von den Samiern bewahrt wurden. Über Korkyra setzte der Tyrann jetzt seinen Neffen Psammetichos ; er selbst kehrte nach Korinth zurück. Ob zu seiner Zeit noch andere Plätze am westlichen Meer, etwa das südlich von Epidamnos gelegene Apollonia, angelegt und einem Angehörigen des Kypselidenhauses unterstellt wurden, ist nicht zu sagen. Macht und Persönlichkeit des Periandros haben die Blicke der Umwelt auf ihn gelenkt. In ihrem Streit um Sigeion bestellten Athener und Mytilenaier ihn zum Richter. Zu Thrasybulos, dem Tyrannen von Milet, stand er in einem gast freundlichen Verhältnis. Daß er, wie vielfach angenommen wird, ähnliche Bezie hungen zum Lyderkönig Alyattes unterhielt, ist unwahrscheinlich, mindestens nicht zu erweisen. Dagegen spricht der Name seines Neffen Psammetichos für Verbindung mit dem Pharao Psammetichos II. (593-588) , scheint es doch, daß der von Periandros in seinen späteren Jahren zum Nachfolger ausersehene Prinz ursprünglich nach dem Großvater Kypselos hieß und erst zu Ehren des Ägypter königs den Namen Psammetichos annahm. Was den näheren Umkreis von Ko rinth betrifft, so dürfte der Tyrann durch die Ehe einer Schwester, wohl schon von Kypselos' Zeiten her, mit dem attischen Geschlecht der Philaiden verwandt schaftlich verbunden gewesen sein. Bezeichnenderweise handelte es sich um eine nichtdorische Familie, wie auch Periandros' Gemahlin Melissa nichtdorischer Abkunft war. Zum dorischen Adel, dem sie selbst nicht angehörten, werden den
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Kypseliden verwandtschaftliche Beziehungen weder erwünscht noch möglich ge wesen sein. Auf ein Eingreifen des Tyrannen in innere Wirren auf Euboia könn ten Verse in der unter Theognis' Namen gehenden Gedichtsammlung weisen, doch läßt sich ihnen nichts Konkretes entnehmen. Auch das Verhältnis des Pe riandros zum Tyrannenhause im nahen Sikyon bleibt bis auf die Tatsache, daß der von seinem Bruder Kleisthenes verdrängte Isodamos in Korinth Aufnahme fand, dunkel. Die nachbarliche Rivalität zwischen den Herren der beiden Städte hat sich nicht kriegerisch entladen, und Periandros sah es offenbar ruhig an, daß Kleisthenes im Heiligen Krieg, den die Amphiktyonen für das Delphische Heilig tum gegen Krisa führten, an Ruhm und Macht gewann. Warum er selbst an dem großen Kampfe nicht teilnahm und, anders als sein Vater, anscheinend auch keine Weihgeschenke nach Pytho stiftete, vermögen wir nicht zu erklären. Glaubte der mächtige Sohn des Wohlwollens ApolIons und seiner Priesterschaft entraten zu können? Dem Zeus von Olympia zeigte er sich erkenntlich, indem er nach einem Sieg mit dem Viergespann ihm eine goldene Statue darbrachte. Ein ande res Weihgeschenk, die von Pausanias ausführlich beschriebene «Kypseloslade», als deren Stifter der Perieget das Geschlecht der Kypseliden nennt, scheint, soweit sie sich stilgeschichtlich bestimmen läßt, erst in die Zeit nach dem Sturz der Ty rannis in Korinth zu gehören. Wenn sie wirklich ein Geschenk der Kypseliden war und nicht erst von Späteren mit irrigem Bezug auf die Legende von Kypselos' Kindheit diesen zugeschrieben wurde, so mag sie von Angehörigen des Hauses außerhalb Korinths geweiht worden sein, wo diese - wie etwa in Ambrakia sich noch eine Zeitlang halten konnten. Periandros' Stellung in Korinth war grundsätzlich dieselbe wie die seines Va ters, von dem er sie geerbt hatte. Gleich ihm gebot er nicht als legaler König oder gewählter Oberbeamter über die Stadt. Privat, nicht nach einer staatsrechtlichen Ordnung, war Reichtum, Ansehn und Gefolgschaft von Kypselos auf ihn über gegangen. Anfangs soll er auch hinsichtlich der Art der Herrschaft in den Bahnen seines Vorgängers gewandelt, später jedoch «tyrannisch» geworden sein, ein Wandel, der offenbar wirklich eintrat, wenn auch die Anekdote, die ihn erklären will, keinen Glauben verdient. Nach ihr hätte der Tyrann Thrasybulos von Milet einem Gesandten des Periandros, der ihn nach der sichersten Art, die Herrschaft zu behaupten, fragen sollte, durch eine symbolische Handlung, indem er nämlich bei einem Gang durchs Feld die hohen Ähren köpfte, den Rat gegeben, hervor ragende Männer, im besonderen also adlige Herren, zu beseitigen. In der Tat stellten diese für einen Tyrannen der archaischen Zeit die größte Gefahr dar, und es schein t, daß Periandros wirklich einige von ihnen, seien es in Korinth verbliebene Bakchiaden, seien es Angehörige des Heraklidenadels, aus dem Wege geräumt hat. Gegen die Vornehmen und Reichen richtete sich auch sein Verbot eines über-
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mäßigen Luxus sowie die Einsetzung einer Kommission, die darüber wachen sollte, daß nicht mehr ausgegeben als eingenommen werde. Diese Maßnahmen, für die gewiß auch der Wunsch des Herrschers, den Adel niederzuhalten, bestimmend war, zeigen eine so enge Verwandtschaft mit Gesetzen nichttyrannischer Nomo theten, daß ihnen über den egoistischen Zweck hinaus ein Wille zur inneren Ord nung des Gemeinwesens und zum Ausgleich der aufreizendsten sozialen Unter schiede nicht abgesprochen werden kann. Dabei scheint es dem Periandros, wie die angeblich von ihm verfügte Ertränkung der Kupplerinnen nahelegt, gleich jenen Gesetzgebern auch um eine sittliche Festigung des Lebens der Bürgerschaft gegangen zu sein. In dieselbe Richtung weist sein Verbot, sich auf dem Markte niederzulassen oder müßig herumzulungern, das freilich auch seine «tyrannische» Seite hatte und ähnlich von anderen Gewalthabern erlassen wurde. Ansammlun gen, zumal der bäuerlichen Bevölkerung, in der Stadt konnten dem Tyrannen gefährlich werden, er mußte daher bestrebt sein, das Volk nach Möglichkeit bei der Arbeit auf dem Lande zu halten. Wenn Periandros, wie überliefert wird, den Erwerb von Sklaven untersagte, so mögen dafür sold1e Gründe, nicht minder aber der Wunsch maßgebend gewesen sein, den niederen Schichten in Stadt und Land die Existenzgrundlage zu bewahren. Daß er dem Bauerntum nicht gleichgültig gegenüberstand, darf wohl auch seiner Pflege des diesen Kreisen besonders am Herzen liegenden Dionysoskultes entnommen werden. Gewerbe und Handel, die schon unter Kypselos in der für den Verkehr so gün stig gelegenen Stadt sich hatten entfalten können, gelangten unter Periandros vollends zu hoher Blüte. Für die keramische Produktion zeigt sie sich sowohl in der erstaunlich großen Ausdehnung des Töpferbezirkes wie namentlich in der künstlerischen Reife der Gefäße des sogenannten korinthischen Stiles und ihrer Verbreitung in ferne Gegenden, vor allem nach Italien und Sizilien. Ob die städ tische Bevölkerung, soweit sie keinen Grundbesitz besaß, in die Phylen und damit in das politische Gemeinwesen aufgenommen war, das zwar Eingriffe von seiten des Tyrannnen erfuhr, aber unter seiner Herrschaft fortbestand, ist höchst frag lich. Materiell kam ihr jedenfalls das Ausgreifen des Periandros auf beiden Meeren und die Zunahme des Handelsverkehrs sowie der rationale, fortschrittliche Geist des Gewalthabers zugute. Denn wie andere Tyrannen hat er das Leben der Stadt bewohner durch Anlage eines modernen Brunnenhauses, in das die Wasser der Quelle Peirene geleitet wurden, erleichtert, und wenn die Verbote des Herum lungerns auf dem Markt und des Erwerbes von Sklaven auch in erster Linie auf die Landbevölkerung gemünzt waren, so mußten und sollten sie wohl zugleich dazu beitragen, die Arbeitsenergie und damit die gewerbliche Produktion zu stei gern. Wiederum ist dabei mit der Sorge für die Wohlfahrt der Stadt ein «tyran nisches» Interesse verbunden. Indem nämlich der Export der Erzeugnisse den über-
Das Mutterland außer Ath en
seeischen Handel steigerte, wuchs der Ertrag der Hafenzölle, den einst die Bak chiaden, seither die Tyrannen für sich in Anspruch genommen hatten. Unter Pe riandros war er so groß geworden, daß der Sohn des Kypselos auf sonstige Be steuerung verzichten konnte. Sein Reichtum mehrte sich mit dem Anwachsen des Schiffsverkehrs und zog gewiß manche fahrende Leute an wie den Dichter Arion aus Methymna, der am Hof des Tyrannen weilend dem Preislied auf Dionysos die Kunstform des Dithyrambos gegeben haben soll. Das Doppelgesicht der Herrschaft des Periandros, das auf der einen Seite den egoistischen, in das Gemeinwesen von Korinth rücksichtslos eingreifenden Gewalt haber, auf der anderen den überlegenen, wohltätigen Staatsmann zeigt, hat offen bar schon bei den Zeitgenossen eine zwiefache Reaktion gefunden, die, wie ein gangs bemerkt, in der überlieferung trotz allen späteren Entstellungen noch spür bar ist. Die Gegnerschaft gegen ihn, dessen leidenschaftliche Ausbrüche Schrecken verbreiten mußten, ist anscheinend größer gewesen als die Opposition gegen Kypselos, von der wir freilich vielleicht nur deshalb nichts hören, weil man später gern bei Tyrannenherrschaften den schlimmen Nachfolger einem besseren Vor gänger gegenüberstellte. Immerhin ist an der Nachricht, daß Periandros sich ge nötigt sah, seine Person durch eine Leibwache zu schützen, kaum zu zweifeln. Abneigung oder gar Haß seitens des entmachteten und zum Teil schwer heim gesuchten Adels kann nicht verwundern, doch auch im Landvolk, scheint es, ob wohl der Tyrann auf Vermögensabgabe oder Ertragssteuer verzichtete, an Erbit terung nicht gefehlt zu haben. Sonst hätte sein Sohn Lykophron, der sich wegen der Tötung der Mutter mit ihm entzweit hatte, nicht bei den «Umwohnern» von Korinth im Gegensatz zum Vater eine eigene Tyrannis errichten können. Da wir weder die näheren Umstände noch die Zeit des Unternehmens kennen, läßt sich über die besonderen Gründe des Unwillens nichts ausmachen. Nur so viel darf gesagt werden, daß Periandros für die Bauernschaft nicht wie Kypselos Befreier vom Druck einer Adelssippe oder Verteiler von deren Landbesitz war, sondern der Herr, der durch strenge Maßnahmen ihre Bewegungsfreiheit einschränkte und sie zur Arbeit anhielt. Immerhin müssen seine Anordnungen, die er vielleicht wie Solon in Elegien zu rechtfertigen suchte, und seine Herrscherpersönlichkeit schon bei den Zeitgenossen - und wohl nicht bloß bei der städtischen Bevölke rung - auch Anerkennung gefunden haben. Denn bereits sehr früh hat man den Tyrannen, obwohl gewiß schon damals ihm allerlei Greuel zur Last gelegt wur den, zu den Sieben Weisen gezählt und ihm allgemeine Lebensregeln zugesduie ben, die von seinem klaren Verstand, seiner Besonnenheit und seinem Weitblick Zeugnis ablegen sollten. Ja selbst Schuld, Zwist und Unglück im Kreis seiner Familie scheinen Teilnahme gefunden zu haben. Als Periandros im Alter von achtzig Jahren (um 587) eines natürlichen Todes
Periandros' Persönlichkeit. Psammetichos
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starb, lebte von seinen fünf Söhnen keiner mehr. Der zur Nachfolge untaugliche Kypselos war vermutlich schon längst tot, desgleichen wohl der aufständische Lykophron, der sich schwerlich gegen den Vater längere Zeit behauptet hat. Den Nikolaos hatten die Korkyraier umgebracht, Gorgos war durch einen Sturz vom Wagen tödlich verunglückt, Euagoras endlich, der Herr von Poteidaia, befand sich ebenfalls nicht mehr am Leben. So hatte der Tyrann seinem Neffen Psammetichos, dem Sohn seines Halbbruders Gorgos, die Herrschaft überlassen müssen, die die ser, von Korkyra heimgekehrt, nunmehr antrat. Sein Regiment, das offenbar von keiner starken Persönlichkeit getragen war, scheint noch mehr als das des Perian dros Erbitterung hervorgerufen zu haben. Jedenfalls fiel Psammetichos nach reich lich drei Jahren einer Verschwörung zum Opfer. Ihre Urheber kennen wir nicht und dürfen höchstens vermuten, daß sie einer vornehmen Hetairie angehörten. Zwar hätte nach dem Bericht des Nikolaos von Damaskos der Demos die Häuser der Tyrannen eingerissen, ihren Besitz konfisziert, des Psammetichos Leiche unbe graben gelassen und sogar die Gebeine der früheren Kypseliden geschändet, aber die Tatsache, daß jetzt in Korinth eine gemäßigte Oligarchie platz griff, läßt die Attentäter eher in den oberen Schichten suchen. Die neue Regierung, die durch ein Kollegium von acht Proboulen und einem Rat von wahrscheinlich zweiund siebzig Männern repräsentiert wurde, ist es offenbar gewesen, welche den Besitz des Tyrannenhauses einzog, auf dem Sd1atzhaus zu Delphoi und der Zeusstatue zu Olympia den Namen der Korinther als der Weihenden anbringen ließ und in der Heimat alle Denkmäler beseitigte, die an die Tyrannen erinnerten. Sie wird auch Sorge getragen haben, daß die Isthmischen Spiele, die angeblich seit Kypselos ruhten, wieder aufgenommen wurden. Ansprüche auf den Außenbesitz der Kypseliden, das heißt auf die von ihnen angelegten und tyrannisch beherrschten Pflanzstädte mögen sogleich erhoben wor den sein. Sie ließen sich freilich nur zum Teil und erst im Laufe der Zeit verwirk lichen. Korkyra hat seine Selbständigkeit, die es erst durch Periandros eingebüßt hatte, vielleicht schon nach der Heimkehr des Psammetichos für die Dauer wieder gewonnen, und es konnten sogar Korkyraier in Kolonien des Tyrannenhauses eindringen. Im übrigen besitzen wir Nachrichten nur für Ambrakia. Dort ist die Herrschaft eines Periandros, der ein Neffe des gleichnamigen großen Tyrannen und vielleicht, wie Psammetichos, ein Sohn des von Kypselos über die Stadt ge setzten Gorgos war, früher oder später gestürzt worden. Die Ermordung des Ty rannen, angeblich von der Hand eines Knaben, den er durch unzüchtige Fragen beleidigt hatte, bewirkte, daß der Demos, der mit dem Attentäter und seinen Mit verschworenen sympathisierte, in der Polis maßgebend wurde. Damit endete die Herrschaft der Kypseliden in Ambrakia. Ein Archinos, der diesem Zweig des Ge schlechtes entstammte und möglicherweise ein Sohn des jüngeren Periandros war,
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siedelte wohl nach dessen Tod in die Heimat seiner Gemahlin Timonassa, Argos, über. Auch andere Nachkommen des Kypselos lebten nun in der griechischen Welt zerstreut, etwa in Herakleia am Ambrakischen Golf oder in Kerinthos auf Euboia. Ob sie in diesen Städten noch eine tyrannenähnliche Stellung einnahmen, nach dem im Zentrum am Isthmos die Herrschaft des Geschlechtes beseitigt worden war, entzieht sich unserer Kenntnis. In Korinth jedenfalls war die Rolle der Kypseliden endgültig ausgespielt. Das nunmehr autonome Gemeinwesen ver mochte sich in der Folgezeit zu festigen und seine Freiheit zu behaupten. Daß ihm dies möglich war, verdankte es freilich zu einem guten Teil der drei undsiebzigjährigen Herrschaft der Kypseliden, die dem altertümlichen, kaum als staatliche Ordnung zu bezeichnenden Regiment der Bakchiaden ein Ende bereitet und trotz allem tyrannischen Egoismus, ja vielfach in übereinstimmung mit ihm, die Grundlagen der künftigen Polis gelegt hatten. Unter Kypselos wurde, soweit wir es zu erkennen vermögen, durch Vermehrung der Phylen die Masse der nichtdorischen Grundbesitzer in die Bürgerschaft einbezogen und damit das Gemeinwesen auf eine breitere Basis gestellt. Als Folge davon und schon des Sturzes der Bakchiadenoligarchie mußte eine neue Verfassung gegeben werden. Daß wir von ihr gar nichts wissen und auch nicht sagen können, ob Periandros' Maßnahmen formal von der Volksversammlung beschlossen oder von ihm aufok troyiert worden sind, ist ein besonders empfindlicher Mangel der spärlichen und dazu in vielem unzuverlässigen überlieferung. Die von Vater und Sohn angelegten Kolonien versorgten die jüngeren Bauernsöhne mit Land, dienten der Handels schiffahrt als Stützpunkte und konnten später zu tragenden Pfeilern der Seemacht Korinths werden. Indem ferner der Adel niedergehalten, das Bauerntum gestützt, seine Arbeit intensiviert und das städtische Gewerbe mindestens indirekt gefördert wurde, griff eine gewisse ständische Nivellierung Platz, ohne welche die künftige Polis kaum hätte gedeihen können. Sogar zu deren sittlicher Formung hat Perian dros im Geiste der Gesetzgeber der archaischen Zeit beigetragen. Anders als später Peisistratos in Athen, der bereits die Solonische Staatsordnung vorfand, haben die Kypseliden, obwohl dazu nicht legitimiert und als Tyrannen selbstherrlich neben und über dem Gemeinwesen stehend, sich als dessen Gestalter betätigt. Das recht fertigt bis zu einem gewissen Grade ihre Herrschaft, so egoistisch und gewaltsam sie in manchem auch war, und erklärt zugleich ihre lange Dauer, die auch Aristo teles mit dem Verhalten der Gewalthaber begründet hat. Immerhin ist es schon für Periandros schwer gewesen, die vom Vater überkommene Stellung zu be haupten, und nur seine starke Persönlichkeit hat dies noch vermocht. Als er hochbetagt starb, hatte die Tyrannis in Korinth geleistet, was sie ihrem Wesen nach leisten konnte ; sie war überfällig geworden. Selbst einer kraftvolleren Natur als der des Nachfolgers Psammetichos wäre es schwerlich geglückt, sie noch wei-
Ende der Kypselidenherrsma{t. Orthagoriden
terhin zu erhalten und den Drang des von den großen Tyrannen geschaffenen, inzwischen aber mündig gewordenen Gemeinwesens nach voller Selbständigkeit zu ersticken.
I I. D I E O RTH A G O R I D E N V O N S I KY O N
Wenn Korinth dank seiner bevorzugten Lage am Isthmos schon früh zum viel besuchten Emporion wurde, das seinen jeweiligen Herren reiche Einkünfte brachte, so war das abseits gelegene Sikyon nicht in gleicher Weise begünstigt. Hier gab es keinen Transitverkehr, und wenn auch Tonvorkommen ein keramisches Ge werbe entstehen ließen, so blieb dieses doch hinter demjenigen von Korinth zu rück. Nur in der kunstvollen Verarbeitung des im Quellgebiet des nahen Asopos flüßchens anstehenden Erzes haben die Sikyonier es bereits in archaischer Zeit zu anerkannter Meisterschaft gebracht. Im ganzen jedoch war Sikyon eine Landstadt mit großenteils sehr fruchtbarem Gebiet. Anscheinend relativ spät von Doriern aus der Argolis in Besitz genommen, die wohl infolge ihrer geringen Zahl den eigenen drei Phylen eine vierte, aus frühgriechischen Familien gebildete Phyle zugesellen mußten, hat es vor der Mitte des 7. Jahrhunderts wahrscheinlich unter einer rein dorischen Aristokratie gestanden. Die damals allgemein wachsende Spannung zwischen Adel und Bauernschaft, die durch den Stammesunterschied gewiß noch verschärft wurde, gab, wie in Korinth, auch hier einem machtgierigen} tatkräftigen Herrn Gelegenheit, als Führer der Unzufriedenen das bestehende Re giment zu stürzen und sich zum Tyrannen aufzuschwingen. Das geschah} etwa gleichzeitig mit dem Staatsstreich des Kypselos, vermutlich durch Orthagoras. Daß sein Vater Andreas} wie es heißt, Koch gewesen sei, ist unmöglich, weil in j ener Zeit nur ein Mann vornehmer Abkunft die Herrschaft über ein Gemeinwesen zu gewinnen vermochte; es könnte jedoch der diffamierenden Behauptung zugrunde liegen, daß der Tyrann nicht den dorischen Geschlechtern angehörte, als deren leidenschaftlicher Gegner später der bedeutendste Orthagoride, Kleisthenes, er scheint. Kleisthenes Während über Art und Dauer der um 655 einsetzenden Herrschaft des Orthagoras nichts bekannt ist} besitzen wir dank einern Papyrusfund einen wohl letztlich auf den Historiker Ephoros zurückgehenden Bericht über den Weg, auf dem er zur Tyrannis gelangte. Er soll sich zunächst als Führer der Grenztruppen im Kampf gegen das nahe Pellene, später als Befehlshaber des gesamten Aufgebotes durch Kriegstaten ausgezeichnet und dadurch das Volk für sich gewonnen haben. Es ist
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nicht nur die Verwendung der Terminologie des attischen Heerwesens (Peripoloi, Polemarchos), was diese Schilderung verdächtig macht, sondern auch die Ähnlich keit mit dem, was über den Aufstieg des Kypselos und Peisistratos erzählt wird, sowie der Umstand, daß Orthagoras vermutlich nicht dem dorischen Adel an gehörte, der das Amt des Heerführers aus den eigenen Reihen besetzt haben dürfte. Andererseits behält die für Kypselos angeführte allgemeine Bemerkung des Aristoteies, daß in alter Zeit die Vereinigung von Volksführerschaft und mi litärischem Kommando das Aufkommen von Tyrannen begünstigte, auch hier ihr Gewicht, zumal wir nicht wissen, in welchem Verhältnis vor seinem Staatsstreich Orthagoras zum dorischen Adel stand. Die Möglichkeit ist also nicht ausgeschlos sen, daß er mit Hilfe der bäuerlichen Hopliten, die er befehligte, die Tyrannis errichten konnte. Sie scheint nach seinem Tode an Myron, wohl seinen Bruder, übergegangen zu sein, der 648 in Olympia mit dem Viergespann siegte und dort ein Schatzhaus mit zwei ehernen Kammern errichten ließ. Von seiner Herrschaft, die möglicherweise erst nach 648 begann, wissen wir nichts, auch bleibt es fraglich, ob er sie seinem Sohn Aristonymos, der vermutlich der Gatte einer Tochter des Orthagoras war, oder gleich dessen ältestem Sohn Myron hinterließ. Jedenfalls war dieser zweite Myron um 600 sieben Jahre lang Tyrann über Sikyon. Von Na tur zügellos und brutal, soll er mit der Frau seines Bruders Isodamos Ehebruch getrieben haben, worauf der Gekränkte, von einem dritten Bruder, Kleisthenes, zur Rache und zur Gewinnung der Tyrannis aufgestachelt, den Myron beseitigte. Bald nahm der vertrauensselige Isodamos, der Kleisthenes' Ränke nicht durch schaute, ihn als Teilhaber seiner Herrschaft an, da jener ihn überzeugte, daß er als ein mit Blutschuld Belasteter nicht die Opfer darbringen könne. Die Bevölkerung aber, einschließlich der Gefolgschaft des Isodamos, schloß sich aus Angst vor dem gewalttätigen Kleisthenes diesem an, der nun durch einen Mittelsmann den arg losen Bruder bewog, zur Sühnung der Blutschuld, die, ungetilgt, ihn und seine Nachkommen von der Herrschaft ausschließen müsse, für ein Jahr außer Landes zu gehen. Wirklich begab sich Isodamos darauf nach Korinth, wohl an den Hof des Periandros, nachdem er für die Zeit seiner Abwesenheit das Regiment Klei sthenes überlassen hatte. Der jedoch verwehrte ihm unter dem Vorwand, Isoda rnos wolle mit Hilfe der Kypseliden ihn aus der zuvor eingerichteten Samtherr schaft verdrängen, die Rückkehr und begründete so die eigene Tyrannis, die er 3 1 Jahre innehatte. So viel an dieser aus dem Geschichtswerk des Ephoros geschöpften Erzählung des Nikolaos von Damaskos im einzelnen Ausgestaltung oder späte Erfindung sein mag, an der Angabe, daß Kleisthenes mit List und Gewalt seinem Bruder die Herr schaft entriß, ist kaum zu zweifeln. Mit ihm gelangte ein ungewöhnlicher Mann an die Macht, der einzige unter den Orthagoriden, von dem wir etwas Näheres
Kleisthenes 'Von Sikyon
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wissen. Seine Regierungszeit läßt sich ungefähr auf das erste Drittel des 6. Jahr hunderts bestimmen. Wie bei Periandros ist das Urteil über ihn in der antiken Überlieferung widerspruchsvoll, was auch hier nicht nur an der verschiedenen Ein stellung der Autoren, sondern an der Persönlichkeit und dem Wirken des Tyran nen selbst zu liegen scheint. Verschlagen und furchtbar, sehr gewalttätig und roh nennt ihn Ephoros, während Aristoteles vom milden, die Gesetze achtenden Re giment der Orthagoriden spricht und rühmt, daß Kleisthenes sogar einen Kampf richter, der ihm den Sieg absprach, für seine aufrechte Haltung bekränzen ließ. Das Beispiel zeigt, daß mit dem Achten der Gesetze nicht etwa eine legale Amts stellung gemeint ist, sondern ein - mindestens gelegentliches - demonstratives Sichbeugen der Gewalthaber unter Ordnungen des Gemeinwesens, die ihre Macht stellung nicht tangierten. Bei Herodot, der freilich der freundlichen Tradition des verwandten Alkmeonidenhauses folgt, findet sich keine abträgliche Bemerkung über Kleisthenes ; es wird vielmehr bemerkt, daß er sein Haus zu höchstem Glanz erhoben habe. In der Tat ist es dem Herrn von Sikyon gelungen, in der griechi schen Welt des frühen 6. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle zu spielen. Seinen kriegerischen Geist, den Aristoteles hervorhebt, betätigte Kleisthenes, wie es scheint, zunächst im Kampf gegen Argos, zu dem seit den Zeiten der Grün dung von Sikyon enge Beziehungen bestanden. Vom Verlauf des Krieges hören wir nichts, doch kann den Argivern kein entscheidender Sieg beschieden gewesen sein, denn der Tyrann vermochte jene alten Verbindungen, die vor allem zwischen dem dorischen Adel hier und dort bestanden, radikal zu zerreißen. Er untersagte in seiner Stadt die Rhapsodenwettkämpfe, weil die dabei vorgetragenen homeri schen Epen Argos und die Argiver verherrlichten, und ging des weiteren daran, den Kult des Heros Adrastos, der als Argiver und einstiger König von Sikyon galt, aufzuheben. Der delphische Gott, Hüter der Heroenverehrung, gab ihm auf seine vorherige Anfrage zwar eine schroff ablehnende Antwort, aber Kleisthenes ließ sich nicht beirren. Er beseitigte die dem Adrastos geltenden Opfer und Feste und übertrug sie auf Melanippos, einen Heros, der ein erbitterter Feind des Adrastos gewesen sein sollte. Seine Gebeine ließ er aus Theben nach Sikyon überführen, wo ihnen im Bereich des Staatshauses (Prytaneion) ein eigener Kultbezirk geschaf fen wurde, während die tragischen Chöre, die bisher Adrastos' Leiden besungen hatten, der Gott Dionysos zurückerhielt, dem sie angeblich einst geweiht gewesen waren. Doch damit nicht genug. Den drei dorischen Phylen, die in Sikyon nicht denselben Namen tragen sollten wie in Argos, gab er entehrende, an Schwein und Esel anklingende Namen ; die vierte, nichtdorische Phyle dagegen, der er selbst an gehörte, bekam die Bezeichnung «Archelaoi», die nach Herodot auf seine eigene Herrschaft hindeuten sollte. Es war das ein schwerer Affront, nicht nur gegen den heimischen Adel, sondern gegen die dorischen Herren allenthalben, wie denn auch
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die Spartaner die Antwort nicht schuldig blieben, indem sie ihrerseits die Milch schweine nach den Orthagoriden benannten. Kriegerische Aktivität hat Kleisthenes auch sonst reichlich bewiesen. Den Kampf gegen das nahe PelIene, in dem sich schon Orthagoras ausgezeichnet hatte, nahm er auf und konnte die Stadt, die sich der Belagerung eine zeitlang erwehrte, schließ lich erobern. Auch soll er durch militärische Hilfeleistungen sich Bundesgenossen gewonnen haben. Seinen Kriegsruhm aber verdankte er vor alIem der Teilnahme am Heiligen Krieg, den die Amphiktyonen um 590 für das delphische Heiligtum gegen die phokische Stadt Krisa führten. Neben dem Wunsch, sich die Gunst des pythischen Gottes wiederzugewinnen, und persönlichem Ehrgeiz mögen Piraten fahrten der Krisaier ihn veranlaßt haben, an dem Vernichtungskampf mitzuwir ken. Wenn er auch nicht Befehlshaber der gesamten Streitkräfte war und die listi gen Taten, die man ihm später zuschrieb, ohne Gewähr sind, so scheint er doch mit einer neuerbauten Flotte durch Abschneiden der überseeischen Zufuhr erheb lich zum Fall von Krisa und zur glücklichen Beendigung des gesamten Krieges beigetragen zu haben. Wie eine Belohnung für seine wertvolle Hilfe mußte es wir ken, daß im Jahre 582, als bei den neugeordneten pythischen Spielen zum ersten Male Rennen mit Viergespannen stattfanden, ihm der Siegespreis in diesem Agon zuerkannt wurde. Auch an materielIem Gewinn fehlte es nicht. Von der reichen Beute solI er ein Drittel erhalten haben, das ihm Gelegenheit gab, in Sikyon eine Säulenhalle zu erbauen. Zudem : Krisa, die Rivalin am Korinthischen Golf, war ausgetilgt, fast zu derselben Zeit, als das ihm anscheinend mißgünstige Haus der Kypseliden die Tyrannis über Korinth verlor. Mit Delphoi hat Kleisthenes nun mehr, soviel wir zu erkennen vermögen, in guten Beziehungen gestanden. Könnte die Einrichtung eigener pythischer Spiele in Sikyon an sich auch als eine feindliche Konkurrenzgründung aufgefaßt werden, so spricht doch der Bau einer Tholos zu Delphoi (um 580) und vielleicht auch einer etwa zwei Jahrzehnte später im Heilig tum errichteten offenen Säulenhalle, in der möglicherweise der Siegeswagen des inzwischen wohl verstorbenen Tyrannen aufgestelIt wurde, dafür, in der Grün dung jener Spiele zu Sikyon einen Akt der Ergebenheit für den delphischen Gott zu sehen. Nicht lange nach seinem pythischen Wagensieg, vermutlich im Jahre 576, hat Kleisthenes mit dem Viergespann auch in Olympia den Preis errungen. Im VolI gefühl seines Erfolges richtete er dort an die helIenische Adelswelt die Einladung zur Brautwerbung um seine Tochter Agariste. Wie Herodot erzählt, stelIten sich im folgenden Jahre aus den griechischen Pflanzstädten Unteritaliens, aus Epidam nos, Epirus und Aitolien, Arkadien und Argos sowie aus Athen, Eretria und Thes salien Freier ein, deren Namen, meist auch den Vatersnamen, der Historiker anzu geben weiß. Ob freilich in der schon früh novellistisch ausgeschmückten Tradition
Kleisthenes von Sikyon
über die Versammlung zuverlässige Erinnerung an die Teilnehmer fortlebte oder ob bekannte Gestalten der Frühzeit, unbekümmert um Chronologie und wahren Sachverhalt, später mit dem Ereignis verbunden wurden, bleibt fraglich, wie denn die gesamte Erzählung nicht historisch gepreßt werden darf. Soviel jedoch kann als sicher gelten, daß aus nah und fern edle Bewerber erschienen, daß der Glanz des Herrn von Sikyon und seines Reichtums besonders hell erstrahlte und daß die auswärtigen Adligen an der Tyrannis als solcher nicht nur keinen Anstoß nahmen, sondern gern bereit waren, eine Verbindung mit ihr einzugehen. Kleisthenes an dererseits war offensichtlich daran gelegen, von dem Adel des hellenischen Be reiches als sein glänzendster Vertreter bewundert und beneidet zu werden. Wenn nach Prüfung von Herkunft und persönlichem Wert der Freier schließlich der Alkmeonide Megakles aus Athen den Sieg im Agon um Kleisthenes' Tochter ge winnen konnte, so mag dabei auch die Tatsache, daß er wie der Brautvater nicht dorischer Herkunft war, eine Rolle gespielt haben. Blieb doch mindestens zu den dorischen Geschlechtern in Sikyon, wie das Festhalten an den Schimpfnamen für die Phylen zeigt, der Gegensatz in voller Schärfe bestehen. Eine Vermehrung der Phylen haben weder die früheren Orthagoriden, die gleich Kypselos und anderen Tyrannen sich auf die nichtadligen Schichten, im besonde ren die Bauernschaft, stützten, noch Kleisthenes selbst vorgenommen. Die einzige den Demos betreffende Maßnahme, von der wir erfahren, betraf das Femhalten des Landvolkes von der Stadt, das uns ähnlich bei Periandros begegnete. Kleisthe nes soll die Kleinbauern gezwungen haben, ihre ländliche Tracht, den Schafspelz, auch in der Stadt zu tragen, damit sie sich scheuten, dorthin zu häufig zu kommen, und bei der Arbeit auf dem Lande blieben. Möglich, daß er zudem die Ansamm lung Unzufriedener zu fürchten hatte, zumal da die Landnot von den Orthago riden nicht nach Art der Kypseliden durch Koloniegründungen gemildert worden zu sein scheint. Von Verteilung adligen Grundbesitzes, die am ehesten schon durch Orthagoras erfolgt sein könnte, erfahren wir nichts ; die übertragung der tragischen Chöre von Adrastos auf Dionysos in das einzige, was vielleicht eine gewisse Rücksichtnahme auf das Bauerntum verrät. Freilich ist die ungemeine Dürftigkeit der uns vorliegenden überlieferung in Rechnung zu stellen, die auch für das sikyonische Gemeinwesen und die Stellung der Tyrannen zu ihm nichts Sicheres erkennen, bestenfalls etwas ahnen läßt. Die gelegentliche Nennung des Prytaneion bestätigt, was ohnehin anzunehmen wäre, daß unter Kleisthenes städtische Behörden fungierten. Auch eine Volksversammlung mag zusammen getreten sein, ohne daß wir jedoch zu sagen vermöchten, wieweit die ländliche Bevölkerung und ob etwa gar Gewerbetreibende in der Zeit der Orthagoriden an ihr teilhatten. Für die bäuerlichen Hopliten darf es wohl als sicher gelten, und sie im besonderen werden unter den Sikyoniern zu verstehen sein, mit denen
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Kleisthenes den Kampf um Pellene führte. Am Heiligen Krieg dagegen war der Tyrann vorwiegend mit seiner Flotte beteiligt, die er aus eigenen Mitteln aufge stellt zu haben scheint, da ihm persönlich die Beute zufiel. Wenn aber er und nicht das Gemeinwesen als solches die Ruderer besoldete und die Früchte des Sieges ein heimste, so besteht zum mindesten die Möglichkeit, daß auf ähnliche Weise Pel lene in seinen Besitz kam und die Sikyonier, die unter ihm die Stadt eroberten, in seinem Solde standen wie die Ruderer und vielleicht auch eine ständige Leibwache von Keulenträgern. Auf eine solche, die aus ärmeren Bauern gebildet worden wäre, deuten freilich nur einige späte Notizen hin, doch ist sie den Orthagoriden nicht weniger als dem Periandros und Peisistratos, für die wir entsprechende Zeugnisse besitzen, zuzutrauen. Woher Kleisthenes die Mittel für die Soldzahlungen, für sein glänzendes Auftreten und seine Weihungen nahm, bleibt unklar. Neben der Beute aus Kriegen und Raubzügen werden wohl Einkünfte aus Steuern irgendwel cher Art in Rechnung zu stellen sein, wie sie ja auch den Kypseliden und Peisi stratiden zur Verfügung standen. Um 570 oder nicht lange darauf ist Kleisthenes eines natürlichen Todes gestor ben. Ihm folgte, wenn nicht alles täuscht, Aischines, der letzte Orthagoride, der die Herrschaft über Sikyon innehatte, bis er um die Mitte der fünfziger Jahre durch die Spartaner oder wenigstens mit ihrer Hilfe gestürzt wurde. Daß die Her ren am Eurotas dem Kleisthenes wegen seiner Beschimpfung der dorischen Phylen grollten, dürfte für ihr Eingreifen mitbestimmend gewesen sein, doch haben sie es offenbar nicht vermocht, den dorischen Adel wieder in seine alte Stellung einzu setzen. Denn wenn die entehrenden Namen den Phylen noch jahrzehntelang ver blieben und erst um 510 abgeschafft wurden, so folgt daraus, daß die nichtdori schen Schichten, nach dem Sturz der Orthagoriden maßgebend im Gemeinwesen waren. Es ist dies fast das einzige, was wir bei unserer mangelnden Kenntnis der früheren Zustände über die Wirkung der hundertjährigen Tyrannis in der Ge schichte Sikyons aussagen können. Wissen wir doch von den ersten Gewalthabern und vom letzten so gut wie nichts, von Kleisthenes' Herrschaft über die Stadt nur wenig. In der Erinnerung lebten vor allem der Glanz seines Hofes, der Ruhm sei ner Wettkampfsiege, die Teilnahme am Heiligen Krieg und die radikalen Maß nahmen gegen alles Dorisch-Argivische fort. Die Alkmeoniden in Athen, die nach Herodot durch die Vermählung des Megakies mit Agariste zu Ruhm in Hellas ge langten, hatten Grund, ihn in Ehren zu halten und wohl auch sein volksfreund liches Wirken zu betonen. Mag eine diesbezügliche Bemerkung des Aristoteles letztlich auf ihre Tradition zurückgehen, so unterliegt es doch kaum einem Zwei fel, daß Kleisthenes, der zudem Kriegsruhm gewann, und wohl schon seine Vor gänger durch ein im ganzen maßvolles und volksfreundliches Regiment sich die Gunst des Demos erwarben. Das erklärt, wie ebenfalls bereits Aristoteles festge-
Aischines 'Von Sikyon. Theagenes 'Von Megara
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stellt hat, die ungewöhnlich lange Dauer der Herrschaft der Orthagoriden über Sikyon.
I I I. T H E A G E N E S V O N M E G A R A
Auch in der dritten der unweit des Isthmos gelegenen dorischen Städte ist es im 7. Jahrhundert zur Errichtung einer Tyrannis gekommen, über die wir leider nur wenige Einzelangaben besitzen. Die Enge des Fruchtlandes der Megaris hatte schon früh zu übervölkerung und Auswanderung eines nicht geringen Teiles der Bewohner in die Ferne geführt, doch scheint weder dadurch noch durch das Anwachsen des Gewerbes, im besonderen der Wollverarbeitung, die den ärmeren Schichten gewisse Verdienstmöglichkeiten bot, der zunehmenden Spannung zwi schen grundbesitzendem Adel und gedrückten Kleinbauern ein Ventil geöffnet worden zu sein. So konnte ein machtgieriger Herr, der sich an die Spitze des un zufriedenen Landvolkes stellte, Aussicht auf Gewinnung der Tyrannis haben. Es war Theagenes, der sich auf diese Weise nicht lange nach dem Aufkommen des Kypselos und Orthagoras zum Herrn von Megara machte. Wenn Aristoteies angibt, Theagenes sei durch Abschlachten der am Fluß wei denden Herden der Reichen Tyrann geworden, so wird man in diesem Vorgehen einen von ihm organisierten Ausbruch der aufgestauten Erbitterung der Klein bauern sehen dürfen, die ihren Mut kühlten und es ihrem Führer dankten, daß sie Rache üben und sich an dem Fleisch der Tiere gütlich tun konnten. Auf seinen Wunsch billigte man ihm zum Schutz gegen den verhaßten Adel eine Leibwache zu, mit deren Hilfe er sich vollends in den Besitz der Gewalt über das Gemeinwe sen setzen konnte. Daß er in ihm ein leitendes Amt bekleidete, ist nicht wahr scheinlich. Gleich den anderen Tyrannen am Isthmos hat er vermutlich, auf seinen Anhang im niederen Volk und die Leibwache gestützt, als reiner Machthaber über Megara geboten. Die Frage, ob er die Hoffnungen seiner Gefolgschaft irgendwie erfüllte, ob er etwa eine Neuaufteilung des Bodens an die bäuerliche Bevölkerung vornahm oder gar den Kreis der zur Teilnahme am politischen Leben Berechtigten erweiterte, muß beim Fehlen jeglicher überlieferung unbeantwortet bleiben. Wir hören nur, daß er eine Wasserleitung erbauen ließ, die in einem Brunnenhaus endete. Theagenes erwies sich also dem Volk in der Stadt gefällig und bekundete die für so manche Tyrannen der archaischen Zeit charakteristische Neigung zu technischen Neuerungen. Was sonst über ihn verlautet, betrifft weniger Megara als Athen. Dort machte in der Zeit um 630 der Adlige Kylon, dem Theagenes seine Tochter zur Frau gegeben hatte, den Versuch, die Tyrannis zu gewinnen, wobei ihn sein Schwiegervater mit Streitkräften unterstützte. Hoffte dieser auf
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eine Art von Samtherrschaft mit dem Schwiegersohn über beide Städte oder ging es ihm nur um die Gewinnung der als Zankapfel zwischen Athen und Megara gelegenen Insel Salamis, die später, zu Solons Zeit, wirklich den Megarern zuge fallen war? Mindestens die erste Hoffnung hat sich nicht erfüllt, denn Kylons Anschlag scheiterte völlig. Aber auch die Tyrannis des Theagenes nahm ein jähes Ende. Der Gewalthaber wurde vertrieben, und es scheint, daß nunmehr für einige Zeit eine oligarchische Ordnung Platz griff, deren Träger wohl am Sturz des Ty rannen beteiligt gewesen waren. Der Demos hat sich mit dem reaktionären Regiment, unter dem die Verschul dung an die reichen Herren immer druckender empfunden wurde, nicht zufrieden gegeben. Während des 6. Jahrhunderts ist Megara, soviel wir erkennen können, von inneren Kämpfen zerrissen gewesen, die zeitweise zur Verbannung vieler adliger Männer und Einziehung ihres Vermögens sowie zur Einrichtung einer demo kratischeren Verfassung führten, bis die große Schar der Vertriebenen mit Ge walt ihre Rückkehr erzwingen und die Erneuerung der Oligarchie bewirken konn ten. Diese Wirren haben anscheinend die Gefahr einer neuen Tyrannis in bedroh liche Nähe gerückt. Nicht nur gegen die Menge und ihre Führer, von deren Maß losigkeit auch Aristoteles spricht, wendet sich in jener Zeit der Dichter Theognis mit der ganzen Verachtung des Aristokraten für die Masse, er fürchtet auch, daß «die schwangere Stadt einen Tyrannen gebäre», und rät einem Freund, nicht aus Gewinnsucht einen Tyrannen zu fördern, sich andererseits aber nicht in eine Verschwörung zum Tyrannenmord einzulassen. An anderer Stelle freilich gilt es ihm im Sinne des wachsenden Rechts- und Staatsbewußtseins als eine vor den Göttern gerechte Tat, den «demosfressenden» Tyrannen niederzustrecken. Wenn wirklich, was aus Theognis' Versen nicht eindeutig hervorgeht, Megara noch ein mal unter die Herrschaft eines Tyrannen gekommen sein sollte, so ist uns von dessen Persönlichkeit und Wirken jedenfalls nichts bekannt.
I V. D I E P E L O P O N N E S
Bereits im Rahmen der Geschichte des Periandros begegneten wir Pro kIes, dem Tyrannen von Epidauros, der seine Tochter Melissa dem Kypseliden vermählte. Wahrscheinlich selbst kein Dorier, zudem mit Eristheneia, einer Tochter des ar kadischen Königs Aristokrates, verheiratet, der - wie auch noch sein Sohn Aristo demos - die ganze Landschaft beherrscht haben soll, war Prokies in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts vielleicht als Führer einer gegen den heimischen dori schen Adel gerichteten Bewegung zur Macht gelangt. Es könnte damit zusammen hängen, daß nach einer freilich legendären und im einzelnen unglaubwürdigen
Megara. Peloponnesisdte Staaten
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delphischen Erzählung das Orakel dem als grausam geschilderten Tyrannen sich feindselig zeigte. Zuverlässige Kunde haben wir über die Art seiner Herrschaft nicht, und selbst über seinen Sturz gab es zwei einander widersprechende Traditio nen : die delphische, die ihn von Freunden eines Atheners Timarchos, den er getötet hätte, umgebracht werden ließ, und die offenbar bessere, wenngleich novellistisch ausgeschmückte, des Herodot, der berichtet, daß Prokles nach Melissas gewalt samem Tod mit deren Söhnen gegen ihren Vater Periandros konspiriert und dieses Verhalten mit dem Verlust von Epidauros und persönlicher Gefangenschaft ge büßt habe. Noch weniger für ein Bild der älteren Tyrannis in der Peloponnes gibt aus, was von Leon, dem Herrn des südlich von Sikyon gelegenen Phleius, erzählt wird. Denn daß er mit dem berühmten Pythagoras ein Gespräch über Philosophie ge führt haben soll, ist nichts weiter als eine der später so beliebten Konfrontierun gen von Tyrannen und Philosophen. An der Historizität eines in archaischer Zeit über Phleius gebietenden Machthabers Leon dürfte auf Grund der Anekdote zwar kaum zu zweifeln sein, ob er aber wirklich ein Zeitgenosse des Pythagoras war und dementsprechend in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts zu datieren ist, muß angesichts der chronologischen Ungenauigkeit derartiger Geschichten offenbleiben. «Tyrannen» wurden von den Eleiern Pantaleon und sein Sohn Damophon ge nannt, die in Wahrheit nacheinander während der Jahrzehnte um 600 die legitime Königsherrschaft über die südlich von Elis gelegene Landschaft Pisatis innehatten. Von Pantaleon erzählte man später scheußliche Grausamkeiten, Damophon sollte den Eleiern viel Schlimmes angetan haben, wovon sich jedoch die Pisaten distan ziert hätten. Könnte das letzere auch auf ein eigenmächtiges überschreiten der königlichen Befugnisse und insofern auf eine Art von Tyrannis hinweisen, so ist von einer solchen gleichwohl kaum zu sprechen, weil die erwähnten Angaben der feindlichen eleischen Tradition entstammen, welche die beiden Pisatenkönige wegen ihres hartnäckigen Widerstandes gegen die Eroberungsgelüste der Eleier als Tyrannen zu diskreditieren suchte. Ob Argos im 6. Jahrhundert zeitweise von Tyrannen beherrscht wurde, ist mit Sicherheit nicht zu sagen. Manches spricht dafür, daß in diese Epoche der uns so wenig bekannten Geschichte der Stadt sowohl der Tyrann Perillos (Perilaos) ge hört, von dem freilich nur verlautet, daß er das Grabmal des mythischen Königs Akrisios zerstört habe, wie auch ein gewisser Archinos, über den zwei voneinander abweichende Angaben vorliegen. Nach der einen hätte er als Aufseher über die Herstellung neuer Waffen, die von staatswegen den Bürgern gegen Ablieferung der alten Stücke ausgehändigt werden sollten, diese letzteren nicht, wie beschlos sen worden war, den Göttern geweiht, sondern mit ihnen Fremde und Metöken sowie Leute, die des Bürgerrechtes verlustig gegangen waren, und Arme ausge-
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rüstet, an deren Spitze er dann die Tyrannis über Argos gewann. Ein derartiges Vorgehen würde wohl ins 6. Jahrhundert passen, nur weiß die zweite überliefe rung davon nichts. Sie berichtet vielmehr, daß Archinos, welcher König der Argi ver geworden war, als erster den Agon der Hekatombaia einrichtete und, mit der Herstellung von Waffen betraut, davon die «Waffengabe» leistete. Da das Königs amt in Argos sogar noch im 5. Jahrhundert bestand, ist es durchaus möglich, daß Archinos dieses innehatte und daß seine Bezeichnung als König zusammen mit der Nachricht von der Waffenherstellung den Anlaß gegeben hat, ihm die Gewin nung der Tyrannis auf die geschilderte Art zuzuschreiben. Das Fehlen jeglicher Zeugnisse über Tyrannen in Arkadien, Achaia und Elis braucht seinen Grund nicht nur in der ungemeinen Dürftigkeit der Tradition über die Geschichte dieser Landschaften in archaischer Zeit zu haben, es könnte sich auch aus der Rückständigkeit jener Gebiete erklären, in denen es noch kaum zur Ausbildung stadtstaatlicher Gemeinwesen kam, so daß die politischen und sozia len Voraussetzungen für Errichtung einer Tyrannis fehlten. In Sparta und seinem Gebiet dagegen war es gerade die in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts ein setzende ungewöhnliche staatliche Konsolidierung, die das Aufkommen eines Ty rannen verhinderte. Sowohl die radikale Niederhaltung der des Grundeigentums entbehrenden kleinbäuerlichen Heloten, mit denen zu paktieren Hochverrat be deutete, wie die wirtschaftlich nicht ungünstige Lage der Periöken, denen nach der Eroberung von ganz Messenien genügend Ackerland zur Verfügung gestanden zu haben scheint, vor allem aber das Aufgehen der Spartiaten in einer selbstgewoll ten gesetzlichen Lebensordnung, die den einzelnen fest umfing und ihm den Be sitz des nur zu leicht in politische Macht umzusetzenden Edelmetalls verbot, hat hier die Gefahr einer Tyrannis, die am ehesten von einem der Könige drohen konnte, dauernd gebannt. Schon Thukydides führte die Tatsache, daß Sparta bis auf seine Zeit «immer tyrannenlos» war, auf seine gute gesetzliche Ordnung (Eunomie) zurück. Und mehr als das, er bemerkt, daß die meisten und letzten Ty rannenherrschaften in Hellas, das einst zu einem großen Teil unter Tyrannen gestanden habe, mit Ausnahme der sizilischen von den Lakedaimoniern aufgelöst worden seien. Welche Städte und welche Tyrannen der Historiker dabei im Auge hat, sagt er nicht, doch werden uns einzelne Fälle noch begegnen, die in einer von Plutarch überlieferten, freilich etwas wirren Liste neben dem bereits erwähnten S turz des Aischines von Sikyon aufgeführt sind. Jedenfalls steht nach dem Zeug nis des Thukydides und einer emphatischen Äußerung, die bereits Herodot dem Korinther Sokles in den Mund legt, außer Zweifel, daß die Spartaner, die auch außerhalb ihres eigenen Bereiches statische aristokratische Verfassungen wünsch ten und begünstigten, schon weil die expansive Dynamik des Demos oder eines von ihm emporgehobenen Gewalthabers ihre Furcht erregte, im 6. Jahrhundert
Sparta. Phokis. Delphoi
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grundsätzlich, wenn auch nicht immer in der Praxis, der gesetzlosen Herrschaft von Tyrannen feind waren und eine Anzahl von ihnen zu Fall gebracht haben.
v. M I TT E L- UND N O RD G R I E C H ENLAND
Für die nördlich des Isthmos und des Korinthischen Golfes liegenden Gebiete des griechischen Festlandes gilt im wesentlichen das gleiche, was hinsichtlich der Land schaften Arkadien, Achaia und Elis zu sagen war: weder in den noch einigermaßen primitiven Stammesgemeinden der Phoker, Lokrer, Aitoler und Akarnanen noch in Thessalien mit seinen großen Feudalherrschaften waren die politischen und so zialen Voraussetzungen für das Aufkommen von Tyrannen gegeben. Zwar nennt der Historiker Ephoros den Führer des ältesten Kolonistenzuges nach Metapont, Daulios, «Tyrann von Krisa», doch ist schon wegen der frühen Zeit (8. Jahrhun dert) an keine echte Tyrannis zu denken, ganz abgesehen davon, daß dieser Dau lios vermutlich nichts anderes als der eponyme Heros der phokischen Stadt Daulis war. Und was es mit dem Tyrannen Aulis in Phokis auf sich hat, den die Spar taner - wohl nach dem Xerxeskrieg - vertrieben haben sollen, bleibt völlig dun kel. Selbst aus Boiotien, das trotz seiner sprichwörtlichen Rückständigkeit am frühesten unter allen von Nordwestgriechen besiedelten Landschaften zur Ausbil dung städtischer Gemeinwesen gelangt zu sein scheint und, wie Hesiod bezeugt, schon vor 650 von starken sozialen Spannungen erfüllt war, ist kein Tyrann be kannt. Auch hier wird man dafür kaum den Mangel an Überlieferung verantwort lich machen dürfen, hätte doch die Erinnerung an bedeutende Tyrannenpersön lichkeiten, wenn solche vorhanden gewesen wären, gewiß irgendwo in der antiken Literatur ihren Niederschlag gefunden. Es ist vielmehr festzustellen, daß die ge sellschaftliche Struktur der nicht von Doriern oder Ionern bewohnten Gebiete Griechenlands in archaischer Zeit keinen Nährboden für die Tyrannis bot, sei es weil die patriarchalischen Ordnungen noch unerschüttert blieben, sei es daß be stehende Gegensätze zwischen Adel und Bauernschaft einigermaßen ausgeglichen werden konnten, sei es schließlich weil der städtische Demos fehlte, auf den ein Tyrann sich hätte stützen können. So würde das Festland nördlich des Isthmos für die ältere Tyrannis ohne Bedeutung sein, wären die meisten seiner Stämme nicht im Amphiktyonen verband um das Heiligtum von Delphoi geschart gewesen, dessen Orakelsprüche immer wieder in den Erzählungen von Aufstieg, Herrschaft und Ende der Ty rannen begegnen. Sind sie bis auf die brüske Abweisung der kultischen Neuerun gen des Kleisthenes und die scheinbare Ermunterung des Atheners Kylon zur Be setzung der Akropolis, von der an anderer Stelle zu sprechen sein wird, auch nicht
Das Mutterland außer Athen
authentisch, ja zum Teil offensichtlich Erfindungen post eventum, so gingen einige doch wahrscheinlich schon zur Zeit der Tyrannen oder bald nach ihrem Tod um, als man noch wußte, welche Haltung der pythische Gott eingenommen hatte oder wenigstens eingenommen haben konnte. Von einer grundsätzlichen Ablehnung der Tyrannis findet sich in allen diesen Sprüchen keine Spur, manche zeigen sogar eine Begünstigung, und wenn eine scharfe Ablehnung erfolgt oder Schlimmes geweissagt wird, so handelt es sich um Zurückweisung willkürlicher Eingriffe in die von Delphoi geschützten Kulte oder um Sühne für begangenen Mord, über der Apollon wacht. Weihgeschenke von Tyrannen sind offenbar ohne Bedenken an genommen worden. Das alles scheint in Widerspruch zu stehen mit dem Geist der Gesetzlichkeit und der Wahrung überkommener Ordnungen, der von der Orakel stätte aus verbreitet wurde, mit den engen Beziehungen zwischen Pytho und dem tyrannenfeindlichen Sparta, mit den delphischen Warnungen vor der Hybris, die schon Solon als ein Merkmal der Tyrannis galt. Doch ist zu bedenken, daß die großen Tyrannen des 7. und frühen 6. Jahrhunderts überalterte und entartete Herr schaftsformen beseitigten, daß sie neue und gerechtere Gemeindeordnungen ein führten oder wenigstens die Voraussetzungen für ihr Entstehen schufen und zum Teil sogar zur sittlichen Hebung des öffentlichen Lebens beitrugen. Vor der del phischen Priesterschaft konnte dies in einer Zeit, die erst die Ansätze zum künf tigen Rechtsstaat zeigte, weitgehend aber im Zeichen des Machtwillens adliger Herren stand, die Tyrannis bis zu einem gewissen Grade rechtfertigen, womit nicht geleugnet werden soll, daß man in Pytho damals wie stets auch den realen Verhälmissen Rechnung trug und auf den Beistand und auf die reichen Weihgaben der Tyrannen Wert legte. Über ihre Gewalttätigkeiten ließ sich unter diesen Umständen hinwegsehen. Selbst Periandros, der in keinen näheren Beziehun gen zum Heiligtum gestanden zu haben scheint, konnte dank seiner überlegenen Persönlichkeit und seinen staatsmännischen Leistungen den Sieben Weisen zu gezählt und damit in eine Art geistiger Verwandtschaft zu Delphoi gebracht wer den, wie Gleiches auch dem Tyrannen Kleobulos von Lindos geschah. Seit dem zweiten Drittel des 6. Jahrhunderts jedoch, als die Staatswesen sich festigten und Tyrannen nur noch als ihre Vergewaltiger, nicht mehr als ihre Gründer und Ord ner erschienen, hat Delphoi, selbst immer stärker vom Gedanken der Gesetzlich keit ergriffen, sich von ihnen abgewandt. Denn es kann kein Zufall sein, daß die relativ reiche Tradition, die wir über Peisistratos und seine Söhne besitzen, nichts an pythischen Orakeln oder Weihgeschenken der Tyrannen weiß, von der Rolle, welche Delphoi bei der Vertreibung des Hippias spielte, zu schweigen. Wenn, so weit wir sehen, von Tyrannen der spätarchaischen Zeit allein die Deinomeniden in guten Beziehungen zu der heiligen Stätte am Parnass gestanden haben, so dürfte sich dies aus der besonderen Art und Funktion der Tyrannis auf Sizilien erklären.
Delphoi. Kephallenia. Euboia
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Während das mittel- und nordgriechische Festland, wie sich zeigte, so gut wie tyrannenlos war, finden sich Gewaltherrschaften auf zwei der vorgelagerten In seln, Kephallenia im Westen, Euboia im Osten. Hier wie dort mag der Seeverkehr schon früh den Blick geweitet und zur Lockerung alter patriarchalischer Bindungen beigetragen haben. über Kephallenia gebot, wie es heißt, der Sohn eines Prom nesos, ein arger Mann, der die Dauer der Feste auf zwei Tage, den Aufenthalt in der Stadt auf zehn Tage im Monat beschränkte. Den Mädchen hätte er vor ihrer Vermählung selbst beigewohnt. Statt eines von ihnen habe sich jedoch Antenor in weiblicher Kleidung mit dem Schwert in das Schlafgemach des Tyrannen begeben und diesen umgebracht. Daß der zweite Teil der Erzählung offensichtlich Elemente der Tyrannentypologie verwertet und somit wenig Glauben verdient, braucht die vorausgehenden Angaben nicht zu diskreditieren. Sowohl die Einschränkung der Dauer und damit der Pracht der Feste wie das Verbot eines längeren Verweilens in der Stadt auf der den Kypselidengründungen nahe gelegenen Insel erinnern an ähnliche Maßnahmen des Periandros, dessen Zeitgenosse und Nachahmer der Ty rann von Kephallenia gewesen sein könnte. Auf Euboia sind es die beiden bedeutendsten Städte, Chalkis und Eretria, ge wesen, die in archaischer Zeit vorübergehend unter Tyrannen gestanden haben. Was Chalkis betrifft, so konnte der Adel der «Rossezüchter» (Hippobotai) noch bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielen, obwohl sein Regiment mehrmals beseitigt worden sein muß. Denn nicht nur daß zu einem unbekannten Zeitpunkt Verbannte aus Eretria sich der Stadt bemächtigten und möglicherweise eine Gewaltherrschaft errichteten, wir hören auch von zwei Ty rannen, die einander nicht unmittelbar gefolgt sind. Der erste, Antileon, wird von dem lesbischen Dichter Alkaios erwähnt, er hat also in der Zeit um 600 die Blicke auf sich gezogen. Um so bedauerlicher ist es, daß wir über ihn und sein Regiment nichts erfahren. Aristoteles nennt ihn zwar, bemerkt aber nur, daß nach seiner Tyrannis eine oligarchische Verfassung Platz griff, die vermutlich wieder den Hippobotai das Heft in die Hand gab. Auch der zweite der Tyrannen, Phoxo5, der wohl in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts lebte, wird nur deshalb auf geführt, weil seiner Gewaltherrschaft eine Demokratie folgte, doch erfahren wir immerhin, daß ihn der Demos in Zusammenwirken mit den Vornehmen stürzte. Alle näheren Umstände bleiben wie bei Antileon im Dunkeln. Nicht viel besser steht es um den Tyrannen Diagoras· von Eretria, der, durch persönliche Kränkung erbittert, die Oligarchie der «Ritter» auflöste, eine Tat, die, wenn sie von dauern der Wirkung war, in die Zeit nach 545 gehören muß, weil damals noch jene Ritter die Macht im Gemeinwesen behaupteten. Spekulationen über die historische Funk tion der Tyrannis auf Euboia anzustellen, verbietet der Mangel an überlieferung. Nur so viel läßt sich mit einigem Vorbehalt sagen, daß in den beiden Städten,
Das Mutterland außer Athen
deren Bevölkerung an der großen Kolonisationsbewegung des 8. und 7. Jahrhun dert so hervorragenden Anteil genommen hatte, die soziale Krise der Zeit das Aufkommen von Tyrannen ermöglichte, daß aber diese, die offenbar keine großen Persönlichkeiten waren, deren Bild sich dem Gedächtnis eingeprägt hätte, minde stens in Chalkis die Herrschaft des Adels nicht für die Dauer zu beseitigen ver mochten.
ZWEITES KAP ITEL
AT H E N
1. D I E Z E I T V O R P E I S I S T R AT O S
I m Vergleich zum 5. Jahrhundert, in dem es eine große Seemacht entfaltete, ist Athen während der archaischen Zeit dem Meere wenig zugewandt gewesen, wie es denn auch bis zum Ende des 7. Jahrhunderts an der großen kolonialen Expansion des Griechentums nicht teilgenommen zu haben scheint. Als Handelsplatz besaß der Piräushafen in dieser frühen Periode geringe Bedeutung, und was das Ge werbe betrifft, so hatten nach den großen Leistungen der attischen Keramik des rein geometrischen Stiles (11.-8. Jahrhundert) die Isthmosstädte, im besonderen Korinth, die Führung übernommen. In seiner wirtschaftlichen und sozialen Struk tur blieb Attika noch über Solon hinaus vorwiegend agrarisch bestimmt. Bei den sozialen Spannungen, die sich auch hier in wachsendem Maße während des 7. Jahr hunderts einstellten, hat daher die städtische Bevölkerung eine noch geringere Rolle gespielt als am Isthmos, und auch ein anderes Moment, das dort von Bedeutung war, der Gegensatz zwischen dem dorischen Adel und den nichtdorischen Schich ten, ist dem einheitlich ionischen Attika fremd gewesen. Was hier einem vor nehmen Mann Aussicht bieten konnte, das feudale Regiment seiner Standes genossen zu stiirzen und sich selbst zum Tyrannen aufzuwerfen, war die zuneh mende Erbitterung der gedrückten, wo nicht gar in Schuldknechtschaft gebrach ten Kleinbauern. Wir kennen ihre jammervolle Lage in der Zeit unmittelbar vor Solons Refonn (seit 594'3) und könnten versucht sein zu glauben, daß schon ein Menschenalter früher die Verhältnisse der Errichtung einer Tyrannis mit Hilfe einer revolutionären Bauernschaft günstig waren. Aber der Versuch, sich zum Herrn Athens zu machen, den zwischen 636 und 624 der Adlige Kylon unternahm, stiitzte sich nicht auf das Landvolk, das vielmehr von den großen Adelsgeschlechtern ge gen ihn eingesetzt werden konnte, sondern auf eine «Kameradschaft» (Hetairie) befreundeter Männer des eigenen Standes samt ihrem Anhang sowie auf Streit kräfte, die ihm sein über Megara gebietender Schwiegervater Theagenes sandte. Das Unternehmen trug also rein persönlichen Charakter und zeugt mehr von der individualistischen Zersetzung der Adelsgesellschaft, als daß es Symptom einer schweren sozialen Krise wäre.
Athen
Einem delphischen Spruch vertrauend, der ihm auf seine Frage geraten haben soll, am höchsten Fest des Zeus die Burg zu besetzen, bemächtigte sich Kylon, der einst (angeblich 640) bei den Olympischen Spielen gesiegt hatte, zur Zeit der großen Feier in Olympia, als wohl manche adlige Herren von Athen abwesend waren, mit seinem Anhang gewaltsam der Akropolis. Behaupten aber konnte er sich nicht. Denn bald zog vom Lande her das Aufgebot der bäuerlichen Hopliten heran und schloß den Usurpator samt den Seinen auf der Burg ein. Der größte Teil der Menge kehrte freilich, da die Belagerung sich in die Länge zog, wieder heim und überließ den Archonten alles Weitere gegen die Aufständischen, die schließlich aus Mangel an Nahrung und Wasser sich nicht mehr zu halten ver mochten. Kylon und seinem Bruder gelang es noch zu entkommen; von den an deren starben manche an Hunger, der Rest suchte beim Altar oder beim Kultbild der Athena Schutz. Da einige jedoch auch an der heiligen Stätte verendeten und diese dadurch befleckt wurde, sicherte man denen, die das Asyl verließen, Scho nung zu, tötete sie aber, als sie darauf eingingen, gleichwohl, selbst diejenigen, die sich nunmehr zu den Altären der Eumeniden flüchteten. So scheiterte der Ver such, auch in Athen eine Tyrannis aufzurichten, völlig. Weniger wohl weil die Beteiligung des Herrn von Megara zu allgemeinem Widerstand aufrief, als weil der Anschlag ohne Rückhalt an der Bevölkerung Attikas unternommen worden war. Wie in anderen Fällen, die uns begegnen werden, handelte es sich lediglich um die Aktion eines machtgierigen Adligen, der sich mit seiner Hetairie in den Besitz der Herrschaft setzen wollte, dabei aber auf die geschlossene Front der übrigen Standesgenossen stieß, die bei dem Abwehrkampf ihrer bäuerlichen Ge folgschaft noch sicher sein konnten. Auch was von den Folgen der Niederwerfung des Putsches berichtet wird, be trifft allein die adligen Kreise. Sie nämlich waren es, die dem Archon MegakIes aus dem Geschlecht der Alkmeoniden die bei der Tötung von Kylons Gefährten begangene Verletzung der Asylie zur Last legten, aus ihnen bestand der Ge richtshof, der über MegakIes und gemäß der in jener Zeit geltenden Sippenhaft auch über sein Geschlecht das Urteil sprach. Wenn von ihm die Alkmeoniden mit Verbannung bestraft wurden, so möglicherweise auch deshalb, weil manchen riva lisierenden Häusern die Entfernung der stolzen Familie aus Athen erwünscht war. Aber spätestens durch Solons Amnestiegesetz (594/3) ist ihnen die Rückkehr ge stattet worden, nachdem - wohl im Auftrage Delphois - die Entsühnung voll zogen worden war. Immerhin blieb die Erinnerung an den Frevel dauernd leben dig, so daß nicht nur der Lakedaimonierkönig Kleomenes am Ende des 6. Jahr hunderts die Vertreibung der Alkmeoniden damit motivieren, sondern noch am Vorabend des Peloponnesischen Krieges Sparta mit dieser Begründung die Ver bannung des Perikles, dessen Mutter eine Alkmeonidin war, fordern konnte.
Kylon. Maßnahmen gegen Tyrannis
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üb es zur Zeit, als Kylon scheiterte, ungeschriebene Satzungen über die Be strafung und die Art des Verfahrens nach Niederwerfung eines Putsches gab, ent zieht sich unserer Kenntnis. Das spontane Vorgehen des Archon gegen die Ge fährten Kylons und die nicht unglaubwürdige Angabe in einer Version der über lieferung, daß sie gesteinigt wurden, sieht eher nach Selbsthilfe gegen den Feind des Gemeinwesens aus, wie sie auch später noch den Bürgern gegenüber dem Tyrannen zustand. Jedenfalls aber ist wenige Jahre später (um 621) und wohl im Hinblick auf das jüngste Ereignis durch Drakon schriftlich fixiert worden, vor welchem Gerichtshof - vermutlich dem Rat auf dem Areiopag - Anklagen wegen Tyrannis gehörten und daß der schuldig Befundene für vogelfrei (atimos) zu er klären sei. So scheint bereits gegen die überlebenden Helfer Kylons verfahren worden zu sein, denn als Solon sein Amnestiegesetz erließ, nahm er die wegen Tyrannis gerichtlich Verurteilten aus. Er selbst dürfte das entsprechende Gesetz Drakons insofern ergänzt haben, als einmal die Strafe der Atimie schon den jenigen treffen sollte, der an den Vorbereitungen zur Errichtung einer Tyrannis beteiligt gewesen war, zum andern die Tötung eines Tyrannen für eine straffreie, nicht mit Blutschuld befleckende Tat erklärt wurde. Dem Aristoteles konnte in einer Zeit, als auf Tyrannis Todesstrafe stand, die Atimie als eine milde Sühne erscheinen, doch bedeutete sie, anders als später, in Drakons und Solons Gesetz noch Ächtung mit allen ihren Folgen. Der große Reformer hatte allen Grund, Athen vor neuen Versuchen der Er richtung einer Tyrannis zu sichern. Denn die Gefahr, daß die Polis unter die Ge waltherrschaft eines einzelnen Mannes gerate, war im letzten Drittel des 6. Jahr hunderts größer geworden als je, weil die zunehmende Verschuldung der Bauern, ihre Bedrückung oder gar Versklavung unerträgliche Zustände hatten entstehen lassen, die nach revolutionärer Entladung drängten. Hatte Kylon noch die Bauern schaft gegen sich gehabt, so konnte jetzt ein adliger Herr, wenn er eine radikale Änderung und womöglich Neuaufteilung des Bodens versprach, an der Spitze des erbitterten Landvolkes mit weit besseren Aussichten den Versuch wagen, sich in den alleinigen Besitz der Macht zu setzen. Wie sehr in der Tat um die Jahrhun dertwende Tyrannisgelüste bei den vornehmen Herren Athens verbreitet waren, dafür ist Solon selbst Zeuge. In seinen Versen an Phokos läßt er sich durch einen von ihnen töricht schelten, daß er, als ihm die Gottheit Besitz darbot, diesen ver schmähte, daß er, als der Fang schon im Netz war, es nicht zuzog, sondern sich von Mut und Vernunft verlassen zeigte. Ich, fährt der Sprecher fort, wollte, wenn ich zur Herrschaft gelangte, großen Reichtum gewänne und auch nur einen Tag als Tyrann über Athen walten könnte, mich hinterher gern schinden und mein Geschlecht zugrunde richten lassen. So dachten damals nicht nur einzelne, sah sich doch Solon veranlaßt, an seinen Standesgenossen allgemein skrupellose Besitz-
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gier und schamlose Hybris, die ihm als Zeichen tyrannischen Geistes galten, zu tadeln. Beuge man nicht rechtzeitig vor, dann werde die Tyrannis rasch wie ein Unwetter kommen und das ahnungslose Volk in Knechtschaft stürzen. Denn nicht leicht sei es, wenn jemand sich erst einmal über die anderen herrisch erhoben habe, ihn dann noch zu stürzen. Solons Gedichte weisen aber nicht nur auf die geheimen Wünsche so mancher vornehmer Athener hin, sie künden auch von seinem mannhaften Kampf gegen die drohende Gefahr der Vergewaltigung des Gemeinwesens durch einen herrsch süchtigen Mann. Ihr begegnet er mit dem großen Gedanken einer gerechten lö sung der bestehenden Krise, die jedem Stand das ihm Gebührende zuerkennt. Ein deutig und schärfer, als man es damals selbst in Delphoi getan zu haben scheint, wird zwischen persönlicher Willkür und überpersönlicher Ordnung, zwischen Ei gensucht und Pflicht gegenüber der Polis, zwischen bloßer Gewalt und gottge wolltem Recht unterschieden. Gesetzlichkeit erscheint als das wahre Fundament der Polis, die mehr ist als eine nur die eigenen Interessen kennende Adelsgesellschaft. Wer Reichtum und Macht mißbraucht, seine Besitz- und Herrschgier nicht zähmen kann und vollends wer mit Gewalt die Tyrannis gewinnen will, den trifft nicht bloß Neid und Haß der von ihm überflügelten Standesgenossen, er ist Verderber und Feind des Gemeinwesens. Zum ersten Male wird hier mit aller Entschieden heit der unversöhnliche Gegensatz aufgezeigt, in dem letztlich jeder Tyrann zum autonomen Rechtsstaat steht. Dieser Erkenntnis gemäß hat Solon selbst gehand delt, als er, ein Mann aus vornehmem Hause, aber ohne besonderen Reichtum, im Jahre 594 zum Archon gewählt und als «Versöhnen> mit außerordentlichen, gewiß nicht nur auf ein Jahr beschränkten Befugnissen ausgestattet wurde. Be wußt hat er der Versuchung, diese zur Errichtung einer Tyrannis zu benutzen, widerstanden. Der Stolz, mit dem er sid1 dessen rühmt, läßt ebenso wie die Ver ständnislosigkeit der adligen Herren für seine Haltung erkennen, daß hier etwas Ungewöhnliches geschah. Eine Persönlichkeit war auf den Plan getreten, die, vom Gedanken des Rechtes geprägt, mit selbstloser Hingabe der Verwirklichung des Rechtsstaates in seiner Heimat diente. Ihn zu sichern hat Solon die wegen Tyran nis Verurteilten von der Amnestie, mit der er sein Werk begonnen zu haben scheint, ausgenommen, hat er Drakons Bestimmungen über die gerichtliche Be strafung der Tyrannis ergänzt und den Bürgern anheimgegeben, gegen jeden, der den Bestand der staatlichen Ordnung zu bedrohen schien, durch Anzeige beim Rat auf dem Areiopag ein Verfahren anhängig zu machen. Solons soziale Reformen, seine timokratische Ordnung des Gemeinwesens und sein umfassendes Gesetzgebungswerk zu schildern, ist nicht unsere Aufgabe. Im Rahmen einer Geschichte der Tyrannis darf der Hinweis genügen, daß zwar eine Aufhebung der Schulden und lasten sowie die endgültige Beseitigung der Schuld-
Salon und die Tyrannis. Damasias
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knechtschaft erfolgte, nicht aber eine Neuaufteilung des Bodens, die man in den kleinbäuerlichen Kreisen erwartet hatte. Zum anderen verdient betont zu wer den, daß die Abstufung der politischen Rechte nach dem Einkommen weiterhin die Leitung des Staates in den Händen der Adligen beließ - blieben sie doch trotz Annullierung der Verpflichtungen ihrer bäuerlichen Schuldner und Verlust der ihnen von diesen verpfändeten Grundstücke noch die Reichen -, daß jedoch der Kreis der Bürgerschaft erheblich erweitert wurde. Denn fortan waren alle Angehö rigen der vier attischen Phylen, auch wenn sie keinen Bodenbesitz hatten und sich nicht als Hopliten auszurüsten vermochten, zur Teilnahme an der Volksversamm lung und, sofern der überlieferung zu glauben ist, auch am neu eingerichteten Volksgericht berechtigt. Da ferner, wie es scheint, nicht mehr bloß das agrarische Einkommen für die Zugehörigkeit zu einer der vier Schatzungsklassen maßgebend war und Solon im Interesse der Zolleinnahmen auch Handel und Wirtschaft zu heben suchte, gewann die Schicht der Gewerbetreibenden und damit überhaupt die städtische Bevölkerung an Bedeutung : der Anfang einer Entwicklung, die in der Folgezeit allmählich zu einem Wandel der ökonomischen und sozialen Struk tur des Lebens in Attika führte. Noch aber war es nicht so weit, noch ruhte das Gemeinwesen auf den Grundbesitzern, und die adligen Geschlechter dominierten in ihm trotz den Einschränkungen, die sie durch Solon erfahren hatten. Irrig wäre es zu glauben, sein Geist sei der ihre geworden und sie hätten sich bemüht, den von ihm prophetisch verkündeten Gedanken der Polis als einer gesetzlich geregelten, von jedem Bürger verantwortungsbewußt getragenen und geschütz ten Lebensordnung in die Tat umzusetzen. Ihr ungebrochener Machtwille gefähr dete vielmehr sein Werk schon in den Jahren, als es aufgerichtet wurde, ja es drohte wiederum die Gefahr der Tyrannis, ungeachtet der Gesetze, mit denen er ihr wirksam zu begegnen hoffte. Nachdem bereits 590f89 und 586/5 infolge innerer Wirren, deren Erreger wir nicht kennen, kein Archon hatte gewählt werden können, wußte Damasias, dem das Amt im Jahre 582 übertragen worden war, sich widerrechtlich in dieser SteI lung mehr als zwei Jahre zu behaupten, bis er mit Gewalt abgesetzt wurde. Es ist uns bezeugt, daß der Archon damals eine große Machtfülle besaß und daß es eben deshalb zu erbitterten Kämpfen der adligen Herren um dieses Amt kam. Hören wir ferner, daß in älteren Zeiten nicht selten die Führung eines mit großen Befugnissen ausgestatteten Oberamtes die Vorstufe zur Tyrannis bildete, so ist in Damasias' Verhalten der Ansatz zur Begründung einer illegalen Alleinherr schaft nicht zu verkennen. Nach seinem Sturz wurde bezeichnenderweise der Ver such gemacht, das für die Freiheit des Gemeinwesens so gefährliche Amt des Archon durch Umwandlung in eine zehnköpfige Behörde unschädlich zu machen, doch blieb diese künstliche Regelung nur ein Jahr in Kraft. Immerhin scheint nach
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dem Mißerfolg des Damasias das Archonat nicht mehr als ein günstiges Sprung brett zur Gewinnung der Tyrannis gegolten zu haben, denn von einem weiteren Versuch dieser Art verlautet nichts, und der Mann, der sich zwanzig Jahre später zum Herrn Athens machte, beschritt einen anderen Weg. Daß Solon, der nach Abschluß seines Reformwerkes für längere Zeit außer Landes gegangen sein soll, nach seiner Heimkehr noch den Beginn der Tyrannis des Peisistratos erlebt und sich ihr mit friedlichen Mitteln widersetzt habe, war spätestens seit dem 4. Jahr hundert die allgemeine Überzeugung. Ihre Richtigkeit ist trotz allem legendären Rankenwerk, mit dem wohl schon früh das Verhälmis zwischen den beiden Män nern umgeben wurde, nicht zu bezweifeln, sind doch Verse Solons erhalten, die offensichtlich vor der Verschlagenheit des Peisistratos warnen und den Athenern schuld geben, daß sie selbst ihm zur Tyrannis verholfen hätten. Die soziale und wirtschaftliche Krise, die Solon auf den Plan gerufen hatte, war von ihm zwar erheblich gemildert, aber doch nicht für die Dauer gebannt worden. Seine Lösung der Agrarfrage hatte, wie er selbst bezeugt, weder die rei chen Herren noch die Kleinbauern befriedigt. Konnten jene die radikale Annul lierung der Schuldverpflichtungen und den Verlust der ihnen einst als Pfandbesitz überlassenen Ländereien nicht verschmerzen, so sahen sich diese, zumal wenn sie bloß ein Stück dürftigen Gebirgslandes bebauten, in ihrer Hoffnung auf Neuver teilung des attischen Bodens schwer enttäuscht. Diese Situation bestand mit ge wissen Verschiedenheiten vermutlich mehr oder weniger in ganz Attika. Sie gab einzelnen adligen Männern die Möglichkeit, in einem Bezirk, wo ihr Geschlecht ansässig oder einflußreich war, eine größere Gefolgschaft hinter sich zu bringen und an ihrer Spitze eine leitende Stellung, wo nicht gar die Tyrannis zu erstreben. Drei solcher Männer, die naturgemäß miteinander rivalisierten, nennt die Über lieferung : An der Spitze der Pediaker, das heißt der meist wohl adligen Grund besitzer in der Kephissosebene und ihres Anhanges, erscheint Lykurgos, der Sohn des Aristolaides, aus der Sippe der Eteobutaden ; Paralier, Leute also aus dem Küstengebiet am Saronischen Golf und besonders der Ebene von Anaphlystos samt den benachbarten Bezirken, sahen in dem Alkmeoniden Megakies, dem Sohn des Alkmeon und Gatten der Tochter des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, Agariste, ihren Führer; als Hyperakrier oder Diakrier werden die Bewohner des Gebirgslandes im Osten von Attika bezeichnet, die der aus diesem Bereich stam mende Adlige Peisistratos als Gefolgschaft hatte. Wollte man der Erklärung des Aristoteies folgen, so hätte Lykurgos eine Oligarchie, will sagen die Wiederher stellung der einstigen aristokratischen Ordnung, erstrebt, Megakies eine mittlere Linie, also etwa diejenige Solons, verfolgt, während Peisistratos in besonderem Maße dem niederen Volk (Demos) zugeneigt gewesen wäre, doch ist das staats theoretische Schema des Philosophen zu offensichtlich, als daß diese Deutung den
A ttika nach Salon. Peisistratos
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Wert historischer Tradition haben könnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist weder von eindeutiger sozialer Verschiedenheit der drei Gruppen noch gar von drei ver schiedenen politischen Zielsetzungen zu sprechen. Im Streben nach maßgebender Stellung im Gemeinwesen waren sich die drei Führer gleich. Allerdings hat es Peisistratos offenbar verstanden, in besonderem Maße Unzufriedene um sich zu scharen. Zu ihnen zählten außer den armen Bauern des Berglandes anscheinend Gläubiger, die durch Solons Schuldenerlaß schwere Einbußen erlitten hatten, fer ner Leute nicht reiner Herkunft, die um ihr Bürgerrecht bangten, weil dessen Rechtmäßigkeit und schon die Zugehörigkeit zu einer der vier gentilizischen Phy len bestritten werden konnte. Auch Lohnarbeiter sollen von ihm eine Besserung ihrer Lage erwartet haben, gewiß nicht nur in der Diakria, sondern namentlich in der Stadt, wo offenbar mit ihren Stimmen dem Peisistratos eine Leibwache zu erkannt wurde. Schließlich haben sich ihm auch einige Standesgenossen ange schlossen. Dieser mannigfache, keineswegs bloß regionale Anhang erwies sich nicht nur als die eigentlich revolutionäre, sondern auch als die stärkste der drei Gruppen, deren Führer am Ende der sechziger Jahre um die Macht rangen.
I r. P E I S I S TRAT O S
Peisistratos, des Hippokrates Sohn, stammte aus einem i n Brauron ansässigen Adelsgeschlecht, das sich auf den peloponnesischen Helden Neleus zurückführte und angeblich mit dem alten attischen Königshaus in Verbindung gestanden hatte. Die Verwandtschaft der Mutter mit derjenigen Solons ist kaum zu bezweifeln, weniger glaublich dagegen, daß Solon Liebhaber des jungen Peisistratos war. Ein gleichnamiger Vorfahr soll im Jahre 669/8 Archon gewesen sein. Wie bei anderen bedeutenden Tyrannen erzählte man später von beängstigenden Vorzeichen, die eIer Vater, bevor der künftige Gewalthaber um 600 geboren wurde, empfangen hätte. Von der Kindheit und Jugend des außerordentlichen Mannes hören wir nichts. Sein politisches Wirken begann in den sechziger Jahren, als er das Amt des Polemarchos bekleidete. Damals befehligte er im Kampf gegen Megara das attische Aufgebot, eroberte den Hafen der Stadt, Nisaia, und zeichnete sich auch durch andere Kriegstaten aus. Daß er die Insel Salamis, die wohl noch im 7. Jahr hundert den Athenern verlorengegangen war, den Megarern wieder entriß, darf als wahrscheinlich gelten. Jedenfalls aber trug der Ruhm, den Peisistratos durch seine militärischen Erfolge gewann, zur Stärkung seiner Stellung in der Heimat bei, wo er nun, wie bereits zu erwähnen war, die Gebirgsbauern (Hyperakrier) und andere unzufriedene Elemente um sich scharte. Da diese große Anhängerschaft offenbar die Mehrheit in der Volksversammlung bildete, konnte er den ersten
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Schritt zur Tyrannis auf legalem Wege tun. Indem er eine Verwundung, die er sich angeblich selbst beigebracht hatte, als Beweis für Nachstellungen von seiten seiner Gegner vorwies, erreichte er, daß auf Antrag des Aristion, wohl eines be freundeten Adligen, ihm eine aus Leuten der Stadt zu bildende, mit Keulen aus gestattete Leibwache zugebilligt wurde. Diese gab ihm die Möglichkeit, sich am Ende der sechziger Jahre, nach späterer, aber nicht verbindlicher Berechnung unter dem Archontat des Komeas (561/0), der Akropolis und damit der Herrschaft über Athen zu bemächtigen. Die Besetzung der Burg war ein Mittel zur Gewinnung der Tyrannis, dessen sich schon Kylon und gewiß auch andere Gewalthaber bedient hatten. Daß sie aber mit einer durch Volksbeschluß genehmigten Leibwache erfolgte, war ebenso neu wie die Zuerkennung dieser Leibwache selbst. Während Periandros im Besitz der Macht eine Garde von Speerträgern gebildet hatte, gab die Mehrheit des attischen Volkes ihrerseits freiwillig dem Peisistratos das Instrument zur Gewinnung und Ausübung der Macht in die Hand, das nicht zu Unrecht fortan als besonderes Merkmal der Tyrannis galt. Bisher war er Anwalt (Prostates) der Unzufriedenen gewesen, wie er als solcher von Späteren sogar in eine Reihe mit Salon, Kleisthe nes, Perikles und anderen Volksführern gestellt wurde, mit der Besetzung der Akropolis aber wurde er zum Herrn über das Gemeinwesen einschließlich der adligen Standesgenossen, die sich ihm beugen mußten, sofern sie nicht lieber Athen verließen. Miltiades, eines Kypselos Sohn aus dem Hause der Philaiden, fühlte sich wohl schon damals durch die Tyrannis so bedrückt, daß er - gewiß nicht gegen den Willen des Peisistratos, der ihn gern los wurde - mit freiwilligen Kolonisten ausfuhr und eine eigene Herrschaft auf der thrakischen Chersones begründete. Die Solonische Verfassung ließ der Tyrann bestehen und setzte in ihrem Rahmen seinen Willen mit Hilfe seiner starken Anhängerschaft durch. Ob er bemüht war, deren Wünsche zu befriedigen, ist freilich sowohl wegen des Schweigens der Überlieferung fraglich wie wegen der kurzen Dauer seiner Herr schaft. Noch ehe sie Wurzeln schlagen konnte, wurde ihr durch Lykurgos und Megakles, die mit ihren Gefolgschaften sich gegen Peisistratos zusammenschlos sen, das Ende bereitet. Es scheint, daß dies in relativ milder Form geschah, denn von einer Verurteilung auf Grund des Tyrannisgesetzes ist nicht die Rede. Peisi stratos konnte auch allem Anschein nach ungestört in Attika, vielleicht in Brau ron, bleiben. Ja, als sich wenige Jahre nach seiner Entmachtung die beiden Geg ner abermals entzweiten, knüpfte Megakles mit ihm Beziehungen an. Selbst Schwiegersohn eines Tyrannen und wie so manche adlige Herren nicht frei von tyrannischen Gelüsten, versprach er ihm, wenn er seine Tochter zur Frau nehme, Unterstützung bei Wiedererrichtung der Tyrannis. Peisistratos ging darauf ein, kehrte in die Stadt zurück und vermochte zum zweiten Male die Herrschaft über
Erste und zweite Tyrannis des Peisistratos
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Athen zu gewinnen (vennutlich 558/7) . Außer den Alkmeoniden mögen auch dies Mal andere Standesgenossen sich ihm gefällig erwiesen haben, wie der Pole marchos Channos oder Sokrates aus dem Bezirk Paiania, der Vater eines Mäd chens mit Namen Phye. Peisistratos hatte nämlich verbreiten lassen, die Göttin Athena selbst werde ihn geleiten, und wirklich führte ihn ein als Athena aus staffiertes Mädchen, eben jene Phye, in einem prozessionsartigen Zuge vor den Augen des staunenden und anbetenden Volkes durch die Straßen hinauf zur Burg, die er offenbar wiederum in Besitz nahm. Fehlte es der Tyrannis an jeder legalen Basis, so sollte sie doch als von der Stadtgöttin gewollt und damit als legi timiert erscheinen. Der Verbindung des Peisistratos mit der Tochter des Megakies, die anscheinend wie ihre Großmutter, die Gemahlin Alkmeons, Koisyra hieß, waren schon zwei Vermählungen vorausgegangen. Vor der Mitte der sechziger Jahre hatte er eine Athenerin geheiratet, die ihm drei Söhne, Hippias, Hipparchos und Thessalos, sowie mindestens eine Tochter gebar. Neben dieser Gattin besaß er eine nicht heimische Frau, Timonassa aus Argos, Tochter eines Gorgilos und Witwe des Kypseliden Archinos von Ambrakia, der dort jedoch nicht die Tyrannis inne gehabt zu haben scheint. Sie schenkte dem Peisistratos zwei Söhne, Hegesistratos und Iophon, von denen der erste vor 560 geboren sein muß. Da ihre Mutter keine Athenerin war, hielt man die Brüder später, nach dem Bürgerrechtsgesetz von 451/0, für nicht vollbürtig (nothoi), doch standen sie zu ihrer Zeit den Söh nen der attischen Frau gleich, wenn sie aus begreiflichen Gründen auch kaum für die Nachfolge in der Tyrannis über Athen in Betracht kommen konnten. Wie Kypselos und Periandros, die jeder mindestens zwei Gemahlinnen hatten, die Söhne einer nichtheimischen Frau außerhalb der Vaterstadt ansetzten, so ist auch Peisistratos bezeugtennaßen mit Hegesistratos verfahren. Die Vennählung mit der Tochter des Megakies beeinträchtigte die Stellung der Timonassa und ihrer Söhne nicht, dagegen hätte sie hinsichtlich der Nachfolge der Söhne von der ersten athenischen Gattin sich auswirken und auch dieser selbst, von der wir freilich nicht wissen, ob sie noch lebte, Zurücksetzung bringen können. Aber Peisistratos, der die neue Verbindung wie die Ehe mit der Argiverin aus politi schen Gründen geschlossen hatte, dachte nicht daran, derartige Folgen eintreten zu lassen; er vollzog im Hinblick auf seine heranwachsenden Söhne die eheliche Vereinigung mit der Tochter des Megakies nicht. Zugleich bestimmte er bereits für seine beiden ältesten Söhne die künftigen Gattinnen : Hippias sollte Myrrhine, die Tochter des Polemarchos Channos, Hipparchos des Sokrates Tochter Phye heiraten. Vielleicht, daß damals auch schon seine eigene Tochter dem Athener Thrasybulos verlobt wurde. Man begreift, daß Megakles, der sich vermutlich für seine etwaigen Enkelsöhne
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und wohl auch auf eine eigene Beteiligung an der Herrschaft große Hoffnungen gemacht hatte, durch das Verhalten des Peisistratos aufs schwerste beleidigt sein mußte, selbst wenn dieser nicht, wie berichtet wird, ihm auf seine Vorstellungen wegen des fehlenden Vollzuges der Ehe erklärt hätte, daß er von einer Angehö rigen des mit Blutschuld beladenen Geschlechtes keine Kinder wünsche. Offen sichtlich hatte der listige Partner nur mit seiner Hilfe wieder an die Macht kom men wollen, um ihn sodann abzustoßen. Doch wenn Peisistratos glaubte, ohne die Alkmeoniden und ihren Anhang die Herrschaft behaupten zu können, so täuschte er sich. Wir erfahren nicht, ob ihm erneut eine Leibwache zugestanden worden war und ob er sich noch auf den Anhang von einst, zu dessen Befriedi gung jetzt so wenig wie während der ersten Tyrannis etwas geschehen zu sein scheint, stützen konnte. Es sieht nicht darnach aus. Denn als nun der erbitterte Megakles zu Lykurgos zurückfand, fiel es den beiden Männern nicht schwer, den Tyrannen zum zweiten Male zu Fall zu bringen (55615). Jetzt ging man auch auf Grund des Tyrannisgesetzes gerichtlich gegen ihn vor : Peisistratos verfiel der Ächtung, sein Besitz wurde eingezogen und öffentlich versteigert, doch soll nur ein einziger Athener, Kallias, der Sohn des Phainippos, ein erbitterter Feind des Tyrannen, den Kauf gewagt haben. Vielleicht noch ehe der Spruch durch den Rat auf dem Areiopag gefällt war, hat der Gestürzte Attika verlassen, aber nicht, um seine Tage in traurigem Exil zu verbringen. Wie so mancher mit seiner Heimat zerfallene Adlige der archa ischen Zeit setzte er ein Kolonisationsunternehmen ins Werk, das ihm selbst eine neue Machtstellung, seinen Anhängern, soweit sie ihm zu folgen bereit waren, Versorgung mit Land bringen sollte. Wohl im Einverständnis mit dem Make donenkönig vermochte er in der Folgezeit im Nordwesten der Chalkidike am Ther maischen Meerbusen den Platz Rhaikelos zu besiedeln. Von dort ist er früher oder später nach dem östlich der Strymonmündung gelegenen Pangaiongebirge hin übergegangen, wo er, wie es heißt, Schätze gewann und Söldner in Dienst nahm. Es kann kein Zweifel sein, daß es sich um die Ausbeutung der Gold- und Silber vorkommen in jenen Gegenden handelt, die er, Peisistratos, also in seinen Besitz brachte. Ob das mit Hilfe der Siedler von Rhaikelos, das möglicherweise aufge geben wurde, oder mit anderen Gefolgsleuten oder sonstwie geschah, entzieht sich unserer Kenntnis. Sicher jedoch, daß der tatkräftige Mann fortan zu seinem Nutzen Edelmetall fördern ließ; flossen ihm doch noch in späteren Jahren erheb liche Mittel vom Pangaion zu. Der hohe Wert von Silber und Gold in jenen Zeiten sowie die neue Möglichkeit der Verwendung, welche die sich allmählich verbrei tende Münzprägung bot, machten die Bergwerke für Peisistratos zu einer Quelle nicht nur großen Reichtums, sondern auch militärischer Macht. Sie gestatteten ihm, Söldner in beträchtlicher Zahl anzuwerben und sich Gemeinwesen oder adlige
Peisitratos zwischen zweiter und dritter Tyrannis
Herren im Umkreis von Attika zu verbinden. Der Zweck, den er damit verfolgte, wurde erreicht. Er konnte später mit seinen Söldnern in Eretria Quartier neh men und darangehen, die Wiedergewinnung der Tyrannis über Athen vorzube reiten, wozu ihn bei Beratung mit seinen Söhnen namentlich Hippias gedrängt haben soll. Die vorher von ihm Begünstigten erwiesen sich nun erkenntlich, indem sie, vor allem der Adel von Theben, sein Unternehmen mit Geldspenden unter stützten. Auch die «Ritter» von Eretria und der Naxier Lygdamis, der selbst in seiner Heimat die Tyrannis erstrebte und sie mit Hilfe des siegreichen Peisistratos zu erringen hoffte, liehen ihm ihren Beistand. Tausend Freiwillige führte ihm ferner Hegesistratos, sein jugendlicher Sohn aus der Ehe mit Timonassa, von deren Heimat Argos zu. Daß es um die Wiederherstellung einer Tyrannis ging, kümmerte die vornehmen Herren der fremden Städte so wenig, wie einst die Freier der Agariste an Kleisthenes' Gewaltherrschaft Anstoß genommen hatten. Zehn Jahre waren seit seinem zweiten Sturz verstrichen, als Peisistratos im Jahre 54615 von Eretria nach der gegenüberliegenden attischen Küste übersetzte. Es geschah, soweit wir sehen, zum ersten Male, daß ein machtgieriger Mann von auswärtigem Gebiete her durch einen regelrechten, vornehmlich mit fremden Streitkräften und mit fremder Hilfe geführten Feldzug die Herrschaft über seine Vaterstadt zu gewinnen suchte. Der Landung an der Strandebene von Marathon folgte die Besetzung dieses Platzes. Alsbald fanden sich zahlreiche alte Anhänger aus den nahen Berggebieten ein, während man in der Stadt den Ernst der Lage angeblich erst begriff, als Peisistratos Anstalten machte, von Marathon aufzu brechen. Nun zog das gesamte Aufgebot gegen ihn ins Feld, sah sich aber schon auf halbem Wege, beim Heiligtum der Athena von Pallene, den heranrückenden Scharen gegenüber. Ob die Athener beim Lagern wirklich so lässig waren, wie Herodot erzählt, mag man bezweifeln, jedenfalls errang Peisistratos, durch einen Spruch des Sehers Amphilytos ermutigt, den Sieg und schlug die attischen Streit kräfte in die Flucht. Seine Söhne sollen, indem sie voraussprengend die zurück flutenden Mannschaften beruhigten und zur Rückkehr in ihre Behausungen be wogen, eine nochmalige Sammlung der Gegner verhindert haben. Mit der kampf losen Einnahme der Stadt und der abermaligen Besetzung der Burg wurde Peisi stratos zum dritten Male Herr über Athen. Er ist es bis zu seinem Tode (528/7) geblieben. Unterschied sich die Art, wie er jetzt zur Herrschaft gelangt war, grundsätzlich von den bei den früheren Usurpationen angewandten Mitteln, so trug auch seine Tyrannis nun ein anderes Gesicht. Die Maßnahmen, durch die er sie fundierte und aufrechthielt, zeigen, daß er sich als Eroberer und absoluten Herrn des «speer gewonnenen» attischen Landes ansah. Es waren im wesentlichen zwei : die Ent waffnung der Bürgerschaft und die Besteuerung des Bodenertrages. Dazu kam die
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zum Teil gewaltsame Sicherung gegen seine adligen Feinde, von denen eine An zahl im Kampfe gefallen war, andere mehr oder minder freiwillig außer Landes gingen, die Mehrheit aber gewiß in Attika verblieb. Die Söhne der letzteren ließ Peisistratos, um die Familien in Schach zu halten, als Geiseln festnehmen und nach Naxos bringen, das er im Anschluß an seinen Sieg für den Helfer Lygdamis unterwarf. Es war kaum anders, als wenn ein fremder Monarch Attika erobert hätte. Die Entwaffung der Bürgerschaft wird von Aristoteles, der so wenig wie Hero dot oder Thukydides feindselig von Peisistratos spricht, bezeugt. Er schildert auch die dabei angewandte List, ohne die ein solcher Akt schwer durchzuführen gewe sen wäre. Auch die Angabe des Herodot, daß der Tyrann seine Herrschaft auf Söldnertruppen gründete, und eine Bemerkung des Thukydides, nach der die Kriege zur Zeit der Tyrannis von den Peisistratiden ausgetragen wurden, setzt das Ruhen eines sich selbst bewaffnenden Bürgeraufgebotes voraus. Im übrigen war nach der Eroberung Attikas die Entwaffnung zur Sicherung der persönlichen Herrschaft des Machthabers notwendig, zumal da seine alte Anhängerschaft, so weit sie ihm nach den Enttäuschungen in den früheren Tyrannisperioden noch treu geblieben war, vorwiegend aus ärmeren Leuten bestand, die keine eigene Waffenrüstung besaßen. Aus ihren Reihen wird sowohl das Söldnerheer wie die bewaffnete Leibwache ergänzt oder gebildet worden sein, während die Sold truppen beim Aufbruch von Eretria wohl überwiegend aus nichtattischen Ele menten bestanden haben dürften. Den zum Hoplitendienst fähigen Athenern raubte die Entwaffnung zwar einen Teil ihres Manneswertes, doch brachte sie ihnen insofern Vorteil, als sie nun durch kein Aufgebot gestört ihre Felder be bauen, ihr Gewerbe betreiben oder ihrer sonstigen Arbeit nachgehen konnten. Weil Peisistratos stets für den Frieden sorgte und die Ruhe aufrechterhielt, sprach man später von den Zuständen unter seiner Tyrannis als vom Leben zur Zeit des Kronos. Angeblich hatte der Gewalthaber gleich nach der Entwaffnung erklärt, die Leute sollten ihren privaten Geschäften nachgehen, für die allgemeinen Angele genheiten werde er selbst sorgen, ein Wort, das mit aller Deutlichkeit den Gegen satz aufzeigt, in dem die Tyrannenherrschaft zu Solons die verantwortungsbe wußte Mitwirkung der Bürger forderndem Staatsgedanken stand. Freilich dürfte der politische Sinn des einfachen Mannes trotz Sol on auch jetzt noch nicht so wach und entwickelt gewesen sein, daß er den neuen Zustand als unwürdig emp funden hätte. Anders dagegen war es mit dem Adel bestellt, für den die Entwaff nung eine schwer zu ertragende Minderung seiner Standes ehre bedeuten mußte. Nicht weniger einschneidend war die zweite der grundsätzlichen Maßnahmen, die jährliche Erhebung einer Bodenertragssteuer für den Tyrannen, von der alle Grundbesitzer, ob groß oder klein, betroffen wurden. Sie macht es wahrscheinlich,
Peisistratos: Entwaffnung und Besteuerung
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daß Peisistratos sich als Besitzer des gesamten, von ihm durch Eroberung gewon nenen attischen Landes ansah, wie er denn auch die Bergwerke von Laureion für sich beansprucht zu haben scheint. Während als Stützen seiner Tyrannis neben den Söldnern von Herodot nur allgemein die Einkünfte erwähnt werden, die dem Machthaber teils aus Attika, teils aus dem Pangaiongebiet zuflossen, nennt Ari stoteles ausdrücklich den «Zehnten» von den Erträgnissen des Landbaus, also eine regelmäßig zu entrichtende direkte Steuer von 10 Prozent. Auch die oft er zählte Anekdote, wie der Tyrann einen Bauern im Hymettosgebirge, der sich um die Bestellung eines steinigen Grundstückes mühte, nach dem Ertrage des Bodens fragen ließ und zur Antwort erhielt: «Nichts als Mühe und Elend, und selbst da von muß den Zehnten Peisistratos bekommen», zeugt von der Auflage. Sie wurde ohne Zweifel von dem Machthaber für sich selbst, nicht etwa für das athenische Gemeinwesen erhoben, das weder vor noch nach der Tyrannis eine derartige Steuer gekannt hat. Eine weitere Einnahmequelle besaß der Tyrann in den Silber gruben von Laureion. Das dort gewonnene Edelmetall samt demjenigen, das seine Bergwerke am Pangaion lieferten, gab ihm die Möglichkeit zur Münzprägung und und damit zur Bezahlung der Soldtruppen sowie zu Aufwendungen für Bauten, Götterfeste und den eigenen Hofhalt, der freilich keine üppigkeit zeigte. Dar lehen, die er häufig den Bauern gewährte, werden meist in Saatgut bestanden haben, das er der in Naturalien abgeführten Bodensteuer entnehmen konnte. Die Einkünfte aus Zöllen und Marktgebühren verblieben offenbar dem Gemeinwesen, dessen finanzieller Bedarf wie bisher auf diese Weise befriedigt wurde. Schließ lich ist an alten Privatbesitz des Peisistratos zu erinnern, den der zurückgekehrte Tyrann sich gewiß wiedererstatten ließ, ferner an die Konfiskation von Gütern vertriebener oder emigrierter Adliger. Ob dieses Land von Peisistratos an An hänger vergeben oder zur Ansiedlung von Kleinbauern verwendet wurde, bleibt unbekannt. überhaupt wurde - wie allenthalben - durch die Tyrannis der Adel am schwer sten getroffen. Nicht nur daß sich Peisistratos abermals über seine Standesgenos sen erhoben hatte, die neue Form der Gewaltherrschaft mit Entwaffnung und Besteuerung zunutzen des Gebieters mußte von diesen weit mehr als vom Volk als Knechtung empfunden werden, der manche sich lieber entzogen als beugten. Die Alkmeoniden, die 556/6 mit Peisistratos völlig gebrochen hatten, gingen nach der Schlacht bei Pallene außer Landes ; Kallias, der schon einst ein erbitterter Feind des Tyrannen gewesen war und vor zehn Jahren dessen Besitz gekauft hatte, muß ein Gleiches getan haben; für einen Vorfahren des Redners Andokides bezeugt es sein Nachkomme. Verbannung war auch das Schicksal des dem Philaidenhause nahestehenden Kimon mit dem Spitznamen Koalemos (Dummkopf), eines Stief bruders jenes Miltiades, der einst die Tyrannis nicht ertragen und einen Kolo-
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nistenzug zur thrakischen Chersones geführt hatte. Wie den Allmleoniden dank ihrem Reichtum ein Leben außerhalb Attikas gut möglich war, so konnte Kimon im Exil sich an den Olympischen Spielen beteiligen und mit seinem Viergespann zwei Wagensiege (wahrscheinlich 532 und 528) erringen. Die Mehrheit der Adli gen aber blieb natürlich im Lande. Mit ihnen suchte der Tyrann, wenn auch wohl nicht gleich, in ein leidliches Verhältnis zu kommen. Früher oder später wird er ihnen die als Geiseln fortgeführten Söhne zurückgegeben haben. Ja nach der, frei lich wohlwollenden, Schilderung des Aristoteies hätte er sie in persönlichen Ver kehr gezogen und dadurch für sich gewonnen. Andererseits haben gewiß nicht wenige dieser Männer, als sie sahen, daß die Tyrannis eine unabänderliche Tat sache geworden war, von sich aus Verbindung mit dem Gewalthaber gesucht, um die eigene Lage zu verbessern. Sogar der verbannte Kimon ließ seinen zweiten olympischen Sieg unter dem Namen des Peisistratos ausrufen und erreichte durch diesen Akt der Devotion die Erlaubnis zur Heimkehr. Das maßvolle und kluge Verhalten des Tyrannen, nachdem seine Herrschaft gesidlert war, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Adel völlig entmachtet war. Da Peisistratos, wie sich noch zeigen wird, dafür sorgte, daß zu den leitenden Ämtern der Polis möglichst Mitglieder seiner Familie oder ergebene Männer gewählt wurden, hatten die vornehmen Herren im politischen Leben kaum ein Betätigungsfeld, und selbst wenn sie zu einem solchen Amte gelangten, konnte unter den Augen des Machthabers von einem selbständigen Wirken nicht die Rede sein. Auch daß für sie noch die Möglichkeit zu eigenen auswärtigen Un ternehmungen, etwa Piraten fahrten oder dergleichen, bestanden hätte, wird man schon angesichts der Entwaffnung bezweifeln müssen. So sahen sich diese Män ner, wofern sie nicht bereit waren, bloße Gehilfen des Tyrannen zu werden, auf den privaten Bereich des Lebens verwiesen, auf harmlose sportliche Betätigung, materiellen und gegebenenfalls auch geistigen Genuß, das heißt auf ein Dasein, wie es ähnlich die unter persischer Herrschaft lebenden und von Natur dazu nei genden Standesgenossen an der kleinasiatischen Küste führten. Vielleicht, daß von dort nach dem Sieg der Perser (545) auch Flüchtlinge nach Athen gekommen waren. Wie sehr der ionische Lebensstil während der Tyrannenzeit in Attika Ein gang fand, lassen die Werke der bildenden Kunst erkennen. Mit der Beschränkung auf den privaten Bereich wird es ferner zusammenhängen, daß starken An klang jetzt jene religiösen Lehren und Riten fanden, welche gestatteten, sich in eine andere Welt zu versenken : die Eleusinischen Mysterien mit ihrer Verheißung eines seligen Seins nach dem Tode, die Orphik mit ihrem Streben nach überwin dung der individuellen Existenz und einer letzten Vereinigung mit der Allgottheit, der Kult des Dionysos, der im Rausch die Bitternisse des Tages vergessen ließ. Mochte es nun die Flucht in die Mystik oder das Verlangen nach einer rituellen,
Peisistratos: Adel und Bauernschaft
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das Leben unter ein unverbrüchliches Gesetz stellenden Ordnung sein, ein Wunsch, den das durch die Tyrannis entstellte Gemeinwesen nicht erfüllen konnte, der aber gerade durch das Erleiden ungesetzlicher Macht geweckt wurde, jedenfalls suchte man in anderen Bezirken als denen der Polis Befriedigung. Selbst die Stadtgöttin auf der Burg scheint von adligen Herren nur noch wenige Weihgeschenke erhalten zu haben. Hatte doch von ihrem Bezirk der Gewalthaber Besitz ergriffen, der schon bei seiner ersten Rückkehr sich von ihr hinaufführen ließ und nach dem Sieg bei ihrem Heiligtum von PaIlene sie vollends sich zu verbinden trachtete. Das Entgegenkommen, das Peisistratos in späteren Jahren seinen Standesgenossen in Attika wohl gezeigt hat, dürfte unter solchen Umständen ohne tiefere Wirkung geblieben sein. Echte Sympathien für seine Herrschaft konnte er nicht vom Adel, sondern höchstens von der Landbevölkerung und den städtischen Gewerbetrei benden erwarten. Was das Verhältnis des Tyrannen zu den Bauern betrifft, so zeigt allein schon die Entwaffnung der zum Hoplitendienst fähigen mittleren Grundbesitzer, die mindestens zu einem Teil die Gefolgschaft seiner Gegner gebildet hatten, daß er sich von diesen keiner Zustimmung versah. Die Hyperakrier aber waren an der Errichtung der dritten Tyrannis kaum beteiligt gewesen, so daß Peisistratos, des sen Herrsd1aft jetzt auf seinem Reichtum und seinen Söldnern beruhte, sich ihnen weit weniger verpflichtet zu fühlen brauchte als in der Zeit um 560. Einigen von ihnen mag er Stücke der konfiszierten Adelsgüter zugeteilt haben, zumal da ihm im Interesse seiner Steuereinkünfte an einer intensiven Bewirtschaftung des atti schen Bodens lag. Aber die Anekdote von dem armen Landmann am Hymettos zeigt nicht nur, daß es weiterhin kümmerliche Bergbauern gab, sondern auch daß sie mit dem Zehnten belastet waren, der bloß in diesem Einzelfalle wegen der treuherzigen Antwort des Befragten erlassen wurde. Desgleichen geht aus anderen Angaben der Überlieferung hervor, wie sehr Peisistratos auf Steigerung seiner Einnahmen durch Hebung des Bodenertrages bedacht war. Deshalb, heißt es bei Aristoteles, unternahm er oft Inspektionsreisen und bestellte Richter in den loka len Bezirken (Demen) zur Schlichtung von Streitigkeiten. Der Bauer sollte nicht wegen jedes kleinen Rechtshandels in die Stadt kommen und dadurch seiner Feld arbeit entzogen werden. Vermutlich machte der Tyrann mit dieser Maßnahme zu gleich den Resten privater adliger Gerichtsbarkeit ein Ende. Auch die Gewährung von Darlehen und die Zuweisung von Saatgut oder eines Ochsengespannes an bedürftige Landleute, vor allem wohl solche, die zur Bebauung des ihnen zuge teilten Bodens Betriebsmittel benötigten, scheint den doppelten Zweck verfolgt zu haben, die Produktion zu steigern und den begünstigten Bauern an den Ty rannen statt an andere adlige Herren zu binden. Die Bestellung der Demenrichter läßt zudem noch eine andere Absicht erkennen, die Aristoteies ebenfalls hervor-
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gehoben hat : Peisistratos fürchtete - wie schon Periandros und Kleisthenes -, es könnte die Landbevölkerung durch Teilnahme an den Volksversammlungen oder gar durch Zusammenrottungen in der Stadt ihm Ungelegenheiten bereiten. Er wünschte daher, daß die Bauern zerstreut auf dem Lande lebten und bei mäßigem Wohlstand, mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, weder Zeit noch Lust hätten, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern. Um sie in der Stadt gleich erkennen zu können, soll er, dem Beispiel des Kleisthenes folgend, sie zum Tragen ihrer ländlichen Kleidung genötigt haben. Alles dies läßt das Verhältnis des Tyrannen zum Landvolk nicht in dem idealen Lichte erscheinen, in dem man es gern zu sehen pflegt. Wenn gleichwohl der Bauer letzten Endes nicht unzufrie den war, so lag dies einmal an der materiellen Unterstützung, die er in Notlagen erhielt, zum anderen an der Sicherung eines friedlichen, durch keinen Ruf zu den Waffen unterbrochenen Lebens, an der Milde und Nachsicht ferner, deren sich der kluge Machthaber befleißigte, und schließlich auch daran, daß die Venveisung auf den privaten Bereich von dem politisch noch unmündigen Landvolk leichter er tragen wurde als vom Adel. Selbst die Bodenertragssteuer des Tyrannen konnte in Kauf genommen werden, wenn unter seinem Schutz die eigene Wirtschaft ge dieh. Am meisten jedoch ist die Herrschaft des Peisistratos der besitzlosen städtischen Bevölkerung zugute gekommen. Sowohl der Dienst in der Söldnertruppe wie die Arbeit an den zahlreichen und großen Bauten des Tyrannen, von denen noch zu sprechen sein wird, konnte den auf Lohn angewiesenen Leuten erwünschte Ver dienstmöglichkeiten geben, und auch die Gewerbetreibenden müssen aus Aufträ gen für jene Werke Nutzen gezogen haben. Es ist ferner gewiß kein Zufall, daß, wie unter den Kypseliden die korinthische, so unter Peisistratos die attische Ke ramik sich prächtig entfaltete, daß ihre schwarzfigurigen, später rotfigurigen Ge fäße bis in ferne Länder exportiert wurden und jede Konkurrenz zurückdrängten. Denn die Neigung zu technischem Fortschritt, die so manchem Tyrannen eigen war, verleugnete auch der athenische Gewalthaber nicht. Gleich Theagenes und Periandros ließ er zur Stadt eine Wasserleitung bauen, die nahe am Markt in einem stattlichen Brunnenhaus mit neun Mündungen (Enneakrounos) endete. Die Anlage erleichterte vor allem der ärmeren Stadtbevölkerung das Leben. Bei ihr und den Handwerkern wird Peisistratos' Regiment am ehesten Anklang gefunden haben, verdankten ihm diese Kreise doch eine Besserung ihrer materiellen Exi stenz, manche wohl auch die Zuerkennung des Bürgerrechtes, das ihnen bislang streitig gemacht worden war. An der gefährlichsten Stelle seines Machtbereiches, in der Stadt selbst, verpflichtete sich der Tyrann einen T�il des Volkes, der seine Interessen durch ihn gefördert sah. Und doch hätte die mit nackter Gewalt begründete Herrschaft sich kaum jahr-
Peisistratos : Städtische Bevölkerung. Persönlichkeit
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zehntelang halten können, wären nicht ihre Härten durch die gewinnende, maß volle und überlegene Persönlichkeit des Peisistratos gemildert worden. Er gehört zu den wenigen Tyrannen, die kein schlimmes Andenken hinterließen. Könnte man die positive Beurteilung durch Thukydides, die Atthidographen und Aristo teles damit erklären, daß zu ihrer Zeit die demokratische Freiheit suspekt ge worden war, so zeugt doch Herodot davon, daß selbst in der perikleischen Epoche trotz leidenschaftlicher Ablehnung der Tyrannis die Gestalt des Peisistratos nicht in Verruf gekommen war. Von seiner Selbstbeherrschung und Gelassenheit, sei ner Großzügigkeit und seinem Witz wußte man sich noch später mancherlei Ge schichten zu erzählen; Aussprüche, die ihn fern von kleinlicher Rachsucht zeigten, gingen um, ja, man soll ihn sogar, wohl seiner Weisheit und Voraussicht wegen, als Bakis bezeichnet haben, unter dessen Namen zahlreiche Orakelsprüche bekannt waren. Daß er übertriebenen Luxus vermied, vielmehr durch schlichte Lebensfüh rung und mäßigen Genuß auffiel, bezeugt nicht nur Aristoteles, sondern auch der sonst in Ausmalung von Tyrannenüppigkeit schwelgende Theopompos, und selbst den Sieben Weisen ist er im Altertum gelegentlich zugerechnet worden. Natürliche Leutseligkeit und kluge Berechnung wirkten zusammen, wenn er in Einzelfällen zum Verzeihen bereit war, wenn er in seinen unbewachten Gärten Mundraub straflos geschehen ließ, wenn er jenem Bauern am Hymettos Steuerfreiheit ge währte oder, als er einmal vor dem Rat auf dem Areiopag des Mordes angeklagt wurde, der Vorladung folgte, worauf freilich der Kläger zurückgetreten sein soll. Der große Demagoge, der Peisistratos war, hat damit die einfältige Menge über den wahren politischen Tatbestand hinwegzutäuschen gewußt und noch moderne Historiker dazu verleitet, in ihm weniger den Tyrannen als den verantwortungs bewußten Regenten zu sehen. Nun bezeugt zwar Herodot für die erste Tyrannis die Beibehaltung der Ämter und Satzungen der Polis, und auch Aristoteles, der keinen Unterschied zwischen der ersten und der dritten, durch Eroberung gewon nenen Tyrannis macht, bemerkt, daß Peisistratos bei Regelung der öffentlichen Angelegenheiten mehr im Geiste der Polis als wie ein Tyrann verfuhr, aber es bleibt doch zu fragen, welches in Wahrheit rechtlich und politisch das Verhälmis des Machthabers zur Polis Athen seit dem Siege bei Pallene war. Anders als einst die Tyrannen am Isthmos sah sich Peisistratos in Athen einem neuartigen Staatswesen gegenüber, dem Solon die Form gegeben und den Geist, von dem es getragen sein sollte, aufgezeigt hatte. Diesen Organismus hat der Herr über Attika nicht verändert noch hat er rechtlich eine bevorzugte Stel lung eingenommen. AristoteIes sagt das mit klaren Worten und führt als Beispiel das Erscheinen als Angeklagter vor dem Areiopag an. Dem entspricht, daß Pei sistratos nicht eines der Oberämter der Polis dauernd oder ohne Wahl für sich in Anspruch nahm, sondern nur darauf hinwirkte, daß unter den höchsten Jahres-
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beamten sich möglichst Angehörige seiner Familie oder mindestens willfährige Männer befanden, womit er, da die gewesenen Archonten für Lebenszeit in den Areiopag eintraten, auch auf die Zusammensetzung dieser Körperschaft entschei denden Einfluß nahm. An sich hätte jeder einflußreiche Bürger so verfahren kön nen, und manche Adlige vor ihm mögen es auch versucht haben, doch fehlte ihnen die stets einsatzbereite städtische Gefolgschaft und vor allem die militärische Macht, die Peisistratos' Wünschen unverächtlichen Nachdruck gab. Diese Macht war privater Natur, was in einer Zeit nicht verwundern kann, da adlige Herren auf eigene Faust auswärtige Unternehmen führten oder gar als Tyrannen über feme Gemeinwesen herrschten, ohne des Bürgerrechtes in ihrer Vaterstadt verlustig zu gehen. Das Besondere im Falle des Peisistratos war allerdings, daß er mit seiner Macht die eigene Heimat unterworfen hatte und ihr seinen Willen auferlegte. Mochte er dann auch formal im Rahmen der gesetzlichen Ordnung bleiben, der politische Tatbestand war der einer sich auf Soldtruppen stiitzenden, die Bürger schaft zu eigenem Nutzen besteuernden monarchischen Herrschaft. Unter ihr wur den, wie schon Aristoteles festgestellt hat, Solons Gesetze «unsichtbar» ; vom Geist seiner Verfassung war nichts mehr zu spüren. In Peisistratos, in dem der persönliche Machtwille der adligen Herren gipfelte, den Wahrer dieser Ver fassung oder einen Führer und Repräsentanten der attischen Polis nach Art des Perikles sehen wollen heißt nicht nur den Unterschied zwischen archaischer und klassischer Zeit, sondern auch das Wesen seiner Tyrannis und überhaupt der älteren Tyrannis verkennen. Natiirlich hat der kluge Machthaber die Herrschaft, die er faktisch ausübte, so wenig als möglich hervortreten lassen und, wo es ohne Schaden geschehen oder Vorteile bringen konnte, sich dem Gemeinwesen eingefügt. Das ihm vom Pan gaion und aus Laureion zufließende Silber ist von Peisistratos seit 546/5 allem Anschein nach in Form der sogenannten Wappenmünzen ausgeprägt worden, deren mannigfache Embleme in nichts auf den Tyrannen hinweisen. Allerdings auch nicht auf die Polis der Athener. Ob der Gewalthaber die Prägung und Ausgabe der Münzen ganz eigenmächtig vornahm oder von der Volksversammlung einen entsprechenden Beschluß fassen ließ, entzieht sich völlig unserer Kenntnis. Un möglich scheint das letztere nicht. Denn auch einige dem Peisistratos zugeschrie bene Gesetze dürften - die Richtigkeit dieser Angaben vorausgesetzt - keine Verfügungen des Tyrannen, sondern eher Volksbeschlüsse gewesen sein, die auf seinen Antrag, den er wie jeder Bürger stellen konnte, zustande kamen. Die Ein schränkung des Gräberluxus, die der archäologische Befund zu bestätigen scheint, wurde wohl durch ein solches Gesetz gefordert; auch Periandros hatte die selbst bewußte Schaustellung des Reichtums der Adligen unterbunden. Andere Gesetze, eines über die Versorgung von Kriegsinvaliden, eines gegen den Müßiggang, sind
Peisistratos und die Polis Athen
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vermutlich erst in der Peisistratos-freundlichen Literatur des 4. Jahrhunderts ihm zugeschrieben worden, während sie in Wahrheit auf Solon zurückgehen. Das zweite, das seinen eigenen Bemühungen um Intensivierung des Landbaues und Verhinderung von Zusammenrottungen entgegenkam, mag der Tyrann aufge griffen und noch verschärft haben ; für Kriegsverletzte zu sorgen hatte er höch stens um 560 nach dem Krieg gegen Megara, kaum aber in seiner späteren Herr schaftszeit Grund. Daß durch Gesetz der Kreis der Vollbürger erweitert wurde, gibt Aristoteles zu erkennen, doch bleibt der Umfang dieser Maßnahme, die offen bar alte Anhänger des Peisistratos befriedigen und neue ihm gewinnen sollte, unklar. Schließlich dürfte die Einsetzung von Demenrichtem auf Grund eines von Peisistratos beantragten Gesetzes erfolgt sein, eine Neuerung, die wie manche andere der Sicherung der Tyrannis diente und zugleich einem praktischen Bedürf nis entsprach, so daß der Freistaat, der sie zunächst abschaffte, später (453/2) auf sie zurückgriff. Dieselbe Verbindung von persönlichen und allgemeinen Interessen, die Peisistratos auszeichnet, begegnet uns auch in seinem Verhälmis zur Religion. Athena, die seit Solon als die göttliche Schirmerin der attischen Polis galt, hatte der Tyrann schon bei seiner ersten Rückkehr in einem theatralischen Aufzug für sich in Anspruch genommen. Daß er sich die Ausgestaltung der großen, in jedem vierten Jahre begangenen Feier der Panathenaien, die bereits einige Jahre vor sei nem ersten Staatsstreich eingerichtet worden war (56615), angelegen sein ließ, ist zwar nicht bezeugt, aber angesichts der Bedeutung, die das Fest in der Tyrannen zeit gewann, und im Hinblick darauf, daß wir später seine Söhne den Prozessions zug ordnen sehen, sehr wahrscheinlich. Es mußte zudem dem Gewalthaber lieb sein, wenn dem Ehrgeiz des heimischen Adels in Athen selbst Genüge getan und das gefährliche Zusammentreffen mit fremden oder verbannten Standesgenossen an den großen panhellenischen plätzen möglichst vermieden wurde. Peisistratos selbst scheint sich weder an den Spielen zu Olympia noch an denjenigen zu Del phoi beteiligt zu haben, wenn er es auch dem Kimon Koalemos dankte, daß dieser ihn am Alpheios als Sieger ausrufen ließ. Zum delphischen Heiligtum, mit dem die verbannten Alkmeoniden vermutlich schon damals gute Beziehungen unter hielten, stand er wohl in Spannung, so daß die Legende sich bilden konnte, der Brand des Apollontempels daselbst (548/7) sei von den Peisistratiden angelegt worden. Die zunehmende Tyrannenfeindlichkeit des auf Wahrung der gesetzlichen Ordnungen bedachten Orakels verhinderte offenbar ein gutes Verhältnis, wie denn auch nichts von einem dem Peisistratos oder seinen Söhnen gegebenen Spruch verlautet. Andererseits hatte dieser keinen Grund, dem pythischen Gott in Athen die Verehrung zu versagen, und es mag sein, daß dessen Kult schon von ihm aus seiner Heimat Brauron an das Ufer des Ilissos verpflanzt wurde, wo später sein Enkel einen Altar errichtete. In erster Linie aber ließ es sich der Tyrann
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angelegen sein, Athena, der Schutzpatronin seiner selbst und der Stadt, zu hul digen. Für sie wurde auf der Akropolis mit dem Bau eines hundert Fuß langen Tempels, des Hekatompedos, begonnen und ein zweiter Tempel, der einen frühe ren ersetzte, an der Stelle des späteren Parthenon in Angriff genommen. Auch die Errichtung eines Festtores zu dem heiligen Bezirk scheint von Peisistratos oder sei nen Söhnen eingeleitet worden zu sein. Denn diese haben manches fortgeführt oder verwirklicht, was schon der Vater sich vorgesetzt hatte, gleich ihm um die Gunst der mächtigen Herrin bemüht. Und mit den Tyrannen pflegte ihre Anhän gerschaft den Kult der Göttin. Unter den Weihgeschenken der Zeit findet sich eine auffallend große Zahl solcher, die von Gewerbetreibenden oder kleinen Leuten dargebracht sind, während man nach Namen von Angehörigen der großen Adels familien vergebens sucht. Wieweit andere bedeutende Kultbauten, die nachweislich in der Tyrannenzeit be gonnen oder ausgeführt wurden, dem Peisistratos, wieweit erst seinen Söhnen zuzuschreiben sind, läßt sich schwer entscheiden. Ein Riesentempel für den olym pischen Zeus nach Art der ionischen Dipteralbauten, aber in dorischem Stil gedieh nidlt über die Fundamente hinaus. Ausgestaltet wurde das Heiligtum der Demeter zu Eleusis, das unter anderem eine Umfassungsmauer mit Festtor erhielt, neu ge schaffen wohl der Kultbezirk der Artemis von Brauron auf der Burg von Athen. Wie zu dieser Göttin mag der Tyrann von seiner ländlichen Heimat her auch zu Dionysos ein persönliches Verhälmis gehabt haben, das sich während seines Auf enthaltes in Thrakien, dem Land der dionysischen Begehungen, noch vertieft ha ben könnte. Zwar findet die oft wiederholte Behauptung, Peisistratos habe das Fest der «Städtischen Dionysien» begründet, in der Überlieferung keine Stütze, und auch der Bau des älteren Dionysostempels unterhalb der Akropolis läßt sich nicht mit Sicherheit auf seine Initiative zurückführen, aber daß er den Kult des Gottes förderte, ist kaum zu bezweifeln. Schon Periandros und Kleisthenes waren ähnlich verfahren. Dabei dürfte für ihn nicht nur wie für jene die Rücksicht auf das dem Dionysos besonders ergebene Landvolk bestimmend gewesen sein, son dern auch der Umstand, daß die dionysische Religion in seiner Zeit allgemein dem Verlangen des Einzelmenschen entsprach und daß sie vornehmlich die Sphäre des Privaten betraf, auf die der Herr Athens die Bürgerschaft verwiesen sehen wollte. Er hatte sozusagen ein politisches Interesse an diesem unpolitischen Kult. Nicht minder an den Mysterien von Eleusis, die ebenfalls dem individuellen religiösen Bedürfnis Rechnung trugen, nur daß bei ihrer Förderung ihn zugleich der Wunsch geleitet haben wird, durch glänzenden Ausbau der von nah und fern besuchten Stätte dem Ruhm der eigenen Herrschaft zu dienen. Ob Peisistratos etwas dazu beigetragen hat, daß in den dreißiger Jahren durch Thespis aus dem attischen Flecken Ikaria zum ersten Male eine Tragödie aufgeführt wurde, entzieht sich
Peisistratos : Kulte, Kultbauten, Feste
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unserer Kenntnis ; weder für ihn noch für seinen Sohn Hipparchos, der mancher lei Poeten in seine Umgebung zog, sind Beziehungen zu einem Tragödiendichter bezeugt. Seine geistigen Neigungen und Bestrebungen scheinen mehr nach ande rer Richtung gegangen zu sein. Er ordnete nämlich an, daß an den Panathenaien die nacheinander auftretenden Rhapsoden die homerischen Gesänge in der rechten, damals wahrscheinlich schon feststehenden Folge vortragen sollten. Hier handelte es sich um Adelspoesie, wie die Ausgestaltung der großen Athenafeier überhaupt wohl vor allem im Hinblick auf den heimischen Adel erfolgte, an dessen Spitze sich die Tyrannen bei der Prozession zeigten. Denn gleich den Gewalthabern in anderen Städten scheinen die Peisistratiden, so sehr sie als Führer der nichtadligen Volksschichten gelten wollten, an ihrem eigenen Adelsturn festgehalten zu haben. Auch bei der Bibliothek, die Peisistratos, sofern wir späten Angaben glauben dür fen, anlegte, ist vornehmlich an die Sammlung der epischen, also der Adels dichtung zu denken. Niemand wird nach allem, was anzuführen war, bestreiten wollen, daß durch Peisistratos das kultische Leben Athens eine große Bereicherung erfuhr und die Stadt durch seine Bauten erhöhten Glanz empfing. Doch ist andererseits nicht zu verkennen, daß die Pflege der Kulte und die Aufwendungen für Feste oder Tem pel weniger um des religiösen Eigenlebens der Polis willen als im Interesse des Tyrannen geleistet wurden, sei es, um sich der Gunst der Götter, im besonderen Athenas, zu versichern, sei es aus bestimmten politischen Erwägungen, sei es schließlich zur Mehrung seines persönlichen Ruhmes. Diesen Zwecken wurde ein Teil der von Peisistratos erhobenen Steuer nutzbar gemacht. Wohl ist das, was er schuf, auch dem attischen Gemeinwesen zugute gekommen, seinen Ursprung aber hat es im Macht- und Geltungswillen des Gewalthabers. Von seinen Anliegen und Möglichkeiten her wollen alle Maßnahmen oder Taten in erster Linie verstanden sein ; schon Aristoteles hat das gesehen. Persönliche Ziele, weniger die Belange der Polis, sind denn auch für die Außenpolitik des Tyrannen bestimmend gewesen. Wenn Thukydides bemerkt, daß die Tyrannen der archaischen Zeit über den heimatlichen Bereich hinaus, von kleinen Grenzfehden abgesehen, keine nennens werte Macht entfaltet hätten, so gilt das auch für Peisistratos. Die Notwendigkeit, mit seinen Soldtruppen die Herrschaft über Attika zu behaupten, mußte ihm ein offensives Ausgreifen, sofern er danach verlangt haben sollte, verbieten. üb den Bürgern nach einiger Zeit der Besitz von Waffen wieder gestattet wurde, ist recht fraglich, die Verwendung ihres Aufgebotes zu Kriegszügen um so weniger anzu nehmen, als Andeutungen in der Überlieferung dem zu widersprechen scheinen. Dagegen war die Beteiligung von Athenern an der Gründung einer Kolonie nicht nur möglich, sie mußte dem Tyrannen, der auf diese Weise Bauernsöhne mit Land versorgen und wohl auch unzufriedene Elemente aus Athen entfernen konnte,
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erwünscht sein, wie andererseits ärmere Leute in Aussicht auf zureichenden Boden besitz oder sonstige Besserung ihrer Lage seinem Ruf zur Teilnahme an einem solchen Unternehmen gern gefolgt sein dürften, auch wenn sie am neuen Wohn sitz wie in der Heimat dem Tyrannen steuerpflichtig sein würden. Denn daß die ser sich von der Anlage einer Pflanzstadt die Gewinnung eines ertragreichen Au ßenbesitzes versprach, der im übrigen, falls die Herrschaft seines Hauses über Athen nicht von Dauer sein sollte, ein Refugium oder die Basis für eine Restitution bieten konnte, läßt sich kaum bezweifeln. Nun verfügte Peisistratos zwar über ein Territorium am Pangaiongebirge, während Rhaikelos am Thermaischen Golf wohl von ihm aufgegeben worden war, doch war es für ihn, zumal da der Besitz in Thrakien mehr in Bergwerken als in Ackerland bestanden zu haben scheint, naheliegend, den Blick auf das um 600 von attischen Kolonisten besiedelte Sigeion mit der unterhalb des Platzes sich ausdehnenden Skamandrosebene zu lenken. Der Ort war, wie früher erwähnt, einst durch einen Schiedsspruch des Periandros den von den Mytilenaiern bedrängten attischen Siedlern zuerkannt worden, inzwischen aber, vielleicht erst jüngst, jenen anheimgefallen, so daß auch aus diesem Grunde seine Eroberung wünschenswert scheinen mochte. Daß an eine Beherrschung der Wasserstraße des Hellespontes gedadtt war, ist schon angesichts der geographi schen Situation ausgeschlossen. Peisistratos hat - vielleicht noch in den vierziger Jahren - Sigeion den Mytilenaiern entrissen und dort vermutlich alte und neue Kolonisten angesiedelt. Wie die Kypseliden in ihren Pflanzstädten setzte er einen Sproß von einer nichtheimischen Gattin, Hegesistratos, den ältesten Sohn aus seiner Ehe mit der Argiverin Timonassa, als Tyrann über die Stadt. Diese bil dete ein eigenes Gemeinwesen, das mit der attischen Polis nur durch Bande des Blutes, gemeinsamer Kulte und der Pietät verbunden war, dem Hause des Peisi stratos jedoch unterstand. Wir wissen nicht, wie lange Hegesistratos die Herrschaft ausübte und wer ihm etwa folgte. Jedenfalls aber hielt sich in Sigeion die Tyran nis über ihren Sturz in Athen hinaus, so daß Hippias nach seiner Vertreibung aus der Heimat hier Zuflucht finden konnte (5:10). Weiteren Außenbesitz hat Peisistratos nicht gewonnen. Die Insel Naxos, die er bald nach Errichtung seiner dritten Tyrannis eroberte, behielt er nicht für sich selbst, sondern überließ sie dem Naxier Lygdamis, der sich in Eretria ihm ange schlossen und beim Kampf um Attika geholfen hatte. Es scheint, daß Lygdamis fortan als selbständiger, wenn auch seinem mächtigen Gönner ergebener Tyrann über der Insel gewaltet hat. Die Meinung, daß Peisistratos in der Ägäis, etwa durch Beherrschung dieses und anderer Eilande, eine dominierende Stellung einge nommen habe, ist schwerlich zutreffend, mindestens nicht zu sichern. Wenn er Delos, die heilige Insel des Apollon, durch Entfernung der Gräber kultisch reinigen ließ und offenbar auch die Erweiterung des Tempelbezirkes förderte, so beweist das
Peisistratos: Außenpolitik
zunächst kaum mehr, als daß er sich tatkräftig um die Gunst des delischen Gottes bemühte, der in einer gewissen Rivalität zu dem Herrn in Delphoi stand. Eine nen nenswerte Seeherrschaft wäre in der Tradition nicht unerwähnt geblieben. über Schiffe muß der TyralU1 allerdings verfügt haben, wie die genannten Unternehmun gen über See und das angebliche Vorgehen seines Sohnes Hippias gegen die See räuberplage zeigen. Im Hinblick auf den gleichsam privaten Charakter des Söldner heeres der Tyrannen und den mehr oder weniger eigensüchtigen Zweck der Expeditionen wird man der Ansicht zuneigen, daß es sich bei diesen Geschwadern um ein Instrument der Machthaber, nicht der attischen Polis handelte, der nur wenige Küstenfahrzeuge zur Verfügung standen, daß also Peisistratos aus eige nen Mitteln Schiffe anwarb oder baute und die Ruderer seinerseits besoldete. Ähn lich wie manche adlige Herren der archaischen Zeit, nur in größerem Ausmaß, scheint sich der Tyrann auf eigene Faust zur See betätigt zu haben. Auch die Außenpolitik des Peisistratos ist nicht die der Polis gewesen, die noch nicht genügend gefestigt war, um auf diesem Gebiet starke Initiative entfalten zu können, sondern die der großen Adelshäuser, die über die Grenzen der Heimat hinweg durch verwandtschaftliche oder sonstige Verbindungen mit vornehmen Familien in anderen Griechens.tädten oder mit barbarischen Fürstenhäusern eigene Machtgruppen bildeten, durch die ihre Stellung in der Vaterstadt gestärkt wurde. Bereits vor der Mitte des Jahrhunderts hatte Peisistratos, wie der Name seines Sohnes Thessalos zeigt, in Beziehung zu den Feudalherren Thessaliens gestanden, die noch 510 seinem Sohn Hippias Hilfe leisteten und ihm ein Asyl anboten. Das letztere tat auch der Makedonenkönig Amyntas L, mit dessen Haus wohl schon zur Zeit der Besiedlung von Rhaikelos Verbindungen angeknüpft worden waren. Adlige aus Theben und Eretria waren an der Errichtung der dritten Tyrannis be teiligt gewesen, desgleichen die herrschende Schicht in Argos, zu der seit der Ehe mit Timonassa dauernd ein freundschaftliches Verhältnis bestand. So ruhte die Tyrannis über Athen nicht nur auf Söldnertruppen und ziviler Anhängerschaft, namentlich in der städtischen Bevölkerung, sie wurde durch einen beträchtlichen Außenbesitz der Familie und durch mannigfache Verknüpfung mit Adelshäusern und Dynasten in weitem Umkreis gestützt. Fest gefügt konnten die Söhne, als Pei sistratos um 528/7 eines natürlichen Todes starb, das große Erbe, das er ihnen hinterließ, übernehmen.
I I I. D I E S Ö H N E D E S P E I S I S T RATO S
Für die Nachfolge in der Herrschaft über Athen, die wie jede Tyrannis sich ihrer Natur nach privatrechtlich vererbte, kamen in erster Linie die Söhne des Peisistra-
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tros von seiner attischen Gemahlin in Betracht. Die Söhne der Argiverin Timo nassa erscheinen nicht mehr in Athen : Hegesistratos war in Sigeion eingesetzt worden, Iophon, über den gar nichts verlautet, mag, sofern er nicht gestorben war, sich dort oder am Pangaion befunden haben. Daß die drei Söhne der Athenerin, von denen Hippias der älteste, Hipparchos der zweite, Thessalos der jüngste war, alle an der Tyrannis teilhatten, also eine Art von Samtherrschaft bestand, ist der Überlieferung mit großer Wahrscheinlichkeit zu entnehmen. Thessalos freilich tritt im Vergleich zu seinen wesentlich älteren Brüdern so gut wie gar nicht her vor, und was von ihm überliefert wird, widerspricht sich. Nach Aristoteles hätte seine Leidenschaft und Hybris alles Übel heraufbeschworen, während andere be haupteten, er sei weise gewesen, habe der Tyrannis entsagt und dadurch, daß er die Gleichheit der Bürger wünschte, bei ihnen großes Ansehen gewonnen. Eine Entscheidung zwischen den beiden Traditionen ist kaum zu fällen, immerhin stimmen sie darin überein, daß Thessalos mindestens anfangs an der Herrschaft beteiligt war. Mochten die Brüder nun offiziell in Gemeinschaft handeln oder die Aufgaben unter sich verteilen, der politisch Maßgebende war ohne Zweifel Hip pias, sowohl als der älteste wie der mangelnden Herrscherbefähigung seiner Brü der wegen, von denen Hipparchos geistigen Interessen und sinnlichen Genüssen zuneigte, mit Thessalos so oder so nicht ernsthaft gerechnet werden konnte. Ver mählt war Hippias mit einer Tochter des Charmos, Myrrhine, die ihm fünf Kin der gebar, unter ihnen einen nach dem Großvater genannten Sohn Peisistratos, welcher der älteste gewesen sein dürfte, und eine Tochter Archedike. Hipparchos hatte Phye, eine Tochter des Atheners Sokrates, zur Gemahlin ; ob Thessalos ver heiratet war, bleibt unbekannt. Die Herrschaft übten die Peisistratossöhne nach der bewährten Art des Vaters, indem auch sie die Verfassung der Polis mit ihren Organen bestehen ließen und nur auf die Besetzung der leitenden Ämter Einfluß nahmen. Diese Tyrannen, sagt Thukydides, zeigten im allgemeinen Tüchtigkeit und Einsicht, sie verlangten nur den zwanzigsten Teil der Einkünfte, hielten ihre Polis in guter Ordnung, trugen die Kriege aus und opferten in den Heiligtümern. Hippias habe die Soldtruppen in Disziplin gehalten, und wenn er bei den Bürgern Furcht erweckte, so sei er doch andererseits für jeden zu sprechen gewesen. Aristoteles nennt ihn sogar von Na tur staatsmännisch und verständig. Demgegenüber erscheint Hipparchos bei bei den Autoren in einem ungünstigeren Licht. Nur von seiner Neigung zu den schö nen Künsten ist die Rede, nicht von Herrschereigenschaften; er wird als kindlich spielerisch und leidenschaftlich erotisch gekennzeichnet. Die im ganzen maßvolle Art der Tyrannis, wie sie bis zu dem Attentat von 514 bestand, ist also vornehm lich dem Hippias zuzuschreiben. Er mag von Thukydides und Aristoteles mit be wußter Polemik gegen das Bild, das man sich in der tyrannenfeindlichen Demokra-
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Samtherrschaft der Söhne des Peisistratos
tie von ihm machte, zu positiv beurteilt worden sein; daran, daß die Herrschaft in den Bahnen des Peisistratos weitergeführt wurde, ist jedoch nicht zu zweifeln. Unter den Aufgaben, vor die sich die Söhne nach dem Tode des Vaters gestellt sahen, mußte die Gestaltung des Verhältnisses zu den großen attischen Adelsge schlechtern von besonderer Bedeutung sein. Dem Kimon Koalemos hatte noch Peisistratos die Rückkehr gestattet; sein Sohn Miltiades, der spätere Sieger von Marathon, konnte sogar im Jahre 524 zum Archontat gelangen, was kaum ohne Zustimmung der Tyrannen geschehen sein kann. Freilich wurde sein Vater, der wahrscheinlich im gleichen Jahre einen dritten olympischen Sieg errang, bald darauf im Prytaneion, wo er als Olympiasieger lebenslängliche Speisung genoß, ermordet, eine Tat, die nach Herodot durch die Peisistratiden geschah. Jedenfalls hat man dies im Hause Kimons später und vielleicht schon damals geglaubt. Mil tiades selbst blieb anscheinend während der folgenden Jahre ungestört in Athen, bis um 5I6f5 der Ruf an ihn erging, anstelle seines ermordeten Bruders Stesa goras die einst von dem älteren Miltiades gegründete Tyrannis auf der thraki schen Chersones zu übernehmen. Daß die Peisistratiden nach dem, was geschehen war, ihn gern ziehen sahen und ihm sogar eine Triere für die Fahrt zur Verfügung stellten, ist begreiflich genug, zumal da sich in jenen Jahren bereits eine wachsende Opposition gegen ihre Herrschaft bemerkbar gemacht haben dürfte. Wie zur Familie Kimons sind von Hippias und seinen Brüdern während der ersten Jahre gute Beziehungen auch zu den Alkmeoniden hergestellt worden, die, wenn nicht noch von Peisistratos selbst, so doch bald nach seinem Tode die Er laubnis zur Rückkehr erhalten hatten. Nachdem Hippias 526f5 Archon gewesen war, konnte Kleisthenes, der Sohn jenes Megakies, der nach Lösung der Ehe sei ner Tochter zum erbitterten Feind des Peisistratos geworden war, im Jahre 525f4 das höchste Amt bekleiden. Aber auch hier ist die Versöhnung nicht von Dauer gewesen. Die Angehörigen des Geschlechtes mußten vermutlich noch vor der Ermordung des Hipparchos (5I4), ein zweites Mal in die Verbannung gehen. Wie weit Verbannte oder Emigrierte aus anderen Familien wieder nach Attika kommen und sich dort etwa, des Daseins in der Fremde leid, mit dem Leben unter der Ty rannis abfanden, entzieht sich unserer Kenntnis. Die dauernd in Attika verblie benen Adligen - und nicht nur die mit den Peisistratiden verwandtschaftlich ver bundenen Häuser des Charmos und Sokrates - werden mindestens zum Teil, schon aus Opportunitätsgründen, den Verkehr mit den Tyrannen nicht verabscheut haben. Hippias konnte aus vornehmen Herren eine Hetairie um sich scharen, und in tyrannenfreundlichen Zirkeln wurden Trinklieder zum Ruhm seines Hauses gesungen. Von politischen Maßnahmen aus der Zeit der Samtherrschaft (bis 5I4) ist we nig bekannt. Hatte Peisistratos eine Bodenertragssteuer von zehn Prozent erho-
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ben, so begnügten sich die Söhne mit fünf Prozent. Wahrscheinlich gehört die Einführung einer neuen Münze, die auf der Vorderseite den Kopf der Athena, auf der Rückseite die Eule, ferner die Aufschrift «der Athener» zeigt, in das erste Jahrzehnt der gemeinsamen Herrschaft. Sie könnte dann als ein Zeichen des da mals von den Tyrannen bekundeten versöhnlichen, der Polis entgegenkommen den Geistes angesehen werden, während andere, meist drückende Finanzmanipu lationen, die dem Hippias zugeschrieben werden, wohl erst in die Zeit nach 514 zu setzen sind. Daß den Bürgern die Wiederbewaffnung gestattet worden wäre, ist weder bezeugt noch angesichts der Sorge, die Hippias auf die Söldner ver wandte, wahrscheinlich. Gleich ihrem Vater zeigten sich die Peisistratiden um die Gunst der G ötter, vor allem Athenas, bemüht. Nicht nur daß die von ihm be gonnenen sakralen Bauten weitergeführt wurden und der Hekatompedos auf der Burg eine Ringhalle mit marmornen Giebelfeldern erhielt, Hippias bewirkte in den späteren Jahren auch, daß der Priesterin der Athena bei jedem Todesfall und jeder Geburt ein Tagesrnaß Gerste, ein Tagesrnaß Weizen und ein Obolos zu ent richten war. Sein Sohn Peisistratos errichtete zudem, als er Archon war, im hei ligen Bezirk des Pythischen Apollon einen Altar und einen weiteren für die Zwölf Götter auf dem Markt. Von dem ersteren zeugt noch heute die von Thukydides zu Unrecht als schwer leserlich bezeichnete Weihinschrift, der zweite sollte zu gleich als Zentralmeilenstein für die von Athen ausgehenden Straßen dienen. Die ser Straßen nahm sich Hipparchos in seiner Weise an, indem er an ihnen Hermen mit Sinnsprüchen aufstellen ließ, die er angeblich teils von anderen übernommen, teils selbst verfaßt hatte, etwa der Art: «Dies ist ein Denkmal des Hipparchos, wandle mit redlichem Sinn !» oder «Dies ist ein Denkmal des Hipparchos, betrüge nimmer den Freund ! » . Denn der zweite Sohn des großen Peisistratos hatte offenbar den Ehrgeiz, als Weiser zu gelten und durch Verkündung von sittlichen Lebensregeln, wie sie ähnlich dem Periandros als einem der Sieben Weisen zugeschrieben wurden, er zieherisch auf das Volk zu wirken. Aber wenn an dem Beherrscher Korinths gewisse Züge zu bemerken waren, welche an die Gesetzgeber und Staatsordner seiner Zeit erinnerten, so scheint es sich bei Hipparchos um nicht viel mehr als um geistreiche Spielerei gehandelt zu haben. Den Freuden der Liebe und einem kultivierten Le bensgenuß hingegeben, dürfte er vom Ernst sittlicher Forderungen nur wenig be rührt worden sein. Neben dem Hain des Heros Akademos, den er mit einer Mauer umgab, nachdem im Lykeion vielleicht schon sein Vater ein Gymnasion gegründet hatte, wurde von Hippias' Schwiegervater Charmos eine Erosstatue samt Altar ge weiht. Simonides, den geschmeidigen, dienstbeflissenen Poeten aus Keos, zog Hipparchos in seine Umgebung und wußte ihn durch reiche Geschenke zu fesseln ; Anakreon ward - wohl schon vor dem Sturz des Polykrates (522) - auf einer
Hippias und Hipparchos
Triere nach Athen geholt, er, dessen Ruhm als Sänger zartester Liebeslieder in aller Munde war. An Periandros' Hof erinnert, daß der von Hermione in der Argolis berufene Lasos das Kultlied des Dithyrambos neu gestaltete und da mit die musischen Agone für Dionysos in Athen bereicherte. Hatte doch einst Arion in Korinth ähnliches getan. Aber anders als dort bot sich jetzt in Athen das Bild eines Musenhofes dar. Hipparchos selbst erfreute sich am Umgang mit den Dichtern, fand genuß an Inhalt und Form ihrer Schöpfungen, fühlte sich dadurch gehoben und sah den Ruhm seiner Person und seines Hauses gemehrt. Beide Tyrannen, Hippias wie Hipparchos, haben ihr besonderes Interesse dem Orakelwesen zugewandt. Ja von Hippias heißt es bei Herodot, daß von allen Men schen er am genauesten die Orakelsprüche gekannt habe. Es ist daher glaublich, daß nach seiner Vertreibung der Lakedaimonierkönig Kleomenes auf der Akropolis eine Sammlung von Orakeln vorfand. Ob darunter auch solche waren, die den Spartanern Unheil von seiten Athens voraussagten, muß freilich als zweifelhaft gelten. Sicher dagegen scheint, daß Hipparchos sich des Rates des sachkundigen Onomakritos bediente, ihn aber auswies, als Lasos von Hermione nachweisen konnte, daß er einen Spruch über das Verschwinden der Inseln um Lemnos fälschlich als Orakel des Musaios ausgegeben habe. Auch auf Traumgesichte haben die Peisistratiden wie so manche Tyrannen offenbar viel gegeben. Zum delphischen Heiligtum, das seit der Mitte des sechsten Jahrhunderts anscheinend mit zunehmender Ablehnung der Tyrannis gegenüberstand, unterhielten die Söhne jedoch offenbar ebensowenig Beziehungen wie einst Peisistratos selbst. We der holten sie von dort Weisungen ein, noch stifteten sie Weihgeschenke, vielmehr wurde von dem jüngeren Peisistratos im Pythion zu Athen ein Altar errichtet und das in Konkurrenz zu Delphoi stehende Orakel am Ptoionberge von Hipparchos mit Gaben bedacht. Daß er oder sein Bruder der orphischen Lehre zugeneigt gewesen wären, deren dichterische Zeugnisse Onomakritos sammelte und durch Eigenes ergänzte, ist angesichts des Schweigens der Überlieferung und der Lebensführung der Tyrannen unwahrscheinlich. Denn mit Grund wurde ihnen Luxus bei Gelagen oder Umzügen, kostspielige Rossezucht und dergleichen nachgesagt. Wie so oft mögen auch hier die Söhne von der schlichten Art des Vaters, der aus eigener Kraft emporgekommen war, abgegangen sein. In der Außenpolitik dagegen folgten sie den Spuren des Peisistratos, das heißt : es blieb der Friede im großen und ganzen gewahrt. Mit den thessalischen Feudal herren und dem Makedonenkönig bestanden weiterhin gute Beziehungen, des gleichen mit jenen Kreisen in Argos, aus denen 54615 tausend Freiwillige gekom men waren, und vermutlich auch mit dem thebanischen Adel. Soweit es zu irgend welchen kriegerischen Verwicklungen gekommen ist, können sie nur unbedeutend gewesen sein. Nichts verlautet davon, daß der um 524 von den Lakedaimoniern
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gestürzte Tyrann Lygdamis von Naxos seitens der Peisistratiden Unterstützung erhalten habe, obwohl er von ihrem Vater über die Insel gesetzt worden war und es an Schiffen für eine solche Expedition schwerlich gefehlt hätte. Vielmehr wird ausdrücklich bezeugt, daß des Peisistratos Söhne Gastfreunde des spartanischen Staates waren. Wie es dazu kam, daß man am Eurotas, wo doch eher Tyrannen feindschaft als Tyrannenfreundschaft die Politik bestimmte, sich bewogen fühlte, die Gewalthaber über Athen in dieser Weise zu ehren und damit ihr Regiment anzuerkennen, und ob dabei etwa deren Abkehr von Lygdamis eine Rolle spielte, läßt sich nicht mehr ermitteln. Für die Peisistratiden bedeutete die Verbindung mit dem mächtigsten Staate Griechenlands eine gewisse Sicherung ihrer Stellung, zumal als im zweiten Jahrzehnt ihrer Herrschaft eine wachsende Opposition spür bar wurde. Schon daß die Tyrannen im Jahre 516 Miltiades für seine Abreise nach der Chersones bereitwillig eine Triere zur Verfügung stellten, sieht darnach aus, als hätten sie, die im Verdacht standen, seinen Vater ermordet zu haben, ihn ge fürchtet und deshalb seinen Fortgang aus Athen unterstützt. In die Jahre zwischen 520 und 5 14 gehört allem Anschein nach auch die zweite Verbannung der Alkmeo niden sowie der Anschlag, den ein gewisser Kedon gegen die Tyrannen richtete. Er scheiterte, obwohl Kedon einen Kreis treu er Anhänger besaß, die seiner noch später rühmend beim Symposion gedachten. Einen zweiten Versuch, die Tyrannis zu stürzen, unternahmen, wohl ebenfalls schon vor 5 14, die verbannten Alkmeo niden, die sich in Leipshydrion am Parnesgebirge festsetzten und aus der Stadt Gesinnungsgenossen an sich zogen. Unter schweren Verlusten, an die ein Preis und Klagelied die Erinnerung bei ihren tyrannenfeindlichen Freunden wachhielt, wurden sie aus ihrer Stellung vertrieben und mußten nun endgültig außer Landes gehen. Ein dritter Anschlag führte wenigstens zu einem Teilerfolg : beim Pana thenaienfest des Jahres 514 wurde Hipparchos von Harmodios und Aristogeiton ermordet. Die sich in manchem widersprechenden Berichte unserer Hauptquellen, Thuky dides und Aristoteles, stimmen darin überein, daß einer von Hippias' Brüdern, weil Harmodios seine Liebe verschmähte, dessen Schwester schwer beleidigte, und daß dieser daraufhin mit seinem Freunde Aristogeiton blutige Rache nehmen wollte. Darüber hinaus gedachten die Attentäter auch Hippias zu töten und somit den Sturz der Tyrannis herbeizuführen. Dieses politische Motiv tritt bei Aristoteles, der von vielen Teilnehmern des Anschlages spricht, deutlicher hervor als bei Thu kydides, dem es darum geht, die vielgespriesene Tat der «Tyrannenmörder» ab zuwerten. Andererseits betont gerade er nachdrücklich, daß Harmodios und Ari stogeiton das Signal zur Erhebung der Bürgerschaft geben wollten, denn diese sei beim Panathenaienfest gewaffnet aufgezogen und daher zu einem Aufstand be-
Opposition. Ermordung des Hipparchos
fähigt gewesen. Aristoteles jedoch bestreitet auf Grund seiner antiquarischen For schungen, daß zu jener Zeit die Bürger bei der Prozession gewaffnet aufgezogen seien, und dürfte damit recht haben, da eine solche militärische Parade erst dem Geist der freien Polis des 5. Jahrhunderts entspricht. Auch hinsichtlich der Schil derung der Vorgänge verdient seine Erzählung gegenüber den von der genannten Tendenz bestimmten Angaben des Thukydides den Vorzug. Folgen wir ihr, so war es auf der Akropolis, wo die Verschworenen den Hippias beobachteten, der dort den Festzug empfangen wollte, während Hipparchos am Leokoreion im Kerameikos die Teilnehmer ordnete, um sie zur Burg hinaufzuführen. Als nun einer der Eingeweihten freundlich mit Hippias sprach, glaubten die anderen sich verraten. Um vor der sicheren Gefangennahme wenigstens doch etwas zu er reichen, eilten sie von der Burg herab, allen voran Harmodios und Aristogeiton, die den Hipparchos noch beim Leokoreion trafen und dort niederstießen. Harmo dios fand an Ort und Stelle durch die Leibwächter der Tyrannen den Tod, Aristo geiton entkam zwar für den Augenblick, wurde aber bald gefaßt und, nachdem er auf der Folter nach seinen Mitverschworenen befragt worden war, getötet. Wenn in einem uns noch erhaltenen Skolion wohl schon vor 500 Harmodios und Aristogeiton als die «Tyrannentöter» gepriesen wurden, welche Athen die frei staatliche Verfassung (Isonomia) gebracht hätten, so entsprach das wahrlich nicht den Tatsachen. Bereits Thukydides hat diese Glorifizierung, die im 5. Jahr hundert kanonische Geltung erlangte, mit dem Hinweis darauf abgelehnt, daß Hippias, der am Leben blieb, der eigentliche Gewalthaber war und daß die Tyran nis erst durch die Lakedaimonier beseitigt wurde, ein Umstand, den der attische Patriotismus schon bald und vollends in späterer Zeit vergessen machen wollte. Was als Tat der beiden Freunde gefeiert wurde, war allerdings ihre Absicht ge wesen, mochte auch eine Privataffaire den letzten Anstoß zum Attentat gegeben haben. Nicht nur sind sich Thukydides und Aristoteles darin einig, daß auch Hip pias ermordet werden sollte -, die Art, wie dieser reagierte, zeigt mit aller Deut lichkeit, daß er die Verschwörung als eine politische ansah mit dem Ziet die Ty rannis in Athen zu stürzen. Nicht wenige der angeblich oder wirklich in das Kom plott Verwickelten ließ er hinrichten und verwies Verdächtige oder auch nur Un zuverlässige aus Attika. Nachdem von Kedon und den verbannten Alkmeoniden seine Herrschaft allem Anschein nach schon vorher bedroht worden war, glaubte er jetzt die Zügel schärfer anziehen zu müssen. Die Tyrannis wurde nun härter und drückender. Im einzelnen hören wir freilich nur von Maßnahmen finanzieller Art, die Hippias in der Folgezeit ergriK Anordnungen, in denen vermutlich nicht bloß eine Auswirkung des neuen, strengeren Regierungskurses, sondern zugleich eine Folge der Tatsache zu sehen ist, daß um 513/2 die Metallbergwerke am Pan gaion den durch Südthrakien bis zum Strymon vordringenden Persern anheim-
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fielen. Der Tyrann dürfte sich dadurch genötigt gesehen haben, um einen Aus gleich der empfindlichen Einbuße an Einkünften bemüht zu sein. So verlangte er, der sich offenbar wie sein Vater als Besitzer des attischen Landes und damit auch der öffentlichen Wege ansah, eine Geldablösung für die in die Straßen vorsprin genden Erker, Eingangstreppen und Einfriedungen, die nach attischem Recht streng genommen dem Grundbesitzer gehörten. Und auch in die Angelegenheiten des attischen Gemeinwesens, aus denen Peisistratos und seine Söhne sich bisher mög lichst herausgehalten hatten, soll er eingegriffen haben, indem er denjenigen begüterten Bürgern, die es wünschten, die Ablösung pflichtmäßiger Leistungen genannt werden im besonderen Trierarchie, Phylarchie und Choregie - durch Zahlung eines mäßigen Betrages an ihn selbst gestattete. Alles dies mußte dazu beitragen, die Abneigung gegen seine Herrschaft zu steigern, zumal wenn die mehr oder weniger erpreßten Gelder dazu verwandt wurden, die Soldtruppen zu vermehren und den über den Häfen aufsteigenden Munichiaberg zu befestigen. Freilich war beides für die Erhaltung der Tyrannis jetzt nötig genug. Zwar hatten die Alkmeoniden nach der Niederlage von Leips hydrion den Plan eines eigenen Angriffes aufgegeben, aber in ihrem Haß gegen den Tyrannen versuchten sie Sparta, die stärkste Kriegsrnacht in Hellas, zum Vor gehen gegen Hippias aufzustacheln. Da die Peisistratiden jedoch Gastfreunde der Lakedaimonier waren, ließ dieses Ziel sich nur erreichen, wenn eine am Eurotas anerkannte Autorität ihren Einfluß geltend machte. Eine solche war der delphische Gott, zu dem die Spartaner seit alter Zeit in engen Beziehungen standen, wäh rend Peisistratos und seine Söhne keine Verbindung mit ihm unterhalten zu haben scheinen, wofern das Verhältnis nicht geradezu ein gespanntes war. Die Alkmeo niden ließen sich nun von den Amphiktyonen den Neubau des im Jahre 548/7 niedergebrannten Apollontempels zu Delphoi übertragen und erhielten dafür eine seit langem durch Kollekten gesammelte Summe. Einen Teil dieses Geldes ver wandten sie zu militärischen Rüstungen, bewogen aber gleichzeitig die Pythia dazu, fortan allen Spartiaten, die privat oder in staatlichem Auftrag das Orakel befragten, die Befreiung Athens ans Herz zu legen. In Athen behauptete man später, sie hätten die Pythia mit Geld bestochen, doch mag diese Bestechung in Wahrheit darin bestanden haben, daß sie versprachen, den Tempel über ihre vertragliche Verpflichtung hinaus, die nur einen Porosbau vorsah, mit einer Front aus parischem Marmor zu versehen. Jedenfalls haben sie in dieser Weise das Hei ligtum geschmückt. Die Spartaner zögerten zwar gegen die befreundeten Peisistra tiden vorzugehen, entschlossen sich aber doch, wohl auch im Hinblick auf die Be ziehungen des Tyrannenhauses zu ihrer Feindin Argos, dem Drängen der Pythia nachzugeben. Eine freilich nur geringe Streitmacht unter dem Spartiaten Anchimo lios wurde über See nach Attika entsandt (vermutlich 51.2f1.1.) .
Hippias' Alleinherrschaft und Sturz
Hippias hatte die Gefahr, die seiner Herrschaft drohte, schon seit einiger Zeit erkannt, Munichia befestigt und für den Fall der Niederlage sich einen Rückhalt geschaffen in Lampsakos am Hellespont, indem er seine Tochter Archedike mit Aiantides, dem Sohn des dortigen Tyrannen Hippoklos, vermählte, dessen Haus, wie er wußte, viel beim Perserkönig galt. Doch gab er die Tyrannis nicht kampflos preis, sondern trat in der Strandebene von Phaleron den hier gelande ten Lakedaimoniern entgegen, unterstützt von 1000 thessalischen Reitern, die ihm auf Grund eines vielleicht schon von Peisistratos geschlossenen Bündnisses der Stammesherzog (Tagos) zuführte. Von anderen Verbündeten verlautet nichts. Es gelang Hippias die Feinde in einer Schlacht, die Anchimolios und vielen seiner Leute das Leben kostete, zu schlagen. Die Spartaner jedoch ließen es bei dieser Niederlage nicht bewenden, sondern schickten nach einiger Zeit ein stärkeres Heer unter dem König Kleomenes aus, das auf dem Landwege in Attika eindrang. Da die Thessaler, die abermals dem Tyrannen zu Hilfe kamen, nach einer Nieder lage in ihre Heimat zurückkehrten, blieb Hippias, der nun im wesentlichen auf seine Söldner angewiesen war, nichts übrig, als sich auf die Akropolis zurück zuziehen, um sich dort hinter der alten mykenischen Mauer zu verteidigen. Mit Lebensmitteln reichlich versehen, hätte er sich dort vielleicht mit Erfolg behaup ten können, denn die Lakedaimonier, zu denen sich auch eine Anzahl tyrannen feindlicher Athener gesellte, waren langwierigen Belagerungen nicht gewachsen und beabsichtigten eine solche auch jetzt nicht. Aber bei einem Fluchtversuch gerieten jüngere Angehörige der Peisistratidenfamilie in die Hand der Feinde. Es scheint bezeichnend für den «privaten» Charakter der Tyrannis, daß dieses persön liche Mißgeschick genügte, Hippias zur Kapitulation gegen Rückgabe der Gefange nen zu bestimmen. In einer mit den Athenern geschlossenen Vereinbarung erklärte er sich bereit, innerhalb von fünf Tagen Attika zu verlassen. Die bewegliche Habe durfte er mitnehmen (511/10) . Der gestürzte Tyrann begab sich nach Sigeion, das einst sein Vater gewonnen und dem Hegesistratos übertragen hatte. Seiner Hoffnung, daß er eines Tages die Herrschaft über Athen wiedergewinnen könnte, schien in der Tat nach weni gen Jahren Erfüllung zu winken. In Sparta nämlich setzte sich bald die Erkenntnis durch, daß die Vertreibung der Peisistratiden recht unerwünschte Folgen gezeitigt hatte. Der den Lakedaimoniem genehme und von ihnen begünstigte Isagoras vermochte die Leitung der attischen Polis nicht in der Hand zu behalten und mußte dem heimgekehrten Alkmeoniden Kleisthenes weichen, der die Verfas sung Athens in demokratischem Sinne umgestaltete. Der Versuch aber, diese Entwicklung durch kriegerisches Eingreifen rückgängig zu machen, zeitigte infolge der Weigerung der Korinther und eines Zwistes der beiden Spartanerkönige im Feld einen kläglichen Mißerfolg (506) . üb man am Eurotas erst jetzt inne wurde,
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daß die Mahnungen der Pythia zum Sturz der Tyrannis von den Alluneoniden angeregt worden waren und man letztlich deren Sache verfochten hatte, oder ob Hippias aus der Feme auf ihm wohlgesinnte Kreise mit Erfolg einwirkte, jeden falls ging die Politik der Lakedaimonier nun darauf aus, eine Wiederherstellung des früheren Zustandes, also der Tyrannis, zu erreichen. Und das um so mehr, als das frei gewordene Athen außenpolitisch erstarkte und bereits nach Euboia überge griffen hatte. So wurde Hippias von Sigeion nach Sparta gerufen und den pelopon nesischen Bundesgenossen dort der Plan vorgelegt, durch einen gemeinsamen Kriegszug die Athener zur Wiederaufnahme des Tyrannen zu zwingen. Ein sol ches Vorhaben mußte gerade an Sparta, das schon mehrmals gegen Tyrannen vorgegangen war und sich selbst von Tyrannis frei gehalten hatte, befremden. Die Bundesgenossen, allen voran die Korinther, versagten sich denn auch dem Unternehmen, so daß Hippias nichts übrigblieb als nach Sigeion zurückzukehren (um 504) . Auf dem Wege, den er zulande nahm, boten ihm die Thessaler Iolkos, der Makedonenkönig Amyntas das nicht weit von Rhaikelos gelegene Anthemus an. Er aber, der die Hoffnung auf Wiedergewinnung der Herrschaft über Athen auch jetzt nicht aufgab, schlug die Anerbieten aus und wandte sich wieder nach Sigeion. Von hier versuchte er mit Hilfe des Satrapen in Sardeis, Artaphrenes, zum Ziel zu gelangen. Da die Athener im Jahre 506, als ihnen ein gemeinsamer, dann freilich infolge des Zwistes der Lakedaimonierkönige unterlassener Angriff der Peloponnesier, Boioter und Chalkider drohte, den Satrapen um Hilfe angegangen und seine Gegenforderung, dem Großkönig Erde und Wasser zu geben, erfüllt hatten, waren die Aussichten für den vertriebenen Tyrannen nicht schlecht. Be herrschten die Perser doch auch einen großen Teil der Griechenstädte Kleinasiens mittelst Tyrannen. Artaphrenes verlangte denn auch von den Athenern, die er als Untertanen des Königs ansah, trotz ihren Gegenvorstellungen kategorisch die Wiederaufnahme des Hippias, ließ allerdings, als diese abgelehnt wurde, den Worten keine Tat folgen (um 50211) . Nun knüpfte Hippias über seinen Schwieger sohn Aiantides, der dem Hippoldos in der Tyrannis über Lampsakos gefolgt war, zum Perserkönige selbst Beziehungen an und begab sich schließlich an dessen Hof. Ein letztes Mal schien ihm, der inzwischen ein Greis von mehr als 75 Jahren geworden war, die Wiedergewinnung der Tyrannis über Athen zu winken, als die Perser darangingen, die Stadt für ihre Teilnahme am Ionischen Aufstand zu bestrafen und sich untertänig zu machen. Doch abermals sah er sich enttäuscht. Die Verwandten und Anhänger, die er noch in Athen besaß, vermochten nicht in Aktion zu treten und der Feldzug, an dem er persönlich teilnahm, scheiterte in der Ebene von Marathon (490) . Später erzählte man, daß er in der Schlacht gefallen sei. Wahrscheinlicher ist eine andere überlieferung, nach der er, erblindet, bei der Heimfahrt nach Sigeion auf der Insel Lemnos starb. Angehörige seiner Familie
Hippias und die Peisistratiden nach 51.0
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haben auch dann nicht die Hoffnung auf eine Erneuerung der Herrschaft über Athen aufgegeben und gemeinsam mit dem einst von Hipparcllos verbannten orakelkundigen Onomakritos sowie Gesandten der thessalischen Sippe der Aleu aden in Susa auf Xerxes eingewirkt, daß er gegen Griechenland und im besonde ren gegen Athen zu Felde ziehe. Sie befanden sich in seinem Heerlager, als 480 der Angriff auf die Akropolis erfolgte, und suchten die Verteidiger zur Kapitulation zu bewegen, der offenbar die Restituierung der Tyrannis des Peisistratidenhauses folgen sollte. Aber das attische Gemeinwesen war in den drei Jahrzehnten seit Hippias' Sturz so erstarkt, daß man auch in der größten Not eine solche Zumu tung ablehnte. Mit der Niederlage der Perser bei Salamis schwand für die Nach kommen des Hippias vollends jede Hoffnung, ihr Ziel zu erreichen. Die Vertreibung des Hippias im Archontat des Harpaktides (5:1:11:10) hatte also den Athenern für die Dauer die Freiheit gebracht. Wohl gab es zunächst noch Ver wandte und Anhänger des Peisistratidenhauses, die der Tyrannis nachtrauerten und ihre Wiederherstellung wünschten, aber je mehr sich die von Kleisthenes neu geformte Polis festigte, um so allgemeiner wurde die Abneigung der Bürgerschaft gegen die Peisistratiden und gegen die Tyrannis überhaupt. Schon bald nach Abzug des Hippias errichtete man auf der Akropolis einen Pfeiler, auf dem die Namen derjenigen Angehörigen des Hauses - vor allem natürlich des Hippias und seiner fünf Kinder - verzeichnet standen, die nach altem, auf Drakon zurück gehendem Recht der Ächtung (Atimia) und Einziehung ihres Besitzes verfallen waren. Die neue, von Kleisthenes begründete Staatsordnung gegen das Aufkom men eines Tyrannen zu sichern, scheint man einige Jahre darauf (um 50:1) in den Eid der Mitglieder des Rates der Fünfhundert die Verpflichtung aufgenommen zu haben, jeden zu töten, der die Tyrannis erstrebe oder solchem Streben Vorschub leiste, den Mörder eines Tyrannen aber als rein vor Göttern und Menschen anzu sehen, weil er einen Feind der Athener getötet habe, die Besitztümer eines beseitig ten Tyrannen zu verkaufen und die Hälfte des Erlöses dem Tyrannenmörder zu überweisen. Der Tyrann wurde damit offiziell zum Staatsfeind erklärt. Es sind denn auch, soweit wir sehen, die Nachkommen des Peisistratos von allgemeinen Amnestien im 5. Jahrhundert ausgenommen gewesen. Harmodios und Aristogeiton andererseits, deren Tat das erwähnte berühmte Skolion feierte, wurden schon bald nach Hippias' Sturz und weiterhin als die Tyrannenmörder und Begründer des Freistaates ungemein geehrt. Auf der Agora errichtete man ihnen eherne Statuen, Werke des Künstlers Antenor, die Xerxes nach der Einnahme Athens (480) freilich entführte. Doch das Freundespaar war damals schon so sehr zum Symbol der Freiheit der attischen Polis geworden, daß bald nach der Schlacht von Plataiai eine neue Statuengruppe in Auftrag gegeben und von Kritios und Nesiotes geschaffen wurde. «Wahrlich ein großes Licht ging
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für die Athener auf, als Aristogeiton und Harmodios den Hipparchos töteten» kündete die Inschrift auf der Basis des Monumentes. Das Grab der beiden zeigte man später an der Straße zum Hain des Akademos, doch gehörte es nicht zu den Staatsgräbern und trotz aller Verehrung, die sie genossen, ist Heroenkult für sie erst in der Zeit Alexanders bezeugt, der das Werk des Antenor aus Susa zurück sandte oder wenigstens die Rücksendung in die Wege leitete. Überhaupt ist damit zu rechnen, daß manche der Ehrungen, von denen wir hören, etwa das Verbot, Sklaven mit den Namen der Tyrannenmörder zu benennen oder neben der Sta tuengruppe andere Standbilder aufzustellen, lange nach der Tat beschlossen wur den. Immerhin wurden die Nachkommen der «Befreier» spätestens seit der Mitte des 5. Jahrhunderts im Prytaneion lebenslänglich gespeist; auch Steuerfreiheit und einen Vorzugsplatz bei den Spielen dürften sie damals und wohl schon vorher besessen haben. Bis in die römische Zeit haben die Athener in den Mördern des Hipparchos ihren eigenen Freiheitswillen verkörpert gesehen und im Blick auf sie den Tyrannenhaß genährt, der zum Polis geist nicht nur der klassischen Epoche gehört. Noch die «Befreiung» Athens von der Gewaltherrschaft des Aristion durch Sulla (86) wurde auf Münzen mit einem Bild des Monumentes der Tyrannen mörder verherrlicht. Jede historische Würdigung der Tyrannis des Peisistratos und seiner Söhne wird sich bemühen müssen, sie als eine Erscheinung der spätarchaischen Zeit zu verstehen. Um die Mitte des 6. Jahrhunderts war nach allem, was wir erkennen können, die politische Struktur des athenischen Gemeinwesens noch viel lockerer, als man auf Grund von Solons fast schon klassischer Staatskonzeption anzu nehmen geneigt ist. Nicht nur im Inneren, wo ihre Rivalität weitgehend das öffent liche Leben bestimmte, dominierten große Adelsgeschlechter mit ihrem Anhang, auch nach außen besaßen sie eine - gemessen an späteren Verhältnissen - erstaun liche Selbständigkeit. Der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nahmen sich die vornehmen Herren in erster Linie aus eigenem Machtinteresse an. Von sozial oder wirtschaftlich orientierten «Parteien» mit einem bestimmten politischen Pro gramm ist nicht zu sprechen, es handelt sich vielmehr um Gefolgschaften, über deren eigene Anliegen die Führer hinweggehen konnten, wenn etwa, wie im Falle der Verbindung des Megakles mit Peisistratos, ihr persönlicher Nutzen das Zu sammengehen mit einem bisherigen Gegner wünschenswert machte oder wenn die allzu große Macht eines Rivalen die Verbindung mit anderen Gegnern des Mannes ratsam scheinen ließ. Die Masse des Volkes besaß noch nicht jenes poli tische Bewußtsein, geschweige denn jene Staatgesinnung, welche Solon ge fordert hatte und spätere Geschlechter bewiesen. Sie fragte, als Peisistratos 546/5 Attika eroberte und seine Gewaltherrschaft errichtete, weniger danach, ob die Polis geknebelt wurde, als ob ihre Lebensverhältnisse sich besserten oder ver-
Würdigung der Peisistratiden-Tyrannis
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schlechterten. Auch der Adel dachte egoistisch und stemmte sich nicht um der Idee des Freistaates, sondern um der Wahrung der eigenen Führerstellung willen gegen die drohende Tyrannis. Als sie verwurzelt und anscheinend nicht mehr zu s türzen war, haben selbst diejenigen Herren, die zunächst gezwungen oder freiwillig außer Landes gegangen waren, früher oder später sich mit den Gewalthabern verglichen, wie es die in Attika Gebliebenen wohl schon bald getan hatten. Daß den Athenern jener Zeit die Staatsgesinnung der klassischen Zeit noch fehlte, dies, nicht bloß Reichtum, Soldtruppen, Entwaffnung der Bürgerschaft und maßvoller Gebrauch der Macht, hat die Errichtung und lange Behauptung der Peisistratidenherrschaft ermöglicht. Wie jedes derartige Regiment, das weniger Staatsbürger als Untertanen kennt, hat auch die Tyrannis der Peisistratiden eine Nivellierung der Stände bewirkt, in dem einerseits der Adel entmachtet, vielleicht auch der Geschlechterbesitz gemin dert wurde, andererseits das Bauerntum eine gewisse Förderung erfuhr und das Gewerbeleben einen starken Auftrieb empfing. Auch die regionalen Gegensätze, die wesentlich solche der führenden Adelsgeschlechter gewesen waren, traten zurück und drohten erst nach dem Ende der Tyrannis wieder aufzuleben, was jedoch durch Kleisthenes' Phylenordnung verhindert wurde. Und mit der Verän derung der sozialen Struktur wandelte sich naturgemäß zugleich das geistige Leben. Zwar sind die Pflege des Dionysoskultes, die Neigung zur Orphik und die Hinwendung zu den Mysterien keineswegs nur Anliegen der nichtadligen Schich ten gewesen, aber es handelt sich doch um fremde oder vorgriechische Elemente der hellenischen Religion, die nicht der adligen Welt der homerischen Götter an gehörten. Wenn sie jetzt auch von vornehmen Herren inbrünstig ergriffen wurden und andererseits die olympischen Gottheiten dem einfachen Volke näher rückten, so daß sich der Zwiespalt im religiösen Leben, den einst schon Hesiod zu über brücken gesucht hatte, mehr und mehr schloß, so hatte daran die Tyrannis der Peisistratiden wesentlich teil. Denn sie ging darauf aus, die Rolle des Adels in den öffentlichen Kulten zu mindern, verwies ihn nach Möglichkeit auf den privaten Bereich und nahm die Stadtgöttin Athena für sich als Schützerin in Anspruch, die nun vorwiegend von den unter der Tyrannis gedeihenden Gewerbetreibenden und kleinen Leuten Weihgeschenke erhielt. Indem aber auch im Religiösen ein gewisser Ausgleich der Stände erfolgte und die im attischen Volk beschlossenen Kräfte besser zusammenklangen, konnte sich das Athenertum reicher und voller entfalten. Die Vasen des reifen schwarzfigurigen und frühen rotfigurigen Stiles sind dafür ebenso Zeuge wie das dorisch-ionische Kunstwerk der Tragödie oder die Mädchenstatuen und Giebelskulpturen von der Akropolis. Ja selbst der von den Tyrannen gewünschte Verzicht auf rege und freie politische Betätigung hat insofern Früchte getragen, als dadurch eine gewisse Verinnerlichung begünstigt,
Athen
die Neigung zu dem mehr auf das Persönliche gerichteten, unbefangeneren Geist der östlichen Ioner und damit zugleich das individuelle Bewußtsein des einzelnen gestärkt wurde. Die prächtige Ausgestaltung der Götterfeste durch die Peisistra tiden und die von ihnen errichteten Bauten, auch die Heranziehung von Dichtern durch Hipparchos haben zu alledem das Ihrige beigetragen. Aber wo blieb der solonische Geist des Rechtes, der verantwortungsbewußten Hingabe der Bürger an ein autonomes Gemeinwesen, das keinen Gewalthaber über sich ertragen sollte? Hatte er in der Zeit vor der Tyrannis weder im Adel noch im Volk Wurzel schlagen können, so ist unter der Gewaltherrschaft selbst kaum etwas von ihm zu spüren. Gewiß, die Bürgerschaft war, mindestens zu nächst, entwaffnet, und eine mit überlegenen Machtmitteln ausgestattete Tyrannis von innen her zu stürzen, hat sich in der Geschichte stets als schwer, wo nicht als unmöglich erwiesen. Gleichwohl ist es bemerkenswert, daß trotz dem verpflich tenden Werk Solons, dessen Verfassung bestehenblieb, trotz dem Erstarken des Sinnes für gesetzliche Ordnung, wie er von Delphoi gepflegt wurde und auch in der orphischen Lehre sich bekundete, trotz dem schon weit zurückliegenden Ende der Tyrannenherrschaft am Isthmos von einem allgemeinen Aufbegehren gegen das Regiment der Peisistratiden selbst noch beim Eingreifen der Spartaner nichts verlautet. Bei ihrem Bemühen, die Tyrannis zu stürzen, haben die Alkmeoniden, denen es im übrigen mehr um die Gewinnung einer führenden Stellung in Athen als um die Verwirklichung des solonischen Staatsgedankens ging, aus Attika nur sehr geringe Unterstützung erhalten. Und doch muß unter der ihrem Wesen nach gesetzlosen Gewaltherrschaft das Verlangen nach einem autonomen, von Bürgern in Freiheit getragenen Staatswesen breite Schichten des athenischen Volkes ergrif fen haben. Man wird das freilich weniger daraus folgern dürfen, daß in der zwei ten Hälfte des 6. Jahrhunderts die Gestalt des Theseus als des Einigers von Attika und idealen Königs schärferes Profil gewonnen zu haben scheint - denn Peisi stratos selbst mag dazu erheblich beigetragen und sich für einen zweiten Theseus ausgegeben haben -, als aus dem Zustandekommen der kleisthenischen Verfas sung nach dem Ende der Tyrannis und vor allem aus der Tatsache, daß diese Ver fassung den Wünschen des Volkes entsprach und von ihm alsbald (um 506) gegen auswärtige Mächte verteidigt wurde. Der Gedanke liegt nahe, daß die Tyrannis gerade durch ihre Gesetzlosigkeit, je länger sie dauerte und je schärfer sie wurde, um so mehr, selbst in Kreisen, die wirtschaftlich unter ihr gediehen, das Verlangen nach einem gesetzlich fest gefügten Freistaat erweckte und so wider Willen zur Geburtshelferin der Polis des 5. Jahrhunderts wurde, der sie schon durch die Ni vellierung der Stände den Boden bereitet hatte. Außenpolitisch hat die Tyrannis den Athenern für ein Menschenalter den Frieden erhalten und damit ihrer materiellen Wohlfahrt gedient. Daß sie aber
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- gleichsam als Vorspiel künftiger Entfaltung - dem attischen Gemeinwesen be reits eine Machtstellung in der Ägäis verschafft habe, kann nicht behauptet wer den. Denn das Pangaiongebiet und Sigeion gehörten den Peisistratiden, nicht der attischen Polis, und wenn gewiß auch hier wie dort Athener sich niederließen und weiterhin in persönlicher Verbindung mit der Heimat standen, so bildeten sie doch eigenständige Gemeinwesen, die politisch nur als Glieder der dynastischen Herr schaft des Tyrannenhauses mit Athen zusammenhingen. Auch die für die Zeit des Peisistratos anzunehmende Abhängigkeit der Insel Naxos war dynastischer Art. Als die attische Polis nach Hippias' Vertreibung den einst durch Eroberung ge wonnenen Besitz der Peisistratiden, im besonderen die Bergwerke von Laureion, übernahm, hätte zu diesem Besitz, wie in Korinth, auch das Kolonialgebiet der Tyrannen gerechnet werden können, doch wäre ein Anspruch der Polis darauf nicht zu realisieren gewesen. Denn der Distrikt am Pangaion war vor kurzem dem Perser anheimgefallen, und auch Sigeion, wo im übrigen sich Hippias weiter behauptete, lag im Bereich der persischen Macht. Daß Athen während der letzten Jahre des 6. Jahrhunderts den Nachbarstaaten kraftvoll entgegentreten konnte, war, wie gesagt, eine ungewollte Wirkung der Tyrannis, unter deren Druck der Wille zur Freiheit und Selbstbehauptung erstarkt war, und gleichsam ihr Erbe. Außenbesitz und Macht dagegen hatte die Polis Athen von den Tyrannen nicht zu erben. In dieser Hinsicht stand sie kaum anders da als zur Zeit, da Peisistratos seine Herrschaft für die Dauer errichtete.
DRI T T E S KAPIT E L
I N S E L N UND N O RD K ü STE D E R Ä G Ä I S
1. INSELN
Auf den Kykladen und Sporaden, die hier vornehmlich unter den Inseln verstan den werden sollen, weil die der kleinasiatischen Küste vorgelagerten Eilande sinnvoll nur zusammen mit den nahen Küstengebieten des Festlandes betrachtet werden können, begegnet in vorklassischer Zeit nur in Naxos eine Tyrannis. Es hat dies kaum in der Dürftigkeit der überlieferung seinen Grund, sondern in der Kleinheit und Armseligkeit der meisten Inselgemeinden, die es zu bemerkens werten Herrschaftsbildungen nicht kommen ließ. Selbst von Siphnos mit seinen ertragreichen Bergwerken und Paros mit seii1en Marmorbrüchen ist nicht bekannt, daß auf ihnen ein Tyrann gebot. über Naxos aber ist eine Gewaltherrschaft nur mit fremder Hilfe errichtet worden. Hier hat sich um 550 Lygdamis, ein adliger Herr, der niederen, vermutlich der bäuerlichen Bevölkerung angenommen und als deren Anwalt (Prostates) die Macht zu gewinnen gesucht. Da er jedoch, wie es scheint; nicht zum Ziel kam, verband er sich mit Peisistratos und unterstützte ihn bei der Eroberung Attikas (54615), wohl gegen das Versprechen, nach siegreicher Durchführung des Unternehmens seinerseits Hilfe zu erhalten. In der Tat unter warf Peisistratos, bald nachdem er sich zum Herrn Athens gemacht hatte, die In sel, übergab sie dem Lygdamis, der damit wohl in ein gewisses Klientelverhältnis zu ihm trat, und vertraute ihm die als Geiseln genommenen Söhne adliger Athener an. Vom Wirken des Lygdamis als Tyrann hören wir nur, daß er den Besitz der geflüchteten oder von ihm verbannten Gegner, unter denen zweifellos reiche Ad lige zu verstehen sind, einzog und ihn, offenbar zu eigenem Nutzen, verkaufen wollte. Da sich aber keine Käufer fanden oder nur solche, die einen niedrigen Preis boten, verkaufte er die Landgüter an die Enteigneten selbst, die also aus der Ferne Boden auf Naxos erwerben durften, und bot ihnen wie auch anderen Interes senten die den Vertriebenen gehörenden halbfertigen Weihgeschenke zum Rück kauf bzw. zum Kauf an mit der Auflage, daß die Werke den Namen des Käufers tragen müßten. Es war eine jener für die Tyrannen charakteristischen Finanzma nipulationen, mit denen sich Lygdamis die Geldmittel zu verschaffen suchte, deren er namentlich zum Unterhalt einer Söldnertruppe bedurfte. Diese kann nicht un-
Naxos und Thasos
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bedeutend gewesen sein, denn Lygdamis sandte um 5.38 ein Korps dem Polykra tes zu Hilfe, als dieser sich zum Herrn über Samos machte. Es scheint, daß dadurch ein gutes Verhältnis zwischen den Gewalthabern begründet wurde, und Naxos dürfte vor überfällen des samischen Piratenfürsten bewahrt geblieben sein. Da gegen zog sich Lygdamis durch jene Verbindung die Feindschaft der Spartaner zu. Als diese zusammen mit den Korinthern eine Expedition gegen Polykrates führten, von der an anderer Stelle zu sprechen sein wird, suchten sie zunächst durch Verhandlungen den Tyrannen von Naxos mindestens zur Abkehr von je nem, vielleicht sogar zur Aufgabe der Alleinherrschaft zu bewegen, die sie erst, als Lygdamis jeder Unterredung auswich, gewaltsam beseitigten (um 524) . Für die Behutsamkeit, mit der sie zunächst vorgingen, mag die Rücksicht auf die Peisistratiden bestimmend gewesen sein, die möglicherweise schon damals ihre Gastfreunde, andererseits von ihrem Vater her dem Lygdamis verbunden waren. Hilfe hat dieser von ihnen, soweit wir sehen, nicht erhalten. Das gewiß von den Spartanern gewünschte Regiment der reichen Grundherren, das nun wiederer stand, wurde im Jahre 500 abermals vom Demos erschüttert, ohne daß es jedoch zu einer neuen Tyrannis gekommen wäre. So blieb die mit fremder Unterstützung errichtete, mit Söldnern behauptete Herrschaft des Lygdamis, die keine durchgrei fenden sozialen Reformen gebracht zu haben scheint, trotz ihrer zwanzigjährigen Dauer in der Geschichte von Naxos eine Episode ohne nennenswerte Nachwir kungen. Noch weniger als auf den Ägäisinseln tritt an der makedonisch-thrakischen Küste bis zum Ansatz der Chersones Tyrannis in Erscheinung, von den ertrag reichen Besitzungen des Peisistratos am Pangaiongebirge abgesehen. Wenn eine Notiz, nach der die Spartaner auf der dem Festland vorgelagerten Insel Thasos einen Tyrannen namens Symmachos vertrieben, der Wahrheit entspricht, so dürfte dies am ehesten bald nach 480 geschehen sein. In dem Vertriebenen wäre dann ein von den Persern ausgehaltener Machthaber zu sehen. Weder von seiner Person noch von seiner Herrschaft ist im übrigen etwas bekannt. Einigermaßen deutlich dage gen zeichnet sich die Tyrannis des Philaiden Miltiades und seiner ihm in der Herr schaft folgenden Stiefneffen auf der Chersones ab.
I r. DI E T H R A KI S C H E C H E R S O N E S
Miltiades, Sohn eines Kypselos und durch dessen Mutter wahrscheinlich Urenkel des gleichnamigen Tyrannen von Korinth, ertrug, wie bereits zu erwähnen war, die Errichtung der Tyrannis über Athen durch Peisistratos nicht, um so weniger, weil er bisher zu den Mächtigsten unter den Adligen gehört hatte. Als daher nicht
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Inseln und Nordküste der Agäis
lange nach 561/0 die auf der Chersones ansässigen Dolonker ihn baten, ihre Füh rung im Abwehrkampf gegen die von Norden andrängenden Apsinthier zu über nehmen, folgte er dem Ruf, indem er zugleich jeden, der wollte, einlud, sich an einem Kolonistenzug unter seiner Leitung zu beteiligen. Peisistratos, der froh sein mochte, auf diese Weise den ihm gefährlichen Mann und andere unzufriedene Ele mente in Athen loszuwerden, legte ihm keine Hindernisse in den Weg, hatte aber seinerseits so wenig wie das attische Gemeinwesen an diesem Unternehmen teil. Nichts spricht dafür, daß Miltiades, der im Gegensatz zu dem Gewalthaber die Heimat verließ, auf der Chersones in dessen Auftrag oder auch nur in Verbindung mit ihm gewirkt hätte; seine Absicht war vielmehr, sich eine eigene, selbständige Machtstellung zu gründen. Nach dem Zeugnis des Herodot nahm er das Land in Besitz und wurde von den Dolonkern zu ihrem «Tyrannen» gemacht, was nur heißen kann, daß der Stamm ihn als seinen Häuptling anerkannte. Er rechtfertigte das in ihn gesetzte Vertrauen. Durch den Bau einer Mauer über den Isthmos der Halbinsel, von Kardia bis Paktye, wurde weiteren Einfällen der Apsinthier ein Riegel vorgeschoben. Sowohl Paktye, das zuvor anscheinend noch nicht von Grie chen bewohnt war, wie Kardia, wo sich längst Milesier und Klazomenier nieder gelassen hatten, erhielten jetzt neue Kolonisten ; desgleichen wurden die im Süd westen der Chersones gelegenen Plätze Krithote und Elaius wohl schon durch Miltiades, den «Oikisten», besiedelt. An der Mitte der Spernnauer legte er zu dem eine Stadt mit Namen Chersonesos an. War seine Stellung gegenüber den genannten Städten auch allem Anschein nach nur die des Gründers, so mußte doch die Macht, die er als Herr der Dolonker besaß, ihn als Leiter jener Gruppe von Gemeinwesen erscheinen lassen, deren Aufgebote ihm bei Kämpfen gegen aus wärtige Feinde zur Verfügung standen. Ein solcher Krieg brach vor 546 aus, als man in der unweit am asiatischen Ufer des Hellespontes gelegenen Stadt Lamp sakos die neue Situation auf der Chersones nicht dulden wollte. Im Verlauf des Krieges geriet Miltiades in die Gefangenschaft der Lampsakener und wurde nur auf Intervention des Lyderkönigs Kroisos, mit dem er bereits nach seiner An kunft in Verbindung getreten war, freigelassen. Über den Ausgang dieser Kämpfe sind wir nicht unterrichtet, vennögen auch nicht zu sagen, ob die Einnahme einer «Burg des Aratos», für die der Oikist, kaum erst der jüngere Miltiades, zusammen mit den von ihm geführten «Leuten aus der Chersones» ein Weihgeschenk nach Olympia stiftete, wo er einst einen Sieg davongetragen hatte, in jenen Krieg ge hört. Seine Stellung auf der Halbinsel scheint jedenfalls durch die zeitweiiige Ge fangenschaft keine Einbuße erfahren zu haben, denn als er nicht lange nach 5 24 starb, erhielt er von «den Chersonesiten», unter denen wohl die Bürger aller von ihm gegründeten oder neubesiedelten Orte, nicht nur diejenigen der Stadt Cher sonesos, zu verstehen sind. die dem Oikisten gebührenden heroischen Ehren. Auch
Mi/tiades der Oikist. Stesagoras. Mi/tiades d. 'g.
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wurden ihm fortan gymnische und hippische Agone gehalten, von denen jedoch die Lampsakener ausgeschlossen waren. Die Feindschaft dieser Stadt war nämlich keineswegs erloschen und führte zu neuen Kämpfen unter Miltiades' Nachfolger. Es war dies sein Stiefneffe Stesa garas, den er, selbst ohne männliche Nachkommen, zu sich genommen und zum
Erben seiner Herrschaft und seiner Schätze eingesetzt hatte. Stesagoras nahm also sowohl den Dolonkern wie den griechischen Städten gegenüber die Stellung seines Vorgängers ein, nur daß ihm nicht mehr die Würde des Oikisten eignete. Alles, was wir von seinem Wirken hören, ist, daß er einen Krieg mit den Larnpsakenern erfolgreich bestand, aber von einem vorgeblichen Überläufer mit einem Beil er schlagen wurde. Das geschah in einem Prytaneion, wohl demjenigen der Stadt Chersonesos, wo vermutlich schon sein Oheim residiert hatte. Die Nachfolge über nahm sein Bruder Miltiades, der spätere Sieger von Marathon, von dessen Ver hältnis zu den Peisistratiden und Abreise aus Athen bereits in anderem Zusam menhange zu sprechen war. Der damals im besten Mannesalter stehende Mann ist von den Peisistratiden so wenig wie einst sein Oheim von deren Vater mit der Wahrnehmung ihrer In teressen oder derer des attischen Gemeinwesens auf der Chersones beauftragt wor den. Wenn sie ihm für die Fahrt zur Halbinsel eine Triere zur Verfügung stellten, so geschah es, weil sie im Verdacht standen, seinen Vater Kimon, umgebracht zu haben, und gerade deshalb ihre freundliche Gesinnung betonen wollten, vor allem aber wohl, weil sie Schlimmes von ihm fürchteten und ihn aus Athen los sein woll ten. Wie sehr es im übrigen dem jüngeren Miltiades um die Gewinnung und den Ausbau einer monarchischen Stellung ging, zeigen seine ersten Maßnahmen nach der Ankunft auf der Chersones (51615). Demonstrativ betrauerte er den Tod des Stesagoras, dann lud er die führenden Männer aus den Griechenstädten ein, an der Klage um den Ermordeten teilzunehmen, ließ sie jedoch, als sie erschienen, gefangen setzen und errichtete ein reines Gewaltregiment über die Gemeinwesen. Während sich gegenüber den Dolonkern, deren Herren schon seine Vorgänger gewesen waren, nichts änderte, wurde das Verhältnis zu den hellenischen Pflanz städten, das unter dem Oikisten Miltiades und auch noch unter Stesagoras das jenige einer Führerschaft gewesen war, in eine reine Tyrannis verwandelt, wie der Gewalthaber sich denn auch nach Tyrannenart mit einer Leibwache von 500 Mann umgab. Der große Reichtum, den er sich in der Folgezeit erwarb, legt sogar die Vermutung nahe, daß er die untertänigen Gemeinwesen besteuerte. Ihre stadt staatlichen Verfassungen blieben zwar bestehen, aber die einzelnen plätze waren doch unter der Herrschaft des Gewalthabers viel fester als bisher zu einer Einheit zusammengeschlossen. Dabei handelte es sich, soweit wir sehen, offenbar nicht um eine Ausweitung der Polis Chersonesos derart, daß die übrigen Gemein-
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wesen rechtlich in ihr aufgegangen wären, sondern um ein übergreifendes tyran nisches Machtgebilde ohne gesetzliche Struktur. An die Peisistratiden suchte sein Träger keine Anlehnung, geschweige daß er sich von ihnen abhängig gefühlt hätte, er stützte sich vielmehr auf die ihm zugetanen Dolonker und den thraki schen Fürsten Oloros, dessen Tochter Hegesipyle er heiratete. Sie hat dem Miltia des, der bereits von einer athenischen Gemahlin mehrere Kinder hatte, den Kimon geboren. Eine neue Situation entstand, als der Perserkönig Dareios nach Europa hinüber ging, um die Skythen jenseits der Donaumündung zu bekämpfen (um 514/13 ) . Die Aufforderung, z u diesem Zuge ein Schiffskontigent z u stellen, muß auch an die den Meerengen benachbarten europäischen Griechenstädte bzw. an ihre Herren ergangen sein, obwohl sie sich damals noch außerhalb des Perserreiches befanden. Es war damit vermutlich das Verlangen nach Anerkennung der Oberhoheit des Großkönigs verbunden. Angesichts der Größe und Nähe der Macht des Persers konnte eine Ablehnung nicht in Betracht kommen. So befand sich auch Miltiades bei der Flotte, welche die Schiffsbrücke über die Donau zu bilden und sie während des Vorstoßes des Heeres ins Skythenland zu erhalten hatte. Daß er damals den Rat gegeben hätte, die Brücke abzubrechen und Dareios seinem Schicksal zu über lassen, ist denkbar unwahrscheinlich, würde er damit doch die vom Perser einge setzten oder wenigstens gestützten Tyrannen der kleinasiatischen Städte aufge fordert haben, sich selbst des Rückhaltes ihrer Machtstellung zu berauben. Wahr scheinlich handelt es sich um eine Geschichte, die später (um 493/2) in Athen von ihm oder seinem Anhang verbreitet wurde, um zu beschönigen, daß er einst dem Großkönig Hilfe geleistet hatte. Als dieser mit seinem Unternehmen schei terte und nunmehr skythische Scharen bis an die Südküste Thrakiens vordrangen, flüchtete Miltiades, ohne sich auf einen Kampf einzulassen, doch wurde er, nach dem die Horden zurückgeflutet waren, von den treuen Dolonkern wieder in seine Herrschaft eingesetzt. Bald darauf (um 512) unterwarf der persische Feldherr Me gabazos die thrakischen Küstengebiete, ohne dabei die Herrschaft des Miltiades zu beeinträchtigen, der offenbar als Vasallenfürst angesehen wurde. Auch des Me gabazos' Nachfolger Otanes unternahm nichts gegen ihn, doch eroberte er die der Chersones südwestlich vorgelagerten Inseln Jmbros und Lemnos, deren «pelas gische» Bevölkerung bei dem erbitterten Widerstand, den sie leistete, schwere Einbuße erlitt (um 511 ) . Die Überlebenden wurden geknechtet und dem Samier Lykaretos als persischem Gouverneur unterstellt. Als aber Lykaretos nicht lange darauf starb, wurden die Lemnier und Imbrier der persischen Herrschaft ledig, und in Hephaistia auf Lemnos konnte ein gewisser Hermon die Tyrannis gewin nen. Diese Lage und im besonderen wohl der Umstand, daß die Pelasger durch die Verluste im Kampf gegen Otanes sehr geschwächt waren, scheinen Miltiades
Miltiades d. Jg.
dazu gereizt zu haben, sich selbst der Insel zu bemächtigen. Während Hermon, der vor allem die Perser fürchtete, kapitulierte, ließen es die Bewohner von My rina auf eine Belagerung ankommen, die jedoch mit dem Fall der Stadt endete. Der Sieger, der damit zum Herrn von Lemnos wurde und auch Imbros gewann, verlangte die Evakuierung der Eilande von den Pelasgern. Imbros behielt er für sich. Lemnos übergab er den Athenern, die auf diesem Boden, der nun attischer Besitz wurde, Kolonisten ansiedelten und sie ein eigenes Gemeinwesen bilden ließen. Das geschah nicht ohne Kämpfe mit den Resten der einheimischen Bevöl kerung, wie eine Weihung der neuen l.emnier an den Zeus von Olympia zeigt. Ob eine andere Weihung, ein Helm, den Miltiades selbst nach Olympia stiftete, wo er in früheren Zeiten einen Wagensieg davongetragen zu haben scheint, den Dank für die Eroberung von Lemnos abstatten sollte oder auf andere, uns unbekannte Kämpfe zu beziehen ist, muß offenbleiben. Sowohl auf Grund von Andeutungen in der überlieferung wie im Hinblick auf die allgemeine politisd1e Lage ist es am wahrscheinlichsten, daß die Eroberung der Inseln in der Zeit zwischen 510 und 506 erfolgte. Bis dann die Kolonisten eintra fen und sich für die Dauer festsetzen konnten, mögen noch einige Jahre verstri chen sein. Die übereignung von Lemnos an die Athener versteht sich gut nach dem Sturz der Peisistratiden, mit denen Miltiades nicht verbunden gewesen war. Er wollte sich damit wohl die heimatlime, von der Tyrannenherrschaft befreite Polis verpflichten, deren Bürger er auch in der Ferne geblieben war und wo er ge wiß noch Freunde und Anhänger besaß. Ein rotfiguriger Teller aus der Zeit etwa seiner Abfahrt zur Chersones, der einen reitenden Bogenschützen in fremder Tramt und die Aufschrift «Miltiades der Smöne» zeigt, läßt das Interesse ahnen, mit dem mindestens gewisse Kreise Athens das Wirken des Mannes auf der fernen Cher sones begleiteten. Ja, Miltiades könnte die Absimt gehabt haben, durch jene Schenkung günstige Voraussetzungen für eine etwaige Rückkehr in die attische Heimat zu schaffen, zumal da sein Ausgreifen nach den Inseln anscheinend ohne Zustimmung des Persers geschehen war und gegebenenfalls für ihn ernste Folgen haben konnte. Wohl um solche zu vermeiden, hielt er sim in der Folgezeit zurück und beteiligte sich offenbar auch nicht am Ionischen Aufstand. Denn nid1t nur daß die überlieferung, welche die in einem späteren Prozeß (489) zu seinen Gun sten angeführten Momente nennt, von einer Teilnahme an der Bewegung schweigt, es richtete sich die Revolte ja nicht zuletzt gegen die perserhörigen Tyrannen, zu denen seit 514 auch Miltiades trotz gewissen Eigenmächtigkeiten zählte. Wenn gleichwohl nam dem Zusammenbruch des Aufstandes ihm die Strafe des Persers drohte, so wird dafür bezeichnenderweise ein besonderer Grund angegeben, daß nämlich der Parier Lysagoras ihn in irgendeiner Weise verleumdet hätte. Da der Herr der Chersones nicht imstande war, der übermächtigen und siegreichen phöni-
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kischen Flotte mit Erfolg Widerstand zu leisten, belud er auf die Kunde, daß die feindlichen Schiffe bei Tenedos lägen, fünf Trieren mit seinen Schätzen und stach von Kardia aus in See. Eine dieser Trieren wurde von den Persern gekapert, ihr Führer, Miltiades' ältester Sohn Metiochos, gefangengenommen. Der Großkönig, an dessen Hof er kam, stattete ihn später mit Haus und Besitz aus und vermählte ihn mit einer persischen Frau, von der er Kinder hatte, welche als Perser galten. Miltiades selbst aber gelangte mit den vier anderen Schiffen nach Athen (493/2) . Dort wurde er zwar von adligen Rivalen, wahrscheinlich den Alkmeoniden, wegen Tyrannis vor Gericht gezogen, im Verfahren jedoch wohl deshalb freigesprochen, weil er ds Tyrann nicht über attische Bürger, sondern über Kolonisten geherrscht hatte, die rechtlich aus der Polis Athen ausgeschieden waren. Von der Tyrannis im griechischen Mutterland unterscheidet sich die Herrschaft des älteren Miltiades und seiner Nachfolger über die Städte der Chersones in man cherlei I-linsicht. Sie entsteht fern von der Heimat aus dem Oikistentum, das frei lich von Anfang an infolge der Kombinierung mit der Stellung eines Häuptlings der Dolonker eine weit größere Machtfülle besaß, als sie sonst den Gründern von Kolonien eigen zu sein pflegte. Schon der Oikist Miltiades hinterließ seinem Stief neffen Stesagoras eine Herrschaft (Arche), die mindestens in der militärischen Führung der Aufgebote aus den von ihm besiedelten oder neubesiedelten Grie chenstädten sich bekundete, und konnte diese Herrschaft gleichsam privat vererben. Eine Tyrannis im eigentlichen Sinne begründete jedoch erst der jüngere Miltiades durch einen Gewaltakt. Wenn die führende Stellung seiner Vorgänger von den Griechenstädten allem Anschein nach anerkannt wurde, so ertrugen diese oder wenigstens die bisher in ihnen maßgebenden Schichten das auf brutale Weise er richtete Regiment des neuen Machthabers widerwillig. Er mußte sich durch eine Leibwache schützen, und nach seiner Flucht vor den Skythen führten ihn nicht seine griechischen Untertanen, sondern die Dolonker zurück. Militärische Unter nehmungen dürfte er unter diesen Umständen kaum noch mit den hellenischen B ürgeraufgeboten durchgeführt haben. Söldner bildeten seine Leibwache, Söldner waren es vermutlich auch, mit denen er für sich persönlich die Inseln Lemnos und Imbros gewann, neben ihnen vielleicht noch die treuen Dolonker. Gewiß war es allein schon die große Überlegenheit der persischen Macht, die Miltiades dazu nö tigte, sich dem Großkönig zu unterstellen, zugleich aber gewann er dadurch einen Rückhalt gegenüber den von ihm vergewaltigten Griechenstädten, wie ihn ähn lich die Tyrannen auf kleinasiatischem Boden besaßen. Bedenken gegen eine Ver bindung mit Persien, die allgemein erst nach zwei Jahrzehnten als "Medismos» gebrandmarkt wurde, bestanden damals für ihn sowenig wie für die Mehrzahl der übrigen Griechen. Zum Vorkämpfer der griechischen Freiheit ist der einstige Vasall des Großkönigs erst später in Athen geworden. Es ist für die lockere politi-
Miltiades d. Jg. Persische Vasallen tyrannen
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sche Struktur der Polis jener Zeit kennzeichnend, daß ein adliger Herr, ohne aus dem heimischen Gemeinwesen auszuscheiden, in der Feme als Tyrann über hellenische Pflanzstiidte gebieten konnte, deren keiner er als Bürger angehörte, die aber auch nicht durch seine Herrschaft der Vaterstadt des Gewalthabers zufielen, es sei denn, er hätte sie dieser aus freiem Willen übereignet, wie Miltiades es zwar mit der pelasgischen Insel Lemnos, nicht aber mit den Plätzen auf der Chersones tat.
I I I. PE R S I S C H E VA S A L L E NTYRA N N E N I N T H RA K I E N U N D A N D E N M E E R E N G E N
Fand der jüngere Miltiades für seine Tyrannis über Griechenstädte seit 514 einen Rückhalt am Perser, dessen Oberhoheit er anerkannte, so haben andere Stadther ren im weiteren Umkreis der Chersones sich gleichermaßen dieser Stütze bedient, sofern sie nicht überhaupt ihre Stellung der persischen Macht verdankten. Im letzteren Falle, dem weitaus häufigsten, wurde durch den Großkönig oder durch einen Satrapen ein vornehmer Grieche über seine Heimatstadt gesetzt, die dem Perser untertänig, daß heißt ihm zu Heeresfolge und Steuerzahlung verpflichtet war. Dieser Mann hatte die Steuern zu erheben und abzuführen sowie das Auf gebot der Polis zu überwachen und gegebenenfalls unter persischem Oberkom mando im Kriege zu befehligen. Daß er über die abzuliefernde Summe hinaus zu eigenem Nutzen Abgaben erheben konnte, darf als sicher gelten, nicht minder, daß er, dessen Kompetenzen unbefristet waren, kein städtisches Jahresamt beklei dete. Er stand also neben und über dem Gemeinwesen, dessen Bürger er war, und wurde deshalb mit Recht als Tyrann angesehen. Im Gegensatz zu anderen Tyran nen bedurften diese Männer keiner eigenen Söldnertruppen oder sonstiger Mittel zur Niederhaltung der Bürgerschaft, sie waren durch die Macht des Persers gesi chert, freilich auch auf diese angewiesen. Eben darum hat man von persischer Seite, vor allem unter Dareios 1., in der Einsetzung von Tyrannen die beste Gewähr für die Botmäßigkeit untertäniger Griechenstädte gesehen. Fanden die Perser bei der Unterwerfung eines Landes bereits irgendwo eine eigenständige Tyrannenherr schaft vor - wie etwa auf der Chersones -, so haben sie diese, wofern der Macht haber sich zu Steuerzahlung und Heeresfolge verpflichtete, wohl zumeist bestehen gelassen. Die Stellung solcher Tyrannen war dann eine ähnliche wie die der neu bestellten Stadtherren. Anders dagegen, wenn ein um den Großkönig oder die persische Sache verdienter Grieche mit einem Landbezirk oder mit Städten be schenkt wurde. In diesem Falle scheint der Betreffende Grundherr des Gebietes geworden und in den Genuß der gesamten, von ihm erhobenen Steuer gekommen zu sein, ohne etwas an die persische Regierung abliefern zu müssen. So war es,
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Inseln und Nordküste der Ägäis
wenn nicht alles täuscht, später bei Themistokles und einigen anderen Griechen der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, so auch bereits bei Histiaios von Milet, allerdings nicht in seiner Vaterstadt, wo er ein Tyrann des zuvor geschilderten Typus war, sondern im Südwesten Thrakiens. Denn nachdem der persische Feldherr Megabazos um 513/2 von der Chersones westwärts bis zum Land der Paionen vorgedrungen war, erhielt Histiaios für sei ne treuen Dienste beim Skythenzug von dem ihm besonders gewogenen Dareios jenes Gebiet östlich des Strymon geschenkt, das vor etwa vierzig Jahren Peisistra tos sich gewonnen hatte. Ob es bis jetzt noch im Besitz der athenischen Tyran nenfamilie gewesen war, wissen wir nicht, so daß auch alle Vermutungen über die Art, wie es aufgegeben wurde, jeder festen Grundlage entbehren. Histiaios, der sich diesen Distrikt offenbar wegen des Holz- und Metallreichtums der Ge gend erbeten hatte, beabsichtigte, nach Myrkinos eine Kolonie zu führen, über die er als Grundherr tyrannisch geboten hätte. Megabazos jedoch hielt es für gefähr lich, dem betriebsamen und ihm verdächtigen Manne eine Position am Rande des Perserreiches zu geben, von der aus er an der Spitze der umwohnenden Griechen und Barbaren eine unerwünschte Aktivität entfalten konnte. Er riet daher dem Großkönig, Histiaios ehrenvoll an seinen Hof zu ziehen. Indem Dareios dem Rate folgte und seinen Günstling aus Thrakien, wo bereits mit der Anlage der Pflanz stadt begonnen worden war, abberief, um ihn von Sardeis aus nach Susa mitzu nehmen, setzte er dem Ausbau der Tyrannenherrschaft in jenen Distrikten ein Ende. Des Histiaios Neffe und Schwiegersohn Aristagoras, der ihm in der Tyrannis über Milet folgte, hat bezeichnenderweise erst nach seinem Abfall von Persien zu einer Zeit, als der Ionische Aufstand kaum noch Aussichten auf Erfolg hatte (497/6), sich dem Besitz seines Oheims zugewandt und die von diesem eingelei tete Gründung einer Kolonie in Myrkinos wiederaufgenommen. Da er aber bald im Kampf gegen den thrakischen Stamm der Edoner fiel, ist es zu der wohl auch von ihm beabsichtigten Errichtung einer Tyrannis in Myrkinos, die sich freilich gegen die Perser hätte behaupten müssen, nicht gekommen. Von Tyrannenherrschaften in anderen Städten Südthrakiens verlautet - mit Ausnahme der Plätze auf der Chersones - fast nichts. Lediglich in Byzanz begeg nen wir einem Gewalthaber, Ariston mit Namen, der wie Miltiades zum Skythen zug des Dareios mit Schiffen Hilfe leistete. Die Stadt gehörte bis dahin schwerlich zum Perserreich, so daß die Möglichkeit einer selbständigen Errichtung der Ty rannis durch Ariston oder einen Vorgänger besteht, doch könnten auch schon die Perser vom nahen Chalkedon aus zu ihrer Begründung beigetragen haben, da ihnen daran liegen mußte, auf der gegenüberliegenden Seite des Bosporus einen willfährigen Vasallen zu haben. Vielleicht übertrug der König dem Ariston auch die Herrschaft über Chalkedon, denn beide Städte empörten sich, als der Tyrann
Siidthrakien und Meerengen
fern an der Donau weilte, so daß Dareios seinen Rückweg aus Asien über den Hellespont nehmen mußte. Ob nach der Unterwerfung der abtrünnigen Plätze durch Otanes (um 511) die Tyrannis des Ariston erneuert und, als die Byzantier und Chalkedonier zur Teilnahme am Ionischen Aufstand gebracht wurden, noch mals gestürzt wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Auch haben wir keinen An halt dafür, daß nach dem neuen persischen Strafgericht (493) abennals ein Tyrann über das von seiner Bürgerschaft verlassene Byzanz gesetzt wurde. Aus dem Bereich der Propontis und des Hellespontes nennt Herodot als Tyran nen, die mit Schiffskontingenten den Dareios bei seinem Skythenzug unterstützten, Metrodoros von Prolw1Jnesos, Aristagoras von Kyzikos, Herophantos von Parion, Hippoklos von Lampsakos und Daplmis von Abydos. Die Liste zeigt, wie syste matisch sich die persische Regierung des Mittels, durch Einsetzung oder Begünsti gung von Tyrannen die eigene Oberherrschaft zu sichern, bediente. Schon Kyros scheint damit den Anfang gemacht zu haben. Von ihm nämlich erhielt ein Pythar chos aus Kyzikos, der als Freund des Königs bezeichnet wird, einige Orte in der weiteren Umgebung seiner Heimat geschenkt, worauf er eine Heeresmacht sam melte und daranging, mit Waffengewalt die Tyrannis über Kyzikos zu gewin nen. Scheiterte dieses Beginnen auch am Widerstand der Kyzikener, so spricht doch sowohl das gute Verhältnis, in dem Pytharchos zu Kyros stand, wie die noch zu erwähnende Einsetzung eines Tyrannen im aiolischen Kyme dafür, daß bereits der erste Perserkönig, mindestens gelegentlich, diesen Weg beschritt. Es könnten also die von Herodot genannten Tyrannen Vorgänger gehabt haben. In Lampsa kos freilich scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein, werden doch für die Zeit, als die Stadt mit dem älteren Miltiades und später dessen Stiefneffen Stesagoras im Kampfe lag, nur die Lampsakener, nie ein Tyrann erwähnt. Hippoklos dürfte mithin etwa gleichzeitig mit der Ankunft des jüngeren Miltiades auf der Cher sones (um 516) die Herrschaft über die Stadt gewonnen oder von Dareios erhalten haben. Daß er bei diesem viel galt, veranlaßte Hippias, den Tyrannen von Athen, als er nach dem Attentat von 5:14 sich für alle Fälle einen Rückhalt sichern wollte, seine Tochter Archedike mit Aial1tides, dem Sohne des Hippoklos, zu vennählen, der einige Jahre später seinem Vater in der Tyrannis über Lampsakos gefolgt zu sein scheint. Jedenfalls war es Aiantides, der um 50:1 seinem Schwiegervater den Zugang zum Großkönig vemüttelte. Nicht lange darauf schloß sich mit den ande ren kleinasiatischen Griechenstädten an den Meerengen auch Lampsakos dem Ionisd1en Aufstand an. Daß der Tyrann damals vertrieben wurde, ist so gut wie sicher, wie auch die anderen von Herodot genannten Tyrannen oder ihre Nach folger damals gewiß weichen mußten. Aber schon bald (vermutlich 497/6) unter warf der persische Feldherr Daurises Lampsakos und Abydos, brannte Prokonne sos nieder, während Kyzikos sich bis zur Ankunft der phönikischen Flotte (494'3)
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Inseln und Nordküste der Agäis
behaupten konnte. Von einer Erneuerung der Tyrannis in den bezwungenen Städten erfahren wir nichts, es sei denn, man wollte in der von Thukydides über lieferten Grabschrift der Archedike einen Hinweis erblicken. Hier werden sowohl ihre erst 495 erwachsenen Söhne wie ihre Brüder, des Hippias Söhne, als Tyran nen bezeichnet, was freilich auch nicht mehr als die Zugehörigkeit zur Tyrannen familie zu bezeichnen braucht. Immerhin ist es durchaus möglich, daß in Lampsa kos, Abydos und anderen Plätzen jenes Bereiches die Tyrannis wiederhergestellt wurde und bis 478 erhalten blieb. Unklar bleiben auch die Verhältnisse in Sigeion, wohin sich Hippias nach seiner Vertreibung aus Athen zunächst begeben hatte und noch um 504 wohnte. Wer damals die Tyrannis über die Stadt innehatte, wissen wir nicht. Der von sei nem Vater einst dort eingesetzte Hegesistratos könnte noch am Leben gewesen oder ein anderer Angehöriger des Peisistratidenhauses an seine Stelle getreten sein. Hippias selbst, der seine Restituierung in Athen erstrebte und sich nach einigen Jahren an den Hof des Großkönigs begab, scheint die Herrschaft nicht übernom men zu haben. Eher ließe sich an seine Söhne denken, zumal wenn ihre Nennung in der Grabinschrift der Archedike doch eine von ihnen ausgeübte Tyrannis mei nen sollte, deren Ort dann wohl Sigeion gewesen wäre. Die Eroberung Sigeions durch Peisistratos dürfte schon bald nach Zusammenbruch des Lyderreiches erfolgt sein, als die Perser dessen nordwestliche Bezirke und so auch die Troas noch nicht fest in ihre Hand gebracht hatten. Nachdem dies jedoch geschehen war, muß He gesistratos - nicht anders als später der jüngere Miltiades auf der Chersones die Oberhoheit des Großkönigs anerkannt haben und einer der Vasallentyrannen geworden sein. Daß die Stadt von den aufständischen Ionern zum Anschluß ge bracht und der Tyrann, wer immer es damals war, vertrieben wurde, ist zwar nicht bezeugt, aber sehr wohl möglich. Desgleichen, daß die Tyrannis nach Nieder werfung der Insurrektion in jenen Gebieten durch Daurises wieder auflebte, sofern sie wirklich gestürzt worden war. Ihr Ende gefunden hat sie spätestens im Jahre 478, als die Flotte der Griechen zum Hellespont vorstieß.
VIERT E S K A P IT E L
D I E W E S T K Ü STE K L E I NA S I E N S Während uns aus den kleinasiatischen Städten im Norden der Ägäis fast nur Ty rannen bekannt sind, die ihre Stellung den Persern verdankten, begegnen in den griechischen Plätzen an der Westküste der Halbinsel und auf den vorgelagerten Inseln schon seit dem Ende des 7. Jahrhunderts Stadtherren eigenständiger Art. Auch für sie ist naturgemäß das Verhalten zu der das anatolische Hinter land beherrschenden Macht, bis 546 also zum Lyderreich, von großer Bedeutung gewesen ; Vasallentyrannen jedoch hat es hier wie in den Bezirken an den Meer engen erst unter den Persern gegeben. Durch die tief ins Innere der Halbinsel hinaufführenden Flußtäler mit ihren uralten Handelswegen waren die griechi schen Küstenstädte mit den Völkern im Binnenland, ja selbst mit denen des Vor deren Orients verbunden und Einwirkungen aus der östlichen Welt geöffnet, in die sie auch ihrerseits auss trahlten. Hatte schon der phrygische König Midas II. eine Tochter des Königs der aiolischen Stadt Kyme zur Gattin genommen (um 700) , so gestalteten sich die Beziehungen zwischen dem lydischen Herrscherhaus der Mermnaden und vornehmen hellenischen Familien noch enger. Mehrere Prin zessinnen wurden mit adligen Herren aus Ephesos vermählt. Gyges sowohl wie später Kroisos stifteten reiche Weihgeschenke nach Delphoi, und auch der Artemis tempel von Ephesos und das Heiligtum des Apollon zu Didyma erfreuten sich der Munifizenz der letzten lydischen Könige. Macht und Prunk der Herrscher im Osten verfehlten ihre Wirkung nicht, indem sie manch einen Adligen in den Griechenstädten dazu verlockten, sich zum Gebieter seiner Polis aufzuwerfen und es an Prachtentfaltung jenen Vorbildern nach Möglichkeit gleichzutun. Nicht von ungefähr haben die Hellenen, zunächst wohl diejenigen an der anatolischen Küste, einen Mann, der sid1 als Monarch über seine vornehmen Standesgenossen erhob und das heimische Gemeinwesen vergewaltigte, mit dem wohl einer asiatisd1en Sprache entstammenden Wort « tyrannos» bezeichnet. So stark wurde die Ähnlich keit mit fremdem Despotenturn empfunden. Das Verhältnis der griechischen Städte zum Lyderreich bestand aber nicht nur in wechselseitigem Geben und Nehmen. Bereits Gyges ging daran, die helleni schen Plätze seinem Reiche einzuverleiben und dieses nordwestlich bis an die Meerengen auszudehnen. Es gelang ihm auch Kolophon zu erobern, während er um Smyrna und Milet vergebens kämpfte. Weiteren Aktionen machten vorerst
9°
Die Westküste Kleinasiens
die verheerenden Einfälle der Kimmerier und Trerer ein Ende. Gyges selbst fiel im Kampf (652) . Nach dem Zurückfluten der Horden nahm sein Sohn und Nach folger Ardys die expansive Politik des Vaters auf und bezwang Priene, doch ge lang die Einnahme und Aufhebung von Smyrna erst um 575 seinem Enkel Alyat tes, die Eroberung von Ephesos sogar erst dem Urenkel Kroisos. Mit Ausnahme von Milet, das, obwohl von Alyattes und schon von dessen Vater Sadyattes heiß umkämpft, sich dauernd von lydischer Herrsdlaft frei halten konnte, waren um die Mitte des 6. Jahrhunderts sämtliche Städte an der kleinasiatischen Küste einschließlich derjenigen an den Meerengen und der Propontis dem Lyderkönig untertan. Die Herrschaft scheint freilich relativ milde gewesen zu sein und den Gemeinwesen kaum mehr als regelmäßige Tributzahlung und im Kriegsfall Hee resfolge auferlegt zu haben. Von einer Ausdehnung seines Reiches auf die vor gelagerten Inseln hat Kroisos abgesehen und sich mit dem Abschluß von Freund schaftsverträgen begnügt. An die Stelle des Lyders trat seit 546 der Perser, der ebenfalls Tributzahlungen und Heeresfolge verlangte. Doch während bis dahin keine Tyrannen erkennbar sind, die als Vasallentyrannen anzusprechen wären, haben viele, wo nicht die meisten Griechenstädte Kleinasiens sowie die Inseln Chios und Samos in der ersten Hälfte der Regierung des Dareios unter Stadtherren gestanden, die gleich jenen an den Meerengen ihre Stellung dem König verdankten. Wieweit schon Kyros Tyrannen eingesetzt oder begünstigt hat, ist schwer zu sagen, da uns nur ganz wenige, überdies nicht eindeutige Fälle bekannt sind. Im folgenden werden die Vasallentyrannen nicht von den eigenständigen Tyrannen abgesondert und für sich behandelt werden. Es empfiehlt sich vielmehr, auch hier das lokale Ein teilungsprinzip zu wahren und das Auftreten von Tyrannen in den Städten des aiolischen, ionischen und dorischen Siedlungsgebietes bis zum vorläufigen Ende der Perserherrschaft (479/8) zu verfolgen, soweit die triimmerhafte Überlieferung dies gestattet.
1 . A I O L I S C H E S TÄ D T E
:l. F E S T L A N D
Im aiolischen Siedlungsgebiet kennen wir auf dem Festland nur einen einzigen Tyrannen aus vorpersischer Zeit, Glaukias, der um 550 über einen nicht bestimm baren Platz in der Troas gebot, von dort aber nach Sidene am Granikos flüchten mußte, wo er durch Befestigung des Ortes sich vergeblich gegen Kroisos zu be haupten suchte. Wie der lydische König hier als Gegner eines Tyrannen auftritt,
Lyder und Perser. Kyme. Lesbos
so hat er anscheinend in der bedeutendsten der aiolischen Küstenstädte, in Kyme, keinen Tyrannen gewünscht. Hier hatte ein gewisser Pheidon, wohl nach dem Ende der noch um 700 bestehenden Königsherrschaft, am Staatswesen «mehreren» Anteil gegeben, und durch einen Mann namens Prometheus war die Zahl der po litisch Vollberechtigten auf tausend erhöht worden. In ihm oder in Pheidon Ty rannen zu sehen, besteht keinerlei Grund. Beide dürften vielmehr entweder zur Neuordnung der Verfassung bestellt oder auch nur Inhaber des höchsten regulären Amtes gewesen sein, dessen Träger noch später Aisymneten genannt wurden, eine Bezeichnung, die auf gesetzgeberische Kompetenzen in früher Zeit hinzudeuten scheint. Wenn jedoch Kyros die Stadt, wie es heißt, durch einen Monarchen regie ren ließ, so kann dies kaum anders verstanden werden, als daß er einen ihm er gebenen Mann zum Tyrannen über sie setzte. Unter Dareios treffen wir in der Tat einen solchen Gewalthaber in Aristagoras an, der gleich den anderen Vasallen tyrannen mit dem Geschwader seiner Stadt dem König beim Skythenzug Hilfe leistete. Er war noch beim Ausbruch des Ionischen Aufstandes Herr über Kyme, doch ließen die Bürger ihn unbehelligt abziehen, was für die Milde seines Regi mentes spricht. Daß er nach dem Zusammenbruch der Abfallsbewegung wieder eingesetzt wurde, ist nicht unmöglich, wenn auch im Hinblick auf die Auflösung der Tyrannenherrschaften im nahen Ionien wenig wahrscheinlich. Im Jahre 480 stand die Stadt jedenfalls nicht unter einem griechischen Tyrannen, sondern unter dem persischen Gouverneur Sandokes. 2.
LE S BO S
Weit besser als über die Verhältnisse i n Kyme oder anderen Griechenstädten Kleinasiens um die Wende des 7. zum 6. Jahrhunderts sind wir dank zahlreichen Fragmenten von Liedern des Dichters Alkaios über die Zustände auf Lesbos und im
besonderen über die mannigfachen Wirren unterrichtet, welche damals die be
deutendste Stadt der Insel, Mytilene, erfüllten. Hier bestand im letzten Drittel des 7. Jahrhunderts zwar nicht mehr eine Königsherrschaft, aber die Angehörigen des alten Königsgeschlechtes der Penthiliden bildeten, ähnlich wie die Bakchiaden in Korinth, eine dynastische Oligarchie, die allein im Besitz der Macht war. Das brutale Auftreten dieser Männer erregte allgemeine Empörung, vor allem bei den adligen Herren. Einer von diesen, Megakies, erhob sich mit seiner Hetairie gegen sie und tötete viele von ihnen, doch kam es nicht zur Ausrottung der Sippe. Wurde doch ein Penthilos erst später durch Smerdis, den er hatte mißhandeln lassen, um gebracht (um 620). Von einer Beteiligung des Volkes hören wir nichts, es scheint vielmehr nun eine rein aristokratische Ordnung Platz gegriffen zu haben, die den Mitgliedern der vornehmen Familien die Möglichkeit zu politischem Wirken in
Die Westküste Kleinasiens
Ämtern, Rat und Volksversammlung gab. Aber die Streitigkeiten zwischen den großen Geschlechtern, unter denen die Archeanaktiden und Kleanaktiden hervor ragten, und die Herrschsucht einzelner Männer ließen es nicht zu einer dauernden Beruhigung kommen. Schon nach wenigen Jahren vermochte Melanchros, der wohl einem der vornehmen Häuser angehörte, sich zum Tyrannen über Mytilene aufzuwerfen. Nichts weist darauf hin, daß ihm dies als Führer der nichtadligen Schichten gelang. Diese werden auch in den folgenden Auseinandersetzungen nicht genannt, so daß der Eindruck entsteht, daß der Tyrann sowohl wie seine Gegner sich auf adlige Hetairien stützten. Eine entgegenstehende Hetairie, zu der unter anderen die Brüder des Alkaios und gewiß der Dichter selbst gehörten, war es denn auch, die unter Führung des Pittakos den Tyrannen stürzte. Melanchros wurde erschlagen (um 610). Wahrscheinlich, daß jetzt die aristokratische Ordnung des Gemeinwesens wie derhergestellt wurde und Pittakos· eine maßgebende Rolle spielte. Bereits sein Vater Hyrrhas hatte, obwohl thrakischer Abkunft, zu den vornehmen Herren von Mytilene gehört, wie auch sonst der Adel bei den Ostgriechen in seine Reihen gelegentlich Standesgenossen aus fremden Völkern aufnahm. Der Sohn konnte sich später mit einer Angehörigen des alten Königsgeschlechtes vermählen, einer Tochter jenes Penthilos, den Smerdis getötet hatte. Nicht lange nach Melanchros' Ende zeichnete sich Pittakos in einem Krieg um Sigeion aus, der unter seiner Lei tung unternommen wurde. Dieser Platz, den ein Archeanaktide hatte ummauern lassen, wurde damals von attischen Kolonisten unter dem Olympioniken Phrynon angegriffen. Im Verlauf der mit wechselndem Glück ausgetragenen Kämpfe tötete Pittakos den Phrynon im Zweikampf, doch vermochte er anscheinend nicht, den Krieg eindeutig zugunsten der Mytilenaier zu entscheiden. Erst später beendete Periandros ihn durch einen Schiedsspruch, der angeblich jedem der beiden Gegner ließ, was er besaß. Mytilene aber wurde von neuem durch die rivalisierenden Adelsgeschlechter und Hetairien sowie durch das Machtstreben einzelner Män ner in Wirren gestürzt, zum al als Myrsilos, der vermutlich ein Kleanaktide war und sehl wahrscheinlich zu Melanchros gehalten hatte, aus der Verbannung, die nach dem Sturz des Tyrannen dessen Anhänger getroffen haben dürfte, in die Heimat zurückkehrte. Mit einem Schiff, das auf hohem Meer wilden Stürmen aus gesetzt ist und schon schweren Schaden genommen hat, so daß es nur bei äußer ster Anstrengung der gesamten Mannschaft noch in einen sicheren Hafen gebracht werden kann, verglich Alkaios damals das Gemeinwesen. Er selbst und die Hetairie des Pittakos, der er und seine Brüder angehörten, stemmten sich gegen Myrsilos und dessen Anhang, doch gelang es diesem, die Tyrannis über die Stadt zu ge winnen. Über die Art der Herrschaft des Myrsilos, der, nach seinem Namen zu schließen,
Lesbos: Melanchros. Myrsilos
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kleinasiatischer Abkunft war, haben wir keine zuverlässige Kunde. Daß seine adligen Gegner in ihm einen Unterdrücker des Volkes sahen, kann nicht viel be sagen. In erster Linie fühlten sie selbst sich unterdrückt und suchten der Tyrannis des verhaßten Mannes ein Ende zu bereiten. Zu diesem Zweck verschwor sich die Hetairie des Pittakos auf Leben und Tod mit einem feierlichen Eid. Aber der ge plante Anschlag wurde verraten, und die Mitglieder der Hetairie mußten aus My tilene nach der nahen lesbischen Stadt Pyrrha entweichen. Es scheint, daß sie nun mehr ihre Rückkehr und den Sturz des Tyrannen mit Hilfe der Lyder zu bewerk stelligen suchten, die ihnen nach dem Zeugnis des Alkaios 2000 Statere zukommen ließen. Welches Interesse man in Lydien an der Beseitigung des Myrsilos hatte, bleibt uns verborgen. Jedenfalls aber kamen die Verschwörer nicht ans Ziel. Ein mal, weil es ihnen nicht gelang, in Mytilene einzudringen, vor allem aber, weil sich Pittakos von ihnen lossagte und auf die Seite des Myrsilos übertrat. Alkaios hat den bisherigen Freund und Gesinnungsgenossen darob verflucht und ist nicht müde geworden, ihn als schändlichsten Verräter zu brandmarken. üb er wirklich ein solcher war oder gute Gründe hatte, die von ihm bisher vertretene Sache auf zugeben und Anschluß an Myrsilos zu suchen, entzieht sich wie so vieles unserer Kenntnis. Jedenfalls aber hat Pittakos in der Folgezeit zur Umgebung des Tyran nen gehört und wohl auch daraus Vorteil gezogen, während seine einstigen Ge fährten, wie es scheint, weitere erfolglose Versuche unternahmen, das durch die Anhängerschaft der Kleanaktiden und Archeanaktiden gestützte Regiment des Myrsilos zu stürzen. Die Widerstandsfähigkeit und auch die breite Gefolgschaft dieser Tyrannis machen es wahrscheinlich, daß sie, mindestens gegenüber dem Adel, nicht despotisch geübt wurde. Ihre Dauer ist unbekannt, desgleichen die Art, wie Myrsilos starb, ob eines natürlichen Todes oder durch Mörderhand. Mit lautem Jubel hat Alkaios das Ende des Machthabers begrüßt, und wirklich konn ten er und seine Genossen jetzt in ihre Vaterstadt zurückkehren. Aber die Freude währte nur kurz. Denn die Heimgekehrten mußten erkennen, daß nmunehr Pittakos in Mytilene eine führende Stellung einzunehmen begann. Sein Anschluß an Myrsilos hing ihm offenbar nicht nach, war dessen Regiment doch bei vielen nicht unbeliebt gewesen. Alkaios und seine Genossen freilich sahen in Pittakos weiterhin den Verräter, den sie aufs tiefste haßten. Sie beschimpften ihn und prophezeiten der Stadt Verderben durch den mächtigen Mann, der die Tyrannis erstrebe. Ihr Verhalten hatte zur Folge, daß sie, offenbar auf Betreiben des Pittakos, abermals verbannt wurden. Auch Sappho und vermutlich die Kle anaktiden mußten die Heimat verlassen. Eine Befriedung wurde durch die Ent fernung der unruhigen Adelsgruppen jedoch nicht erreicht. Es müssen die Ver bannten vielmehr aus der Ferne neue Umtriebe angezettelt haben, denn gegen sie wurde Pittakos um 590 von den Mytilenaiern zum Aisymnetes gewählt.
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Die Westküste Kleinasiens
Aristoteies hat die Aisymnetie, die uns als außerordentliches Amt fast nur in jener Zeit auf Lesbos begegnet, eine «gewählte Tyrannis» genannt, insofern als sie dem mit ihr Betrauten eine absolute Gewalt verlieh, die derjenigen eines Ty rannen vergleichbar war. Gleichwohl wird man den Aisymnetes nicht als Tyran nen ansehen dürfen, fehlen ihm doch dessen wesentliche Merkmale. Denn er stellt keinen eigenständigen politischen Faktor neben dem Gemeinwesen dar, er ist vielmehr dessen Beauftragter, dessen Organ, und seine Machtfülle ist kein persönlicher Besitz, der wie die Tyrannis vererbt werden könnte, sondern Befugnis eines höchstens auf Lebensdauer, meist aber für eine kürzere Frist oder zur Bewältigung einer bestimmten Aufgabe übertragenen Amtes. Während dem Tyrannen als solchem die Rechtsgrundlage fehlt, ist sie dem Aisymnetes im Wahl akt gegeben. Beiden jedoch ist eigen, daß unter ihnen die Organe des Gemein wesens bestehenbleiben, wenn ihre Bedeutung auch stark gemindert ist, daß fer ner auch der Aisymnetes eine Leibwache haben kann, allerdings nur, wenn die Gemeinde sie ihm bewilligt hat. Immmerhin ist bekanntlich auch späteren Tyran nen, etwa Peisistratos oder Dionysios 1., durch Volksbeschluß eine Leibwache gewährt worden. Man begreift daher, daß diejenigen, die mit der Bestellung eines Aisymnetes unzufrieden waren, in ihm einen Tyrannen sehen oder ihn wenigstens als Tyrannen brandmarken konnten, wie dies denn auch Alkaios gegenüber Pit takos getan hat. Der grundsätzliche Unterschied zwischen Aisymnetes und Tyrann wird dadurch nicht berührt. Eher könnte man fragen, ob Pittakos als Führer nicht adliger Schichten zu seiner quasimonarchischen Stellung gelangte und somit hin sichtlich der Gewinnung der Macht manchen Tyrannen glich. Nun ist zwar in Alkaios' Gedichten gelegentlich von «Darnos» und «Politen», von Heroldsruf auf der Agora und von einem Rat die Rede, aber die Angabe des Lesbiers Theophra stos, daß Pittakos verfügte, es sollten Kaufverträge von den «Königen» und dem Prytanis, offenbar dem höchsten Jahresbeamten der Stadt, abgeschlossen werden, läßt an eine noch stark aristokratische Ordnung denken, auf die auch die voraus gehenden Kämpfe der Adelsfaktionen hinweisen. Der Rat mag aus den Häuptern der vornehmen Familien, den «Königen», bestanden haben, das Wort «Darnos» aber dürfte wie im archaischen Sparta die gesamte Oberschicht bezeichnen, höch stens noch die nichtadligen freien Grundbesitzer mitumfassen. Da Pittakos diese Ordnung nicht geändert hat, da er ferner im Hinblick auf die Umtriebe der ver bannten Adelsgruppen zum Aisymnetes bestellt wurde und nichts von sozialrevo lutionären Tendenzen oder Maßnahmen verlautet, ist er, soweit wir erkennen können, auch nicht als Führer der unteren Volksschichten den auf diese Weise emporgekommenen Tyrannen an die Seite zu stellen. Desgleichen zeigt das Wirken des mit einer Frau aus dem alten Königsgeschlecht der Penthiliden vermählten Aisymnetes keine tyrannischen Züge. Den ihm erteil-
Lesbos: Pittakos. Kolis
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ten Auftrag, den Umtrieben der Verbannten ein Ende zu machen, scheint er erfüllt zu haben. Sie zerstreuten sich, der Wirkungsmöglichkeiten in Mytilene beraubt, in die Ferne, und wenn wirklich einige von ihnen zurückgekehrt sein sollten, so haben sie jedenfalls im politischen Leben keine große politische Rolle mehr ge spielt. Die gesetzgeberische Tätigkeit des Pittakos hat offenbar das bis dahin sehr locker gefügte Gemeinwesen gefestigt und, ohne die aristokratische Struktur zu beseitigen, die Grundlagen eines Rechtsstaates gelegt. Wie Solon wurde er - und zwar noch im 6. Jahrhundert - zu den Sieben Weisen gerechnet. Wie Solon hat er die ihm verliehenen Machtbefugnisse, als sein Auftrag erfüllt war, freiwillig nie dergelegt, was angeblich nach zehn Jahren (um 580) geschah. Bedürfte es noch eines Beweises, so zeigt gerade dieser Verzicht mit aller Deutlichkeit, daß Pittakos, mochte er sich auch einst dem Tyrannen Myrsilos angeschlossen haben, für sich selbst nicht die Tyrannis erstrebt hat. Ob die Beibehaltung der aristokratischen Ordnung während der Folgezeit, als gewiß auch auf Lesbos die nichtadligen Schichten im Gemeinwesen zur Geltung kamen, neue Unruhen ausgelöst und das Aufkommen von Tyrannen ermöglicht hat, wissen wir nicht. Jedenfalls hätte eine solche Tyrannis einen anderen Charakter getragen als diejenige des Melanchros oder Myrsilos, die noch nichts mit Ansprüchen der niederen Stände zu tun hatte, sondern aus den Kämpfen der verschiedenen Adelsfaktionen hervorging. Nach Unterwerfung der Griechenstädte an der kleinasiatischen Westküste durch Harpagos (um 545) haben die Gemeinden auf Lesbos früher oder später die Ober hoheit des Persers anerkennen müssen, dem die Mytilenaier sowohl gegen Ägyp ten (525) wie gegen die Skythen (514) Heeresfolge leisteten. Im Gegensatz zu zahlreichen Städten des Festlandes haben sie jedoch bis nach dem Skythenzuge keinem von der persischen Regierung eingesetzten oder begünstigten Tyrannen unterstanden. Ihr Schiffskontingent wurde an der Donaubrücke von einem - offen bar gewählten - Strategen befehligt, Kalis, des Euandros Sohn. Dieser jedoch er hielt, angeblich zum Dank dafür, daß er Dareios geraten hatte, die Schiffsbrücke während des Skythenzuges bestehenzulassen, nach Rückkehr des Königs auf eige nen Wunsch die Tyrannis über Mytilene, und zwar, wie es scheint, mit der Ver günstigung, keinen Tribut abführen zu brauchen. Koes hat daraufhin weiter treu zu den Persern gehalten, den Feldherrn Otanes gegen Lemnos und Imbros mit Schiffen unterstützt (um 511), sich aber als Herr der Stadt den besonderen Haß der Mytilenaier zugezogen. Nachdem zu Beginn des Ionischen Aufstandes Ietragoras außer einigen anderen Tyrannen auch ihn durch List gefangengenom men und seinen Mitbürgern überantwortet hatte, führten ihn diese vor die Stadt hinaus und steinigten ihn zu Tode. Von einer Erneuerung der Tyrannis nach der Rückeroberung der Insel durch die Perser (493) verlautet nichts.
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Die Westküste Kleinasiens
11. I O N I SCH E S TÄ D T E :l.
FESTLAND
über die nördlichste der ionischen Festlandsstädte, Phokaia, hat in unbestimm barer Zeit, am ehesten wohl in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, ein Exeke stos als Tyrann geherrscht, von dem jedoch nur erzählt wird, daß er ermordet wurde, obwohl er sich im Besitz orakelgebender Ringe befand. Auch von dem Vasallentyrann der Perser Laodamas, der mit dem Schiffskontingent der Stadt dem Dareios beim Skythenzug Hilfe leistete, ist nichts Näheres bekannt. Er oder sein Nachfolger muß wie die meisten ionischen Stadtherren bei Ausbruch des großen Aufstandes gestürzt worden sein, waren doch die Phokaier in hervor ragendem Maße an der Insurrektion bis zur Katastrophe von Lade beteiligt. a) Erythrai In frühe Zeit, vermutlich ins 7. Jahrhundert führt die Geschichte der Tyrannis in Erythrai zurück. Hier soll die Königsherrschaft des Knopos durch eine Hetairie, an deren Spitze Ortyges, Iros und Echaros standen, mit Hilfe der über Chios waltenden «Tyrannen» Amphiklos und Polyteknos gestürzt worden sein. Der wohl der hellenistischen Zeit angehörende Lokalhistoriker Hippias von Erythrai erzählt davon und berichtet des weiteren, daß die drei Männer, die er als Tyrannen be zeichnet, ein arges Gewaltregiment führten. Ihre Gegner brachten sie um, regier ten das Gemeinwesen selbstherrlich, indem sie die Gesetze aufhoben, und ließen niemand von dem Landvolk in die Stadt hinein. Vor den Toren sprachen sie diesen Leuten Recht, angetan mit purpurnen Gewändern, wie sie auch sonst in ihrer Kleidung einen ganz ungewöhnlichen Prunk zur Schau trugen. Die Bürger wurden nicht nur zu niedriger Arbeit herangezogen und bei Ungehorsam grausam be straft, sie mußten ihnen auch die eigenen Frauen und Töchter zuführen oder zu sehen, wie ihre Söhne zu den Orgien der Machthaber und ihrer Genossen geholt wurden. Starb einer aus dem Kreise der Hetairie, so hatten die Bürger samt Frauen und Kindern zu öffentlid1er Klage zu erscheinen, die unter Aufsicht von Peit schenträgern vor sich ging. Schließlich jedoch vermochte des ermordeten Königs Knopos Bruder, der auswärts eine Streitmacht hatte aufstellen können, dem Wüten ein Ende zu machen. Die Tyrannen kamen auf der Flucht um, an ihren Frauen und Anhängern wurde furchtbare Rache genommen. So sehr man versucht ist, dieser Erzählung eines späten Schriftstellers zu miß trauen und die berichteten Maßnahmen für phantasievoll ausgestaltete Züge des stereotypen Tyrannenbildes zu halten, das seit dem 5. Jahrhundert die griedüsche Literatur beherrscht, so verbietet doch das unverkennbare Kolorit der ionischen
Phokaia. Erythrai. Kolophon
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Welt der archaischen Zeit, die Angaben von vornherein als Erfindung abzutun. Daß die Königsherrschaft in Erythrai durch die Tyrannis der Führer einer adligen Hetairie unterbrochen wurde, ist schon im Hinblick auf die genauen Namens angaben kaum zu bezweifeln und paßt zu den Verhältnissen, wie wir sie gegen Ende des 7. Jahrhunderts auf Lesbos fanden. Die Gewaltherrschaft einer Gruppe verwandtschaftlich nicht miteinander verbundener Männer hat zudem im Zusam mengehen des Myrsilos und Pittakos eine gewisse Parallele. Bemerkenswert ist ferner die Neigung zu prunkvoller Selbstdarstellung, die dem ionischen Adel der archaischen Zeit allgemein eignete, bei den Machthabern in Erythrai aber im be sondern durch das Vorbild asiatischer Könige angeregt gewesen sein mag, denen sie auch in ihrem despotischen Verhalten nacheiferten. Ungewöhnlich für Tyrannen wirken weniger die angeblichen Grausamkeiten und die Ausschließung des Landvolkes aus der Stadt, auf die in milderer Form ja auch Periandros, Kleis thenes, Peisistratos bedacht waren, als die Aufhebung der Gesetze und die eigene Wahrnehmung sowohl der Verwaltung wie der Rechtsprechung. Pflegten Tyran nen im allgemeinen doch die Gemeindeordnung und die Ämter bestehenzulassen. Wenn es damals in Erythrai wirklich anders gewesen sein sollte, so wohl am ehe sten deshalb, weil die Usurpatoren der monarchischen Macht sich noch keinem einigermaßen gefestigten Polisorganismus gegenübersahen und in maßloser Herrschsucht die Befugnisse des bisherigen Königtums nicht nur voll in Anspruch nahmen! sondern willkürlich übersteigerten. Nach dem Sturz der Tyrannen scheint das Königtum in der alten Form nicht wiederhergestellt, sondern eine von Aristoteles als Oligarchie bezeichnete Herr schaft aller Angehörigen des Königsgeschlechtes der Basiliden eingerichtet wor den zu sein, vergleichbar etwa dem Regiment der Bakchiaden über Korinth. Diese Herrschaft, über deren Dauer wir nichts wissen, wurde, wie Aristoteies sagt, vom Demos beseitigt, womit wohl kaum nur das niedere Volk, sondern alle Grund besitzenden gemeint sind. Von einer Tyrannis hören wir bei dieser Gelegenheit nichts. Auch später, zur Zeit von Dareios' Skythenzug, ist eine solche, im Gegen satz zu anderen ionischen Städten, nicht unmittelbar bezeugt, doch läßt die all gemeine Wahrscheinlichkeit wie auch eine Inschrift aus dem 5. Jahrhundert ver muten, daß Erythrai, das am Ionischen Aufstand teilnahm, gleich den meisten anderen Städten vorher unter einem von den Persern begünstigten oder von ihnen eingesetzten Tyrannen gestanden hatte. b) Kolophon über Kolophon, in der Zeit um 550, enthält ein Fragment des Xenophanes, der seine Heimat verließ, als sie den Persern untertan wurde, aufschlußreiche An gaben. «Weichlichen Prunk, nutzlosen», so heißt es dort, «lernten die Kolopho-
Die Westküste Kleinasiens
nier von den Lydern, und solange sie noch frei waren von der verhaßten Tyrannis, gingen sie auf die Agora in ganz purpurnen Gewändern, nicht weniger als tau send, vornehm tuend, prahlend mit ihren wohlgezierten Locken, triefend vorn Duft köstlich bereiteter Salben». Hier sind es nicht wie in Erythrai Tyrannen, sondern die reichen, eine Oligarchie bildenden Herren, die sich in einer die lydi schen Sitten nachahmenden luxuriösen Kleidung gefallen. Wer die Tyrannis, von der Xenophanes spricht, innehatte, wissen wir nicht. Daß er ein Vasall der Perser war, ist möglich, doch fällt es auf, daß weder beim Skythenzug des Dareios ein Tyrann der Kolophonier genannt noch eine Teilnahme der Stadt am Ionischen Aufstand bezeugt ist. Wenn unter jener Tyrannis die vornehmen Herren sich nicht mehr so prunkvoll und selbstbewußt auf dem Markte sehen ließen, so braucht nicht eine entsprechende Verfügung des den Adel niederhaltenden Gewalthabers dahinterzustehen. Schon die Tatsache, daß ihnen die Herrschaft genommen war, mag sie von einern derartigen Auftreten in der Öffentlid1keit abgehalten haben. c) Ephesos Etwas reichlicher als für die eben genannten Städte fließen die Quellen für die Geschichte der Tyrannis in Ephesos, der in hellenistischer Zeit Baton von Sinope ein eigenes Werk gewidmet hat. In dieser Stadt gebot seit früher Zeit das auf den sagenhaften Gründer Androklos sich zurückführende Geschlecht der Basiliden. Ihm gehörten allem Anschein nach mehrere Männer mit dem Namen Melas an, von denen der älteste uns bekannte ein Schwiegersohn des Lyderkönigs Gyges war, der zweite, vermutlich ein Urenkel des ersten, in dasselbe verwandtsmaft lime Verhältnis zu Alyattes trat, während ein anderer Nachkomme des ersten Melas, Miletos mit Namen, die Schwester des Sadyattes zur Gattin erhalten hatte. Das alte Fürstenhaus von Ephesos war also mehrfach mit den Merrnnaden ver schwägert, die denn aum vor der Mitte des 6. Jahrhunderts keinen Versuch ge macht haben, die Stadt dem lydischen Territorium einzuverleiben. Aber die Herr schaft der Basiliden bestand während dieser Zeit so wenig wie die des Königs hauses zu Erythrai ungestört. Sie wurde zeitweilig durch das Gewaltregiment eines Pythagoras unterbromen, der sie, anscheinend mit Hilfe von Leuten aus Teos und Karene, hinterlistig stürzte und sich zum Herrn von Ephesos machte (etwa um 600). Das Bild, das nach Jahrhunderten Baton aus Sinope von ihm gab, zeigt die für Tyrannenschilderungen typischen Farben, ohne daß sich die Wahrheit der einzelnen Angaben nachprüfen ließe. Während Pythagoras sich dem Volk, auch der niederen Menge, in manchem gefällig erwies, soll er die an gesehenen Ephesier beraubt, ihre Güter eingezogen und nicht nur grausame Stra fen verhängt, sondern auch völlig Unschuldige dem Tode überliefert haben. Maß los, heißt es, war seine Gier nach Besitz; jede Denunziation fand deshalb bei ihm
Ephesos
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Gehör. Selbst das Asylrecht der Tempel achtete er nicht, ließ vielmehr seine Opfer in den Gotteshäusern ergreifen und gab ein vor ihm in ein Heiligtum ge flüchtetes Mädchen dem Hungertod preis, so daß es sich dort aus Verzweiflung erhängte. Es wird dann zwar noch von Baton erzählt, daß der delphische Gott auf Befragen gewisse Sühnemaßnahmen angeordnet habe, das gewaltsame Ende, das Pythagoras schließlich fand, läßt sich jedoch aus dem Bericht nur indirekt er schließen. Auch diese Tyrannis, die sich auf die unteren Schichten des Volkes ge stützt haben soll, ist vermutlich, wie so viele Gewaltherrschaften bei den östlichen Griechen, eine flüchtige Episode ohne nachhaltige Wirkung auf die Gestaltung der Polis gewesen. Jedenfalls stand Ephesos im zweiten Viertel des 6. Jahrhunderts wieder unter dem Regiment der Basiliden, das jedoch jetzt in unserer termino logisch allerdings wenig zuverlässigen Überlieferung als Tyrannis bezeichnet wird. Ist der Ausdruck genau zu nehmen, so dürfte er anzeigen, daß nunmehr das Königtum nicht mehr in seiner einstigen patriarchalischen Form bestand, sondern von den zurückgekehrten Basiliden mit Gewalt die Monarchie erneuert wurde, die sich somit von der Herrschaft einer Tyrannenfamilie nur wenig unterschied. Melas (II.), der Schwiegersohn des Alyattes, vermochte die neue Machtstel lung zu behaupten und sie seinem Sohne Pindaros zu vermachen, der sie noch innehatte, als König Kroisos, sein Oheim, in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre daranging, auch Ephesos seinem Reiche einzugliedern. Der Aufforderung zu freiwilliger Unterwerfung kam Pindaros nicht nach, er ließ es auf eine Belage rung ankommen. Schon war einer der Türme zum Einsturz gebracht, da gebot er, die Mauern und Tore durch Stricke mit dem fast anderthalb Kilometer entfernten berühmten Artemisheiligtum zu verbinden, um so die Stadt zu einem Teil des Bezirkes der Göttin zu machen, den anzugreifen Religionsfrevel bedeutet hätte. Es kam denn auch daraufhin zwischen ephesischen Gesandten und dem Lyder könig zu einer Verständigung, freilich auf Kosten des bei den Ephesiern wegen seiner Härte unbeliebten Pindaros. Kroisos, der auch hier keine Tyrannis wünschte, sicherte der Stadt Autonomie zu, verlangte aber außer jährlicher Tributzahlung und Heeresfolge im Kriegsfall, daß sein Neffe Ephesos verlasse. Während Pindaros mit seinem Anhang daraufhin der Stadt den Rücken kehrte und sich in die Peloponnes begab, blieb sein Sohn Melas (III.) unbehelligt in Ephesos, wo der Vater den größten Teil seines Vermögens unter Obhut eines Vertrauten, Pa sikles, gelassen hatte. Die sonst einen vertriebenen Tyrannen treffenden Strafen: Konfiskation seines Besitzes. Verbannung, wo nicht gar Tötung seiner Familie, wurden also gegen Pindaros trotz seinem harten Regiment nicht beschlossen. Kein Aufstand, sondern der Wille des Lyderkönigs hatte seiner Herrschaft das Ende bereitet. Pasikles wurde sogar in der Folgezeit zum Aisymnetes gewählt, jedoch von dem jungen Melas, der sich durch ihn verdrängt fühlen mochte, ermordet.
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Von einer Tyrannis dieses Melas ist nichts bekannt, doch scheinen seiner Blut tat innere Kämpfe gefolgt zu sein. Denn wenig später, wohl um 550, berief man aus Athen einen uns sonst nicht bekannten Aristarchos als Schlichter, der angeb lich fünf Jahre mit monarchischen Befugnissen über Ephesos waltete und, wenn wir recht sehen, durch eine Phylenreform den Kreis der politisch berechtigten Bür ger erheblich erweiterte, das Gemeinwesen also auf eine neue, demokratischere Basis stellte. Kurz darauf schuf die Ablösung der lydischen Herrschaft durch die jenige der Perser eine neue Lage. Hatte Kroisos die von ihm zugestandene Autono mie der Stadt respektiert und offenbar auch auf die Begünstigung ihm willfähriger Tyrannen verzichtet, so geriet Ephesos nun unter die Tyrannis zweier Männer Athenasoras und Komas, die ihre Machtstellung vennutlich dem König Kyros verdankten. Von ihrem Wirken haben wir keine Kenntnis, ebensowenig von dem des wohl ans Ende des 5. Jahrhunderts zu setzenden Melankomas, den Ephesos' größter Sohn, Heraklit, zur Niederlegung der Tyrannis bewogen haben soll. Auch er wird ein von den Persern begünstigter, wo nicht gar eingesetzter Tyrann ge wesen sein, der freilich nicht nur der Herrschaft entsagte, sondern auch eine Ein ladung des Dareios ablehnte. Von einem Nachfolger hören wir nichts. Ja, es fin det sich weder in Herodots Aufzählung der am Skythenzug beteiligten Stadther ren noch im Bericht über den Ausbruch des Ionischen Aufstandes, an dem Ephesos vielleicht nur anfangs beteiligt war, ein Tyrann der Stadt genannt. Dies und die Tatsache, daß Ephesos noch nach 479 zunächst den Persern treu blieb, könnte da für sprechen, daß Dareios im Hinblick auf die freundliche Gesinnung maßgeben der Kreise nicht auf Beherrschung durch einen Tyrannen bestand. d) Milet Es bleibt, da für die kleineren ionischen Festlandsstädte keine Tyrannis in der Zeit vor 480 bezeugt ist, nur noch zu betrachten, was über Gewaltherrschaften einzel ner Männer in Milet bekannt ist. Ins 7. Jahrhundert führt uns eine novellistisch ausgestaltete und auch sonst in manchem fragwürdige Erzählung von den Nelei den Laodamas und Amphitres, welche die in ihrem Geschlecht erbliche Königs würde einander streitig machten. Wenn Amphitres, weil er den gerechten und außenpolitisch erfolgreichen Laodamas umbrachte, als Tyrann bezeichnet wird und mit seiner Ennordung durch die Söhne des Laodamas für die Milesier Krieg und Tyrannis ihr Ende gefunden haben sollen, so ist von Tyrannis im eigent lichen Sinne doch nicht zu sprechen. Es handelt sich vielmehr - die Geschichtlich keit der Ereignisse vorausgesetzt - um einen Zwist innerhalb des Königshauses, der den Sturz der Neleidenherrschaft zur Folge hatte. Wie es heißt, wurde nun mehr vom «Demos» ein Epimenes zum Aisymnetes gewählt, der jedoch die ihm verliehene Gewalt grausam mißbrauchte, indem er willkürlich Hinrichtungen
Milet: Thrasybulos
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vornahm, den Söhnen des Amphitres, die aus Angst flüchteten, ihren Besitz raubte, ja sogar einen Preis auf ihre Köpfe setzte, die Schergen aber gleichwohl bestrafte. Erwecken die üblichen Farben des späteren Tyrannenbildes auch hier Mißtrauen gegenüber der Erzählung, so besteht doch zu einem Zweifel daran, daß jener Epimenes das außerordentliche Amt zur Begründung einer gesetzlosen Ge waltherrschaft benutzte, um so weniger Anlaß, als Aristoteles ausdrücklich be zeugt, daß einst gerade in Ionien die Tyrannis häufig aus einem machtvollen Amte erwuchs. Milet selbst bietet dafür ein weiteres Beispiel am Ende des 7. Jahr hunderts. Damals verstand es ein Adliger, Thrasybulos, der das höchste, offenbar mit gro ßen Befugnissen ausgestattete Amt des Gemeinwesens, das des Prytanis, beklei dete, sich zum Herrn der Stadt zu machen. Wie ihm das gelang und welches fortan die Basis seiner Machtstellung war, erfahren wir nicht, doch kann es sich schwer lich nur um widerrechtliche Fortführung des Amtes über Jahresfrist nach Art des Atheners Damasias gehandelt haben. Thrasybulos würde sonst nicht als Typus des seine vornehmen Gegner ausmerzenden Tyrannen, als Freund und Gesin nungsgenosse des Periandros, fortgelebt haben und vor allem nicht von Herodot zweimal neben den Milesiern als eigener Partner des Friedensvertrages genannt werden, der nach einem langwierigen Kriege mit dem Lyderkönig Alyattes zu stande kam. Da er andererseits aber in diesem Kriege offensichtlich den Ober befehl über das milesische Aufgebot führte, muß ihm das Kommando entweder durch einen besonderen Beschluß übertragen worden sein oder sich aus der Bei behaltung des Prytanis-Amtes ergeben haben, dessen Kompetenzen, obgleich ihnen nach Ablauf des regulären Amtsjahres die Rechtsgrundlage fehlte, die Bürger schaft in der Not des Kampfes gelten ließ. Die Verknüpfung einer Tyrannis, von der wir in diesem Falle leider nicht wissen, ob sie auf Söldnermacht oder star ker ziviler Anhängerschaft beruhte, mit einem Amt oder einem von der Gemeinde erteilten Auftrag wird uns ähnlich in den westlichen Randgebieten der griechi schen Welt, bei Gelon und später bei Dionysios 1., begegnen. Hier wie dort ist es die Not der außenpolitischen Lage, welche die Gesamtheit der Bürger dazu bringt, sich für den Kampf dem Tyrannen zu unterstellen, der jedoch im Friedensvertrage wieder als eigene Größe neben der von ihm zwar beherrschten, aber nicht legal vertretenen Polis erscheint. Die glückliche Abwehr des mächtigen Feindes recht fertigte das Verhalten der Milesier und in gewissem Sinne auch die Tyrannis des Thrasybulos. Alyattes hatte sich schließlich (bald nach 600) genötigt gesehen, mit ihm und der Bürgerschaft Freundschaft und Bundesgenossenschaft zu schließen, so daß die Stadt außerhalb des lydischen Herrschaftsbereiches blieb. Wie lange Thrasybulos, zu dem der Philosoph Thales Beziehungen unterhalten haben soll, nach diesem Erfolg noch als Tyrann über Milet waltete, ist nicht bekannt.
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Während der folgenden Jahrzehnte bis etwa 520 ist Milet von schweren inneren Kämpfen zerrissen worden. Eine tyrannengleiche Macht konnten für kurze Zeit Thoas und Damasenor mit ihrer Hetairie gewinnen, was eher auf Rivalitäts kämpfe zwischen Adelsgruppen als auf ein Andrängen der unteren Volksschichten weist, wie auch die Überlieferung über Thrasybulos von sozialen Konflikten dieser Art nichts zu wissen scheint. Erst nach dem Sturze des Thoas und Damasenor sind langwierige Streitigkeiten zwischen den reichen Herren und der werktätigen Be völkerung bezeugt. Gewann zunächst diese die Oberhand, so brachten sich später jene wieder zur Geltung, und die soziale Krise dauerte fort, bis eine Schlichtungs kommission, die man von der Insel Paros erbat, das Gemeinwesen neu ordnete, indem sie denjenigen Bauern, deren Ackerland sie in gutem Zustand gefunden hatte, politische Rechte gab, während die grundbesitzlosen Gewerbetreibenden in der Stadt anscheinend unberücksichtigt blieben. Jedenfalls ist, soweit wir sehen, weder an ihrer Spitze noch als Führer des Landvolkes ein Milesier zur Allein herrschaft gelangt, wie denn bei den Ostgriechen überhaupt die Tyrannis weit we niger mit den sozialen Kämpfen verbunden oder gar durch sie bedingt gewesen ist als im Mutterland. Ein Tyrann begegnet in Milet erst wieder zur Zeit des Da reios. Da die Stadt wie schon den Lydern so auch den Persern gegenüber formal ihre Selbständigkeit hatte behaupten können und vom Großkönig als heeres pflichtiger Bundesgenosse anerkannt worden war, ließ sich ihr weniger leicht als den untertänigen Griechenstädten ein Tyrann aufzwingen, doch war es natürlich möglich, das Machtstreben eines ehrgeizigen Mannes zu begünstigen und ihm durch geldliche Unterstützung oder auf andere Weise zur Herrschaft über Milet zu verhelfen. Der Perser brachte die Stadt dadurch gleichsam indirekt in Abhängig keit, da ein solcher Tyrann im Interesse der Erhaltung seiner Herrschaft sich ihm willfährig zeigen mußte. Es ist denn auch wahrscheinlich, daß Histiaios, des Lysagoras Sohn, der o ffenbar einer vornehmen milesischen Familie entstammte, auf diese Weise die Tyrannis über seine Vaterstadt gewann. Wie die meisten der persischen Klienteltyrannen tritt Histiaios zum ersten Male im Jahre 514 an der Donaubrücke hervor, wo er der Aufforderung der Skythen, sie abzubrechen und Dareios seinem Schicksal zu überlassen, entgegentrat. Be greiflich genug, da er sich nicht der Stütze seiner Herrschaft berauben wollte, die ihm nach dieser Loyalitätsbekundung noch sicherer scheinen mußte als bisher. Des Königs Dank blieb denn auch nicht aus: Histiaios erhielt die ertragreichen Ge biete östlich des Strymon zum Geschenk und damit im südlichen Thrakien einen Außenbesitz, wie er für jeden Tyrannen als etwaiges Refugium von großem Wert war. Seine ehrenvolle Berufung als Tischgenosse und Ratgeber an den persischen Hof, die der dem wendigen Ioner mißtrauende Feldherr Megabazos bewirkte, gab seinem Leben freilich bald eine unerwartete Wendung. So sehr er sich auch das
Milet: Histiaios. Aristagoras
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Wohlwollen des Dareios zu erhalten wußte, die Tyrannis über Milet und wohl auch das thrakische Gebiet mußte er für die Dauer seines Verweilens in Susa sei nem Neffen und Schwiegersohn Aristagoras, des Molpagoras Sohn, übergeben. Dieser Aristagoras', über dessen Tyrannis in den Jahren nach 513/2 nichts über liefert wird, ist es bekanntlich gewesen, der den Ionischen Aufstand entfacht hat, und zwar, wenn Herodots Erzählung, unserer einzigen Quelle, zu glauben ist, aus eigensüchtigen Motiven. Als um 500 einige reiche Herren aus Naxos, die das Volk verjagt hatte, sich, weil sie Gastfreunde seines Oheims waren, an ihn um Hilfe wandten, bewog Aristagoras den ihm befreundeten Satrapen in Sardeis, Arta phrenes, zu einern Zug gegen die Insel, indern er ihm vorstellte, er werde damit nicht nur Naxos, sondern auch Paros, Andros und andere von Naxos abhängige Eilande, womöglich sogar Euboia, unterwerfen können. Er selbst hoffte dabei, Herr über Naxos zu werden, natürlich als Vasallentyrann der Perser, und sagte weit gehende Unterstützung des Unternehmens zu. Dareios billigte den ihm von Artaphrenes vorgelegten Plan und übertrug dem Megabates die Leitung der Ex pedition. Durch ihr Mißlingen, an dem angeblich ein schwerer Konflikt zwischen Megabates und Aristagoras schuld war, geriet der letztere jedoch in eine Lage, die ihn den Verlust der auf dem Rückhalt am Großkönig beruhenden Tyrannis über Milet befürchten ließ. Er hatte den Artaphrenes schwer enttäuscht ; die Feld zugskosten, die zu tragen er in der gewissen Hoffnung auf einen beutereichen Sieg versprochen hatte, vermochte er nicht aufzubringen, die heimkehrende Streit macht, bei der sich eine Anzahl anderer Vasallentyrannen befanden, war in übler Verfassung und auch der Zwist mit Megabates drohte schlimme Folgen zu zeiti gen. In dieser Situation faßte Aristagoras, vielleicht von dem fernen Histiaios insgeheim ermutigt, nach Beratung mit seiner Umgebung den Entschluß, vorn Perser abzufallen, die Tyrannis über Milet niederzulegen und die kleinasiatischen Griechen, die sich von der Herrschaft des seit 513 über die Meerengen gebietenden Großkönigs bedrückt und eingeengt fühlten, auch des Regimentes der Vasallen tyrannen ledig sein wollten, zur Erhebung aufzurufen. Persönlich mochte der ehrgeizige, gleich seinem Oheim Histiaios verschlagene und abenteuerlustige Mann sich eine weit über Milet hinausreichende FührersteIlung versprechen, die ihm bei Gelingen des Aufstandes große Möglichkeiten des Wirkens eröffnen konnte. Von Milet aus, wohin er offenbar eilends zurückkehrte, ließ er durch einen gewissen Ietragoras die zur naxischen Expedition aufgebotenen, jetzt auf der Rückfahrt begriffenen Tyrannen verhaften, lieferte sie ihren Gemeinden aus und bewirkte auch die Vertreibung der übrigen Stadtherren. Er selbst entäußerte sich der Herr schaft über Milet und führte, das Vertrauen der Milesier zu gewinnen, selbst eine freistaatliche Ordnung (Isonomia) ein. Wenn mit der Ausbreitung der Aufstandsbewegung bis zu den Meerengen im
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Norden und den griechischen Städten auf Kypros im Südosten die perserhörigen Tyrannenherrschaften auch ihr Ende fanden, so spricht doch die Tatsache, daß man die meisten Stadtherren, selbst solche, die von letragoras den Gemeinden überge ben worden waren, unbehelligt abziehen ließ, dafür, daß sie im allgemeinen nicht jenen Haß erregt hatten, wie er sonst beim Sturz von Tyrannen häufig auszubre chen pflegte. Sie scheinen in ihren Städten einen nicht unbeträchtlichen Anhang gehabt zu haben, konnten doch die persischen Feldherren am Vorabend der Schlacht von Lade hoffen, durch sie, die sich größtenteils in ihren Schutz begeben hatten, die aufständischen Gemeinwesen von der Beteiligung an dem Entscheidungs kampf abzubringen, was freilich, obwohl die einstigen Stadtherren sich in diesem Sinne bemühten, nicht gelang. Auch daß es dem Aristagoras möglich war, trotz seiner langjährigen Tyrannis zunächst die Führung der Erhebung zu übernehmen und in dieser Stellung anerkannt zu werden, weist in dieselbe Richtung. Er muß nach der Niederlegung der Tyrannis von den Milesiern entweder zu einem hohen Amt gewählt oder mit besonderen Befugnissen ausgestattet worden sein, die ihm gestatteten, nicht nur in Griechenland persönlich Verhandlungen über eine Unter stützung der Aufständischen zu führen, sondern auch seinem Bruder Charopinos die Führung des heimischen Aufgebotes gegen Sardeis zu übertragen. Selbst als er sich 496 dem katastrophalen Ausgang des von ihm angezettelten Aufstandes entzog und nach Thrakien ging, vermochte er noch sich einen Nachfolger zu be stellen. Daß er bei dem Versuch, sich in dem eins t seinem Oheim geschenkten Ge biet am Strymon zu behaupten, umkam, ist bereits in anderem Zusammenhang erwähnt worden. Weniger für die Tyrannis als Herrschaftsform als für die Art ostionischer Ty rannennaturen sind die letzten Umtriebe und das Schicksal des Histiaios charak teristisch. Mit erstaunlichem Geschick wußte er s ogar nach dem Abfall seines Neffen und dem Angriff der loner auf Sardeis sich die Gunst des Dareios zu er halten, der seiner Loyalität dermaßen vertraute, daß er ihn 496/5 zur Beschwichti gung des Aufstandes nach Kleinasien sandte. Die Rolle, welche Histiaios hier in der Folgezeit spielte, zeugt sowohl von der Zwitterstellung der perserhörigen Ty rannen zwischen ihren griechischen Gemeinwesen und der asiatischen Macht wie von der großen Wendigkeit und Verschlagenheit des Mannes. In Chios, wohin er sich von Sardeis aus wandte, begegnete man ihm begreiflicherweise mit Mißtrauen, ließ sich aber dann überzeugen, daß er zu den Aufständischen halte, und führte ihn vor Milet. Hier jedoch wurde ihm unter dem Eindruck von Aristagoras' schmählichem Abzug und aus Abneigung gegen eine etwaige neue Tyrannis die Aufnahme verweigert, auch gelang es ihm nicht, gewaltsam in die Stadt einzudrin gen. Jetzt ließen die Chier von ihm ab, die Mytilenaier auf Lesbos dagegen wußte er zu bewegen, ihm acht Schiffe zu geben, mit denen er von Byzanz aus, wo man
Milet: Aristagoras. Histiaios' Ende
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ihn offenbar aufnahm, Fahrzeuge, die vom Pontos kamen, kaperte, im besonderen ionische, sofern deren Heimatstädte sich ihm nicht unterordnen wollten. Er ver größerte damit seine Flotte. Eine feindliche Handlung gegen die Perser vermied er bewußt, erregte aber gleichwohl den Verdacht des Satrapen Artaphrenes und anderer Perser. Denn das Ziel, das Histiaios verfolgte, war sichtlich dies, eine tyrannisähnliche Herrschaft über jene Städte zu errichten, die von der Streitmacht des Großkönigs noch nicht unmittelbar bedroht waren, wobei er sich ihnen gegen über als ihr Schütz er aufspielte, jedoch die Möglichkeit offen hielt, im Falle eines entscheidenden Sieges der phönikischen Flotte über die bei Milet konzentrierten Geschwader der Aufständischen sich dem Dareios als denjenigen auszugeben, der bereits eine Anzahl von Städten bezwungen hätte und dafür Belohnung verdiente. Er setzte denn auch nach der Schlacht bei Lade; an der er nicht teilnahm, seine Um triebe fort, indem er mit seiner verstärkten Flotte die Chier überwand, auf der Insel Fuß faßte und von dort aus mit zahlreichen Ionern und Aiolern gegen Tha sos ausfuhr, das nicht zum persischen Herrschaftsbereich gehörte. Als jedoch die Nachricht eintraf, daß die phönikische Armada von Milet nach Norden vor stoße, brach er die bereits begonnene Belagerung der Stadt ab und segelte nach dem ihm willfährigen Lesbos. Daß Histiaios die Insel gegen die Perser verteidi gen wollte, ist weder überliefert noch angesichts der Aussichtslosigkeit eines sol chen Unternehmens wahrscheinlich. Vertrauend auf die Gunst des Dareios wird er gehofft haben, durch übergabe der ihm botmäßigen Plätze sein Verhalten nicht nur rechtfertigen zu können, sondern Dank dafür zu ernten. Aber der König war fern und der Satrap Artaphrenes wie auch der persische Feldherr Harpagos hatten längst des Histiaios Doppelspiel durchschaut. Bei einem Fouragierungszug, den dieser wegen Verpflegungsschwierigkeiten auf Lesbos an der Festlandsküste bei Atarneus unternahm, wurde er von den Truppen des Harpagos angegriffen und, als er sich einem ihn attakierenden Perser zu erkennen gab, da er sich durch Da reios' Wohlwollen geschützt meinte, gefangengenommen. Um jeder Begnadigung oder gar neuen Begünstigung durch den Großkönig zuvorzukommen, ließen ihn Harpagos und Artaphrenes nach Sardeis bringen und dort kreuzigen (494/3 ) . Das abgeschnittene Haupt wurde an den Hof nach Susa gesandt. Dareios soll die Hin richtung des, wie er noch immer meinte, um die persische Sache verdienten Mannes getadelt und eine ehrenvolle Bestattung des ihm überbrachten Kopfes angeordnet haben. Nach der völligen Niederwerfung des Aufstandes haben die Perser im ionischen Festlandsgebiet von einer Erneuerung der Tyrannenherrschaften Abstand genom men. Artaphrenes sicherte den Frieden zwischen den Städten und führte eine neue Steuerordnung ein, Mardonios gab im folgenden Jahre (492) den einzelnen Ge meinwesen demokratische Verfassungen. Die Tatsache, daß die Tyrannen die
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Untertänigkeit der Städte nicht hatten gewährleisten können, daß vielmehr der Wunsch, sie loszuwerden, eines der Motive zur allgemeinen Erhebung gewesen war, hat gewiß in gleicher Weise wie die schlechte Erfahrung, die man speziell mit Aristagoras und in gewissem Sinne auch mit Histiaios gemacht hatte, den persi schen Prinzen zu einer Änderung des Kurses bestimmt. Wenn er dabei sich für die Einrichtung demokratischer, nicht aber oligarchischer Staatsordnungen entschied, so liegt der Gedanke nahe, daß im besonderen die vornehmen Kreise Gegner der persischen Herrschaft und ihrer Organe, der Tyrannen, gewesen waren. Warum auf den vorgelagerten Inseln, Chios und Samos, im Gegensatz zum ionischen Fest land die Tyrannis bestehen gelassen wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Im übrigen ist es nicht ganz unmöglich, daß in den achtziger Jahren, als das 494 zer störte und entvölkerte Milet allmählich wieder erstand, dort noch einmal ein von den Persern eingesetzter oder wenigstens gestützter Tyrann gebot. Nach einer freilich wenig zuverlässigen Nachricht hätten die Lakedaimonier den Tyrannen Aristogenes von Milet vertrieben, was am ehesten nach der Schlacht bei Mykale geschehen sein könnte. 2. INSELN
a) Chios
Von den bei den der ionischen Festlandsküste vorgelagerten Inseln ist Chios im Gegensatz zu Samos für die Geschichte der älteren Tyrannis von geringer Bedeu tung gewesen. Auf der Insel sollen - vermutlich im 7. J ahrhundert- zwei Tyrannen, Arnphiklos und Polyteknos, geherrscht haben, die, wie bereits zu erwähnen war, dem Erythraier Ortyges und seiner Hetairie Heeresmacht liehen, als er das König tum in seiner Heimat stürzte. Da den Namen Amphiklos auch einer der frühen, halbmythischen Könige von Chios trägt, dürften der gleichnamige Tyrann und vermutlich auch Polyteknos dem Königsgesd1lecht angehört haben, so daß es sich bei ihnen wohl nicht um eine usurpierte Tyrannis gehandelt hat, sondern, wie bei dem Haus des Melas in Ephesos, um das Regiment der alten Herrscherfamilie, das anscheinend zeitweise unterbrochen war und infolge seiner gewaltsamen Erneue rung mit fremder Hilfe als Tyrannis erscheinen konnte. Spätestens seit dem zwei ten Viertel des 6. Jahrhunderts bestand in Chios eine frei staatliche Verfassung, die, soweit sich erkennen läßt, in vorpersischer Zeit von keinem Tyrannen verge waltigt worden ist. Daß Kyros, als sich die Chier ihm freiwillig unterstellten, einen Stadtherrn eingesetzt oder begünstigt hat, ist wenig wahrscheinlich; jeden falls treffen wir einen solchen erst bei Dareios' Skythenzug in der Person des Strattis an. Wie die übrigen ionischen Tyrannen mußte auch er beim Ausbruch des großen Aufstandes weichen, konnte aber nach dessen Zusammenbruch und
Chios. Samos. Polykrates
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einer kurzen Herrschaft des Histiaios zurückkehren und noch dreizehn Jahre lang über das Gemeinwesen gebieten. Von der Ausschaltung der Tyrannen auf dem Festland durch Mardonios wurde er nicht betroffen. Erst nach der Schlacht von Salamis bildete sich eine Verschwörung gegen ihn, deren Teilnehmer, als sie ver raten wurden, sich nach Sparta, dann nach Aigina, dem Sammelplatz der helleni schen Flotte im Frühjahr 479, begaben und die Griechen zur Befreiung Ioniens aufforderten. Nach dem Siege bei Mykale fand denn auch die Tyrannis des Strattis ihr Ende. b) Samos
Die schon in hocharchaischer Zeit dank ihrer Fruchtbarkeit, dem regen Gewerbe und einem weitgespannten Handel wirtschaftlich blühende Insel Samos ist vor der Mitte des 6. Jahrhunderts mehrfach von inneren Kämpfen heimgesucht worden. Wir hören von drei Staatsstreichen : ein Demoteles· gewann für einige Zeit die Tyrannis, offenbar im Gegensatz zu dem grundbesitzenden Adel der Geomoren. Zum zweiten Male wurde deren Macht durch die Anführer der im Krieg mit den Megarern um Perinth siegreichen Flotte gestürzt. Schließlich soll der volks freund liche Syloson, Sohn eines Kalliteles, den ihm für einen Krieg gegen die Aioler übertragenen Oberbefehl zu listiger Gewinnung der Alleinherrschaft genutzt ha ben. Die Tyrannis dieses Mannes mag in die Zeit um 560 fallen, als - vielleicht dank seiner Initiative - der ältere Riesentempel der Hera, der Bau des Rhoikos und Theodoros, aufgeführt wurde. Es folgten vermutlich wiederum Wirren, zu deren Schlichtung man möglicherweise einen Aisymnetes namens Phoibias be stellte. Daß die Samier wie die Chier die Oberhoheit des Kyros anerkannten, als er das nahe Festland, wo sie selbst Besitzungen hatten, mit Ausnahme Milets in Untertänigkeit brachte, bezeugt Herodot, doch hat der Mann, der sich einige Jahre später, etwa um 538, zum Tyrannen von Samos machte, weder mit Unter stützung durch den Perser die Macht gewonnen noch sich als des Großkönigs Untertan angesehen. Polykrates Polykrates, vielleicht ein Enkel oder Großneffe des genannten Syloson, war der Sohn eines Aiakes. Der Vater, der mit dem gleichnamigen Sohn des Brychon, wel cher der Hera eine Sitzstatue weihte, schwerlich identisch ist, hat offenbar nicht die Tyrannis innegehabt; das scheint aus der Art, wie Polykrates die Herrschaft ge wann, hervorzugehen. Denn dieser scharte um sich eine Hetairie von Standes ge nossen, die er angeblich durch große Freigebigkeit für sich gewann, und bemäch tigte sich mit ihnen sowie seinen Brüdern Pantagnostos und Syloson gewaltsam der Stadt Samos (um 538). Es heißt, daß er beim großen Fest der Hera, als die Bür ger, die gewaffnet zu dem anderthalb Stunden entfernten Heiligtum hinausge-
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zogen waren, ihre Waffen dort niedergelegt hatten, sie überfallen ließ und un mittelbar darauf die von wehrfähigen Männern entblößte Stadt durch Besetzung der wichtigsten Punkte, vor allem der Burg Astypalaia, in seine Hand brachte. Die jäh gewonnene Macht zu sichern, befestigte er die Akropolis und erbat mili tärische Hilfe von dem wenige Jahre zuvor durch Peisistratos über Naxos gesetzten Lygdamis, der ihm auch Truppen sandte. Entwaffnung, Besetzung der Burg, frem de Hilfe: es waren dieselben Mittel, die Peisistratos angewandt hatte, als er nicht lange zuvor von Athen Besitz ergriff. Verlautet auch nichts davon, daß Polykra tes zuvor Führer einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, sei es der Kleinbauern, sei es der ärmeren Stadtbevölkerung, gewesen sei, und könnte die Usurpierung der Macht mit Hilfe einer Hetairie sogar dagegen sprechen, so ist doch im Hin blick auf die sozialen Spannungen im Samos des 6. Jahrhunderts und manche spätere Maßnahmen des Tyrannen wahrsdleinlich, daß er die wieder ans Regi ment gelangten Geomoren stürzte und auf Anhängerschaft, mindestens Duldung der unteren Schichten rechnete. Einige Zeit, anscheinend bis etwa 532, haben die drei Brüder die Herrschaft gemeinsam geführt; dann ließ Polykrates den Pantagnostos umbringen und vertrieb den Syloson, der sich an den Hof des Perserkönigs begab. Die durch einen Gewaltstreich begriindete Tyrannis ruhte auch weiterhin auf Gewalt und bedurfte daher einer starken Söldnertruppe. Es werden denn auch von Herodot gelegentlich tausend Bogenschützen im Dienste des Machthabers ge nannt. Was des Polykrates Stellung zum Gemeinwesen der Samier betrifft, so stand er zwar mit seiner eigenen Streitmacht selbständig neben ihm, doch ist es möglich, daß er zugleich dauernd ein normalerweise auf ein Jahr befristetes Ober amt bekleidete, kraft dessen er das Bürgeraufgebot befehligte. Letzteres war mindestens in den späteren Jahren - der Fall. Die Entwaffnung der Samier ist mit hin keine ständige gewesen, sondern nach Festigung des Regiments, als anschei nend weite Kreise der Bevölkerung angesichts der materiellen Vorteile, welche Polykrates' Seeherrschaft und seine großartige Bautätigkeit auf Samos ihnen bradl te, aufgehoben worden. Die Zahl der Gegner war freilich auch dann nicht gering. Zu ihnen werden vor allen die Geomoren und andere reiche Männer gehört haben, die der Gewalthaber zu Leistungen besonderer Art heranzog, etwa indem er ihnen den Unterhalt der Mütter von in Kriegen gefallenen armen Leuten aufbürdete oder von ihnen Geld für seine kostspieligen architektonischen Werke forderte. Er mochte damit zugleich der Gefahr begegnen wollen, die ihm etwa aus dem großen Reichtum mancher Geschlechter erwachsen konnte. Auch an Verbannungen von Angehörigen dieser Kreise hat es nicht gefehlt. Andere verließen in Erbitterung über die Gewaltherrschaft freiwillig die Insel. Sie scheinen sich meist nach Unter italien gewandt zu haben. Dorthin ging der berühmte Pythagoras, dort gründeten an der Stelle des späteren Puteoli Samier, unter denen sehr wahrscheinlich Emi-
Polykrates und die Samier. Seeherrschaft
granten zu verstehen sind, um 526 eine Pflanzstadt mit Namen Dikaiarcheia. Der Tyrann andererseits beobachtete mit stetem Mißtrauen die oberen Schichten, er ließ sogar die Ringschulen (Palaistren) aufheben aus Furcht, daß dort im vertrau lichen Verkehr sich Komplotte gegen seine Herrschaft bilden könnten. Das niedere Volk, das vermutlich die Entmachtung der Geomoren begrüßte, wurde dagegen durch Maßnahmen wie die Versorgung der Kriegermütter gefördert und fand er wünschte neue Verdienstmöglichkeiten bei den Bauten oder im Dienst auf der Flotte. Die Flotte nämlich, die er bei seinem Staatsstreich vorfand, brachte Polykrates auf hundert Fünfzigruderer und mindestens vierzig Trieren. Auch ließ er einen neuen Schiffstyp, die sogenannte Samaina, konstruieren, der mit seinem stump fen, einem Schweinerüssel ähnlichen Bug und einem geräumigen Rumpf als Segler über das offene Meer verwendet werden konnte. Der Hafen von Samos wurde durch eine riesige Mole gesichert und erweitert. Seeraub hatten die Samier stets getrieben, Polykrates jedoch übte ihn in ungewöhnlichem Ausmaß und gewann eine See herrschaft, wie sie nach den Worten des Herodot außer Minos und anderen Köni gen der Vorzeit noch niemand besessen hatte. Alle Inseln und Festlandsküsten suchte er mit seinen Geschwadern in weitem Umkreis heim, wobei er, wie es heißt, zynisch erklärte, die betroffenen Freunde würden ihm für die Rückgabe des Rau bes dankbarer sein, als wenn sie gar nicht beraubt worden wären. Darüber hinaus brachte der Tyrann zahlreiche Städte auf den Inseln und an den Gestaden Klein asiens in seine Gewalt, ja er scheint gehofft zu haben, die Ägäis beherrschen zu können. Gut bezeugt ist von einzelnen Unternehmen ein Krieg gegen das nahe Milet, dem die Lesbier zu Hilfe kamen, deren Mannschaft jedoch von Polykrates gefangengenommen und als Arbeitskräfte bei der Ummauerung der Stadt Samos eingesetzt wurde. Ob er die Milesier selbst überwand, erfahren wir nicht, dagegen berichtet Thukydides, daß er das Delos benachbarte Eiland Rheneia sich aneignete, es dann aber dem delischen ApolIon weihte, indem er es durch eine Kette mit der heiligen Insel verband. Über diese und die auf ihr gefeierten Feste, die er angeb lich durch Stiftung eines Agons bereicherte, scheint er, wohl als Haupt der Am phiktyonen, eine Art von Protektorat ausgeübt zu haben, um die Gunst ApolIons nicht minder bemüht als um die der heimischen Hera. Und wirklich sah es so aus, als wären die Götter seiner Machtentbltung, seiner Vergewaltigung von Schiffen und Städten, der nach allem, was sich erkennen läßt, kein konstruktiver politischer Gedanke, sondern nur das Verlangen nach Mehrung seines Reichtums und Aus weitung seiner persönlichen Herrschaft zugrunde lag, in seltener Weise hold. Wo hin er seine Piratenfahrten und Kriegszüge richtete, alles geriet ihm nach Wunsch, so daß fast mehr noch als seine Gewalttaten sein unerhörtes Glück die Gemüter der Zeitgenossen erregte. Die berühmte Geschichte vom Ring des Polykrates, der
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sich im Magen eines gefangenen Fisches wiederfand, ist zwar so, wie wir sie bei Herodot lesen, von dem im 5. Jahrhundert verbreiteten Glauben an den Neid der Götter bestimmt, dem sich der allzu Glückliche durch ein freiwilliges Opfer ent ziehen soll, aber daß der Tyrann auf wunderbare Weise wieder in den Besitz des Juwels kam, ist offenbar alte Tradition und, da sogar der Verfertiger des Ringes, der Architekt Theodoros, genannt wird, nicht ganz unglaubwürdig. Kaum minder als das erstaunliche Glück des Piratenfürsten bewunderten Mit und Nachwelt die großzügige Verwendung seines außerordentlichen Reichtums, die Ausmaße und den Glanz seiner Bauten, die Pracht und Üppigkeit seines Hof haltes. «Kein hellenischer Tyrann, außer den sizilischen, ist an großartigem Auf wand mit Polykrates zu vergleichen«, urteilt Herodot. Waren die Ausgestaltung des Hafens, der Bau von Schiffshäusern und die Befestigung der Stadt Samos mit Mauer und Graben durch die notwendige Sicherung des Zentrums der Seeherr schaft bedingt, so sollte die Errichtung eines neuen Riesentempels im Heraheilig turn außerhalb der Stadt, der den nicht lange zuvor aufgeführten, aber kurz nach seiner Vollendung durch Feuer zerstörten Bau des Rhoikos und Theodoros zu er setzen bestimmt war, dem Tyrannen die Gunst der Göttin erhalten und mehren. Dem persönlichen Bedürfnis des Herrschers nach Prunk und Darstellung seiner Macht diente ein prächtiger Palast, dessen Wiederherstellung noch nach einem halben Jahrtausend der römische Kaiser Gaius, wohl im Gefühl einer inneren Ver wandtschaft mit dem genialischen Erbauer, befahl. Die Anlage einer Wasserlei tung zur Stadt erinnert an ähnliche Werke des Periandros, Theagenes und Peisi stratos, doch übertraf sie diese als technische Leistung weit. Denn der Ingenieur Eupalinos aus Megara trieb durch den nördlich der Siedlung aufragenden Berg einen Stollen von mehr als einem Kilometer Länge, in dem neben dem Gang ein Graben mit Röhren lief, durch den von einer starken Quelle aus das Wasser ge leitet wurde. Wie die Hafenmole und die «Samaina» zeugt dieses große Werk von dem starken technischen Interesse des fortschrittlich gesinnten, ra tional planenden Tyrannen, der auch sonst allenthalben auf praktische Neuerun gen bedacht war. So bemühte er sich um die Verbesserung der Rasse seiner Jagd hunde durch Erwerb lakonischer und molossischer Hündinnen und suchte die Kleinviehzucht durch Einfuhr von Ziegen aus Naxos, Schafen aus Milet zu heben. Durch diese Maßnahmen wurde zugleich der in Samos betriebenen Wollmanu faktur gedient. Denn auch hier sind es vor allem die Gewerbetreibenden gewesen, denen das Ty rannenregiment zugute kam, während von einer Begünstigung der Bauern, sofern man nicht die Förderung der Kleinviehzucht in diesem Sinne deuten will, nichts verlautet. Schon die vielen Aufträge, welche für die großen Bauten vergeben wur den, brachten Handwerkern aller Art Beschäftigung und Gewinn. Darüber hinaus
Polykrates: Bauten. Einrichtungen. Hofhalt
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konnten noch andere Kreise der städtischen Bevölkerung bei diesen Arbeiten Ver dienst finden, und den Armen war zudem Gelegenheit gegeben, als Ruderer oder als Söldner des Machthabers ihr Brot zu verdienen. Für die Städter waren im übrigen auch einige der großen Anlagen des Polykrates bestimmt : sowohl die Wasserleitung wie die sogenannte Laura, eine Art von orientalischem Bazar - sie hatte ihr Vorbild in Sardeis -, in deren Winkeln sich die «Blumen von Samos » , wie man die Dirnen nannte, den Besuchern anboten. Daß der Außenhandel, der seit früher Zeit die Insel mit nahen und fernen Ländern, im besonderen mit Ägyp ten, verband, unter der Seeherrschaft des Tyrannen blühte, ist nicht zu bezweifeln. Konnte der große Pirat doch durch Zusicherung ungestörter Fahrt Handelsschiffe nach seiner Stadt locken, wo dann zwar Zölle und Hafengebühren zu bezahlen waren, die Ladung aber nicht durch Raub verloren ging. Auch ohne eine gelegent liche Bemerkung in der Überlieferung müßten wir ferner annehmen, daß Poly krates die Münzprägung weitgehend an sich zog. Den eigenen Namen setzte er freilich so wenig wie andere Tyrannen auf die Geldstücke, doch wurde auf ihnen jetzt der neue, von ihm eingeführte Schiffstyp der «Samaina» angedeutet, was zur Folge hatte, daß fortan diese samische Münze schlechthin als «Samaina» bezeich net zu werden pflegte. Sagte man allgemein den Ionern des 6. Jahrhunderts nach, daß sie lydischer Weichheit und Üppigkeit ergeben seien, so im besonderen dem Polykrates, für den diese Lebensart, die Tryphe, charakteristisch schien. Den Anlaß dazu gab der luxuriöse Hofhalt des Tyrannen. Nicht genug Frauen und schöne Knaben konnte er, wie es heißt, in seine Umgebung ziehen, Künstler der verschiedensten Art rief er herbei und zahlte ihnen fürstlichen Lohn. So erhielt der berühmte Arzt Demo kedes aus dem unteritalischen Kroton, der vorher im Dienst des aiginetischen und des athenischen Gemeinwesens tätig gewesen war, das ungewöhnlich hohe Jahreshonorar von zwei Talenten. Nicht minder großzügig werden die gefeierten Dichter, die wir an seinem Hofe finden, Anakreon aus dem nahen Teos und Iby kos aus dem fernen Rhegion, von ihm bedacht worden sein. Anakreon, der bei der Einnahme seiner Vaterstadt durch die Perser (545) mit seinen Mitbürgern nach Abdera entwichen war, kam von dort zu Polykrates. Hier besang er in zarten Liedern die Frauen und namentlich die Liebesknaben in der Umgebung des Ty rannen, selbst von päderastischer Leidenschaft erfüllt, die angeblich zu Konflikten mit dem Machthaber als seinem Rivalen führte. Auch die innenpolitischen Ver hältnisse unter der Tyrannis hat er in seinen Gedichten berührt und sich vielleicht schon vor Polykrates' Sturz zu den Peisistratiden nach Athen begeben. Ibykos, der in seiner Heimat angeblich selbst hätte Tyrann werden können, wetteiferte mit dem Teier in Liebesliedern und feierte sowohl die Schönheit des Polykrates wie seine Seeherrschaft in der Ägäis. Der «Musenhof» des Peisistratiden Hipparchos
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hat in dem des samischen Tyrannen sein Vorbild, der als erster Dichter, Seher, Ärzte, bildende Künstler um sich scharte, wohl nicht nur aus Eitelkeit und Ruhm sucht, sondern weil er den Umgang mit ihnen liebte und empfänglich war für ihre Kunst. Soll er doch auch, etwa gleichzeitig mit Peisistratos, eine Bibliothek angelegt haben, in der die poetischen Schöpfungen der Vergangenheit und Gegen wart bewahrt wurden. Man begreift, daß die Gestalt des vielfach schillernden, dämonischen Mannes trotz seiner immer wieder hervorbrechenden Brutalität, die Bewunderung der Zeit genossen, im besonderen der für solche Erscheinungen aufgeschlossenen Ioner, erregte, wie sie noch in Herodots Erzählung spürbar ist. Seine verwegene Persön lichkeit, seine seebeherrschende Macht, sein märchenhaftes Glück und die Pracht seines Hofhaltes konnten selbst den Glanz der Satrapenhöfe verdunkeln. Wie aber stellte sich die persische Regierung und namentlidl der in Sardeis residierende Statthalter zu ihm ? Sah man dem eigenmächtigen Schalten des Tyrannen einer formal den Persern untertänigen Stadt und dem Entstehen einer selbständigen Seeherrschaft, sah man der Aufnahme flüchtiger lydischer Untertanen und der Vergewaltigung eigener oder - wie Milet - verbündeter Städte zu, ohne wirksame Gegenmaßnahmen zu treffen? Man tat es, denn es fehlte, da die Geschwader der griechischen Gemeinwesen des persischen Bereiches kaum gegen ihn mit Erfolg ein zusetzen waren, eine schlagkräftige Flotte, lind abgesehen davon, daß Kyros wäh rend seiner letzten Jahre im fernen Osten, Kambyses dauernd im Orient gebun den war, verstand es Polykrates durch geschickte Politik die Gefahr eines Eingrei fens der phönikischen Flotte zu bannen. Er schloß Gastfreundschaft mit Amasis, dem Könige Ägyptens, der gleich ihm ein Usurpator war und in natürlichem Ge gensatz zu der expansiven, auch sein Land bedrohenden Macht der Perser stand. Die Art jedoch, wie der Tyrann von Samos ohne Rücksicht, ob Feind oder Freund, seinen Seeraub betrieb, vielleicht auch Beschwerden nach Naukratis geflüch teter Samier über sein Gewaltregiment, führten, da Proteste des Amasis un beachtet blieben, zum Bruch zwischen ihm und Polykrates. Möglich, daß die ser bewußt darauf hinwirkte, als er sah, daß Kyros' Sohn und Nachfolger Kambyses die Eroberung Ägyptens vorbereitete. Denn vorteilhafter, als dem be drohten Herrn des Nillandes beizustehen, mochte es ihm jetzt scheinen, auf die Seite des Gegners zu treten, um auf diese Weise die Anerkennung seiner weitge spannten Herrschaft durch den Perserkönig zu erreichen. Nach Abschluß entspre chender Verhandlungen sandte Polykrates dem Kambyses für sein Unternehmen vierzig Trieren und benutzte, wie es heißt, diese Gelegenheit, eine Anzahl unzu friedener Bürger aus Samos zu entfernen, mit denen er die Schiffe bemannen ließ, während er zugleich den Großkönig ersuchte, diese Leute nicht wieder in die Hei mat zu entlassen. Es kam jedoch anders, als der Tyrann erwartet hatte. Entweder
Polykrates: Außenpolitik. Opposition
schon auf der Hinfahrt, von Karpathos aus, oder erst von Ägypten kehrte die Mannschaft eigenmächtig nach Samos zurück und vermochte sogar in einem sieg reichen Seegefecht die Landung auf der Insel zu erzwingen. Dort freilich wurde sie geschlagen, so daß sie wieder aufs Meer flüchten mußte. Wie so oft scheiterte der Versuch einer gegen die Tyrannis aufbegehrenden Gruppe, aus eigener Kraft das Gewaltregiment zu stürzen, an dessen überlegenen Machtmitteln und wohl auch an dem Rückhalt, den es damals noch in der städtischen Menge besessen zu haben scheint. Die mißlungene Erhebung hatte grausame Maßnahmen des Ty rannen zur Folge. Sogar Frauen und Kinder am Aufstand unbeteiligter Samier soll er als Geiseln in die Schiffshäuser eingeschlossen haben, um dadurch für den Fall eines neuen Angriffs den übertritt ihrer Männer und Väter zu den Aufständischen zu verhindern. Ein solcher Angriff erfolgte in der Tat. Denn die aus Samos entwichenen Em pörer fuhren nach der Peloponnes und riefen Spartas Hilfe an, die ihnen auch ge währt wurde. Wieweit die Lakedaimonier sich von alten Verpflichtungen gegen über dem Gemeinwesen der Samier, wie weit von Tyrannenfeindschaft und dem Wunsche, der Piraterie des Polykrates ein Ende zu machen, leiten ließen, bleibt unklar; der übertritt des Tyrannen auf die Seite der Perser dürfte schwerlich für ihr Eingreifen bestimmend gewesen sein. Für die Korinther, die an dem Kampfe teilnahmen und mit ihren Schiffen die Hauptlast des Unternehmens trugen, bil dete gewiß die den Handel beeinträchtigende Piraterie und Seeherrschaft den Haupt grund. Es gelang, Lygdamis von Naxos, der einst Polykrates unterstützt hatte und offenbar noch immer in enger Verbindung mit ihm stand, zu stürzen und die Belagerung der Stadt Samos zu beginnen. Schon war einer der Mauertürme er stiegen, als der Tyrann mit einer starken Schar die Lage rettete. Die Spartaner, im Belagerungskrieg unerfahren, konnten zwar noch belanglose Einzelerfolge er zielen, sahen sich aber nach vierzig Tagen zum Abzug genötigt (um 524/3). Die Erzählung, der listige Polykrates habe sie bestochen und dabei mit vergoldeten Bleimünzen betrogen, schien schon dem Herodot unglaubwürdig. Während die abermals enttäuschten samischen Exulanten unter mannigfachen Abenteuern im Bereich der Ägäis eine neue Heimat suchten und schließlich auf Kreta von Aigineten und Kydoniern versklavt wurden, bereitete sich der jähe Sturz des bisher vom Glück so begünstigten Gewalthabers vor. Der Satrap zu Sardeis Oroites faßte, angeblich durch den Satrapen von Daskyleion angestachelt, den Entschluß, den seebeherrschenden Tyrannen, der durch hochmütiges Verhal ten oder auch durch einzelne Maßnahmen seinen besonderen Groll erweckt haben soll, zu stürzen und Samos dem Großkönig völlig zu unterwerfen. Er glaubte sich von diesem Dank und Ehren erhoffen zu können, zumal da Kambyses nach der Eroberung Ägyptens (525) keinen Grund mehr hatte, auf Polykrates Rück-
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sicht zu nehmen. Mit militärischer Macht war schwer etwas auszurichten, das hatte jüngst der Mißerfolg der Peloponnesier gezeigt. So griff Oroites zur List, indem er Polykrates bat, ihn, dem der König nach dem Leben trachte, mit seinen Schätzen bei sich aufzunehmen. Die Hälfte dieser Schätze solle dann dem Tyran nen zur Verfügung stehen, der damit instand gesetzt werde, seine Herrschaft er heblich auszudehnen. Es scheint, daß Polykrates dem Angebot glaubte und sich zur Aufnahme von Unterhandlungen verlocken ließ. Jedenfalls sandte er zu nächst seinen Sekretär Maiandrios, um des Oroites Geldmittel in Augenschein zu nehmen, und begab sich, nachdem die Prüfung ein befriedigendes Ergebnis ge bracht hatte, mit seinem Gefolge, in dem sich auch der Arzt Demokedes befand, persönlich zu dem Perser nach dem nahen Magnesia. Der Satrap jedoch nahm ihn sofort gefangen und ließ ihn «auf eine nicht zu erzählende Weise» umbringen. Der Leichnam wurde ans Kreuz geschlagen. Aus seinem Gefolge wurden die Sa mier in ihre Heimat entlassen, die übrigen in die Sklavenschar des Oroites ein gereiht. Es war ein grausiges Ende, so dramatisch und unerhört, wie Leben u,1d Wirken dieses verwegenen Mannes gewesen war, in dem die Tyrannis ostionischer Prägung ihren großartigsten und furchtbarsten Ausdruck gefunden hatte. Tyrannen nach Polykrates Bei seiner Abreise nach Magnesia hatte Polykrates den genannten Maiandrios mit der Wahrnehmung der Herrschaft betraut. Dieser muß nach dem Tode des Tyrannen die Unmöglichkeit eingesehen haben, seinerseits die Nachfolge anzu treten, hatte er doch nicht nur mit einer Intervention des Satrapen, sondern auch mit dem Widerstand der Bevölkerung auf Samos zu rechnen, wo nach den Grau samkeiten des Polykrates während des Aufstandes auch die ihm einst nicht feind lichen Kreise von einer neuen Tyrannis nichts wissen wollten. Er sagte sich daher von dessen Andenken los, weihte den prächtigen Schmuck aus dem Männersaal des Palastes der Hera, ließ Zeus, dem Befreier, eir, Heiligtum errichten und er klärte sich bereit, die Herrschaft niederzulegen, damit eine freistaatliche Ordnung (Isonomia) Platz greifen könne. Allerdings verlangte er für sich persönlich sechs Talente aus Polykrates' Vermögen und das Priestertum des Befreiers Zeus, das ihm als dem Wiederhersteller der Freiheit und Errichter des Heiligtums gebühre. Als man dies jedoch ablehnte, vielmehr Rechenschaft über den Besitz des toten Ty rannen forderte, an dem er sich vergriffen hätte, zog sich Maiandrios in die Burg zurück und brachte durch List die Häupter der Opposition in seine Gewalt. Sie wurden nicht lange darauf, als er selbst krank lag, von seinem Bruder Lykaretos umgebracht, der auf den Tod des Maiandrios hoffte, um dann Samos in seine eige ne Hand zu bringen. Aber Maiandrios genas und sah sich bald einer doppelt schwierigen Situation gegenüber, als nach der Thronbesteigung des Dareios die
Polykrates' Ende. Nachfolger
Perser unter dem Feldherrn Otanes Anstalten machten, den noch immer am Kö nigshof lebenden Bruder des Polykrates, Syloson, als abhängigen Tyrannen über Samos zu setzen. Maiandrios und sein Anhang erklärten sich daher nach Landung der persischen Truppen bereit, gegen Zusicherung freien Abzuges die Insel zu räu men. Der Vertrag war bereits geschlossen und eine Anzahl vornehmer Perser schon in die Stadt gekommen, als - so berichtet wenigstens Herodot - ein angeb lich schwachsinniger und darum gefangen gesetzter zweiter Bruder des Maian drios, Charileos, mit dessen Zustimmung die vornehmen Perser durch rasch be waffnete Haufen niedermachen ließ. Bald aber wurden Charileos und seine Scha ren von den Truppen des Otanes in die Burg zurückgedrängt und dort anschei nend überwältigt, während Maiandrios mit seinen Schätzen sich durch einen un terirdischen Gang retten und nach Lakonien segeln konnte, wo er vergeblich den König Kleomenes für sich zu gewinnen suchte. Lykaretos war, wie seine spätere Verwendung als Gouverneur von Lemnos zeigt, offenbar rechtzeitig zu den Per sern übergegangen, welche die samische Bevölkerung, die sich gegen eine Erneue rung der Tyrannis der Polykratesfamilie gewandt und den Charileos unterstützt zu haben scheint, furchtbar heimsuchten. Es war eine stark entvölkerte Insel, die Syloson, nachdem die Soldaten des Otanes das Land mordend durchstreift hatten, als Vasall des Großkönigs übertragen erhielt. In der Folgezeit mußten aus Mangel an Bürgern selbst freigelassene Sklaven mit vollen Rechten in das Gemeinwesen aufgenommen werden. Nur kurze Zeit hat Syloson über Samos geherrscht. Ihm folgte sein nach dem Großvater Aiakes genannter Sohn, der 51:4 unter den Vasallentyrannen an der Donaubrücke erscheint. Wie die anderen Stadtherren mußte auch er zu Beginn des Ionischen Aufstandes weichen, obwohl sein Regiment ihn nicht verhaßt ge macht hatte. Konnte er doch kurz vor der Schlacht bei Lade die Mehrheit der sa mischen Schiffskommandanten bewegen, sich von der Flotte der Aufständischen zu trennen, um ihre Heimat vor neuerlicher Verwüstung, die nach dem sicheren Siege der Perser drohen würde, zu bewahren. Freilich verließ ein beträchtlicher Teil der begüterten Samier damals lieber die Insel, um auf Sizilien eine neue Wohnstätte zu suchen, als daß er eine abermalige Unterwerfung unter die asiati sche Macht und eine Wiederherstellung der Tyrannis des Aiakes hingenommen hätte. Diese erfolgte nun in der Tat. Ja, selbst nach dem Tode des Aiakes, der 480 oder kurz zuvor gestorben zu sein scheint, erhielt Samos, wiewohl auf dem ioni schen Festland die Tyrannen schon 493 entfernt worden waren, einen neuen Herrn. Es war Theomestor, der sich als Führer einer samischen Triere in der Schlacht von Salamis ausgezeichnet hatte und zum Lohn dafür die Tyrannis über die Insel be kam. Hinter seinem Rücken knüpften die Samier im folgenden Jahre mit der sieg reichen Griechenflotte bei Delos Verhandlungen an und leisteten ihr schon vor
Die Westküste Kleinasiens
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dem Kampf am Mykalegebirge Zuzug. Theomestor, der offenbar nicht der Poly kratesfamilie angehörte, muß damals gestürzt worden sein. )
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C H ARAKT E R D E R TY RANNI S I N I O N I EN
Überblickt man die zahlreichen, uns freilich nur unzureichend bekannten Ty rannenherrschaften im ionischen Bereich, so ist kaum zu verkennen, daß für ihr Aufkommen Spannungen und Kämpfe zwischen Adel und niederem Volk im all gemeinen eine viel geringere Rolle gespielt haben, als dies im Mutterland der Fall war. Das wenige, was wir von der sozialen und wirtschaftlichen Entwick lung der Gemeinwesen erfahren, scheint nur selten in einem ursächlichen Zusam menhang mit der Tyrannis zu stehen, die in der Geschichte dieser Städte nicht Epoche macht, sondern eher gleich einem immer wieder aufklingenden Motiv das politische Leben durchzieht. Damit soll weder geleugnet werden, daß für ihre Er richtung und Behauptung die Haltung der nichtadligen Schichten von Bedeutung war, nodl daß diese, im besonderen die Gewerbetreibenden und überhaupt die Städter, von manchen der Gewalthaber zumindest indirekt gefördert wurden. Aber es scheint doch bemerkenswert, daß von kaum einem der ionischen Tyran nen berichtet wird, er sei als Demagoge zur Macht gekommen oder habe in ihrem Besitz die sozialen Zustände grundsätzlich geändert. Daher ist wohl auch die Aus einandersetzung mit den vornehmen Standesgenossen zumeist nicht von der Schärfe prinzipieller Kämpfe gewesen, handelte es sich doch mehr um die Ab lösung der Herrschaft der alten Königssippe oder gewisser Adelsfaktionen durch das Regiment eines einzelnen Mannes und seiner Hetairie als um einen revolu tionären Umsturz mit weitreichenden sozialen Folgen. Wenn Aristagoras schließ lich den Milesiern die Isonomia gab, Maiandrios sie den Samiern wenigstens ge ben wollte, so geschah es bloß, weil beide die Tyrannis nicht behaupten konnten und durch diesen Akt sich neue Möglichkeiten leitenden Wirkens verschaffen oder auch nur einen ansehnlichen persönlichen Besitz sichern wollten. Von keinem der ostionischen Gewalthaber ist die Geschichte ihrer Polis ähnlich tiefgehend be einflußt worden wie durch die Kypseliden, Orthagoriden oder Peisistratiden die jenige von Korinth, Sikyon oder Athen. Ihre Herrschaft trug vielmehr, wie ge legentlich schon zu bemerken war, ephemeren Charakter. Vom Verhältnis der Tyrannen zum politischen Organismus der von ihnen be herrschten Gemeinwesen wissen wir leider sehr wenig, doch scheint sich immer hin so viel zu ergeben, daß in Ionien Stadtherr und Polis sich nicht so eindeutig wie im Mutterland, zumal in Athen, als eigenständige Größen gegenübertraten. Es lag dies wohl zu einem Teil daran, daß den kleinasiatischen Griechen der Wille zu freier staatlicher Selbstformung in geringerem Maße eigen war als den Helle-
Charakter der Tyrannis in Ionien
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nen jenseits der Ägäis. Zwar hat es an freistaatlichen Ordnungen nicht gefehlt, wie unter anderem die inschriftlich bezeugte Verfassung von Chios beweist, auch sind bisweilen Aisymneten bestellt worden, und Heraklit, freilich ein Außensei ter, konnte fordern, daß das Volk für seine Gesetze kämpfen solle wie für seine Mauern. Aber bezeichnenderweise haben sowohl die Ephesier wie die Milesier Ordner des Staates von auswärts geholt. Von einem zielstrebigen Ringen um Ver wirklichung der besten Form der Polis ist bei den mehr ihrem privaten Lebensbereich hingegebenen Ionern wenig zu spüren. Ihre Gemeinwesen ermangelten unter die sen Umständen in noch höherem Maße als die archaischen Stadtstaaten des Mut terlandes der Geschlossenheit: adlige Herren wie der aus einer Inschrift bekannte chares von Teichiussa konnten sich als Fürsten fühlen und das Oberarnt der Po lis, wenn es ihnen übertragen wurde, als einen einträglichen persönlichen Besitz ansehen. So ist es verständlich, daß nach dem bereits erwähnten Zeugnis des Ari stoteles in Ionien mehrfach die Führung eines Oberamtes zur Errichtung der Ty rannis benutzt wurde, wofür wir infolge der Dürftigkeit der überlieferung ein sicheres Beispiel allerdings nur in Thrasybulos von Milet haben. Die Kombinie rung von tyrannischer Machtstellung mit einem legalen Amt des Gemeinwesens, dessen dauernde Beibehaltung freilich illegal und insofern auch tyrannisch ist, be gegnet ähnlich bei Polykrates. Etwas anders, aber doch vergleichbar liegen die Dinge, wenn, wie verschiedentlich zu erwähnen war, Angehörige des alten Kö nigsgeschlechtes einer Stadt sich wieder in den Besitz der Herrschaft setzten, die ihrem Hause verlorengegangen war. Denn auch hier verquickt sich reine Tyran nis mit einer wenigstens einstigen Amtsgewalt. Daneben wird es auch Macht haber gegeben haben, die kein leitendes Amt der Polis für sich in Anspruch nah men, etwa die Tyrannen von Erythrai, die mit fremder Hilfe die Herrschaft ge wannen, wie denn in Ionien wohl mit den verschiedensten Spielarten der Tyran nis zu rechnen ist. Aufs Ganze gesehen ist für die Tyrannis in diesem Bereiche denn auch weniger ihre politische Form kennzeichnend als die Art, wie die Stadtherren von ihrer Gewalt Gebrauch machten. Hier nun zeigt sich, daß der den Ionern eigene Individualismus, ihre Neigung, sich auszuleben und die sinnlichen Freuden des Daseins zu genießen, daß ferner die Verwegenheit und Abenteuerlust, die Klugheit und Wendigkeit dieses hoch begabten Stammes sich bei denen, die zu monarchischer Macht gelangten, unge hemmt und in einigen Fällen großartig entfalten konnten. Von verantwortungs bewußter Regierung dagegen findet sich, abgesehen von den zugleich der Behaup tung der eigenen Herrschaft dienenden Kriegen gegen auswärtige Feinde, kaum eine Spur. Auch Polykrates' Bauten und wirtschaftliche Neuerungen entsprangen letztlich egoistischen Absichten und persönlichen Neigungen, mochten sie auch einem Teil der Bevölkerung zugute kommen. Noch unverhüllter als an den Ge-
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walthabern im Mutterland tritt an ihm der eigensüchtige Charakter der griechi schen Tyrannis hervor. Auch manche jener Tyrannen, die ihre Herrschaft den Per sern verdankten, vor allem Histiaios und Aristagoras, zeigen ihn deutlich genug. Die Abhängigkeit vom Großkönig und die Nähe seines Satrapen setzte ihrem Wirken wohl gewisse Schranken, ließ ihnen jedoch die Möglichkeit, unter Aus nutzung der jeweiligen politischen Konstellation ihr persönliches Interesse wahr zunehmen. Dieses gebot ihnen Loyalität gegenüber den Persern, ohne daß des halb von grundsätzlicher Neigung zu der asiatischen Macht zu sprechen wäre, es gebot ihnen ferner, ihre Gewalt gegenüber den Bürgern der heimischen Stadt nicht zu mißbrauchen. Grausamkeiten, wie sie Polykrates verübte, sind von ihnen nicht überliefert; höchstens Strattis von Chios mag sich solcher schuldig gemacht haben. Die Mäßigung der Vasallentyrannen auf der einen, der im Vergleich zu den Ge meinden des Mutterlandes geringere Staats- und Autonomiewille der Griechen an der kleinasiatischen Küste auf der anderen Seite haben es bewirkt, daß jene Stadt herren bei den Standesgenossen nicht so verhaßt waren, wie man zunächst glauben möchte. Die Stellung zwischen ihrer griechischen Polis und der persischen Re gierung machte sie freilich, als der Ionische Aufstand die Beseitigung der wohl mehr wirtschaftlich als politisch drückenden Herrschaft des Großkönigs zu er reichen suchte, untragbar. Der Perser aber hat in den Festlandsstädten nach Nie derwerfung der Erhebung auf die Erneuerung eines Systems der Beherrschung verzichtet, das widerwillig hingenommen worden war und die Untertänigkeit nicht hatte garantieren können.
I I I . D O R I S C H E S TÄ D T E
Im dorischen Siedlungsbereich begegnen Tyrannenherrschaften auf den Inseln Kos und Rhodos sowie in der Festlandsstadt Halikarnassos, die jedoch zu einem guten Teil von Karern bewohnt war und gerade auch in der Tyrannis die Bedeutung des karischen Elementes deutlich werden läßt. Was die beiden Inseln betrifft, so sind wir über ihre Geschichte in vorklassischer Zeit so schlecht unterrichtet, daß nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden kann, ob sie um 545 den Persern untertan wurden oder - wenigstens praktisch - ihre Unabhängigkeit nach Art von Samos behaupten konnten, wofür die Zustände zur Zeit der Tyrannis eines Skythes zu sprechen scheinen, der um das Jahr 500 über Kos herrschte. Denn dieser Mann konnte, als er freiwillig zurücktrat und sich nach dem Westen wandte, wo wir ihn in Zankle antreffen werden, die Herrschaft «wohl gefestigt» seinem Sohn Kadmos übergeben. Es sieht das nicht nach einer Tyrannis von Persiens Gnaden aus, mag Skythes auch schon zur Zeit seiner Regierung gute Beziehungen zum Königshof
Kos und Rhodos
gepflegt haben. Später nämlich begab er sich von Z ankIe zu Dareios, der ihn um seiner Rechtschaffenheit willen besonders geachtet haben soll, zumal als Skythes, den er auf seine Bitten nochmals nach Sizilien fahren ließ, wieder zu ihm zurückkehrte. Als ein reicher Mann ist der einstige Tyrann von Kos hochbetagt in Persien ge storben. Sein Sohn Kadmos aber legte ebenfalls nach einiger Zeit die Herrschaft über die Insel nieder, nur aus Gerechtigkeit, sagt Herodot, nicht daß er dazu ge nötigt gewesen wäre, und segelte an der Spitze einer Schar, zu der angeblich auch der Komödiendichter Epicharmos gehörte, den Spuren des Vaters folgend nach Sizilien, wo er sich ebenfalls in Zankle niederlassen konnte. Da seine Ankunft dort um 490 anzusetzen ist, dürfte er nach dem Ende des Ionischen Aufstandes, an dem die Koer allem Anschein nach nicht beteiligt waren, abgedankt haben, wohl in der Einsicht, daß die Aufhebung der Tyrannenherrschaften in Ionien durch Mardonios nicht ohne Wirkung auf die Bürgerschaft bleiben und seine Tyrannis gefährden würde. Ob der Freistaat der Koer, an dessen Spitze fortan ein jährlich gewählter «Monarchos» stand, das unter den Tyrannen bestehende gute Verhältnis zu Per sien löste oder der Großkönig nach dem Ausscheiden des Skythes und Kadmos auf Einbeziehung der Insel in sein Reich drang, wissen wir nicht. Jedenfalls wird eine Eroberung von Kos durch die Perser erwähnt, die anscheinend im Jahre 490 durch Datis erfolgte. Zur Zeit des Xerxeszuges haben denn auch die Koer unter persi scher Herrschaft gestanden und Heeresfolge leisten müssen. Auf Rhodos wird als einziger Tyrann Kleobulos von Lindos genannt, dessen angeblich vierzig Jahre währende Herrschaft in der Mitte des 6. Jahrhunderts an zusetzen sein dürfte. Dieser Mann, der trotz seinem und seines Vaters griechi schem Namen karischer Abkunft gewesen sein soll, erscheint in der Überlieferung fast nur als Dichter und als einer der Sieben Weisen, mit denen man später auch seine von ihm angeblich Eumetis genannte Tochter Kleobuline in Verbindung brachte. Rückschlüsse daraus auf die Art seines Regimentes zu ziehen, scheint bei dem legendären Charakter jener Tradition bedenklich. Auch was die im Jahre 99 v. Chr. aufgezeichnete sogenannte Tempelchronik von Lindos berichtet, ist weder zuverlässig noch für die Herrschaft des Kleobulos ergiebig. Es heißt dort, daß nach einem siegreichen Feldzug gegen die Lykier seine Truppen den Tempel der lindi schen Athena mit acht Schilden schmückten und das Kultbild mit einem goldenen Kranz bedachten. Der Krieg dürfte in die spätere Zeit seiner Regierung fallen, da schon der Beginn des gewiß lange Jahre beanspruchenden Neubaus des Heiligtums Kleobulos zugeschrieben wird, für den er die nötigen Gelder anscheinend durch eine Kollekte aufzubringen wußte. Nichts verlautet davon, daß Rhodos zu seiner Zeit oder im weiteren Verlauf des 6. Jahrhunderts den Persern untertänig wurde, und sowenig wie die Koer werden die Rhodier als Teilnehmer am Ionischen Auf stand genannt. Vielmehr haben die Perser, wie einer freilich beschönigenden Wun-
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Die Westküste Kleinasiens
dergeschichte der genannten Chronik zu entnehmen ist, auch diese von Doriern besiedelte Insel erst 490 unterworfen, ohne jedoch, soweit wir sehen, Tyrannen einzusetzen. Anders stand es mit der auf dem Festland gelegenen Stadt Halikarnassos, die bereits um 545 so gut wie sicher durch den Feldherrn Harpagos gleich dem übrigen Karien dem Perserreich einverleibt wurde. Leider berichtet Herodot von seiner Vaterstadt fast nichts, doch kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß das karische Fürstengeschlecht, das spätestens seit dem Ende des 6. Jahrhunderts über die Stadt gebot, in ein Vasallenverhältnis zum Großkönig trat. Die Tatsache, daß es sich um karische, nicht um griechische Gewalthaber handelt, würde ein Außerachtlassen ihrer Herrschaft im Rahmen einer Geschichte der griechischen Tyrannis rechtfertigen, wenn nicht hellenisierte Menschen ihre Träger gewesen wären und wenn nicht die Stadt zu einem Teil eine hellenische Polis gebildet hätte, deren Bürger jene Männer als über ihrem Gemeinwesen waltende Tyrannen an sehen mußten und auch angesehen haben. Der erste in der Reihe der Stadtherren von Halikarnassos, den wir, wenigstens dem Namen nach, kennen, war Lygdamis, der Vater der Artemisia, dessen Regierungszeit in das ausgehende 6. Jahrhundert fallen muß. Wenn Artemisia nach karischer Sitte, die uns noch später begegnet, mit einem ihrer Brüder (Maussolos?) vermählt war - ein anderer Bruder, Pigres, betätigte sich angeblich dichterisch -, dürfte sie erst nach dessen Tod von ihm oder unmittelbar von Lygdamis die Herrschaft geerbt haben, die sie jedenfalls um 490 bereits innehatte. Denn damals war sie an der Eroberung und Heimsuchung der Insel Kos durch die Perser beteiligt. Zehn Jahre später befehligte sie beim Zug des Xerxes nach Griechenland nicht nur fünf eigene Schiffe, sondern auch die Geschwa der von Kos, Nisyros und Kalymna. Daß diese Inseln ihr untertänig waren, wird man daraus um so weniger schließen dürfen, als über Kalymna ein «König» Dama sithymos, gebot, der ein von Artemisia unabhängiger Dynast unter persischer Oberhoheit gewesen zu sein scheint. Immerhin zeugt der Oberbefehl der Fürstin von ihrer überlegenheit gegenüber den benachbarten Inseln und von dem Ver trauen, das Xerxes ihr schenkte. Während der Kämpfe in Griechenland gewann sie dank ihrer ungewöhnlichen Klugheit und Tapferkeit in noch höherem Maße die Gunst des Großkönigs, der sich ihres Rates bediente. Schon bei den Operatio nen an der Küste Euboias wird sie genannt, vor allem aber bei Salamis, wo sie sich in der Schlacht, von der sie vergeblich abgeraten hatte, auszeichnete und durch List und Kühnheit der Katastrophe glücklich entkam. Umsonst setzten die Athener einen Preis auf ihren Kopf. Artemisia konnte, nachdem sie den Xerxes zur Heimkehr nach Asien bestimmt und auf seinen Wunsch die Söhne des Herr schers nach Ephesos in Sicherheit gebracht hatte, Halikarnassof wieder erreichen. Wie lange sie dort noch regiert hat, erfahren wir nicht.
Halikarnassos
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Der außerordentlichen Frau folgte als Herr der Stadt ihr Sohn Psindelis, diesem Lygdamis d. Jg., ein zweiter Sohn oder Enkel der Artemisia, dessen Regiment je doch nicht lange vor 454 ein gewaltsames Ende gefunden zu haben scheint. Vor nehme Männer aus Halikarnassos, unter ihnen der Historiker Herodot und sein Verwandter Panyasis, betrieben in jener Zeit, als in den Griechenstädten Klein asiens die von den Persern gestützten Tyrannen längst abgetreten waren und nach Kimons Sieg am Eurymedon (um 467) die attische Seemacht an der karischen Küste wirksam zu werden begann, den Sturz des Gewalthabers. Zunächst freilich ohne Erfolg : Herodot mußte nach Samos in die Verbannung gehen; Panyasis ließ, vermutlich bei einem mißlungenen Attentat auf Lygdamis, das Leben. Ein in schriftlich erhaltenes Gesetz über Haus- und Grundbesitzfragen mag im Hinblick auf diese inneren Wirren erlassen worden sein. Uns ist es ein wichtiges Dokument für die Stellung, die Lygdamis und wahrscheinlich schon seine Vorgänger gegen über der Stadt Halikarnassos einnahmen. Neben den Bürgerversammlungen der Halikarnassier und Salmakiten, das heißt der griechischen und der karischen Ein wohnerschaft, die jede ihre eigenen kommunalen Organe hatte, erscheint hier als dritter politischer Faktor Lygdamis, dessen Zustimmung die Beschlüsse beider Gruppen bedurften. Während die griechischen Tyrannen, soweit sie nicht - wie gelegentlich in ronien - die dauernde Führung des Oberamtes für sich in Anspruch nahmen, auf das innenpolitische Leben der Gemeinwesen, im besonderen auf die Gesetzgebung, nur indirekt kraft ihrer Machtstellung und Autorität Einfluß aus übten, war in Halikarnassos die Bürgerschaft beider Stadtteile nicht nur praktisdl, sondern auch rechtlich hinsichtlich der Gültigkeit ihrer Beschlüsse abhängig vom Willen des Machthabers, der, wie das Beispiel der Artemisia zeigt, auch das Auf gebot erlassen konnte. Er wird in der Urkunde wie eine Privatperson genannt, ohne Amtsbezeichnung, ohne Königstitel, den schon der Artemisia die freilich ter minologisch unzuverlässige literarische Überlieferung gibt. Gleicht Lygdamis' Stel lung insofern derjenigen der meisten griechischen Tyrannen, so ist sie doch darin von dieser verschieden, daß zwischen dem Stadtherren und den beiden Bürger schaften ein verfassungsmäßig festgelegtes Rechtsverhältnis besteht, dessen Feh len im allgemeinen für die griechische Tyrannis charakteristisch ist. Man wird da her statt von Tyrannen lieber von karischen, wenn auch hellenisierten Dynasten sprechen, die einst wohl unabhängig, später als Vasallen des Großkönigs über die Gemeinwesen von Halikarnass05 geboten. Ebensowenig, ja eher noch weniger als das Fürstenhaus von Halikarnassos, sind zu den griechischen Tyrannen im eigentlichen Sinne die Herren anderer karischer Städte zur Zeit der Perserkriege zu zählen, wiewohl einige von ihnen einen grie chischen Namen tragen und einer von ihnen, Aridolis von Alabanda, von Hero dot als Tyrann bezeichnet wird. Nicht nur daß sie über nichtgriechische S tädte
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Die Westküste Kleinasiens
geboten, es scheint, daß hier überhaupt der Gegenspieler echter Tyrannis, ein sei ner Natur nach auf Autonomie eingestelltes Gemeinwesen, fehlte, Monarchie viel mehr die herkömmliche Staatsfonn bildete. Begegnen Stadtherren dieser Art auch in derselben Funktion wie die ionischen Tyrannen, als Führer nämlich der Schiffs kontingente ihrer Plätze im Rahmen der persischen Flotte, so verdankten sie ihre Herrschaft doch nicht wie jene allein dem Großkönig, gegen den sich Pixodaros von Kindye und auch Herakleides von Mylasa vielmehr in Zusammenhang mit dem Ionischen Aufstand erhoben. Und während Mardonios 493/2 in Ionien mit aem System der «Vasallentyrannen» aufräumte, blieb das Dynastenturn in den karischen Städten, eben weil es keine aufgezwungene Gewaltherrschaft war, be stehen. Das gleiche gilt für Lykien. Noch unter den Mitgliedern des attischen See bundes, der sonst keine Tyrannen in seinen Reihen duldete, treffen wir karische und lykische Stadtherren an.
F ÜN FTE S K A P ITE L
KYPRO S UND KYRENE Die Frage, wieweit e s sich bei monarchischen Herrschaften im griechischen Sied lungsbereich um Tyrannis handelt, erhebt sich auch gegenüber den hellenischen Stadtherren auf Kypros und in der Kyrenaika. Letztere werden in der literarischen überlieferung meist als Könige, die kyprischen Fürsten gelegentlich auch als Ty rannen bezeichnet, was jedoch bei der oft unpräzisen Terminologie der Autoren noch keine Schlüsse auf die Art der Monarchien gestattet. Solche Schlüsse lassen sich nur aus einigermaßen zuverlässigen Angaben der Historiker über die politi sche und staatsrechtliche Situation und, soweit vorhanden, aus Inschriften oder Münzen ziehen.
1. K Y P R O S
Auf der fernen, nur zu einem Teil von Griechen besiedelten Insel haben i n deren Städten spätestens seit dem Ende des 8. Jahrhunderts, wahrscheinlich schon viel früher Königsherrschaften bestanden, die sich bis ans Ende des 4. Jahrhunderts halten konnten, mochten auch nach 449/8 zeitweise phönikische Fürsten die grie chischen Monarchen ablösen. Der Königstitel findet sich auf Inschriften vor die sem Zeitpunkt, ja selbst die Söhne, Brüder, Frauen und Schwestern der Dynasten führen einen Herrschertitel (<
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Kypros und Kyrene
die kyprischen Fürsten dagegen waren, wie einige karische Dynasten, selbst Führer der Abfallsbewegung und konnten es sein, ohne nach Art des Aristagoras von Milet vorher der Herrschaft zu entsagen. Die persische Oberhoheit, Zwang zu Tributzahlung und Heeresfolge, abzuschütteln und die Phöniker von der Insel zu verdrängen war ihr eigenes Anliegen. Nach ihrer Niederlage blieben die monar chischen Verfassungen in den Städten bestehen.
I I. K Y R E N E
Auch in Kyrene bestand seit den Zeiten der Gründung dieser Kolonie um 630 ein legitimes Königtum. Es wäre daher in unserem Rahmen über das Geschlecht der Battiaden, in dem die Königswürde erblich war, nichts zu sagen, träfen wir nicht seit der Mitte des 6. Jahrhunderts auf gewisse Züge, die mehr einer Tyran nis als einer legitimen Monarchie zu entsprechen scheinen. Um 560 wurde der gewalttätige König Arkesilaos lI., der angeblich schon zu Lebzeiten seines Vaters Battos 11. sein Haus mit einer Wehrmauer umgeben hatte, von den Libyern und seinen ihm verfeindeten Brüdern besiegt, deren einer, Learchos, ihn bald darauf ermordete und sich an seine Stelle setzte. Da das Königtum im Hause der Battia den blieb, würde die Usurpation der Herrschaft Learchos noch nicht zum Tyrannen stempeln, zumal da er zum König ernannt worden sein soll, um die Herrschaft für Arkesilaos' Sohn Battos zu bewahren. Er wird denn auch nicht deshalb in einer - freilich späten - Tradition als Tyrann bezeichnet, sondern weil er gegen die adligen Herren wütete, die Verfassung eigenmächtig änderte, sich mit einer Leibwache umgab und mit Hilfe ägyptischer Truppen, die ihm König Amasis zur Verfügung stellte, die Macht behauptete. Verdienen diese Angaben Glauben, so ist in der Tat von einer Abwandlung des Königtums zu einer Art von Tyrannis zu sprechen, zu deren Kennzeichen Entmachtung des Adels, Verletzung der Rechts ordnung, Schutz durch eine Leibwache und Aufrechterhaltung der Herrschaft mit telst Soldtruppen gehören. Nun wurde Learchos zwar durch Eryxo, die Witwe des von ihm ermordeten Arkesilaos, die er zur Gattin begehrte, umgebracht, aber auch Arkesilaos' Sohn Battos III., dem jetzt die Königswürde zufiel, scheint gegen den Willen der Bürgerschaft, im besonderen wohl der adligen Herren, geherrscht und die von Learchos in Anspruch genommenen Machtbefugnisse beibehalten zu haben, ohne jedoch verhindern zu können, daß die Kyrenaier sich vom Delphi schen Gotte einen Ordner erbaten, von dem sie offenbar eine Einschränkung der königlichen Gewalt, wo nicht gar die Aufhebung des Königtums erwarteten. De monax, ein vornehmer Mann aus Mantineia, der ihnen gesandt wurde, hat denn auch nicht nur die Bürgerschaft neu konstituiert und gegliedert, sondern dem Bat-
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tos alles, was die Könige bisher besessen hatten, genommen, mit Ausnahme des alten Königslandes und der priesterlichen Einkünfte. Während Battos III. sich mit dieser Regelung wohl oder übel abgefunden zu haben scheint, hat sein Sohn Arkesilaos III., der ihm bald nach 530 folgte, wieder den früheren Besitz und die ehemalige Machtstellung des Königs in Anspruch ge nommen. Er vennochte es nur, indem er sich nach der Eroberung Ägyptens durch den Perserkönig Kambyses (525) diesem unterstellte und fortan Tribut zahlte. selbst wenn er jetzt nur die alten königlichen Befugnisse wahrgenommen und sich nicht eine größere Machtfülle angeeignet hätte, wie er es mindestens hinsichtlich der Finanzen des Gemeinwesens tat, wäre er mit einem gewissen Recht als Tyrann zu bezeichnen. Denn die Stellung des Königs war durch Demonax gesetzlich ab gebaut, im wesentlichen auf die priesterlichen Funktionen beschränkt worden, so daß ihre eigenmächtige Erneuerung durch Arkesilaos sich von der Errichtung einer Tyrannis kaum unterschied. Die Opposition, vor allem der adligen Herren, ist daher auch stark gewesen und hat es um 518 vermocht, den König und seine Mutter Pheretime aus dem Lande zu treiben. Da von Persien angesichts der dor tigen Thronwirren Hilfe nicht zu erwarten war, suchte Pheretime auf Kypros den Stadtkönig von Salamis Euelthon zum Beistand zu bewegen. Vergeblich. Dagegen vennochte Arkesilaos auf Samos wohl noch zur Zeit des Maiandrios einen gro ßen Heerhaufen zusammenzubringen, dem er Landbesitz in der Kyrenaika auf Kosten der bisherigen Grundbesitzer versprach. Wirklich glückte es ihm mit die ser Streitmacht, sich wieder zum Herrn von Kyrene zu machen und an seinen Gegnern durch Verbannungen und Hinrichtungen grausame Rache zu nehmen (um 517) . Doch fühlte er sich in der Stadt schon bald derart bedroht, daß er sich nach Barka zu seinem Schwiegervater, dem König Alazeir, begab. Dort wurde er samt diesem bald darauf von Barkaiern und flüchtigen Männern aus Kyrene er mordet. Seine Mutter Pheretime, die als Regentin in Kyrene zurückgeblieben war und in dieser Eigenschaft auch an den Sitzungen des Rates teilnahm, floh nach Ägypten und rief die Hilfe der Perser an (um 5 15) . Abermals war die Herrschaft der Battiaden gestürzt worden, diesmal nicht nur in Kyrene selbst, sondern auch in Barka, und wenn sie nochmals wiederhergestellt wurde, dann doch nur, indem das gesamte Land in die ägyptische Satrapie des Großkönigs einbezogen wurde. Die von Pheretime angerufenen Perser eroberten Barka, versklavten die Bewohner, soweit sie nicht zu den ennordeten Fürsten ge halten hatten, drangen bis Euesperides (Bengasi) vor und unterwarfen auf dem Rückmarsch auch Kyrene. Während die zurückgeführte Pheretime, die zunächst ihrer Rache freien Lauf ließ, für den Rest ihrer Tage in Ägypten Wohnsitz nahm, nachdem sie ihren Enkel Battos IV. zum Nachfolger bestellt hatte, konnte dessen Herrschaft, die freilich nur dem Anspruch nach legitimes Königtum, in Wahrheit
Kypros und Kyrene
eher eine vom Perser ausgehaltene Tyrannis war, sich festigen. Ob der Fürst, unter dem Kyrene eine Zeit der Blüte erlebte, nach dem Sieg der Griechen im gro ßen Perserkrieg sich von der asiatischen Macht lossagen und die Städte der Kyre naika unter seiner Hand vereinigen konnte, ist mit Sicherheit nicht zu sagen. Jedenfalls aber vermochte er seine Herrschaft, sei es nur über Kyrene oder über das gesamte Gebiet, seinem jugendlichen Sohn Arkesilaos IV. zu vennachen. Einen Wagensieg, den dieser 462 in Delphoi errang, wohin er anscheinend auch ein Weihgeschenk stiftete, hat Pindar in zwei Gesängen gefeiert. Die Worte des Dichters, der besonders betonen zu müssen glaubt, daß seit alter Zeit die Kö nigswürde in Kyrene den Battiaden bestimmt gewesen sei, lassen ahnen, wie be stritten diese damals in Wirklichkeit war. Und nicht minder ist bei Pindars Bitte, den nach Theben geflüchteten Adligen Damophilos wiederaufzunehmen, und seiner Sorge, der Fürst könne vor der Zeit ein jähes Ende finden, zu spüren, daß Arkesilaos' hartes Regiment schon damals in Kyrene auf beträchtliche Opposition stieß. Nach Tyrannenart suchte er sich daher für den Fall seines Sturzes ein Refu gium zu sichern, indem er in Hellas Kolonisten sammeln und durch sie unter sei nem Schwager Karrhotos in Euesperides eine Pflanzstadt anlegen ließ. Tatsächlich wurde er, dem das Perserreich keine Unterstützung mehr lieh und nach dem Ab fall Ägyptens (um 460) auch gar nicht mehr leihen konnte, wohl am Ende der vierziger Jahre durch eine Revolution vertrieben und gezwungen, in Euesperides Zuflucht zu suchen. Hier fand er, noch ehe ein Versuch, die Rückkehr nach Kyrene mit Gewalt durchzusetzen, hatte ausgeführt werden können, durch Mörderhand den Tod. Sein Haupt ward ins Meer geworfen. In Kyrene scheint nunmehr eine gemäßigt demokratische Verfassung eingeführt worden zu sein. Die Geschichte der Battiaden bietet ein bemerkenswertes Beispiel für den Wandel einer traditionellen Königsherrschaft zur Tyrannis, den als historisches Phänomen schon Aristoteles bemerkt hat. Während er in Ionien, etwa bei den Basiliden in Ephesos, sich nur undeutlich abzeichnet, wird er in Kyrene, wenigstens was die äußeren Ereignisse betrifft, einigennaßen sichtbar. Freilich erfahren wir nichts über die sozialen Krisen, mit denen er in Zusammenhang gestanden haben mag, und wenn auch der Gegensatz der Fürsten zum Adel gelegentlich hervortritt, so fehlt doch ein fester Anhaltspunkt dafür, daß jene sich der Sache des Demos gegen die reichen, vornehmen Herren angenommen hätten. Man gewinnt vielmehr den Eindruck daß sowohl die Entmad1tung des Königtums wie der Widerstand gegen seine gewaltsame Wiederherstellung ein Anliegen der gesamten Bürgerschaft oder doch ihrer Mehrheit war, die in einer Zeit, als das einstige Königtum in den mei sten griechischen Städten längst sein Ende gefunden hatte, die monarchische Ver fassung durch eine republikanische ersetzt sehen wollte. Aber eben zu dieser Zeit hatten mancherorts tatkräftige Männer wie Polykrates von Samos, eine gesetzlose
Königtum und Tyrannis in Kyrene
Herrschaft gegründet. Ihr Beispiel konnte dazu reizen, anstelle der zusammen geschrumpften legalen Gewalt tyrannische Macht zu setzen. Was einige Jahrzehnte später lakedaimonische Könige gegenüber der zunehmenden Einschränkung ihrer Befugnisse versuchten oder wenigstens planten, die Errichtung einer tyrannischen Monarchie, hat Arkesilaos III. bereits um 525 getan, und auch die Herrschaft seiner Nachfolger hat sichtlich tyrannische Züge getragen. Wieweit sie sich im einzelnen vom einstigen, ungeschmälerten Königtum unterschied, dessen legitime Träger auch noch die letzten Battiaden zu sein behaupteten, ist allerdings kaum noch zu erkennen.
S E C H S T E S K AP I T E L
S I Z I LI E N Während von der Frühgeschichte der griechischen Pflanzstädte am Schwarzen Meer so wenig bekannt ist, daß sich nicht sagen läßt, ob dort in archaischer Zeit Tyrannenherrschaften bestanden haben, betreten wir auf Sizilien einen Boden, von dem schon antike Schriftsteller bemerkten, daß er fruchtbarer an Tyrannen gewe sen sei als irgendein anderes Land. Unsere Kenntnis vom Wirken dieser Gewalt haber ist freilich dürftig, weil sowohl die Lokalgeschichten des griechischen We stens wie die Monographie des Peripatetikers Phainias von Eresos «Über die Ty rannen in Sizilien» bis auf wenige Fragmente verlorengegangen sind. Vor allem bleiben die sozialen Verhältnisse, die etwa in den einzelnen Städten das Aufkom men eines Tyrannen begünstigten, häufig unklar. Eher lassen sich die außenpoli tischen Verwicklungen erkennen, welche hier wie in den östlichen Randgebieten der hellenischen Welt für die Errichtung und den Charakter der Stadtmonarchien eine wesentliche Rolle gespielt haben. Waren es dort vornehmlich die Lyder und Perser, unter deren Einwirkung das politische Leben der griechischen Gemein wesen stand, so hatten die zahlreichen Kolonien in Sizilien es mit den Sikelern, Sikanern, Elymern und seit der Mitte des 6. Jahrhunderts mit den Karthagern zu tun. Jene Stämme des Binnenlandes aber waren auch für die Struktur der helle nischen Polis insofern von Bedeutung, als das niedere Volk in den Städten und namentlich auf dem zugehörigen Lande großenteils aus Angehörigen dieser vor griechischen Schicht bestand, die man bei der Besiedlung unterworfen hatte. Als Leibeigene oder Hörige bebauten sie für die Kolonisten das fruchtbare Land, und wenn es manchen von ihnen im Laufe der Zeit auch gelang, in der Stadt als Hand werker ein freieres Dasein zu gewinnen, so hatten sie doch keinen Teil am Ge meinwesen, das allein in den Händen der Kolonisten lag. Zuwanderung von grie chischen und gewiß auch nichtgriechischen Gewerbetreibenden vermehrte allmäh lich die vom Bürgerrecht ausgeschlossene Stadtbevölkerung und ließ, zumal da die «barbarischen» Elemente sich allmählich hellenisierten, an den einzelnen Orten einen Demos entstehen, der eines Tages die politische Gleichberechtigung fordern konnte. Ihm gegenüber bildeten die alten, grundbesitzenden Familien der Sied ler mit ihrem Anhang eine Art von aristokratischer Oberschicht, die zur Be hauptung ihrer Stellung fest zusammengehalten zu haben scheint. Jedenfalls ist von den im Mutterland häufigen Rivalitätskämpfen der Adelshäuser kaum etwas
Sizilien. Leontinoi. Akragas
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zu erkennen, und selbst die Tyrannis ist, wie schon Aristoteles bemerkt hat, zu meist aus jener Oberschicht als Führerstellung eines besonders angesehenen oder in einem Amt bewährten Mannes erwachsen und mindestens zunächst im Ein vernehmen mit den Standesgenossen behauptet worden. Dies sowie die außen politische Situation, die nicht selten nach einer tatkräftigen monarchischen Lei tung verlangte und die Herrschaft eines einzelnen Mannes zu rechtfertigen schien, unterscheidet die Tyrannis auf Sizilien so sehr von derjenigen des Mutterlandes, daß sich vor ihren Erscheinungen immer wieder die Frage erhebt, wieweit hier von Tyrannis als einer gesetzlosen Gewaltherrschaft gesprochen werden kann. Eindeutig ist dies möglich bei den beiden frühesten uns erkennbaren Tyrannen, Panaitios von Leontinoi und Phalaris von Akragas, deren Wirken drei bzw. zwei Generationen vor die große Tyrannenzeit des beginnenden 5. Jahrhunderts fällt.
I . L E O NTI N O I
Panaitios, den die antiken Chronographen ans Ende des 7. Jahrhunderts setzen, nimmt nicht nur zeitlich eine Sonderstellung ein, sondern auch dadurch, daß er als einziger der sizilischen Tyrannen durch Bemühung um das niedere Volk sich den Weg zur Alleinherrschaft bahnte. Die Oligarchie der Grundbesitzer soll er gestürzt haben, indem er als Feldherr gegen das nahe Megara Hyblaia seine als Leichtbewaffnete mitkämpfende Anhängerschaft gegen die berittenen Herren aufwiegelte, diese überwältigte und sich so zum Tyrannen der Stadt machte. Seine Herrschaft, von deren Art und Form wir nichts hören, dürfte in der Geschichte von Leontinoi nur eine flüchtige Episode gebildet und keine dauernde Beseitigung des Regimentes der Grundherren gebracht haben. - Ein weiterer Tyrann über Leon tinoi, Ainesidemos, stand im Schatten des Hippokrates von Gela und des Gelon, denen er seine Machtstellung verdankte ; von ihm wird in anderem Zusammen hange zu sprechen sein.
II. AKRAGAS
Phalaris Weit bedeutender als die Tyrannis des Panaitios war die ein Menschenalter später über Akragas errichtete Gewaltherrschaft des Phalaris (etwa 570-554), der dem gesamten Altertum wie kaum ein anderer den Typus des grausam wütenden Ty rannen zu verkörpern schien. Erst ein gutes Jahrzehnt war seit der Gründung der Stadt durch Geloer (um 583) verstrichen, als der Sohn des Leodamas aus Astypa-
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Sizilien
laia bei Kos sich zum Herrn des offenbar unter schweren Geburtswehen leidenden Gemeinwesens machte. Er soll es in der Weise getan haben, daß er, der angeblich die Zollerhebung gepachtet hatte, den Bau des Tempels des Zeus Polieus auf der noch unbefestigten Burghöhe übernahm, dann aber durch List die Erlaubnis zur Ummauerung der Burg erwirkte und, nachdem diese ausgeführt war, die bei der Anlage beschäftigten Gefangenen freiließ und zum Kampf mit den Siedlern be waffnete. Beim Thesmophorienfest wäre er mit diesen Scharen losgebrochen, hätte die meisten Männer getötet, Frauen und Kinder in seine Gewalt gebracht und so die Herrschaft über die Stadt gewonnen. Auch von einer List, durch die ihm dann die Entwaffnung der Akragantiner gelang, die also nicht in ihrer Mehrzahl gefal len sein können, wußte man zu berichten. So suspekt diese Angaben eines späten Schriftstellers sein mögen -, an dem auch von Aristoteles bezeugten Vorgang, daß Phalaris ein ihm übertragenes Amt bzw. einen ihm vom Gemeinwesen erteil ten Auftrag zur Gewinnung der Tyrannis mißbrauchte, die mithin nicht aus so zialen Kämpfen erwachsen zu sein scheint, ist kaum zu zweifeln. Trifft die Nachricht von der Entwaffnung zu, so müßte, falls die Maßnahme von Dauer war, der Tyrann nicht nur eine Leibwache, die gelegentlich erwähnt wird, sondern auch Söldnertruppen unterhalten haben, von denen wir allerdings bei seinen auswär tigen Unternehmungen nichts hören. Diese richteten sich vor allem gegen die Stämme der Sikaner im Binnenland, die eine dauernde Bedrohung der Kolonie darstellten. Es heißt, daß er Kamikos bezwang, zwei weitere Städte durch List nahm und an dem östlich von Akragas gelegenen Vorgebirge Eknomos zwei Kastelle errichtete, die jedenfalls später seinen Namen trugen. Was darüber hin aus von einer Entfaltung seiner Macht bis Leontinoi, ja über ganz Sizilien gefa belt wurde, verdient schwerlich Glauben. Eher scheint es möglich, daß an der frei lich ebenfalls fabulosen Geschichte, nach der die Himeraier den Phalaris, obwohl der Dichter Stesichoros sie durch ein Tiergleichnis warnte, zum unumschränkten Feldherrn wählten, so viel wahr ist, daß die Bewohner von Himera gegen die von der Westspitze der Insel vordringenden Karthager die Hilfe des Machthabers an riefen und dadurch in Abhängigkeit von ihm gerieten. Doch auch das bleibt zwei felhaft; noch zweifelhafter, ob etwa der gemeinsame Widerstand den punischen Befehlshaber Malchus dazu bewog, den Kampf auf Sizilien abzubrechen und sich nach Sardinien zu wenden. Die Sicherung der jungen, wohl erst von ihm um mauerten Pflanzstadt jedoch und die Erweiterung ihres Territoriums wird man dem Phalaris zuschreiben und darin auch dann noch ein Verdienst sehen dürfen, wenn er - was sich nicht ausmachen läßt - die Stadt und die neugewonnenen Ge biete als seinen persönlichen Besitz betrachtete. Aber nicht mit solchen positiven Leistungen lebte der Tyrann in der Erinne rung fort, sondern als der gesetzloseste und grausamste Gewalthaber, dem man
Phalaris
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Akragas
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immer neue Schandtaten andichtete. Anlaß dazu gab vor allem der schon von Pindar erwähnte eherne Stier, in dessen glühend gemachten Bauch Phalaris an geblich seine Feinde werfen ließ. Ihr S töhnen und Schreien soll geklungen haben, als wenn der Stier brüllte. Ob hier eine Einwirkung karthagischen Molochdienstes zu erkennen ist oder ob man an das stiergestaltige Bildwerk eines Flußgottes oder an die ehernen Stiere denken will, welche in Rhodos, der einstigen Heimat der Geloer und Akragantiner, auf Berghöhen aufgestellt waren und durch brüllende Töne bevorstehendes Unheil kündeten -, jedenfalls kann nach Pindars Worten kein Zweifel bestehen, daß der Tyrann sich eines ehernen Stieres zu martervollen Hinrichtungen bedient hat. Rein novellistischen Charakter dagegen trägt die von frühen Peripatetikern erzählte, an Damon und Phintias erinnernde Geschichte von Chariton. Er soll anstelle seines von Phalaris gekränkten und darum zu des sen Ermordung entschlossenen Lieblings Melanippos selbst ein Attentat auf den Tyrannen unternommen haben, aber von der Leibwache ergriffen worden sein. Als er auf der Folter keinen Mitwisser nennen wollte, habe Melanippos sich selbst als den eigentlich Schuldigen bekannt, und der Tyrann, von so viel Freundes treue gerührt, habe beide begnadigt, worauf der delphische Gott ihm Aufschub seines Todes gewährt hätte. Historisch bedeutsam ist an dieser Erzählung höch stens, daß man schon im 4. Jahrhundert, also ein halbes Jahrtausend, bevor Lu kian mit sophistischer Dialektik für Phalaris eine Lanze brach, von menschlichen Zügen des Wüterichs zu berichten wußte, die er in Einzelfällen wirklich bewiesen haben mag. Allerdings geht auch diese Anekdote von der allbekannten Willkür und Grausamkeit des Tyrannen aus, die zu bestreiten kein Anlaß besteht. Wieweit die Vergewaltigung des Gemeinwesens ging, ob Phalaris etwa das höchste Amt dauernd für sich in Anspruch nahm und als dessen Inhaber das möglicherweise wiederbewaffnete Aufgebot in Kriegen führte oder ob er amtlos neben der Polis stand, läßt sich nicht ausmachen, da die überlieferung sich nur am Wüten des Tyrannen interessiert zeigt. Vermutlich war es dieses, was die Akragantiner in steigendem Maße gegen Phalaris aufbrachte. Zwar konnte er sich sechzehn Jahre im Besitz der Herrschaft behaupten, dann aber fielen er, seine Mutter und seine nächs te Anhängerschaft der allgemeinen Erbitterung zum Opfer, nachdem es Te
lemachos, dem Urgroßvater des späteren Tyrannen Theron, gelungen war, die Macht des Gewalthabers zu brechen. Telemachos hatte mit seiner Sippe, dem Ge schlecht der Emmeniden und dessen großer Gefolgschaft, wegen innerer Streitig keiten, in denen er wohl unterlag, seine Heimat Rhodos verlassen und - vielleicht von Gela aus - einige Plätze an der Südküste Siziliens besetzt, von denen her er den Angriff unternahm, wobei ihm offenbar die Aufständischen in der Stadt in die Hände arbeiteten. Daß die dankbaren Akragantiner ihm nach Beseitigung des Phalaris die Königswürde übertragen hätten, ist wohl als eine spätere Erfindung
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anzusehen, welche die Herrschaft seines Urenkels Theron als ererbt und legitim hinstellen sollte. An die Spitze des Gemeinwesens trat nach der zuverlässigeren Überlieferung vielmehr zunächst Alkamenes, später Alkandros, beide weder Ty rannen noch dem Geschlecht der Emmeniden angehörend, das erst um 489 durch Theron an die Macht gelangte. Theron Theron, eines Ainesidemos Sohn, Urenkel des Telemachos, nahm, schon bevor er im Alter von mindestens 40 Jahren um 489 sich zum Herrn von Akragas machte, aank seiner Herkunft, seinem Reichtum und angeblich auch seiner Beliebtheit beim Volk eine hochangesehene Stellung ein. Aus der Ehe mit einer unbekannten Frau besaß er drei Söhne, Gorgos, Thrasydaios und Philokrates, sowie eine Toch ter, Damarete. Das Viergespann seines Bruders Xenokrates, von dessen Sohn Thrasybulos nach Hellas geleitet, hatte bei den Pythischen Spielen von 490 den Sieg davongetragen, ein Erfolg, den sowohl Simonides wie Pindar verherrlichten, letzterer, indem er sich an den jungen Thrasybulos wandte und nicht nur den Reichtum des Emmenidenhauses und die rühmliche Art des Vaters, sondern auch aes Oheims Theron glanzvolles Wirken pries. Auf welche Weise dieser die Herr schaft ergriff, ist mit Sicherheit nicht zu sagen. Dürfte man den Angaben eines späten und unkritischen Schriftstellers glauben, so hätte Theron mit ähnlichen Mitteln wie Phalaris die Tyrannis gewonnen, indem er sich nämlich durch Über nahme eines Tempelbaus die zur Besoldung einer Leibwache notwendigen Gelder verschaffte und mit Hilfe dieser Trabanten die Stadt in Besitz nahm. Aber die Duplizität der Fälle stimmt skeptisch, und was sich hinsichtlich der monarchischen Stellung den freilich widerspruchsvollen Angaben der Überlieferung entnehmen läßt, ist nicht derart, daß man an eine Vergewaltigung des Gemeinwesens durch betrügerische Manipulationen denken möchte. Auch würde ihn dann der tyran nenfeindliche Historiker Timaios schwerlich als «König» der Akragantiner be zeichnet haben. Andererseits ist kaum anzunehmen, daß dem Theron wirklich die Königswürde zuerkannt wurde, redet ihn doch Pindar, der allen Grund dazu ge habt hätte, niemals als König an, ganz abgesehen davon, daß es bisher ein ver fassungsmäßiges Königtum in Akragas nicht gab, seine Einrichtung zu Beginn des 5. Jahrhunderts aber als ganz unwahrscheinlich gelten muß. Immerhin mag Tnerons Herrschaft, die er mittels eines Staatsstreiches irgendwelcher Art erlangte, durch Anerkennung von seiten der Standesgenossen und des Volkes, wie sie ähn lich später dem Gelon zuteil wurde, eine gewisse Legalisierung erhalten haben, so daß die Bezeichnung «König», die Timaios in gleicher Weise Gelon nach Billi gung seiner Monarchie durch die Volksversammlung gibt, eine gewisse Berech tigung haben kann. Vielleicht hat bei Theron wie bei Gelon die Bewährung im
Theron von Akragas
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Karthagerkrieg, in dem das Bürgeraufgebot freiwillig unter seiner Führung ge kämpft zu haben scheint, zu jener Anerkennung geführt, die um so eher gezollt werden mochte, als sein Regiment nicht druckend war und dem Gemeinwesen, in dessen Dienst er beispielsweise die gefangenen Feinde stellte, zugute kam. Gleichwohl darf Therons Regiment nicht nur seinem Ursprung nach, sondern auch im Hinblick auf das Fehlen eines verfassungsmäßigen Amtes und auf manche «tyrannische» Züge, die uns bei ihm und seinem Sohn Thrasydaios begegnen, als Tyrannis angesprochen werden, freilich als eine, die mindestens in den späteren Jahren keinen Widerwillen erregte. Der Glanz dichterischer Verherrlichung, der die Angehörigen des Emmeniden hauses umstrahlt, läßt Theron gewiß in einem helleren Lichte erscheinen, als es der nüchternen Wirklichkeit entsprach, in der es an harten Maßnahmen des Macht habers, Verbannungen und dergleichen nicht fehlte. Immerhin geben Pindars Ge dichte zu erkennen, daß der Beherrscher von Akragas ein ernster, tief angelegter Mensch war, der den orphischen Lehren zuneigte. Mit seinem Bruder und anderen fürstlichen Herren des Westgriechentums teilte er den sportlichen Ehrgeiz : Im Jahre 476 ward ihm mit dem Wagensieg in Olympia der schönste Preis zuteil. In zwei Liedern besang Pindar den Ruhm des Beglückten. Aber nicht den Ruhm allein. Das erste der beiden Gedichte feiert mehr noch als den Sieg im Agon The ron als Fürsten und Menschen, seine Macht, die großzügige Gastlichkeit und Frei gebigkeit, die ihn auszeichnen, seine Klugheit, hohe Gesinnung und edle Mannes art. Das zweite, an den Theoxenien, einem mit allgemeiner Bewirtung des Volkes verbundenen Fest für die Dioskuren, in Akragas vorgetragen, enthält ebenfalls Lobsprüche auf Theron und sein erlauchtes Geschlecht. Damals weilte der Dichter, der von Syrakus herübergekommen war, in der Umgebung des Tyrannen, zu dem er in ein warmes persönliches Verhältnis trat. Ob sich darin nach seiner Abreise durch die Ankunft des greisen Simonides, der in Akragas seine Tage beschloß, et was änderte, wissen wir nicht. Einen sportlichen Sieg, den Pindar hätte feiern können, hat Theron in der kurzen Frist bis zu seinem Tode (474'3) offenbar nicht mehr davongetragen. Im übrigen scheint der Bruder Xenokrates, der nicht lange vor Theron starb, auf den Ruhm des Siegers in den großen hellenischen Agonen mehr erpicht gewesen zu sein als der Fürst selbst. Er hatte sein Viergespann auch in Athen laufen lassen und später mit ihm zn dem früheren pythischen Preis noch den isthmischen gewonnen. Sein Herold war Simonides, während Pindar sich Xenokrates' Sohn Thrasybulos verbunden fühlte, dem er außer dem Siegeslied von 490 ein Skolion und nach dem Todes des Vaters einen poetischen Trostbrief wid mete. Der Machtwille Therons beschränkte sich nicht auf Akragas. Nachdem er, wie es scheint, zusammen mit Gelon, wohl als dieser noch Tyrann von Gela war (also vor
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485), einen erfolglosen Krieg gegen die Karthager an Siziliens Westspitze geführt hatte, von dem in anderem Zusammenhang zu sprechen sein wird, wandte er sich gegen Hirnera, dem westlichsten griechischen Platz an der Nordküste. Dort gebot als Tyrann Terillos, Sohn des Krinippos, Gastfreund des karthagischen Feldherrn Hamilkar und Schwiegervater des Tyrannen Anaxilaos von Rhegion. Theron ver trieb ihn und setzte sich in den Besitz der Stadt. Der flüchtige Gewalthaber wandte sich alsbald an Karthago um Hilfe, und nach langen, vielleicht schon vor Therons Handstreich auf Himera begonnenen Rüstungen erschien im Jahre 480 ein großes punisches Heer auf der Insel. Der nun beginnende Krieg wurde von Theron in Gemeinschaft mit dem inzwischen zum Herrn nicht nur von Syrakus, sondern der gesamten Ostküste aufgestiegenen Gelon geführt, dem er seine Tochter Damarete zur Gattin gegeben hatte. Das Schwergewicht des Unternehmens und gewiß auch der Oberbefehl lag bei Gelon. Seine Streitmacht war weit größer als die seines Schwiegervaters, der ohne ihn schwerlich erfolgreichen Widerstand hätte leisten können. So ist denn auch der Ruhm des Sieges, den die vereinten Truppen 480 bei Himera errangen, dem Herrscher von Syrakus zugefallen. Die Frucht des großen Tages jedoch, der das sizilische Griechentum für siebzig Jahre vor weiteren An griffen der Punier bewahrte, hat Theron kaum minder ernten können als sein Eidam. Denn abgesehen davon, daß er Himera behielt, fiel ihm eine gewaltige Beute zu, vor allem an Gefangenen, da sich Teile des feindlichen Heeres auf akra gantinisches Gebiet geflüchtet hatten und dort ergriffen werden konnten. Viele wurden den Teilnehmern an der Schlacht oder denen, die sie dingfest gemacht hatten, als persönliches Eigentum überlassen, die Mehrzahl aber dem Gemein wesen als Arbeiter an öffentlichen Bauten zugewiesen. Denn wie so manche Tyrannen war Theron um eine prächtige Ausgestaltung seiner Stadt bemüht. Sehr wahrscheinlich wurde unter ihm mit dem Riesenbau des Olympieion begonnen, sicher der Athena ein Tempel auf der Burg errichtet. Unter den profanen Bauten des Machthabers erregte die von dem Architekten Phaiax angelegte unterirdische Wasserleitung, ein Gegenstück gleichsam zum Werk des Eupalinos auf Samos, sowie ein künstlicher Fischteich Bewunderung. Aber auch die Stadt als Ganzes muß in den Jahren nach dem beutereichen Sieg von Himera ein für jene Zeit prächtiges Aussehen gewonnen haben, nennt doch Pindar sie die schönste der Sterbli,hen. Die Landwirtschaft konnte, wohl dank der Menge der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, intensiviert werden : ihr ganzes Land, heißt es, bepflanzten die Akragantiner mit Weinstöcken und Bäumen aller Art. Wie der Krieg nicht nur von Theron persönlich, sondern zugleich im Namen der Polis und mit ihrem Aufgebot geführt worden war, dessen Kommando man dem Tyrannen wohl - wie gleichzeitig dem Gelon in Syrakus - durch Volks beschluß übertragen hatte, so ist auch der reiche Gewinn, den er brachte, zu einem
Theron von Akragas. Thrasydaios
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erheblichen Teil den Vollbürgern zugute gekommen. Man begreift, daß unter solchen Umständen Therons Herrschaft kaum noch als Tyrannis empfunden wur de, ja durch ein allgemeines Votum gebilligt werden konnte. Jedenfalls erwies sich der Herr von Akragas im Sinne des Rates, den später Xenophon durch Simonides dem Hieron geben ließ, als Betreuer und Förderer des Gemeinwesens, wie er denn auch nach seinem Tode heroische Ehren empfing. Kein Anzeichen ist vorhanden, daß schon Theron wie sein Nachfolger Thrasydaios sich zur Behauptung seiner Stellung eines eigenen Söldnerheeres bediente; er scheint sich vielmehr von An fang an auf einen starken Anhang im Adel wie im Volk gestützt zu haben. Auch besteht kein Grund zu der Annahme, daß er das Territorium von Akragas ein schließlich des schon vor seiner Regierung angegliederten Herakleia Minoa als seinen persönlichen, ihm steuerpflichtigen Besitz angesehen und behandelt hätte. Dies könnte jedoch bei Himera der Fall gewesen sein, wo Theron seinen Sohn Thrasydaios als Stadtherrn einsetzte, eine Maßnahme, die andere Tyrannen, etwa die Kypseliden oder Peisistratos, in Städten übten, als deren Besitzer sie sich be trachteten. Im Gegensatz zu der maßvollen und klugen Herrschaft Therons über Akragas führte Thrasydaios· in Himera ein aufreizend hartes Regiment, das die Himeraier, die bei Theron kein Recht fanden, bewog, sich nach Syrakus an Gelons Bruder und Nachfolger Hieron um Hilfe zu wenden. Dieser hatte sich nach Gelons Tod (478) mit seinem jüngeren Bruder Polyzalos, der die verwitwete Damarete geheira tet hatte, entzweit. Da nun Theron, der sich inzwischen in zweiter Ehe mit einer Tochter des Polyzalos ehelich verbunden hatte, für den ihm doppelt verschwägerten Fürsten und die eigene Tochter Partei ergriff, war es zu einem schweren Konflikt zwischen ihm und Hieron gekommen. Die Verbindung der Himeraier mit dem mächtigen Herrn von Syrakus bedeutete daher für Theron eine große Gefahr, um so größer, als auch zwei Angehörige des eigenen Geschlechtes, Kapys und Hippo krates, Söhne seines Oheims Xenodikos, sich der aufständischen Stadt annahmen und, nachdem sie in einem Treffen vor Himera geschlagen worden waren, den festen Sikanerplatz Kamikos besetzten (47615) . Zwischen zwei Fronten gestellt, hat Theron, der bereits am Gelafluß mit Hieron zusammengestoßen war, der zweifelhaften kriegerischen Auseinandersetzung eine friedliche Regelung vorge zogen, zu der sein Gegner die Hand bot. Hieron, der sich mit Polyzalos aussöhnte, vermählte sich zur Bekräftigung der erneuerten Freundschaft mit Therons Nichte, wohl einer Tochter des Xenokrates. Die Himeraier aber, von Hieron preisgegeben, fielen der Rache Therons anheim, der hier bewies, zu welcher Härte er fähig war. Die Zahl der auf seinen Befehl hingerichteten Bürger war so groß, daß er die un mittelbar an der Grenze des karthagischen Hoheitsgebietes gelegene ionische Pflanz stadt durch Ansiedlung von Doriern und anderen Freiwilligen stärken mußte. üb
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Thrasydaios als Regent in Himera belassen wurde, erfahren wir nicht. Ihm fiel, als Theron wenige Jahre später eines natürlichen Todes starb (um 473/2) , die Herrschaft über Akragas, Heraldeia Minoa und Himera anscheinend ohne Schwie rigkeiten zu. Aber während Theron in einem prächtigen Grabbau vor der Stadt beigesetzt wurde, heroische Ehren erhielt und bei den Akragantinern dauernd in guter Erin nerung blieb, erregte Thrasydaios durch sein willkürliches und gesetzloses Schal ten, das schon die Himeraier aufgebracht hatte, alsbald in Akragas Unwillen. An spruchsvoll und hemmungslos wie so manche Söhne von Begründern einer Monar chie setzte er nicht nur an die Stelle des besonnenen väterlichen Regimentes eine despotische Herrschaft, er wollte nach Überwindung Hierons seine Macht auch über den Osten Siziliens ausdehnen. Durch Anwerbung zahlreicher Söldner, die zugleich der Sicherung seiner Stellung in Akragas und Himera dienen sollten, brachte er die ihm zur Verfügung stehende Streitmacht angeblich auf 20 000 Mann. Aber Hieron kam seinem Angriff durch einen Marsch auf Akragas zuvor, und in einer blutigen Schlacht wurde Thrasydaios geschlagen. Nach dieser Niederlage sah er anscheinend keine Möglichkeit mehr, seine widerwillig ertragene Herr schaft aufrechtzuerhalten. Er flüchtete nach Megara in Griechenland, wo man ihn jedoch zum Tode verurteilen und hinrichten ließ. Auf so unrühmliche Weise endete bereits wenige Jahre nach dem Tode ihres Begründers die Tyrannis in Akra gas (um 471) . Es folgte eine Oligarchie der «Tausend», wie sie möglicherweise schon vor Therons Herrschaft bestanden hatte. Sie war freilich umstritten, so daß nach einiger Zeit erneut die Gefahr des Aufkommens eines Tyrannen drohte. Der berühmte Philosoph Empedoldes· soll sie gebannt, auch für sich selbst eine monarchische Stellung abgelehnt haben zugunsten einer demokratischen Verfassung, wie sie in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wirklich bestanden zu haben scheint. Himera hatte bereits durch Thrasydaios' Sturz die seit dem Aufkommen des Te rillos entbehrte Freiheit zurückgewonnen, auch dies ein Zeichen dafür, daß es nicht der Polis der Akragantiner, sondern Theron und Thrasydaios persönlich unter tan gewesen war. Die Himeraier haben denn auch an der Beseitigung der Tyran nis in Syrakus (46615) teilgenommen.
III. SELINUS
Auch die westlichste der Griechenstädte an Siziliens Südküste hat zeitweise unter Tyrannen gestanden, doch reicht das wenige, was wir über diese Männer erfahren, nicht aus, ein Bild vrm ihrer Persönlichkeit oper gar von ihrer Herrschaft zu ge-
Akragas. Selinus. Gela
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winnen. Während eines Krieges zwischen den Selinuntiern und Karthagern, der vennutlich in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts gehört, soll sich Theron, Sohn eines Miltiades, durch List mit Hilfe einer Sklavengarde zum Machthaber über seine Vaterstadt aufgeschwungen haben. Seine Tyrannis, zu der er anscheinend durch Revolutionierung der geknechteten Eingeborenen gelangte, sofern unter den «Sklaven» diese zu verstehen sind, mag durch diejenige des Peithagoras ab gelöst worden sein, über die nichts weiter bekannt ist, als daß sie um 510 gestürzt wurde. Damals nämlich wandte sich Euryleon, einer der Genossen des spartani schen Prinzen Dorieus, nachdem dieser durch Karthager und Elymer am Eryxberg sein Ende gefunden hatte, mit den Überlebenden gegen ihn. Zunächst besetzte er die damals offenbar noch nicht zu Akragas gehörende Pflanzstadt von Selinus Herakleia Minoa, dann half er von dort aus den Selinuntiern, die Gewaltherrschaft des Peithagoras zu beseitigen. Doch diese Unterstützung war alles andere als un eigennützig, denn Euryleon bemächtigte sich nun selbst der Tyrannis über die Stadt, die er freilich nur kurze Zeit innehatte. Am Altar des Zeus Agoraios wurde er niedergemacht. Weitere Tyrannen werden in den spärlichen Nachrichten, die wir über Selinus besitzen, nicht genannt. Zur Zeit des großen Karthagerkrieges von 480, in dem die Stadt auf seiten der Punier stand, scheint sie - anders als die meisten griechischen Gemeinwesen Siziliens - keinem Gewalthaber untertan ge wesen zu sein.
I V. G E LA
Weit bedeutender als Selinus ist für die Geschichte der älteren Tyrannis die öst lich von Akragas gelegene, schon im frühen 7. Jahrhundert von Rhodiern und Kretern gegründete Kolonie Gela gewesen. Um 505 gewann hier Kleandros, Sohn des Pantares, eines Mannes, der als Sieger mit dem Viergespann in Olympia zu den angesehensten und reichsten Männern der Stadt gehört haben muß, die Al leinherrschaft. Es geschah dies vermutlich mit Hilfe einer Hetairie, an deren Spitze Kleandros fortan die Macht ausübte, während vorher eine Oligarchie sämtlicher Altsiedlerfamilien bestanden hatte. Der Geloer Sabyllos, der den Kleandros nach siebenjährigem Regiment ermordete, dürfte den Kreisen der erbitterten Oligarchen angehört haben. Durch seine Tat wurde die Tyrannis in Gela nicht beseitigt, viel mehr nahm die Stelle des Getöteten sogleich sein Bruder Hippokrates ein. Hippokrates Im Hinblick auf das Attentat, dem Kleandros zum Opfer gefallen war, hat Hippo krates sich mit einer wohl aus Angehörigen der Hetairie gebildeten Leibwache um-
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geben, zugleich aber, wie es scheint, ein gutes Verhältnis zu allen einstigen Trä gern der Oligarchie herzustellen gesucht. Ihnen zu Gefallen bestellte er zum Füh rer der Ritterschaft Gelon, einen seiner vornehmen Leibwächter, der ihre Sym pathien genoß. Daß er dabei kraft eines legalen Amtes verfuhr, braucht nicht an genommen zu werden ; es mag eine entsprechende Vereinbarung getroffen worden sein. Jedenfalls konnte Hippokrates jetzt bei auswärtigen Kriegen auf die ge samte Reiterei zählen, während er für den Fußkampf, soweit wir sehen, nicht das Bürgeraufgebot von Gela, sondern eigene, vornehmlich aus Sikelern rekru tierte Söldnertruppen verwandte. Da diese zugleich sein persönliches Regiment stützten, hatte seine Herrschaft einen «tyrannischeren» Charakter als etwa die jenige des Theron von Akragas. Gewaltsam jedoch scheint er nur gegenüber jenen Griechenstädten verfahren zu sein, die er im Laufe weniger Jahre unterwarf. Hippokrates' expansives Vorgehen begann offenbar mit der Bezwingung von Sikelerplätzen im Hinterland des geloischen Territoriums, deren Besitz ihm die Möglichkeit weiteren Vordringens nach Norden gab. Hier brachte er zunächst in der Gegend am Ätna Kallipolis und Naxos in seine Gewalt, sodann ZankTe und Leontinoi, sämtlich Pflanz städte der ionischen Chalkider. Aber auch das dorische Syrakus war vor ihm nicht sicher. Wahrscheinlich im Jahre 492/:1 unternahm er einen Angriff auf das Gebiet der Stadt, zu dem auch das nach einer Evakuierung durch die Syrakusaner wiedererstandene Kamarina gehörte, das jetzt anschei nend zerstört wurde. Am Helorosfluß kam es zur Entscheidungsschlacht. Die Geg ner wurden völlig geschlagen, und Hippokrates konnte bis unmittelbar vor Syra kus heranrücken, wo er am Olympieion nahe dem großen Hafen sein Lager auf schlug. Die Schätze des Heiligtums soll er geschont und zugleich versucht haben, das ohnehin schon wankende Regiment der syrakusanischen Grundherren (Ga moren) bei der Bevölkerung als eigensüchtig zu diskreditieren. Gleichwohl erhob sich der Demos nicht, und da der Angreifer die Aussichtslosigkeit einer Belage rung der Stadt, die er von der See nicht zu blockieren vermochte, einsah, nahm er die Vermittlung Korinths, der Mutterstadt von Syrakus, und Korkyras an. Ge
gen Auslieferung der gefangenen ,yrakusaner erhielt er das Gebiet von Kamarina, das er mit Geloern neu besiedelte.
Wie kaum eine andere Tyrannis bisher war die des Hippokrates durch einen weit über die Heimat ausgreifenden Herrschaftswillen gekennzeichnet. S:e kann auch im griechischen Mutterland, wo der Tyrann sich zwar an den großen Agonen nicht beteiligt, aber das Schatzhaus der Geloer in Olympia erweitert und durch Weihgeschenke bereichert zu haben scheint, ihren Eindruck nicht verfehlt haben. Was die Sicherung und Organisation des großen Machtbereiches betrifft, so gibt darüber die Münzprägung in Verbindung mit der literarischen überlieferung bis zu einem gewissen Grade Aufschluß. Zwar von Kallipolis wissen wir nichts, für
Hippokrates von Gela. Skythes
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Naxos jedoch zeigt das Aufhören der Münzprägung, daß es seine Autonomie ver lor, während Leontinoi, wo gegen Ende von Hippokrates' Herrschaft eine eigene, neue Münzstätte entstand, sichtlich bevorzugt behandelt wurde. Hier finden wir zur Zeit von Hippokrates' Tod, also von ihm eingesetzt, den Tyrannen Aineside mos, Sohn des Pataikos, vermutlich einen Verwandten des Emmenidenhauses, da er denselben Namen wie Therons Vater trägt. Er dürfte vorher der Leibwache des Hippokrates angehört haben wie Gelon, unter dem er später seine Stellung als Stadtherr behielt. Diese scheint bei aller faktischen Abhängigkeit von vorn herein formal die eines Bundesgenossen gewesen zu sein. Ob auch das neubesie delte Kamarina bereits durch Hippokrates einen Tyrannen erhielt, erfahren wir nicht. Dagegen verlautet einiges über Zankle, wo Hippokrates wahrscheinlich eine Flotte unterhielt, um aus dem Verkehr durch die Meerenge Nutzen ziehen zu können. Hier waltete als Stadtherr jener Slcythes aus Kos, der uns bereits als Ty rann seiner Vaterstadt in der Ägäis begegnete. Obwohl Herodot ihn «König» nennt, kann er, wie sein späteres Schicksal und die Tatsache, daß Zankle zu den von Hippokrates geknechteten Städten gezählt wird, lehrt, nichts anderes als ein von diesem abhängiger, vielleicht sogar eingesetzter Tyrann gewesen sein, der for mal als Bundesgenosse des Herrschers von Gela galt. Alte Beziehungen zwischen Kos und dem vom nahen Rhodos aus gegründeten Gela mögen ihn veranlaßt haben, sich nach der Niederlegung der Tyrannis in seiner Heimat, in die Stadt an der Südküste Siziliens zu begeben. Zum Herrn über Zankle gesetzt, sah er sich jedoch bald einer schwierigen Situation gegenüber. Wohl schon vor seiner Regie rung hatten die Zanklaier nämlich die von der persischen Rache schwer bedrohten östlichen Ioner ermuntert, das Zankle benachbarte KaIe Akte zu besiedeln, damit hier eine ionische Stadt entstände. Dem Ruf zur Koloniegründung folgte allein eine größere Schar begüterter Samier, die dem Tyrannen Aiakes und den Persern entgehen wollten. Sie ließen durch den kürzlich (494) in Rhegion zur Herrschaft gelangten Anaxilaos, mit dem sie vom Epizephyrischen Lokroi aus in Verbindung traten, sich bestimmen, statt KaIe Akte lieber Zankle selbst in Besitz zu nehmen, das Anaxilaos ungern in Abhängigkeit von Hippokrates sah. Der Umstand, daß Skythes samt den Zanklaiern sich gerade auf einem Feldzug gegen Sikeler befand, bot eine günstige Gelegenheit zum überfall. Dieser gelang. Vergeblich eilten die betrogenen Zanklaier zurück; sie konnten die Samier aus der Stadt nicht mehr vertreiben und mußten in ihrer Not Hippokrates um Hilfe angehen. Er kam, ließ Skythes als den für die Katastrophe Verantwortlichen und dessen Bruder Pythogenes in Ketten legen und nach der Sikanerstadt Inykos in Gewahrsam brin gen, von wo Skythes jedoch über Himera an den Hof des Perserkönigs Dareios entfliehen konnte. Einen Angriff auf Zankle vermied Hippokrates, da es vom Lande her schwer zu nehmen war und zur See durch Anaxilaos geschützt worden
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wäre. Er verglich sich vielmehr mit den Samiern derart, daß ihm gegen Preisgabe der Zanklaier die Hälfte der in der Stadt befindlichen Gerätschaften und. Sklaven, auf dem Lande aber alles zufallen sollte. Die Masse der früheren Bewohner wurde von dem Tyrannen skrupellos versklavt; dreihundert vornehme Männer lieferte er den Samiern zur Hinrichtung aus, doch ließen diese ihnen das Leben (um 492) . Seinen nördlichsten Besitz hatte Hippokrates also nicht behaupten können, und da bald darauf der Versuch, Syrakus zu nehmen, scheiterte, waren es kurz vor seinem Tode außer Gela im wesentlichen die Griechenstädte Kamarina, Leontinoi, Naxos, Kallipolis und vielleicht Katane sowie eine Anzahl Sikelerplätze, über die er gebot. Eine wenigstens formale Selbständigkeit scheint nur der Tyrann von Leontinoi genossen zu haben. Ob in den anderen Städten überhaupt abhängige Tyrannen walteten, wissen wir nicht. Die letzten Kämpfe des ruhelosen Mannes richteten sich gegen Sikelerstädte, im besonderen Ergetion und Hybla. Ergetion nahm er mit seiner Streitmacht, die aus geloischen Reitern, Kamarinaiern und sikelischen Söldnern, sogar solchen er getinischer Herkunft, bestand, im Sturm. Vor Hybla (Paterno) fand er den Tod (491/0) . Gelon Gleich nach Hippokrates' Tod brach in Gela ein Aufstand aus, nicht von seiten der dem verstorbenen Tyrannen zugetanen Grundherren, die zum großen Teil unter Führung des Gelon im Felde standen, sondern vom Demos ausgehend, der sich gegen die mit den Reichen und Vornehmen paktierende Tyrannis erhob. Un ter der wohl auf die Grundherren berechneten Parole, er wolle für die beiden Söhne des Hippokratcs, Eukleides und Kleandros, eintreten, führte Gelon die vor Hybla stehende Streitmacht gegen die Stadt und besetzte sie nach einer siegreichen Schlacht. Statt jedoch die Sache der Tyrannensöhne wahrzunehmen, ergriff er die Herrschaft selbst. Gelon, des Deinomenes Sohn, hatte sich bisher durch besondere Tapferkeit auf Hippokrates' Feldzügen ausgezeichnet. Er entstammte einer einst auf der unweit von Rhodos gelegenen Insel Tel
Celon Tyrann von Cela
hören, als daß sein Viergespann in Olympia siegte (488) und er den Wagen im heiligen Bezirk aufstellen ließ, fällt wahrscheinlich ein von ihm gemeinsam mit Theron von Akragas unternommener Krieg gegen die Karthager. Mit der Moti vierung, es solle Rache für den im Westen Siziliens gescheiterten Spartaner Dorieus genommen werden, warb Gelon vergeblich um Hilfe der Lakedaimonier, die sich offenbar nicht in so weiter Ferne engagieren wollten. Und auch der Hinweis auf ein weiteres Ziel, die Befreiung griechischer Handelsplätze (Emporia) von puni scher Herrschaft, verschlug bei den Griechen des Mutterlandes nicht. Gleichwohl verlief der Krieg, über dessen Verlauf wir keine Kunde haben, nicht erfolglos. Er führte zudem Gelon und Theran zusammen, ein Bündnis, das in den folgenden Jahren durch Gelons Vermählung mit Therans Tochter Damarete noch enger ge knüpft wurde. Sämtliche Städte, die dem Hippokrates untertan oder von ihm abhängig ge wesen waren, vermochte der Nachfolger zu behaupten. Ainesidemos, der Herr von Leontinoi, scheint ilun alsbald nach der Gewinnung von Gela gehuldigt zu haben. Aber Gelon begnügte sich nicht mit dem Überkommenen, er verlangte nach Syra kus, das Hippokrates nicht hatte gewinnen können. Die Verhältnisse dort kamen seinem Wunsche entgegen. Denn die Gamoren, die bisher die Leitung des Gemein wesens in der Hand gehabt hatten, waren vom städtischen Demos und ihren si kelischen Hörigen, den sogenannten Kyllyriern, vertrieben worden und hatten sich in Kasmenai festgesetzt. Seitdem bestand in Syrakus formal eine demokra tische Verfassung, in Wahrheit jedoch herrschten anarchische Zustände, so daß ein Angreifer keinen geschlossenen Widerstand zu erwarten hatte. Die vertrie benen Gamoren aber riefen die Hilfe Gelons an. Er nahm die günstige Situation wahr, und als er mit seinen Streitkräften vor der Stadt erschien, gab das Volk von Syrakus sich selbst in seine Hand (um 485) . Die größte der griechischen Kolonien auf Sizilien kam damit in seinen Besitz. Nicht einen abhängigen Tyrannen setzte er über sie, er selbst siedelte nach Syrakus über, das ihm nach Heradots Worten fortan alles war, wie er sich denn künftig nicht mehr Gel oer, sondern Syrakusaner nannte. Die Tyrannis über die Heimatstadt übernahm Gelons Bruder Hieran, an dessen Stelle später, als Hieran nach Gelons Tod (478) ihm in der Herrschaft über Syrakus folgte, ein anderer Bruder, Polyzalos, trat. Standen abhängige Tyrannen wie Ainesidemos formal im Verhältnis der Bundesgenossenschaft zu Gelon, so ist für Gela und Syrakus von einer Art Samtherrschaft der Brüder, zunächst des Gelon und Hieran, später des Hieran und Polyzalos, zu sprechen. Es scheint denn auch die Tyrannis in Gela etwa gleichzeitig mit derjenigen in Syrakus (46615) ihr Ende gefunden zu haben.
Sizilien V. S Y RA K U S
Eine Tyrannis in Syrakus ist für die Zeit vor Gelon nicht bezeugt. Denn weder kann der legendäre König Pollis, obwohl er gelegentlich so bezeichnet wird, als Tyrann angesehen werden noch geht aus den Manipulationen eines Agathokles, welche an diejenigen des Phalaris vor der Gewinnung der Tyrannis erinnern, hervor, daß er die Alleinherrschaft gewann. Das Regiment der Gamoren war offenbar bis etwa 500 zu fest gegründet, als daß ein einzelner sich zum Herrn des Gemeinwesens hätte machen können. Gelon Nachdem er in Syrakus eingezogen war, hatte Gelon die Verhältnisse dort neu ge ordnet, indem er die Gamoren zurückführte und wohl auch in ihrem Besitz resti tuierte - zu den Grundherren hatte er auch in Gela gute Beziehungen gepflegt -, andererseits aber, wie es scheint, dem Demos das Bürgerrecht nicht vorenthielt, von dem jedoch die Kyllyrier, die ihre vor kurzem gewonnene persönliche Freiheit behielten, vermutlich ausgeschlossen blieben. Das so geformte Gemeinwesen hat der Machthaber in der Folgezeit durch Verpflanzung der Bewohner anderer grie chischer Städte und Ansiedlung von Söldnern in einer für jene Zeiten unerhörten Weise erweitert. Es sei daher der Blick zunächst auf das Verhältnis des Tyrannen zu den übrigen Städten seines wachsenden Machtbereiches gerichtet. Die Stellung des Ainesidemos von Leontinoi als Bundesgenossen blieb unver ändert, ja er wurde, wie der leontinische Löwe auf den Siegesprägungen von 480 lehrt, für seinen offenbar wesentlichen Anteil an der Überwindung der Karthager besonders geehrt. In Kamarina setzte Gelon den Faustkämpfer Glaukos aus Kary stos als Tyrannen ein. Als dieser durch einen Aufstand der aus einstigen Geloern bestehenden Bürgerschaft gestürzt wurde, ward der Platz völlig evakuiert und als Polis aufgehoben ; die Bewohner mußten nach Syrakus übersiedeln, wo sie das Bürgerrecht erhielten. Ähnlich erging es den unter Hippokrates anscheinend noch freien Städten Euboia und Megara Hyblaia, nachdem Gelon sie in seine Gewalt gebracht hatte, jedoch mit dem Unterschied, daß lediglich die Reichen, obwohl diese in Megara den Krieg gegen ihn erregt hatten, zur übersiedlung nach Syrakus genötigt wurden, während Jer am Kriege unschuldige Demos versklavt und aus Sizilien abtrar.sportiert wurde. Aus Gela dagegen, das seinem Bruder Hieron unterstand, wurde mehr als die Hälfte der Städter, im wesentlichen also wohl zum Demos zählende Handwerker und Gewerbetreibende, nach Syrakus verpflanzt. Außer Leontinoi scheinen nur die untertänigen Städte Kallipolis, Naxos und Ka tane, das spätestens von Gelon unterworfen wurde, von Umsiedlungen ihrer Bür ger verschont geblieben zu sein. Die Aufblähung, welche die Polis Syrakus durch
Ge/on Tyrann von Syrakus
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die Verpflanzungen erfuhr, wurde später noch gesteigert durch die Einbürgerung von 10 000 Söldnern, die vermutlich Land in der erweiterten syrakusanischen Feldmark erhielten. Was Gelon zu seinen Maßnahmen bewog, ist unschwer zu er kennen. Abgesehen von einer den sizilischen Griechen eigentümlichen Neigung zum Kolossalen, von der die riesigen Tempelbauten in Akragas und Selinus zeu gen, war es der Wunsch des Tyrannen, in seiner Residenz eine Bürgerschaft zu konstituieren, die sowohl nach Umfang wie dank ihrer Zusammensetzung aus heterogenen Elementen kein eigener wirksamer Faktor sein konnte, deren Glie der vielmehr, jedes in seiner Weise, dem Machthaber ihre Existenz verdankten und somit ihm verpflichtet waren. Dabei wurden jedoch von ihm - im Gegensatz zu mutterländischen Tyrannen - im allgemeinen nicht die niederen Schichten be günstigt, sondern, wie das Beispiel von Euboia und Megara und die Rückführung der Gamoren lehrt, die Besitzenden, vor allem die Grundherren, die vermutlich ihre Landgüter in der einstigen Heimat behielten. Soll doch Gelon den Demos als die undankbarste Mitbewohnerschaft bezeichnet haben. Nicht daß es deshalb die sem Bevölkerungsteil materiell schlecht gegangen wäre. Das wirtschaftliche Auf blühen der Stadt, der Bau einer großen Flotte, der Dienst auf ihr, die Errichtung prächtiger Tempel und anderer Gebäude dürften ihm bessere Verdienstmöglich keiten gegeben haben, als sie vorher bestanden. Es ist zu wenig, in Gelon nur einen Ordner des syrakusanischen Gemeinwesens nach Art eines Aisymneten zu sehen, von dem ihn schon das Fehlen einer ent sprechenden Amtsgewalt unterscheidet. Er war nichts Geringeres als der selbst herrliche Neugründer der Polis Syrakus, in der bei formal demokratischer Verfas sung die ungewöhnlich große Zahl der Begüterten gewiß eine maßgebende Rolle spielte. Über die Ämter und den Rat erfahren wir nichts, von der Volksversamm lung immerhin, daß sie tagte und über die Beteiligung des Bürgeraufgebotes an einem Krieg Beschluß faßte. Denn die Bürger waren nicht etwa entwaffnet, sie nahmen vielmehr an dem großen Feldzug gegen die Karthager (480) teil, ja seit der Eingliederung der 10 000 Söldner in das Gemeinwesen, die wohl erst nach dem Siege bei Himera erfolgte, hat Gelon schwerlich noch eine eigene Söldnermacht unterhalten. Entsprechend der nunmehrigen sozialen Struktur von Syrakus und auch Gelas hatte in seinem Heerbann die aus den Grundherren bestehende Reiterei ein besonderes Gewicht. Daneben verfügte er angeblich über die zehn fache Zahl von Hopliten, die sich zu einem nicht geringen Teil aus Bodenbesitzern rekrutiert haben dürfte, während der städtische Demos vorwiegend auf der Flotte Dienst getan haben wird. Es erhebt sich hier die Frage, kraft welcher Kompetenz Gelon das Aufgebot von Syrakus im Jahre 480 gegen die Karthager geführt hat und welcher Art überhaupt seine Stellung zur Polis von Syrakus war. Als sicher darf gelten, daß Gelon weder dauernd noch speziell für den Kartha-
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gerkrieg ein ihm von der Bürgerschaft übertragenes Feldherrnamt mit außer ordentlichen Befugnissen (Strategos autokrator) innegehabt hat, denn ein solches kennen erst die reifen demokratischen Verfassungen des ausgehenden 5. Jahr hunderts. Die Lage in den achtziger Jahren war eine grundsätzlich andere. Gelon bekleidete, soweit wir sehen, keines der höchsten Ämter der Stadt, er war viel mehr aus eigener Machtvollkommenheit Herr der Polis, mit deren Organen er gewissermaßen von außen her verkehrte. Natürlich konnte er in der Volksver sammlung Anträge stellen oder Gesetzesvorschläge einbringen, doch tat er es dann formal als syrakusanischer Bürger, mochten auch bei den bestehenden Machtver hältnissen seine Anregungen die Wirkung von Weisungen haben. Als nun nach der Landung des punischen Heeres im Westen Siziliens Theron die Hilfe seines Schwiegersohnes anrief und Gelon sich zum Kriege entschloß, bedurfte er, da seine Soldtruppen zum Kampf mit den starken punischen Streitkräften nicht genügten, sowohl des Bürgeraufgebotes wie erheblicher Geldmittel, die er von der Bürger schaft verlangte. Diese sah anscheinend in der Hilfeleistung für Theron ein per sönliches Unternehmen des Tyrannen, das zu finanzieren die Begüterten nur be reit waren, wenn die bewilligten Mittel als Darlehen angesehen und nach erfolg reicher Beendigung des Krieges aus dem Beuteerlös zurückgezahlt würden. Des gleichen dürfte der Beschluß der Bürger, an Gelons Feldzug teilzunehmen, gegen Zusicherung von Sold und Anteil an der Beute gefaßt worden sein. Das Neben einander und Gegenüber von Tyrann und Polis, das hier in Erscheinung tritt, fand in der Formel «Gelon und die Syrakusanen> titularen Ausdruck. Daß der Machthaber zu eigenem Nutzen von den Syrakusanern eine Bodenertragssteuer erhoben hätte, ist nicht zu erweisen. Die Gelder, deren er für den eigenen Hofhalt und für die Bezahlung der Söldner vor deren Eingliederung in die syrakusanische Bürgerschaft bedurfte, mag er aus dem Verkauf des versklavten Demos von Euboia und Megara, aus Abgaben untertäniger Städte wie Kallipolis, Naxos und Katane sowie aus eigenem Grundbesitz gewonnen haben. Den großen Karthagerkrieg und die Schlacht von Himera zu schildern, ist hier nicht der Ort. Ein Landheer von 50 000 Fußsoldaten und 5000 Reitern soll Gelon, dem sein Bruder Hieron und Ainesidemos von Leontinoi Zuzug leisteten, ins Feld geführt und mit den Streitkräften Therons bei Himera vereinigt haben. Von einem Einsatz seiner Flotte verlautty nichts. Sie mag Anaxilaos von Rhegion in Schach gehalten haben, der nach Vertreibung seines Schwiegersohnes Terillos die Kartha ger wohl auch deshalb angerufen hatte, um Gelons Macht, die namentlich das vor einigen Jahren von Anaxilaos in Besitz genommene Zankle bedrohte, in Schranken zu halten oC:er gar zu brechen. Gegen ein Zusammengehen mit den Barbaren hatte er so wenig wie Terillos oder die Griechenstadt Selinus Bedenken. Man darf aber auch fragen, ob Gelnn und Theron als bewußte Vorkämpfer der Hellenen auf Si-
Ge/on: Der Karthagerkrieg. Verhältnis
zu
Hellas
zilien in den Kampf zogen oder nicht in erster Linie zur Sicherung und Erweite rung ihres eigenen Herrschaftsbereiches. Hat doch auch im Mutterland erst der Großangriff der Perser - und keineswegs in allen Staaten - den Gegensatz von Griechen und Barbaren politisch bewußt werden lassen und der Abwehr des Fein des das Gepräge gegeben. Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß Gelon aus panhellenischen Motiven den Krieg gegen die Karthager aufnahm, mochte ihn später auch der Ruhm des Barbarenbesiegers verklären, als sein großer Erfolg ihn neben die Sieger von Salamis und Plataiai stellte. Auch seine Einstellung zu Xer xes' Angriff auf Griechenland und dessen Abwehr durch die hellenische Eidgenos senschaft, die seine Hilfe erbat, ist durch eigene Machtinteressen bestimmt gewe sen. Zwar läßt sich bezweifeln, ob wirklich, wie man Herodot im Mutterland spä ter erzählte, die Verhandlungen an Gelons Anspruch auf den vollen Oberbefehl oder wenigstens auf das Kommando über die griechische Flotte scheiterten, und es dürfte die sizilische Version, daß der damals bevorstehende Angriff der Kartha ger eine Hilfeleistung unmöglich machte, die größere Glaubwürdigkeit für sich haben. Aber jedenfalls schickte Gelon den aus Zankle zu ihm gekommenen ein stigen Tyrannen von Kos, Kadmos, mit drei Schiffen nach Delphoi, um den Ver lauf des Krieges in Hellas zu beobachten und im Falle, daß der Großkönig siege, ihm sowohl Schätze wie Erde und Wasser als Zeichen der freiwilligen Untenver fung seines Herrschaftsgebietes darzubringen, während er im Falle eines Sieges der Griechen zurückkehren sollte. Augenscheinlich fürchtete Gelon, daß der Perser, der schon längst seine Fühler nach dem Westen ausgestreckt hatte, nach Unter werfung Griechenlands auf Unteritalien und Sizilien übergreifen könnte, und wollte durch etwaige Anerkennung der persischen Oberhoheit einen Zweifronten krieg vermeiden. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Statt daß seine Herrschaft zu einem persischen Vasallenfürstentum geworden wäre, erfuhr sie, durch die Siege der Griechen im Mutterland von dieser Bedrohung befreit, in Auswirkung der völligen Niederlage der Karthager bei Himera eine erhebliche Stärkung. Die Punier wurden beim Friedensschluß auf ihr altes Gebiet an der Westspitze Sizi liens beschränkt, hatten eine Kriegsentschädigung von 2000 Silbertalenten zu zahlen und zwei Tempel zu bauen, in denen die Vertragsurkunden aufbewahrt wurden. Theron, der Himera behielt, war seinem Schwiegersohn mehr verpflidl tet denn je. Städte und Dynasten, die auf der Seite des Feindes gestanden hatten, suchten alsbald um ein Bündnis mit dem mächtigen Sieger nach, der es ihnen auch gewährte. Außer Sikeler- und Sikanerplätzen, vielleicht auch der Elymerstadt Se gesta, ist hier an Selinus und namentlich an Anaxilaos zu denken, mit dem die Einigung nach Tyrannenart durch eine Heirat bekräftigt wurde : seine Tochter ward mit Gelons Bruder Hieran vermählt. Ohne Erweiterung des Bereiches seiner
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unmittelbaren Herrschaft war Gelon dank Bündnissen und verwandtschaftlichen Verbindungen fortan faktisch der Führer und Gebieter Siziliens einschließlich der Plätze an der Meerenge von Messina, wie ihn denn auch die antike Überlieferung seit Herodot als solchen bezeichnet. Nur Panormos und die Westspitze der Insel blieb in der Hand der Karthager, die jedoch nach dem Tage von Himera siebzig Jahre lang Ruhe hielten. Der Machtwille eines großen Tyrannen hatte die Grie chenstädte vor ihnen geschützt und ein politisches Gebilde geschaffen, dem sich an Art, Umfang und Stärke kein anderes in der hellenischen Welt vergleichen konnte. Sein Träger war nicht die Polis Syrakus, sondern Gelon persönlich, von dem die einzelnen Glieder als Untertanen oder Bundesgenossen abhingen. Formal gesehen war denn auch der Feldzug gegen die Karthager ein persönliches Unternehmen Gelons gewesen, der dementsprechend beim Friedensschluß allein genannt wird. Ihm fiel die Beute zu, über die er nach Gutdünken verfügte, ihm die Kriegsentschädigung, aus der er den Syrakusanern das Darlehn zurückerstatten konnte. Seine Gemahlin Damarete erhielt von den Puniern, angeblich weil sie den Frieden vermittelt hatte, einen goldenen Kranz zum Geschenk. Schon zur Zeit der Rüstungen soll sie sich verdient gemacht haben, indem sie durch Stiftung ihres Schmuckes den reichen Syrakusanerinnen ein Beispiel gab. Aus dem Erlös dieser Spende oder der karthagischen Kriegsentschädigung wurden Silbermünzen im Werte von zehn Drachmen, sogenannte Darr;areteien, geschlagen. Die uns erhal tenen prachtvollen Stücke lassen so wenig wie die Prägungen in anderen unter einem Tyrannen stehenden Städten erkennen, ob sie von dem Gemeinwesen oder dem Gewalthaber hergestellt wurden ; lediglich die Quadriga auf der Rückseite, die an Gelons Wagensieg (488) erinnern könnte, zeigt vielleicht eine persönliche Note. Das Viergespann treffen wir auch auf anderen unter Gelon geschlagenen Münzen an. Schon bald nach Gewinnung von Syrakus hatte er durch Verkauf des Demos und der Beute aus den von ihm aufgehobenen Städten die Mittel zur Aus gabe neuen Geldes erworben, dessen er für die Bezahlung seiner Soldtruppen bedurfte. Was der Sieg über die Karthager einbrachte, ist dagegen zu einem erheb lichen Teil den Göttern zugute gekommen als Dank für ihre sichtbare Hilfe. So weihte Gelon selbst nach Delphoi einen goldenen Dreifuß samt einer goldenen Nike, Werke des Bion von Milet. Ein Gleiches tat sein Bruder Hieron; Dreifüße stifteten auch die jüngeren Brüder Polyzalos und Thrasybulos. Und wie am Par nass das großartige Monume,t der Deinomeniden den bald auch von den Dichtern der Zeit gepriesenen Ruhm des Siegers über die Barbaren im Westen kündete, so in Olympia das aus der Beute gestiftete Weihgeschenk einer Kolossalstatue des Zeus und dreier linnener Panzer. Auch die Ausgestaltung eines Haines im unter italischen Hipponion, des sogenannten Hornes der Amaltheia, mag in diese Zeit gehören. In Syrakus erhielten die bestehenden Heiligtümer kostbare Gaben, es
Gelon: Herrschaft und HerrschersteIlung
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wurden ferner neue Tempel errichtet, für Demeter, Kore, Athena; auch die Gottes häuser in Himera wurden bedacht. Stifter und Bauherren waren in allen diesen Fällen Gelon oder seine Brüder, nicht die Polis der Syrakusaner, die sich nur an der Zeusstatue für Olympia be teiligte und deshalb auch auf der Inschrift neben Gelon genannt wurde. Denn das Verhältnis des Tyrannen zu der Stadt änderte sich auch nach dem großen Siege nicht. Zwar legte Gelon nach der Rückkehr von Himera vor der Volksversamm lung Rechenschaft ab und erklärte sich zum Verzicht auf die Tyrannis bereit, doch soll er als Retter, Wohltäter, König angerufen und um Beibehaltung der Herr schaft gebeten worden sein, die keine Tyrannis gewesen wäre. Selbst wenn man zugibt, daß der Historiker Timaios, auf den diese Angabe wahrscheinlich zurück geht, bezüglich der Anrufungen sich der Ehrungsformen seiner, der hellenistischen Zeit bedient, ist an dem Angebot der Niederlegung der Tyrannis und dessen Ab lehnung durch das Volk nicht zu zweifeln. Es blieb also der frühere Zustand, die amtlose Stellung neben und über dem Gemeinwesen bestehen, nur war - und darauf dürfte es Gelon angekommen sein - sein Regiment fortan vom Odium der Tyrannis als einer aufgezwungenen, nicht freiwillig anerkannten Herrschaft frei. Sie wurde zu einer fast legitimen, wenn auch in der Polisverfassung nicht ver ankerten Monarchie, für welche die Bezeichnung «Königtum» angemessen er scheinen konnte, wie denn Diodor, offenbar im Anschluß an Timaios, von diesem Zeitpunkt an Gelon und seinem Nachfolger konsequent den Königstitel beilegt. Offiziell ist er jedoch, wie die Weihinschriften zeigen, nicht geführt worden, und von einer gesetzlichen Festlegung der Stellung neben oder in dem syrakusani schen Gemeinwesen findet sich keine Spur. Die milde Form allerdings, in der er seine nach wie vor unbeschränkte Macht zur Geltung brachte, die Art, wie er - darin dem Peisistratos ähnlich - als Bürger von Syrakus seine Achtung vor den Gesetzen bekundete, die Tatsache schließlich, daß er den Ackerbau förderte, und der Wohlstand wuchs, gaben seiner Herrschaft etwas von der natürlichen Autori tät eines Königtums. So viel wird man dem idealisierenden Bild, das Timaios von ihm entwarf und das noch später in rhetorischen Deklamationen fortwirkte, als geschichtlich entnehmen können. Bereits 478/7 starb Gelon an der Wassersucht. Nach einem schlichten Leichenbegängnis, wie er es in Befolgung eines syrakusani sehen Gesetzes gewünscht hatte, wurde er auf einem Landgut seiner Gemahlin Damarete beigesetzt, die später selbst dort die letzte Ruhestätte fand. Das statt liche Grabmal, das er erhielt, ist 396 von den Karthagern zerstört worden. Hieron Die Tyrannis über Gela und Syrakus war eine solche des Geschlechtes der Deino meniden und wurde als Samtherrschaft auch in Gelons letztwilligen Verfügungen
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gewahrt. Von seinen drei Brüdern war Hieron, dessen Name auf das im Hause erbliche, von ihm bekleidete Hierophantenamt für Demeter ,md Kore weist, ohne daß er deshalb der älteste gewesen sein müßte, seit etwa 485 Herr von Gela, hatte aber bisher im Schatten Gelons gestanden. Welche Aufgaben etwa den jüngeren Brüdern, Polyzalos und Thrasybulos, übertragen gewesen waren, ist unbekannt. Nach dem Wunsche des Verstorbenen sollte Hieron ihm in Syrakus nachfolgen, Poly zalos über Gela gebieten. «Herrschend über Gela» nennt er sich auf der Basis des berühmten delphischen Wagenlenkers, der einst zu einem von ihm nach Pytho ge stifteten Viergespann gehörte. Auch ein weiteres Verlangen Gelons wurde er füllt : Polyzalos heiratete die verwitwete Damarete und übernahm die Vormund schaft für den noch unmündigen Stiefsohn. Für den FaH, daß Polyzalos vorzeitig stürbe, sollten zwei Schwäger, Chromios und Aristonus, die beide mit Schwestern der Deinomenidenbrüder vermählt waren, an seine Stelle treten. Chromios - nur über ihn erfahren wir etwas - stammte aus edlem Geschlecht, war schon zu Hip pokrates' Zeit Gefährte Gelons, vermutlich in der Leibwache, gewesen und hatte sich sowohl in der Schlacht am Heloros wie später in den Karthagerkämpfen aus gezeichnet. Jetzt stand er Hieron nahe, während es zwischen diesem und Polyzalos bald zu ernsten Spannungen kam. Die Ehe des jüngeren Bruders mit Damarete, durch die Gelon offenbar eine Fortdauer der engen Beziehungen zu Theron von Akragas hatte gewährleisten wollen, mochte dem mißtrauischen Hieron nicht behagen, und das Ansehen, dessen sich Polyzalos' glanzvolle Persönlichkeit er freute, nährte, wie es heißt, seinen Neid. Als der Bruder es ablehnte, sich als Führer eines Hilfezuges für die Sybariten gegen Kroton abschieben zu lassen, beschuldigte er ihn, ob zu Recht oder Unrecht, einen Sturz seiner Herrschaft zu planen. Es war bereits zu erwähnen, daß Polyzalos sich daraufhin zu seinem Schwiegervater Theron begab, dem er wohl damals eine eigene Tochter aus frühe rerEhe vermählte, und daß Theron sich der Sache des Geflüchteten annahm (47615). Auch von der Versöhnung, die auf Kosten der Himeraier erfolgte, ist schon die Rede gewesen. Mindestens äußerlich wurde durch sie ein friedliches Verhältnis zwischen den drei Beteiligten hergestellt, das während der folgenden Jahre ange dauert zu haben scheint. Hierons Regiment über Syrakus und die untertänigen Städte ist ein härteres gewesen als das seines Vorgängers, dessen Großzügigkeit und unbestrittene Autorität ihm abgingen. Zw� wird man dem von Xenophon in seinem «Hieran» gezeichneten Tyrannenbild keine unbedingte historische Treue zuerkennen dürfen und in der auf Timaios zurückgehenden Überlieferung eine unfreundliche Ten denz in Rechnung zu stellen haben, es bleibt aber die Tatsache, daß Hieron die ihm nicht als Amt, sondern als persönlicher Besitz überkommene Machtstellung nur mit Hilfe einer neu aufgestellten Söldnermacht glaubte behaupten zu kön-
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nen, daß er ferner die freie Meinungsäußerung unterdrückte und zur Erforschung der Stimmung der Bürger eine Geheimpolizei einrichtete. Auch suchte er nach Art so mancher sich bedroht fühlenden Tyrannen durch Gründung eines ihm unbe dingt ergebenen Gemeinwesens einen festen Stützpunkt und für den Notfall ein Refugium zu gewinnen. Dabei spielten freilich, vom Verlangen nach den hero ischen Ehren eines Stadtgründers abgesehen, auch positivere Motive mit, die er kennen lassen, daß Hieron trotz seiner tyrannischen Art des Sinnes für die Eigen gesetzlichkeit einer Polis nicht entbehrte. Wie bei Gelons Neugründung von Syrakus gingen auch hier gewaltsame Maß nahmen voraus. Indem Hieron die Städte Naxos und Katane aufhob, ihre Bewoh ner nach Leontinoi verpflanzte und der dortigen Bürgerschaft eingliederte, voll endete er die schon von Hippokrates begonnene Knebelung des ionischen Elementes, das nun mit geringen Ausnahmen an dem einen Platz zusammengepfercht war. Auf dem durch Sikelerland erweiterten Territorium von Katane wurde eine neue Stadt mit Namen Aitna angelegt. Zehntausend Siedler, zur Hälfte aus der Pelo ponnes herbeigerufen, zur Hälfte der aufgeblähten Polis Syrakus entnommen, er hielten hier Wohnsitz und Land. Was aber das Wichtigste war: Hierons Sohn Deinomenes, der unter Obhut des Chromios über die Stadt gesetzt wurde, sollte nicht als Tyrann neben dem Gemeinwesen stehen, sondern ein legales Königtum innehaben, dessen Befugnisse ebenso wie die der anderen Polisorgane «nach dori scher Richtschnur», will sagen im Hinblick auf das spartanische Vorbild, festgelegt wurden. Zeuge dafür ist uns Pind<J.rs erste Pythische Ode, das Preislied auf die seit 476/5 glücklich durchgeführte Gründung. Auch Aischylos, von Hieron an sei nen Hof gezogen, hat in einem Drama «Die Aitnaierinnen» die Tat verherrlicht, auf die der Herrscher so stolz war, daß er sich nach dem Sieg seines Viergespannes in Delphoi (470) als Syrakusaner und Aitnaier ausrufen ließ. Die neue Stadt war mindestens formal auch nach außen frei, wie denn auf ihren Münzen jeder Hin weis auf syrakusanische Embleme fehlt. Hieron mochte glauben, auf diese Weise seinem Sohn eine dauerhaftere Herrschaft errichtet zu haben, als es die Tyrannis über Syrakus sein konnte, die mit der Zeit offenbar immer widerwilliger ertragen wurde. Denn die hochtönenden Worte, mit denen Pindar und Bakchylides das rechtliche Walten Hierons rühmen, der milde gegenüber den Städtern, ohne Mißgunst auf die Reichen, den Fremden ein bewundernswerter Vater, über Syra kus als König gebiete, dürfen den Blick für die wahren Verhältnisse nicht trüben. Hat doch Pindar selbst erfahren müssen, daß Schmeichler das Ohr des Fürsten fanden und ernste Mahnungen oder emphatische Betonung der den Aitnaiern ge währten Freiheit nicht nach Hierons Sinn waren. Weniger problematisch als die Art seiner Herrschaft ist Hierons erfolgreiche Außenpolitik gewesen. Mit Anaxilaos von Rhegion, der seit 480/79 sein Schwie-
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gervater war - in erster Ehe hatte Hieron eine Tochter des vornehmen Syrakusa ners Nikokles, die Mutter seines Sohnes Deinomenes, zur Frau -, blieben die Be ziehungen nicht reibungslos, da der sizilische Herrscher eine Machterweiterung des Herrn an der Meerenge nicht zulassen wollte. Als daher Anaxilaos gegen das nahe Lokroi Epizephyrioi vorging, intervenierte Hieron durch seinen Schwager Chromios mit der Wirkung, daß der Angreifer die Feindseligkeiten einstellte und die Lokrer ihrem Befreier überschwenglich dankten. Bald darauf (476) starb Anaxilaos. Der Vormund seiner unmündigen Söhne, Mikythos, scheint neue Kon flikte vermieden, jedenfalls der Kriegsflotte Hierons die Durchfahrt durch die Meerenge gestattet zu haben. Dieser hatte bereits zuvor sein Augenmerk den grie chischen Pflanzstädten an der tyrrhenischen Küste zugewandt, wo sein Bruder Gelon sich in Hipponion zur Geltung gebracht und er selbst anscheinend ein freundschaftliches Verhältnis zu Poseidonia hergestellt hatte. Jetzt (474) rief ihn Kyme, die nördlichste der Kolonien in jenem Bereich, gegen nicht nur zu Lande, son dern auch zur See nach Campanien vordringende Etrusker zu Hilfe. Hieron folgte dem Ruf und errang mit seiner Flotte auf der Reede von Kyme einen glänzenden, vielgepriesenen Sieg über den gefürchteten Feind. Kyme selbst und vermutlich auch andere griechische Plätze dürften seitdem in einem Bundesverhältnis zu ihm gestanden haben. Ja, die von den einstigen hellenischen Siedlern verlassene Insel Pithekussai (Ischia) nahm Hieron selbst in Besitz und stationierte hier eine Be satzung. Man begreift, daß angesichts dieser Ausdehnung seines Einflußbereiches an Italiens Westküste die Meerenge für ihn erhöhte Bedeutung gewinnen mußte, doch ist er erst nach einiger Zeit (468/7) darangegangen, die Herrschaft des Miky thos über Rhegion und Messana (Zankle) zu schwächen, indem er des Anaxilaos Söhne, die Brüder seiner eigenen zweiten Gemahlin, veranlaßte, von ihrem Vor mund Rechenschaft zu fordern und die Regierung selbst zu übernehmen. Inzwischen waren auf Sizilien beträchtliche Veränderungen eingetreten. Hatte der um Polyzalos entbrannte Streit mit Theron auch beigelegt werden können, so schuf der Tod des Herrn von Akragas, dessen Nichte Hieron in dritter Ehe ge heiratet hatte, eine neue, nicht ungefährliche Lage (472/1). Von Thrasydaios, dem Sohn und Nachfolger des Verstorbenen, angegriffen, mußte Hieron trotz schwe rem körperlichem Leiden mit einer wohl aus Söldnern und Bürgern gebildeten Streitmacht ins Feld rücken. Er trug einen vollständigen Sieg über den Gegner davon. Akragas selbst in Besitz zu nehmen war der alternde Herrscher nicht ge willt, auch verhalf er nach �rasydaios' Sturz keinem neuen Tyrannen zur Macht, sondern schloß mit der frei gewordenen Polis der Akragantiner Frieden, wohl in der Überzeugung, daß ihm von dem Freistaat weniger Gefahr drohe als von einem eroberungs süchtigen Gewalthaber. Mit dem ebenfalls zu Autonomie und Freiheit zurückgekehrten Himera mag ein ähnlicher Vertrag zustande gekommen sein.
Hieran und die Umwelt
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Von politischen Beziehungen Hierons zum griechischen Mutterland, für dessen Unterstützung im Perserkampf er einst unter Gelon eingetreten sein soll, ist Zu verlässiges nicht bekannt. Die schon von Plutarch abgelehnte Erzählung, nach der Themistokles auf seiner Flucht aus Hellas (um 467) an den Hof von Syrakus ge kommen wäre, die Hand von Hierons Tochter erbeten und ihm die Herrschaft über Griechenland in Aussicht gestellt hätte, verdient wenig Glauben. Desgleichen die entgegengesetzt orientierte Anekdote, es habe der Sieger von Salamis aus Tyran nenhaß die Zelte Hierons bei den Wettkämpfen in Olympia niederreißen wollen. Deutlich dagegen tritt hervor, daß Hieron an den großen panhellenischen Städten seinen Ruhm noch heller erstrahlen ließ als Gelon. Dem delphischen Apollon hatte auch er nach dem Siege von Himera einen goldenen Dreifuß und eine Nike ge stiftet, wofür das Edelmetall angeblich von einem Korinther im Austausch gegen eine Getreidesendung gegeben wurde. Aus der Seeschlacht von Kyme sandte er die Erstlinge der Beute, die freilich auf dem Transport untergingen, und auch der Zeus von Olympia erhielt aus dem Etmskerkampf sein Teil, unter anderem einen noch erhaltenen bronzenen Helm. Vor allem aber tat sich Hieron, der sowenig wie Gelon seine Zugehörigkeit zum hellenischen Adel verleugnete, an beiden Plät zen in den Agonen hervor. Sein Rennpferd Pherenikos siegte zweimal in Delphoi (wohl 478 und 474) und zweimal am Alpheios (476 und 472) . Mit dem Vier gespann konnte er 470 in Pytho, zwei Jahre später in Olympia den Preis erringen. Das Weihgeschenk für diesen letzten Erfolg brachte nach dem Tode des Tyrannen (467f6) sein Sohn Deinomenes dar. Auch andere Angehörige des Deinomeniden hauses beteiligten sich an den Wettkämpfen in Griechenland : Von Polyzalos' Py thischem Wagensieg kündet noch heute der berühmte Wagenlenker; Chromios tmg in Nemea und Sikyon Preise davon. Und es fehlte den in der griechischen Adelswelt bewunderten Erfolgen der sizilischen Herren auch die poetische Verklä mng nicht. Den berühmtesten Dichtern der Zeit, Pindar und Bakchylides, wurde die Abfassung der Festlieder übertragen, in denen nicht nur die agonalen Siege, sondern auch Art und Wirken der Gefeierten besungen wurden. Kein Zweifel, daß Hieron in den Dichtern mehr sah als nur erwünschte Herolde seines Ruhmes, so sehr es ihm gefallen mußte, daß auch sie die Siege von Himera und Kyme den Leistungen des Mutterlandes im Perserkrieg gleichstellten oder die dorische Ordnung von Aitna priesen. Er hat nach persönlichem Umgang mit mu sischen Menschen verlangt. So ist Pindar 476fS eine Zeitlang sein Gast gewesen und zu dem schwierigen Fürsten in ein nahes Verhältnis getreten, das manchen Ränken zum Trotz auch nach der Heimkehr des Dichters noch einige Jahre an hielt. Die dritte Pythische Ode, in Wahrheit ein Trostgedicht für den an Blasen stein und wohl auch an Magenbeschwerden leidenden Mann, bietet ein ergreifen des Zeugnis dafür (47S). Erst kurz vor Hierons Tod trübten sich die Beziehungen,
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so daß mit der Verherrlichung des größten Erfolges, des Olympischen Wagen sieges von 468, nicht Pindar, sondern sein Rivale Bakchylides betraut wurde, der neben jenem bereits zu den Siegen von 476 und 470 Lieder gesandt und sich wahr scheinlich mit seinem Oheim Simonides zeitweise in der Umgebung des Herr schers aufgehalten hatte. Daß Aischylos aus Athen kam und ein Festspiel zur Einweihung der neuen Polis Aitna dichtete, war bereits zu erwähnen. Auf Wunsch Hierons hat er in Syrakus sein berühmtes Perserdrama in abgewandelter Fassung zur Aufführung gebracht. Xenophanes, der nach dem unteritalischen Elea ausgewan derte große Denker und Dichter aus Kolophon, soll sich in hohem Alter ebenfalls am Hofe des Tyrannen eingefunden haben. Epicharmos, der geniale Schöpfer der sizi lischen Komödie, hat zwar in seinen Stücken auf das politische Geschehen der Deinomenidenzeit Bezug genommen, schwerlich aber der Umgebung Hierons an gehört. Auch darf man zweifeln, ob von dem Tyrannen wirklich der Syrakusaner Korax, einer der Begründer der kunstvollen Rhetorik, zu den Staatsgeschäften her angezogen wurde. Gleichwohl bleibt bestehen, daß der mächtige und freigebige Herrscher den Umgang mit Geistern verschiedener Art suchte, und es mag zu treffen, daß seine quälenden Leiden ihn nach ihrer Gesellschaft besonders verlan gen ließen. Jedenfalls war hier nicht die genießerische und spielerische Leichtig keit im Schwange, die an den Höfen des Polykrates und Hipparchos den Ton an gab. Hierons ernste Art und die Schwere dorischen Wesens schufen eine Atmo sphäre, in der es um mehr ging als um Liebesfreuden und heitere Geselligkeit. Nach elfjähriger Herrschaft starb der Tyrann Anfang 466 in Aitna und fand dort, wie er es gewünscht hatte, sein Grab und die heroischen Ehren des Stadt gründers. Polyzalos scheint ihm im Tode vorangegangen zu sein, so daß nun der vierte der Brüder, Thrasybulos, an die Stelle Hierons in Syrakus trat.
V I . E N D E D E R T Y RA N N I S A U F S I Z I L I E N
Es heißt, daß Thrasybulos den inzwischen erwachsenen Sohn Gelons verdorben habe, und in der Tat ist seiner gewalttätigen und skrupellosen Natur ein derarti ges Verfahren zur Sicherung der eigenen Machtstellung zuzutrauen. War schon Hierons Regiment härter gewesen als dasjenige Gelons, so griff nun eine Tyran nis im schlimmsten Sinne platz. Der fürstlichen Größe seiner Vorgänger entbeh rend, nahm Thrasybulos wihkürlich Konfiskationen zu eigenem Nutzen, Ver bannungen, Hinrichtungen vor und stellte den ihm feindlichen Bürgeraufgebot eine starke S0ldnertruppe entgegen, ohne dadurch jedoch die wachsende Gärung in der Stadt eindämmen zu können. Vergeblich suchten seine Verwandten - es waren wohl die Schwäger Chromios und Aristonus - durch Preisgabe des Thrasy-
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bulos die Herrschaft des Hauses zu erhalten. Selbst diejenigen Syrakusaner, meist wohl reiche Herren, die sie zunächst für sich gewannen, nahmen schließlich die Gelegenheit zum Sturz der Monarchie wahr und verwarfen alle Deinomeniden. Obwohl Thrasybulos aus Aitna, das sich jetzt im Sinne Hierons als Rückhalt des bedrohten Machthabers erwies, beträchtlichen Zuzug erhielt, auch weitere Bundes genossen aufbieten und seine Söldnerscharen vermehren konnte, vermochte er doch in Syrakus nur Ortygia und Achradina zu behaupten. Bald aber war auch dies nicht mehr möglich. Denn die Syrakusaner riefen mit Erfolg die von der Herrschaft des Thrasydaios befreiten Akragantiner und Himeraier sowie die Selinuntier und die freiheitsdurstigen Sikeler zu Hilfe, ferner die Geloer, die spätestens jetzt die Tyrannis abschüttelten, sofern dies nicht schon nach Polyzalos' Tod geschehen war. Thrasybulos, den nun seine Bundesgenossen, vermutlich auch die Aitnaier, verließen, verfügte nur noch über seine Söldnermacht, mit der er sich zu Lande und zur See so lange erbittert wehrte, bis er das Aussichtslose des Kampfes ein sehen mußte und gegen freien Abzug kapitulierte. Man ließ ihn ziehen und in Lokroi Epizephyrioi, das dem Deinomenidenhause seit Hieron verpflichtet war, Wohnung nehmen. Nur elf Monate hatte das unselige Regiment gewährt. Mit seinem Sturz brach der gesamte von Gelon und Hieron aufgeführte politische Bau, der den größten Teil Siziliens umfaßt und sich bis nach Unteritalien erstreckt hatte, zusammen (46615) . Wo noch Organe oder Mitglieder des Deinomeniden hauses das Heft in der Hand hatten, vielleicht in Leontinoi, sicher in Aitna, dessen König Deinomenes jetzt freilich auch als bloßer Gewalthaber erscheinen mochte, wurde in den folgenden Jahren das monarchische Regiment beseitigt. Manche der von den beiden großen Tyrannen verpflanzten Bevölkerungsgruppen kehrten in ihre alte Heimat zurück, so die von Gelon nach Syrakus überführten Bewohner von Kamarina, die ihrer Herkunft nach Geloer waren, und die von Hieron nach Leontinoi verwiesenen Naxier und Katanaier. Die Siedler von Aitna mußten, so wohl von dem Sikelerfürsten Duketios, der das einst ihnen zugesprochene Sikeler land zurückforderte, wie von den Syrakusanern bekriegt, ihren platz aufgeben und sich in Inessa niederlassen, auf das sie den Namen Aitna und auch das Oikistentum Hierons übertrugen, dessen Grab in Aitna von den Gegnern zerstört w'lrde. Nur die Megarer blieben in Syrakus und scheinen hier ohne Beanstandung das Bürgerrecht weiterhin besessen zu haben. Anders dagegen stand es mit den von Gelon in die Bürgerschaft von Syrakus auf genommenen Söldnern, von denen in den sechziger Jahren noch 7000 vorhanden waren. Als man sie nach dem Sturz der Tyrannis aus der Bürgerschaft ausschloß, setzten sie sich längere Zeit erfolgreich zur Wehr, hielten Ortygia und Achradina besetzt und konnten erst nach schweren Kämpfen überwunden werden. Nunmehr scheint in Syrakus, wo man schon nach Thrasybulos' Abzug dem Befreier Zeus
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eine riesige Statue errichtet und ein großes, jährlich am Tage des Tyrannensturzes zu begehendes Fest mit Agonen, Opfern und Volksspeisung gestiftet hatte, einiger maßen Ruhe eingetreten zu sein. Fehlte es auch an tyrannischen Umtrieben nicht, so blieb doch die von Gelon gegebene, mindestens formal demokratische Verfas sung bestehen. Auch in den anderen Griechenstädten, von denen Gela, Akragas und Himera besonders genannt werden, war die Auseinandersetzung mit den einstigen Ty rannensöldnern, die Entfernung der Neubürger und die Rücksiedlung Alteinge sessener, die ihren Besitz zurückverlangten, mit mannigfachen Wirren und Kämp fen verbunden. Dabei gerieten naturgemäß auch die Interessen verschiedener Ge meinwesen miteinander in Konflikt, so daß eine generelle Regelung sich als notwendig erwies. Ein von den meisten Städten beschickter Kongreß nahm sie um 460 in der Weise vor, daß allenthalben die Altbürger wieder aufgenommen, den Fremden aber, das heißt den Söldnern oder Leuten, die aus keiner hellenischen Stadt Siziliens stammten, Wohnsitze im Gebiet von Messana (Zankle) angewie sen werden sollten. Denn auch dort hatte inzwischen die Tyrannis, die Anaxilaos begründet hatte, ihr Ende gefunden. War das gesamte Griechentum der Insel von der Freiheitsbewegung ergriffen worden, so bewährte sich diese Gesinnung nun auch im Versuch einer konstruktiven Ordnung der Verhältnisse. Die materielle und geistige Blüte der folgenden Jahrzehnte schien im übrigen die Beseitigung der Tyrannenherrschaften, die freilich in manchem die Voraussetzungen dafür ge schaffen hatten, zu rechtfertigen. Und auch außenpolitisch entbehrte man die Zwingherren nicht. Denn die Karthager- und Etruskergefahr war durch sie gründ lich gebannt worden. Die Sikeler wurden zwar unter ihrem Führer Duketios, der die einzelnen Bergstädte zusammenfaßte und eine monarchische Stellung nach Art der griechischen Tyrannen einnahm, in den fünfziger Jahren bedrohlich, doch fielen sie bald in Zersplitterung und Ohnmacht zurück und hellenisierten sich in der Folgezeit mehr und mehr. Gleichwohl blieb die Frage offen, ob bei den Grie chen Siziliens in ihrer exponierten Lage der erstarkte Polisgeist auf die Dauer kräftig genug sein würde, das Aufkommen neuer Gewaltherrschaften im Keim zu ersticken, und ob, falls noch einmal eine große Gefahr von außen drohen sollte, man ohne Führung durch einen herrscherlichen Mann gemeinsam eine starke Abwehrfront bilden würde.
S I EBENTE S K A P I TE L
U N T E R I TA L I E N
1. RHEGION
Die bedeutendste Tyrannis auf italischem Boden, diejenige des Anaxilaos von Rhegion, ist allein schon dadurch, daß sie nach Zankle übergriff, mit Sizilien eng verbunden. Rhegion war eine chalkidische Pflanzstadt, doch schon am Ende des 7. Jahrhunderts hatten aus ihrer Heimat entwichene Messenier hier Aufnahme gefunden, und nicht nur Anaxilaos selbst, auch der Dichter Ibykos, der angeblich bald nach 550 die Tyrannis über die Stadt hätte gewinnen können, sind messeni scher Abkunft gewesen. Ja die führende Schicht, die um 500 eine Aristokratie der «Tausend» bildete, bestand in ihren Häuptern aus Nachkommen der eingewander ten Messenier. Einer dieser vornehmen und reichen Herren, Anaxilaos, Sohn des Kretines, riß im Jahre 494 die Herrschaft an sich, indem er die Burg der Stadt besetzte. Ob dies mit Hilfe einer Hetairie, mit Söldnern oder an der Spitze des niederen Volkes geschah, erfahren wir nicht, wie denn die überlieferung auch von der Art und Form seines Regimentes weitgehend schweigt. Immerhin machen eine freilich späte Erwähnung seiner Gerechtigkeit und Beliebtheit, die Tatsache, daß man ihm später weise Aussprüche zuschrieb, und der Umstand, daß er acht zehn Jahre lang (494-476) die Herrschaft behaupten, sie auch ohne Schwierigkei ten seinen Söhnen vererben konnte, eine kluge und maßvolle Ausübung der Macht wahrscheinlich. Bezeichnenderweise ist auch von keiner Leibwache die Rede. Schon im Hinblick auf seine außenpolitischen Pläne und Unternehmungen, dürfte Ana xilaos es vermieden haben, die Standesgenossen wie auch die übrige Bürgerschaft zu erbittern. An den panhellenischen Agonen im Mutterland hat er sich anschei nend in geringerem Maße beteiligt als die Herren von Syrakus und Akragas, doch erregte allgemeines Aufsehen der Sieg seines Maultiergespanns zu Olympia (wohl 480), den er mit einer Bewirtung sämtlicher Festteilnehmer prächtig feierte, auf rheginischen Münzen verherrlichen und durch Simonides im Liede preisen ließ. Im näheren Umkreis war Anaxilaos von Anfang an darauf bedacht, durch Gewinnung von Zankle die Kontrolle und wohl auch die Besteuerung des gesam ten Schiffsverkehrs durch die Meerenge in seine Hand zu bekommen. In anderem Zusammenhang war bereits zu erwähnen, wie die Auswanderer aus Samos sich
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auf seinen Rat nicht in KaIe Akte festsetzten, sondern Zankle in Besitz nahmen. Wenn der Tyrann jedoch gehofft hatte, dadurch selbst eine Art von Oberherr schaft über diese Stadt zu bekommen, so sah er sich bald enttäuscht. Zwar die bedrohli che Macht des Hippokrates erstreckte sich nun nicht mehr bis an die Meerenge, aber die Samier in Zankle suchten ihre Freiheit nicht nur gegen den sizilischen Gewalthaber, sondern auch gegen Anaxilaos zu behaupten. Als wenige Jahre später (wohl um 490) Kadmo5, der einstige Herr von Kos und Sohn jenes Skythes, der von Hippokrates über Zankle gesetzt, wegen des Verlustes der Stadt aber in Haft genommen worden war, aus dem Osten eintraf, nahm man ihn auf und übertrug, wie es scheint, dem wegen seiner Selbstlosigkeit geschätzten Manne die Herrschaft über das Gemeinwesen, wohl in der Meinung, dadurch sich gegen Anaxilaos besser halten zu können. Diese Erwartung erfüllte sich freilich nicht. Denn bereits nach kurzer Zeit eroberte Anaxilaos Zankle, vertrieb die Samier und siedelte eine buntscheckige Bevölkerung, darunter nicht wenige einstige Messenier an, die jüngst nach einem erfolglosen Helotenaufstand ihre Heimat verlassen hat ten. Weniger im Hinblick auf sie als auf die eigene messenische Abkunft gab er dem Platz den Namen Messana, den er bis heute trägt (Messina) . Die Stadt bildete wei terhin eine eigene Polis neben Rhegion, aber Anaxilaos gebot als Tyrann über bei de, ließ hier wie dort Münzen schlagen und hat nur in späteren Jahren eine Teilung der Herrschaft vorgenommen, als er Rhegion seinem Sohn Leophron anvertraute, während er selbst über Messana waltete. Hier scheint sich das von ihm begün stigte dorische Bevölkerungselement durchgesetzt zu haben, so daß zur gleichen Zeit, als durch die Deinorneniden und Theron die meisten chalkidischen Pflanz städte auf Sizilien vergewaltigt wurden, auch an der Meerenge das Ionertum schwere Einbuße erlitt. Sein übergreifen nach Sizilien mußte Anaxilaos in ein gespanntes Verhälmis zu Gelon bringen, dessen Herrschaft sich nordwärts bis nach Naxos erstreckte und der in Syrakus, das er seit 485 besaß, eine große Flotte baute, mit der er früher oder später den Kampf um die Meerenge eröffnen konnte. Nicht zufällig begab sich daher der aus Zankle verjagte Kadmos an den Hof des Deinomeniden. Da dieser mit Theron eng verbündet war, schloß Anaxilaos als Gegenzug ein Bündnis mit Terillos von Hirnera, dessen Tochter Kydippe er in zweiter Ehe heiratete. Als um 482 sein Schwiegervater von Theron vertrieben wurde, trat er für Teril los ein und forderte wie dieser die Karthager zum Einschreiten auf. Indern er ihnen seine Kinder als Geiseln gab, scheint er sich verpflichtet zu haben, die Durchfahrt der Flotte Gelons durch die Meerenge zu verhindern, was offenbar auch gelang. Aber in der Schlacht von Himera (480) fiel die Entscheidung zugunsten seiner Gegner, und nun beeilte sich der Tyrann mit dem zu ungeahnter Macht aufgestie genen Gelon Frieden zu schließen, was um so leichter möglich war, als dieser aus
Anaxilaos und Mikythos
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unbekannten Gründen nicht nach dem Besitz von Messana verlangte. Durch Ver mählung einer Tochter des Anaxilaos mit Hieron wurde ein Freundschaftsverhält nis hergestellt, das den Herrn der Meerenge in seiner bisherigen Stellung beließ, ihm aber keine Ausweitung seiner Macht gestattete. So konnte er zwar, wofern er es nicht schon früher getan hatte, Skyllaion am nördlichen Ausgang der Wasser straße befestigen und damit den etruskischen Piraten das Eindringen in den Sund verwehren, als er jedoch im Jahre 477 die epizephyrischen Lokrer anzugreifen suchte, intervenierte Hieron und zwang seinen Schwiegervater zur Einstellung des Kampfes. Ein Jahr darauf starb Anaxilaos, dem Leophron im Tode unmittelbar vorangegangen zu sein scheint. Denn nicht er übernahm die Herrschaft, sondern Mikythos, des Choiros Sohn, wahrscheinlich ein Verwandter, den der Tyrann zum Vormund seiner noch unmündigen Söhne von Kydippe bestellt hatte. Mikythos, der neun Jahre über Rhegion und Messana geboten hat (476-467), führte wie Anaxilaos ein maßvolles Regiment, doch ließ er sich außenpolitisch in Unternehmungen ein, die unglücklich verliefen. Auf eigene Faust, als Tyrann, trat er in Verbindung mit den Tarentinern und nötigte, als diese in schwere Kämpfe mit den iapygischen Stämmen des Hinterlandes gerieten, die «Städter» von Rhe gion zur Hilfeleistung mit großer Heeresmacht. Aber die vereinten Streitkräfte er litten eine furchtbare Niederlage - Herodot bezeichnet sie als das größte Blutbad von Hellenen, das er kenne - und allein die Rheginer verloren 3000 Mann (um 473 ) . Immerhin vermochte Mikythos zwei Jahre später an der tyrrhenischen Küste in Pyxus, südöstlich von Elea, eine Pflanzstadt anzulegen, die sich freilich nur kurze Zeit halten konnte. Seine Stellung in Rhegion und Messana hatte durch jene Nie derlage keine Einbuße erfahren, geschweige daß die beiden Städte versucht hätten, sich seiner zu entledigen. Mikythos hat vielmehr, als nach einigen Jahren (467) die herangewachsenen Söhne des Anaxilaos auf Betreiben Hierons Rechenschaft von ihm forderten, diese vor den Freunden ihres Vaters geleistet und die Tyrannis frei willig den Söhnen übergeben. Es heißt, sie hätten ihn angesichts seiner Redlich keit gebeten, die Herrschaft weiterzuführen, er aber habe das abgelehnt. Jeden falls begab er sich, vom Wohlwollen der Bevölkerung begleitet, mit seinem per sönlichen Besitz nach Tegea in Arkadien, wo er seine Tage beschloß. Ob die unge wöhnlich große Zahl von Statuen, die Mikythos auf Grund eines Gelübdes für die Genesung seines Sohnes nach Olympia weihte, erst nach seiner Abdankung oder schon vorher in Auftrag gegeben wurde, ist ungewiß ; politische Bedeutung hatten diese Stiftungen des reichen Mannes anscheinend nicht. Der Gedanke liegt nahe, daß Mikythos die Herrschaft nicht ungern nieder gelegt hat, weil er angesichts des Endes der Tyrannis über Akragas und Himera und der zunehmenden Freiheitsbewegung im Bereich der Deinomeniden die Jahre des monarchischen Regimentes auch an der Meerenge für gezählt hielt. Dachte er
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so, dann sah er richtig, denn einige Jahre später (um 461) vertrieben die Bürger von Rhegion und Messana die Söhne des Anaxilaos und stellten die freistaatliche Verfassung wieder her, nicht ohne daß es dabei und in der Folge zu schweren Wirren gekommen wäre. Vor allem Messana, das kaum noch Altbürger besaß und deshalb auf Beschluß des Kongresses der sizilischen Griechenstädte die ander wärts ausgewiesenen Söldner oder fremden Siedler der gestürzten Tyrannen auf nehmen mußte, hatte schwer zu leiden. Man kann bezweifeln, ob die beiden Plätze sich während der nächsten Jahrzehnte in einem besseren Zustand befunden haben als unter der im ganzen milden Herrschaft der Anaxilaosfamilie.
I r . S TÄ D T E AM T A R E N T I N I S C H E N G O L F
Soweit in den Städten am Tarentinischen Golf Tyrannen anzutreffen sind, handelt es sich um Männer von relativ geringer Bedeutung. In der Zeit vor 510 herrschte über das blühende Sybaris ein Telys, der als Führer des hier besonders zahlreichen Demos die vornehmsten Bürger angeklagt und die Verbannung der fünfhundert Reichsten sowie die Konfiskation ihres Vermögens bewirkt hatte. über Art und Form seines Regimentes ist nichts überliefert, doch verdient hervorgehoben zu werden, daß, während bei den großen sizilischen Tyrannen und bei Anaxilaos kaum etwas von sozialen Bewegungen erkennbar ist, die das Aufkommen einer Gewaltherrschaft begünstigten, sich Telys die in Sybaris zwischen der Masse des Volkes und den reichen Grundherren bestehende Spannung zunutze machen konnte. Die ihres Besitzes beraubten und vertriebenen Männer fanden in Kroton Aufnahme, wo ein oligarchisches Gemeinwesen bestand, beeinflußt oder gar ge leitet von Pythagoras und seiner Sekte, deren aristokratischer Geist ein Paktieren mit dem Demagogen-Tyrannen ausschloß. Ja man verbannte einen angesehenen Bürger namens Philippos, weil er um Telys' Tochter angehalten hatte, und lehnte angeblich die von diesem geforderte Auslieferung der Verbannten kategorisch ab. Als Telys darauf, den Warnungen des Sehers Kallias zum Trotz, den Krieg mit Kroton begann, wurde er in der Entscheidungsschladlt vollständig geschla gen und von den bitter enttäuschten Sybariten umgebracht, die bei der Abschlach tung seiner Anhänger nicht einmal die Heiligkeit der Altäre geachtet haben sollen. Die schwere Niederlage hatte in Kürze den Fall von Sybaris und die Zerstörung der reichen und mächtigen Stadt durch die Krotoniaten zur Folge (5':'1110) . Aber auch das siegreiche Kroton entging in der Folgezeit der Tyrannis nicht. Wohl einige Zeit nach Sybaris' Untergang gelang es dem einheimischen Kylon mit seiner Hetairie, den Pythagoras zu verdrängen, der sich nach Metapont be geben und dort gestorben sein soll. Nicht lange darauf vermochte ein anderer Kro-
Sybaris. Kroton. Elea
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toniate, Kleinias, die Herrschaft der Oligarchen zu stürzen und sich zum Tyran nen der Stadt zu machen. Nach dem einzigen, leider sehr summarischen Bericht, den wir darüber besitzen, erreichte er sein Ziel dadurch, daß er Verbannte sam melte und Sklaven befreite. Die angesehensten Bürger soll er teils getötet, teils ausgewiesen haben; auch heißt es, daß er anderen Städten die Freiheit nahm. Bei den Exulanten wird es sich um Führer des Demos, bei den Sklaven um bisherige Hörige gehandelt haben, die er zur Freiheit aufrief. Wie in Sybaris war es allem An schein nach auch hier der Haß der niederen Schichten gegen die reichen Herren, der einern machtgierigen Manne die Möglichkeit zur Errichtung der Tyrannis gab. Freilich nur für kurze Zeit. In Kroton ist offenbar bald die pythagoreisch be stimmte Oligarchie wiederhergestellt worden und hat sich behaupten können, bis sie um die Mitte des 5. Jahrhunderts ein gewaltsames Ende fand. Was die anderen pflanzstädte arn Tarentinischen Golf betrifft, so ist in Tarent selbst kein Tyrann nachzuweisen, denn Aristophilides, der hier nach Herodots Angabe kurz vor 500 König war, scheint die in der spartanischen Kolonie be wahrte Königswürde besessen zu haben. In Herakleia am Siris soll ein Tyrann, der vielleicht Arche/aas hieß und einen befestigten Platz streng bewacht hielt, von einern Antileon umgebracht worden sein, weil er dessen Liebling Hipparinos entführen wollte. Dem Freundespaar seien darauf von der für die Befreiung dank baren Stadt eherne Standbilder gesetzt worden. Aristoteles und andere verlegten die Tat nach Metapant und scheinen eine Tyrannis dort in der Zeit zwischen 550 und 51.4 angenommen zu haben.
I I I . E LE A
Kaum besser als in dem soeben angeführten Falle steht es mit unserem Wissen um eine Tyrannis in Elea an der tyrrhenischen Küste. Zwar ist im Altertum immer wieder die Geschichte erzählt worden, wie der berühmte Philosoph Zenon gegen den dortigen Gewalthaber einen Anschlag vorbereitete, nach der Entdeckung ge foltert wurde und dabei heroische Standhaftigkeit bewies. Aber schon die Tat sache, daß man sich über den Namen dieses Tyrannen nicht im klaren war (Nearchos, Diomedon oder Demylos), diskreditiert den historischen Wert dieser Schilderungen, die letztlich nicht viel mehr bieten als eine der seit dem 4. J ahr hundert so beliebten Legenden von der Charakterstärke einzelner Philosophen beim Ertragen der ihnen durch einen Wüterich angetanen Qualen, bereichert um einige die Schlauheit des Zenon illustrierende Züge. Immerhin dürfte hier eine Erinnerung bewahrt sein, daß Elea in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts zeit weise unter einer Tyrannis stand, von der sonst keine Kunde erhalten ist.
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IV. KYM E
Ein relativ ausführlicher, wohl auf eine hellenistische Stadtgeschichte zurückgehen der Bericht liegt uns über einen Gewalthaber in der nördlichsten griechischen Kolo nie an Italiens Westküste, Aristodemos von Kyme, vor, doch ist diese Erzählung, mindestens zum Teil, durch das seit dem 5. Jahrhundert herrschende allgemeine Tyrannenbild beeinflußt und gestattet nicht immer eine klare Scheidung zwischen echter überlieferung und späterer Ausgestaltung. Als gesichert kann gelten, daß Aristodemos, des Aristokrates Sohn, der das Gemeinwesen leitenden aristokrati schen Schicht angehörte, sich aber, erbittert über mangelnde Anerkennung einer von ihm bei Abwehr der Etrusker, Umbrer und Daunier im Jahre 524 vollbrachten Heldentat, von seinen Standesgenossen abwandte und zum Führer des Demos auf warf. Als zwanzig Jahre später die an der Spitze des Latinerbundes stehende Stadt Aricia die Hilfe der Kymaier gegen Aruns Porsenna, den Sohn des bekannten Er oberers von Rom, anrief, wurde Aristodemos an der Spitze eines größeren Kon tingentes von Fußtruppen über See nach Latium gesandt. Die regierenden Grund herren, heißt es, hätten gehofft, daß er dort sein Ende finden werde. Doch vor den Mauern Aricias errang er einen glänzenden Sieg und kehrte mit reichen Ehren geschenken der dankbaren Latiner und zahlreichen Kriegsgefangenen zurück. Seine Truppen, die er aus der Beute großzügig bedachte, verpflichtete er sich durch Eidschwur zu unbedingter Gefolgschaft und gewann auch die etruskischen Gefan genen als Anhang, indem er sie gegen Lösegeld frei ließ. Bei Gelegenheit seiner Rechenschaftsablage vor dem Rat vollzog er dann den Staatsstreich. Die versam melten Häupter der Aristokraten wurden von seinen Leuten niedergemacht, Burg, Schiffswerften und feste Plätze in der Stadt besetzt, zum Tode Verurteilte aus der Haft befreit. Aus ihnen und den freigelassenen Kriegsgefangenen bildete Aristo demos sich eine Leibwache. Vor dem Volk rechtfertigte er sein Vorgehen als Not wehr und machte hinsichtlich der nun zu begründenden Freiheit und Gleichheit große Versprechungen. Im besonderen soll er Aufhebung der Schulden oder La sten und eine Neuverteilung des Bodens in Aussicht gestellt, zugleich aber ver langt haben, daß ihm zur Durchführung dieser Maßnahmen vorübergehend, näm lich bis zur Errichtung einer demokratischen Ordnung, die absolute Gewalt über tragen würde, was ihm das Volk auch zugestanden hätte. Trifft dies zu, so war des Aristodemos Stellung zunächst eine mindestens quasilegale, nicht eine Tyran nis im strengen Sinne des Wortes. Eine solche wurde sie jedod, bald durch die Nichterfüllung des Versprechens einer demokratischen Staatsbildung, durch die da'.lernde Beibehaltung der außerordentlichen Vollmachten und vor allem durch die angeblich mit List erreichte Selbstentwaffnung der Bürgerschaft. In Wahrheit herrschte der Gewalth:.-. ber also weniger auf Grund der ihm gewährten Befug-
Aristodemos 'Von Kyme
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nisse als dank einer ihm persönlich ergebenen und offenbar von ihm besoldeten Truppenmacht, die er aus seinen Helfern beim Staatsstreich, aus Sklaven, die ihre Herren getötet hatten, und aus 2000 nichtgriechischen Söldnern gebildet haben soll. Von der Tyrannis des Aristodemos, die vierzehn Jahre (ca. 50514-491/0) Bestand hatte, werden, was sein Schalten in Kyme betrifft, fast nur Gewalttaten schlimm ster Art erzählt. Daß er angeblich die von den Aristokraten errichteten Stand bilder beseitigen, ihre Häuser und Ländereien beschlagnahmen ließ, Wertgegen stände aus ihrem Besitz für sich selbst behielt, anderes, wohl vornehmlich liegen schaften, zur Belohnung seiner Trabanten verwandte, entspricht dem Verfahren mancher anderer Tyrannen. Eine besondere Note dagegen hat das dem Gewalthaber zugeschriebene Verfahren gegen die Söhne der beim Staatsstreich umgebrachten Häupter des Adels, deren Rache er naturgemäß fürchten mußte. Sie blieben, so wird erzählt, auf Bitten der mit ihren Müttern vennählten Gefolgsleute des Ty rannen zwar am Leben, mußten aber auf dem Lande wie Knechte arbeiten und jedes standesgemäßen Umganges entbehren. Wenn freilich darüber hinaus be hauptet wird, daß die gesamte männliche Jugend der Stadt von Aristodemos syste matisch verweichlicht worden sei, indem er sie wie Mädchen behandeln und er ziehen ließ, so dürfte das schwerlich ernst zu nehmen oder gar als Zeichen etruski schen Einflusses auf Aristodemos zu verstehen sein, sondern eher einer Mißdeu tung des Beinamens «Malakos» (der Weichliche) entstammen, den man nach Plutarch dem jungen Aristodernos wegen seiner Haartracht gegeben hatte und der ihm auch weiterhin geblieben zu sein scheint. Eine solche Deutung konnte sich um so leichter einstellen, als der Tyrann - wie übrigens auch Polykrates - die standesgemäße Betätigung und Ertüchtigung der vornehmen Jugend zu verhin dern suchte. Gleichfalls nicht nur dem Aristodernos eigen ist der Wunsch, die Bür gerschaft durch öffentliche Arbeiten zu beschäftigen und sie so von Zusammen künften mit politischer Absicht femzuhalten. Wenn er angeblich zu diesem Zweck einen Graben um das Land ziehen ließ, so braucht es sich nicht, wie die Überlieferung meint, um ein nutzloses Unternehmen gehandelt zu haben, man kann durchaus an Abwässerungsanlagen oder dergleichen denken, wie ja nicht wenige Tyrannen technische Werke größeren Ausmaßes in Angriff nahmen. Auf kriegerische Unternehmungen scheint sich Aristodemos, der die Bürger schaft entwaffnet hatte, nicht eingelassen zu haben. Wir erfahren aber, daß der letzte etruskische Herrscher über Rom, in der Tradition Tarquinius Superbus ge nannt, nach der Schlacht am See Regillus (um 496), die ihn der letzten Hoffnung auf Rückkehr in die Tiberstadt beraubte, sich mit seinem Anhang nach Kyme be geben habe, wo er bald darauf hochbetagt gestorben sei. Nach seinem Tode soll sich Aristodernos dieses Anhangs angenommen und Getreide, das eine römische
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Gesandtschaft in Kyme aufgekauft hatte, als Gegenwert für die konfiszierten Gü ter der Tarquinier zurückbehalten oder - nach einer anderen Version - im Inter esse der Flüchtlinge Unterhandlungen mit den Gesandten gesucht haben. Als diese sich dessen weigerten und angesichts der den Exulanten freundlichen Haltung des Tyrannen die Stadt gegen Bürgschaft verließen, hätte Aristodernos sich ihre Die ner, Lasttiere und das hinterlegte Geld widerrechtlich angeeignet. Sowenig auf diese Angaben, die zudem nicht auf die Stadtgeschichte von Kyme zurückgehen, Verlaß ist, das Eintreten des Gewalthabers für die Sache der vermutlich von Por senna, dem Vater, vertriebenen Tarquinier scheint nicht unglaublich. Die etruski schen Dynasten von Rom, die den Korinther Demaratos zu ihren Ahnen zählten, dürften in ihrer Stellung und ihrem Gebaren sich von den griechischen Stadt herren nur wenig unterschieden haben, mag auch die Charakterisierung des Tar quinius Superbus durch die Annalisten sich stark an dem zu ihrer Zeit gültigen hellenistischen Tyrannenbild orientiert haben. Die Solidarität von Tyrannen, die in der griechischen Welt mehrfach begegnet, könnte auch für das Verhältnis des Aristodemos zu dem letzten Tarquinier bestimmend gewesen sein, hatten doch beide, wie es scheint, Porsenna oder seinen Sohn zum Feind und den Adel ihrer Städte zum Gegner. Was vom Sturz des Aristodemos berichtet wird, ist nicht weniger als die An gaben über seine Herrschaft mit fragwürdigen Zügen ausgestattet. Nach einer von zwei Versionen hätte Xenokrite, die Tochter eines verbannten Adligen, die der Tyrann zur Gattin genommen hatte, an der Erregung eines Aufstandes wesent lichen Anteil gehabt, während die andere Version von ihrer Beteiligung nichts weiß. Beide Erzählungen stimmen jedoch darin überein, daß der Aufstand von den Söhnen der Aristokraten ausging, die in die Berge geflüchtet waren und von dort aus mit Standesgenossen, die einst aus Kyme entkommen und in Capua an sässig geworden waren, Verbindung aufnahmen. Diese hatten die Möglichkeit, Söldner anzuwerben und Waffen zu beschaffen. Nachdem man gemeinsam zu nächst nächtliche Einfälle in das kymaiische Gebiet unternommen, Gefangene befreit und Sklaven zur Freiheit aufgerufen hatte, gelang es den Insurgenten schließlich, indem sie den greisen Tyrannen durch einen vorgeblichen Überläufer täuschten, vom Averner See her in die Stadt einzudringen, sei es daß sie sich durch List Eingang verschafften, sei es daß Xenokrite ihnen die Tore öffnen ließ. Aristodernos wurde bei einem Zechgelage überwältigt und martervoll hingerichtet; auch seine Angehörigen fanden den Tod bis auf Xenokrite, die sich den Leichnam ihre s Gatten zur Bestattung ausgebeten haben und von den dankbaren Kymaiern Z1.
Aristodemos von Kyme
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Küste die Tyrannis allem Anschein nach nur eine Episode ohne tiefere Wirkung auf die Gestaltung der Polis. Insofern steckt in der Tradition, die nur von dem willkürlichen und grausamen Schalten des Aristodemos zu berichten weiß, trotz allen Zweifeln, die sie in zahlreichen Punkten erweckt, eine tiefere Wahrheit.
A C H T E S K A P I TE L
D I E H I S T O R I S C H E F U N K T I O N D E R Ä LT E R E N TYRAN N I S Die ältere Tyrannis war eine Erscheinung der archaischen Epoche des Griechen tums, das heißt einer Zeit, in der machtvolle Adelsgeschlechter und reiche Grund herren die Leitung der Gemeinwesen innehatten, selbst dann noch, wenn bereits nichtadligen Schichten der Bevölkerung das Bürgerrecht zuerkannt worden war. Die Tyrannen entstammten ausnahmslos diesen vornehmen Familien; eben des halb waren ihre natürlichen Gegner die Standesgenossen, die es nicht ertrugen, daß einer von ihnen sich über sie erhob. Ein nach Alleinherrschaft strebender Mann bedurfte mithin einer starken persönlichen Gefolgschaft. Er konnte sie in einer Hetairie von Adligen, die nach Teilnahme an einer solchen Herrschaft ver langten, in Söldnern, die anzuwerben ihm sein Reichtum gestattete, oder bei der Masse der Kleinbauern und Städter finden, deren wirtschaftliche, soziale und po litische Forderungen er, wenn man ihm die Macht verschaffe, durchzusetzen ver sprach. Auch mit Hilfe eines auswärtigen Fürsten, sei es der Perserkönig oder der Tyrann einer anderen Stadt, war es ihm gegebenenfalls möglich, Herr über das heimische Gemeinwesen zu werden. Für Art und Form der Herrschaft machte es jedoch wenig aus, auf welche Weise die Tyrannis gewonnen worden war; sie be deutete in jedem Falle eine bald härtere, bald sanftere Vergewaltigung des Ge meinwesens durch den neben und über ihr stehenden Gewalthaber. Denn nicht der seit dem 7. Jahrhundert aufsteigende Gedanke des Rechtsstaates fand in den Ty rannen seine Vertreter, es kulminierte vielmehr das unstaatliche Besitz- und Machtstreben der Adelshäuser in einem einzelnen Manne, der sogar die Bande der Standessolidarität zerriß, wenn er, um sein Ziel zu erreichen, das niedere Volk gegen die Herrenschicht aufrief. Die Lösung einer eigenwilligen, kraftvollen Per sönlichkeit aus dem Kollektiv der aristokratischen Gesellschaft, ein Symptom des beginnenden Zerfalls der Adelswelt, entband freilich zugleich neue, zukunftsvolle Kräfte und gab fortschrittlichen Tendenzen Raum. Wohl waren diese bei den mei sten Tyrannen eng mit ihrem egoistischen Verlangen nach Herrschaft und Reich tum, nach Ruhm und Genuß verbunden, ob es sich nun um eL.1e imperialistische Politik, um Rationalisierungsmaßnahmen oder technische Verbesserungen, um prächtige Ausgestaltung der Götterfeste oder große Bauunternehmen handelte, aber unvermeidlich gewannen ihre Neuerungen eigenes Gewicht und wurden zu einem bleibenden Besitz der Polis.
Historische Funktion der älteren Tyrannis
Was das außenpolitische Wirken der Tyrannen betrifft, so ist im Mutterland seine historische Bedeutung relativ gering gewesen, wie schon Thukydides mit dem Hinweis darauf bemerkt hat, daß die Gewalthaber vorwiegend auf ihre eigene Sicherheit bedacht waren. In der Tat wurden sie dadurch in ihrer Aktivität nach außen gehemmt, zumal da auf das Bürgeraufgebot und noch weniger auf die Standesgenossen Verlaß war. Territorial hat denn auch die Tyrannis den Gemein wesen in Hellas keine wesentliche Veränderung gebracht. Das Verlangen nach auswärtigem Besitz ist von den Tyrannen, wenn überhaupt, in der Ferne befrie digt worden durch Anlage oder Gewinnung griechischer Pflanzstädte. Insofern haben namentlich die Kypseliden, aber auch Peisistratos und der ältere Miltiades in der Geschichte der Kolonisation ihren Platz, und Korinth konnte so etwas wie ein Kolonialreich von seinen Tyrannen erben. Im ganzen jedoch wird man sagen dürfen, daß im Mutterlande die geschichtliche Funktion der Tyrannis kaum eine außenpolitische gewesen ist. Anders in den Randgebieten des hellenischen Sied lungsbereiches. Im Osten der Ägäis war einmal die vom Perser ausgehaltene, also außenpolitisch bedingte Klienteltyrannis als Herrschaftsform über griechische Städte eine Erscheinung, die in späteren Jahrhunderten immer wieder auflebte, zum anderen vermochte hier in Nähe und unter Einfluß der orientalischen Welt Polykrates eine herrscherliche Macht zu entfalten, mit der an imperialistischer Energie sich keine Tyrannis im Mutterlande vergleichen konnte. Vergleichbar da gegen war bezeichnenderweise im westlichen Grenzraum die Machtentfaltung dortiger Tyrannen, im besonderen der Deinomeniden, und zwar nicht nur gegen heimische Stämme sowie Karthager und Etrusker, sondern auch über griechische Pflanzstädte. Das Thema der mehr oder minder gewaltsamen Zusammenfassung der Kräfte durch einen Tyrannen zur Abwehr der Barbaren, das bei jeder neuen ernsthaften Bedrohung wiederaufklingen sollte, wurde von jenen Stadtherren zum ersten Male angeschlagen. Doch auch für das gesamte Griechentum läßt sich bemerken, daß in seiner Geschichte der Geist imperialistischer Machtpolitik, der während des 5. Jahrhunderts die Stadtstaaten immer stärker ergriff, von Ty rannen inauguriert und von ihnen als ersten betätigt worden ist, wie es denn auch tyrannische Naturen waren, die ihm in ihrer Polis später zum Durchbruch ve�halfen. Für die innere Entwicklung und künftige Form der Gemeinwesen war einmal allgemein die rationale und zielbewußte Politik von Bedeutung, welche die Tyran nen übten, zum anderen und im besonderen die von ihnen im Mutterlande be wirkte Nivellierung der Stände durch Begünstigung der Bauern oder Handwerker und Beeinträchtigung des Adels. Dieser wurde durch Konfiskationen und Verban nungen geschwächt, mindestens aber politisch entmachtet, während die Kleinbauern häufig größere Unabhängigkeit von ihren bisherigen Patronen erlangten und die
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Die historische Funktion der älteren Tyrannis
städtischen Gewerbetreibenden im Zeichen des von den Tyrannen bewußt ge pflegten materiellen Fortschrittes und der damit zusammenhängenden Verlage rung des Schwergewichtes von der ländlichen in die städtische Sphäre zu einer Be deutung in der sozialen Struktur der Polis gelangten, die sie bisher nicht besessen hatten. Bei aller zeitlich, örtlich oder sonstwie bedingten Verschiedenheit der Er scheinungen darf doch die Überwindung der Adelsepoche und die freilich mehr ungewollte als gewollte Vorbereitung der gesellschaftlichen Basis der klassischen Polis als eine historische Funktion der älteren Tyrannis angesehen werden. Selbst für die Randgebiete des griechischen Siedlungsbereiches, Kleinasien und den We sten, trifft das im großen ganzen zu, mochte auch bei den östlichen Ionern der ephemere Charakter der dortigen Gewaltherrschaften und die Tatsache, daß sie großenteils vom Perserkönig ausgehalten wurden, ihre Bedeutung für die innere Entwicklung der Gemeinwesen mindern, in den sizilischen und unteritalischen Pflanzstädten aber das relativ gute Verhältnis, in dem gerade die berühmtesten Tyrannen zum Adel standen, den sich gleichsam unter der Decke vollziehenden Prozeß weniger deutlich werden lassen. Ob der Glanz, den Macht, Hofhalt, Bauten und prächtige Begehungen eines Tyrannen über seine Stadt verbreiteten, den patriotischen Stolz ihrer Bürger schwellen ließ, ist schwer zu sagen. Diejenigen vornehmen Herren, die im An schluß an den Tyrannen Sicherheit, Gewinn oder Ehren suchten, mögen sich in solchen Gefühlen ergangen, vielleicht auch betäubt haben, desgleichen jene Teile der Bevölkerung, die von seinen Aufträgen lebten oder in seinem Solde standen. Auch aus der Bauernschaft sahen gewiß viele, wenn der Machthaber sie vom Druck des Adels befreite, ihnen die friedliche Arbeit sicherte, den Ackerbau förderte oder gar ihren jüngeren Söhnen durch Eroberungen und Anlage von Kolonien Land verschaffte, in seiner Herrschaft trotz der etwa erhobenen Ertragssteuer nichts Entwürdigendes oder Verabscheuungswertes. Aber der den Hellenen eingeborene Drang nach Verwirklichung einer Gemeinschaft freier Männer, die sich selbst die Formen des politischen Lebens setzt, konnte auf die Dauer auch durch die maß vollste und erfolgreichste Tyrannis nicht eingeschläfert, geschweige denn erstickt werden. Für die Mehrzahl der vornehmen Herren, die selbst oder deren Väter bereits Träger einer solchen Gemeinschaft gewesen waren, verstand sich das ohne weiteres, mußten sie doch - am bittersten dort, wo der Gewalthaber zur Entwaff nung geschritten war - unter dem Verlust der freien politischen und kriegerischen Betätigung, der zudem ihre Ehre traf, empfindlich leiden. In den anderen Schichten begann wohl erst während des 6. Jahrhunderts unter der Einwirkung «legalisti scher» religiöser Strömungen jener Wille zur Autonomia zu erstarken. Den von ihm Ergriffenen genügten nicht mehr die materiellen Vorteile, welche die Tyran nis bieten mochte, das bloß formale Fortbestehen der Polisverfassung konnte sie
Ältere Tyrannis und werdender Polisgeist
nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Wahrheit alle wesentlichen Entscheidungen durch den Machthaber oder nach seinem Willen getroffen wurden, und die von ihm erhobenen Steuern schienen ihnen sich kaum von denen zu unterscheiden, die der Perserkönig von seinen Untertanen forderte. Dazu kam in nicht wenigen Fäl len Verschärfung und Mißbrauch der Herrschaft durch die Nachfolger des ersten Tyrannen, die ihm an Charakter, Klugheit und Kraft nachstanden, als bloße Erben auch der Autorität des Gründers entbehrten. Ihre Härte und Willkür machte die Tyrannis vollends unerträglich, ihre Übergriffe entfachten erst recht das Verlangen nach einem alle bindenden Gesetzesstaat. So hat die Tyrannis wider Willen selbst erheblich dazu beigetragen, daß die Idee der Polis, wie sie schon Solon aufgezeigt hatte, sich verwirklichen konnte. Dabei ist es abgesehen von Sizilien und Unter italien, nur selten zur Beseitigung der Gewaltherrschaft durch eine spontane Erhebung der Bevölkerung gekommen und Attentate wie das des Harmodios und Aristogeiton scheinen mindestens ebenso sehr persönlicher Erbitterung über ehren rührige Kränkung wie dem Verlangen nach Befreiung der Stadt von der Gewaltherr schaft entsprungen zu sein. In Athen und anderswo verdankte man den Sturz der Tyrannis Sparta, auf kleinasiatischem Boden waren es die Perser selbst oder die sieg reiche Flotte der mutterländischen Griechen, die ihr ein Ende bereiteten. Doch wie dem auch in den einzelnen Städten gewesen sein mochte, an die Stelle des mon archischen Regimentes trat allenthalben nun die Isonomia, die Gleichberechtigung zumindest innerhalb der das Gemeinwesen im Rahmen der gesetzlichen Ordnung leitenden Schicht, die von den adligen Familien gebildet wurde. Die zwischen ihnen seit alter Zeit bestehenden Rivalitäten konnten sich wieder frei auswirken, das durch die Tyrannis niedergehaltene politische Leben erwachte von neuem. Freilich war damit auch die Gefahr verbunden, daß eine Sippe unter einem ehr geizigen und machtgierigen Führer eine derart maßgebliche Stellung im Gemein wesen gewann, daß die Isonomia nicht nur ernstlich bedroht, sondern beeinträch tigt wurde. Eine solche «Dynasteia» war zwar noch keine Tyrannis, weil sie sich einigermaßen in den von der Verfassung gesetzten Grenzen hielt, schien ihr aber ähnlich zu sein und mußte die Furcht erwecken, daß sie in reine Tyrannis um schlagen könnte. Um so mehr, als das zunächst noch immer recht lockere Gefüge des Staates keinen genügenden Schutz dagegen bot und das Verlangen adliger Her ren nach tyrannischer Macht keineswegs erloschen war. Es mußte sich zeigen, ob die von der Tyrannis befreiten Gemeinwesen sich so weit festigen würden, daß sie der Gefahr ihrer Wiederkehr mit Erfolg begegnen und jedes tyrannische Streben für die Zukunft ersticken konnten.
Z W E I T E R TE I L
D A S F Ü N F T E J A H R H U N D E RT
E R S TE S K A P I TEL
N A C H FA H R E N D E R Ä LT E R E N TYRAN N I S
I . AT H E N
Durch den Lakedaimonierkönig Kleomenes war im Jahre 5 11/10 die Tyrannis ge stürzt und Hippias aus Athen vertrieben worden. Das Geschlecht der Alkmeoniden hatte daran insofern Anteil gehabt, als es durch sein Einwirken auf die delphi sche Priesterschaft das Zustandekommen der Aktion bewirkt und schon vorher bei Leipshydrion im Kampf gegen die Gewaltherrschaft sein Blut vergossen hatte. Seinem Haupte Kleisthenes mochte es daher billig scheinen, daß ihm nunmehr die Leitung des befreiten Gemeinwesens gebühre. Aber er fand alsbald in Isago ras, des Teisandros Sohn, und den hinter diesem stehenden Hetairien einen mäch tigen Rivalen und unterlag in dem politischen Kampf, bei dem offenbar die unter der Tyrannis im Lande gebliebenen Herren den verbannten oder emigrierten Stan desgenossen gegenüberstanden. Für das Jahr 508/7 wurde Isagoras zum Archon gewählt. Daraufhin wandte sich Kleisthenes an den Demos, um den er sich nach Herodots Worten bisher nicht gekümmert hatte, und gewann in ihm eine zahlen mäßig starke Anhängerschaft. Beschritt er damit den Weg, auf dem nicht wenige herrschsüchtige Männer vor ihm und in späterer Zeit zur Tyrannis gelangten, waren es ferner die einst dem Peisistratidenregiment nicht abgeneigten niederen Schichten, die er an sich zog, so unternahm er doch keinen gewaltsamen Putsch, sondern brachte seine berühmte Verfassungs reform, durch deren Propagierung er den Demos an sich gezogen hatte, auf gesetzlichem Wege zur Annahme in der Volksversammlung, ohne daß der Archon Isagoras es zu hindern vermochte. Un gesetzlich und tyrannisch verfuhr dagegen dieser, indem er nunmehr den König Kleomenes zu Hilfe rief und ihn bewog, die Alkmeoniden unter Hinweis auf ihre freilich längst getilgte Blutschuld aus der Zeit Kylons des Landes zu verweisen. Kleisthenes mußte weichen, ja Kleomenes, der mit geringer Heeresmacht in Attika erschien, vertrieb auf Rat des Isagoras, dessen Gastfreund der König seit Hippias' Sturz war, sogar noch siebenhundert andere, den Alkmeoniden nahe stehende Familien. Daß er sodann versuchte, den widerstrebenden Rat aufzulösen und die politische Macht dem Isagoras und dreihundert seiner Freunde zu über tragen, unter denen wohl die Angehörigen der genannten Hetairien zu verstehen
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sind, zeugt von der Absicht, eine von Sparta abhängige tyrannisähnliche Herr schaft zu errichten. Aber der Plan scheiterte, weil der vom Rat aufgerufene Demos den Kleomenes, Isagoras und deren Leute, die sich auf die Akropolis zurückgezo gen hatten, nach kurzer Belagerung zum Abzug zwang. Sie setzten sich in Eleusis fest, doch wurden die Athener unter ihnen, wohl nach Heimkehr der Spartaner, vom attischen Aufgebot geschlagen. Man verurteilte sie wegen Tyrannis zum Tode, zerstörte ihre Häuser und zog ihr Vermögen ein. Auf einer ehernen Stele wurde das Urteil aufgezeichnet. Wieweit die Verurteilung in absentia geschah, wissen wir nicht; Isagoras jedenfalls entkam nicht nur, sein Gönner Kleomenes beabsichtigte sogar, ihn nunmehr mit einem großen Heer zurückzuführen und als Tyrann über Athen zu setzen. Doch dieses zweite Unternehmen kam nicht zum Zug. In der Ebene von Eleusis, bis zu der man vorgerückt war, entzweiten sich die Könige Kleomenes und Damaratos. Die Korinther, denen das Ganze bedenk lich schien, zogen heim, und ihrem Beispiel folgten die übrigen Bundesgenossen. Die Gefahr einer von Sparta gestützten Tyrannis des Isagoras war damit gebannt, nicht aber die Gefahr einer Rückführung des Hippias, die, wie in anderem Zu sammenhange zu erwähnen war, Kleomenes bald darauf mit Eifer betrieb. Und als dieses Bemühen bei den Beratungen mit den Peloponnesiern fehlschlug und der die antityrannische Tradition Spartas verleugnende Plan einer Erneuerung der Peisistratidenherrschaft aufgegeben wurde, drohte - auch davon war schon zu sprechen - die Restituierung des Hippias durch die Perser. Zudem lebten weiter hin Verwandte und Freunde der Peisistratiden in Athen, denen unter diesen Um ständen wenig zu trauen war, so daß Wachsamkeit gegenüber ihnen und allen, die des Strebens nach Tyrannis verdächtig sein konnten, für die Verfechter des Frei staates ein dringendes Gebot war. Das galt im besonderen für den bereits nach der Vertreibung des Kleomenes und Isagoras zurückgekehrten Kleisthenes, den Be gründer der neuen freistaatlichen Verfassung, der mit seinem Werk zugleich die eigene Stellung als Führer und Anwalt des Demos (Prostates) zu verteidigen hatte. Denn um diese Stellung ging es ihm, nicht um die Errichtung einer eigenen Ty rannis, mochte sein Aufstieg mit Hilfe des Demos auch an die Art erinnern, wie manche Tyrannen zur Macht gekommen waren, und seine Anhängerschaft im Volk zu einem guten Teil aus Leuten bestehen, die einst den Peisistratiden ange hangen hatten. Die kleisthenische Verfassung, vornehmlidl ihre Phylen- und Demenordnung, war geeignet und wohl auch gedacht, eine Wiederkehr von Zuständen, wie sie um 560 bestanden und damals dem Peisistratos die Gewinnung der Tyrannis er möglicht hatten, zu verhindern. Weitere Sicherungsmaßnahmen folgten in den nächsten Jahren. Zwar wissen wir nicht, wie lange der über sechzig Jahre alte Kleisthenes noch lebte und maßgebenden Einfluß ausübte, aber es scheint doch,
Isagoras. Kleisthenes. Ostrakismos
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daß dies bis zum ersten Jahre des Ionischen Aufstandes der Fall war. Jedenfalls trägt der im Jahre 501 eingeführte Eid der Angehörigen des von ihm geschaf fenen Rates mit der Verpflichtung zur Ausmerzung jedes Strebens nach Tyrannis das Gepräge seines politischen Willens. Nicht minder die Einführung des Ostra kismos, die denn auch, obwohl bekannt war, daß die erste Anwendung beträchtlich später, im Jahre 488/7, erfolgte, von Aristoteles, Theophrast und Späteren dem Kleisthenes zugeschrieben wird. Fortan sollte jeweils in der sechsten Prytanie, also etwa im Januar, die Volksversammlung befragt werden, ob gegen mächtige und darum des Tyrannisstrebens verdächtige Männer eine Abstimmung auf Scherben vorgenommen werden solle. Wurde die Frage bejaht, so fand zu einem festgesetzten Termin die Abstimmung statt, bei der mindestens sechstausend mit einem Namen beschriebene Scherben abgegeben werden mußten. Derjenige, auf den die meisten Stimmen fielen, hatte für zehn Jahre außer Landes zu gehen, ohne daß er jedoch an Ehre und Besitz beeinträchtigt worden wäre, handelte es sich doch um eine Vorsichtsmaßnahme, nicht um eine Bestrafung. Solange Kleisthenes am Ruder war, dürfte kein Anlaß zur Durchführung eines Ostrakismos bestan den haben, und auch als der Peisistratide Hipparchos, Sohn des Charmos, im Jahre 496, vermutlich auf Grund der ungünstigen Wendung des von Athen unterstütz ten Ionischen Aufstandes, zum Archontat gelangte, ist offenbar keine Mehrheit für den Beschluß der Abhaltung eines Ostrakismos im Volk vorhanden gewesen. Die Alkmeoniden, gegen die etwa nun das Verfahren hätte angewandt werden können, scheinen unter ihrem Führer Megakles, des Kleisthenes Neffen, sich mit den im Lande gebliebenen Peisistratiden und deren Anhang verständigt und in dem 493 nach Athen zurückgekehrten Miltiades ihren Rivalen gesehen zu haben. Von der Anklage wegen Tyrannis, die sie gegen ihn im Hinblick auf seine Herr schaft über die Chersones erhoben, wurde er jedoch freigesprochen, offenbar weil er jene Herrschaft nicht über Athener ausgeübt hatte. In den Jahren nach seiner Rückkehr bis zum Siege von Marathon ist von einem Streben des Miltiades nach Tyrannis oder einer tyrannenartigen Stellung nichts zu erkennen. In der Schlad1t war er einer der zehn Strategen, während der Ober befehl bei dem Polemarchen Kallimachos lag, doch wurde der Sieg wesentlich dem Einfluß verdankt, den er auf die anzuwendende Taktik genommen hatte, so daß, zumal da Kallimachos fiel, der Ruhm des Sieges Miltiades umstrahlte. Es scheint nun, daß der einstige Tyrann auf der Chersones im Vollgefühl seiner in Athen gewonnenen Position sich zu einem Unternehmen entschloß, das nicht zufällig an die Außenpolitik mancher früherer Tyrannen erinnert. Im Jahre 489 führte er eine Expedition gegen die Insel Paras, für die er sich von den Athenern, denen er das Ziel des Feldzuges nicht nannte, aber überaus reichen Goldgewinn in Aus sicht stellte, Geld, Truppen und siebzig Schiffe geben ließ. Die Vermutung liegt
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nahe, daß er durch Eroberung der Insel sich wieder eine persönliche Herrschaft, eine eigene Hausmacht neben dem Staat der Athener verschaffen wollte. Per sönliche Motive, wenngleich anderer Art, nennt denn auch Herodot. Den Pariern gegenüber wurde der Angriff mit ihrer Unterstützung der persischen Flotte im Jahre 490 begründet. Ob die Forderung hundert Talente als Buße zu zahlen, ernst gemeint war und Miltiades befriedigt hätte, darf man bezweifeln. Die Parier je denfalls lehnten das Ansinnen ab und brachten durch ihren erbitterten Widerstand das Unternehmen zum Scheitern. Begreiflich, daß nun die Athener sich arg ge täuscht fühlten und Miltiades' Rivalen, im besonderen der mit den Alkmeoniden verschwägerte Xanthippos, zum vernichtenden Schlage ausholten, indem sie ihn des Betruges anklagten. Zwar fand ihr Antrag auf Todesstrafe nicht die Zustim mung der Richter, doch wurde Miltiades zu der enormen Buße von fünfzig Talenten verurteilt, die wohl eine Art von Schadenersatz für die ihm geliehenen Gelder, Truppen und Schiffe darstellen sollte. Der Versuch des herrscherlichen Mannes, sich außerhalb Athens erneut eine Hausmacht zu gründen, war mißlungen und mit dem tyrannischen Unternehmen zugleich die leitende Stellung in Athen verspielt. Miltiades starb kurz darauf an einer vor Paros empfangenen Wunde. Zwei Jahrzehnte waren damals seit dem Sturz der Tyrannis verstrichen, Jahre, in denen das attische Volk außenpolitisch erstarkt und in die kleisthenische Ord nung hineingewachsen war. Hatte 49615 noch ein Peisistratide das höchste Amt innehaben können, so bewirkte der Versuch der Perser, den Hippias zurückzu führen (490) , daß nun die Tyrannenfeindschaft für die überwiegende Mehrheit des Volkes ebenso zur Verpflichtung wurde wie die Ehrung des Harmodios und Aristogeiton, denen man die Begründung des Freistaates zu verdanken glaubte. Angehörige des Peisistratidenhauses oder Männer, die mit ihm paktiert hatten, sollten aus dem politischen Leben entfernt werden, wofür der zu diesem Zwecke geschaffene, aber bisher infolge der innen- und außenpolitischen Lage noch nicht zur Durchführung gekommene Ostrakismos die natürliche Handhabe bot. Jetzt wurde er in drei aufeinanderfolgenden Jahren (488/7-48615) systematisch gegen Tyrannenfreunde angewandt, traf zunächst begreiflicherweise Hipparchos, des Charmos Sohn, sodann Megakies, das Haupt der Alkrneoniden, die nach der Schlacht von Marathon versucht haben sollten, durch ein der persischen Flotte ge gl:'benes Schildzeichen die überrumpelung Athens und damit die Rückführung des Hippias zu ermöglichen, als dritten schließlich einen uns unbekannten Mann. Hipp archos, der später von der Amnestie des Jahres 480 ausgenommen wurde, schloß sich offenbar nunmehr den Peisistratiden im Gefolge des Xerxes an und wurde spätestens 479 als Verräter in absentia zum Tode verurteilt. Eine eherne Statue, die er auf die Akropolis geweiht hatte, wurde zu einer Stele verarbeitet, auf der man des Hipparchos und später auch anderer Verräter Namen verzeichnete. Der
Miltiades gegen Paras. Themistakles
Ostrakismos aber ist seit der Mitte der achtziger Jahre nicht mehr gegen Tyran nenfreunde, die es unter den führenden Männern kaum noch gab, sondern als Mittel im innenpolitischen Kampf angewandt worden. Das gilt auch für die Ostrakisierung des Themistokles im Jahre 471. Denn mochte auch die eigenwillige und selbstherrliche Art, mit der er seine großen Ziele verfolgte, Anstoß erregen und vielleicht sogar tyrannisch wirken, nichts spricht dafür, daß er sich eine persönliche Machtstellung neben und über dem attischen Staat zu begründen gedachte. Vielmehr ist gerade er es gewesen, der den Willen zu größtmöglicher Machtentfaltung, dessen Träger bisher vornehmlich Tyrannen gewesen waren, der Polis einzupflanzen suchte. Weil sie diese in erster Linie gegen Sparta gerichtete Politik ablehnten, nicht weil er ihnen nach Tyran nis zu streben schien, haben seine Gegner ihn zu Fall gebracht. Dann erst, nachdem er Athen verlassen hatte, gibt sein Wirken Anlaß, von ihm im Rahmen einer Geschichte der Tyrannis zu sprechen. Dank seinem Genie und seinen Lei stungen war er in der griechischen Welt und über deren Grenzen hinaus zu einem Ruhm gelagt, der ihm nach Art so mancher Tyrannen und fürstlichen Herren die Aufnahme persönlicher Verbindungen mit Machthabern oder Städten ermöglichte. Von Argos, seinem neuen Wohnsitz, aus, wo der Gegner Spartas offenbar einfluß reiche Freunde besaß, knüpfte er zu dem mit tyrannischen Plänen sich tragenden Regenten Pausanias Beziehungen an. Als dann die Lakedaimonier gegen ihn, der durch Umtriebe in der Peloponnes ihr gutes Verhälmis zu Athen störte, dort seine Verurteilung zum Tode erwirkten, konnte der von Häschern gejagte Mann daran denken, bei Hieron in Syrakus Zuflucht zu suchen. Doch begab er sich nicht nach Sizilien, sondern nahm für kurze Zeit Aufenthalt in Korkyra, dem er sich früher - auch dies ein Zeichen seines persönlichen Ansehns in Hellas - als Schieds richter bei einem Streit mit Korinth erkenntlich gezeigt hatte. Gleichwohl schob man ihn bald, um nicht mit Athen und Sparta in Konflikt zu kommen, ab. Das selbe tat nicht lange darauf der Molosserkönig Admetos in Epirus und wohl auch Alexandros, der König der Makedonen. Bei alledem verdient bemerkt zu werden, daß Themistokles seit seiner Ostrakisierung nicht als Vertreter Athens, sondern gleichsam als eigene politische Größe in Kontakt mit Monarchen stand, von denen er hoffte, daß sie ihm zumindest Asyl gewähren würden. Da aber die Könige im �orden Griechenlands es vorzogen, sich von ihm zu distanzieren, und Pausanias, an den er sich etwa noch hätte wenden können, inzwischen sein Ende gefunden hatte, wandte der flüchtige Sieger von Salamis sich dorthin, wo er freundlicher Auf nahme und eines starken Schutzes sicher sein durfte, an den Hof des Perserkönigs. Ähnlich hatte sich einst Hippias, der Tyrann, nach seiner Vertreibung aus Athen verhalten. Als Themistokles in Susa eintraf (wohl 465'4) war vor kurzem Arta xerxes I. seinem Vater Xerxes auf dem Thron gefolgt.
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Thukydides berichtet, Themistokles sei beim Perser wie kein anderer Grieche groß geworden, sowohl auf Grund seines Ansehns wie wegen der Hoffnung, die er im Hinblick auf eine doch noch zu erreichende Knechtung von Hellas erweckte. Und wirklich scheint er sich in der Folgezeit an irgendwelchen Kriegsvorbereitungen gegen Griechenland, vor allem wohl gegen seine Vaterstadt Athen und den atti schen Seebund, beteiligt zu haben. Daß er sich jedoch - wie Pausanias - Aussich ten auf eine Tyrannis in Hellas von Persiens Gnaden gemacht habe, ist kaum an zunehmen. Die Überlieferung weiß nichts davon, sie berichtet nur, daß der Groß könig ihm einige Städte im westlichen Kleinasien schenkte : Magnesia am Maian dros, das ihm jährlidl fünfzig Talente eintrug, sowie das nahe gelegene Myus, ferner Lampsakos und Perkote am Hellespont und Skepsis im Inneren der Troas. Auch soll sich Themistokles um das Erlernen der persischen Sprache bemüht und persischen Hofsitten anbequemt haben. Bis zu seinem Tode (wahrscheinlich um 450) hat er über die genannten Städte, soweit sie nicht an den attischen Seebund verlorengingen, in einer tyrannenähnlichen Stellung geboten, ja in seiner Resi denz Magnesia, wo er Tempel errichtete und ein Regiment führte, das lange Zeit in guter Erinnerung blieb, sogar Münzen mit dem eigenen Namen geprägt, was vor ihm, soweit wir sehen, kein Tyrann getan hatte. Es geschah nicht von unge fähr, daß dieser Mann, in dem sich der Gedanke rücksichtsloser Machtpolitik, ein Erbe der Tyrannis, verkörperte, als Tyrann über griechische Städte endete, wenn auch nur im Besitz einer Tyrannis, wie sie jetzt allein noch möglich war, nämlich eines persischen Vasallenfürstentums. Vielleicht, daß er schließlich Selbstmord be ging. Trotz seinen einzigartigen Leistungen für Athen und Griechenland war in ihm der tyrannische Eigenwille des politischen Genies zu stark, als daß er sich den überpersönHchen Ordnungen der erstarkten Polis hätte einfügen und die gemein hellenischen Bindungen hätte wahren können.
I r . S P A RT A
Der spartanische Staat, der seine Vollbürger seit Generationen zu strikter Befol gung der Gesetze erzogen hatte, ließ am Ende des 6. Jahrhunderts höchstens noch den Königen zu selbständigem individuellem Wirken Raum. Sonderbar hätte es zugehen müssen, wenn sie vom Geist der Tyrannis so wenig berührt worden wären, daß sie nicht versucht hätten, die Möglichkeiten, welche ihre Stellung bot, für eigensüchtige Zwecke zu nutzen. Wohl nur infolge der Dürftigkeit unserer Überlieferung für die vorausgehende Epoche werden uns solche Bestrebungen erst seit der Zeit um 500 sichtbar. Daß die starke und selbstbewußte Persönlichkeit des Königs Kleomenes in den
Themi5tokle5. Kleomene5
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Jahrzehnten zwischen 510 und 490 von maßgebendem Einfluß auf Spartas Außen politik gewesen ist, unterliegt keinem Zweifel. Ob und wieweit jedoch etwa sein Wirken die königlichen Befugnisse überschritt und von eigensüchtigem, tyranni schem Streben bestimmt war, ist fraglich. Es sagt in dieser Hinsicht wenig, wenn fremde Gewalthaber sich um Hilfe an den König wandten, und weder die Vertrei bung des Hippias, die zunächst dem Anchimolios übertragen war, noch die versuch te Rückführung des Isagoras, an der anfangs auch der Mitkönig Damaratos teil hatte, ist trotz dem Verschweigen des Kriegszieles als ein eigenmächtiges, rein persönliches Unternehmen des Kleomenes zu erweisen. Erst recht nicht der Feld zug gegen Argos (vermutlich 494), der dem König in Sparta den Vorwurf eintrug, die Chance zur Einnahme der Stadt nicht wahrgenommen zu haben. Eher wäre bei der ersten Einsetzung des Isagoras, der in diesem Zusammenhang ausdrück lich als sein Gastfreund bezeichnet wird, und bei dem Eingreifen in Aigina (wohl 49211), das nach Auffassung einiger Aigineten nicht von Staats wegen erfolgte, weil sonst der Mitkönig Damaratos hätte beteiligt sein müssen, an persönliche Unternehmen zu denken, aber aud1 diese beiden Fälle bleiben zweifelhaft. War doch das zweite Eintreten für Isagoras, wie früher bemerkt, eine staatliche Aktion gewesen und die Meinung jener Aigineten von dem mit Kleomenes seit dem Zwist bei Eleusis verfeindeten Damaratos suggeriert worden. Indem nun freilich Kleo menes durch Vermittlung des Delphers Kobon die Pythia dahin beeinflußte, daß sie seinen Rivalen für nicht vollbürtig erklärte, was dessen Absetzung als König zur Folge hatte, gelangte er zu einer monarchischen Stellung, die etwas Tyran nisches an sich hatte. Denn wenn auch das Doppelkönigtum nicht aufgehoben wurde, so war doch dadurch, daß des Damaratos Nachfolger Leotychidas, der seine Würde den Machenschaften des Kleomenes verdankte, in dessen Schatten stand, das Gleichgewicht erheblich gestört. Aber nur kurze Zeit konnte Kleomenes sich dieses Erfolges erfreuen. Als be kannt wurde, auf welche Weise er die Absetzung seines Gegners erreicht hatte, wandte sich die Stimmung in Sparta so heftig gegen ihn, daß er nun vollends ty rannische Bahnen einschlug. Er suchte, ähnlich wie einst der Peisistratide Hippias, Hilfe bei den thessalischen Herren. Wohl weil sie ihm versagt wurde, begab er sich bald wieder in die Peloponnes und wiegelte nun gegen Sparta die Arkader auf, deren Häupter bei dem Wasser der Styx schwören sollten, ihm zu folgen, wohin er sie führe. In seinem Bestreben, von außen her mit einer fremden Gefolgschaft dem heimischen Gemeinwesen seinen Willen aufzuzwingen, unterschied er sich kaum noch von Männern, die auf solche Weise die Alleinherrschaft an sich rissen. Vielleicht, daß er sogar den Helotenaufstand um 490 begünstigte. Doch aud1 ohne dies hatten die Ephoren Grund genug, zur Wahrung der Freiheit des Staates ge gen ihn vorzugehen. Durch Zusicherung seiner früheren Stellung wußten sie den
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König zur Rückkehr nach Sparta zu bewegen, wo er nicht lange darauf auf myste riöse Weise, angeblich durch Selbstmord in einem Wahnsinnsanfall, endete. Von seinem gesetzestreuen Nachfolger Leonidas standen tyrannische Umtriebe nicht zu befürchten. Damarato5, der Königswürde für verlustig erklärt, war anfangs in Sparta ge blieben, wo ihm jedoch Beleidigungen durch den an seine Stelle getretenen Leo tychidas das Leben unerträglich gemacht haben sollen, so daß er die Heimat gegen den Willen der Behörden verließ. Von ihnen verfolgt, wandte er sich zunächst nach Elis, dann nach Zakynthos, um schließlich am Hofe des Perserkönigs Auf nahme zu suchen (um 489/8). Gern wurde ihm diese gewährt, und der einstige Lakedaimonierkönig empfing aus der Hand des Achaimeniden die mysischen Städte Pergamon, Teuthrania, Halisarna. Als Tyrann von Persiens Gnaden haben er und seine Nachkommen, die noch zu Xenophons Zeit im Besitz dieser Städte waren, während der Folgezeit hier geboten. Bei Dareios, in dessen Umgebung er wohl zeitweise weilte, stand Damaratos in hohem Ansehen, desgleichen bei Xerxes, der ihn auf seinem Feldzug mitfüh rte und von dem er offenbar die Ein setzung als Tyrann über Sparta erwartete, der eine Legende von seiner Zeugung durch den Heros Astrabakos den Boden bereiten sollte. Erinnert er insofern an Hippias, der 490, und an die Peisistratiden, die 480 das persische Heer begleiteten und mit einer Restituierung der Tyrannis über Athen rechneten, so läßt nicht nur eine Anekdote, die ihn nach persischer Fürstentracht verlangen läßt, an Themi stokles denken, mit dem er nach 465/4 am Perserhof zusammengetroffen sein soll. Wie der athenische Feldherr beschloß auch der Spartanerkönig sein Leben in Asien als Klienteltyrann des Großkönigs. In anderer Weise als Damaratos hatte sich schon einige Zeit vor 500 des Kleo menes Halbbruder Dorieus' anfällig für die Verlockungen der Tyrannis gezeigt. Weil er es nicht ertragen konnte, durch Geburt von der Königswürde ausgeschlos sen zu sein, verließ er - wie einst der ältere Miltiades - die ihm verleidete Hei mat an der Spitze einer Kolonistenschar und gründete an der libyschen Küste öst lich von Tripolis eine Pflanzstadt (um 515), aus der er jedoch nach drei Jahren vertrieben wurde. In die Peloponnes zurückgekehrt, unternahm er bald darauf einen neuen Versuch, sich in der Ferne als Oikist eine tyrannisähnliche Herrschaft zu errichten. Auf der Fahrt nach Sizilien scheint er sich zunächst am Kriege Kro tons gegen Sybaris beteiligt zu haben. Dann segelte er an die Westspitze Siziliens und versuchte nahe dem Eryx eine Kolonie Herakleia ins Leben zu rufen, doch mißlang auch dieses Unternehmen. Dorieus samt seinen Leuten fiel im Kampf mit den Karthagern und Segestaiern. Ein Mann aus seinem Gefolge aber, Euryleon, konnte, wie früher erzählt, die selinuntische Pflanzstadt Herakleia Minoa nehmen und sich sogar zum Tyrannen von Selinus selbst machen. So gewann er vorüber-
Damaratos. Dorieus. Leo tychidas. Pausanias
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gehend eine Stellung, wie sie Dorieus als Herr einer selbstgegründeten Kolonie vorgeschwebt hatte. Von Leotychidas, dem Nachfolger des Damaratos, ist nicht bekannt, daß er in Sparta eine tyrannenähnliche Position erstrebt hätte. Immerhin war er in Anleh nung an Kleomenes durch die eidliche Erklärung, daß Damaratos nicht vollbürtig sei, eine Aussage, die wahrscheinlich ein Meineid war, zur Königswürde gelangt. Auch verfuhr er bald nach der Katastrophe des Kleomenes gegen die diesem feind lichen Aigineten so frevelhaft, daß man auf ihre Anklage hin ihn preisgab, ohne es freilich zu einer Auslieferung kommen zu lassen. Später, einige Jahre nachdem er über die Perser den Sieg bei Mykale (479) errungen hatte, wurde er in Sparta der Bestechung durch die schon von Kleomenes umworbenen thessalischen Herren überführt, deren Bestrafung für ihre mederfreundliche Haltung er trotz erfolg reicher militärischer Operationen unterlassen hatte. Vor Gericht gestellt, flüchtete er aus Lakedaimon, wo sein Haus niedergerissen wurde, und beschloß sein Leben in Tegea (um 469), auch er, wie Kleomenes, wenngleich in geringerem Maße, eine zu tyrannischer Eigenmächtigkeit neigende Natur. Leotychidas' Sturz dürfte in einem gewissen Zusammenhange gestanden haben mit dem Vorgehen der Ephoren gegen den Mann, der von allen Mitgliedern der beiden spartanischen Königshäuser am stärksten vom Verlangen nach tyrannischer Herrschaft ergriffen war, Pausanias, den Sieger von Plataiai. Er, der als Neffe des gesetzestreuen Leonidas seit dessen Tod (480) die Regentschaft für den unmündi gen Sohn des Gefallenen führte, sah sich nach dem unter seinem Oberbefehl er fochtenen glorreichen Sieg als Retter von Hellas an. Die Weihinschrift, die er auf das allgemeine Dankesgeschenk an den delphischen Gott, einen goldenen Drei fuß, setzen ließ, erregte bei den beteiligten Staaten, weil nur Pausanias, der «Führer der Hellenen», genannt war, Ärgernis und wurde von den Lakedaimo niern ausgemeißelt. Auch im Seekrieg des Jahres 478 erbitterte seine herrische und anmaßende Art die Bundesgenossen. Sein Ziel war schon damals kein geringeres als die Gewinnung der Herrschaft über ganz Hellas. In diesem Sinne bemühte er sich nach der Einnahme von Byzanz durch Vermittlung des Eretriers Gongylos, eines Parteigängers des Großkönigs, um Verbindung mit Xerxes, den die gleich zeitige Freilassung von Kriegsgefangenen seinen Wünschen geneigt machten sollte. Indem er ihm die Botmäßigkeit Spartas und des übrigen Griechenlands anbot, bewarb er sich zugleich um eine Angehörige des Achaimenidenhauses als Gemah lin. Wenn auch die Zurückhaltung, mit der Xerxes auf diesen überraschenden Vorschlag reagierte, praktische Folgen zunächst nicht eintreten ließ, so ist doch die hemmungslose Herrschgier des spartanischen Regenten mit ihrem Verrat an der engeren und weiteren Heimat darum nicht minder erschreckend. Sie konnte sich vorerst nur in Byzanz und an den Meerengen entfalten, wo sie mit allen
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Zeichen der Tyrannis in Erscheinung trat. Als Eroberer und zugleich als Oikist, der die von den Persern in den neunziger Jahren zerstörte Stadt wiedererstehen ließ, gebot Pausanias despotisch in jenem Bereich. Durch Besteuerung des Durch gangsverkehrs gewann er beträchtlichen Reichtum und scheint nach Tyrannenart auch die Münzprägung an sich gezogen zu haben. Ob die Tatsache, daß er sich mit medischen und ägyptischen Leibwächtern umgab, persische Tracht annahm und nach asiatischer Sitte Tafel hielt, dem Wunsche entsprang, es dem Großkönig und dessen Satrapen gleichzutun, oder ihn dem Xerxes angenehm machen sollte, ist nicht zu entscheiden. Zu irgendwelchen Abmachungen mit dem Perser kam es damals jedenfalls nicht. Pausanias blieb auch in Byzanz offiziell Feldherr der ver bündeten Griechen, denen er nach Thukydides' Wort freilich eher ein Tyrann als ein Heerführer zu sein schien. Die Klagen über sein hochfahrendes Wesen häuf ten sich denn auch dermaßen, daß die Lakedaimonier ihn abberiefen. Da er auf eigene Faust sich wohl kaum behaupten konnte, auch nicht darauf verzichten wollte, in Hellas eine Rolle zu spielen, folgte er im Winter 478/7 dem Ruf. In Sparta ward er - vielleicht um des außenpolitischen Prestiges willen - von dem Vorwurf, mit den Persern paktiert zu haben, freigesprochen und nur wegen klei nerer Vergehen zu geringer Strafe verurteilt. Doch bereits 477 fuhr Pausanias eigenmächtig mit einer einzigen Triere wieder zum Bosporus, setzte sich erneut in Byzanz fest und vermochte die Herrschaft über die Stadt sieben Jahre lang zu behaupten, ohne daß sich erkennen ließ, mit wel chen Machtmitteln dies geschah. Auch über die Art seines Regimentes, das jetzt des Feldhermamtes entbehrte und insofern erst recht ein tyrannisches war, erfah ren wir nichts, können höchstens vermuten, daß der Neubau der Stadt dieser re lativ langen Herrschaftsperiode angehört. Für weitere Hinneigung zu den Per sern dürfte sprechen, daß Kimon, der Führer der attischen Bundesflotte, im Zuge der Beseitigung der letzten persischen Stützpunkte im Norden der Ägäis auch Pausanias aus Byzanz vertrieb. Die Spartaner, an der persönlichen, von ihnen weder gestützten noch sanktionierten Machtstellung des Mannes uninteressiert, ließen dies geschehen, und so begab sich der gestürzte Stadtherr nach Kolonai in der Troas, von wo er noch einmal Verhandlungen mit dem Perser suchte. Jetzt aber schritten die spartanischen Behörden ein ; sie verlangten seine Rückkehr in die Heimat und drohten im Falle der Weigerung mit Krieg. Pausanias, der vom Großkönig noch keine bindende Zusage erhalten hatte und seine Lage offenbar als prekär ansah, gehorchte der Weisung in der Hoffnung, dank seinem Reichtum und Ansehn den zu erwartenden Anklagen begegnen zu können. Wirklich ge lang es ihm, der zunächst über ihn verhängten Haft ledig zu werden, doch mußte er erkennen, daß die Beschuldigung, er habe durch sein anmaßendes Verhalten die jedem Spartiaten gesetzten Grenzen überschritten, zur Verurteilung führen
Pausanias
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werde. In dieser Situation scheint er sich an die Heloten gewandt und ihnen für Hilfe bei einem Umsturz, durch den er die Alleinherrschaft über Sparta zu ge winnen gedachte, Freiheit und Bürgerrecht versprochen zu haben. Die Parallele zu jenen Tyrannen, die an der Spitze einer bisher niedergehaltenen Kleinbauern schaft zur Macht gelangt waren, springt in die Augen. Für spartanische Begriffe war der Plan so ungeheuerlich, daß die Ephoren, ehe sie vorgingen, außer einigen ihnen zugegangenen Angaben stichfeste Beweise in der Hand haben wollten. Sie zu erlangen war offenbar schwer, doch konnte wenigstens ein Brief des Pausanias an den Satrapen Artabazos sein Konspirieren mit den Persern bezeugen. Er selbst scheint überzeugt gewesen zu sein, daß schon dies zu seiner Vernichtung genügen werde, und suchte im Heiligtum der Athena Chalkioikos Schutz. Dort ließ man ihn elend verhungern. Seine Leiche wurde zunächst wie die eines Verbrechers in eine Erdschlucht geworfen und später verscharrt (um 469). Unter den hervorragenden Männern des griechischen Mutterlandes im ersten Drittel des 5. Jahrhunderts verkörpert Pausanias in seiner Hybris den Typus des herrschsüchtigen, tyrannischen Einzelmenschen, der sich der staatlichen Ordnung nicht einzufügen vermag, am reinsten. Sein hemmungsloses Streben nach größter persönlicher Macht läßt ihn, ohne daß er - wie Damaratos, Themistokles und an dere - gekränkt oder gar verstoßen worden wäre, zum Verräter nicht nur an Sparta, sondern an Hellas werden, für das der Sieger von Plataiai keine Verant wortlichkeit mehr empfindet. Damaratos und Themistokles beschlossen ihr Leben als persische Klienteltyrannen über kleinasiatische Städte, Pausanias hätte, wäre seinen Umtrieben Erfolg beschieden gewesen, von des Großkönigs Gnaden über ganz Griechenland herrschen wollen. Im Extrem erscheint hier die Haltung so mancher großer Herren oder Adelssippen, denen die persönliche Macht mehr galt als Freiheit und gesetzliche Ordnung ihres Gemeinwesens, geschweige denn Grie chenlands. Es sind zwei Zeiten, die miteinander ringen : die abklingende archaische mit ihrem lockeren, selbstherrliche Entfaltung einzelner ermöglichenden politi schen Gefüge und die heraufkommende Zeit der auch die adligen Herren fest um schließenden und verpflichtenden Polis. Zu ihrer Festigung haben die Nachfahren der älteren Tyrannis wider Willen erheblich beigetragen. Denn im Kampf gegen sie erstarkten die Staaten, und mit dem Sieg über die Außenseiter gewannen sie ihre klassische Form.
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E s wäre bedenklich, für die anderen Staatswesen in Griechenland, von deren innen politischen Zuständen wir zudem sehr wenig wissen, die gleiche oder auch nur
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eine ähnliche Situation vorauszusetzen wie in Athen oder Sparta. Immerhin weist einiges darauf hin, daß es in manchen Gebieten oder Städten bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts tyrannis ähnliche Herrschaften gab, anderswo Abwehrmaßnahmen gegen eine drohende Tyrannis für notwendig gehalten wurden. Auf Aigina besaßen um 492 unter den reichen, angeblich den Persern zuneigen den Herren Krios und Kasambos die größte Macht, doch erhoben sie sich, wie es scheint, nicht über die anderen, uns zum Teil aus Pindars Epinikien bekannten Adelsgeschlechter, mit denen zusammen sie das Gemeinwesen geleitet haben dürf ten. Gegen dieses aristokratische Regiment empörte sich nicht lange darauf der De mos unter Führung des Nikodromos, eines vornehmen Mannes, der sich wohl schon vorher gegen seine Standesgenossen gestellt hatte und deshalb verbannt gewesen war. Da ihm die heimische Anhängerschaft offenbar nicht genügte, setzte er sich mit den damals gegen die aiginetischen Herren aufgebrachten Athenern ins Beneh men und versprach, ihnen die Landung auf der Insel zu ermöglichen. An dem dafür vereinbarten Tage besetzte Nikodromos mit seinen Leuten die sogenannte Altstadt, vermochte sich aber, da die Athener sich verspäteten, allein nicht zu halten und entwich mit einigen Anhängern nach Attika, wo man den Flüchtlingen bei Sunion Wohnsitze anwies. Von dort aus beunruhigte er in der Folgezeit seine Heimat durch Raubfahrten. Der Gedanke, daß Nikodromos sich ähnlich wie einst Peisi stratos mit Hilfe des Demos die Tyrannis oder doch eine tyrannenähnliche Stel lung gewinnen wollte, ist kaum von der Hand zu weisen. Den mißlungenen Ver such hatten die in Aigina verbliebenen Anhänger furchtbar zu büßen. Was Argos betrifft, das durch die Niederlage im Kampf gegen Kleomenes (wohl 494) aufs schwerste erschüttert wurde, so verlautet zwar nichts über das Streben eines Mannes nach Tyrannis, aber die Einführung des Ostrakismos nach atheni schem Vorbild legt die Vermutung nahe, daß dergleichen im Bereich der Möglich keiten lag. Dasselbe gilt für Megara, wo man ebenfalls die Institution übernahm. In beiden Fällen kennen wir den Zeitpunkt der Einsetzung, der nach 487 liegen muß, nicht. Bei relativ später Rezeption wäre immerhin denkbar, daß man das Verfahren nicht mit seinem ursprünglichen Zweck, der Verhinderung einer Tyran nis, sondern nur als Mittel im innenpolitischen Kampf sich zu eigen machte, wozu es in Athen bereits nach kurzer Zeit geworden war, doch spricht sowohl die all gemeine Wahrscheinlichkeit wie die Einführung des Petalismos in Syrakus nach einem gescheiterten Versuch, die Tyrannis zu errichten, für die erste Alternative. Von den adligen Herren in Eretria scheint keiner nach der Tyrannis in der Hei mat gestrebt zu haben, mochten auch einige, als die Rache des Persers für die Be teiligung der Stadt am Ionischen Aufstand drohte, auf seine Seite überschwenken und sich persönlichen Vorteil davon versprechen. So ein gewisser Gongylos, der, wie es heißt, als einziger Eretrier mit dem Meder paktierte und möglicherweise
Aigina. Argos . Eretria. Th eben. Thessalien
sich 490 beim feindlichen Heere befand, so auch Euphorbos und Leagros, welche die belagerte Stadt verrieten. Beide erhielten vom Großkönig, vermutlich in Klein asien, Land. Gongylos aber bekam im aiolisch-mysischen Gebiet die Städte Myrina, Gryneion sowie Gambreion samt Palaigambreion, Plätze, über die er fortan als persischer Klienteltyrann waltete. Noch zu Xenophons Zeit waren sie im Besitz der Nachkommen. Wie Damaratos und später Themistokles, die in ähnlicher Weise bedacht wurden, erfreute Gongylos sich hohen Ansehns beim Perserkönig, konnte doch Pausanias, von dem er 478 in Byzanz gefangengenommen wurde, hoffen, durch ihn in Verbindung mit Xerxes zu treten. Von den Staaten des mittelgriechischen Festlandes ist außer Athen infolge der ungemeinen Dürftigkeit der Überlieferung allein Theben zu nennen, wo zur Zeit des großen Perserkrieges die «Dynasteia» einiger adliger Familien bestand, jene Herrschaftsform, von der Thukydides thebanische Gesandte im Jahre 427 sagen läßt, daß sie dem Nomos und der Vernunft am meisten entgegengesetzt, der Ty·· rannis aber am verwandtesten sei. Auch diese Herren erhofften vom Siege der Perser Vorteile für ihre Machtstellung. Zwar mußten sie zunächst, wohl durch Gegenkräfte in Theben genötigt, in eine Unterstützung der abwehrbereiten Grie chen einwilligen, nach Xerxes' Einmarsch in Mittelgriechenland jedoch schlossen sich die Häupter der Dynasteia, Attaginos und Timagenidas, ihm an und unterstützten ihn bereitwillig. Ihre persönlichen Hoffnungen erfüllten sich freilich nicht: statt tyrannengleiche Herren der Stadt zu werden, wurde ihnen nach der Schlacht bei Plataiai der Prozeß gemacht. Während Attaginos entkommen konnte, wurden Ti magenidas und seine Genossen hingerichtet. Der Sieg der verbündeten Griechen, der den Peisistratiden die letzte Aussicht auf Rückkehr nach Athen nahm, ver eitelte in Theben die Errichtung eines tyrannischen Regimentes und machte der dortigen Dynasteia ein Ende. In Thessalien, wo es um die Wende des 6. zum 5. Jahrhundert noch kaum städ tische Gemeinwesen gegeben zu haben scheint, war die politische Situation in be sonderem Maße durch das Bestehen von Herrschaften großer Geschlechter gekenn zeichnet : in Krannon der Skopaden, in Larisa der Aleuaden, in Pharsalos der aus Larisa stammenden und den Aleuaden verwandten Echekratiden. Es kann sich in unserem Rahmen nur darum handeln, an der »Dynasteia« dieser über weite Land striche gebietenden Adelshäuser, deren Häupter später gelegentlich Tyrannen ge nannt wurden, diejenigen Züge hervorzuheben, die an echte Tyrannis gemahnen. Dazu gehört an sich weder das lebenslängliche Wahlamt des Herzogs (Tagos) aller Thessaler, wiewohl die Art seiner Führung und die bisweilen vorkommende Bekleidung durch mehrere Brüder an Tyrannenherrschaften erinnert, noch das Amt des Tetrarchen, des Leiters einer der vier Aushebungsbezirke der gesamten Landschaft. Eher ist auf den die politische Macht tragenden Reichtum der Ge-
Nachfahren der älteren Tyrannis
schlechter, auf die Art ihres Hofhalts, dem die Sänger der Tyrannenhöfe Simo nides und Pindar, Glanz verliehen, auf die verwandtschaftlichen Verbindungen, durch die sie sich gegenseitig stützten, und auf die guten Beziehungen zu den Peisistratiden sowie zu Kleomenes und Leotychidas hinzuweisen. Schon um 575 hatte der Skopade Diaktoridas sich um die Tochter des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon beworben, und der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts lebende Skopas, Kreons Sohn, schien mindestens auf Grund seines Reichtums und seiner Genußsucht dem Peripatetiker Phainias von Eresos (um 300 v. Chr.) so sehr einem Tyrannen zu gleichen, daß er in seiner Schrift «Über die Beseitigung von Tyran nen aus Rache» auch die durch Simonides' Klagelied berühmte Katastrophe schil derte, in der Skopas samt seiner Familie durch Einsturz der Decke des Speisesaales wahrscheinlich nicht in Krannon, sondern in Pharsalos jämmerlich umkam. üb Skopas Tagos war, ist recht fraglich, doch würde dieses Amt so wenig wie ein ihm gewidmetes Skolion des Simonides, das von der Gewinnung der rechten Arete han delt, ausschließen, daß er über das seinem Hause unterstehende Gebiet von Kran non und wohl auch von Pharsalos, das vielleicht durch die Ehe seines Vaters mit einer Echekrateia ihm zugefallen war, eine tyrannische Herrschaft ausübte. üb in Pharsalos ihm Antiochos, Sohn eines Echekratidas und der Dyseris, voranging oder folgte, wissen wir nicht. Er, der auch Tagos war, lebte mit der Milesierin Thargelia zusammen, über deren Schönheit und fürstliche Stellung später viel ge fabelt wurde. Auch auf seinen Tod hat Simonides ein Klagelied gedichtet. Während der nächsten Jahrzehnte sind Skopaden und Echekratiden aus unbe kannten Gründen zurückgetreten. Zur Zeit von Hippias' Sturz war Kineas Tagos und seit spätestens 498 hatte der Aleuade Thorax zusammen mit seinen Brüdern Eurypylos und Thrasydaios das Amt inne. Nach Herodots Bericht wandten sich die Aleuaden um 485 ebenso wie die in Kleinasien lebenden Peisistratiden an den vor kurzem auf den Thron gekommenen Xerxes und riefen ihn nach Griechenland. Der Großkönig mußte glauben und glaubte in der Tat, als er 480 die Grenzen Thessaliens erreichte, die Gesamtheit des Stammes habe ihn durch ihren Tagos gerufen. Das war nicht der Fall. Vielmehr hatten thessalische Gesandte von den am Isthmos versammelten Delegierten der abwehrwilligen Hellenen die Beset zung des Tempetales verlangt, das man allein nicht verteidigen könne, so daß man sich ohne die erbetene Hilfe notfalls mit dem Perser vergleichen müsse. Der Schritt der Aleuaden war also nicht im Namen des thessalischen Stammes, son dern sozusagen privat und wohl insgeheim erfolgt. Es drängt sich daher die Ver mutung auf, daß das Geschlecht von Xerxes eine Stärkung seiner Macht, womög lich die Umwandlung des Tagosamtes in eine erbliche Monarchie über die ganze Landschaft, also eine Art Tyrannis, erhofft und vielleicht schon zugesagt erhalten hatte. üb sich vorübergehend diese Erwartungen erfüllten, erfahren wir nicht,
Thessalisdze Dynasten
doch deutet die Münzprägung nach persischem Fuß darauf hin, daß die Aleuaden sich als persische Klientelfürsten fühlten, solange Truppen des Großkönigs in Griechenland standen. Nach deren Abzug wurde ihre Lage prekär. Zwar konnten sie den Spartanerkönig Leotychidas, der sie für ihren Medismos bestrafen sollte, dazu bringen, daß er trotz militärischen Erfolgen die Aktion abbrach (um 47716), aber ihre Dynasteia, die zuletzt von Aristomedes und Angelos wahrgenommen zu sein scheint, erlitt schwere Einbuße. Erneut traten die Echekratiden von Phar salos, die vermutlich Gegner der perserfreundlichen Politik der Aleuaden gewesen waren, in den Vordergrund. Ein Echekratidas· hatte in der Folgezeit das Tagosamt inne, dem freilich die frühere Bedeutung nicht mehr eignete. Der Grund dafür dürfte nicht zuletzt im Aufsteigen der Städte gegenüber den großen Feudalherrschaften liegen und im Bestreben dieser Gemeinwesen, sich als selbständige politische Faktoren zur Gel tung zu bringen. Echekratidas' Sohn Orestes wurde aus Thessalien und im beson deren aus seiner Stadt Pharsalos vertrieben; auch mit athenischer Hilfe vermochte er nicht die verlorene Stellung wiederzugewinnen (454) . Der einzige Tagos, den wir aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts kennen, Daochos, stammte zwar aus Pharsalos, gehörte aber anscheinend nicht dem Echekratidenhause an. Schon 476 hatte ein anderer mächtiger Herr aus Pharsalos, Menon, des Menekleides Sohn, auf eigene Faust den Athenern bei Elon Hilfe bringen können (476) und dafür zum Dank zwölf Talente und das attische Bürgerrecht erhalten. Seine Fa milie scheint nach dem Sturz der Echekratiden eine dominierende Stellung in der Stadt eingenommen zu haben, begegnet doch sein gleichnamiger Sohn oder Enkel 431. als Führer des pharsalischen Aufgebotes, ein weiterer, durch Platons Dialog berühmter Träger des Namens in der Zeit um 400. Die Reihe tyrannisähnlicher Herrschaften vornehmer Sippen zog sich bei den Thessalern, wo nach Thukydides' Feststellung mehr die Dynasteia als die Isonomia zu Hause war, auch durch jene Epoche des 5. Jahrhunderts hindurch, in der das übrige Griechenland von Ty rannen oder Dynasten frei war. Läßt sich bei den thessalischen Herren, die offenbar in einem zunehmenden Spannungsverhältnis zu ihren im 5. Jahrhundert aufstrebenden Städten standen, zwar nicht von echter Stadttyrannis, aber doch von einer verwandten Art der Herrschaft sprechen, so schließt im nördlich angrenzenden Makedonien allein schon das Fehlen von Poleis das Vorhandensein von Tyrannis zu nennenden Herrschaften aus. Mag Herodot, der zwischen König und Tyrann nicht konsequent scheidet, die Thronbesteigung des Makedonenkönigs Perdikkas 1. als Gewinnung der Tyrannis und Alexander 1. als Tyrannen bezeichnen, höchstens gegenüber Städten außerhalb des makedonischen Kernlandes, welche von Königen als per sönlicher Besitz gewonnen worden waren, konnte deren Stellung etwas Tyrannen-
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Nachfahren der älteren Tyrannis
ähnliches haben. So war es möglich, daß Amyntas 1. dem Hippias Anthemus an bot, und kaum anders mag es sich schon unter seinem Vorgänger mit Rhaikelos verhalten haben, das dem Peisistratos und seinen Kolonisten zugestanden wurde. Sonst freilich ist an den Makedonenkönigen nichts von Tyrannis als Herrschafts form zu erkennen, und nur der Enkel des genannten Amyntas verdient in unserem Zusammenhang noch erwähnt zu werden. Der Großvater nämlich hatte seine Tochter Gygaia dem hochadligen Perser Bubares zur Gattin gegeben. Dem dieser Ehe entsprossenen Sohn, der auch den Namen Amyntas trug, schenkte der Groß könig später die karische Stadt Alabanda, über die er fortan als Klienteltyrann gebot. Allerdings wird der Sohn des Bubares als Perser gegolten haben, und Ala banda war keine griechische Stadt. Ebenso dürfte es mit den Enkeln des Miltiades stehen, deren Vater Metiochos nach der Flucht des Großvaters von der Chersones eine vornehme persische Frau geheiratet und vom Großkönig «Besitz», also wohl Grund- oder Stadtherrschaft, erhalten hatte. Nahmen Damaratos, Gongylos, The mistokIes eine Zwischenstellung zwischen griechischen Tyrannen und persischen Großen ein, so sind Amyntas und die Metiochos-Söhne anscheinend in den Kreis der letzteren eingetreten.
I V . D I E G R I E C H I S C H E N RAN D G E B I ETE
Über die politischen Verhältnisse, die während des zweiten Drittels des 5. Jahr hunderts in den Randgebieten bestanden, sind wir großenteils so gut wie gar nicht und, selbst was Kleinasien und Sizilien betrifft, nur sehr ungenügend unterrichtet. Von den perserhörigen Tyrannen in den griechischen Städten an der kleinasiati schen Westküste und auf den vorgelagerten Inseln wurden die wenigen, die nach dem Zusammenbruch des Ionischen Aufstandes zurückkehrten oder als Nachfolger vertriebener Vorgänger eingesetzt worden waren, beim Vordringen der helleni schen Flotte in jene Gewässer (479/8) gestürzt. Immerhin ist, wie die Schenkun gen des Großkönigs an Damaratos, Gongylos und Themistokles zeigen, an einigen im persischen Reichsverband bleibenden Plätzen mit dem Bestehen tyrannisähn licher Herrschaften einzelner Griechen zu rechnen. Wichtiger jedoch als dies ist für die Geschichte der griechischen Tyrannis die Tatsache, daß in manchen nun mehr dem Attischen Seebund angeschlossenen Gemeinwesen Umtriebe adliger Herren auf Errichtung einer Tyrannis abzielten. Es geschah dies offenbar in gehei mer Verbindung mit hochgestellten Persern, zu denen, wie gelegentlich sichtbar wird, die dem demokratischen Athen abholden Kreise Beziehungen unterhielten. Ein attischer Volksbeschluß, wohl aus den sechziger Jahren, über Erythrai zeigt, daß hier - vermutlich nicht lange vorher - die Tyrannis von mehreren Männern
Tyrannische Umtriebe in Kleinasien
nicht nur erstrebt, sondern verwirklicht worden war, wobei freilich offenbleibt, ob es sich um die Samtherrschaft einer kleinen Gruppe oder um einzelne einander folgende Gewalthaber handelte. Ein anderes attisches Dekret, das Kolophon be trifft, hat die Sicherung der von Athen begünstigten demokratischen Ordnung gegenüber den nach der Leitung des Gemeinwesens verlangenden Oligarchen und wohl auch gegen eine etwaige Tyrannis zum Gegenstand. Durch eigene Maß nahmen scheinen sich die Bürger von Teos vor einer derartigen Vergewaltigung, die auch hier im Bereich der Möglichkeit lag, geschützt zu haben. In Milet wurden in den fünfziger Jahren vier adlige Herren, von denen zwei, Alkimos und Kresphontes, sicher dem alten Königsgeschlecht der Neleiden ent stammten, nicht bloß verbannt - sie waren ohnedies flüchtig -, es ward die Bür gerschaft unter Aussetzung einer hohen Belohnung zu ihrer Tötung aufgerufen und beschlossen, sie, falls man ihrer lebend habhaft würde, hinrichten zu lassen. Nach der Art dieses Vorgehens kann nicht zweifelhaft sein, daß sie eine Art von Tyrannis hatten errichten wollen, vielleicht sogar für kurze Zeit errichtet hat ten. Mit der Einführung des Ostrakismos nach athenischem Vorbild, die vennut lich bald nach 450 erfolgte, suchte man sich gegen eine Wiederholung derarti ger Umtriebe zu sichern. Auch im hellespontischen Bereich scheinen die Städte ähnlichen Gefahren ausgesetzt gewesen zu sein. Dem Arthmios· aus Zeleia wur de in Athen auf eine an Tyrannenbestrafung erinnernde Weise das ihm einst ver liehene Bürgerrecht aberkannt, vielleicht weil er an den auf Unterwerfung Grie chenlands durch die Perser gerichteten Machenschaften des Pausanias und Themi stokles beteiligt gewesen war. In Sinope an der Nordküste Kleinasiens bestand so gar um 436, allerdings bevor die Stadt durch Perikles für den Seebund gewonnen wurde, die Tyrannis eines Timesilaos, möglicherweise des letzten einer Reihe von Gewalthabern. Ob er sich mit Hilfe der Perser oder aus eigener Kraft an der Macht hielt, ist nicht zu sagen. Als Perikles erschien, zog sich Timesilaos mit seiner He tairie auf die Burg zurück, wo er zunächst erfolgreich Widerstand leistete, bis er später mit Hilfe eines zurückgelassenen attischen Geschwaders vertrieben werden konnte. Häuser und Bodenbesitz des Tyrannen fielen gemäß einem attischen Volksbeschluß sechshundert attischen Siedlern zu. Begreiflicherweise hat Athen das Aufkommen oder Fortbestehen von Tyrannen herrschaften im Bereich des Seebundes verhindert, mochte es auch nichtgriechische Stadtherren an der kleinasiatischen Südküste in den Verband aufnehmen. Sogar die Verehrung des Hannodios und Aristogeiton ist unter den Bundesgenossen verbreitet worden, wie das Bild der Gruppe auf Stateren beweist, die in Kyzikos geprägt wurden. Nur im Rahmen der persischen Macht blieb für Stadttyrannen noch Raum oder in den entlegenen Städten am Kimmerischen Bosporos, wo 438/7 der Herrschaft der Archeanaktiden eine solche des Geschlechtes der Spartoki-
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NaChfahren der älteren Tyrannis
den folgte, die sich bis tief in die hellenistische Zeit erhielt. Da ihre bedeutend sten Vertreter der Epoche der jüngeren Tyrannis angehören, wird von der gesam ten Geschichte der Dynastie erst später gehandelt werden. Auch in den hellenischen Städten auf Kypros, die in dauerndem Gegensatz zu den phönikischen Plätzen standen, blieb das monarchische Regiment, das freilich nicht Tyrannis, sondern traditionelles Königtum war, bis in die Zeit der Diadochen bestehen, unterbro chen nur in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts durch eine Periode phöniki scher, aber ebenfalls monarchischer Herrschaften. In Kyrene dagegen, das nicht unter persischer Oberhoheit stand, wurde, wie bereits zu bemerken war, das Königtum der Battiaden, das zuletzt tyrannische Formen angenommen hatte, um die Mitte des Jahrhunderts durch eine freistaatliche Verfassung abgelöst, die sich auch noch zur Zeit der jüngeren Tyrannis von jeder Vergewaltigung durch einen einzelnen freigehalten zu haben scheint. Im westlichen Siedlungsbereich der Griechen ist zunächst die Kolonie Astalcos zu nennen, die zwar an der Küste Akarnaniens lag, aber wie ihre Mutterstadt Kephallenia mehr dem Bezirk des Ionischen Meeres als Mittelgriechenland zuzu rechnen ist. Hier herrschte - wir wissen nicht seit wann - bis 431 ein Tyrann Euarchos, der damals von den Athenern vertrieben wurde. Mit Hilfe von Sold truppen und durch Unterstützung seitens der Korinther konnte er seine Rückkehr und die Wiederherstellung seines Regimentes erzwingen, von dessen Art und Dauer leider nichts verlautet. Was Kephallenia selbst betrifft, so dürfte ein mit Namen nicht genannter Tyrann, dem besondere Strenge und Gewalttätigkeit nach gesagt wurde, dem 6. Jahrhundert angehören. Von ihm war daher früher zu spre chen. Im übrigen mögen die Städte am Gestade des Ionischen Meeres, im beson deren auch die einstigen Gründungen der Kypseliden, seit dem Ende der Tyran nis in Ambrakia frei von Gewaltherrschaft gewesen zu sein. In den unteritalischen und sizilischen Griechenstädten scheint es nach dem Ende der älteren Tyrannis keine tyrannischen Stadtherren mehr gegeben zu haben. Der antityrannisch gesinnte Empedokles lehnte die ihm von den Akragantinern ange botene Königswürde ab. In Syrakus konnte um 454 der Versuch eines Tyndarides, mit Hilfe des niederen Volkes die Macht zu usurpieren, abgewehrt und ge gen den Widerstand seiner Trabanten und Anhänger die Hinrichtung des Man nes beschlossen und vollzogen werden. Da dergleichen Umtriebe auch sonst vor kamen, führte man jetzt ein dem athenischen Ostrakismos analoges Verfahren ein, den Petalismos, so genannt, weil bei der Abstimmung nicht Scherben, sondern Ölblätter (Petala) beschrieben wurden. Wer die meisten Stimmen auf sich ver einigte, mußte für fünf Jahre die Stadt verlassen, ein Schicksal, das in den näch sten Jahren eine Anzahl der angesehensten Syrakusaner traf. Die Wirkung der Institution, die die Entfernung der mächtigsten, des Strebens nach Tyrannis ver-
Westliche Randgebiete
dächtigen Männer bezweckte, war durchschlagend, doch eben darum bedenklich. Denn die reichen und vornehmen Herren verzichteten nunmehr überhaupt auf aktive politische Betätigung, so daß nach relativ kurzer Zeit der Petalismos wieder abgeschafft werden konnte. Trotz starker sozialer Spannungen ist Syrakus auch ohne diese Sicherung bis zum Ende des 5. Jahrhunderts vor einer Tyrannis be wahrt geblieben.
ZWEITES KAPITEL
D E R TYRA N N IM U RT E I L D E S
5.
J A H R H U N D E RT S
Das 5. Jahrhundert ist für die Ägäiswelt und seit etwa 465 auch für den griechi schen Westen die tyrannenlose Zeit, nicht aber eine Zeit, in der Tyrannen und Tyrannis aus dem Bewußtsein entschwunden wären. Vielmehr wurde damals das Bild und das Urteil geprägt, das die hellenische Staatsphilosophie und durch sie die Auffassung der späteren Antike bestimmt hat. Ansatzpunkte boten natürlich die Erscheinungen der älteren Tyrannis. Aus ihrer Epoche sind nur wenige Stimmen zu uns gedrungen. Meist handelt es sich um bittere Äußerungen adliger Männer, die, wie Alkaios, von einem monarchischen Regiment empfindlich getroffen oder, wie etwa Theognis, durch den drohenden Staatsstreich eines Führers des Demos in ihrer aristokratisch-selbstherrlichen Lebensform bedroht wurden. Gleich den Skolien, die man in Athen auf die Gefallenen von Leipshydrion oder die Tyran nenmörder sang, sind jene Dichtungen Zeugen der Opposition des Adels gegen einen Standesgenossen, der sich herrscherlich über die anderen erhoben hat oder zu erheben strebt. Der Haß gegen den Tyrannen ist weniger politischer als ego istischer Art, mehr dem Neid entsprungen, als daß sich in ihm der Rechtsgedanke oder eine bewußte Staatsgesinnung bekundete. Wünschte doch, wie Solon es schildert, so mancher adlige Herr, selbst die Tyrannis gewinnen zu können. Auch im Volke, dem es unter einem einzelnen Machthaber für gewöhnlich besser ging als unter der Adelsherrschaft, war die Einstellung zum Tyrannen keine grundsätz liche, sondern durch das bestimmt, was man jeweils von ihm erfuhr. Dazu durch Bewunderung für Macht und Glück, Reichtum und Großzügigkeit, vor allem aber für die außerordentliche, die Phantasie anregende Persönlichkeit einzelner Ge walthaber. Die Legende von der wunderbaren Rettung des kleinen Kypselos, die Geschichte von der Brautwerbung um des Tyrannen Kleisthenes Tochter Agariste, Anekdoten wie die von Peisistratos und dem Bauern am Hymettos, von seinem Erscheinen vor Gericht und nicht zuletzt alles, was man von Polykrates' märchen haftem Glück, von seiner und anderer Tyrannen List zu erzählen wußte, lassen noch in der Wiedergabe durch Herodot erkennen, daß von einer politisch-ethi schen Wertung kaum die Rede war. Selbst die finsteren Z:i.ge an Periandros, im besonderen die tragischen Ereignisse in seiner Familie, erregten weniger Haß als Interesse und Lust an solchen von Geheimnis umwitterten Hofgeschichten. Frei lich hat das Ergötzen am Furchtbaren dazu beigetragen, das Bild des Tyrannen als
Stimmen des 6. Jahrhunderts. Pindar eines Unmenschen zu erzeugen, mochte auch gerade Periandros als Herrscher An erkennung und sogar Eingang in den Kreis der Sieben Weisen finden. Gewisse allgemeine Beobachtungen hinsichtlich der Tyrannis und des Verhal tens von Tyrannen sind offenbar schon im 6. Jahrhundert gemacht worden. Zwar ist die angebliche Antwort des Thales auf die Frage, was er Erstaunliches gesehen habe, «einen greisen Tyrannen», womit auf die Kurzlebigkeit von Tyrannenherr schaften hingewiesen wurde, dem Philosophen erst später zugeschrieben worden, aber in der doch wohl alten Anekdote vom symbolischen Abhauen der Ähren köpfe durch Thrasybulos von Milet wurde die Erkenntnis ausgesprochen, daß Tyrannen daran liegen mußte, die Häupter des heimischen Adels als ihre erbit tertsten Gegner zu beseitigen. Prachtentfaltung galt dem Semonides von Amorgos als typisch für Tyrannen und Zepterträger. Die erste grundsätzliche Wertung findet sich bei Solon. Er sprach es offen aus, daß Besitz- und Machtgier Hybris erzeuge, daß in der selbstverschuldeten Mißordnung des Gemeinwesens die Wur zel der Tyrannis liege und daß der durch Gewalt herrschende Tyrann seinen Ruf beflecke und schände. Die Polis war freilich damals ein noch zu lockeres Gebilde, die Eigenmacht der adligen Herren zu groß, das politische Bewußtsein zu wenig entwickelt, als daß das Urteil des seiner Zeit weit vorauseilenden Mannes all gemeingültig und verbindlich hätte werden können. Erst der Druck der Peisistra tidenherrschaft ließ in Athen den Adel, weniger das Volk, für den antityran nischen Staatsgedanken reif werden. Seit dem Sturz des Hippias pries man die Tyrannenmörder, welche die Isonomia gebracht hätten, und suchte durch die Kleisthenische Verfassung, durch Ostrakismos und Archontenlosung eine Wieder kehr der Tyrannis zu verhindern, die nun mehr und mehr im Lichte von Solons Verdikt erschien. In diesen Jahrzehnten traten mit der Niederlage der Perser auch die letzten der von ihnen ausgehaltenen Tyrannen im Osten der Ägäis ab. Auf Sizilien und in Unteritalien dagegen vermochte die Tyrannis sich jetzt erst recht zu entfalten. Das erklärt sich teils aus dem anderen Rhythmus der historischen Entwicklung im westlichen Kolonisationsgebiet, teils aus der Notwendigkeit einer straffen Führung in den häufigen Kämpfen mit benachbarten Völkern, war aber wesent lich auch dadurch bedingt, daß die größten der dortigen Machthaber es verstan den, sich den Adel zu verbinden und selbst in besonderem Maße adlige Lebens form zu pflegen. Für Pindars Einstellung zur Tyrannis ist gerade dieses letztere bestimmend gewesen. Er konnte zu Hieron und Theron in persönliche Beziehun gen treten, ohne damit dem Geist des Adels abzusagen, konnte ihren Reichtum, ihr Glück, ihren Ruhm und, wo die Art des zu Preisenden es gestattete, ihre Weis heit und Gerechtigkeit feiern. Wohl gemahnt er Hieron an seine Verantwortung als Herrscher, denn auf den volksführenden Tyrannen, wenn auf irgend einen,
Der Tyrann im Urteil des S. Jahrhunderts blicke das allmächtige Geschick, aber die Frage der Rechtmäßigkeit des Regimentes wird von ihm nicht berührt. Nur daß die Macht erfolgreich und zu Nutzen der Bürger geübt werde, hebt der Dichter hervor. Von Beschränkung der Redefreiheit weiß er nichts, wiewohl gerade Hieron Spitzel unterhielt. Ein geraderedender Mann, so meint er, könne auch unter der Tyrannis zur Geltung kommen. Ist frei lich mit dem Herrscher auch eine gesetzliche Ordnung zu rühmen, wie bei der von Hieron gestifteten Verfassung von Aitna, so geschieht es mit besonderer Wärme, während Willkür und Grausamkeit, wenngleich nur an dem längst verstorbenen Phalaris, gebrandmarkt werden. Insofern konnte sich Pindar gegen den Vorwurf der Tyrannenfreundlichkeit, der in seiner vor kurzem von einer Dynasteia be freiten Heimat Theben anscheinend gegen ihn erhoben wurde, mit der Erklärung verteidigen, daß ihm »das Los der Tyrannen« zuwider sei, doch betraf das weniger die Tyrannis an sich als ihre extreme Handhabung. Der Dichter unterschied zwi schen guter und schlechter Tyrannis und trug kein Bedenken der ersteren zu hul digen und sie gegebenenfalls mit den Zügen eines idealen Königtums zu ver klären. Als Feind des Adels dagegen erscheint der Tyrann in Versen der Theognis-Samm lung, die wohl der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts angehören. Wie von Solon wird auch hier in Gewinnsucht und Hybris der Schlechten eine der Wurzeln der Tyrannis gesehen. Dem Tyrannenmord gegenüber, von dem der große Athe ner anscheinend nicht sprach, ist die Haltung nicht eindeutig. Wird einmal der Rat gegeben, zwar keinen Tyrannen in Hoffnung auf eigenen Gewinn zu stärken, ihn aber auch nicht unter Ablegung von Eiden zu töten, so heißt es an anderer Stelle, daß den «volksverzehrenden Tyrannen» niederzubeugen keine Rache der Götter nach sich ziehe. Einen verstorbenen Tyrannen rühmen oder beklagen zu wollen, weist der Dichter von sich. Andere Stimmen aus der Wende vom 6. zum 5. Jahr hundert geben nüchterner Beobachtung Ausdruck. So hielt Simonides, dessen langes Leben ihn an verschiedene Tyrannenhöfe führte, Tyrannis ohne Genuß (Hedollt') für nicht erstrebenswert, Epicharmos nannte sie lächerlich, wenn ihr Träger ohne Vernunft sei, und Xenophanes soll zu dem Schluß gekommen sein, daß Begegnungen mit Tyrannen möglichst selten oder möglichst erfreulich sein sollten. Weit mehr jedoch als die genannten Dichter hat der Athener Aischylos, mochte er auch Hierons Gründung Aitna mit ihrer freilich gesetzlichen Ordnung in einem Drama verherrlichen, den radikalen Gegensatz von Tyrannis und autonomer Polis ins allgemeine Bewußtsein gerückt. Als Mitkämpfer bei Marathon hatte er verhin dern helfen, daß Hippias die verlorene Tyrannis von den Persern wiedererhielt. Er war Zeuge des Erstarkens der Tyrannenabwehr in den achtziger Jahren, der Siege im großen Perserkrieg, die den Peisistratiden die letzte Hoffnung auf Rückkehr nah-
Theognis. Aischylos
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men, der Ehrung der Tyrannenmörder vor und erst recht nam Bannung der Ge fahr. Zugleich wurde ihm mit dem Übergreifen des Großkönigs tlach Griechenland die asiatische Autokratie in drohende Nähe gerückt. Ihre Ähnlicl)keit mit der grie chischen Tyrannis, deren Träger, zumal im Osten, nicht frei '.>on Beeinflussung durch orientalisches Despotenturn gewesen waren, mußte dazu führen, im Gegen
satz von hellenischer Polis und asiatischem Herrscherturn den G�gensatz von Frei staat und Tyrannis wiederzuerkennen. So trägt in Aischylos' «Persern» Xerxes
Züge griechischer Tyrannen und spiegelt in manchem die Auffassung des Dichters von der Tyrannis. Neben Üppigkeit, Reichtum und göttergleicher Macht ist es vor
allem die Hybris, die den Großkönig kennzeichnet, und im Verhältnis zu seinem Staat das Fehlen der Rechenschaftspflicht, das besonders hervor€Sehoben wird. Im
merhin ist er ein legitimer Herrscher, während der Zeus des «Gefesselten Prome theus» ganz wie ein Tyrann durch Aufruhr zur Macht gelan�t ist. Doch nicht nur die Usurpation läßt in diesem Drama das Bild des Tyranhen noch realisti scher erscheinen. Der Tyrann der Götter, wie ihn Prometheus nennt, übt seine Allmacht mit furchtbarer Gewalt. Kratos und Bia sind seine Scl-tergen, skrupellos und grausam vernichtet er seine Gegner. Er ist gesetzlos, denrt nur sein eigener Wille ist ihm Gesetz. Das Fehlen der Rechenschaftspflicht wird auch hier betont, dazu das Mißtrauen gegen die Freunde, von dem es heißt, daß el) die der Tyrannis
innewohnende Krankheit sei. Angesichts dieser Charakterisierurtg gerade des Zeus könnte man meinen, daß Aischylos die Monarchie überhaupt v� rurteilt habe. Um so mehr, als in den «Persern» erklärt wird, daß Griechen es abl�hnten, einem ein
zigen Manne untertan zu sein, und die mythischen Könige in seinen und der an deren Tragiker Dramen in prunkvoll-weichlicher Barbarentrad\t auftraten. Aber Aischylos unterscheidet - anders als seine Nachfolger - schon t�rminologisch ein deutig zwischen König und Tyrann und hat im Pelasgos der «Hiketiden» das lichte Bild eines nichttyrannischen, der Bürgerschaft verantwortlichen und nur mit ihrer Zustimmung entscheidenden Fürsten gezeichnet. In kras�em Gegensatz zu diesem und selbst zu dem herrscherlichen Agamemnon steht qer Usurpator und Tyrann Aigisthos in der Orestie. Durch blutige Gewalttat hat er den Thron ge wonnen, anmaßend und despotisch tritt er den Argivern entgegen, die ihn, der den Königsrnord nur mit Hilfe eines Weibes vollbracht hat, ni<;:ht einmal als Ty rannen, geschweige denn als König gelten lassen. Hier klingt ein weiteres Motiv
der Tyrannentypologie auf: die Feigheit. Und wenn das Verd
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Der Tyrann im Urteil des 5. Jahrhunderts
Drittel des 5. Jahrhunderts noch bestanden hatte, gebannt. Allenthalben hatte sich der Freistaat oligarchischer oder demokratischer Prägung so gefestigt, daß ein ein zelner nicht mehr hoffen konnte, die Polis zu vergewaltigen. Aber es ist, als habe - wenigstens in Athen, von dem allein wir einiges wissen - diese Polis gleichsam zu ihrer Selbstbestätigung des Gegenbildes der Tyrannis bedurft. Bewußt erneuerte man um 450 die den Nachkommen der Tyrannenmörder zuerkannten Ehren und wurde im Blick auf wirkliche oder angebliche Tyrannenherrschaften der Vergan genheit voll Stolz der eigenen Freiheit inne. Anders läßt es sich kaum verstehen, daß auch in den Dramen des Sophokles Tyrann und Tyrannis eine so große Rolle spielen. Dabei fällt auf, daß der zweite der großen Tragiker, wie auch sein Zeit genosse Herodot, die tenninologische Unterscheidung zwischen legitimem König tum und usurpierter Tyrannis, die Aischylos geübt hatte, vernachlässigt, indem er basileus und tyrannos häufig promiscue gebraucht. Im «Aias» kann sich Aga memnon sogar selbst als Tyrann bezeichnen. Der Grund für diese Verwischung der Tennini ist wohl darin zu sehen, daß jetzt, in der völlig tyrannenlosen Zeit, jede Monarchie mit Ausnahme des stark beschränkten spartanischen Doppel königtums in ihrem Gegensatz zum Freistaat als Tyrannis empfunden wurde, vor allem natürlich das persische Königtum, das einzige fast, mit dem man es zu tun hatte. Als Tyrannen, wenn auch nicht so scharf wie bei Aischylos, sind Aigisthos und Klytaimnestra in der «Elektra» charakterisiert. Tyrannische Züge tragen jedoch in besonderem Maße Sophokles' markanteste Herrschergestalten: Kreon in der «Antigone» und Oidipus in der freilich erst später «Oidipus Tyrannos» genannten Tragödie. Anders als bei Aigisthos und Klytaimnestra handelt es sich hier um zwei Fürsten, die bei Verfolgung eines an sich berechtigten Anliegens in Verblendung und tyrannische Hybris verfallen. Diese bekunden sie dann in auf reizenden Worten und Gewalttaten, während die Gegenspieler und der Chor durch ihre Einwendungen oder allgemeine Betrachtungen an dem Gebaren dieser legi timen Herrscher Art und Wesen der Tyrannis deutlich werden lassen. Sie ist für Sophokles - wie schon für Solon und Aischylos - eine Frucht der Hybris. Wie in den «Hiketiden» des Aischylos wird die tyrannische Gleichsetzung von Macht haber und Polis gebrandmarkt und hervorgehoben, daß die Polis nicht ihm gehöre, sonst wäre sie keine Polis mehr. Angst um den Bestand der eigenen Herrschaft, Nichtertragenkönnen freier Meinungsäußerungen, Mißtrauen gegen Freunde sind sowohl dem Zeus des «Prometheus» als auch Kreon und Oidipus eigen. In man chem bereichert sich das Bild: Ohne Hilfe von Freunden oder der Volksmenge läßt sich Tyrannis nicht erjagen, auch Reichtum ist dafür vonnöten. Denn der Dichter weiß, die Gewaltherrschaften früherer Zeiten vor Augen, um die Verbindung von Reichtum und Macht. Beide erregen Neid, das Geschlecht der Tyrannen liebt schmählichen Gewinn., indem es die Bürger zu eigenem Nutzen ausbeutet. Daß
Sop/lOkles ein Tyrann nicht rechenschaftspflichtig ist, findet sich wenigstens angedeutet, wäh rend seine Stellung neben und über dem Gemeinwesen nicht recht in Erscheinung treten kann, weil Kreon und Oidipus legale Fürsten sind und erst dadurch, daß sie die ihnen gesetzten Grenzen überschreiten und ihre Person dem Staate gleichset zen, diesen tyrannisch vergewaltigen. Doch nicht in der Übernahme und gewissen Ausgestaltung des aischyleischen Tyrannenbildes liegt das Wesentliche, was Sophokles zum Phänomen der Tyran nis zu sagen hat, sondern in dem menschlich-religiösen Aspekt, unter dem er es sieht. «Nicht leicht ist es für einen Tyrannen fromm zu sein» läßt er im «Aias» den Agamemnon bemerken. Und sowohl Kreon wie Oidipus sind mehr im ethi schen als im eigentlich politischen Sinne Tyrannen. Ihre Hybris entspringt zu einem guten Teil einem selbstherrlichen Rationalismus und macht sie in höherem Maße an den göttlichen Satzungen als an denen des Gemeinwesens freveln. Um den von tyrannischem Geist befallenen und von seinen Auswirkungen getroffe nen Menschen, nicht um den Tyrannen als Erscheinung des staatlichen Lebens geht es dem Dichter in der gefestigten Polis. Da scheint die Tyrannis nicht mehr erstrebenswert wie einst den Zeitgenossen Solons. Niemand, auch nicht er selbst, versichert der Kreon des Oidipusdramas, wolle lieber in dauernder Furcht des ruhigen Schlafes entbehren, statt als Angehöriger des Fürstenhauses im Hinter grund stehend die Vorteile dieser Stellung genießen. Im verlorenen «Aias Lok ros» wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Tyrann weise werden könne, und ähn lich beantwortet wie später von Platon: durch den Umgang mit Weisen. Was aber umgekehrt den Verkehr mit einem Tyrannen betrifft, so hieß es in den «Lari saioi», daß jeder wünschen werde, ihm zu entgehen, und aus einem unbekannten Drama des Sophokles stammt das immer wieder als wahr erwiesene Wort: «Wer sich zum Tyrannen begibt, wird dessen Sklave, auch wenn er als freier Mann kam.» Den menschlich-religiösen Aspekt teilt mit dem großen Tragiker sein Zeitge nosse Herodot, der auch darin mit ihm übereinstimmt, daß er, aus demselben Grunde wie dieser, die Bezeichnungen basileus und tyrannos nicht selten pro miscue gebraucht. In den erzählenden Partien mag es zunächst erstaunen, daß der Mann, der selbst an einem Versuch, die Tyrannis in seiner Heimat Halikarnassos zu stürzen, beteiligt gewesen war, keine unbedingte Tyrannenfeindschaft zeigt. Der weltoffene Geist des kleinasiatischen Griechen, sein Wunsch, allenthalben das Menschliche in der Vielfalt seiner Erscheinungsfonnen zu erkennen und mit mög lichster Unbefangenheit zu schildern, ließen den Historiker begierig aufgreifen und mit Lust berichten, was er über Persönlichkeiten und Begebenheiten in Er fahrung brachte. Wohl weiß er von der Unrechtmäßigkeit der Tyrannis und rühmt deshalb einen Gewalthaber wie Kadmos von Kos, der sich freiwillig der
Der Tyrann im Urteil des 5. Jahrhunderts Macht entäußerte, wohl erkennt er im Schicksal mancher Tyrannen die göttliche Strafe für ihre Hybris, aber in den Geschichten vom Sikyonier Kleisthenes und vor allem von Polykrates überwiegt die Freude an der Prachtentfaltung, Tatkraft, Kühnheit und List, am Glück und an der ungewöhnlichen Persönlichkeit dieser Männer. Ja, die Gewinnung der Tyrannis über Gela durch Gelon kann von ihm sogar ein Glücksfund genannt werden. Im Gegensatz zum landläufigen Urteil in Athen erscheinen nicht einmal die Peisistratiden in ungünstigem Licht; vielmehr wird Peisistratos selbst mit anerkennenden Worten bedacht, des Hippias Härte während der letzten Jahre mit der Reaktion auf Hipparchos' Ermordung erklärt und das vielgepriesene Attentat sogar mißbilligt. Daß Herodot zu dieser Wertung unter dem Einfluß bestimmter Kreise in Athen kam, ist nicht sicher. Zeigt doch auch die Schilderung des Familienzwistes im Hause des Periandros, der offenbar einige angebliche Sprüche des zu den Weisen gezählten Machthabers eingefügt sind, seine Selbständigkeit gegenüber dem üblichen Tyrannenbild. Freilich kommt dieses in der Rede des Korinthers Sokles voll zur Geltung. Nichts, so läßt er ihn sagen, sei unrechter und greuelvoller als die Tyrannis, wofür als Beweis Verfol gung oder gar Ermordung von Bürgern, Beraubung der Reichen, Beseitigung der Hervorragenden, Vergewaltigung von Frauen und dergleichen angeführt wird. Und doch ist selbst hier das Verdammungsurteil durch die Bemerkung abge schwächt, daß Periandros zunächst milde gewesen und erst unter Einfluß des Thrasybulos zum Wüterich geworden sei. Wie im Falle des Hippias wird eine menschliche Erklärung gegeben. Dergleichen ist in den grundsätzlichen Äußerungen über die Tyrannis, zu de nen, aufs Ganze gesehen, auch die Soklesrede gehört, nicht zu erwarten. Sie be wegen sich gewissermaßen auf einer anderen Ebene und scheinen von Diskussio nen im damaligen Athen, vornehmlich wohl in Sophistenkreisen, beeinflußt zu sein. Hierher gehört in gewissem Sinne die Beschreibung des Entstehens einer Tyrannis und der Entartung eines Königtums zur Tyrannis in der Geschichte vom Meder Deiokes, die ausgesprochen typische Züge trägt. Nährboden der Tyrannis ist, wie bei einigen Sophisten und schon bei Solon, die Gesetzlosigkeit (Anomia). Deiokes nutzt sie, indem er als gewählter Richter ihr ein Ende setzt, dann aber sein Amt niederlegt, um nun zur Beseitigung der abermals eintretenden Gesetz losigkeit sich zum König wählen zu lassen. Sein Aufstieg ist der eines Tyrannen, seine Stellung als gewählter König zwar legal, doch nimmt er sie im Stile grie chischer Gewalthaber wahr. Er hält sich eine Leibwache, baut sich eine Zwingburg, erschwert den Zugang zu seiner Person und läßt durch Spitzel die Stimmung er kunden. Als Motiv für diese Maßnahmen wird bezeichnenderweise die an den griechischen Tyrannen oft hervorgehobene Furcht vor den adligen Standesgenos Sen angegeben. Daß ein orientalischer Herrscher Modell steht, kann nicht ver-
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wundem, hatte doch schon Aischylos am persischen Königtum Wesenszüge der Tyrannis aufgezeigt, von der ein unbekannter Tragiker sagte, sie sei den Barbaren lieb. Auch die berühmte Verfassungsdebatte ist trotz ihrem griechischen Anliegen in den Orient verlegt. Kann man die Soklesrede als die erste Tyrannen-Diatribe bezeichnen, so bietet die Diskussion der persischen Großen die erste uns bekannte Erörterung der drei Staatsformen: Demokratie, Oligarchie und Monarchie, welch' letztere, wenn auch Dareios begreiflicherweise das Wort vermeidet, im Sinne der Griechen des 5. Jahrhunderts Tyrannis ist. Von ihrem Entstehen spricht der künf tige König, von ihrer Art Otanes, der Anwalt der Demokratie. Sowohl aus Ent artung der Demokratie durch Übergewicht der Schlechten wie aus Entartung der Oligarchie durch Parteiung und blutigen Zwist kann Tyrannis erwachsen: dort, indem ein Prostates des Demos, hier, indem ein siegreicher Mann dem unseligen Treiben durch Errichtung seiner Herrschaft ein Ende setzt. Natürlich sagt der Ver fechter der Monarchie nichts von deren möglicher Entartung zu skrupelloser Ty rannis. Er faßt überhaupt nur den guten, friedebringenden Tyrannen ins Auge, während die Betonung der schlimmen Seiten der Tyrannis Sache des Otanes ist: Ohne Rechenschaftspflicht, nach eigenem Willen schaltend verfällt auch der beste Mann im Besitz der absoluten Macht der Hybris und gibt, obwohl gerade er es nicht nötig hätte, der Mißgunst Raum. Es folgt ein Sündenregister, ähnlich dem in der Rede des Sokles. Der Tyrann mißgönnt den Besten, daß sie leben, und freut sich an den Schlechtesten. Verleumdungen leiht er sein Ohr, sieht sich von den einen zu wenig, von den anderen zu bereitwillig bewundert. Was aber das Ärgste ist, er hebt väterliche Sitte und Satzung aus den Angeln, vergewaltigt Frauen, tötet Bürger ohne Urteilsspruch. Megabyzos, der Verfechter der Oligarchie, stimmt diesem Verdikt zu, doch ist ihm die Hybris des zügellosen Demos noch unerträglicher als die des Tyrannen, denn dieser handle doch wenigstens mit Ver stand, welcher der Masse nicht innewohne. Aufs Ganze der grundsätzlichen Erörterungen gesehen, kann es nicht zweifel haft sein, daß Herdodot die Tyrannis ablehnte. Schon die häufige Betonung des hohen Wertes der Freiheit in seinem Werk, der emphatische Preis der Isono mia in der Rede des Otanes und des Hervorheben von Athens Erstarken nach und infolge der Beseitigung der Tyrannis zeugen dafür. Doch erregten nicht nur die eindrucksvollen Gestalten mancher Gewalthaber Interesse und Lust des farben frohen Erzählers, der sie menschlich sah und beurteilte. Es wurden ihm, ange regt durch die staatstheoretischen Erörterungen seiner Zeit und vermutlich auch durch Diskussionen über die fast monarchische Stellung des Perikles, des «Löwen», den Agariste gebar, sowohl die Tyrannis wie die reine Demokratie zum Problem. Auch Sophokles dürfte, wie man mit Hinweis auf die Bezeichnung des Kreon
Der Tyrann im Urteil des 5. Jahrhunderts in der «Antigone» als Strategos und des Oidipus als Ersten der Männer im «Oidi pus Tyrannos» wahrscheinlich gemacht hat, in Perikles' Persönlichkeit und Macht die Gefahr eines rationalistisch-tyrannischen Gebarens gesehen haben. Ja vielleicht gibt jener bereits zitierte Vers: «Wer sich zum Tyrannen begibt, wird dessen Sklave, auch wenn er als freier Mann kam», der offenbar eine Erfahrung aus spricht, eigene oder fremde Erlebnisse mit dem seine Parmer in Bann schlagenden Perikles wieder. Doch begnügt sich der Dichter, der nicht sein Feind war, mit gleichsam indirekten Andeutungen. Die politischen Gegner und erst recht die Komödiendichter waren weniger zurückhaltend, vielmehr rasch bei der Hand, den leitenden Mann, wiewohl er sich im Rahmen der gesetzlichen Ordnung hielt, als Tyrannen hinzustellen. Sowohl die faktische Macht, die er seit der Ausschaltung von Thukydides, des Melesias Sohn, besaß - größer als die von Königen und Ty rannen nennt sie Plutarch -, wie die Distanz und Würde, die er zu wahren pflegte, wie schließlich eine Ähnlichkeit mit Peisistratos, die man an seinem Äußeren und seiner Redeweise zu erkennen glaubte, schienen solchen Vorwürfen eine ge wisse Berechtigung zu geben. Die Opposition der dreißiger Jahre erreichte denn auch die Ostrakisierung des dem Perikles nahestehenden Damon als eines «Ty rannenfreundes». Die Komödiendichter vollends konnten sich nicht genug tun, von dem im Rahmen der Verfassung den Staat leitenden Manne, obwohl er alles typisch Tyrannische vermied, als von einem Tyrannen zu sprechen. «Neue Peisi stratiden» nannten sie seine Anhänger, verlangten von ihm, er solle schwören, daß er nicht nach der Tyrannis strebe, und verglichen ihn mit Zeus, den die Dich ter seit Aischylos gelegentlich als Tyrannen bezeichneten. Aus der Verbindung des Kronos mit der Stasis (Aufruhr) , heißt es bei Kratinos, sei der große Tyrann hervorgegangen. So unberechtigt derartige Anwürfe waren, sie zeigen, wie an der überragenden Gestalt des Perikles sich die Tyrannenfeindschaft, die eine Zeitlang kaum mehr als ein Korrelat des Freiheitsbewußtseins der Polis gewesen war, neu entzündete und gleichsam virulent wurde. In der Folgezeit, nach Perikles' Tod, als die Demokratie sich übersteigerte, ihre Berechtigung von Sophisten in Frage gestellt, ihr Bestand durch die oligarchische Opposition stärker bedroht wurde, als Alkibiades sein genialisch-skrupelloses Spiel mit dem Staat und seinen Einrichtungen trieb, wuchs die Furcht vor Errich tung einer Tyrannis bis zur Massenpsychose. Wir kennen durch Thukydides die sen Zustand am Vorabend der Sizilischen Expedition, doch schon in der Mitte der zwanziger Jahre verspottet Aristophanes die angeblich von Kleon geschürte Angst vor Tyrannis und Sturz der Demokratie, ein Thema, das er auch in der Folgezeit immer wieder berührt. Die Verdächtigung des Strebens nach Tyrannis scheint ihm so wohlfeil wie die billigste Ware. Kauft einer Leckerbissen, fragt der Käufer gleich, ob es für einen Tyrannenschmaus bestimmt sei, und eine Dirne
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erwidert auf das Drängen eines, der sie begehrt, mit der wütenden Frage, ob er die Tyrannis des Hippias erneuern wolle. Daß der Großvater eines Bürgers der Leibwache des Hippias angehört habe, gilt als schwerer Vorwurf. «Wer einen toten Tyrannen totschlägt, soll ein Talent bekommen» wird in den «Vögeln» ver kündet. Über den Kult, der mit den berühmten Tyrannenmördern getrieben wurde, hatte der Dichter sich schon in früheren Stücken lustig gemacht; in der «Lysistrate» meint nun der Chor der Alten, es rieche nach Tyrannis und er wolle zur Abwehr des Komplottes der Frauen sein Schwert im Myrtenzweig tra gen wie Aristogeiton. Ernster dagegen und kaum noch karikiert ist es, wenn in den «Thesmophoriazusen» Tyrannenhaß und Polisgesinnung so selbstverständ lich verbunden sind, daß dem einfachen Manne auch die göttliche Schützerin der Stadt, Athena, als Tyrannenfeindin erscheint und die Heroldin mit einer an einen damaligen Volksbeschluß anknüpfenden Anrufung der Götter jeden verflucht, der auf Tyrannis sinnt oder hilft einen Tyrannen zurückzuführen. Ob des Pherekrates Komödie «Tyrannis« einen historischen Tyrannen auf die Bühne brachte, entzieht sich unserer Kenntnis. In den «Demen» des Eupolis könn te Peisistratos aufgetreten sein, der hier als König bezeichnet wurde, was freilich bei der ungenauen Terminologie der zeitgenössischen Dichter keine positive Wer tung zu bedeuten braucht. Denn mochte auch den sophistisch Gebildeten angesichts der immer radikaler werdenden Demokratie der einstige Tyrann in hellerem Lichte, dem durch häufigen Kriegsdienst geschädigten Bauern das friedliche Dasein unter ihm als «das Leben zur Zeit des Kronos» erscheinen, Peisistratos vor dem attischen Demos zu preisen, konnte selbst ein Komödiendichter schwerlich wa gen. Für ihn mußte das landläufige Schreckbild des Tyrannen gelten und höchstens im Märchenbereich - wie in Aristophanes' «Vögeln» - konnte der Aufstieg eines primitiven Mannes, des schließlich die Basileia heimführenden Philetairos, zu fürstlicher Herrschaft mit burlesker Komik geschildert werden. Im übrigen galt der Tyrann so sehr als Feind der athenischen Demokratie, daß umgekehrt ein Athener, der lakonisch-oligarchischer Gesinnung verdächtig war, für tyrannisch gehalten werden konnte. Aber auch den Demos hat Aristophanes nicht ohne Grund mit einem Tyrannen verglichen, der von allen gefürchtet wird und sich von Schmeichlern umgarnen läßt. Und die Herrschaft Athens über die Mitgliedstaaten des Seebundes wird von ihm offen als Tyrannis gekennzeichnet. In seinen 425 auf geführten «Babyioniern» repräsentierte der Chor der mit dem Sklavenmal gebrand markten Müllerknechte die vergewaltigten Bundesgenossen. Wenige Jahre später (422) ließ Eupolis in seiner Komödie «Poleis» die Gemeinwesen des Seebundes als vermummte Frauen auftreten, die über ihre Bedrückung klagten und den atti schen Demos knechtisch «Herr» anredeten. Auch dem Autor der vermutlich nicht lange vorher verfaßten Schrift über den Staat der Athener und dem Zeitge-
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nossen Thukydides ist die attische Seebundsherrschaft als Tyrannis erschienen. Im Gegensatz zur Komödie, für welche Tyrann und Tyrannis weitgehend nur politische Schlagwörter waren, geht es Euripides um das Problem der Tyrannis und der Tyrannenpersönlichkeit. Dem fundamentalen Gegensatz von Tyrannis und Freistaat hat der Dichter in den «Hiketiden» durch den Mund des Theseus, der mehr Vorsteher (Prostates) des Volkes als König ist, Ausdruck gegeben. Wohl läßt er den Boten des als Tyrannen charakterisierten Kreon, als er auf seine Frage, wer in Athen Tyrann sei, belehrt wird, daß es hier keinen Tyrannen gebe, son dern das Volk sich selbst regiere, die Mängel und Gefahren der Demokratie schil dern, aber die geradezu programmatische Antwort des Theseus ist von durch schlagender Wirkung. Beginnend mit der Feststellung, daß nidlts einer Polis feindlicher sei als ein Tyrann, wird der Gesetzlichkeit, Gleichheit, Freiheit und jugendlichen Kraft der demokratischen Ordnung die Tyrannis gegenübergestellt. Unter ihr gibt es keine Gesetze der Gemeinschaft, es herrscht ein einziger, der den Nomos in sich hat. Von Gleichheit ist da keine Rede mehr. Aus Angst um den Be stand seiner Macht tötet der Tyrann diejenigen, von denen er glaubt, daß sie selbständig denken. Wie könnte eine Stadt stark sein, wenn einer den Wagemut gleich den Ähren im Frühling abreißt und die Jugendblüte pflückt? Wozu soll man seinen Kindern Reichtum sammeln, wenn nur der Tyrann dadurch bereichert wird, wozu Mädchen keusch erziehen, dem Tyrannen zur Lust, den Eltern aber zum Jammer? Lieber nicht leben als sie mit Gewalt vermählt sehen! Ähnliches findet sich in anderen Dramen. «Tyrannis» nenne ich: viele töten und berauben, Eide brechen und Städte zerstören» hieß es im «Bellerophontes», «Elend mögen alle zugrunde gehen, die sich an der Tyrannis freuen» in der «Auge». «Furchtbar» nennt die Amme in der «Medeia» die Launen der Tyrannen; mit Kleinem begin nend vergewaltigen sie vieles und lassen nur schwer ihren Zorn fahren. Diese Urteile sind weder im ganzen noch in den Einzelzügen neu, auch dort nicht, wo sie sich in Gestalten einzelner Gewalthaber konkretisieren, burlesk in� «Kyklops», einigermaßen grob im Lykos des «Herakies», differenzierter im Eteo kIes der «Phoinissen». Neu dagegen, echt euripideisch und für die Zeit einer all gemeinen Entfesselung der Machttriebe bezeichnend ist die psychologische Cha rakterisierung des von maßloser Herrschgier erfüllten tyrannischen Menschen. Bis zum Sternenaufgang und unter die Erde würde Eteokles gehen, um die größte der Gottheiten, die Tyrannis, zu gewinnen. Und wenn man, so meint er, schon Unrecht tun muß, dann um der Tyrannis willen, im übrigen mag man sich fromm verhalten. In seinem Geltungsdrang und seiner Gier (Pleflnexia) gilt ihm als un männlich, wer davon nichts wissen will. Vergebens warnt ihn die Mutter Iokaste vor dem schlechtesten Daimon, der Ehrsucht, die eine Gottheit des Unrechts sei, und rühmt ihm die G!�ichheit, vergebens stellt sie ihm Sorgen und Unbestand der
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Herrschaft vor Augen -, der Sohn in seiner Verblendung beharrt dabei, sein höch stes Ziel in schrankenloser Macht zu sehen. Doch nicht nur Eteokles denkt so. Trotz seinen Schandtaten wird der Tyrann im «Bellerophontes» glücklicher ge nannt als die, welche täglich in Ruhe die Götter verehren. «Göttergleich» nennt die Tyrannis zwar nur die Barbarin Hekabe, wie denn auch für Euripides die Ty rannis die den Barbaren angemessene Herrschaftsform darstellt, glückselig aber scheint sie, wiewohl zu Unrecht, auch Griechen und ein Gegenstand der Bewun derung allen Sterblichen. Zu Solons Zeit, ehe die Polis sich konsolidierte, wollten adlige Herren sich schinden lassen, wenn sie nur einen Tag Tyrann sein könnten. Jetzt, da die Polis brüchig zu werden beginnt, kündigt sich dasselbe, nur für we nige Generationen gebändigte Verlangen von neuem an. Jakob Burckhardts Wort, daß in jedem begabten und ehrgeizigen Griechen ein Tyrann wohnte, findet sich bestätigt. Wie um das Verlockende weiß Euripides aber auch um das Bittere, das die Ty rannis ihrem Träger bringt. Nicht nur daß sie mit Mühen errichtet wird und der Gewalthaber auf die Masse Rücksicht nehmen muß, er ist trotz Macht und Schätzen im Grunde unglücklich. Schon in einem Frühwerk, den «Plejaden», wird die bewunderte Tyrannis als das Unglücklichste bezeichnet. Wer sie innehat, muß Freunde verderben oder gar töten, Furcht gerade vor denen hegen, die nichts tun . Daher wünscht sich Hippolytos, wie schon Kreon in Sophokles' «Oidipus», den zweiten Platz im Staate und Ion will sogar lieber einfacher Bürger sein als die fälschlich gepriesene Tyrannis besitzen, die zwar nach außen glänzend, aber da heim kummervoll sei. Muß der Tyrann doch in dauernder Wachsamkeit leben, Schlechte zu Freunden haben, die Guten aber fürchten und hassen. Selbst sein Reichtum bereitet ihm nur Sorge und Angst. Denn von allen Seiten wird die Ty rannis durch gefährliches Begehren beschossen. Dabei ist sie vergänglich und eitel: Tyrannen stürzen aus dem Glanz ihrer Stellung ins Nichts. War etwa nach alledem für Euripides die Tyrannis oder die Monarchie über haupt verabscheuenswert? Er selbst ging in hohem Alter an den Hof des Make donenkönigs Archelaos, und Platon, der in diesem Fürsten einen Tyrannen sah, nannte, wohl nicht nur deshalb, den Dichter einen Tyrannenfreund. Nun spricht in der «Andromache» der Chor die Ansicht aus, es werde die Polis am besten von einem verständigen, gerechten Manne geleitet, ja ein unbeschränkter Gebieter (autokrator) richte selbst bei durchschnittlicher Begabung im privaten Leben wie im Staat mehr aus als ein Haufe von Weisen. Und in dem verlorenen Drama «Aigeus» war sogar zu hören, daß unter einem trefflichen Manne auch die Tyran nis schön sei. Es kann also gute Tyrannen geben. Wie in der Verfassungsdebatte bei Herodot wird zwischen trefflichen und schlechten Herrschern unterschieden und die Tyrannis als solche durch verschiedene Beleuchtung nach Art der Sophi-
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sten zur Diskussion gestellt. Desgleichen - wiederum wie bei Herodot - die De mokratie, indem einerseits die Ungleichheit der Menschen, der im Staate Rech nung zu tragen sei, andererseits die Herrschaft über Gleiche betont wird. Was aber die Terminologie betrifft, so gebraucht Euripides, gleich Sophokles und Hero dot, basileus und tyrannos häufig promiscue und findet erst in den Spätwerken «Helena» und «Orestes» zu einer deutlichen Unterscheidung. Einem freiwillig an erkannten Herrscherturn, das allerdings nicht ausdrücklich als basileia bezeichnet wird, stellt er die Tyrannis als ein gegen den Willen der Bürger geübtes Gewalt regiment gegenüber. Sowohl eine gewisse Rückwendung in dieser erneut von Tyrannis umwitterten Zeit zum Sprachgebrauch des Aischylos, des Zeugen der letzten Zuckungen der älteren Tyrannis, wie namentlich das Ringen der zeitge nössischen Philosophen um klare begriffliche Bestimmungen legten dem Dichter eine schärfere Fixierung der Herrschaftsfonnen nahe.
Hippias von Elis untersuchte den Gebrauch des Wortes «tyrannos» und stellte fest, daß, während Homer den besonders gesetzlosen Echetos als König, nicht als Tyrannen bezeichnete, spätere Dichter die Könige vor dem Trojanischen Krieg Tyrannen nannten. Das Wort sei also erst spät, und zwar in Archilochos' Zeit zu den Griechen gekommen, es leite sich von den räuberischen Tyrrhenern her. Dem gesetzlichen König wurde mithin auch von Hippias der gesetzlose, räuberische Tyrann gegenübergestellt. Vielleicht daß er oder andere Sophisten den Unterschied noch genauer festlegten, wie es nach dem Zeugnis Xenophons durch Sokrates ge schah. Königtum war für diesen eine auf Grund freiwilliger Anerkennung und nach den Gesetzen der Staaten geübte Herrschaft, Tyrannis eine solche, die gegen den Willen der Bürger und nicht nach den Gesetzen geübt wurde, sondern nach dem Willen des Machthabers. Damit war im wesentlichen die begriffliche fixie rung der beiden Herrschaftsformen gegeben, die fortan in der griechischen Staats philosophie gelten sollte. Unterschieden sich aber Königtum und Tyrannis durch ihr Verhältnis zum Nomos, so mußte die Krise, in die der Nomosbegriff seit der Mitte des 5. Jahrhunderts vor allem durch die Argumentationen der Sophisten geraten war, sich notwendig auch auf die Beurteilung der Tyrannis auswirken. Für Protagoras besaß der Nomos noch seinen Wert: Wer sich dem Recht (Dike) und ehrfürchtiger Scheu (Aidös) verschließe, den solle man töten, weil er für den Staat eine Krankheit bedeute. Und wie hier die Tyrannis implicite verworfen wird, so ist sie auch für den sogenannten Anonymus Iamblichi ein großes Unglück. Denn stets geht sie aus allgemeiner Gesetzlosigkeit hervor und der Tyrann selbst, der ein Mann von diamantener Härte sein muß, löst vollends den allen gemein samen und der Menge nützlichen Nomos auf. Begriindet er freilich das Verloren gegangene neu, so darf er wohl die Alleinherrschaft führen. Es wird zwar nicht ausdriicklich gesagt, daß er dann nicht mehr Tyrann, sondern König ist, aber fak-
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tisch wird wie beim späten Euripides zwischen beiden geschieden, nur daß hier nicht die Anerkennung durch die Bürgerschaft, sondern die Neubegründung bzw. Wahrung des Nomos das Kriterium bildet. Von solch' positiver Wertung des Nomos und seiner Konfrontation mit der Tyrannis ist bei Sophisten wie Hippias und Antiphon, die den Nomos für bloße Menschensatzung erklärten, während die Natur gewachsen und notwendig sei, nicht die Rede. Im Gegenteil, als Tyrann, der die Menschen zu vielem Widernatürlichen zwingt, kann nun gerade der No mos bezeichnet werden. Erst recht bekundet sich diese Einstellung bei den radi kaleren Sophisten. Das Gerechte, erklärte Thrasymachos von Chalkedon, sei das dem Stärkeren Zuträgliche, Gerechtigkeit die Erfüllung der vom Stärkeren, ob Tyrannis, Oli garchie oder Demokratie, gegebenen Gesetze. Wer sich ihnen fügt, der Gerechte also, ist der Leidtragende, der Ungerechte dagegen, der dem eigenen Interesse dient, ist im Vorteil. Der kleine Rechtsverletzer wird bestraft, derjenige aber, der im großen Stil gegen die Gesetze handelt und namentlich der, der es im höch sten Maße tut, der Tyrann, wird eben dadurch der Beglückteste. Nicht in kleinen Stücken reißt er fremdes Gut, privates und öffentliches, an sich, sondern gleich alles zusammen. Und wenn er gar außer dem Raub ihrer Habe die Bürger auch noch knechtet, dann gilt er allgemein, selbst den Unterdrückten, als beglückt und selig. Mit dieser illusionslosen Feststellung eines bitteren Sachverhaltes wird zwar noch nicht das Recht des Stärkeren proklamiert, aber der Nomos durch Relativie rung und Entsittlichung entwertet. Der Gegensatz von Gesetzesstaat und Tyran nis ist aufgehoben, auch der Tyrann kann Gesetze geben, und die Tyrannis ist nicht schlechter als irgendeine Staatsform. Völlig gerechtfertigt und geradezu ver herrlicht jedoch wurde die Tyrannis durch diejenigen Sophisten, welche das natur gegebene Herrenrecht des Stärkeren uneingeschränkt bejahten. Das geschieht be kanntlich in der berühmten Rede, die Platon den Gorgiasschüler Kallikles· halten läßt. Die bestehenden Gesetze, sagt er, gehen von einer der Natur widersprechen den Gleichheit der Menschen aus, sie beschränken die Starken zugunsten der Masse der Schwachen, die in ihrer Ohnmacht die Gleichheit propagieren, um die Stärkeren ihres natürlichen Herrenrechtes zu berauben. «Wenn aber, so glaube ich, ein Mann mit entsprechender Natur erscheint, der das alles abschüttelt, zer reißt und sich ihm entwindet, der unser Buchstabenwerk, unsere Gaukelei, unsere Zaubersprüche und alle die widernatürlichen Gesetze niedertritt, dann erhebt er sich, unser Sklave, erscheint als Herr, und es erstrahlt das Recht der Natur». Ein solcher Herrenmensch muß seine Begierden so groß wie möglich werden lassen. Und sind sie wirklich groß, dann soll er fähig sein, ihnen, worauf sie auch ge richtet sein mögen, mit Tapferkeit und Einsicht zu dienen und sie, ohne sie im Zaum zu halten, zu befriedigen. Es bedarf keiner Erläuterung, daß hier der Typus
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des skrupellosen Tyrannen, den das 5. Jahrhundert bisher einmütig verdammt hatte, auf den Schild gehoben wird. Tyrann im schlimmen Sinne ist für Kallikles mehr noch als für Hippias der das Recht der Natur mißachtende Gesetzesstaat. Oder, wie der gleichgesinnte Kritias, einer der «dreißig Tyrannen», es ausdrückte: Dike ist Tyrann und hat als Sklaven die Hybris. Eine Umkehrung der Werte war vollzogen. Natürlich nicht in der Breite des Volkes, das vielmehr, je stärker die athenische Polis als Idee und Wirklichkeit ins Wanken geriet, um so leidenschaftlicher sie vor Vergewaltigung durch einen Tyrannen zu schützen suchte. Die Tyrannenangst, nicht nur am Vorabend der Sizilischen Expedition, das Verbot der Verunglimp fung der Tyrannenmörder und der Volksbeschluß zur Sicherung der Demokratie nach dem oligarchischen Zwischenspiel von 411, Maßnahmen, von denen in an derem Zusammenhang zu sprechen sein wird, zeugen davon. Immerhin machte das Versagen der Demokratie in der Außenpolitik und Kriegführung nicht nur in Athen, sondern namentlich auch in Syrakus die Mehrheit der Bevölkerung für die Anerkennung eines überragenden Machtmenschen, dort des Alkibiades, hier des Dionysios, bereit und schien den in den Kreisen der Gebildeten sich verbreitenden Lehren der Sophisten recht zu geben. Von diesen beeinflußt und das Geschehen der Zeit mit unbestechlichem Blick verfolgend hat Thukydides die Geschichte des Peloponnesischen Krieges geschrie ben. Seine Einstellung gegenüber der Tyrannis, die in ihren einstigen Vertretern zu schildern das Thema des Werkes kaum Gelegenheit gab, ist von jenem nüch ternen Realismus bestimmt, der uns beim Anonymus Iamblichi und Thrasymachos begegnete. Doch wird von dem Historiker die Notwendigkeit des Nomos durchaus bejaht, als dessen Gegenspieler ihm der den Menschen und Staaten innewohnende Machttrieb erscheint. Sparta, sagt er, war immer gesetzesstark und tyrannenlos, und thebanische Gesandte läßt er vor den Lakedaimoniern erklären, daß die Dy nasteia weniger Männer den Gesetzen und dem Vernünftigsten am meisten wi derspred1e, der Tyrannis aber am nächsten stehe. Erfüllt von egoistischer Gier (Pleonexia) und Ehrsucht (Philotimia) sind Dynasten, Hetairien und vor allem Tyrannen Feinde der Isonomia und des Demos. Zu diesem Urteil, das der com munis opinio des 5. Jahrhunderts entspricht, tritt eine Würdigung der älteren Tyrannis als historischer Erscheinung. Die einstigen Tyrannenherrschaften kamen mit dem Erstarken von Hellas, dem Wachsen des Erwerbs von Reichtümern und des Zustroms öffentlicher Einkünfte auf. Für die außenpolitische Entfaltung der Staaten waren die Gewalthaber freilim von geringer Bedeutung, weil sie, nur auf den eigenen Nutzen und die Sicherung ihrer Herrschaft bedacht, höchstens gegen Nachbarn Kriege führten. Hinsichtlim der Beurteilung der Peisistratiden stimmt Thukydides im Gegensatz zur offiziellen Meinung in Athen mit Herodot über-
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ein: sie waren der Menge nicht verhaßt, bewiesen Tüchtigkeit (Arete) und Klug heit (Xynesis), ließen die Gesetze bestehen, und erst nach Ermordung des Hip parchos wurde Hippias hart. Die Tyrannenmörder werden vollends um ihren Ruhm gebracht, denn nicht sie, sondern die Spartaner haben die Tyrannis gestürzt. Der Historiker kennt aber nicht nur die Tyrannis eines einzelnen Mannes über eine Stadt, sondern auch die Tyrannis einer einzelnen Stadt über andere. Nicht daß er einfach Vorwurf und Schlagwort der Gegner der Herrschaft Athens über nommen hätte, er sah vielmehr in beiden Erscheinungen dieselbe Struktur. Für beide, heißt es in der Rede des Euphemos, ist nichts unvernünftig, was nützlich, nichts Freund, was unzuverlässig ist. Und wenn Thukydides bei der Gründung des Seebundes die Freiwilligkeit der übertragung der Hegemonie betont, für die Zeit der späteren Herrschaft aber auf den widerwilligen Gehorsam der Bündner hin weist, so entspricht das der Unterscheidung zwisdlen freiwillig anerkanntem Königtum und widerwillig ertragener Tyrannis bei Euripides und Sokrates. Als Tyrannis läßt er denn auch Athens Arche nicht nur durch ihre Feinde, sondern auch durch Kleon und sogar durch Perikles kennzeichnen. Die dem letzteren bei gelegte Äußerung, es möge gesetzlos sein, die Tyrannis zu ergreifen, sie aufzu geben jedoch sei gefährlich, hat, wiewohl im Hinblick auf Athens Stellung gesagt: für jede Tyrannis Gültigkeit. Desgleichen könnte die große Auseinandersetzung zwischen Macht und Recht im Melierdialog ähnlich zwischen einem Tyrannen und dem von ihm vergewaltigten Gemeinwesen spielen. Den attischen Demos, dessen Angst vor der Tyrannis zur Zeit des Hermenfrevels er eindrucksvoll schildert, hat der Historiker weder als Tyrannen bezeichnet noch als solchen charakterisiert. Nur die gesetzlose Ausübung der reinen Macht galt ihm als Tyrannis, wie er denn auch im Wirken des Perikles die Herrschaft des ersten Mannes, nicht aber eine Tyrannis sah. Inzwischen freilich war «tyrannos» dermaßen zum Schlagwort gewordeu, daß mit ihm jeder belegt werden konnte, der eine ungewöhnliche Macht besaß oder zu besitzen schien. Nicht bloß Perikles wurde, wie wir sahen, von den Komödien dichtern als Tyrann hingestellt, audl der attische Demos, und in der Verfassungs debatte ließ Herodot durch Otanes den Demos überhaupt als Tyrannen kenn zeichnen. Sogar Kinder und Weiber wurden in einem Drama des Euripides «eine große Tyrannis für den Mann» genannt. Unter den Göttern war es vor allen Zeus, der als Tyrann erschien. Ist er es bei Aischylos noch im strengen Sinne des Wortes, so verdankt er bei Sophokles, Aristophanes und dem Sophisten Gorgias diese Benennung lediglich seiner Allgewalt. In ähnlichem Sinne wird bei Aischy los von den Tyrannen der Unterirdischen, bei Euripides von dem alle bezwingen den Eros als Tyrann gesprochen. Daß die mythischen Könige vor dem Trojani schen Krieg, von denen nur einige, Echetos etwa und Pelias, ausgesprochen tyran-
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Der Tyrann im Urteil des 5 . Jahrhunderts
nische Züge tragen, von den nachhomerischen Dichtern «Tyrannen» genannt wur den, bemerkte Hippias von Elis. Erst die Zeit der Sophisten brachte die schärfere begriffliche Fixierung, nachdem die Tyrannentypologie voll ausgebildet war. Denn dies geschah bereits im 5. Jahrhundert, als der seiner selbst bewußte Freistaat zu seiner Bestätigung und Verteidigung des Gegenbildes der gesetzlosen Gewaltherr schaft bedurfte, das die Philosophen der Folgezeit, denen es um Erkenntnis und Er neuerung des rechten Staates ging, als Folie übernahmen und auswerteten, doch nur um wenige Züge zu bereichern brauchten. Auch die Erfassung des tyranni schen Menschen, seines Glanzes und Elends, seiner Macht und Hinfälligkeit, ist eine Frucht der hochklassischen Zeit, ihres vermenschlichenden Geistes. Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts, als infolge der äußeren und inneren Krise der Polis die Gefahr der Errichtung von Tyrannenherrschaften wieder akut wurde, konnte im Banne neuer, den Gesetzesstaat in Frage stellender Lehren die bisher einmütig verurteilte Tyrannis zum Problem werden. Es wurde damit einer positiveren Ein schätzung der Monarchie der Weg geöffnet. Die Zeit der jüngeren Tyrannis und der makedonischen Könige dämmert auf.
DRIT T E S KAPIT E L
V O RLÄUF E R D E R Jü N G E R E N TY RA N NI S Wenn im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts durch die Lehren der Sophisten die ideellen Fundamente der Polis in Frage gestellt, der starken Persönlichkeit ein Herrenrecht zuerkannt und die Monarchie in ein günstigeres Licht gesetzt wurde, so handelt es sich nicht nur um eine Erscheinung des geistigen Lebens. Allgemein büßten unter der entsittlichenden Wirkung des Peloponnesischen Krieges und sei ner Folgen die bisher gültigen staatsethischen Normen an Verbindlichkeit ein. Hemmungsloser als zuvor entfaltete sich jetzt der Machtwille einzelner Staaten und einzelner Männer, weder durch den Nomos der Hellenen noch durch die Sat zungen der Gemeinwesen gebändigt, die seit dem Ende der älteren Tyrannis auch die kraftvollsten Naturen zu binden und sich dienstbar zu machen vermocht hat ten. War selbst der späte Perikles noch trotz seiner quasimonarchischen Stellung gleichsam im Staate aufgegangen, so neigten nun maßgebende Demagogen und siegreiche Feldherren dazu, ihre eigenen Interessen über die der Polis zu stellen und, statt dieser zu dienen, sie für sich selbst zu nutzen. Nicht ohne Grund witterte man daher in solchen Männern die Gefahr der Tyrannis, war aber andererseits, wenigstens in der Masse des Volkes, bereit, sich von ihnen faszinieren zu lassen, wo nicht gar ihrem egoistischen Machtstreben Hilfestellung zu leisten. Es mußte sich erweisen, ob trotzdem Polisgeist und Struktur der Polis zur Bannung jener Gefahr, wenn sie ernsthaft auftreten sollte, stark genug sein würden. Doch nicht nur dies. Würde die Außenpolitik, die seit dem Beginn des großen Krieges immer mehr auch das innenpolitische Leben beeinflußte, es zulassen, daß man hervor ragende und für die Behauptung des Staates gegenüber auswärtigen Feinden unentbehrliche Persönlichkeiten aus Furcht vor der Tyrannis verstieß? Neben einem im Vergleich zu den einstigen Tyrannen bewußteren und differenzierteren Individualismus ist es gerade die Verflechtung ihres Wirkens und Schicksals mit der Außenpolitik wie auch mit den innenpolitischen Ansprüchen des zwar brü chigen, aber um so empfindlicheren Freistaates, was die Männer, von denen im folgenden zu sprechen sein wird, als Vorläufer der jüngeren Tyrannis erscheinen läßt.
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Vorläufer der jüngeren Tyrannis 1. ATHEN
Was einst in vielen Fällen die Basis für das Streben nach Tyrannis abgegeben hatte: vornehme Abkunft, Reichtum, Beliebtheit beim Volk, das alles besaß Alki
biades in hohem Maße, und es ist kaum anzunehmen, daß er die Tyrannenfeind schaft seines Urgroßvaters als Verpflid1tung für sich selbst empfand. Auch daß er durch glanzvolle Teilnahme an den Olympischen Spielen die bewun dernden Blicke von ganz Hellas auf sich zu ziehen suchte und bei seinen außen politischen Machenschaften nach dem Nikiasfrieden sich persönlicher Beziehun gen zu einflußreichen Kreisen zahlreicher Städte bediente, erinnert an die äl teren Tyrannen. Aber das Wesentliche und im Hinblick auf ein etwaiges Streben nach Tyrannis Gefährliche seines Wirkens lag nicht in derartigen Ähnlichkeiten, sondern darin, daß in diesem mit ungewöhnlichen Fähigkeiten und bestrickender Anmut begabten Manne eine Persönlichkeit auf den Plan trat, die im Geiste der Lehren radikaler Sophisten kein Bedenken trug, sich selbstherrlich über Brauch und Sitte hinwegzusetzen. Daß er damit bei der leicht zu betörenden Menge in einer Zeit innerer Unsicherheit mehr Staunen oder gar Bewunderung als Ableh nung erregte, machte ihn für den Staat noch gefährlicher. Wohl drohte ihm 416 der Ostrakismos, doch wußte er ihn durch ein raffiniertes Manöver auf seinen Gegner Hyperbolos zu lenken und damit als politisches Kampfmittel für immer zu diskreditieren. Erst der Hermenfrevel vor Ausfahrt der Flotte nach Sizilien (415) erweckte im Volk mit der Sorge, daß die Rache der Götter das Unternehmen treffen könnte, die Furcht, es werde von den aller religiösen Scheu baren Tätern etwa auch ein politischer Umsturz mit dem Ziel der Errichtung einer Tyrannis geplant. Aber obwohl dieser Tyrann kein anderer als Alkibiades sein konnte und er sogar der Profanierung der Eleusinischen Mysterien angeklagt wurde, fühlte er sich des Freispruches so sicher, daß er seinerseits auf sofortige Durchführung des Prozesses drang. Solange er mit dem Zauber seiner Persönlichkeit auf Richter und Volk einwirken konnte, war er in der Tat unwiderstehlich. Eben deshalb erwirk ten seine Gegner Vertagung der Verhandlung, eben deshalb standen andere Bürger unter dem Alpdruck seiner drohenden Tyrannis. Auf Alkibiades scheinen die Worte in Euripides' Drama «Pleisthenes» gemünzt: «Vertreibe niemals einen Mann, der das Vertrauen des Demos hat, noch laß' ihn zu mächtig werden, denn das ist gefährlich. Strafe vielmehr den Frevler am Recht, damit Dir nicht aus der Polis ein glänzender Tyrann erstehe.» Und in einer unter Andokides' Namen über lieferten Rede konnte behauptet werden, daß Alkibiades, der die um ihn gescharte Hetairie in gefährlicher Weise vergrößere, zwar wie ein Demagogos rede, aber wie ein Tyrann handle. Der Übertritt auf die Seite Spartas nach seiner Abberufung vom sizilischen
Alkibiades
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Kommando und die Verhandlungen mit Tissaphernes, an dessen Satrapenhof er persische Sprache und Tracht angenommen haben soll wie einst Pausanias und Themistokles, zeigen zwar, daß der Mann, der letztlich nur sich selbst Gesetz war, die Bindungen seiner Vaterstadt völlig abwarf, lassen aber nichts von Streben nach einer mit fremder Hilfe zu errichtenden Tyrannis über Athen erkennen. Auch nach seiner Rückkehr in die Heimat (408/7), als man ihm faktisch die Lei tung des Staates übertrug, scheint er sich nicht mit derartigen Plänen getragen zu haben, obwohl die Masse des Volkes in Begeisterung darüber, daß er zum ersten Mal seit Jahren wieder die feierliche Prozession nach Eleusis unter Abschirmung gegen die Spartaner in Dekeleia führte, angeblich nichts dagegen hatte, andere glaubten es befürchten zu müssen. Alkibiades war offenbar klug genug einzu sehen, daß die labile Stimmung einer Menge, die ihm heute zujubelte und morgen den Rücken kehrte, keine tragfähige Basis für eine Tyrannis bilden konnte. Selbst mit Soldtruppen, die ihm jedoch nicht zu Gebote standen, oder mit Unterstüt zung durch eine auswärtige Macht, an die ebenfalls nicht zu denken war, hätte sich ein solches Ziel in Athen kaum erreichen lassen. So begnügte er sich mit den ihm legal übertragenen außerordentlichen Vollmachten, die freilich nach kurzer Zeit erloschen, als man ihn wegen der Schlappe eines Unterfeldherrn seiner Stel lung entsetzte. Nach 407 lebte Alkibiades am Hellespont. Hier besaß er spätestens seit 409/8, vielleicht durch Schenkung des Thrakerfürsten Medokes, einige feste Plätze: Neon Teichos, Ornos und möglicherweise Bisanthe, von wo aus er mit eigenen Söldnern Beutezüge gegen die keinem Fürsten unterstehenden Thraker unternahm. Hundert Jahre zuvor hatte in jener Gegend Miltiades als Tyrann geboten. Auch Alkibiades scheint dort eine tyrannenähnliche Stellung eingenommen zu haben, die jedoch weder seinem hochgespannten Ehrgeiz genügen noch von Bestand sein konnte, nachdem Sparta durch den Sieg von Aigospotamoi Herr der Meerenge geworden war. So begab er sich nach dem Fall Athens zu dem ihm von früher her vertrauten Satrapen Pharnabazos nach Daskyleion, von dem er nicht nur ehrenvoll aufge nommen wurde, sondern angeblich auch die Stadt Gryneion mit Steuereinkünften in Höhe von 50 Talenten erhielt. Er hätte hier als tyrannenähnlicher Stadtherr walten können, doch bewirkten seine Bemühungen, den Perserkönig zu einer Ak tion gegen die «Dreißig» in Athen zu bewegen, von denen er in absentia verbannt worden war, daß diese über ihren Schutzherrn Lysandros den Pharnabazos dazu brachten, ihn zu beseitigen (404/3). Wohl bis zuletzt hatte Alkibiades gehofft, mit Hilfe des Großkönigs nach Athen zurückzukehren und dort nochmals eine füh rende Rolle spielen zu können. An eine Tyrannis über die Stadt dürfte er so wenig wie früher gedacht haben. Ernsthafter als durch ihn ist der Bestand der attischen Demokratie in Alkibiades'
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Vorläufer der jüngeren Tyrannis
Zeit durch die oligarchischen Hetairien gefährdet worden, denen es im Jahre 411 gelang, eine Verfassungsänderung in ihrem Sinne durchzusetzen. Es geschah dies durch Terrorisierung der Volksversammlung; der aufgezwungene Rat der «Vier hundert» erhielt unbeschränkte Regierungsgewalt und übte sie bald skrupellos, indem er nach Tyrannenart Hinrichtungen, Verbannungen und Güterkonfiskatio nen vornahm. Da dies mit Berufung auf die «Väterverfassung» eingeführte Regi ment in Wahrheit nur ein Mittel zur Befriedigung persönlicher Machtgelüste der zur Herrschaft Gelangten war, mußte es vollends als Tyrannis erscheinen. Schon ein Zeitgenosse nennt es so, und die Reaktion nach Wiederherstellung der Demokratie ist ähnlich gewesen wie die nach dem Sturz der Peisistratidenherrschaft ein Jahr hundert zuvor. Ein von Demophantos im Jahre 410/9 beantragter Volksbeschluß erklärte nicht nur jeden, der die Demokratie stürzte oder zur Zeit der Außerkraft setzung der Demokratie ein Amt bekleidete, zum Staatsfeind, dessen Tötung we der Schuld noch Befleckung bringe, es sollten auch alle Athener schwören, den, der solches verübe, zu beseitigen. In die Eidesformel wurde bezeichnenderweise aus dem Ratseid des ausgehenden 6. Jahrhunderts der Passus aufgenommen, daß jeder sich verpflichtete, denjenigen zu töten, der sich zum Tyrannen mache oder einem zur Tyrannis verhelfe. Die Gleichsetzung derer, welche die Demokratie stürzten, mit Tyrannen bekundete auch der zusätzliche Schwur, einen Bürger, der beim Attentat auf einen der Genannten selbst den Tod finde, samt seinen Kindern zu ehren wie Harmodios und Aristogeiton und deren Nachkommen. Ein Verbot der Verun glimpfung der berühmten Tyrannenmörder, mit deren Kult die Komödiendichter ihren Spott trieben, dürfte etwa gleichzeitig beschlossen worden sein. Nichtsdestoweniger ist sechs Jahre später, nach dem Fall Athens, die Demokra tie zeitweise beseitigt und durch ein tyrannisches Regiment ersetzt worden. Wie der Umsturz von 411 erfolgte die Wahl von dreißig Männern zur Aufzeichnung einer neuen oligarchischen Verfassung formal auf legalem Wege, in Wahrheit aber unter dem Terror von Hetairien und dem Druck des Siegers Lysandros. Als provisorischer Regierung war ihnen das Recht eingeräumt, neue Beamte und einen neuen Rat zu bestellen, der aus ihnen willfährigen Männern bestand, so daß sie Prozesse gegen namhafte Demokraten ihm überweisen konnten. Anfangs noch zurückhaltend, herrschten sie, nachdem der maßvolle Theramenes beseitigt wor den war und sie sich nach langem Zögern entschlossen, dreitausend Vollbürger zu nominieren, nach «widerrechtlichen Satzungen», nahmen das Recht über Leben und Tod für sich in Anspruch und entwaffneten die Bürger nach Tyrannenart. Ein hemmungsloses Wüten setzte jetzt ein; jeder, der irgendwie gefährlich scheinen konnte, wurde den Schergen überantwortet, das zunächst von ihnen bekämpfte Denunziantentum blühte üppiger als je, und mancher erlitt nur deshalb den Tod, weil sein Vermögefl die Machthaber zur Konfiskation reizte. Das Schalten der
Die Oligarchen von 411. Die «Dreißig»
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«Dreißig» unterschied sich also kaum vom Verfahren der schlimmsten Tyrannen. Ja, der bedeutendste und zugleich gewalttätigste unter ihnen trug ausgesprochen tyrannische Züge. Kritias', von vornehmer Abkunft und einst Hörer sowohl der Sophisten wie des Sokrates, hatte, wie im vorigen Kapitel zu erwähnen war, in einer seiner Dichtungen mit radikaler Umwertung der Begriffe Dike für einen von Hybris begleiteten Tyrannen erklärt. In der praktischen Politik war er um 411 erst mit den Oligarchen, dann mit den Demokraten gegangen, hatte die Rückberu fung des Alkibiades (409/8) beantragt, die eigene Verbannung aber doch nicht ab wehren können. Auch in Thessalien, wo er sich in der Folgezeit aufhielt, scheint er in den sozialen Kämpfen keine grundsätzliche Haltung eingenommen zu haben. Obwohl er bei den Feudalherren, auf die ihn Stand und Bildung verwiesen, Auf nahme fand, beteiligte er sich an der Aufwieglung der hörigen Penesten, getrieben vom Verlangen nach Anarchie und persönlicher Macht. Diese fiel ihm freilich erst zu, als er 404 mit anderen zurückgekehrten Verbannten in die Körperschaft der Dreißig gewählt wurde, wozu seine Sympathie für Sparta beigetragen haben dürfte. Krätias und neben ihm Charikles sind es vor allen gewesen, die als Führer der radikalen Gruppe eine blutige Gewaltherrschaft übten. Jede Möglichkeit einer Opposition suchten sie auszuschalten, verboten sogar den Unterricht in der Rede kunst, angeblich im Hinblick auf Sokrates' unerschütterliche Haltung, die er nicht seinen Schülern einpflanzen sollte, in Wahrheit wohl, weil Kritias aus seinem Ver kehr mit den Sophisten wußte, wie gefährlich die Waffe der faszinierenden Rede in der Hand eines Gegners werden konnte. Wenn Xenophon ihn in einer Ausein andersetzung mit Theramenes die Ausrottung aller Widerstrebenden für notwen dig erklären läßt, weil die Herrschaft, wiewohl von dreißig Männern getragen, eine Tyrannis sei und dementsprechend gehandhabt werden müsse, so ist damit der wahre Sachverhalt gekennzeichnet. Die erzwungene Wahl, der Mißbrauch des Amtes zu persönlicher Machtenfaltung, gesetzlose Willkür und Grausamkeit las sen das Regiment nicht nur als Dynasteia, die dem Thukydides der Tyrannis ver wandt galt, sondern als eine vielköpfige Tyrannis erscheinen. Mit Recht haben spätere Schriftsteller von den «dreißig Tyrannen» gesprochen, und ähnlich wie Harmodios und Aristogeiton sind die Freiheitskämpfer, die ihren Sturz bewirkten, vom Volke geehrt worden. Die «Dreißig» stehen bereits
am
Beginn der Epoche der jüngeren Tyrannis, de
ren ältester und bedeutendster Repräsentant, Dionysios 1., kurz zuvor in Syrakus zur Herrschaft gelangt war. Wie für ihn bildete auch für sie den Ausgangspunkt ein durch Volksbeschluß übertragenes außerordentliches Amt, dessen Grenzen sie zunehmend mißachteten, bis schließlich die Gewaltherrschaft den ursprünglichen Auftrag völlig überwucherte. Ein derartiges Regiment war wie jede radikale Ty rannis nur mit militärischer Macht zu behaupten. Die widerwillige, zudem ent-
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Vorläufer der jüngeren Tyrannis
waffnete Bürgerschaft kam dafür nicht in Frage, und ein Söldnerheer stand nicht zur Verfügung. Dagegen lieh Lysandros auf Ersuchen der Dreißig, die er von Anfang an begünstigt hatte, die notwendige militärische Stütze, indem er eine Besatzung von 700 Mann auf die Akropolis legte. Nicht anders als einst die Gewalthaber in den kleinasiatischen Griechenstädten am Ende des 6. Jahrhunderts oder manche der Tyrannen des 4. und 3. Jahrhunderts wurden die Dreißig von einer auswärtigen Macht gehalten. Gleid1wohl brach ihre Herrschaft nach wenigen Monaten zusammen, als Kritias im Kampf gegen Thrasybulos, der mit Verbannten und Entflohenen zunächst die Bergfeste Phyle besetzt, sodann den Piräus gewon nen hatte, unterlegen und gefallen war (Winter 4°4/3). Die Dreißig wurden von den dreitausend Vollbürgern abgesetzt; ein Kollegium von zehn Männern trat an ihre Stelle, das sich mit Lysandros' Unterstützung wohl hätte behaupten können, wäre diesem nicht der Lakedaimonierkönig Pausanias entgegengetreten. Erinnert dieser Zwist der beiden Spartaner an die Entzweiung zwischen Kleomenes und Da maratos beim Versuch des ersteren, den Isagoras zu restituieren, so läßt die schon unter Kritias vorgenommene Besetzung von Eleusis als etwaigem Zufluchtsort an ähnlime Vorkehrungen des Peisistratos und anderer Tyrannen denken. Wirklich haben sich die Überlebenden der Dreißig dorthin zurückgezogen und noch, nam dem im Jahre 403 das Regiment der zehn Männer in Athen aufgehoben und die demokratische Verfassung wiederhergestellt worden war, bis 401 in Eleusis be haupten können. Die athenische Polis aber, die der mit fremder Hilfe zur Zeit ihres äußeren Zusammenbruchs errichteten Gewaltherrsmaft zwar auch durch glückliche äußere Umstände, vor allem jedoch dank dem demokratischen Freiheits willen des Thrasybulos und seiner Mitkämpfer ledig geworden war, hatte sich letztlich als stark genug erwiesen, ihre Freiheit zu wahren. Sie weiterhin zu erhal ten hat man sich anscheinend nicht mit dem Volksbeschluß von 411 begnügt, son dern im sogenannten Eisangelie-Verfahren jedem Bürger die Möglichkeit gegeben, Strafanzeige gegen den zu erstatten, von dem er den Bestand der Demokratie be droht glaubte.
1 1 . S P A RTA
Wenn in Athen eine tyrannische Gewaltherrschaft mit auswärtiger Hilfe zu er richten und eine Zeitlang zu behaupten war, so hatte der Staat am Eurotas, der sich rühmen konnte, stets tyrannenlos gewesen zu sein, dergleichen nicht zu be fürchten. Die militärischen Anforderungen des großen Krieges jedom und seine Auswirkungen nicht nur im Bereich des Kriegswesens konnten die Gefahr mit sich bringen, daß ein siegreicher Feldherr aus dem Rahmen des sich lockernden
Die «Dreißig». Lysandros
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Kosmos heraustrat und eine tyrannenähnliche Stellung zu gewinnen suchte. Bra sidas, der Heloten ins Heer aufnahm und Söldner anwarb, wurde nach seinem der bisherigen spartanischen Strategie absagenden Zug zur Chalkidike (424) dort von den Skionaiern überschwenglich gefeiert, von den Amphipoliten nach seinem Tode als Neugründer der Stadt mit heroischen Ehren bedacht. Gylippos, dessen Ein greifen in Syrakus wesentlich zur Vernichtung des athenischen Heeres auf Sizilien beigetragen hatte, suchte sich später betrügerisch zu bereichern und mußte in die Verbannung gehen. Vor allem aber nahm der Sieger Lysandros nach der Schlacht von Aigospotamoi eine Stellung ein, die zu der Frage berechtigt, ob er, der damals der mächtigste Mann in Hellas war, sich etwa mit dem Gedanken der Errichtung einer Tyrannis trug. Zuverlässige Anzeichen dafür sind für die Zeit bis zu seiner Rückkehr nach Sparta (Frühsommer 404) nicht gegeben. Weder die Einsetzung von Harmosten und Dek archien, welch letztere jeweils aus Mitgliedern der mit Sparta sympathisierenden oligarchischen Hetairien gebildet wurden, noch die bald von den Lakedaimoniern rückgängig gemachte überlassung von Sestos an seine Deckoffiziere und Steuer leute zeugen von tyrannischer Eigenmächtigkeit gegenüber dem heimischen Staat. Auch die Skrupellosigkeit, mit der er Nichtspartaner behandeln konnte, die gött liche Verehrung durch die Oligarchen von Samos, die Verherrlichung seiner Taten durch Dichter, die sich zeitweise in seiner Umgebung befanden, sind, wenn sie auch an manche Tyrannen erinnern mögen, nicht als Beweis dafür anzusehen, daß Lysandros für sich eine Tyrannis wünschte. Eher ließe sich in dieser Hin sicht die an den Regenten Pausanias erinnernde selbstbewußte Weihung eines großen Siegesmonumentes in Delphoi anführen, das ihn bekränzt von Poseidon zeigte. Aber im Gegensatz zu dem Sieger von Plataiai hat er weder auf der Höhe seiner Macht, noch nachdem er durch den König Pausanias seine maßgebende Stel lung eingebüßt hatte, Anstalten gemacht, die Tyrannis über Sparta zu gewinnen. Die reiche Kriegsbeute, mit der er heimkehrte, wurde von ihm dem spartanischen Staatsschatz übergeben, er selbst bereicherte sich nicht, geschweige, daß er die Schätze zur Bildung persönlicher Macht in der Heimat benutzt hätte. Die Heloten oder andere benachteiligte und unzufriedene Bevölkerungsgruppen als Anhang um sich zu scharen, was die Voraussetzung für einen Staatsstreich gewesen wäre, lag ihm offenbar fern, wie er denn auch an dem Putschversuch eines Kinadon nicht beteiligt war. So wenig hielten die spartanischen Behörden ihn des Strebens nach Tyrannis für verdächtig, daß sie ihn als Gesandten zu Dionysios 1. schickten, mit dem man seit seinem Aufstieg gute Beziehungen unterhielt. Natürlich verlangte der ehrgeizige und selbstbewußte Mann darnach, wieder eine maßgebende Rolle zu spielen, und da er nach den bitteren Erfahrungen mit dem König Pausanias in dem traditionellen Doppelkönigtum ein Hindernis für die Verwirklichung seiner
Vorläufer der jüngeren Tyrannis Aspirationen sah, faßte er den Plan, dieses durch ein Wahlkönigtum zu ersetzen, in der Hoffnung, daß die Wahl dann auf ihn fallen werde. Orakelsprüche aus Dodona und Delphoi, ja sogar aus dem libyschen Ammonheiligtum, das er selbst aufsuchte, sollten die Verfassungs änderung propagandistisch vorbereiten. Aber die heiligen Stätten versagten sich ihm und auch andere Manipulationen, die er angestellt haben soll, schlugen fehl. Für unsere Frage ist weniger dieses Scheitern als das Ziel des Planes von Bedeutung. Eine legale Position, nicht eine Tyrannis strebte Lysandros an und fügte sich, als sein Bemühen mißlang, den Verhältnis sen, bis er als Heerführer in der Schlacht bei Haliartos (395) sein Leben ließ. Auch noch in dieser Zeit zunehmender innerer Aushöhlung war die spartanische Staats ordnung kräftig genug, selbst die stärksten, erfolgreichsten und in der Umwelt souverän schaltenden Persönlichkeiten in ihrem Bann zu halten. Mochte Alkibia des mit dem Gedanken an Tyrannis spielen, ihm aber aus Klugheit keinen Raum geben, dem Spartiaten Lysandros lag er fern. Niemals wäre er auch um egoisti scher Ziele willen auf die Seite des Feindes seiner Vaterstadt getreten. Für Er richtung einer Tyrannis durch einen Spartaner konnte höchstens eine auswärtige Stadt in Frage kommen, über die der betreffende Mann etwa als Harmost gebot. Dies war der Fall bei Klearchos·, der nicht etwa von Lysandros, sondern von den Ephoren den Byzantiern auf ihre Bitte zum Schutz gegen die Thraker und zur Beilegung innerer Wirren gesandt wurde (403/2) . Die zum Teil widerspruchsvolle überlieferung weiß sowohl von seinen Kriegszügen gegen die Thraker wie na mentlich von seinem grausamen Regiment zu berichten, das er, entgegen seinem Auftrag, in der Stadt übte. Nicht nur die leitenden Beamten ließ er umbringen, es erfolgten unter falscher Anklage zahlreiche Hinrichtungen und Verbannungen, wobei es Klearchos besonders auf die Einziehung des Vermögens der Betroffenen ankam, das ihm die Anwerbung einer beträchtlichen Söldnermacht gestattete. Mit dieser, die wie für so viele Tyrannen auch für ihn die Basis seiner weiteren Ge waltherrschaft bildete, machte er sich von den spartanischen Behörden unabhän gig, trotzte der Abberufung und wurde daraufhin in der Heimat zum Tode ver urteilt. Sein tyrannisches Schalten in Byzanz, das an des Regenten Pausanias Wir ken daselbst erinnert, währte freilich nur kurze Zeit. Gegen die zu seiner Vertrei bung ausgesandten lakedaimonischen Truppen konnte er bei der feindlichen Stim mung der Bürger von Byzanz keinen Widerstand wagen. So zog er sich nach Selym bria zurück, das er schon vorher in Besitz genommen hatte, und suchte sich dort zu halten. Als dies mißlang, flüchtete er nach Kleinasien zum Prinzen Kyros, der ihm tausend Dareiken zur Aufstellung eines neuen Söldnerkorps gab, das er ihm für den geplanten Zug gegen seinen Bruder Artaxerxes 11. zuführen sollte. Bis zum Zeitpunkt, da er mit diesen Truppen zu dem Unternehmen abberufen wurde, hat Klearchos, der zum ersten Male die bei Vertretern der jüngeren Tyrannis häufige
Klearchos in Byzanz. Hernlokrates
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Verbindung von Condottierentum und Tyrannis verkörpert, auf eigene Faust ge gen die Thraker gekämpft und die griechischen Küstenstädte, die ihn finanziell un terstützen mußten, vor ihren Überfällen geschützt.
I I I. S I Z I L I E N
Als ein Vorläufer der jüngeren Tyrannis auf sizilischem Boden kann mit Recht Hermokrates angesehen werden, dessen mißglückter Staatsstreich der Gewinnung der Tyrannis durch Dionysios um wenige Jahre vorausging. Im Jahre 424 und vielleicht schon früher von bedeutendem Einfluß, war der oligarchisch gesinnte Mann während der sizilischen Expedition der Athener Führer des Widerstandes seiner Vaterstadt Syrakus. Als man nach dem Mißerfolg im Herbst 415 ihn zu sammen mit zwei anderen Männern anstelle der üblichen fünfzehn Strategen zum Feldherrn mit außerordentlichen Vollmachten gewählt hatte, nutzte er diese Stel lung nicht aus, sich zum Herrn des Staates zu machen. Auch nachdem er wenige Monate später samt seinen beiden Kollegen wegen mangelnden Erfolges ab gesetzt worden war, unterließ er jeden Gewaltakt, nahm vielmehr, als die Stim mung des Volkes sich wieder ihm zugewandt hatte, führend am weiteren Abwehr kampf gegen die Athener teil und befehligte loyal ein syrakusanisches Flottenge schwader, das während der Jahre 412 bis 410 die Spartaner in der Ägäis unterstützte, bei deren Niederlage vor Kyzikos allerdings schwer mitgenommen wurde. Deshalb abermals seines Amtes enthoben und sogar verbannt (409), lehnte er es vor sei nen Soldaten ab, unter Ignorierung des Beschlusses der Syrakusaner sich gegen seine Vaterstadt zu stellen, und übergab das Kommando ordnungsgemäß den von dort gesandten Nachfolgern. Die bittere Erfahrung jedoch, die er mit der Heimat gemacht hatte, und wohl auch die Kunde vom Vordringen der Karthager auf Si zilien ließen ihn nun an eine - notfalls gewaltsame - Rückkehr nach Syrakus den ken. Von dem Geld, das ihm dafür der Satrap Pharnabazos gab, baute er fünfTrie ren und warb 1000 Söldner, mit denen er zunächst die Spartaner im Kampf um Pylos unterstützte, sodann nach Sizilien hinüberfuhr. Hier konnte er seine Truppen um tausend seit der Eroberung ihrer Stadt durch die Karthager hei matlos gewordene Himeraier vermehren und den Versuch wagen, die unter Diokles' Leitung stehende radikale Demokratie in Syrakus zu stürzen. Vermutlich hoffte er, dann an die Spitze des Abwehrkampfes gegen die Punier treten zu kön nen. Aber das Unternehmen mißlang. Hermokrates setzte sich nun auf eigene Faust mit seinem Heer, das er auf die Stärke von 6000 Mann zu bringen ver mochte, in dem von den Karthagern zerstörten Selinus fest, führte erfolgreiche Vorstöße in das altkarthagische Gebiet an Siziliens Westküste und drang in die
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Vorläufer der jüngeren Tyrannis
Ruinen von Himera ein. Sein eigentliches Ziel blieb jedoch die Rückkehr in die Heimatstadt, die er mit Gewalt nicht hatte erreichen können, jetzt aber durch überführung der Gebeine der bei Himera gegen die Punier gefallenen Syrakusaner in ihre Polis zu erwirken gedachte. Dieser Akt hatte, da Diokles sich der Bestat tung widersetzte, zwar dessen Sturz zur Folge, nid1t aber Hermokrates' Rückberu fung, von der offenbar auch die Oligarchen aus Furcht vor einer Tyrannis des Mannes nichts wissen wollten. Ob er, der seinen Patriotismus und seine Loyalität gegenüber der Verfassung oft genug bewiesen hatte, vor dieser neuen Brüskie rung ernstlich an die Errichtung einer Tyrannis gedacht hat, wird man bezweifeln dürfen. Jetzt freilich, da auch die Oligarchen sich gegen ihn stellten, sah er sowohl im eigenen Interesse als auch in dem des von den Karthagern schwer bedrohten Griechentums der Insel, das zu seiner Selbstbehauptung wie einst im Jahre 480 einer monarchischen Führung bedurfte, keinen anderen Ausweg als sich mit Waf fengewalt zum Tyrannen von Syrakus zu machen. Es kam j edoch nicht dazu, daß er - fast wider Willen - die Alleinherrschaft an sich riß : beim Angriff auf die Stadt wurde er im Straßenkampf getötet (407) . Unter seinen Mitkämpfern befand sich damals der Mann, dem es gelingen soll te, dank einer Skrupellosigkeit, wie sie Hermokrates nicht eigen war, und unter geschickter Ausnutzung sowohl der sozialen Spannungen in Syrakus wie der inzwischen verhängnisvoll angewachsenen Karthagergefahr die Tyrannis nicht nur zu gewinnen, sondern für ein Menschenalter zu behaupten : Dionysios.
D R I TT E R T E I L
D I E J Ü N G E R E TYRA N N I S
Schon während der letzten Dezennien des 5. Jahrhunderts hatte sich in Hellas der Anbruch eines Zeitalters angekündigt, das im Gegensatz zu der vorausgehenden tyrannenfreien Epoche geistig, sozial und politisch Möglichkeiten für ein erneutes Aufkommen von Tyrannenherrschaften in sich barg. Sowohl die tiefgreifenden Auswirkungen des großen griechischen Bruderkrieges auf alle Lebensgebiete wie die in der sophistischen Bewegung sich manifestierende Lösung aus bisher gül tigen Bindungen tendierten dahin, dem Einzelmenschen eine Selbständigkeit, um nicht zu sagen Selbstherrlichkeit, zu geben, wie frühere Generationen sie kaum gekannt hatten. Einst war die Persönlichkeit weniger individualisiert und dem heimischen Gemeinwesen, selbst wenn sie in Gegensatz zu ihm trat, letztlich ver bunden gewesen. Jetzt aber begann die staatliche Ordnung allgemein ihre Ver bindlichkeit einzubüßen, Interessen und Anspruche von Personen oder Gruppen drängten sich ohne Scheu in den Vordergrund, private, im besonderen wirtschaft liche Belange wurden vielfach für wichtiger gehalten als das Gesamtwohl der Po lis, und indem zu dem wachsenden Gegensatz von Reich und Ann derjenige von Gebildeten und Nichtgebildeten trat, verschärften sich die sozialen Spannungen. Hatte ehemals die Krise der lockeren aristokratischen Gemeinwesen tatkräftigen und machtgierigen Männern den Weg zur Tyrannis freigegeben, so war es nun die Lockerung und zunehmende Aushöhlung der bestehenden staatlichen Ord nungen oder gar ihr Versagen, was kühnen und herrschsüchtigen Persönlichkeiten Chancen für Errichtung einer Alleinherrschaft gewährte. Auch die außenpoliti sche Atmosphäre war dem günstig. In ihr triumphierte der imperialistische Macht wille, der einst in den älteren Tyrannen erschienen, dann von Athen in großem Stil entfaltet und mit dessen Sturz an Sparta vererbt worden war, das sich nun, im Widerspruch zu seinen besten Traditionen, als noch brutalerer Vergewaltiger der Autonomie hellenischer Staaten erwies. Zugleich vollzog sich ein Wandel im Kriegswesen, das mehr und mehr die agonalen Formen verleugnete. Es entstand eine neue Taktik halbleicht bewaffneter Fonnationen (Peltasten) , die der Verwen dung geschulter Soldtruppen vor den schwerfälligen Hoplitenaufgeboten den Vor zug gab, ganz abgesehen davon, daß infolge des Nachlassens der Bereitschaft der Bürger zum Kriegsdienst die Gemeinwesen sich ohnedies zur Auffüllung ihrer Heere mit Söldnern genötigt sahen. Seit jeher hatten Tyrannen ihre Machtstellung mit Soldtruppen begründet und aufrechterhalten; jetzt lag es nahe, daß staatliche Feldherren an der Spitze der ihnen anvertrauten Mietvölker zu Condottieren wur den und persönliche Herrsd1aftsziele verfolgten. Und da seit dem letzten Drittel des 5· Jahrhunderts allenthalben die Außenpolitik das innenpolitische Leben überschat-
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Die jüngere Tyrannis
tete, konnte sie auch sonst solchem Streben nutzbar gemacht werden, indem etwa ein nach der Tyrannis trachtender Mann sich der Unterstützung durch eine fremde Macht versicherte oder dank außenpolitischer Konstellationen die selbstgewon nene Position zu behaupten wußte, wo er nicht gar von der fremden Macht einge setzt und ausgehalten wurde. Schon das Gewaltregiment der Dreißig in Athen war nur möglich gewesen durch den Rückhalt, den ihm Lysandros gewährte. Ähn liches hat sich im 4. Jahrhundert nicht selten ereignet. Trotz allem aber, was j etzt das Entstehen von Tyrannenherrschaften begünstigte, waren die großen Stadt staaten Griechenlands noch immer so fest gefügt und stark, daß in Athen und Sparta nicht eirunal die ernste Gefahr einer Tyrannis aufkommen konnte, Theben und Korinth sie zu bannen vermochten. So sind es im Mutterland kleinere Städte und politisch wie sozial rückständige Gebiete gewesen, in denen während der achtzig Jahre vom Ende des Peloponnesischen Krieges bis zu Alexanders Tod Ty rannenherrschaften sich bildeten. An der Peripherie des hellenischen Siedlungsge bietes jedoch, wo die Führung im Kampf gegen die Barbaren einem herrschsüch tigen Mann günstige Möglichkeiten zur Gewinnung der Macht und zu ihrer Aus dehnung gab, entstand mit der Stadt Syrakus als Zentrum bereits um die Wende des 5. zum 4. Jahrhundert das ausgedehnteste und bedeutendste Herrschaftsgebilde tyrannischer Art.
E R S T E S KAPIT E L
S I Z I L I E N U N D U N T E R I TA L I E N Wie in der Geschichte der älteren Tyrannis nimmt auch in der am Ende des 5. Jahr hunderts anhebenden Epoche der jüngeren Tyrannis Sizilien einen hervorragen den Platz ein. Nirgends, bemerkte schon Diodor, der selbst ein Sohn dieser Insel war, wiederholte sich Streben nach Alleinherrschaft so oft wie hier. Und während Thukydides die häufigen politischen Umwälzungen auf die Uneinheitlichkeit der Bewohner der Pflanzstädte und die unablässige Zwietracht innerhalb der Gemein wesen zurückführte, gab Platon der üppigen und zügellosen Lebensart der sizili schen Griechen (Sikelioten) daran schuld, daß die Verfassung ihrer Stadtstaaten so labil und für Tyrannis so anfällig war. Gewiß haben alle diese Momente und die geringere Intensität des Polis geistes bei den Kolonialgriechen das Aufkommen von Tyrannen erleichtert, doch genügen sie nicht, die außerordentliche Bedeutung der Tyrannis für die Geschichte des Westgriechentums zu erklären. Diese versteht sich erst im Hinblick auf die Gefahr, welche den Hellenen jenes Bereiches von den Karthagern und anderen nichtgriechischen Völkern drohte und eine straffe Zu sammenfassung der partikularen Kräfte unter monarchischer Führung notwendig machte. Sowohl die Gewaltherrschaften der spätarchaischen Zeit wie auch diejenigen des Dionysios und Agathokles standen im Zeichen großer Karthagerkriege, wäh rend die tyrannenlose Periode des 5. Jahrhunderts zugleich eine Zeit der Ruhe vor den Karthagern war. Nun hatten im Jahre 409 die Punier, von der Elymerstadt Sege sta zu Hilfe gerufen, sich zur Unterwerfung der Insel entschlossen ; Selinus und Himera waren ihnen anheimgefallen. In einem zweiten Feldzug (406) konnten sie Akragas erobern, das von der Bevölkerung geräumt und von den Siegern geplündert wurde. In Syrakus, wo man sich jetzt bedroht fühlte, war die Bestür zung groß, noch größer aber die Erbitterung über die eigenen Feldherren, die mit einem Entsatzheer von 3° 000 Mann die verbündete Stadt nicht hatten retten kön nen. Hermokrates' Plan der Errichtung eines monarchischen Regimentes, über den er gestürzt war, mochte nun nicht bloß seinen Anhängern, zu denen vermutlich der angesehene Hipparinos und der begüterte Philistos zählten, gerechtfertigt scheinen: Nur ein Feldherr mit unbeschränkter Befehlsgewalt hätte die Niederlage vor Akragas vermeiden können, nur ein solcher würde jetzt imstande sein, den weiteren Vormarsch des Feindes aufzuhalten und Syrakus zu schützen. Dies war die Situation, in welcher der junge Dionysios auf den Plan trat.
Sizilien und Unteritalien
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1. D I O N Y S I O S 1. :1.
D I E E R RI C H T U N G D E R T Y RA N N I S
Dionysios, der 431/0 geboren wurde, entstammte einer angesehenen syrakusani schen Familie. Seinen Vater, wahrscheinlich Hermokritos mit Namen, scheint er früh verloren zu haben und unter einem Stiefvater Heloris aufgewachsen zu sein. Später erzählte man von Träumen und Vorzeichen, die auf ruhmreiche Herr schaft oder auf einen Unheilbringer hingedeutet hätten. Zunächst in der Kanzlei der syrakusanischen Strategen tätig, schloß sich Dionysios 408 dem großen Her mokrates an. In dem Straßenkampf, der diesem das Leben kostete, erlitt er eine Verwundung, die ihn ans Krankenbett fesselte und dadurch wohl dem Zugriff der Häscher entzog. Nach der Katastrophe von Akragas (4°6/5) trat er, der sich auch im Karthagerkampf durch Tapferkeit einen Namen gemacht hatte, vor dem Volk als Ankläger der Strategen auf, wurde jedoch von den Behörden wegen Un ruhestiftens mit einer Geldbuße belegt. Da aber der mit ihm als Genosse des Hennokrates verbundene Philistos sich bereit erklärte, diese und jede weitere Strafe zu bezahlen, konnte Dionysios seine scharfen Angriffe gegen die Strategen, die gleich ihren vornehmen und reichen Standesgenossen nur von Habgier erfüllt seien, fortsetzen. Indem er mit demagogischem Geschick sowohl den Zorn über die Niederlage wie den Haß der Menge gegen die Vermögenden aufstachelte, brachte er ohne Mühe die Masse des Volkes hinter sich. Die Strategen wurden abgesetzt und ein neues Feldherrnkollegium gewählt, dem Dionysios und der ge nannte, ihm nahestehende Hipparinos angehörten. Daß er schon damals die Er richtung der Tyrannis im Auge hatte, ist nicht nur bezeugt, es spricht auch aus seinem Antrag, die verbannten Oligarchen und Anhänger des Hennokrates zu rückzurufen, deren man im Kampf gegen die Karthager, zu denen sie im Exil nicht übergegangen seien, bedürfe. Denn er wollte damit offensichtlich sich eine Gefolgschaft gewinnen, die ihn von der Gunst der wankelmütigen Menge unab hängig machte und gleichsam über die Parteien erhob. Zunächst freilich trat Dionysios weiter als Führer des Demos gegen die Reichen auf. In Gela, das durch ein Söldnerkorps unter dem Spartaner Dexippos unzu reichend geschützt war und deshalb syrakusanische Hilfe erbat, hatten die auch hier bestehenden sozialen Gegensätze zu schweren Wirren geführt. Dionysios, im Frühjahr 405 mit 2000 Fußsoldaten und 400 Reitern entsandt, griff alsbald zugunsten des niederen Volkes ein, ließ die Häupter der Reichen hinrichten und ihre Güter konfiszieren. Die dadurch gewonnenen Mittel ermöglichten ihm, den Söldnern des Dexippos den rückständigen Sold zu zahlen und den syrakusanischen Truppen Verdoppelung der ihnen von staatswegen zugebilligten Löhnung zu ver-
Aufstieg des Dionysios I.
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sprechen. So hatte er beide Heeresgruppen sich verpflichtet, ferner die Sympathien des Demos von Gela gewonnen, der ihn reich beschenkte und durch Gesandte sein Lob in Syrakus verkünden ließ. Mit dem Versprechen, bald stärkere Formationen heranzuführen, kehrte er vorerst nach Syrakus zurück. Dort war inzwischen dank den Berichten aus Gela sein Ansehen so sehr gewachsen, daß er glaubte, einen ent scheidenden Schritt wagen zu können, um so mehr, als er jetzt militärischen Rückhalt besaß und die heimgekehrten Verbannten in Hoffnung auf Rache an ihren Gegnern und Rückerstattung ihrer Güter einem Staatsstreich des Mannes, der sich ihrer angenommen hatte, nicht abgeneigt waren. Vor dem Volk beschul digte er daher seine Mitstrategen mit Ausnahme des zu ihm haltenden Hippari nos, daß sie die Soldzahlungen vernachlässigt hätten und von den Karthagern be stochen seien, deren Feldherr Himilko auch ihn habe gewinnen oder wenigstens zum Schweigen über das Verhalten seiner Kollegen habe bringen wollen. Mit diesen Leuten gemeinsam das Kommando zu führen könne ihm nicht zugemutet wer den, er lege daher sein Strategenamt nieder. Die beabsichtigte Wirkung blieb nicht aus. Volk und Truppen gerieten in größte Erregung, und als Dionysios am näch sten Tage die Mitfeldherrn regelrecht anklagte, verschob man zwar das Gerichts verfahren, verlangte aber spontan, daß, ehe der Feind gegen Syrakus vorrücke, der Oberbefehl in einer Hand konzentriert und Dionysios zum alleinigen Strate gen mit außerordentlichen Vollmachten (Strategos autokrator) bestellt werde. Ei? entsprechender Volksbeschluß wurde gefaßt. Damit erhielt Dionysios für die Kriegszeit fast monarchische Kompetenzen. Hipparinos, der am Zustandekommen des Beschlusses vermutlich beteiligt war, trat ihm als Berater zur Seite. Das jederzeit widerrufliche Amt des bevollmächtigten Strategen hat Dionysios offenbar von vornherein nur als Basis für die Gewinnung der unbeschränkten Alleinherrschaft angesehen. Die sozialen Spannungen, das Zusammenströmen vieler Flüchtlinge aus den von den Karthagern besetzten Gebieten, die sich als Anhänger oder Söldner gewinnen ließen, und namentlich die Bedrohung der Stadt Syrakus durch den Feind gaben im Augenblick die besten Chancen zur Er reichung dieses Zieles. Dionysios nutzte sie mit Tatkraft und List. In der Erkennt nis, daß man in manchen Kreisen bereits die Begründung einer Tyrannis zu fürch ten begann, beorderte er die jüngeren Jahrgänge des Bürgeraufgebotes nach dem nahen, zu Syrakus gehörenden Leontinoi, wo größere Scharen jener Flüchtlinge sich gesammelt hatten. Dabei rechnete er einmal auf deren Gefolgschaft, da sie seiner Hilfe bedurften, zum anderen auf die Weigerung seiner Gegner in Syra kus, dem Befehl Folge zu leisten. Von den Bürgersoldaten, die gehorsam sich ein stellten, war Widerstand kaum zu befürchten. Und in der Tat: als er ihnen er klärte, es sei bei der Nacht ein Anschlag gegen ihn unternommen worden, erkann ten sie ihm die Bildung einer Leibwache von 600 Mann zu, die er sofort aus
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armen und verwegenen Leuten bildete, indem er zugleich eigenmächtig die Zahl auf :1000 Mann erhöhte. Ähnlich wie einst Peisistratos und andere Tyrannen schuf er sich so eine gut bewaffnete, ihm blind ergebene Stoßtruppe. Die Söldner im Heer vermehrte er und band sie durch Versprechungen noch enger an sich ; Vertriebene und beschäftigungsloses Volk nahm er in seinen Dienst und besetzte im Bürgeraufgebot die Offiziersstellen mit ihm ergebenen Männern. Daß hier eine Tyrannis errichtet wurde, war nicht zu verkennen. Der Spartaner Dexippos, der dazu nicht die Hand bieten wollte, kehrte in die Heimat zurück, während die von ihm befehligten Truppen nun vollends von Dionysios übernommen wurden. Als dieser im Sommer 405 nach Syrakus zurückkehrte und sein Quartier am Hafen aufschlug, da, so bemerkt der Historiker Diodor, zeigte er sich offen als Tyrann. Ob die Masse des Volkes Dionysios' Verfahren mißbilligte oder sich vielmehr von der Herrschaft des durch sie selbst emporgetragenen Mannes Vorteile ver sprach, ist schwer zu sagen. Jedenfalls war sie im Hinblick auf die Söldnermacht und den bevorstehenden Kampf mit den Karthagern ihm wohl oder übel zu wil · len, verurteilte denn auch auf seine Anklage hin zwei Strategen der letzten Jahre zum Tode. Bezeichnenderweise handelte es sich um einen Oligarchen und einen Demokraten. Noch weniger nämlich als früher dachte der jetzt zum Herrscher Aufgestiegene daran, sich an eine der beiden Gruppen zu binden. Während er einerseits mit Geschick den Führer des Demos spielte, heiratete er zugleich des großen Hermokrates Tochter und gab seine Schwester Theste dem Polyxenos, einem Schwager des Hermokrates, zur Frau, um durch die zwiefache Verbindung mit dem vornehmen Haus seine Tyrannis auch gegen die Oligarchen abzuschirmen, deren zunehmend feindliche Stimmung ihm nicht verborgen bleiben konnte. Wel che Gefahr ihm von diesen drohte, zeigte sich bald im Kampf gegen die inzwischen von Akragas gegen Gela vorgerückten Karthager, an dem sie mit :1000 Reitern teilnahmen. Mit einem großen, aus Syrakusanern, Söldnern, sizilischen und italischen Bun desgenossen bestehenden Heere zog Dionysios den Geloern zu Hilfe ; auch ein Flottengeschwader erschien auf der Reede der Stadt. Aber sein genial entworfener Plan eines konzentrischen Angriffes der verschiedenen Einheiten auf das kartha gische Lager scheiterte völlig, so daß er Gela sowie das gefährdete Kamarina räumen und die Bevölkerung beider Städte ins syrakusanische Gebiet überführen mußte. Man begreift, daß nun bei den berittenen Oligarchen Empörung über den Gewalthaber ausbrach, der mindestens ebenso versagt hatte wie die ehemals von ihm angeklagten Strategen und der zudem seine Leibwache bewußt geschont hatte. Sie dachten daran, ihn auf dem Rückzug aus dem Wege zu räumen. Da aber an den von seinen Söldnern umgebenen Tyrannen nicht heranzukommen war, eilten sie nach Syrakus, plünderten sein Haus samt den dort befindlichen Schätzen und
Dionysios I. : Gela. Opposition. Erster Karthagerkrieg
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schändeten in ihrer Wut seine Gattin, die aus Verzweiflung Selbstmord beging. Schon glaubten sie ihres Sieges sicher zu sein, als Dionysios mit 700 ausgewähl.. ten Soldaten um Mitternacht am Stadtrand eintraf. Er ließ Feuer legen und drang in die auf dem Festland gelegenen Quartiere ein. Vergeblich stürmten die Reiter ihm entgegen. Ihr Gros und einige verstreute Haufen wurden überwältigt, andere aus der Stadt vertrieben, während die siegreichen Truppen mordend in die Häuser der Oligarchen drangen. Die dem Gemetzel entronnenen flüchteten nach Aitna Inessa, einst die zweite Heimat der Söldner Hierons, und setzten sich dort fest. Mit dem Eintreffen der Masse des Heeres am folgenden Tage war Syrakus wieder fest in Dionysios' Hand. Leontinoi allerdings, wohin sich die über ihre Evakuie rung erbitterten Geloer und Kamarinaier wandten, mußte als verloren gelten. Würde nach diesen Geschehnissen der Mann, der das Vertrauen in seine strategi schen Fähigkeiten so arg enttäuscht hatte, noch in der Lage sein, den zu erwarten den Angriff der Karthager erfolgreich abzuwehren? Das Glück kam ihm zu Hilfe. Von schweren Seuchen heimgesucht, war das punische Heer, nachdem es Gela und Kamarina genommen hatte, zu schwach geworden, um den Kampf gegen Siziliens größte Stadt aufnehmen zu können. Der Feldherr Himilko fand sich zu einem Frieden auf Grund des derzeitigen Be sitzstandes, nach dem die Griechenstädte der Südküste sowie Hirnera, ferner die Sikaner und Elymer Karthago unterstanden, bereit. Dionysios andererseits hattS'! angesichts seiner schwierigen Stellung um so mehr Grund, auf das Angebot ein zugehen, als der Gegner seine Herrschaft über Syrakus ausdrücklich anerkannte. Freilich, Leontinoi mußte freigegeben, die Selbständigkeit der Sikeler, die beim Vordringen der Karthager die syrakusanische Oberhoheit abgeschüttelt hatten, hingenommen, die Autonomie von Messana, wahrscheinlich auch von Katane und Naxos, garantiert werden. Als ein Verdienst, das die Tyrannis hätte rechtfertigen können, war dieser Friede wahrlich nicht anzusehen. Mit starker Opposition mußte Dionysios daher auch weiter rechnen, zumal da er nicht daran dachte, das Amt des Strategos autokrator nach Kriegsende niederzulegen, wie es dem Sinn der ein stigen Beauftragung entsprochen hätte. Nur eine weitere Festigung seiner tyran nischen Macht konnte ihm die monarchische Stellung für die Zukunft erhalten. Bald nach Friedensschluß (405/4) ließ er deshalb die Altstadt, das heißt die mit dem Festland verbundene Insel Ortygia, durch eine mächtige, turmreiche Mauer abtrennen, vor der fortan Hallen, Gerichtsgebäude und öffentliche Plätze lagen, während das Inselgelände dem Tyrannen vorbehalten blieb. Wie er als selbst herrlicher Gewalthaber mehr neben als in der Polis stand, so nahm er auch seine Residenz außerhalb der Bezirke des bürgerlichen Lebens. Nahe der wehrhaften Burg, die er sich dort erbaute, wohnten auf Ortygia nur seine Vertrauten und Söldnertruppen. Ferner befanden sich innerhalb der Sperrmauer am nördlichen,
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dem sogenannten kleinen Hafen, dessen enger Ausgang jeweils nur einem Schiff die Durchfahrt freigab, Schiffshäuser für 60 Trieren. Damit war ein erheblicher Teil der Dionysios zur Verfügung stehenden Land- und Seemacht in seiner Um gebung konzentriert und gegen einen etwaigen Überfall gesichert. Was die Polis Syrakus betraf, deren Verfassung formal bestehen blieb, so war der Tyrann natürlich darauf bedacht, seine Anhänger zu fördern und ihren Kreis zu erweitern. In diesem Sinne verwendete er den Besitz der erschlagenen oder vertriebenen Olig archen, sei es daß er ihre Stadthäuser Leuten aus dem Volke gab, sei es daß er mit ihren fruchtbaren Ländereien Freunde und Offiziere, mit dem geringeren Boden in gleichem Maße Fremde wie Bürger ausstattete. Wenn es heißt, daß unter diesen Bürgern sich auch freigelassene Knechte befanden, die er «Neubürger» nannte, so wird man in ihnen doch wohl Privatsklaven zu sehen haben, da die einst hörigen Kyllyrier seit langem persönlich frei waren. Von einer allgemeinen Neuverteilung des gesamten Bodens ist nirgends die Rede. Gleichwohl mußten die genannten Maßnahmen eine erhebliche soziale Umschichtung zugunsten der Anhänger des Tyrannenregimentes bewirken. Neben der Sicherung seiner Herrschaft lag Dionysios begreiflicherweise daran, der Bürgerschaft das geschwundene Vertrauen zu seinen Feldherrngaben wieder in herzustellen und durch erfolgreiche Kämpfe die Beibehaltung des außerordent lichen Strategenamtes zu rechtfertigen. So führte er unter Nichtachtung der die Sikeler schützenden Bestimmung des Karthagerfriedens das Bürgeraufgebot ge gen den festen Platz Herbessos (404) . Aber ehe ein Erfolg erreicht werden konnte, empörten sich die Bürgersoldaten, so daß Dionysios sich gezwungen sah, die Be lagerung abzubrechen, nach Syrakus zurückzukehren und in der Inselburg Schutz zu suchen. Hier jedoch wurde er von den Aufständischen, welche die nach Aitna geflüchteten Oligarchen herbeiriefen, vom Lande her blockiert, während 50 Kriegs schiffe aus Messana und Rhegion - auch diese Städte hatte man um Hilfe ange gangen - Ortygia zur See einschlossen. Von den Angreifern ward sogar ein Preis auf den Kopf des Tyrannen gesetzt. Als nun auch ein Teil seiner Söldner zu jenen übertrat, schien die Lage verzweifelt (4°4'3) . Dionysios erwog bereits seinem Leben ein Ende zu machen und wurde nur durch seine nächsten Vertrauten davon abgebracht. Sein Stiefvater Heloris soll ihm vorgehalten haben, daß die Tyrannis ein schönes Sterbekleid sei, der Schwager Polyxenos riet, auf dem schnellsten Rennpferd ins Gebiet der Karthager zu reiten, um sich dort campanische Söldner zu gewinnen, während Megakies, des Hipparinos Sohn, die Meinung vertrat, von der Tyrannis dürfe man nicht zu Pferde flüchten, sondern sich nur an den Beinen fortschleifen lassen. Dionysios entnahm allen drei Ratschlägen etwas. Den Selbst mordgedanken ließ er fahren, mit den Campanern trat er durch Boten in Ver bindung, er selbst aber harrte auf Ortygia aus und verhandelte zum Schein mit
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der Bürgerschaft. Diese, die inzwischen aus der Mutterstadt Korinth einen Schlich ter und Anführer, Nikoteles, erhalten hatte, gestand dem Tyrannen freien Ab zug mit fünf Schiffen zu. Sie wähnte sich ihres Sieges so sicher, daß die dörflichen Aufgebote großenteils aufs Land zurückkehrten und die Oligarchen nach Aitna entlassen wurden. Doch jäh wendete sich das Blatt. Zur See trafen 300 herbeige zogene Söldner in der Inselburg ein, vom Binnenland rückten die Campaner, 1200 an Zahl, heran, bahnten sich durch die überraschte Stadt den Weg und vereinigten sich mit dem Tyrannen, dem es nun ziemlich leicht gelang, vorzubrechen und die verstörten, dazu miteinander streitenden Bürger zu schlagen. Syrakus war wieder in seiner Hand. Klugheit gebot ihm jedoch keine Rache zu nehmen, sondern durch Verkündung einer Amnestie für die Oligarchen in Aitna und die etwa 7000 Syra kusaner, die aus der Niederlage zu ihnen entronnen waren, eine Befriedung anzubahnen. Manche kehrten daraufhin zurück, die übrigen jedoch verharrten in Feindschaft, und auch zwischen dem Tyrannen und der von Nikoteles gelei teten Bürgerschaft blieb das Verhältnis gespannt. Unter diesen Umständen war es für Dionysios wichtig, daß von Sparta, wo er in Lysandros einen Geistes verwandten besaß und bereits Verbindungen angeknüpft hatte, Aristos entsandt wurde, der bei den Syrakusanern zunächst den Anschein erweckte, er wolle ihnen die Freiheit bringen, tatsächlich aber die Herrschaft des Dionysios festigen half, in dem die Lakedaimonier einen wertvollen Bundesgenossen erblickten. Ja, durch Verrat an den Bürgern und Beseitigung des Nikoteles soll er Syrakus völlig dem Gewalthaber anheimgegeben haben. Dionysios aber, enttäuscht und erbittert über die Wirkungslosigkeit seiner Amnestie, schickte die Bevölkerung zur Ernte aufs Land und ließ unterdessen die Häuser durchsuchen und die Syrakusaner völlig entwaffnen, wie ähnliches schon einige der älteren Tyrannen getan hatten. So konnte seit 403 seine Herrschaft über die Stadt machtmäßig als gesichert gelten. 2.
DIE
BEGRÜNDUNG
DER
T E R R I T O R I A L H E RR S C HAFT
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Eine weitere Stärkung der tyrannischen Machtstellung war zu erreichen, wenn es glückte, über Syrakus hinauszugreifen und, den Spuren der Deinomeniden fol gend, den gesamten Osten der Insel als Basis zu gewinnen. In den Jahren seit 403 hat sich Dionysios dieser Aufgabe gewidmet. Nach den Erfahrungen vor Herbes sos konnte er freilich nicht daran denken, für dieses Ziel das Bürgeraufgebot ein zusetzen, das im übrigen seit der Entwaffnung praktisch nicht mehr bestand. Er war gleich so manchen Tyrannen früherer Zeiten auf seine Söldner angewiesen, von denen er allerdings die 1 200 Campaner nach der Rückeroberung von Syrakus wegen ihrer Unzuverlässigkeit entließ. Die Unternehmungen begannen mit der
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Einnahme des Widerstandsnestes Aitna, das ohne schwere Kämpfe fiel. Dagegen scheiterte ein Angriff auf Leontinoi. Die Stadt, deren Autonomie im Karthager frieden festgelegt worden war, unterwarf sich erst als das furchtbare Schicksal von Katane und Naxos die Bewohner in Schrecken gesetzt hatte. Dionysios näm lich hatte nicht nur die wahrscheinlich ebenfalls durch jenen Frieden gewährlei stete Autonomie der beiden Städte mißachtet, sondern einen großen Teil der Be völkerung als Sklaven verkauft und die Habe der Bürger seinen Söldnern zur Plünderung preisgegeben. Die der Katastrophe Entgangenen zogen verzweifelt durchs Land, bis sie in Mylai vorübergehend eine neue Heimat fanden. Die Ge meinwesen wurden aufgehoben, ja es scheint, daß Naxos völlige Zerstörung traf. Das Territorium überließ der Tyrann benachbarten Sikelern, während er Katane campanischen Söldnern als Wohnsitz anwies, die er später (396) in das von Natur besser geschützte Aitna verpflanzte. Die Leontiner, die sich nun bei der ersten Auf forderung ergaben, behielten wenigstens Leben und Habe, doch nötigte Dionysios sie, indern er zugleich ihr Gemeinwesen aufhob, nach Syrakus überzusiedeln, in dessen Bürgerschaft er sie eingliederte. Nach einigen Jahren (397) wurden von ihm in Leontinoi zehntausend Söldner angesetzt. Es kann kein Zweifel sein, daß das gesamte Gebiet der drei Städte, das der Tyrann mit seinen Söldnern, nicht an der Spitze des syrakusanischen Aufgebotes erobert hatte, persönlicher Besitz des Dionysios wurde, der, soweit wir sehen, unbeschränkt darüber gebot. Im Norden fühlten sich jetzt Messana und Rhegion gefährdet, zumal da die von Aima dort hin geflüchteten alten Gegner des Tyrannen die Befürchtungen im eigenen Inter esse steigerten. Sie vermochten sogar die Bürgerschaften der beiden Städte, die schon beim großen Aufstand in Syrakus ihre Feindschaft gegen Dionysios bekun det hatten, zu einern Angriffskrieg zu veranlassen, doch scheiterte der Feldzug an der Unlust eines Teiles der Messaner (399/8) . Angesichts des damals von ihm vorbereiteten Großkampfes gegen Karthago verzichtete Dionysios auf Rache, ver band sich vielmehr die Messaner durch überlassung von Landstrichen und hätte auch Rhegion gern auf seine Seite gezogen. Dort aber war die Feindschaft gegen den Tyrannen so groß, daß man seinen Annäherungsversuch, im besonderen sei nen Wunsch, eine vornehme Rheginerin zu heiraten, strikt abwies. Es sollte die Zeit kommen, da die Stadt ihre Weigerung furchtbar büßen mußte. Noch bevor er Naxos und Katane angriff, war Dionysios gegen die Sikeler im Gebiet westlich des Ätna vorgegangen. Enna, die stolze Bergstadt im Innern der Insel, suchte er dadurch für sich zu gewinnen, daß er einen ihrer Bürger, Aei mnestos, zur Errichtung der Tyrannis bewog. Als dieser jedoch nach gelungenem Staatsstreich ihm den Einzug verwehrte, rief Dionysios die Bewohner gegen den Abtrünnigen auf und drang bei den nunmehr ausbrechenden Wirren in die Feste ein. Den Aeimnestos lieferte er den Ennaiern zur Bestrafung aus ; die Stadt selbst
Dionysios 1 . : Ausgreifen in Sizilien
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vergewaltigte er nicht, sondern schloß, wie es scheint, mit ihr ein Bündnis. Auch mit dem nördlich gelegenen Herbita kam ein solches zustande, nachdem der dor tige Demos unter Leitung eines Archonides, der nicht lange darauf unweit der Küste an der Stelle von Alaisa eine nach ihm selbst «Archonideion» genannte Pflanzstadt anlegte, Dionysios' Angriff abgewehrt und Frieden geschlossen hatte. Agyris schließlich, der mächtige Herr von Agyrion, brauchte um seine Selbstän digkeit nicht zu kämpfen, sie wurde im Hinblick auf seine freundliche Haltung während des syrakusanischen Aufstandes geachtet. So war um 399 das Kernge biet der Sikeler zwar nicht unterworfen, aber durch Bundesgenossenschaft mit dem Beherrscher Ostsiziliens verbunden. Nur das Land südwestlich des Ätna, wo er damals Adranon gründete, hatte Dionysios offenbar sich angeeignet. Durch die Vergewaltigung griechischer Städte und das Vorgehen gegen die Sikeler waren die Bestimmungen des Karthagerfriedens auf schwerste verletzt worden, ohne daß von seiten der Punier Gegenmaßnahmen erfolgt wären. Diese durch Seuchen und innere Schwierigkeiten bedingte Schwäche des Vertragspart ners konnte den Tyrannen in seinem seit einiger Zeit gehegten Plan, den Kartha gern durch einen großangelegten Krieg die ihnen anheimgefallenen Griechen städte zu entreißen, nur bestärken. Er durfte sich dabei nicht nur auf vermehrte Soldtruppen und die ihm verbündeten Sikeler stützen, sondern auch mit der frei willigen Teilnahme des wieder ins Leben zu rufenden syrakusanischen Bürge� aufgebotes rechnen. Denn der leidenschaftliche Haß gegen die Punier, der sich in Syrakus und anderswo in Massakern an karthagischen Händlern entlud, war stärker als die Abneigung gegen den Tyrannen, der im übrigen jetzt scharfe Maß nahmen vermied und dadurch die Stimmung verbesserte. So glaubte er eine Wie derbewaffnung der Bürgerschaft riskieren zu können. Indem er ferner dem Unter nehmen, mochte es noch so sehr der Ausweitung der eigenen Herrschaft dienen, durch die Forderung nach Freigabe aller Griechenstädte die Weihe der panhelleni schen Idee gab, die in jener Zeit von dem großen Rhetor Gorgias aus Leontinoi verkündet wurde, sprach er auch die von diesem Gedanken ergriffenen gebildeten Schichten an, erst recht aber die Bürger der von den Karthagern zerstörten Städte, die nach dem Frieden von 405 unter der Auflage, keine Befestigungen zu errich ten und den Puniern Steuern zu zahlen, in ihre Heimat hatten zurückkehren dürfen. Dionysios rechnete mit ihrem Abfall, der bei seinem Vormarsch denn auch er folgte. Zugleich sollte der Krieg dem Abwandern von Griechen, die durch ihn besitz- und heimatlos geworden waren, ins karthagische Gebiet, wo sie als Bürger der dortigen Städte wieder zu Wohlstand gelangten, ein Ende bereiten. Nachdem gewaltige Rüstungen, von denen in anderem Zusammenhang zu sprechen sein wird, vollendet und die Bürger mit Waffen versehen waren, nach dem die syrakusanische Volksversammlung selbst den Krieg beschlossen hatte,
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rückte Dionysios mit gewaltiger Streitmacht im Jahre 398, ohne nennenswerten Widerstand zu finden, bis in die Westspitze Siziliens vor. Dank seinen neuartigen Belagerungsmaschinen und mit Hilfe einer großen Flotte gelang es ihm sogar, die Inselstadt Motye zu bezwingen. Überraschend schnell und leicht schien die Be freiung der Griechenstädte vorn karthagischen Joch erreicht zu sein. Das fol gende Jahr jedoch brachte eine verhängnisvolle Wendung. Der punische Feldherr Himilko vermochte von Panormos aus nicht nur Motye und andere verlorene Plätze zurückzugewinnen, sondern den Gegner auch zum Abbruch der Belagerung von Segesta zu zwingen. Dionysios, in einern Gebiet operierend, dessen sikanische Bevölkerung sich nur im Zwang der Verhältnisse zu ihm bekannt hatte, dazu durch Verpflegungsschwierigkeiten bedrängt, vermochte sich nicht zu behaupten und entschloß sich zum Rückmarsch nach Syrakus. Die Folge war, daß Himilko an der Nordküste der Insel gen Osten vordrang und die seit zwei Jahren mit dem Tyrannen verbündete Stadt Messana zerstörte. Mit wenigen Ausnahmen gingen darauf die Sikeler zu den Puniern über. Jene, welche das Gebiet von Naxos er halten hatten, erbauten sich mit Himilkos Hilfe auf der nahen beherrschenden Höhe die Trutzburg Tauromenion. Vergebens suchte Dionysios durch Verlegung der in Katane angesiedelten campanischen Söldner in das besser geschützte Aitna, durch Errichtung starker Befestigungen in Leontinoi sowie durch Auffüllung der zusammengeschrumpften Streitmacht mit freigelassenen Sklaven und neuen Söld nern die jetzt Syrakus drohende Gefahr zu bannen. Noch ehe es zu einer Land schlacht karn, erlitt die Flotte unter seinem Bruder Leptines auf der Höhe von Katane eine katastrophale Niederlage, die es der feindlichen Armada ermöglichte, in den «Großen Hafen» von Syrakus einzufahren, worauf der Tyrann sich schleu nig in seine vor Beginn des Krieges einzigartig befestigte Stadt zurückzog, deren Verteidigung ihm allein noch übrig blieb. Sein gesamtes Herrschaftsgebiet im Osten Siziliens ging an den vorrückenden Himilko verloren ; die griechischen Bundesgenossen zerstreuten sich in ihre Heimatorte ; der Rest des Heeres wurde in Syrakus zu Wasser und zu Lande eingeschlossen. Kein Wunder, daß in der belagerten Stadt jetzt (39716) die Opposition wieder ihr Haupt gegen den Tyrannen erhob, der die Bürgerschaft in eine ärgere Lage gebracht hatte, als sie einst beim athenischen Angriff im Jahre 415 gewesen war. Zwar gelang es den Karthagern nicht den «Kleinen Hafen» ganz zu blockie ren, so daß ein Hilfsgeschwader samt Söldnern, die Dionysios' Schwager Poly xenos bei Bundesgenossen in der Peloponnes und Italien gesammelt hatte, unter Oberbefehl des Spartaners Pharakidas einfahren konnte, wie denn auch Diony sios selbst mit seinem Bruder Leptines Proviant über See herbeizuschaffen ver mochte. Zudem war ein forcierter Angriff auf den gewaltigen Mauerring aus sichtslos; die Karthager mußten ihre Hoffnung auf Aushungerung der Stadt set-
Dionysios I. : Der große Karthagerkrieg
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zen. Aber wo blieb die befreiende Tat des Machthabers, die seine Stellung als Strategos autokrator und in gewissem Sinne sogar seine Tyrannis rechtfertigen konnte? Als gar den Syrakusanern in seiner Abwesenheit ein Überfall auf feind liche Schiffe glückte, meinten nicht wenige, ihn, der abermals als Feldherr zu ver sagen schien, durchaus entbehren zu können. üb wirklich, wie Timaios ein J ahr hundert später behauptete, ein gewisser Theodoros die Bürger aufrief, jetzt, da sie bewaffnet seien, den unfähigen Tyrannen zu stürzen, und in der Volksver sammlung seine Absetzung und Verbannung beantragte, mag man bezweifeln. Aber auch ohnedies wird die Erbitterung laut geworden sein, und es wäre viel leicht in der belagerten Stadt zwischen der Bürgerschaft und den Söldnern des Tyrannen zum Kampf gekommen, hätte nicht der Spartaner Pharakidas erklärt, daß er den Syrakusanern und dem Dionysios zu Hilfe geschickt worden sei, nicht aber um den Sturz des Machthabers zu bewirken. Bald darauf bot sich dem Dio nysios unerwartet die Möglichkeit, durch einen militärischen Erfolg die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften. Als nämlich das punische Heer, ähnlich wie neun Jahre zuvor, von einer Seuche befallen wurde, die seine Kampfkraft lähmte, vermochte er ihm eine schwere Niederlage beizubringen, wobei er zu gleich ihm unbequeme eigene Söldner opferte. Inzwischen fuhren Leptines und Pha rakidas auf seinen Befehl in den Großen Hafen ein und vernichteten in Zusammen wirken mit ihm die punische Flotte. Mit einem Schlage war Syrakus von der Be lagerung befreit (Spätsommer 396) . Himilko, der jetzt um freien Abzug bat, er hielt diesen von Dionysios nur für die karthagischen Kontingente zugestanden ; er willigte ein und überließ die anderen Truppen ihrem Schicksal. Von diesen konnten sich die Sikeler in ihre Heimatorte retten, die iberischen Söldner reihte der Tyrann auf ihren Wunsch in seine eigenen Miettruppen ein, alle übrigen machte er zu Gefangenen und gab den Troß des Feindes seinen Soldaten zur Plün derung preis. Wurde auch kein Friede geschlossen, 50 war doch bis auf weiteres schon deshalb ein neuer punischer Angriff nicht zu befürchten, weil eine Aufstands bewegung in Afrika jede außenpolitische Aktivität hemmte. Ungestört konnte Dionysios zunächst an die Wiederherstellung und Erweiterung seines Herrschafts bereiches gehen. Von der syrakusanischen Bürgerschaft, die zu brüskieren er wohl nach Möglich keit vermied, scheint dem Tyrannen nach seinem Sieg keine ernsthafte Gefahr mehr gedroht zu haben. Schwierigkeiten dagegen bereiteten ihm die schon vorher gelegentlich aufsässigen und nad1 Beendigung der Kampfhandlungen vollends widerspenstigen Söldner. Ja es bestand vorübergehend die Gefahr, daß sie seinem Regiment das Ende bereiteten. Doch er überwand auch diese Bedrängnis, indem er zehntausend von ihnen statt des geforderten Soldes Leontinoi samt dessen Fruchtland anwies, wo also fortan, ähnlich wie in Aitna, eine Söldnerkolonie be-
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Sizilien und Unteritalien
stand. Im übrigen fiel dem Tyrannen nach Abzug der Karthager sein ostsizilisches Territorium wieder zu. Diesem wurde jetzt das von Himilko zerstörte Messana hinzugefügt, wo Dionysios :1000 Lokrer und 4000 Medmaier aus Unteritalien an siedelte und das er nicht lange darauf durch einen Mauerring und eine Söldner besatzung sicherte. Sechstausend von den Spartanern aus Zakynthos und Nau paktos vertriebene Messenier erhielten ferner den Küstenstrich der Sikelerstadt Abakainon, wo sie die rasch aufblühende Stadt Tyndaris gründeten. Die voraus gehende Eroberung des Platzes war ein Teil der Abrechnung mit den Sikelern für ihren Abfall zu Karthago gewesen. Auch Menainon und Morgantine nahm Dio nysios in Besitz, dazu Enna, das durch Verrat fiel. Mit Agyris von Agyrion, Niko demos von Kenturipe, mit Herbita, dem treugebliebenen Assoros und dem fernen Herbessos schloß er dagegen Verträge, die in Form der Bundesgenossenschaft ein gewisses Abhängigkeitsverhälmis festgelegt haben dürften. Wirklich selbständig blieben nur die Sikeler in Tauromenion, da ein Versuch, sie zu bezwingen schei terte (394) . Wurde somit der gesamte Nordosten der Insel dem Tyrannen mehr oder weniger untertan, so vermochte er darüber hinaus sein Herrschaftsgebiet an der Nordküste nach Westen vorzuschieben : Kephaloidion und selbst das nahe bei Panormos gelegene Solus fielen ihm durch Verrat zu ; Hirnera, das ihm die Ver proviantierung verweigert hatte, nahm er im Sturm. Es scheint, daß er auch die Herrschaft über die anderen vor 398 den Karthagern untertänigen Griechenstädte, Kamarina, Gela, Akragas, Selinusi beanspruchte. Jedenfalls brach Akragas, um frei zu werden, nach Dionysios' Mißerfolg vor Tauromenion die Kampfgemein schaft mit ihm. Noch ehe er etwas dagegen tun konnte, wurden die Punier wieder aktiv und ihr Feldherr Mago rückte sogar bis ins Gebiet von Messana vor (393). Jetzt war die Herrschaft des Tyrannen über den größten Teil der Insel in Frage gestellt, zumal da der Karthager die meisten Sikeler als Bundesgenossen ge wann, die ihm wieder zufallenden hellenischen Poleis milde behandelte und Feinde des Dionysios aufnahm. Aber die militärischen Unternehmungen liefen sich im Binnenland, wo Agyris von Agyrion dem Dionysios kräftig beistand, fest, ohne daß es zu einer Entscheidungsschlacht gekommen wäre, die der Tyrann mit Bedacht vermied. Freilich erbitterte er damit das syrakusanische Aufgebot, das heimzog, so daß er sich genötigt sah, Sklaven freizulassen und seinem Heere ein zureihen. Bald jedoch gab er sie ihren Herren zurück, als die wohl schon seit eini ger Zeit spielenden Friedensverhandlungen zum Abschluß kamen. Verglichen mit den Abmachungen von 405 bedeutete der neue Vertrag einen großen Erfolg des Tyrannen. Karthago beschränkte sich auf seinen Altbesitz im Westen Siziliens, zu dem zwar das ihm vorübergehend entrissene Solus, nicht aber S �linus und Himera gehörten. Alle Griechenstädte, die es zeitweise besessen hatte, wurden, wenn nicht formal, so doch praktisch, dem Dionysios überlassen, dessen Herr-
Dionysios I. : Sizilisches Herrschaftsgebiet nach 396
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schaft auch Akragas anerkennen mußte. Nichts weist darauf hin, daß fortan zwi schen den Städten und dem Herrn von Syrakus ein Bundesverhältnis bestanden hätte, vielmehr läßt gerade die zeitgenössische überlieferung mit aller Deutlichkeit das Untertanenverhältnis erkennen. Auch die Sikeler sollten mit Zustimmung der Karthager Untertanen des Tyrannen sein, ausgenommen wohl der treue Agyris, der rechtlich weiterhin als Bundesgenosse gegolten haben mag. Aus Tauromenion vermochte Dionysios jetzt die von den Puniern früher dorthin geführten Sikeler zu vertreiben; er siedelte dort ein Elitekorps seiner Söldner an. Soweit die für die folgenden Jahrzehnte ungemein dürftige und lückenhafte Tradition uns Einblicke tun läßt, hat der durch den Frieden von 392 konsolidierte Herrschaftsbereich in den folgenden Jahrzehnten keine Änderung seiner Struktur erfahren. Eine territoriale Einbuße erlitt er jedoch, als der Tyrann, nachdem er einige der den Karthagern untertänigen Orte als Bundesgenossen gewonnen und dadurch im Jahre 382 einen neuen Krieg heraufbeschworen hatte, mit seiner Ab sicht, sich ganz Sizilien untertan zu machen, nach jahrelangen Kämpfen scheiterte. In einem um }74 geschlossenen Frieden mußte er sich dazu bequemen, dem Geg ner nicht nur eine Entschädigung von 1000 Talenten zu zahlen, sondern ihm auch die westlichsten Griechenstädte zu überlassen. Im Süden standen fortan Selinus, Herakleia und Teile des Gebietes von Akragas, im Norden vermutlich Himera wieder unter punischer Herrschaft; die Flüsse Halykos und Himeras bildeten die Grenze der beiden Machtsphären. Später (}68) hat Dionysios noch einmal die Karthager aus der Insel zu verdrängen gesucht und sogar den Eryxberg genom men, doch bevor in diesem Krieg eine Entscheidung fiel, raffte ihn im Frühjahr 3 67 der Tod dahin. Seine Herrschaft beschränkte sich damals schon längst nicht mehr auf Sizilien. Bereits mehr als zwei Jahrzehnte vorher hatte er auf italischem Boden Fuß gefaßt. b) Italien und Adria
Rhegion, die nächstgelegene Stadt, war gemeinsam mit Messana 404 den auf ständischen Syrakusanern zu Hilfe gekommen, beide Städte hatten um 399 einen Feldzug gegen Dionysios begonnen, der freilich zusammenbrach. Von den Rhe ginern war zudem sein Bemühen, durch Vermählung mit einer vornehmen Frau ihrer Stadt ein besseres Verhältnis herzustellen, zurückgewiesen worden. Der Tyrann heiratete darauf eine Frau aus Lokroi, Doris, und gewann diese Stadt, vielleicht auch Medma, als Bundesgenossen (397/6) . Zwei Jahre später, als Dio nysios das von den Puniern zerstörte Messana besetzte und neu besiedelte, ver Suchten die Rheginer Flüchtlinge aus Naxos und Katane, die bei ihnen Aufnahme gefunden hatten, westlich von Messana in Mylai anzusetzen. Wurde auch dieses Unternehmen und ein von dem mit seinem Stiefsohn Dionysios zerfallenen und
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Sizilien lind Unteritalien
nach Rhegion geflüchteten Syrakusaner Heloris geführter Angriff auf Messana durch die neuen Bewohner der Stadt vereitelt, so scheiterte nicht minder ein Hand streich des Tyrannen auf Rhegion an dem hartnäckigen Widerstand, den er dort antraf (393/2) . Ja er mußte wegen des damals wieder aufflammenden Karthager krieges einen Waffenstillstand schließen und konnte erst 390 den Kampf fort setzen. Jetzt kam er vom verbündeten Lokroi her, das ihn wohl gegen den feind lichen Nachbarn Rhegion zu Hilfe gerufen hatte, während die Mehrzahl der nörd licher gelegenen Griechenstädte, die sich in einem Abwehrbund gegen die Luka ner und nun auch gegen Dionysios zusammengeschlossen hatten, in Furcht vor dessen weiterem Ausgreifen Rhegion unterstützten. Dionysios' Antwort darauf war ein Bündnis mit den Lukanern, die denn auch 389 bei Laos an der Westküste das Aufgebot der Thurier vernichtend schlugen, unmittelbar bevor ein ihnen zu Hilfe geschicktes Geschwader unter Dionysios' Bruder Leptines eintraf. Daß dieser die flüchtigen Thurier aufnahm, mochte noch hingehen, daß er aber zwischen den Lukanern und dem Bund der italischen Griechen (Italioten) Frieden stiftete, wider sprach den Absichten des Tyrannen, der daraufhin Leptines durch einen anderen seiner Brüder, Thearidas, im Flottenkommando ersetzte. Er mußte nun ohne die Lukaner den Kampf gegen die Italioten führen, ehe er an Fortsetzung des Krieges gegen Rhegion denken konnte. Das nahe Kaulonia, das er zuerst angriff, erhielt zur See von Elea, zu Lande von Kroton und den anderen Verbündeten Hilfe, die der Stiefvater Heloris heranführte. Aber am Fluß Elleporos vermochte Diony sios einen entscheidenden Sieg über das Entsatzheer zu erringen (388) . Gleichwohl würde dieser Schlag schwerlich genügt haben, den Italiotenbund als Gegner aus zuschalten, hätte der Sieger nicht bei der Auswertung seines Erfolges kluge Mäßi gung bewiesen, wofür ihn die überwundenen als Wohltäter priesen und mit gol denen Kränzen ehrten. Zehntausend Gefangene ließ er ohne Lösegeld frei, an Landgewinn beanspruchte er nur den südlichsten Teil der brettischen Halbinsel bis zum Isthmus zwischen Kaulonia und Skylletion. Die Bewohner des zerstörten Kaulonia und des eroberten Hipponion wurden nach Syrakus überführt (388/7), wo die ersteren für fünf Jahre Steuerfreiheit erhielten. Die Plätze selbst sowie das ebenfalls eroberte Skylletion bekamen die Lokrer; mit den weiter nördlich gele genen Städten schloß Dionysios Frieden und erkannte ihre Autonomie an. Rhegion, seit der Schlacht am Elleporos isoliert, hatte in seiner nunmehr hoff nungslosen Lage sogleich durch Auslieferung der Flotte, Zahlung von 300 Talen ten und Stellung von Geiseln den Frieden erkauft. Vergebens, denn Dionysios war entschlossen, die Meerenge fest in seine Hand zu bringen und die verhaßte Feindin zu vernichten. Durch neue, unerfüllbare Auflagen forderte er sie zum Endkampf heraus, der von den Rheginern neun Monate lang (387/6) mit dem Mute der Verzweiflung geführt wurde, bis schließlich der Rest der Qusgehungerren
Dionysios 1.: Herrsdlaftsgebiet
außerhalb Siziliens
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Bürgerschaft kapitulieren mußte. Nur wer sich mit einer hohen Summe loskau fen konnte, behielt die Freiheit, alle anderen verfielen der Sklaverei. An der Stelle der völlig zerstörten Stadt legte sich der Tyrann einen Lustgarten an. Die Süd spitze Italiens hatte er jetzt in eigenem Besitzi nördlich schloß sich das Gebiet des von ihm bereicherten und schon darum abhängigen Lokroi an bis zu der en'Vähn ten Landenge, wo mit dem Bau einer freilich nie vollendeten Sperrmauer begon nen wurde. Denn das Verhältnis zu den Städten des Italiotenbundes blieb auch nach dem Frieden von 3 8 8 sehr gespannt, weniger wohl zu Tarent als zu Meta pont, das Dionysios vergeblich auf seine Seite zu ziehen suchte, und namentlich zu Thurioi und Kroton. Doch nicht nur diese beiden Städte scheinen im dritten Karthagerkrieg zu den Puniern gehalten zu haben, die damals Hipponion wieder herstellten, der gesamte Bund trat auf die Seite der Karthager. Dionysios rea gierte darauf mit einem Angriff auf Kroton, das er um 3 79 eroberte und in sei nen Besitz nahm. Auch versuchte er, freilich erfolglos, Thurioi von der See her zu nehmen. Wenn damals auch die Lukaner wieder gegen die Griechenstädte vorbrachen, so mag eine Erneuerung des Bündnisses mit dem Tyrannen voraus gegangen sein. Beide gemeinsam vergewaltigten den Italiotenbund und bewirkten seine Auflösung. Dionysios' italisches Territorium, das jetzt auch das Gebiet von Kroton und womöglich noch weitere Landstriche umfaßte, sparte zwar das ver bündete Lokroi samt den ihm vormals zugewiesenen Plätzen aus, doch stand diese Stadt faktisch unter seiner Oberhoheit. Bis zu seinem Tode ist dem TyranneI} der Besitz auf dem italischen Festland erhalten geblieben. Mit den räuberischen Brettiern in den Bergen vermochte freilich auch er nicht fertig zu werden. Es bleibt ein weit entfernter Teil von Dionysios' Herrschaftsbereich zu betrach ten. Schon in der ersten Hälfte der achtziger Jahre hat er im Bestreben, auch die Straße von Otranto zu beherrsdlen und Stützpunkte für seine Flotte zu gewin nen, an der illyrischen Küste südlich von Scutari die Kolonie Lissos (Alessio1 an gelegt. Einige Jahre später unterstütze er die Illyrer, mit denen er ein Bündnis schloß, durch Truppensendung, damit sie den vertriebenen Molosserkönig Alke tas, der in engen Beziehungen zu dem Tyrannen und namentlich zu seinem Bruder Leptines gestanden zu haben scheint, zurückführten, was auch gelang, wenngleich die Illyrer bald von Sparta abgedrängt wurden. Der Ausweitung seiner Stellung ar, der Adria sollte es ferner dienen, wenn er den parisehen Kolonisten auf der weit im Norden gelegenen Insel Pharos Hilfe zukommen ließ. Dies geschah ver mutlich durch den Eparchos (Gouverneur) einer von Dionysios auf der Insel Issa (Lissa) gegründeten Kolonie, die ebenso wie die anderen Pflanzstädte des Herr schers und die meisten Tyrannenkolonien keine Selbständigkeit besaß, vielmehr einem Statthalter unterstand. Ähnlich dürfte es mit der Stadt Atria im Podelta gewesen sein, die Philistos, als er Sizilien fern bleiben mußte, für Dionysios in
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Besitz genommen zu haben scheint. Der Name des von ihm angelegten Kanals «Fossa Filistina» zeugte noch später von seinem Wirken im Mündungsgebiet des Po. Ancona dagegen war dem Tyrannen nicht untertan. Wenn es heißt, daß sich dort syrakusanische Flüchtlinge niederließen, so kann es sich nicht um eine im Besitz des Dionysios befindliche Deportiertenkolonie gehandelt haben. Beziehun gen zu den Kelten in Oberitalien mußten sich von Atria aus gleichsam von selbst ergeben. Mit ihnen, die wenige Jahre zuvor Rom erobert hatten, schloß der Tyrann ein Bündni s ; keltische Söldner erscheinen später in seinem Heer. Auch im Tyrrheni schen Meer hat Dionysios ausgegriffen und Etrusker, mit denen fast ein Jahr hundert vorher schon Hieron gekämpft hatte, bekriegt. Nicht jedoch um in Et rurien dauernd Fuß fassen, sondern um sich am Vorabend des dritten Karthager krieges reiche Mittel zu verschaffen. Wirklich vermochte er Pyrgoi, den Hafen platz von Agylla (Caere) zu überfallen und aus dem Heiligtum der Leukothea Schätze im Werte von angeblich 1500 Talenten wegzuschleppen. Territorialen Besitz jedoch scheint Dionysios nördlich des Lukanergebietes mit Ausnahme von Atria nie gewonnen zu haben, auch nicht auf Kyrnos (Corsica), wohin er von Pyrgoi aus fuhr. J.
ART U N D F O R M D E R T Y RA N N I S
a) Syralcus
Fragen wir nach Art und Form der Herrschaft des Dionysios, die alles übertraf was jemals griechische Tyrannen an Machtgebilden errichtet hatten, so ist von der Keimzelle, der Polis Syrakus, auszugehen. Ihr gegenüber ist während der 37 Jahre seines Regimentes seine Stellung zwar insofern die gleiche gewesen, als er formal bis zuletzt der erwählte Strategos autokrator blieb, faktisch jedoch wur de sie bereits eine andere, seitdem er die beiden Aufstände niedergeschlagen, sich eine Leibwache verschafft, eine Zwingburg errichtet und die Syrakusaner entwaff net hatte. Damit war die Tyrannis errichtet und auch die eigenmächtige Beibehal tung des außerordentlichen Amtes über den ersten Karthagerkrieg hinaus, für den es übertragen worden war, ist ein tyrannischer Akt gewesen, so daß Platon mit Recht sagen konnte, Dionysios habe das ihm durch die Wahl dargebotene Geschenk mißbraucht. Zudem beraubte die zeitweilige Entwaffnung der Bürger schaft die Strategie ihres eigentlichen Sinnes. Wenn Dionysios gleichwohl und trotz der Stütze seiner Herrschaft durch eigene Soldtruppen im Gegensatz zu Gewalthabern früherer Zeiten auf das Amt nicht verzichten wollte, so deshalb, weil der ausgebildete Stadtstaat seiner Zeit einen festen Organismus darstellte, den von Amts wegen zu leiten einem Tyrannen des beginnenden 4. Jahrhunderts notwendiger erscheinen mußte als einstigen Stadtherren, welche in einem noch
Dionysios I. und die Polis Syrakus
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pnmItlven Gemeinwesen ihren Willen indirekt durch Vertrauensleute hatten zur Geltung bringen können. Auch war für die geplante Verdrängung der Kartha ger von der Insel das Kommando über das syrakusanische Bürgeraufgebot nicht zu entbehren. Wirklich wurde dieses bei Aufnahme des großen Krieges wie der ins Leben gerufen, womit das außerordentliche Feldherrnamt seinen Sinn zurückerhielt. Die Frage, ob es eigentlich Dionysios gebühre, die sich in der ver zweifelten Lage von 396 aufdrängte, ist nach dem Frieden von 392 wohl kaum mehr erhoben worden. Die Stellung des Machthabers war jetzt zu gefestigt, die Institution nach dreizehn Jahren zu eingewurzelt, als daß sie noch hätte bestrit ten werden können, ganz abgesehen davon, daß die weiteren Karthagerkriege sie zu rechtfertigen schienen. In dieser Hinsicht mußten die Kämpfe mit den Puniern dem Dionysios auch innenpolitisch erwünscht sein, ohne daß deshalb Timaios zu glauben wäre, nach dem der Tyrann um der Behauptung seiner Stellung willen die feindliche Macht nicht vernichtet habe. Freilich verdankte er gerade dem Haß und Abwehrwillen gegen die Punier nicht nur seinen Aufstieg, sondern auch die Festigung seiner Herrschaft. Selbst seine innenpolitischen Gegner haben mit Rücksicht auf den Karthagerkampf ihre Abneigung zurückgestellt und, indem sie gegen die Barbaren die Waffen ergriffen, die Tyrannis gestärkt. Der Frage, wieweit Dionysios kraft des Feldherrnamtes, wieweit auf Grund sei ner tyrannischen Machtstellung gehandelt hat, kann nicht ausgewichen werden, mag beides auch derart verquickt sein, daß eine Scheidung häufig unmöglich i�t oder den Charakter seiner Herrschaft verkennen würde. Zweifellos stand ihm als Strategos autokrator die oberste militärische Führung und damit die Ernennung der Offiziere sowie die Sorge für Rüstung, Verteidigungsanlagen und dergleichen zu. Er konnte ferner nach Kriegsbeschluß der Bürgerschaft das Aufgebot erlassen, eine ebenfalls vom Volk zu beschließende Kriegssteuer erheben, Söldner für die Polis anwerben und die Bundesgenossen der Syrakusaner zur Entsendung von Truppen auffordern. Des weiteren besaß er das Recht der Einberufung und Lei tung der Volksversammlung, zu der er angeblich aus sicherer Entfernung von einem hohen Postament zu sprechen pflegte. Welche Angelegenheiten außer den genannten von dem bevollmächtigten Strategen vor das Volk zu bringen waren, läßt sich nicht sagen, doch darf es für die Aufnahme von freigelassenen Sklaven und Bewohnern eroberter Städte in die Bürgerschaft angenommen werden. Eben sowenig erfahren wir aus der Überlieferung, ob weiterhin erloste Archonten und ein wohl ebenfalls erloster Rat in der Polis fungierten und die kommunalen Ge schäfte besorgten. Auch hier läßt sich nur aus gewissen Anzeichen und aus Grün den allgemeiner Wahrscheinlichkeit vermuten, daß dem so war und das syraku sanische Gemeinwesen, in dessen Namen die Münzprägung erfolgte, mit seinen zivilen Organen fortbestand. Die Einwirkungsmöglichkeit des Strategos auto-
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krator auf alle Bereiche des stadtstaatlichen Lebens war freilich groß und wuchs noch in dem Maße, in dem auf Dionysios' Wunsch Neubürger in großer Zahl der Polis eingegliedert wurden. Nicht nur daß dadurch der Prozentsatz seiner Anhän ger beträchtlich zunahm, die Aufblähung der Bürgerschaft, wie sie ähnlich schon Gelon vorgenommen hatte, und die dadurch bewirkte Vermassung schloß eine eigene, einheitliche Initiative der Volksversammlung nahezu aus. Ohnehin war politischer Sinn und Wille bei den Syrakusanern weniger ausgeprägt als in Sparta oder Athen. Zudem hat Dionysios, der sich meisterhaft auf Behandlung von Menschen verstand, bei allen Härten, an denen es nicht fehlte, Sympathien zu erwerben gewußt. Es mögen daher manche Maßnahmen, die unsere von Timaios abhängige Tradition als Willkürhandlungen erscheinen läßt, in Wahrheit der Volksversammlung vorgelegt und von dieser beschlossen worden sein. Anderer seits wird man gewiß mit Eingriffen des Dionysios in die syrakusanische Verfas sung zu rechnen haben, war er doch nicht nur Strategos autokrator, sondern zu gleich Tyrann. Weder das Bestehen einer Leibwache noch das Residieren in einer gegen die Stadt abgeschirmten Burg noch die mehrere Jahre aufrecht erhaltene Entwaffnung der Bürgerschaft hatte etwas mit dem Strategenamt zu tun, ebensowenig die Ein richtung einer Geheimpolizei und die Verwendung von Spitzeln, deren sich einst schon Hieron bedient hatte. Eindeutig tyrannisch war ferner, daß Dionysios' Machtstellung weitgehend auf eigenen Söldnertmppen beruhte. Denn daß diese seit Errichtung der Tyrannis in seinem Dienst, nicht in dem der Polis standen, ist kaum zu bestreiten. Höchstens für die zu den Karthagerkriegen angeworbenen Mannschaften könnte das letztere gelten, weil diese Kämpfe auch vom syrakusani schen Gemeinwesen und dessen Aufgebot geführt wurden. Seine Söldner waren es, die dem Tyrannen die Möglichkeit gaben, Syrakus in Schach zu halten, wie er denn auch mit ihrer Hilfe des großen Aufstandes Herr wurde. Auf sie gestützt konnte er sich Eingriffe in das öffentliche Leben erlauben, zu denen das Strategen amt keine Handhabe bot, und wenn auch manches, was feindselige Überlieferung von Gewalttaten, Konfiskationen und gesetzlosen Hinrichtungen zu berichten weiß, erfunden sein wird, es dürfte dergleichen kaum nur bei Niederschlagung von Revolten vorgekommen sein. Nicht mit Sicherheit zu beantworten ist ferner die wichtige Frage, ob Dionysios nach der zweimaligen militärischen Einnahme von Syrakus sich als Besitzer der Stadt angesehen hat, worauf einiges in unseren Quellen hindeuten könnte. Doch wie dem sei, jedenfalls stand er nicht nur als bevollmächtigter Strategos an der Spitze der Polis, sondern zugleich als Tyrann, das heißt als Herr der Stadt, neben ihr, und diese Stellung war im inneren wie nach außen maßgebend. In einem inschriftlich erhaltenen Vertrag mit Athen sind Partner auf Sizilien l ediglich Dionysios und seine Nachkommen, während Organe
Diol1ysios I. : Strategos autokrator und Tyrann
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der Polis Syrakus nur als Schwurzeugen erscheinen. Wesentliche Entschlüsse faßte er denn auch nicht im Benehmen mit ihnen, sondern nach Anhören des «Rates der Freunde», der, staatsrechtlich durch nichts legitimiert, eine gleichsam pri vate Institution des Tyrannen war. Leider läßt sich nicht erkennen, wie der eigene Beamtenapparat, über den der Gewalthaber schon im Hinblick auf seine Finanzen verfügt haben muß, beschaffen war. Außer der Geheimpolizei werden nur gele gentlich Schatzmeister und Organe der Grenzkontrolle genannt. Immerhin liegt der ja aud1 sonst bei derartigen Herrschaften begegnende Dualismus von staat licher und quasistaatlicher Organisation zutage. Dem entspricht es, wenn der Spartaner Pharakidas erklärte, er sei den Syrakusanern und dem Dionysios zu Hilfe gesandt. Deutlich zeigt ferner eine Betrachtung der Finanzgebarung und des Heerwesens, wie sehr sich in Syrakus infolge der geschilderten Doppelstellung des Dionysios bei seinen Maßnahmen Staatliches und Persönliches, Legitimes und Tyrannisches durchdrangen. Die von ihm als bevollmächtigtem Strategos erhobene Kriegssteuer (Eisphoni) wäre nach einer Angabe des Aristoteles so hoch gewesen, daß sie in fünf Jahren das gesamte ursprüngliche Vermögen absorbiert hätte, was nur für eine kurze Zeit, etwa diejenige der Rüstungen zum großen Karthagerkrieg, zu treffen kann, während eine Eisphora. wesentlich geringeren Ausmaßes, zu der auch die gelegentlich erwähnte Viehsteuer zu rechnen ist, von Dionysios dauernd be ansprucht worden zu sein scheint. Es ließ sich dies mit der ständigen Bedrohung durch die Karthager, dem Unterhalt der Flotte und dem Bau von Befestigungs werken begründen, wäre aber ohne den Druck der Tyrannenmacht kaum durchzu setzen gewesen. Eine direkte Einkommensteuer, die der Tyrann als Herr und Be sitzer der Stadt für sich hätte erheben können, ist nicht zu erweisen, auch scheint er nicht auf die städtischen Gebühren und Zölle seine Hand gelegt zu haben, wie wohl ihn seine offenbar häufigen Finanzkalamitäten dazu hätten verleiten können. Diese hat Dionysios auf andere Weise zu überwinden gesucht, sei es durch Zwangsanleihen, etwa Inanspruchnahme der Mündelgelder, deren Rückerstattung an die volljährig gewordenen Waisen zugesichert wurde, sei es durch Manipula tionen der verschiedensten Art. Was die letzteren betrifft, so sind die anekdoten haften Berichte freilich nicht unbedingt glaubwürdig. Immerhin ist es durchaus möglich, daß er als Leiter der Polis Syrakus, ähnlich wie die Ephesier es einmal taten, die Ablieferung des Schmuckes der Frauen verlangte, und noch weniger läßt sich die mehrfach erwähnte Inanspruchnahme von Tempelschätzen bezweifeln, wie sie ja auch in Athen in Notzeiten erfolgte. Zur Behebung der immer wieder auftretenden finanziellen Nöte bediente sich Dionysios nach vorhergehender Bil ligung durch die Volksversammlung, also als Strategos autokrator, auch des Mittels der Geldverschlechterung, indem er entweder statt des Silbergeldes Mün-
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zen aus Zinn oder aus Kupfer mit Zinnüberzug zum Nominalwert der Silberstücke ausgeben ließ oder den Silbermünzen durch Aufprägung den doppelten Kurswert verlieh. Den eigenen Namen oder gar das eigene Bild hat er sowenig wie andere Tyrannen auf Geldstücke setzen lassen ; sie waren als solche der Syrakusaner ge kennzeichnet, die, wie der eben erwähnte Volksbeschluß zeigt, für Fragen des Münzwesens kompetent waren. Ob neben der Eisphora, die mit Strenge einge trieben wurde, und den bisweilen für militärische Zwecke geforderten Sonderab gaben die Vermögenden auch noch eine Trierarchie zu übernehmen hatten, ist nicht zu sagen. Der Erlös aus der Kriegsbeute einschließlich der verkauften oder gegen Geldzahlung freigelassenen Gefangenen sowie die den besiegten Gegnern auferlegten Kriegskosten dürften, wenn es sich um ein vorn Bürgeraufgebot getra genes Unternehmen handelte, der syrakusanischen Staatskasse zugeflossen sein. Zu den besprochenen Einnahmen, die Dionysios als Strategos autokrator in Empfang nahm, traten diejenigen, die er unabhängig von dieser Stellung gewann. Hierzu gehörte alles, was seine auf eigene Faust mit Söldnern unternommenen Kriege einbrachten, etwa die Schätze, die er den Tempeln von Kroton und Agylla entnahm, kaum dagegen diejenigen, welche er den mit Syrakus verbündeten Lok rem abzuliefern befahl. Daß die Bewohner unterworfener Städte ihm laufend eine Steuer zu zahlen hatten, ist zwar nicht ausdrücklich bezeugt, aber wahrscheinlich. Den Grundstock seines Vermögens dürften zunächst konfiszierte Güter seiner Gegner in Syrakus, im besonderen der getöteten oder verjagten Oligarchen, ge bildet haben, besaß der Tyrann doch später in der Nähe der Stadt ausgedehnte Ländereien. Die reichen Mittel, die er während der folgenden Jahrzehnte durch Feldzüge gewann, hat er offenbar großenteils für militärische Zwecke verwandt, und zwar, wie aus guter Quelle verlautet, nicht nur für die Bezahlung seiner Söld ner und die Finanzierung der eigenen Kriege, sondern auch für die großen Aus einandersetzungen mit Karthago, bei denen er als Strategos autokrator fungierte. Eine klare Scheidung zwischen den Geldern des Tyrannen und denjenigen, die ihm als bevollmächtigtem Feldherrn zur Verfügung standen, ist mithin bei den Aufwendungen sowenig wie bei den Einnahmen möglich. Einiges, etwa die Be zahlung der Leibwache und des stehenden Söldnerheeres, den Unterhalt des kei neswegs üppigen Hofhaltes und Geschenke an Männer seiner Umgebung, die Kosten von Schloß- und Parkanlagen sowie der von ihm nach Delphoi und Olym pia ge stifteten Weihgeschenke, schließlich Bestechungsgelder und dergleichen hat der Machthaber gewiß aus eigenen Mitteln geleistet. Auch für die Bauten, mit denen er Syrakus zu einer der schönsten Städte der griechischen Welt machte : große Tempel, prächtige Hallen, breite Straßen, ein Gymnasion am Anaposfluß und eine weithin sichtbare Sonnenuhr, ist dies in der Hauptsache anzunehmen. Anderes dagegen, wie die Besoldung der Bürgersoldaten und zusätzlich angewor-
Dionysios 1.: Finanzen. Heerwesen
bener Miettruppen im Karthagerkrieg, die Kosten der gewaltigen Rüstungen gegen die Punier, der grandiosen Befestigung von Syrakus, der Magazine und Arsenale, dürfte vorwiegend durch die Eisphoni gedeckt worden sein. Fraglich bleibt, wie es mit der Finanzierung der Flotte stand, deren Schiffshäuser im Be reich der Tyrannenburg lagen und deren Mannschaft im zweiten Karthagerkrieg aus Bürgern und Söldnern zusammengesetzt war. Daß zu ihrer Vermehrung die Syrakusaner gelegentlich durch eine zusätzliche Steuer beitragen mußten, ist über liefert, doch mag Dionysios auch hier seinerseits Zuschüsse geleistet haben. Ganz zu seinen Lasten gingen gewiß die Ausgaben, die in den dem Tyrannen unter tänigen Gebieten notwendig wurden, beispielsweise für die Sperrmauer in Unter italien oder die Einrichtung der Plätze an der Adria, wie andererseits die Einnah men aus dem persönlichen Herrschaftsbereich, in dessen italischem Teil er anschei nend Elektronmünzen mit den früheren Emblemen der Prägungen von Rhegion schlagen ließ, ihm zu freier Verfügung standen. Auch im Heerwesen tritt die DoppelsteIlung des Dionysios als Strategos auto krator und Tyrann in Erscheinung. Kraft des Feldherrnamtes konnte er nach vor herigem Volksbeschluß das syrakusanische Bürgeraufgebot, dessen Oberbefehl ihm zustand, einberufen, was freilich nach Errichtung der Tyrannis zunächst nur gegen die Karthager und ihre Verbündeten geschah. Ja in der Zeit von 404 bis 398 war die Bürgerschaft entwaffnet, doch scheint er ihr nach Kriegsende (392), trotz mancherlei Opposition während der Kämpfe, dauernd die Waffen belassen zu haben. Im Hinblick auf den großen außenpolitischen Erfolg und die nunmehr er drückende übermacht des Gewalthabers war ein Aufstand kaum mehr zu be fürchten. Dionysios hat es in der Folgezeit sogar wagen können, Bürgertruppen zu Unternehmungen heranzuziehen, die nicht von der Volksversammlung be schlossen worden waren. Die Stärke des syrakusanischen Aufgebotes, durch die Einbürgerungen vermehrt, ist leider nicht zu bestimmen, weil in den überlieferten Zahlen auch nichtsyrakusanische Truppen eingeschlossen und die Angaben min destens zum Teil übertrieben sind. So soll der Tyrann seinem Sohne eine Heeres macht von 110 000-130 000 Mann und 400 Kriegsschiffen hinterlassen haben, wäh rend für seine Kriege wesentlich geringere Zahlen genannt werden. Was die Söld ner betrifft, so standen sie im Jahre 405 im Dienste der Polis Syrakus, doch wußte Dionysios sie bald sich persönlich zu verbinden und in seinen, des Tyrannen, Dienst zu ziehen. Nach Errichtung der Alleinherrschaft scheinen für die Karthager kriege nochmals Söldner auf Kosten der Polis angeworben worden zu sein, im ganzen jedoch wird man annehmen dürfen, daß seit Entwaffnung der Bürgerschaft Dionysios es war, der aus eigenen Mitteln und zu eigenem Nutzen ein Heer von Miettruppen unterhielt. Aus den verschiedensten und auch wechselnden Elemen ten setzte es sich zusammen, so daß einheitliche Auflehnung nicht zu befürchten
Sizilien und Unteritalien
stand. Neben heimatlos gewordenen Bewohnern der von den Puniern zerstörten Städte, freigelassenen Sklaven und wohl auch proletarisierten Syrakusanern fan den sich hier Leute aus der übervölkerten Peloponnes, vor allem aber Angehörige barbarischer Völkerschaften : Campaner, Kelten, Iberer, Libyer, alle nach heimi scher Art bewaffnet, zusammen. Die Überlegenheit dieser dauernd geschulten Kräfte über den nur dürftig ausgebildeten Landsturm griechischer und nichtgriechi scher Gemeinwesen war gewiß erheblich. Die Söldner, auf denen nicht zuletzt seine Machtstellung beruhte, gut zu behandeln, war Dionysios denn auch eifrig be dacht. Er belohnte sie nach besonderen Erfolgen, vermied tunlichst Soldkürzun gen, gestattete Plünderungen und überließ ihnen reid1e Beute, von der er freilich, wenn sie allzu groß war, einen Teil wieder abgenommen haben soll. Gleichwohl karn es bisweilen zu Konflikten mit den ungebärdigen Horden, und auch die Ent lohnung machte bei besonders angespannter Finanzlage Schwierigkeiten. Wenn der Tyrann im Jahre 396 zehntausend Söldnern statt Geld das evakuierte Leontinoi samt dem zugehörigen Lande anwies, andere Miettruppen vier Jahre später in Tauromenion ansiedelte, wie er es ähnlich schon 403 mit campanischen Söldnern in Katane getan hatte, so wurde mit der Versorgung zugleich der Sicherung des Untertanengebietes gedient. Es entstanden hier Militärkolonien, deren männliche Bewohner gegebenenfalls zu den Waffen gerufen werden konnten. Im übrigen scheinen an allen wichtigen Plätzen des Herrschaftsgebietes Söldnergarnisonen stationiert worden zu sein. Aber auch jenseits von dessen Grenzen hat Dionysios seine Miettruppen eingesetzt, wenn es galt, verbündeten Staaten, etwa den Spar tanern, Hilfe zu leisten. Daß die Flotte, die seit 397 mehr als 300 Einheiten zählte, im großen Karthagerkrieg und wohl auch weiterhin zur Hälfte mit Bürgern, zur Hälfte mit Söldnern bemannt war, wurde bereits erwähnt. Ob Bürgeraufgebot oder Söldner, das Oberkommando stand in jedem Falle Dionysios zu, der auch für beide Gruppen die Offiziere ernannte. Während er das Landheer persönlich befehligte, hat er für die Leitung der Flotte, vielleicht nach spartanischem Vorbild, das Amt des Nauarchos geschaffen und es jeweils einern Mitglied seiner Familie anvertraut: zunächst seinem Bruder Leptines, ehe dieser in Ungnade fiel, sodann einern anderen Bruder, Thearidas, und nach dessen Tode (um 370) vielleicht seinem Neffen und Schwager Dion. Unter den Platzkomman danten hatte den wichtigsten Posten, denjenigen in Syrakus, lange Jahre sein Helfer und Freund philistos inne, bis auch er sich die Ungnade des Herrschers zuzog. Über Kontingente der untertänigen Gebiete schweigt die für die Zeit der vollen Herrschaftsausbildung (seit 392) ungemein dürftige Überlieferung völlig, so daß man zweifeln mag, ob Dionysios hier überhaupt Heeresfolge verlangt und sich nicht mit materiellen Leistungen begnügt hat. Bundesgenössische Truppen, die wohl unter heimischer Führung standen, karnen im großen Karthagerkrieg
Dionysios I. :
HeerweseIl. Befestigung von
Syrakus
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aus den das punische Joch abschüttelnden Griechenstädten sowie von formal selb ständigen Gemeinden der Sikeler und anfangs auch von den Sikanern, im Kampf gegen Rhegion und andere unteritalische Städte vermutlich von den Lokrern, wäh rend die ebenfalls im Bundesverhältnis stehenden Lukaner nicht unter Dionysios' Kommando traten, sondern an ihrer Front selbständig operierten. Ferne Ver bündete waren die Spartaner, die sich freilich auf Sendung von Offizieren be schränkten, in den neunziger Jahren auch, wenngleich mit Vorbehalt, die Korin ther, von denen Schiffe kamen, des weiteren der Molosserkönig Alketas, Illyrer sowie Kelten, welch' letztere in ihrem Lande Söldnerwerbungen gestatteten. Die großartigste organisatorische Leistung des Tyrannen auf militärischem Ge biet stellt ohne Zweifel der Ausbau von Syrakus zu einer Riesenfestung dar, deren Ruinen noch heute den Besucher in Staunen versetzen. Das Unternehmen wurde im wesentlichen während der Jahre 402 bis 398 durchgeführt, und zwar derart, daß zunächst die Nordseite der Hochfläche von Epipolai westlich des sogenannten Hexapylon (heute Scala Greca) eine nur mäßig hohe, aber did<e Mauer aus sorg fältig behauenen Blöcken erhielt. Wuchtige Türme verstärkten die Wehr. Von der Ausführung des Werkes besitzen wir eine auf den Augenzeugen Philistos zurück gehende eindrucksvolle Schilderung. Darnach zog Dionysios, der hier als Strate gos autokrator handelte, zunächst viele Architekten heran, ließ dann die Land bevölkerung zur Stadt kommen und wählte aus ihr 6000 geeignete Arbeiter aus, die teils mit dem Zurichten der Steine beschäftigt, teils auf die einzelnen Bau abschnitte verteilt wurden, je 200 Mann für eine Strecke von rund 30 Metern. Sechstausend Rindergespanne schleppten das Material heran. Jede der genannten Strecken stand unter Leitung eines Baumeisters (Oikodomos l , über fünf Ab schnitte führte ein Architektön die Oberaufsicht, und dementsprechend waren die Prämien für besonders gute und rasche Arbeit nach Architekten, Baumeistern und Arbeitern abgestuft. Wenn schon bei einigen der älteren Tyrannen eine bewußte Förderung der Arbeitsenergie festzustellen war, die dem dynamischen und zu gleich rationalen Geist dieser Tatmenschen entsprach, so drängt sich bei Diony sios, der nicht nur mit seinen Freunden den Arbeiten dauernd beiwohnte, sondern auch, ohne seiner Würde und der körperlichen Mühen zu achten, an den schwie rigsten Stellen selbst Hand anlegte, der Gedanke an moderne Leistungssteigerung a'..lf, um so mehr, als auch der Wille zum technischen Fortschritt nicht fehlt. In zwanzig Tagen soll dank der einzigartigen Organisation und dem leidenschaft lichen Eife!" des Tyrannen die 4,5 km lange Nordmauer vollendet worden sein, der während der nächsten Jahre die übrigen Mauerzüge folgten, bis der gesamte Ring, in den auch die tiefer gelegenen Teile des festländischen Stadtgebietes ein bezogen wurden, in einer Länge von 27 km hergestellt war. Im Norden gewährte eine sechsfach gestaffelte Toranlage (Hexapylon) Eingang in den riesigen, nur
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Sizilien und Unteritalien
zum Teil mit Häusern bebauten Festungsbezirk. An der Westspitze erhob sich das Kastell Euryalos, dessen heute noch sichtbare Fortifikationsanlagen freilich erst in einer späteren Zeit geschaffen wurden. Auch die Herstellung der Waffen für den Karthagerkrieg, zu der Dionysios, hier wie sonst um alles persönlich bemüht, Handwerker nicht nur aus seinem Herrschaftsbereich, sondern auch aus dem punischen Gebiet, Italien und Griechen land kommen ließ, war eine ungewöhnliche organisatorische Leistung. An :14 000 kunstvolle Panzer wurden für die Reiter, die Offiziere des Fußvolkes und die Leib wache angefertigt, zehnmal so viele Schilde, Helme und Schwerter für die übrigen Truppen. Zum ersten Mal in der griechischen Kriegsgeschichte konstruierte man Katapulte für den Belagerungskrieg. Vor Motye, Rhegion und anderen Städten hat sich denn Dionysios auch als Meister der neuen Kriegstechnik erwiesen. In Syrakus entstanden zudem Arsenale und Kornspeicher, vor allem jedoch eine große Kriegsflotte. Zu den HO vorhandenen Schiffen, die der Strategos autokrator ausbessern ließ, wurden 200 neue Einheiten in See gestellt, unter denen sich neben den üblichen Trieren auch Vier- und Fünfdecker (Tetreren und Penteren) befanden. In 150, je zwei Schiffe beherbergenden Schiffshäusern fand die Flotte nahe der Tyrannenburg Aufnahme. Schon die Gewinnung des notwendigen Bauholzes am Ätna oder in den Waldgebirgen nahe dem verbündeten Lokroi zeugt, ganz ab gesehen von dem Bau selbst, von einer Organisation, die derjenigen des Befesti gungswerkes kaum nachgestanden haben dürfte. Angesichts der Art, wie Dionysios sich der Kriegsproduktion und der techni schen Neuerungen annahm, ist es wahrscheinlich, daß er sich allgemein die För derung des gewerblichen und wirtschaftlichen Lebens angelegen sein ließ. Leider bietet die Überlieferung in dieser Hinsicht sehr wenige Hinweise. So erfahren wir nur gelegentlich, daß er einem Spekulanten, der den gesamten Verkauf von Eisen an sich gezogen hatte und dadurch wohl die Kriegswirtschaft beeinträchtigte, zwar seinen Gewinn beließ, ihm aber den weiteren Aufenthalt in Syrakus untersagte, und daß er in einem anderen Falle statt des Hortens von Geld dessen Verbrauch verlangte. Offenbar konnten unter der Herrschaft des Tyrannen manche Leute zu beträchtlichem Reichtum kommen, in dessen Besitz sie sich jedoch unter den obwaltenden Verhältnissen nicht sicher fühlten. Daß die heimische Manufaktur einen bedeutenden Aufschwung erlebte, ist nicht zu bezweifeln. Schon die Her anziehung fremder Handwerker, von denen sich einige gewiß dauernd in Syra kus niederließen, mußte sie beleben, erst recht aber die Fülle zum Teil neuartiger Aufträge im Rahmen des gigantischen Rüstungswerkes und der zivilen Bautätig keit. Ein nicht geringer Teil der Stadtbevölkerung wurde damit materiell dem Tyrannen verpflichtet. In erster Linie galt dies wohl für die niederen Schichten, doch werden auch dip Besitzer von Gewerbebetrieben sowie Reeder, Händler und
Dionysios I . : Gewerbe. Wirtschaft
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Großkaufleute, denen zudem die Ausweitung von Dionysios' Machtbereich bis in den Norden der Adria neue wirtschaftliche Möglichkeiten erschloß, aus den gro ßen Unternehmen erheblichen Gewinn gezogen haben. Diese materiellen Vorteile, welche weite Kreise der syrakusanischen Bürgerschaft genossen, dürften in einer Zeit zunehmenden Überwiegens privatwirtschaftlicher Interessen dazu beigetragen haben, daß man seit dem Ende der neunziger Jahre die Gewaltherrschaft des tatkräftigen Mannes trotz der politischen Knebelung und dem harten Steuerdruck mehr oder weniger willig ertrug. b) Das· übrige Herrschaftsgebiet
Wenn die Stellung des Dionysios zur Polis der Syrakusaner insofern zwielichtig war, als er sowohl kraft des außerordentlichen Strategenamtes wie kraft seiner tyrannischen Macht über die Stadt gebot, so zeigt der weitere Bereich seiner Herrschaft sowohl auf Sizilien wie auch in Italien und an den Küsten der Adria das eindeutige Bild einer Territorialmonarchie, in der die einzelnen Gemeinwesen nur noch eine gewisse kommunale Selbständigkeit besaßen. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Sikelerstadt Agyrion, deren Herr im großen Karthagerkrieg treu ge blieben war, und das mit Syrakus seit langem verbundene, dem Tyrannen erge bene Lokroi, die beide zwar faktisch ihm untertan waren, formal jedoch autonome Bundesgenossen blieben. Alle übrigen Städte im nichtkarthagischen Sizilien, ob von Griechen oder Sikelern bewohnt, unterstanden seit 392 auch fonnal dem Dio nysios, desgleichen vom Zeitpunkt ihrer Gewinnung an diejenigen Plätze, die er außerhalb der Insel sich aneignete. Stimmen von Zeitgenossen bezeugen das un widerleglid1, und auch die Sicherung mancher Orte durch Besatzungen oder Söld nerkolonien, das freie Schalten des Tyrannen mit Bewohnern und Territorien sowie die Tatsache, daß der Sturz des jüngeren Dionysios im Zeichen der Be freiung der Städte Siziliens erfolgte, lassen daran keinen Zweifel. Dabei blieb die Polisverfassung der einzelnen Städte bestehen. Wenn Platon davon spricht, daß Dionysios ganz Sizilien in eine Polis versammelt habe, so ist damit nur die Ein heitlichkeit der Herrschaft vom Sitz des Gewalthabers aus, nicht die Begründung einer den größten Teil der Insel umfassenden Riesenpolis gemeint. Zutreffender kennzeichnet die Situation Isokrates, der - gleich Theopompos - Dionysios den Tyrannen Siziliens nennt, das ganz geknechtet sei, wie denn auch der Redner Lysi as bei den Olympischen Spielen von 388 zur Befreiung Siziliens von der Ty rannenherrschaft aufrief. Diese Herrschaft schien schon vor dem Frieden von 392, in dem die Karthager dem Dionysios den größten Teil der Insel überließen, so weit zu bestehen, daß die Athener 394 /3 in einem Ehrenbeschluß ihn «Archon (Beherrscher) Siziliens» nennen konnten. Der Ausdruck, der sowenig wie früher bei Gelon als offizieller Titel anzusehen ist, konnte, da man begreiflicherweise das
Sizilien und Unteritalien
Wort «tyrannos» vennied, im Hinblick auf die Territorialherrschaft als der an gemessenste gelten. Brauchte in einem Ehrenbeschluß damit über Form und Art dieser Herrschaft noch nichts ausgesagt zu sein, so lehrt der inschriftlich erhaltene Wortlaut des zwischen dem Tyrannen und Athen 368/7 geschlossenen Bündnis vertrages, daß allein Dionysios für sein gesamtes Herrschaftsgebiet derartige Ab machungen traf. Die Formel lautet «Dionysios und seine Nachkommen» ; von Bundesgenossen ist nicht die Rede, und Organe der Polis Syrakus erscheinen nur als Schwurzeugen, nicht als Vertragspartner. Nach außen wie nach innen zeigt sich Dionysios als der absolute Monarch, der zwar den untertänigen Städten eine bescheidene kommunale Autonomie beläßt, so daß er sich auf Kontrolle und mili tärische Sicherung beschränken kann, die Einheit des Ganzen aber in seiner Per son und nur in dieser verkörpert sein läßt. Die Errichtung einer derartigen Herrschaft ist zu einem guten Teil durch den Abwehrkampf gegen die Karthager ermöglicht worden, dessen Anforderungen Dionysios bereits seinen Aufstieg verdankte und dessen Erfolge ihn als Retter des sizilischen Griechentums vor Knechtung durch die Punier erscheinen lassen konnten. Schon Platon hat ihn in diesem Sinne gerühmt, Isokrates ihn zu Be ginn der sechziger Jahre für seine eigenen panhellenischen Ideen gewinnen wollen, indem er den Mann, der die Hellenen des Westens vor den Barbaren bewahrt hat te, bat, sich nun der Griechen des Mutterlandes gegen die Perser anzunehmen. Daß Dionysios selbst in panhellenischer Glorie gesehen werden wollte, steht für den großen Karthagerkrieg außer Zweifel, doch wird der Historiker fragen müs sen, ob er sie in Wahrheit verdiente. Im Kampf mit den unteritalischen Griechen hat er jedenfalls das Bündnis mit Barbaren nicht gescheut, barbarische Söldner sind von ihm in großer Zahl herangezogen und zum Teil in Sizilien angesiedelt worden, selbst auf dem Boden altgriechischer Städte. Bedenkt man ferner, daß bis herige Sklaven ins Heer eingestellt oder sogar gelegentlich mit Freien ehelich ver bunden wurden, während andererseits viele Rheginer der Sklaverei verfielen, so ist von Achtung hellenischen Volkstums wenig zu spüren. Eher ließe sich von einer gewissen Barbarisierung der dem Tyrannen untertänigen Teile Siziliens sprechen, wie denn noch zwanzig Jahre nach seinem Tode die meisten Städte der Insel unter Barbaren und dienstlosen Söldnern geseufzt haben sollen. Weit mehr als späterfür Alexander scheint angesichts dieses Verhaltens die panhellenische Parole für Dio nysios vornehmlich Mittel zum Zweck, gleichsam ein verführerischer Mantel ge wesen zu sein, mit dem er sein Eroberungs- und Herrschaftsstreben umkleidete. Die Aufhebung der griechischen Pflanzstädte Kamarina, Naxos, Katane, Rhegion, Kaulonia und Hipponion kann dieses Urteil nur bestätigen, nicht minder die Schwächung des Italiotenbundes gegenüber den Stämmen des Hinterlandes und die mangelnde Sorge für ein Wiederaufleben der von den Karthagern zerstörten
Dionysios 1. : Herrschaft außerhalb von Syrakus
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Orte auf Sizilien. Sie waren noch in der Jahrhundertmitte menschenarm. Denn während die Punier immerhin den einstigen Bewohnern unter gewissen Bedingun gen die Rückkehr gestattet hatten, wovon freilich wohl nur wenige Gebrauch ma chten, tat Dionysios, nachdem die Städte ihm untertan geworden waren, nichts zu ihrer Erneuerung. Und das offenbar sehr bewußt. Hätte doch, wären sie wieder erstarkt, ihr Polispatriotismus die Unfreiheit kaum ertragen, vielmehr die Herr schaft des Tyrannen gefährdet. Der Abfall der von ihm in Tyndaris angesiedelten Messenier im großen Karthagerkrieg mochte ihm zeigen, was gegebenenfalls auch von den Städten der Südküste zu erwarten gewesen wäre. Die hellenischen Poleis auf der Insel vegetierten dahin, sie prägten mit Ausnahme der Residenz Syrakus keine Silbermünzen mehr, und ihre Bürger konnten sich fragen, ob sie durch die «Befreiung» vom Karthagerjoch etwas gewonnen hatten. Sie standen jetzt auf der selben Stufe wie die meisten Sikeler, waren dem Herrscher untertan und aller Wahrscheinlichkeit nach steuerpflichtig. Auch diese Gleichstellung von Griechen und Nichtgriechen wirft auf die panhellenisehe Parole des Dionysios ein bezeich nendes Licht, mochte gleich damit indirekt die zunehmende Hellenisierung der Sikelerplätze gefördert werden. c) Das Verhältnis zum griechischen Mutterland
Während von den Auseinandersetzungen mit den Karthagern und Italioten so wie von den Beziehungen zu den Illyrern und dem Molosserkönig, zu den Kelten und Etruskern bereits bei Schilderung der Ausweitung von Dionysios' Herrschaft zu sprechen war, verdient sein Verhältnis zu den Staaten des Mutterlandes noch eine besondere Betrachtung. Hier hat der Tyrann seit seinem Aufstieg in guten, nur gelegentlich getrübten Beziehungen zu den Lakedaimoniern gestanden. Schon im Jahre 403 war von ihnen, die sich den Nachfolger ihres einstigen Freundes Hermokrates gewinnen wollten, wohl auf Rat des Lysandros, um dessen Gunst Dionysios warb, Aristos entsandt worden, der durch Beseitigung des Korinthers Nikoteles nicht wenig zur Festigung der Tyrannis beitrug. Einige Zeit darauf kam Lysandros selbst als Gesandter, und die große Krise von 396 wurde mit Hilfe des an der Spitze von 30 Trieren erschienenen Spartaners Pharakidas überwunden, nachdem die Lakedaimonier durch Erlaubnis von Söldnerwerbungen in ihrem Ge biet schon für den Karthagerkrieg Hilfsstellung geleistet hatten. Daß Dionysios einen aufständischen Söldnerführer zur Bestrafung nach Sparta schickte und bei der Neubesiedlung Messanas auf seinen Bundesgenossen Rücksicht nahm, zeigt, wie wertvoll ihm dieser war. Am Eurotas andererseits, wo jetzt auch der Geist der Machtpolitik dominierte, fand man in der Unterstützung eines Tyrannen nichts Anstößiges mehr. Vergeblich bemühten sich die Athener, Dionysios nach seinem großen Erfolg im Karthagerkrieg auf ihre Seite zu ziehen. Weder ein Ehrenbe-
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schluß für den Tyrannen und seine nächsten Verwandten (39413) noch das von einer athenischen Gesandtschaft überbrachte Angebot einer Verschwägerung mit dem kyprischen Fürsten Euagoras fruchteten, mochte auch Dionysios, als Spartas Sache ungünstig stand, mit Hilfesendungen zögern, zumal da der Kampf mit den Puniern seine Kräfte in Anspruch nahm (39312). In Athen brandmarkte man ihn nunmehr als Gewaltherrscher, und sowohl der Komödiendichter Philoxenos in seinem «Kyklops» (3 89) wie auch Aristophanes im «Plutos» (3 88) übergossen ihn mit Spott. Noch krasser äußerte sich die Erbitterung bei den Olympischen Spielen (3 88) , zu denen Dionysios mehrere Viergespanne, ferner Sänger zum Vortrag von ihm selbst verfaßter Gedichte und eine prunkvolle Festgesandtschaft unter seinem Bruder Thearidas schickte. Nicht nur daß seine Darbietungen in peinlicher Weise abgelehnt wurden, der athenische Metöke Lysias, Sohn eines Syrakusaners, wußte mit panhellenischen Parolen die Festteilnehmer derart gegen den Perserkönig und den Tyrannen im Westen zu erregen, daß man über Dionysios' Zelt herfiel und seine Gesandten beleidigte. Wenn diese Demonstration eine politische Wirkung ge habt hat, dann höchstens die, daß der Tyrann nun erst recht an der Verbindung mit Sparta festhielt. Er schickte denn auch, nachdem der lakedaimonische Gesandte Pollis ihn aufgesucht hatte, im Jahre 3 8 7 unter Polyxenos zwanzig Schiffe, die wesentlich zum Zustandekommen des für Sparta so günstigen Königsfriedens beitrugen. Schwieriger als zu Sparta war naturgemäß das Verhältnis zu Korinth, der Mut terstadt von Syrakus, wo man einerseits die Tyrannis verabscheute, andererseits die Kolonie nicht in die Hand der Karthager fallen lassen wollte. So haben die Ko rinther trotz Beseitigung ihres gegen die Gewaltherrschaft opponierenden Lands mannes Nikoteles (4°413) zur Abwehr der Punier in der Not des Jahres 396 Hilfs truppen nach Syrakus gesandt, und es scheint, daß Dionysios sich in der Folgezeit dafür erkenntlich erwies, doch versagt die ganz dürftige Überlieferung nähere Kunde. Dagegen hören wir von Hilfeleistung Spartas im dritten Karthagerkrieg sowie von einer Streitschrift, die Dionysios durch den Syrakusaner Aristoteies gegen den Athen verherrlichenden «Panegyrikos» des Isokrates verfassen ließ. Dieses Einvernehmen mit Sparta ist auch durch sein Eingreifen in Epirus, wo die Lakedaimonier die mit dem Tyrannen verbündeten Illyrer vertrieben, nicht ge trübt worden. Er schickte ihnen vielmehr zum Kampf gegen die für den Demos von Korkyra eintretenden Athener ein Geschwader, das freilich samt Weihgeschen ken für Delphoi und Olympia von dem attischen Strategen Iphikrates gekapert wurde (3 73 12). Daß er in den siebziger Jahren beabsichtigt habe, sich mit dem Perser in das zuvor unterworfene Griechenland zu teilen, ist offenbar nur eine böswillige Erfindung seiner Gegner, vor allem wohl in Athen. Es ging Dionysios vermutlich nur um die Stärkung Spartas, dem er auch nach der Katastrophe von
Dionysios 1. und Hellas
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Leuktra beistand. Hatte er schon bei dem der Schlacht vorausgehenden Kongreß und wohl auch bei einem weiteren, der nach der Schlacht in Athen stattfand, sich vertreten lassen, so schickte er im Sommer 369 über 2000 Mann mit Sold für fünf Monate, und im nächsten Jahre traf trotz dem Ausbruch des vierten Kartha gerkrieges nochmals ein Hilfskorps auf der Peloponnes ein. Inzwischen hatte in Hellas der gemeinsame Gegensatz gegen das übermächtig gewordene Theben die Athener und Spartaner zusammengeführt, so daß einem Bündnis des Dionysios mit Athen, das man dort im Hinblick auf die boiotische Gefahr dringend wünsch te, das alte Hindernis nicht mehr im Wege stand. Ehrenbeschlüsse, die Verleihung des attischen Bürgerrechtes an den Herrscher samt seinen Söhnen und Nachkom men sowie die Zuerkennung des ersten Preises für seine Tragödie «Hektars Lö sung», die am Lenaienfest 367 aufgeführt wurde, sollten eine günstige Atmo sphäre schaffen. Und in der Tat kam der Bündnisvertrag im März desselben Jahres zustande, nur blieb er ohne praktische Wirkung, weil der Tyrann kurz darauf starb. üb er daran gedacht hatte, zusammen mit Sparta und Athen den Kampf gegen Boiotien in großem Stile aufzunehmen und sich so im Mutterland eine schiedsrichterliche oder gar dominierende Stellung zu verschaffen, was Isokrates ihm anriet, ist zweifelhaft. Vorerst war angesichts des neuen Karthagerkrieges dergleichen jedenfalls nicht zu verwirklichen. Auch hatte Dionysios, soweit wir erkennen können, bisher nichts getan, was als Ansatz einer Ausweitung seines Machtbereiches auf Hellas gedeutet werden könnte. Die Behauptung einer ge hässigen Tradition, er habe das delphische Heiligtum plündern wollen, das er im Gegenteil durch Sendung von Weihgeschenken und Förderung des Tempelneu baus zu fördern gedachte, verdient keinen Glauben. 4.
FAM I L I E U N D
H O F HALT
Eine dynastische Politik durch Verschwägerung mit anderen Monarchen hat Dio nysios kaum treiben können, weil es, abgesehen von Epirus, griechische Fürsten oder Tyrannen erst östlich des Mutterlandes gab. Bis dorthin aber reichten seine Interessen und Absichten nicht, so daß es ihm leichtfallen konnte, die ihm von Athen angetragene Verbindung mit Euagoras auf Kypros abzulehnen, durch die er im übrigen Sparta brüskiert hätte. Um so stärker hat er innerhalb seines Macht bereiches den dynastischen Gedanken zur Geltung gebracht. Schon seit der Zeit seines Aufstieges ist dies deutlich erkennbar. Durch die erste Ehe mit Hermo krates' Tochter wollte er in den Kreis der vornehmen syrakusanischen Gesell schaft eintreten, was freilich nicht gelang, sondern den gewaltsamen Tod der Gattin zur Folge hatte. Das Werben um eine Rheginerin zielte auf Gewinnung ihrer Heimatstadt als Bundesgenossen ab. Als es zurückgewiesen wurde, vermähl-
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te sich Dionysios mit Doris aus dem unteritalischen Lokroi, womit er die Stadt, die schon früher in einem guten Verhältnis zur Polis Syrakus gestanden hatte, sich persönlich verband. Am gleichen Tage, so heißt es, schloß er auch mit Ari stomache, der Tochter seines vornehmen Helfers Hipparinos, die Ehe (um 398). Während dieser zunächst Kindersegen versagt blieb, gebar Doris, die als Fremde in Syrakus keinen leichten Stand hatte, bald einen Sohn, den jüngeren Dionysios, dem ein zweiter Sohn, Hermokritos, und eine Tochter, Dikaiosyne, folgten. Doch auch Aristomache fehlte es in der Folgezeit nicht an Kindern : zwei Söhne, Hippa rinos, der nach dem mütterlichen Großvater hieß, und Nysaios, dazu zwei Töchter, Arete und Sophrosyne, entsprossen ihrer Verbindung mit Dionysios. Bezeichnen derweise wurden die drei Mädchen innerhalb der Familie vermählt, und zwal Dikaiosyne mit dem Bruder des Tyrannen, Leptines, der bereits aus einer ersten Ehe zwei Töchter hatte, Arete mit Thearidas, ebenfalls einem Bruder ihres Vaters, und später, nach dem Tode ihres Gemahls (um 3 70), mit Dion, einem Sohn des älteren Hipparinos und Bruder der Aristomache, der ebenso wie seine fünf Ge schwister nach dem frühen Ableben des Vaters unter Vormundschaft des Diony sios gestanden hatte. Sophrosyne schließlich erhielt ihren Stiefbruder, den jünge ren Dionysios, zum Gatten. Auch des Tyrannen Schwester Theste hatte bereits um 40514 in Polyxenos, einem Bruder von Dionysios' erster Frau, einen Gemahl aus der Verwandtschaft erhalten. Die Absicht dieser Heiratspolitik liegt auf der Hand : keine andere Familie sollte als gleichwertig gelten, das Herrscherhaus so zusagen autark über den vornehmen syrakusanischen Familien stehen. Als Lepti nes eine seiner Töchter aus erster Ehe dem Philistos vermählte, zog er sich die Ungnade des Tyrannen zu, obwohl der Gatte einer seiner fähigsten und treuesten Helfer war. Diese Helfer aus dem Kreise der Verwandtschaft zu nehmen, entsprach den Praktiken der griechischen Tyrannis. So befehligte Leptines, der neben seinen Brüdern Dionysios und Thearidas im attischen Ehrendekret von 394/3 genannt wird, im großen Karthagerkrieg die Flotte und blieb trotz der Niederlage bei Ka tane auch weiter in dieser Stellung. Seine Beliebtheit beim Volk soll freilich den Tyrannen mißtrauisch gemacht und veranlaßt haben, ihn nur noch außerhalb Siziliens zu verwenden. Des Flottenkommandos wurde Leptines, der auch durch die eigenmächtige Vermählung seiner Tochter mit Philistos den Unwillen des Dio nysios erregte, jedoch erst entsetzt, als er dessen Politik durch Vermittlung des Friedens zwischen Lukanern und Thuriern durchkreuzte (3 89) . Da er aber in Thurioi Aufnahme fand, schien es dem Tyrannen klüger, ihn zurückzurufen und durch Verheiratung mit Dikaiosyne wieder an sich zu binden. Leptines hat denn auch am dritten Karthagerkrieg teilgenommen und ist in der Schlacht bei Kronion gefallen. Mit Thearidas·, dem zweiten Bruder, der nach Leptines' Absetzung Be-
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fehlshaber der Flotte wurde, hat es anscheinend keine Differenzen gegeben, dagegen überwarf sich der Schwager Polyxenos, der 3 8 7 das Hilfsgeschwader in der Ägäis führte und schon vorher im Hinblick auf seine einflußreiche Stellung zusammen mit Dionysios und seinen Brüdern von den Athenern geehrt worden war, eines Tages mit dem Tyrannen und flüchtete aus Sizilien. Der Mut, mit dem seine Gemahlin Theste sich gleichwohl zu ihm bekannte, hat ihr bis ins hohe Alter die Achtung der Syrakusaner eingetragen und angeblich auch ihrem Bruder Eindruck gemacht. Philistos endlich, bereits Helfer bei Dionysios' Staatsstreich, ist bis in die achtziger Jahre nicht nur Platzkommandant von Syrakus, sondern eine der zuverlässigsten Stützen der Tyrannis gewesen. Dann freilich ging er wie leptines, vermutlich wegen des durch die eigenmächtige Heirat entstandenen Zer würfnisses mit Dionysios, außer landes. Zu einer vollen Aussöhnung mit ihm scheint es - anders als bei leptines - nicht gekommen zu sein, doch wurde er wohl mit Aufgaben an den Adriaküsten, im besonderen mit dem Ausbau von Plätzen unweit der Pomündung, betraut. Dort dürfte er mit der Abfassung seines be deutenden Geschichtswerkes über Dionysios begonnen haben, in dem er dessen leistungen verherrlichte. Als überzeugter Anhänger und Verfechter der Tyrannis hat sich Philistos noch unter dem jüngeren Dionysios, der ihn gleich nach seinem Regierungsantritt zurückrief, erwie�en. Auch wenn man tendenziösen Angaben wie der Behauptung, der Tyrann habe vor Betreten des ehelichen Schlafgemaches stets alles durchsuchen lassen, keinen Glauben schenkt, ist nicht zu bestreiten, daß Dionysios seinen Verwandten und nächsten Freunden mit geheimem Argwohn begegnete und keine eigenmächtigen Handlungen duldete. Heloris, leptines, Polyxenos und Philistos mußten dies er fahren. Selbst gegenüber seinem ältesten Sohne, dem um 396 geborenen jünge ren Dionysios, scheint er mißtrauisdl gewesen zu sein. Er hat ihn nicht durch Heranziehung zu den Staatsgeschäften für die Nachfolge vorbereitet, sondern seinen privaten Interessen und Beschäftigungen überlassen. Dagegen erfreute sich Dion, der Schwager und später auch Schwiegersohn des Tyrannen, seiner Gunst und seines Vertrauens in besonderem Maße. Mit wichtigen diplomatischen Mis sionen betraut, vielleicht sogar als Nachfolger des Thearidas zum Befehlshaber der Flotte bestellt, war er ermächtigt, ohne vorherige Erlaubnis Zahlungen aus der Kasse des Herrschers zu leisten. Daß er von Platon und seiner lehre erfüllt war, mochte Dionysios, sofern er es ernst nahm, nicht unlieb sein, war es dodl dazu angetan, das leben am Hofe im lichte einer gewissen Freiheitlichkeit er scheinen zu lassen. Vom Hofhalt des Tyrannen, zu dem außer den zahlreichen Verwandten auch der Kreis der «Freunde» gehörte, die eine Art von Staatsrat bildeten, wissen wir wenig. Dionysios' eigene lebensführung war maßvoll, doch legte er als Empor-
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kömmling begreiflicherweise auf eindrucksvolle Repräsentation seines Herrscher tums großen Wert. In der Öffentlichkeit trat er, begleitet von seiner Leib wache, auf, zeigte sich, wohl bei besonderen Gelegenheiten, im Purpurgewand und mit goldenem Kranz auf dem Haupt sowie anderen Attributen eines fürstlichen Ornates, die an das Kostüm von Königen auf dem Theater erinnerten. Als eine Art Staatskarosse wird sein von vier Schimmeln gezogener Wagen erwähnt. Feiern wie die seiner Hochzeit mit Doris und Aristomache gaben ihm Anlaß, seine Truppen und einen großen Teil der Bürgerschaft festlich zu bewirten. Was aber seinem Hof besonderen Glanz verlieh, war das Heranziehen von bedeutenden Männern des geistigen Lebens aus dem Mutterland. Schon vor 402 kam der at tische Redner Andokides, der jedoch von Dionysios schlecht behandelt worden sein soll. Auch sonst hören wir infolge der Tyrannenfeindlichkeit und Anekdoten sucht der meisten Autoren weniger von Verkehr und Gedankenaustausch mit dem Herrscher als von Konflikten. Daß der berühmte Dithyrambiker Philoxenos aus Kythera, der zunächst in Gunst stand, von Dionysios aus Künstlereifersucht in die Latomien geworfen wurde und dort den «Kyklops», eine seiner schönsten Dichtungen, schuf, ist zwar sicher Erfindung, doch schied der Poet offenbar in Unfrieden von seinem Gastgeber, und in jenem Werk, das er 3 89 in Athen zur Aufführung brachte, wurde in mythologischem Gewande der Tyrann verspottet. Was den Anlaß zu der schon von Aristoteies bezeugten Hinrichtung des Tragikers Antiphon gab, ist nicht mehr zu erkennen. Der Umgang mit dem leidenschaft lichen und reizbaren Machthaber, der keinen Widerspruch ertragen zu haben scheint, war offenbar schwierig und nicht ungefährlich. Schmeichler hatten sein Ohr, und nur wer sich ihm anzupassen wußte, konnte auf die Dauer mit ihm aus kommen. Männer solcher Art waren der heimische Mimendichter Xenarchos, der die dem Tyrannen verhaßten Rheginer als Feiglinge lächerlich machte, und Ari stippos, der Begründer der hedonistischen Richtung in der Philosophie. Er, von dem Dionysios keine unangenehmen politischen oder moralischen Belehrungen zu gewärtigen hatte, erfreute sich offensichtlich seiner Gunst und erwiderte sie, indem er ihm ein Werk über libysche Geschichte und Traktate widmete. Der Ty rann mag mit ihm ernsthafte und tiefgreifende philosophische Gespräche geführt haben. Denn wenn ihm auch, wovon noch zu sprechen sein wird, die Poesie besonders am Herzen lag, so war er doch auch den philosophischen Syste men der Zeit aufgeschlossen, soweit ihre Verfechter nicht sich grundsätzlich gegen seine Herrschaft und die Art seines Handeins stellten. Letzteres gilt vor allem im Hinblick auf Platon und seinen Aufenthalt in Syra kus (388) . Von Dionysios war keine Einladung an ihn ergangen, er kam vielmehr aus eigenem Antrieb, um das sprichwörtlich glückselige Leben auf der reichen In sel kennenzulernen, und dod1 wohl auch, um von der berühmten Tyrannenherr-
Dionysios I. :
Hofhalt
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schaft eine unmittelbare Anschauung zu gewinnen. Daß der damals einundzwan zigjährige Dion von seiner Persönlichkeit und Lehre zutiefst ergriffen wurde, was nach mehr als zwei Jahrzehnten für beide so tiefgreifende Folgen haben sollte, ließ später dem greisen Philosophen sein erstes Kommen nach Syrakus wie eine Fügung des Schicksals erscheinen. Wenn nicht alles täuscht, ist Platon auf Dions Betreiben von Dionysios empfangen worden. Doch die Unterredung, über deren Inhalt man mancherlei fabelte, von der aber Platon selbst bezeichnenderweise schweigt, führte zu keinem Ergebnis. Wie hätte es auch zwischen dem Philoso phen, der vom Geist und den sittlichen Werten her eine neue Lebensordnung der Polis begründen wollte, und dem skrupellosen Machtmenschen, der die Poleis in seinem Herrschaftsbereich vergewaltigte, wo nicht gar aufhob, eine Verstän digung geben können? Ja, Dionysios mußte ein weiterer Aufenthalt Platons in Syrakus, wo seine kaum verhehlte Ablehnung der Tyrannis Schule machen konn te, unerwünscht sein. Er ließ daher, als die Rückkehr des spartanischen Gesandten Pollis nach Griechenland eine günstige Gelegenheit bot, den unbequemen Mann ehrenvoll, aber doch unter Aufsicht zu entfernen, ihn mit jenem die Heimfahrt an treten. Pollis soll Platon bis nach Aigina gebracht und dort entweder selbst ver kauft oder doch zugelassen haben, daß die Aigineten den Bürger des mit ihnen verfeindeten Athen zum Sklaven machten, bis er nach kurzer Zeit von seinen attischen Freunden ausgelöst wurde. Wenn später philosophenfreundliche und ty rannenfeindliche Schriftsteller des Altertums immer wieder behaupteten, Diony sios selbst habe den Spartaner zum Verkauf seines Begleiters veranlaßt, so ist darin nichts als eine tendenziöse Erfindung zu sehen. Was hätte ihn denn zu solch nutzloser Grausamkeit bewegen sollen? Andererseits dürfte zwischen den beiden Männern während der beiden folgenden Jahrzehnte keinerlei Verbindung bestanden haben. Das Bild der Tyrannis in Platons «Staat» mag zwar in manchen Zügen auf Erinnerungen an den Aufenthalt in Syrakus zurückgehen, ist aber im ganzen zu generell, um als Schilderung der Herrschaft des Dionysios gelten zu können. 5.
P ERS Ö N LI C H K EIT U N D
LEISTUNG
Die vorwiegend tyrannenfeindliche Überlieferung macht es schwer, Persönlich keit und Leistung des Dionysios, der den Späteren noch mehr als den Zeitgenos sen den Typus des Tyrannen im schlimmen Sinne zu verkörpern schien, gerecht zu würdigen. Von seiner äußeren Erscheinung erfahren wir nur, daß er groß und kräftig, rotblond und sommersprossig war; Bildnisse, die es noch zu Ciceros Zeit gab, sind nicht auf uns gekommen. Daß er im Kampfe persönliche Tapfer keit bewies und, von Herrschsucht erfüllt, vor keiner blutigen Gewalttat zurück-
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scheute, wenn es um die Behauptung oder Erweiterung seiner Machtstellung ging, steht außer Zweifel. Wie furchtbar er Rache nehmen konnte, zeigt die grausame Behandlung der Rheginer und die martervolle Hinrichtung ihres Feldherrn. Über triebenes Mißtrauen und ein fast pathologischer Argwohn gehören zwar allgemein zum Tyrannenbild der Antike, doch scheinen sie dem Dionysios wirklich eigen ge wesen zu sein. Erzählten sich doch schon die Zeitgenossen, daß er sogar die Schere des Barbiers fürchte und sich deshalb von seinen unmündigen Töchtern den Bart abnehmen lasse. Ernsthafter kennzeichnet das Gefühl dauernder Be drohung die Anekdote vom Höfling Damokles, dem, als er das Glück des Ty rannen pries, dieser alle Genüsse bieten, zugleich aber über seinem Nacken ein Schwert an einem Haare aufhängen ließ, um ihm zu demonstrieren, wie es in Wahrheit mit seinem Glück bestellt sei. Daß er von Neid und Haß umgeben war und auch seine Anhänger sich großenteils nur aus Eigensucht zu ihm bekannten, dürfte dem Gewalthaber, der wie so manche seinesgleichen mit der Zeit in tiefe Menschenverachtung verfallen sein mag, bewußt gewesen sein. «Dionysios, der aus überklugheit niemandem traute, konnte sich kaum behaupten, denn er war arm an befreundeten und treuen Männern» sagt Platon in Erinnerung an das, was er in Syrakus bei seinem Besuch gesehen hatte. Selbst mit Angehörigen der Fami lie ist es, wie wir sahen, zu schweren Konflikten gekommen, und den künftigen Erben der Herrschaft zur Regierung heranzuziehen hat der Tyrann - doch wohl aus Mißtrauen - bis zuletzt vermieden. Die durch Schillers «Bürgschaft» allbe kannte Erzählung von der Freundestreue der Pythagoreer Damon und Phintias, an deren Bund Dionysios teilzuhaben wünschte, glaubt zu wissen, daß er seine Ein samkeit selbst schmerzlich empfand. Mit einer Unrast ohnegleichen hat sich Dionysios im Bemühen um die Festi gung und Mehrung seiner Macht verzehrt, teils vom Zwang der Verhältnisse getrieben, vor allem aber vom Dämon in der eigenen Brust. Ruhe war ihm ein unleidlicher Zustand. Ein Fanatiker des Wirkens wünschte er nach Möglichkeit alles selbst zu tun und überwachte persönlich die Ausführung seiner Befehle. Moralische Skrupel waren dem Zeitgenossen des Alkibiades, Lysandros und Kri tias noch ferner als früheren Tyrannen. «Kinder betrügt man mit Würfeln, Män ner mit Eiden» soll er gelegentlich geäußert haben, und jedenfalls entsprach die hinterhältige Art, wie er die Rheginer zum Verzweiflungskampf trieb, solchen Worten. Die Behauptung freilich, er habe bewußt die sittliche Verderbnis seiner Untertanen begünstigt, verdient schwerlich Glauben, so demoralisierend die Ge waltherrschaft auf manche auch wirken mochte. Eine echte Religiosität wird man bei dem durchaus rationalen Geiste des Dionysios von vornherein nicht erwarten. Als Konvention ließ er die Religion gelten und trug ihr Rechnung, in dem er regelmäßig in seinem Palast den Herold ein Gebet für den Bestand der Herrschaft
Dionysios l. : Persönlichkeit
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sprechen ließ, Tempel erbaute und Weihgeschenke nach Delphoi und Olympia sandte. Aber sollte schon damit mehr seinem Ruhm als den Göttern gedient wer den, so hat er sich vollends nicht gescheut, Tempelschätze aus Kroton und Agylla gewaltsam zu entführen, sie selbst im verbündeten Lokroi für sich in Anspruch zu nehmen, wie er es auch in Syrakus tat, hier freilich als Strategos autokrator für den Karthagerkrieg mit einer gewissen Berechtigung. Trotz allen übertreibungen in der tyrannenfeindlichen Tradition bleibt doch der Eindruck bestehen, daß der Tyrann von religiösen Rücksichten frei war, ja ihnen gegenüber einen gewissen Zynismus an den Tag legte. Tyrannen früherer Zeiten hatten nicht selten ihren Reichtum genießerisch aus gekostet. Dionysios dagegen war persönlich anspruchslos und scheint auch für Gelage, Schmausereien oder Liebesaffären anderer wenig Verständnis gezeigt zu haben. Was anekdotenhaft von päderastischen Neigungen oder außerehelichen Beziehungen zu Frauen verlautet, ist ohne jede Gewähr; eher kann Glauben ver dienen, daß er an kostbaren Stoffen und Stickereien Freude fand und im Ball spiel Erholung suchte. Inmitten seiner Hofgesellschaft gab er sich gesellig und ließ seinen ebenso scharfen wie beweglichen Geist sprühen, der jeweils den sprin genden Punkt erkannte und von Schmeichlern höchstens hinsichtlich der Bewer tung seiner eigenen Dichtungen zu täuschen war. Denn Dionysios dichtete selbst Tragödien, vielleicht auch Komödien. Einige wenige Verse und die Titel von vier Dramen, die sämtlich mythologische Stoffe zum Gegenstand hatten (Adonis, Alkmene, Leda, Hektars Lösung), sind überliefert. Charakteristisch für ihren Stil war einmal die Verwendung gesuchter Wörter, welche die Sprache schwülstig machten, sodann die Neigung zu Gemeinplätzen und Sinnsprüchen, wie sie na mentlich in der Sentenz, daß die Tyrannis die Mutter allen Unrechtes sei, deutlich wird. Dürfte doch in diesem Wort, wem immer es in den Mund gelegt war, we der Zynismus des Tyrannen noch echte Ergriffenheit von den ethisch-philosophi schen Wertungen seiner Zeit zu erblicken sein. Es spielte seine Dichtung vielmehr, gleichsam losgelöst von der realen Tyrannis, im idealen Bereich der damals für die Gebildeten gültigen sittlichen Anschauungen, denen er hier wie auch bei der Benennung seiner Töchter nach Tugenden Rechnung trug mit dem Wunsche, seine Gewaltherrschaft zu beschönigen oder zu verschleiern. über den künstle rischen Wert der Tragödien und der uns unbekannten Dichtungen, die er vor der Festversammlung in Olympia von den besten Rhapsoden vortragen ließ, vermö gen wir um so weniger zu urteilen, als weder der Tadel und Hohn antiker Au toren noch die Zuerkennung des ersten Preises für das Drama «Hektors Lösung» durch die Athener eine objektive Würdigung bieten. Dionysios selbst ist nach Art fürstlicher Dilettanten auf seine dichterischen Leistungen besonders stolz ge wesen. Wie empfindlich er gegen absprechende Kritik war, lassen die Anekdoten
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um seinen Konflikt mit dem Dithyrambiker Philoxenos noch ahnen. Anscheinend glaubte er, es dem Aischylos und Euripides gleichtun zu können, deren Utensilien er in seinen Besitz gebracht haben soll. Die Teilnahme des Tyrannen am geistigen Leben beschränkte sich aber nicht auf die Dichtung. Seine allgemeine Bildung, die sogar seine Gegner zugeben muß ten, ließ ihn an Philosophie und Redekunst, in der er selbst Meister war, und an medizinischen Fragen Interesse nehmen. Dabei verschrieb er sich nicht einer be stimmten Richtung, sondern suchte, wie die bunte Zusammensetzung der Hofge sellschaft zeigt, von den verschiedensten Seiten her Anregungen zu gewinnen. Sein Helfer Philistos stellte in einem hochbedeutenden, von Thukydides inspirier ten Werk die Geschichte Siziliens bis zum Jahre 406 dar und widmete später vier Bücher der Zeit des Dionysios. Vielleicht, daß auch der Herrscher selbst, etwa in einer Autobiographie, sich historiographisch betätigte. Jedenfalls scheint ihm dar an gelegen zu haben, daß er und sein Regiment auch mit geistigen Waffen vertei digt würden. Persönlichkeit und Wirken sollten dem Idealbild des Fürsten, wie es in staatstheoretischen Schriften der Zeit ausgemalt wurde, ähnlich und ohne den Makel verhaßter Tyrannis erscheinen. Sowohl die Hervorhebung des pan hellenischen Verdienstes der Zurückdrängung der Karthager wie auch der Hinweis auf eine gewisse göttliche Weihe des Machthabers konnten in diesem Sinne wirken. Wieweit sie es taten, ist freilich die Frage. Zwar hat Isokrates in dem Herrn Si ziliens um 369 den möglichen Einiger und Führer des mutterländischen Griechen tums gegenüber den Persern gesehen und Platon ihm den Ruhm, die Hellenen des Westens vor den Karthagern gerettet zu haben, belassen, aber trotzdem und trotz der Verherrlichung der Tyrannis im Werk des Philistos, das offenbar viel gelesen wurde, hat Abneigung und Haß gegen den Gewalthaber sein Bild durch das gesamte Altertum bestimmt. Und doch hat Dionysios ohne Zweifel Großes geleistet. Daß der Mann aus dem Mittelstand von Syrakus es vermochte, sich zum Herrn Siziliens zu machen und eine Land- und Seemacht aufzubauen wie keiner zuvor, hat schon das Staunen der Zeitgenossen erregt. Der in kürzester Zeit durchgeführte Mauerbau, die Verpro viantierung der Truppen auf den großen Feldzügen, die militärische Sicherung der Herrschaft über die untertänigen Gebiete, die Jahrzehnte Bestand hatte, die kluge Lenkung der Wirtschaft, um von Einzelrnaßnahmen zu schweigen, erheben es über jeden Zweifel, daß der Tyrann ein genialer Organisator war. Nicht so eindeutig steht es um seine strategischen Fähigkeiten. Wohl begegnen auch hier neuartige Planungen, etwa im Kampf um Gela, und eine bewundernswerte Be weglichkeit der Taktik, wohl sind die Eroberung von Motye und der Sieg am Elleporos als große Erfolge der Feldherrnkunst des Dionysios zu werten, doch fehlt es nicht an schweren Rückschlägen und Niederlagen, obgleich seit Beginn
Dionysios I. als Feldherr und Politiker
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der neunzig er Jahre ein gewaltiges militärisches Potential zur Verfügung stand. Soweit wir erkennen können, sind die beiden letzten Karthagerkriege wenig glücklich gewesen, und den guten Ausgang der beiden ersten verdankte der Macht haber weniger eigenen Siegen als den Seuchen im feindlichen Heer, freilich auch der Zähigkeit, mit der er verzweifelte Situationen durchstand. Der von ihm zum ersten Male geübte Einsatz technischer Waffen, der eine neue Epoche der Kriegs geschichte einleitete, hat zwar die Bezwingung einiger aufs beste geschützter Plätze ermöglicht, entscheidend gegen den Punier sind aber weder zu Lande die Belagerungsmaschinen noch zur See die Riesenschiffe und die zahlenmäßige Stärke der Flotte gewesen, die aus unbekannten Gründen nie recht zum Zuge kam. Und während die Söldnertruppen, die als stehendes, wohlausgebildetes Heer unter ihm eine bisher kaum bekannte Bedeutung gewannen, den Aufgeboten der Grie chenstädte und auch der Sikeler überlegen waren, hat Dionysios mit ihnen sowie mit den Bürgerkontingenten von Syrakus und anderen Städten es doch nicht ver mocht, die Karthager gänzlich von der Insel zu verdrängen, vielmehr einige ihnen entrissene Gebiete später wieder preisgeben müssen. Auch wenn man die Hemmung durch Widerstände im eigenen Lager berücksichtigt und sich erinnert, daß die Römer dasselbe Ziele erst nach dreiundzwanzigjährigem Ringen erreich ten, sind die Grenzen seiner Feldherrnkunst und der kriegerischen Erfolgsmög lichkeiten einer auf baldige Entscheidungen angewiesenen Tyrannis nicht zu ver kennen. Als Realpolitiker dagegen verdient Dionysios uneingeschränkte Bewunderung. Wendig und verschlagen, durch äußerste Bedrohung höchstens für den Augen blick entmutigt, hat er seine Herrschaft nicht nur planvoll aufgebaut und über weite Bereiche ausgedehnt, sondern - was noch mehr bedeutet - ein Menschen alter hindurch zu behaupten vermocht. Mit diamantenen Ketten, soll er gesagt ha ben, sei sie von ihm für seinen Nachfolger gesichert worden, dem sie denn auch über ein Jahrzehnt erhalten blieb. Gewiß war hier in erster Linie an Macht und Gewalt gedacht, doch hat Dionysios offenbar sehr wohl gewußt, daß äußere Sicherung allein nicht den Bestand gewährleistete, und sich deshalb um das «Wohl wollen» der Syrakusaner bemüht. Auch den Bürgerschaften anderer Städte gegen über scheint er nicht immer so hart verfahren zu sein, wie man es auf Grund der Aufhebung ihrer Autonomie annehmen könnte. Die Verbindung von größ ter Tatkraft, Besonnenheit und Kühnheit hat schon der ältere Scipio an ihm ge rühmt. Vor allem natürlich im Hinblick auf die Außenpolitik. Und in der Tat zeigen sowohl die Auseinandersetzungen mit Karthago wie auch die Verbindung mit den Lukanern im Kampf gegen die Italioten, das Festhalten an den Spartanern, die ihn in Krisensituationen unterstützt hatten, und der Verzicht darauf, in der Ägäiswelt eine maßgebende Rolle spielen zu wollen, ihn als Meister wohlüber-
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legten politischen Handelns. Maßlosigkeit der Herrschsucht, die ihm später der Historiker Timaios vorwarf, lag wohl in seiner Natur, doch wurde sie durch den nüchternen, die Grenzen des Möglichen erkennenden Verstand des Tyrannen in Sdlfanken gehalten. Mit der ihm eigenen Klugheit hat er, der am geistigen Le ben der Zeit lebendigen Anteil nahm, politische oder staatstheoretische Gedan ken zur Rechtfertigung des eigenen Wirkens aufgegriffen und zumal den Kampf gegen die Karthager nicht nur mit materiellen Waffen geführt. In seiner Zeit und auch noch während der folgenden Jahrzehnte, ehe das Schreckbild, das Timaios unter dem Eindruck der Tyrannis des Agathokles ent warf, dominierend wurde, ist die Leistung des Dionysios verschieden beurteilt worden, je nach dem Gesichtswinkel des Betrachters. Aus polisstaatlicher Enge ge sehen stellte sie sich als brutale Vergewaltigung griechischer Freistaaten dar, hin ter der die Bewahrung des westlichen Hellenentums vor karthagischer Herrschaft zurücktrat. Platon war objektiv genug, diese anzuerkennen, wenn er auch jene verdammte ; Speusippos, sein Nachfolger in der Leitung der Akademie, bezeich nete, wohl nicht ohne Einwirkung der Erfahrungen, die Platon und er mit dem jüngeren Dionysios machten, den Vater schlechthin als einen der gottlosesten und schlechtesten Menschen. Isokrates andererseits, zwar Polisgrieche, jedoch dem monarchischen Gedanken aufgeschlossen und von der Notwendigkeit eines Zu sammenschlusses der mutterländischen Staaten durch einen starken Mann überzeugt, setzte zu Beginn der sechziger Jahre auf Dionysios seine Hoffnung und kargte nicht mit Bewunderung. Entschiedene und freimütige Verfechter der sizilischen Tyrannis, wie Philistos, gab es gewiß nur wenige, doch konnte auf andere Gewalthaber oder Fürsten das großartige Beispiel der Errichtung einer weitgespannten Herrschaft, das der außerordentliche Mann im Westen gab, nicht ohne Anreiz bleiben. Klearchos, Tyrann von Herakleia am Pontos, nannte einen seiner Söhne nach ihm, und dieser soll später des Dionysios' Hausrat aufgekauft haben. König Philipp scheint nicht erst des Hinweises des Isokrates in dessen ihm gewidmeter Schrift bedurft zu haben, um die politischen und militärischen Prak tiken des Syrakusaners zu studieren und sich gegebenenfalls anzueignen. Ähnliches versprach sich wohl auch Alexander, als er sich das Werk des Philistos ins innere Asiens nachsenden ließ. Wie der Peripatetiker und zeitweilige Regent Athens De metrios von Phaleron, der eine Schrift über Dionysios verfaßte, ihn sah und be urteilte, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Der moderne Historiker wird vor allem nach der Bedeutung fragen, die der Gestalt des Dionysios und seinem Wirken im Rahmen der griechischen Geschichte zukommt. Daß der von ihm gefaßte Plan, ganz Sizilien nach Verdrängung der Karthager zu einer politischen Einheit zusammenzufassen, auch wenn er nicht voll verwirklicht werden konnte, eine neue Epoche in der Geschichte Siziliens ein-
DionJlsios I.: Historische Beurteilung
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geleitet und als Idee bis in die Zeit der römischen Eroberung fortgewirkt hat, ist unbestreitbar. Aber war des Dionysios Herrschaft, von Zeitgenossen mit dem Perserreich verglichen, von Diodor als die größte Dynasteia in Europa bezeichnet, in Wahrheit mehr als ein ephemeres Gebilde, dessen ehrgeiziger und gewalt tätiger Schöpfer im Genuß der Macht seine höchste Befriedigung fand? War sie nach Art und Struktur dazu angetan, den Griechen Siziliens und womöglich auch Unteritaliens die politische Form zu geben, in der sie gedeihen und gegenüber der barbarischen Umwelt sich behaupten konnten ? Daß der Tyrann selbst vornehmlich dieses große, überpersönliche Ziel im Auge gehabt hat, ist angesichts seines nur propagandistischen Aufgreifens panhellenischer Ideen und nach allem, was wir von seinen Taten und Absichten wissen, schwer zu glauben. Doch vielleicht schuf er durch die elementare Kraft seines egoistischen Machtstrebens, ohne es bewußt zu wollen, eine für die Erhaltung des Westgriechentums notwendige Ordnung ? War es doch einst die Tyrannis Gelons gewesen und sollte später diejenige des Agathokles sein, welche den Karthagern Halt gebot. So sehr man auch geneigt sein mag, diese Frage zu bejahen, wiewohl Timoleon gezeigt hat, daß unter Um ständen die Abwehr der Punier ohne Tyrannis durch einen bundesgenössischen Zusammenschluß der Griechenstädte zu leisten war, es darf nicht verkannt wer den, daß die territoriale Monarchie des Dionysios mit ihrer Vergewaltigung und Aufhebung hellenischer Gemeinwesen zwar von seiner außerordentlichen Persön lichkeit behauptet werden konnte und jene außenpolitischen Aufgaben erfüllte, daß sie aber durch die Mißachtung der Polisautonomie sich selbst der Basis be raubte, die ihr Bestand hätte geben können. Denn ungestraft ließ sich für die Dauer der gemeindestaatliche Sinn nicht niedertreten. Er mochte in Syrakus durch den materiellen Aufschwung, den die Stadt als Residenz des Tyrannen nahm, eine Zeitlang betäubt werden, in den untertänigen Städten erstickt scheinen, auf lange Sicht war er in einem politischen Gebilde, das Hellenen zu einer Einheit zusammenschloß, nicht zu entbehren. Für die Verfechter des monarchischen und panhellenischen Gedankens, im besonderen für Isokrates, war denn auch die Bei behaltung stadtstaatlicher Autonomie und Freiheit selbstverständlich. Noch die hellenistischen Könige haben dem nach Möglichkeit Rechnung getragen, obgleich ihr Standort ein viel festerer war als der des sizilischen Machthabers. Wohl scheinen auf den ersten Blick die Errichtung einer weitgespannten Territorialherr schaft, der Absolutismus des Regimentes, Residenz, Rat der «Freunde» und Hof gesellschaft Dionysios als vorläufer jener Könige zu erweisen, doch gewichtiger als solche Ähnlichkeiten ist der grundsätzliche Unterschied der Position und da mit auch des Charakters der Herrschaft. Die großen hellenistischen Reiche er wuchsen nicht vom Boden der Polis aus, noch wurden sie vom Bürger einer Polis ins Leben gerufen. Polisfremde, monarchisch gesinnte Makedonen waren ihre
Sizilien und Unteritalien
Gründer und Träger, die Untertanen großenteils keine Griechen, sondern an fürstliche Autokratie gewöhnte Völker, und soweit Griechenstädte in diesen Rei chen bestanden oder angelegt wurden, erfuhren sie eine viel rücksichtsvollere Be handlung, als der Gebieter im Westen sie den ihm untertänigen hellenischen Ge meinwesen zuteil werden ließ. Das Fehlen jeder traditionellen Basis und aller überpersönlichen, dauerhaften Elemente brachte die von ihm geschaffene Zwangs organisation um die Möglichkeit des Fortbestehens oder gar der Weiterentwick lung über die Lebenszeit des Herrschers und die Jahre seines unmittelbaren Nach wirkens hinaus. Auf Söldner gestützt, getragen vorn dämonischen Machtwillen eines sich über Staatsgesinnung, Herkommen und Verfassung hinwegsetzenden Gewaltmenschen, war und blieb sie trotz allem Bemühen um eine Art von gei stiger Legitimierung vergängliche Tyrannis, wie auch Dionysios selbst Tyrann war und blieb, freilich der größte unter den vielen, die in der griechischen Welt aufgestanden sind. Im Frühjahr 367 ist Dionysios eines natürlichen Todes gestorben. Als er von der tödlichen Krankheit befallen wurde, hat Dion vergeblich versucht, von ihm eine die Söhne der Aristomache berücksichtigende Regelung der Nachfolge in der Tyrannis zu erreichen, durch die ihm als künftigem Vormund der noch nicht er wachsenen Neffen zum mindesten eine selbständige Stellung neben dem jüngeren Dionysios, dem Sohn der Lokrerin Doris, zugefallen wäre. Dieser, vorn Vater allein zur Nachfolge bestimmt, ließ dem Verstorbenen einen prächtigen Scheiter haufen errichten und die Asche mit allem Prunk am «Königstor» der Inselburg beisetzen.
I r . D I O N Y S I O S I r. U N D G L E I C H Z E I T I G E TYR A N N E N
1.
D I O NYS I O S
11.
BIS
ZU S EINEM
STURZ DURCH
DION
Der übergang der Herrschaft auf den damals etwa dreißigjährigen ältesten Sohn, den die Lokrerin Doris geboren hatte, vollzog sich ohne Schwierigkeiten, zumal da die Söhne der Aristomache noch nicht erwachsen waren und die Söldner sich für den jüngeren Dionysios erklärten. Er stellte sich der Volksversammlung vor und bat um das seinem Vater bezeigte Wohlwollen. Daß ihm das Amt des Stra tegos autokrator übertragen wurde, ist nicht überliefert und nach Lage der Dinge kaum anzunehmen. Denn während der letzten Jahrzehnte hatte die Tyrannis des älteren Dionysios die freilich niemals aufgegebene Amtsstellung dermaßen überdeckt, daß der Sohn das Bürgeraufgebot ohne vorherigen Volksbeschluß in einen Krieg führen konnte, wozu er als bevollmächtigter Stratege nicht befugt
Dionysios 11.: Anfänge
gewesen wäre. Es scheint, daß dagegen kein Widerspruch laut wurde und sowohl die Masse der Syrakusaner wie auch die Besitzenden sich mit dem Fortbestehen der nun schon ein Menschenalter währenden Tyrannis abfanden. Sofern der neue Gewalthaber bei Übernahme des Regimentes überhaupt bedroht wurde, könnte dies höchstens von seiten seines Bruders Hermokritos geschehen sein, den er viel leicht damals beseitigen ließ. Dagegen sah er zunächst keinen Anlaß, Dion, dem Oheim seiner Stiefgeschwister, den der große Dionysios mit wichtigen Aufgaben betraut hatte, argwöhnisch zu begegnen, mochte dieser sich auch jüngst um die Belange der Kinder der Aristomache bemüht haben. Im Gegenteil, er lieh den Reformgedanken des um zehn Jahre älteren, seit 3 8 8 für Platon und dessen Ideen begeisterten Mannes, der als Gemahl der Arete sein Schwager war, sein Ohr und ließ sich bis zu einem gewissen Grade von ihm leiten. Wohl nicht nur, weil er, der von seinem Vater auf den künftigen Herrscherberuf nicht vorbereitet wor den war, Anlehnung an eine erfahrene Persönlichkeit suchte, sondern anscheinend auch in der Einsicht, daß ihm für ein Fortschreiten auf der Bahn des Vaters dessen rücksichtslose Tatkraft fehlte und die Herrschaft am ehesten zu behaupten sei, wenn die Härten der Tyrannis gemildert würden. Jedenfalls eröffnete er seine Regierung mit einigen Akten, die den Eindruck erwecken konnten, es beginne eine neue, freiheitlichere Ära. Die Kriegssteuer wurde trotz der latenten Fortdauer des Karthagerkrieges für drei Jahre erlassen, dreitausend Gefangene, angeblich Steuer schuldner, erhielten die Freiheit. Taktische Erwägungen und das Streben nach dem Ruhm der Großherzigkeit, den sein Vater nie begehrt hatte, mögen im Spiele ge wesen sein. Daß Dionysios jedoch ernsthaft an eine Änderung der Herrschafts fonn dachte, zeigt die Einladung, die er bereits im Winter 367/6 auf Dions Drän gen an Platon ergehen ließ, und die Aufgeschlossenheit gegenüber den politischen Ideen des Philosophen. Wir wissen durch Platon selbst, was ihn bewog, dem Ruf des Tyrannen zu folgen. Daß Dion ihm in einem Brief den Lerneifer des jungen Herrschers, sein starkes Verlangen nach philosophischer Bildung schilderte und ihm die einzig artige Möglichkeit vor Augen stellte, durch einen mächtigen Fürsten die eigenen staatstheoretischen Gedanken in die Wirklichkeit umzusetzen, empfand er als einen Appell an die Ehre seiner selbst und der Philosophie, dem er sich nicht ent ziehen konnte, mochten ihm angesichts der Jugend des Dionysios auch Zweifel an dessen Beständigkeit kommen. Auch glaubte er, Dion, den Freund, nicht im Stich lassen zu dürfen, zumal da dieser darauf hinwies, daß Kräfte am Werke seien, die den Schwager von seinen guten Vorsätzen abbringen wollten. In der Tat hatte sich der Tyrann nicht dem Dion allein verschrieben, dessen doktrinäre Art ihm im übrigen manchmal lästig sein mochte, er hörte auch auf jene Männer seiner Umgebung, welche die Herrschaftsfonn des Vaters erhalten sehen wollten,
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und rief sogar von der Adriaküste philistos nach Syrakus zurück. Dieser, der trotz seinen Differenzen mit dem großen Dionysios ein überzeugter Verfechter der reinen Tyrannis geblieben war, suchte den Sohn davon zu überzeugen, daß Dion ein Komplott schmiede, um im Falle, daß Platons Einwirkung erfolglos bleibe, ihn zu stürzen und sich an seine Stelle zu setzen. Trotz gewisser Ver dachtsmomente ließ sich Dionysios jedoch nicht zu einem Ausschalten Dions bewegen, ja es scheint, daß ihm der scharfe Gegensatz der beiden Gruppen am Hof nicht unlieb war. Bald darauf traf platon ein (366) und wurde ehrenvoll empfangen. Unter dem Eindruck seiner Persönlichkeit soll Dionysios seinem ge nießerischen Lebenswandel, in dem er sich wenig rühmlich von seinem Vater unterschied, abgesagt und Aussprüche getan haben, die fast wie ein Ver-z:icht auf �Fortführung der Tyrannis klangen. Platon andererseits verl�ngte gemäß seinem Erziehungssystem zunächst keine praktischen politischen Maßnahmen. Ihm galt als erste Aufgabe, den Tyrannen zur Beherrschung seiner Gelüste und zu philosophischer Einsicht zu führen, und zwar auf dem Wege, den er auch sonst seinen Schülern wies. Mathematik, im besonderen Geometrie, sollte er treiben und um die wahre Erkenntnis ringen. Gelangte er durch solch schweres, entsagungs volles Bemühen zu echter Bildung, so würde er von sich aus anstelle der Ge waltherrschaft eine gesetzliche Ordnung errichten wollen, der Polis Syrakus die rechte Verfassung geben und die von seinem Vater zerstörten, aufgehobenen oder Söldnern überantworteten Städte wiedererstehen lassen. Daß Platon an dem Über eifer, mit dem Dionysios anfangs auf diesen Erziehungsplan einging, oder gar an der Beflissenheit, mit der damals Angehörige der Hofgesellschaft Mathematik trieben und geometrische Figuren in den Sand zeichneten, Gefallen gefunden hat, ist nicht anzunehmen. Immerhin konnte die geistige Aufgeschlossenheit und das philosophische Interesse des begabten, begeisterungsfähigen Fürsten ihn hoffen lassen, daß sein Wirken Früchte tragen werde. Man begreift, daß Philistos und seine Gesinnungsgenossen jetzt fürchteten, daß, wenn Dionysios auch die politischen Lehren platons annehme, Dion als dessen nächster Freund für die Zukunft maßgebend, wohl gar der eigentliche Machthaber werden würde. Hatte der Tyrann zuvor den gegen seinen Schwager erhobenen Anschuldigungen scheinbar keine Bedeutung beigemessen, so reagierte er anders, als ihm jetzt ein Brief Dions an die Karthager zugespielt wurde, in dem dieser ohne Wissen des Dionysios sie ersuchte, Verhandlungen nur durch ihn zu führen ; sie würden dann alles erreichen. Dionysios empfand das eigenmächtige, fast schon hochverräterische Vorgehen seines ihm 'ohnehin unbequemen Ver wandten als einen unerhörten Eingriff in seine Herrscherrechte und verwies ihn sofort aus Sizilien. Wenn die Bestrafung bemerkenswert milde ausfiel - Dion blieb sogar im Besitz des großen Vermögens, das er sich unter dem älteren Diony-
Dionysios II. und Platon
sios erworben hatte -, so dürfte dafür nicht zuletzt die Rücksicht auf Platon be stimmend gewesen sein. Denn obgleich er nunmehr auch diesen nicht ohne Miß trauen betrachten mochte und ihn, wohl vorsichtshalber, in der Tyrannenburg Wohnung nehmen ließ, warb er weiter um seine Freundschaft mit einer eifersüch tigen Liebe, die es nicht ertragen konnte, daß der bewunderte Mann sichtlich Dion den Vorzug gab und auf seine Rückberufung drängte. Um Platon nicht zu verlieren, schien er selbst in diesem heiklen Punkt nachgeben zu wollen. Der da mals wiederauflebende Karthagerkrieg nötigte ihn jedoch, Syrakus für längere Zeit zu verlassen. Inzwischen sollte Platon, der wiederholt um seine Entlassung gebeten hatte, zumal da seit Dions Entfernung der geistige Verkehr mit Dionysios unfruchtbar geworden war, nach Athen zurückkehren, später aber, wenn der Ty rann seine Herrschaft gefestigt hätte, zusammen mit Dion, der die zeitweilige Verbannung nicht schwerzunehmen brauche, wiederkommen. Durch diese Zu sage sah der Philosoph offenbar das gute Verhältnis als wiederhergestellt an ; er vermittelte auf der Heimreise freundschaftliche Beziehungen zwischen dem Pythagoreer Archytas, dem führenden Staatsmann in Tarent, und Dionysios, blieb mit dem letzteren allem Anschein nach von Athen aus in brieflicher Ver bindung und empfing gelegentlich von ihm Zuwendungen, durch die der Tyrann zu erkennen geben wollte, wie sehr er ihn weiter als seinen Freund betrachtete. üb Dionysios jemals daran gedacht hat, Dion, von dem er seit jenem Brief an die Karthager überzeugt war, daß er ihn verdrängen wolle, die Rückkehr nach Syra kus zu gestatten, darf man bezweifeln. Sollte er bei Platons Abreise dazu geneigt gewesen sein, so wird die Gruppe um Philistos in der Folgezeit alles getan haben, ihn von dieser Absicht abzubringen. Auch war das fürstliche Auftreten des Schwa gers in Hellas, wohin er beträchtliche Schätze hatte mitnehmen können und lau fend die Zinsen seines Vermögens nachgesandt erhielt, wenig dazu angetan, den einmal gefaßten Argwohn zu bannen. Denn Dion verstand es, in Korinth, das soeben der Gefahr einer Tyrannis entgangen war, für sich und seine Sache Sym pathien zu erwerben, desgleichen in Sparta, wo man ihm sogar das Bürgerrecht verlieh. In Athen, das er nach Platons Rückkehr häufig aufgesucht zu haben scheint, lebte er im Kreise der Akademie unter gleichgesinnten Männern, von denen im besonderen Platons Neffe Speusippos und Kallippos ihm nahe traten. Etwaigen Konspirationen, die sich dort gegen den Tyrannen bilden konnten, ließ sich am ehesten begegnen, wenn es gelang, den Meister selbst noch einmal nach Syrakus zu ziehen. Die Verschlagenheit, die Dionysios eigen war, legt den Gedan ken nahe, daß Platon ihm als eine Art von Geisel dienen sollte, doch war da neben und wohl in erster Linie das Verlangen maßgebend, den bewunderten und eifersüchtig geliebten Philosophen wieder in seiner Nähe zu haben. Es spricht für den Ernst von Dionysios' geistigen Interessen, daß ihm der Umgang mit dem
Sizilien und Unteritalien
schmiegsamen Aristippos und anderen Weisheitslehrern offenbar nicht genügte, obwohl er ihnen gegenüber sich mit platonischen Gedanken aufspielen und seine Eitelkeit, selbst als Philosoph gelten zu wollen, befriedigen konnte. Dementspre chend lauteten auch die Nachrichten aus Sizilien, die in der Akademie eintrafen, als der Tyrann im Winter 3 6211 seine Einladung an Platon ergehen ließ. Der Karthagerkrieg war inzwischen durch einen Friedensschluß beendet worden ; es hätte nun also gemäß der einstigen Absprache Dion die Heimkehr erlaubt werden sollen. Dies geschah jedoch nicht. Dionysios stellte nur in Aussicht, daß er in Jahresfrist zurückkehren dürfe. Als Platon mit Hinweis auf jene Vereinbarung und auch auf sein Alter - er zählte jetzt 65 Jahre - den Ruf des Tyrannen trotz dringender Vorstellungen Dions ablehnte, wiederholte Dionysios im Frühjahr 3 61 seine Bitte und sandte für sichere und bequeme Überfahrt eine Triere nach Athen. Jetzt entschloß sich der Philosoph, wenn auch schweren Herzens, zu kom men. Dabei bestimmten ihn weniger neue Nachrichten, die der ihm befreundete, in Syrakus ansässige Pythagoreer Archedemos über den wirklich starken philo sophischen Eifer des Fürsten überbrachte, oder ein mahnender Brief des Archytas, der das von Platon hergestellte gute Verhältnis zwischen Tarent und dem sizi lischen Herrscher bei nochmaliger Ablehnung der Einladung gefährdet sah, als die Rücksicht auf Dion, der ihn zusammen mit anderen Mitgliedern der Akademie wiederum heftig bedrängte. Schrieb doch Dionysios, bei Platons Kommen würden Dions Angelegenheiten befriedigend geregelt werden, im anderen Falle sei der gleichen nicht zu erwarten. Platon scheint die Gefährlichkeit der Lage, in die er sich begab, empfunden und für den Notfall sich der Hilfe der Tarentiner versichert zu haben. Immerhin folgte er der Einladung, die fast schon eine Nötigung war, und fuhr in Begleitung des Speusippos, Xenokrates und anderer Freunde nach Syrakus. Von Dionysios mit Ehren empfangen und vertrauensvoll behandelt, fand er zunächst die Meldungen über den philosophischen Eifer des Tyrannen bestätigt. Bei einem in die Tiefe gehenden Gespräch mit ihm gewann er jedoch die Über zeugung, daß Dionysios weder fähig noch willens sei, die Mühe einer ernsthaften Beschäftigung mit den wesentlichen philosophischen Fragen auf sich zu nehmen, sondern sich mit der bloßen Reproduktion halbverstandener Gedanken des Mei sters begnüge. Diese philosophische Unterredung blieb die einzige, die geführt wurde, und auch von politischen Reformen scheint fortan nicht mehr gesprochen worden zu sein. Dagegen traten nun die Angelegenheiten Dions in den Vorder grund. Nach Platons eigenem Bericht hätte Dionysios plötzlich die Vermögens verwalter Dions angewiesen, die Zinsen nicht mehr in die Peloponnes zu senden, da sie dessen Sohn zuständen, für den er selbst die Vormundschaft führe. Ist es schon an sich schwer glaublich, daß der nach platons Freundschaft verlangende
Dionysios H.: Zweiter Aufenthalt Platons
Tyrann dies ohne besonderen Grund getan hätte, so zeigt der Vorschlag, den er nach einigen Monaten, in denen er den erbitterten und auf baldiger Heimreise be stehenden Philosophen nur mit List und sanfter Gewalt in Syrakus halten konnte, machte, daß Umtriebe Dions in Hellas jene Maßnahme hervorgerufen hatten. Um den leidigen Streitpunkt aus der Welt zu schaffen, erklärte er sich nämlich bereit, Dion sein Vermögen in die Peloponnes zuzustellen, wo er die Zinsen ohne weiteres abheben, das Kapital aber nur mit Zustimmung Platons und seiner Freunde angreifen dürfe. Ja, er könne sogar nach Syrakus zurückkehren, wenn seine dortigen Freunde sowie Platon und dessen Anhang dafür bürgten, daß er nichts gegen Dionysios unternehme. Der Tyrann wollte sich also vor Dion sichern und dessen Umtriebe, vor allem wohl Söldnerwerbungen, nicht auch noch selbst finan zieren. Platon, der in der Burg wohnte und keine Möglichkeit der Abreise sah, auch nicht über Dions Kopf hinweg das Angebot ablehnen wollte, erklärte sich einverstanden, sofern bis zum Eintreffen von Dions Antwort keine Änderung vorgenommen werde, und blieb, zumal da der Winter vor der Tür stand, weiter hin in Syrakus. Dionysios jedoch, des Verbleibens platons nun sicher, machte, noch ehe Dion sich geäußert hatte, einen neuen Vorschlag : Da die Hälfte der Gelder dem Sohne Dions zustände, sei es gerecht, wenn Platon bei seiner Abreise nur das halbe Vermögen mitgegeben werde. Dieser unterdrückte seine Empörung und verlangte nur, daß Dions Antwort abgewartet und ihm dann das neue Ansinnen mitgeteilt werde. Bald darauf, so bemerkt er kurz, hätte der Tyrann den ge samten Besitz leichtfertig verkauft. Der Grund für diese radikale Maßnahme dürfte darin zu suchen sein, daß Dio nysios von Umtrieben des Speusippos und anderer Begleiter Platons erfahren hatte, welche, wohl ohne Wissen des Meisters, den Grad der tyrannenfeindlichen Stimmung in Syrakus erkundeten. Auch glaubte er Beweise dafür zu haben, daß Platon selbst mit umstürzlerisch gesinnten, dem Dion nahestehenden Personen verkehre. Als platon sich gar für den mit Dion befreundeten Reiterführer Hera kleides, der bei einer Söldnerrevolte verdächtig und flüchtig geworden war, zusam men mit dem Oheim des Betroffenen verwandte, kam es zum völligen Bruch. Ein heftiger Wortwechsel zwischen dem Tyrannen und Platon hatte zur Folge, daß Dionysios seinen Gast aus dem Bereich der Burg verwies und, nachdem durch einen Besuch des Philosophen bei Herakleides' Oheim der Riß unheilbar gewor den war, es zuließ, daß Platon in einem Quartier Wohnung nehmen mußte, wo er sich durch die den Reformer hassenden Söldner bedroht sah. Bereits vorher hatte er sich als Gefangener gefühlt. Jetzt, da sein Leben gefährdet schien, wandte er sich an Archytas in Tarent mit der Bitte um Intervention, und der Freund ent täuschte ihn nicht. Auf seine Vorstellungen hin erklärte sich Dionysios bereit, Platon ziehen zu lassen, und versah ihn sogar mit dem nötigen Reisegeld. Die
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Trennung vollzog sich also in guten Formen (Frühjahr 360) . Von der Mitgabe eines Teiles von Dions Vermögen konnte freilich nicht mehr die Rede sein, denn mit seinem Schwager hatte der Tyrann völlig gebrochen. Ja, er vermählte dessen Gattin Arete, seine Stiefschwester, mit Timokrates, einem seiner «Freunde». Gleichwohl und trotz Dions Kriegsvorbereitungen während der nächsten Jahre rissen seine Beziehungen zu Platon, der in ihm weiterhin den Gastfreund sah, nicht ab. Er scheint sich noch in philosophischen Fragen an ihn gewandt und auch mit Speusippos, der vielleicht zunächst in Syrakus geblieben war, in einem, frei lich polemischen Briefwechsel gestanden zu haben. Im übrigen befanden sich in der Umgebung des Tyrannen nach wie vor gei stig bedeutende Männer : Wie lange Aristippos noch in Syrakus weilte, ist unge wiß, Aischines von Sphettos jedoch, der Verfasser vielbewunderter sokratischer Dialoge, blieb, obgleich er im Grunde wohl Dion zuneigte, bis zum Jahre 356, und auch die Anwesenheit des als «Dialektiker» bezeichneten Polyxenos, des Historikers Polykritos von Mende, der eine Geschichte Dionysios' 11. schrieb, des Tragikers Karkinos und des Kitharöden Stratonikos dürfte in die Zeit nach Pla tons Abreise gehören. Zudem betätigte sich der Herrscher selbst gleich seinem Va ter literarisch. Er dichtete Paiane, verfaßte eine Schrift über die Werke des Epichar mos und verbreitete sich über die Grundlehren der platonischen Philosophie, so wie er sie verstand. In alledem, auch schon in seinem Verkehr mit Platon, zeigt sich eine für Dionysios charakteristische Verbindung von echten geistigen Inter essen mit einer anspruchsvollen Eitelkeit, die sich im Glanz einer illustren Hof gesellschaft sonnte und nach Bewunderung verlangte. Es ist denn auch nicht zu bezweifeln, daß, wie bereits Theophrast berichtet, Schmeichler in besonderem Maße das Ohr des Tyrannen hatten. Sie bestärkten ihn in dem Gefühl, von Apollon besonders begünstigt, wohl gar ein Sohn des Gottes zu sein, dem zu Ehren er das wiedererstehende Rhegion «Phoibeia» nannte, und versagten sich seinen Ausschweifungen nicht. In der tyrannenfeindlichen Tradition sind diese gewiß übertrieben worden, aber die Neigung zum Trunk, durch die er sich angeb lich ein Augenleiden zuzog, steht außer Frage. Kein geringerer als Aristoteles meint, Dionysios habe dadurch, daß er dauernd betrunken war, die Achtung der Bürger verloren, und bemerkt, daß die geniale Art des Vaters bei ihm ins Tolle umgeschlagen sei. Es dürften daher auch Angaben anderer Autoren über seinen Tafelluxus, seine Lust an Weibern und Spiel bis zu einem gewissen Grade Glau ben verdienen. Unterschied er sich in diesen Zügen von dem großen Dionysios, mit dem der geringere, zu Bequemlichkeit neigende Sohn sich weder an Leistungs fähigkeit noch an Tatkraft vergleichen konnte, so hatte er mit dem Vater das so vielen Tyrannen eigene Mißtrauen gemein und stand ihm auch an Verschlagen heit nicht nach. Aber während bei jenem furchtbare Gewalttaten seiner vitalen
Dionysios II. : Ho/halt. Persönlichkeit. Herrschaft
Leidenschaft entsprangen oder kalt berechnet waren, konnte der jüngere Diony sios bösartig und von einer Grausamkeit sein, wie sie nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche erwächst. Wenn demgegenüber das Bild, das Platons Briefe zeigen, trotz Betonung der Eitelkeit, Unbeständigkeit und Unzuverlässigkeit doch nicht so negativ ist und die Lebensführung des Tyrannen keinen so scharfen Tadel findet, wie nach dem Gesagten zu erwarten wäre, so liegt der Gedanke nahe, daß Dionysios erst in späteren Jahren, wohl seit seiner Vertreibung aus Syrakus, seinen Gelüsten in der geschilderten Weise freien Lauf gelassen hat. Gegen ein früheres Absinken spricht sowohl die Tatsache, daß Platon ihm nach Dions Tod einen Platz in dem dreiköpfigen Fürstenkollegium zudachte, dessen Einsetzung er empfahl, wie auch das, was wir von seiner Regierung in der Zeit nach 360 er fahren. Platon, so soll Dionysios erklärt haben, hätte ihn durch die Forderung, er müsse sich zunächst die philosophischen Grundlagen aneignen, von der Verwirk lichung der politischen Reformgedanken abgehalten, womit er insofern nicht un recht hatte, als durch jenes Verlangen die erste Begeisterung des Tyrannen poli tisch ungenutzt geblieben war. Immerhin scheint dieser nunmehr von sich aus einiges getan zu haben, was nach einer Lockerung der Herrschaft des Vaters aus sieht. Die einstigen Bürger von Naxos, soweit sie noch lebten, durften sich 358 unter Andromachos, dem Vater des Geschichtsschreibers Timaios, hoch über ihrer alten Heimat in Tauromenion wieder als städtische Gemeinde niederlassen. Das von dem älteren Dionysios grausam zerstörte Rhegion ließ der Sohn unter dem Namen Phoibeia neu erstehen, sicherte es freilich durch eine Besatzung. Denn an der Machtstellung des Tyrannen und ihrer militärischen Grundlage änderte sich nichts, dafür sorgten schon Philistos und seine Gesinnungsgenossen. Noch um 357 sollen dem Dionysios :100 000 Fußsoldaten, :10 000 Reiter und 400 Kriegs schiffe zur Verfügung gestanden haben. Sicher bildeten einen erheblichen Teil der Truppen Söldner, von denen angeblich :10 000 zum Schutz des Gewalthabers in Syrakus stationiert waren. Schon der große Dionysios hatte mit den Miettruppen manche Schwierigkeiten gehabt; der Sohn konnte, als er eine Soldkürzung vor nehmen wollte, die meuternden Horden nur durch eine Erhöhung des Lohnes be schwichtigen. Aber trotz solcher Nachgiebigkeit, die sich auch in geringerer Dis ziplin, zumal bei der Ausbildung, äußerte, blieb die militärische Stärke Jahre hin durch so groß, daß der Bestand der Tyrannenherrschaft weder im Innern noch von außen ernsthaft in Frage gestellt wurde. Noch zu Beginn der fünfziger Jahre konn te der Tyrann als der mächtigste Fürst Europas erscheinen. Mit den Karthagern hatte der ältere Dionysios nicht lange vor seinem Tode einen Waffenstillstand geschlossen. Nachdem Verhandlungen ergebnislos ge blieben waren, entbrannte der Krieg von neuern, ohne jedoch einem der beiden
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Gegner wesentliche Erfolge zu bringen, so daß es um 364 zu einem Friedensschluß kam, in welchem vermutlich die um 3 74 vereinbarte Grenze der beiden Herr schaftsbereiche erneut festgelegt wurde. Eine völlige Verdrängung der Punier aus Sizilien scheint Dionysios, der kein Feldherr war, nie ins Auge gefaßt zu haben. Seine Außenpolitik war im wesentlichen defensiv. So beschränkte er sich in Unter italien darauf, die andrängenden Lukaner abzuwehren, und schloß auch hier, als dieses Ziel erreicht schien, Frieden (ewa 359). Wenn gleichwohl in der nächsten Zeit die Brettier einen Kampfbund bildeten und offensiv wurden, so lag das nicht an einem Versagen des Tyrannen, sondern an seiner Bedrängnis durch Dion, der jene Stämme aufwiegelte. Mit den freien Städten am Tarentinischen Golf scheint Dionysios in guten Beziehungen gestanden zu haben, vor allen, seit platons Ver mittlung, mit Tarent selbst. Gesandtschaften wurden ausgetauscht, Archytas, der sich gelegentlich in Syrakus aufhielt, konnte die Abreise Platons erwirken, und der sizilische Herrscher stiftete einen prächtigen Kandelaber für das Regierungs gebäude der Stadt. Im Einverständnis mit Tarent geschah es wohl auch, daß er in Apulien an der Adria zwei Städte anlegte. Von Beziehungen zum Mutterland ist nichts weiter bekannt, als daß Dionysios an der überkommenen Freundschaft mit Sparta festhielt, dem er in den ersten beiden Jahren seiner Regierung mili tärische Hilfe sandte. Ob er mit dem Perserkönig Kontakt aufnahm, ist der dürf tigen und unzuverlässigen überlieferung nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Zehn Jahre lang hat Dionysios, unterstützt von dem treuen und fähigen Phili stos, das Erbe seines Vaters zu behaupten vermocht, doch verlor es in dieser Zeit an Festigkeit und innerer Kraft. Es war wohl nicht so sehr die von Aristoteies hervorgehobene Verachtung der Syrakusaner für den genußsüchtigen, dem Trunk ergebenen Tyrannen, was seine Stellung allmählich untergrub, als das Fehlen eines starken herrscherlichen Impulses und der Eindruck der Schwäche, den sein Schwanken zwischen Entgegenkommen und Beharren auf den väterlichen Me thoden sowohl bei den Untertanen wie bei den Söldnern erweckte. Eine halbe Tyrannis mußte, wenn sie die «diamantenen Ketten» lockerte, den absoluten Herrschaftsanspruch aber dennoch aufrechterhielt, den vergewaltigten Freiheits drang entfesseln und das Verlangen nach Beseitigung des seiner selbst offenbar nicht mehr sicheren Regimentes erregen. Und dies um so mehr, als jeder Vergleich mit dem Vater den Sohn noch geringer erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Die Stimmung gegenüber dem epigonenhaften Gewalthaber verschlechterte sich so sehr, daß dieser sich genötigt sah, zu seiner Sicherheit die Bürgerschaft zu ent waffnen und mit Verbannungen, Verhaftungen und anderen Gewaltmaßnahmen vorzugehen. Nicht daß es zu spontanen Aufständen gekommen wäre. Aber als Dion, der seit dem Scheitern von platons Mission darangegangen war, einen militärischen Angriff auf die, wie er wußte, morsch gewordene Tyrannis vorzu-
Dionysios H.: Außenpolitik. Angriff Dions
bereiten, im Spätsommer 357 an der Südwestküste Siziliens mit einem nur 600 Mann zählenden Söldnerkorps landete und, vom karthagischen Befehlshaber in Minoa unterstützt, den Vormarsch auf Syrakus antrat, brach mit einem Schlag ein großer Teil der Herrschaft des Dionysios zusammen. Akragas, Gela, Kama rina machten sich frei. Von ihnen erhielt Dion Zuzug, desgleichen von Sikanern und Sikelern, die ebenfalls das Joch der Tyrannis abschüttelten. Ja selbst auf Mes sana und den italischen Besitz scheint die Aufstandsbewegung übergegriffen zu haben, und während Dion mit seinen inzwischen auf 2000 Mann angewachsenen Truppen sich Syrakus näherte, strömten ihm die Bauern aus den dortigen Land bezirken zu. Da der Platzkommandant, der mit Arete vermählte Timokrates, vor dem jetzt auch in der Stadt ausbrechenden Aufstand floh, konnte Dion ohne Schwertstreich in den festländischen Teil von Syrakus einziehen, vom Volk be geistert empfangen, das sich bereits an den Tyrannenfreunden vergriffen und alle Spitzel des Gewalthabers, deren man habhaft werden konnte, erschlagen hatte. Nur auf der Inselburg behauptete sich noch eine Besatzung des Dionysios. Dieser selbst weilte seit einiger Zeit fern von der Hauptstadt. Dions Kriegsvor bereitungen und die Zustimmung, welche diese im Kreise der Akademie, wenn auch nicht bei Platon selbst, fanden, waren ihm natürlich nicht verborgen ge blieben, und auf die Nachricht hin, daß die Abfahrt von Zakynthos aus bevor stehe, hatte er Gegenmaßnahmen getroffen. In der irrigen Annahme, daß der Geg ner auf dem üblichen Schiffahrtsweg entlang den Küsten heransegeln werde, hatte er philistos mit einem Geschwader an die akrokeraunischen Vorgebirge gesandt und selbst mit 80 Schiffen bei Kaulonia Stellung genommen. Durch Dions plötz liches Erscheinen auf der Insel völlig überrascht, strebte er nunmehr eilends Sy rakus zu, doch konnte er erst sieben Tage nach dessen Einzug in die Stadt auf Ortygia landen. Inzwischen hatte eine programmatische Erklärung Dions, nach der Syrakus und Sizilien frei sein sollten, ihre Wirkung getan. Zu den bereits abtrünnig gewordenen Städten gesellten sich jetzt nicht nur, wie es scheint, Tau romenion unter Andromachos, sondern auch Leontinoi, wiewohl dessen Bevölke rung aus alten Söldnern des großen Dionysios bestand. Fast der gesamte sizili sche Herrschaftsbereich mußte als verloren gelten. Und doch war die Lage des Tyrannen kaum schlechter als die seines Vaters im Jahre 396. Würde er sie wie dieser zu meistern vermögen? An Kraft und Zähigkeit stand er weit hinter ihm zurück, nicht jedoch an Verschlagenheit. Nachdem ein Versuch, mit Dion privat zu verhandeln, gescheitert, auch ein öffentliches Angebot, die ständige Kriegssteuer zu senken und die Bürger nicht gegen ihren Willen zum Kriegsdienst zu zwingen, von Dion, der auf Niederlegung der Tyrannis bestand, offiziell zu rückgewiesen war, erklärte Dionysios sich zu weiterem Entgegenkommen bereit, wobei er durchblicken ließ, daß er aus freiem Entschluß, jedoch nicht zugunsten
Sizilien und Unteritalien
Dions, der Herrschaft entsagen wolle. Aber während Abgesandte der Syrakusaner bei ihm weilten, ließ er seine Söldner in die Stadt einbrechen und hätte sie fast zurückgewonnen, wären nicht Dions Mannschaften schließlich der Angreifer Herr geworden. Nach diesem Mißerfolg suchte er noch wirksamer als bisher den «Be freier» als einen Mann zu entlarven, der letztlich nur die Errichtung der eigenen Tyrannis erstrebe. Wahrscheinlich war Dionysios davon überzeugt, daß dies das eigentliche Ziel seines Verwandten sei, auf jeden Fall aber konnte eine solche Diskreditierung sich günstig für ihn selbst auswirken. Durch Briefe von Frauen des Herrscherhauses und ein scheinbar von Dions Sohn Hipparinos, in Wahrheit aber von Dionysios selbst verfaßtes Schreiben sollte das ohnehin schon unsicher werdende Volk, das von Dion kategorisch die Verlesung des Schriftstückes ver langte, vollends an dem Manne irre gemacht werden, dessen herrische, undema gogische Art bereits wachsendes Mißtrauen erregte. Geschickt wurde von dem Ty rannen auf die großen, reichbelohnten Dienste hingewiesen, die Dion dem älte ren Dionysios geleistet habe, und er selbst aufgefordert, nicht das ihn hassende Volk zu befreien, sondern die Tyrannis zu übernehmen. Die Wirkung dieses raf finierten Schachzuges blieb nicht aus. ließ sich der erste Punkt doch nicht leugnen, und da Dion mit seinem Plan der Errichtung eines gesetzlichen Königtums und einer oligarchischen Ordnung im Sinne Platons noch nicht hervorgetreten war, der demokratischen Verfassung aber sichtlich keine Sympathien entgegenbrachte, konnte sich leicht die Meinung verbreiten, daß der Angehörige des Tyrannen hauses an die Stelle des bisherigen Gewalthabers treten wolle. In der Tat wurde die Menge nun noch argwöhnischer gegen Dion, doch gewann Dionysios dadurch vorerst keinen greifbaren Vorteil. Vielmehr verschlechterte sich seine Lage auf Ortygia durch die Ankunft des einst nach Hellas zu Dion entwichenen Hera kleides, der mit zwanzig Trieren sowie 1.600 Mann eintraf, und, zum Nauarchos bestellt, den Seekampf um die Inselburg aktivierte. Die Hoffnung des Tyrannen, durch Piratenfahrten die Verpflegung der Garnison zu gewährleisten, trog ebenso wie die Erwartung, daß der vor einiger Zeit heimgekehrte PhilistDS eine Wen dung herbeiführen werde. Dieser Vorkämpfer der Tyrannis ward nach einem vergeblichen Angriff auf das abtrünnige Leontinoi von Herakleides zur See ge schlagen, selbst gefangengenommen und vom syrakusanischen Pöbel in gräß licher Weise umgebracht. Neue Angebote des Dionysios, welche Dion der Volks versammlung vorlegte, wurden von dieser verworfen. Da also in Sizilien vorerst nichts zu erreichen war, andererseits in Italien die von Dion aufgewiegelten Lu kaner und Brettier immer gefährlicher wurden, hielt es der Tyrann für geraten, sich selbst dorthin zu begeben, Ortygia aber mit den besten Truppen seinem Sohne Apollokrates anzuvertrauen und ihn aus der Ferne zu unterstützen. Die Spannung zwischen Dion und dem syrakusanischen Demos berechtigte ihn zu der Hoffnung,
Dionysios II. : Kampf mit Dio71. Verlust VOll Syrakus
daß die weitere Entwicklung doch noch eine Wiedergewinnung der Stadt und viel leicht sogar der sizilischen Herrschaft möglich machen werde. Es gelang Dionysios, unbemerkt auszufahren und mit seinen Schätzen sowie dem fürstlichen Hausrat nach Italien zu entkommen. Was er gehofft hatte, schien sich zu erfüllen. Dion entzweite sich völlig mit dem Demos, der von Herakleides gegen ihn aufgestachelt wurde, und zog mit seinen Söldnern nach Leontinoi ab, während Apollokrates durch ein von Diony si os unter dem Neapolitaner Nypsios gesandtes Geschwader, das unter schweren Verlusten zur Tyrannenburg gelangte, Proviant und Verstärkung erhielt. Und vollends als bald darauf die Söldner aus der Feste verheerend in die Stadt ein brachen, ohne organisierten Widerstand zu finden, war Syrakus nahe daran, wie der in Dionysios' Hand zu fallen, doch gelang es dem in aller Eile aus Leontinoi herbeigerufenen Dion, militärisch die frühere Lage wiederherzustellen. Aber der rasch wiederaufflammende Zwist zwischen Dion einerseits, Herakleides und der städtischen Menge andrerseits ließ die Situation auf Sizilien für den Tyrannen noch immer nicht als aussichtslos erscheinen, um so weniger, als aus dem ver bündeten Sparta ein Hilfskorps unter Pharax bei ihm eintraf. Dieser soll zwischen Dionysios und dem mit der Flotte vor Messana liegenden Herakleides, der ohne Zustimmung Dions handelte, einen Vertrag vermittelt haben, dessen Inhalt ge wesen sein dürfte, daß der Tyrann auf ganz Syrakus verzichtete, aber zur Wieder gewinnung anderer Städte auf Sizilien freie Hand erhielt. Messana und Katane mögen ihm daraufhin wieder zugefallen sein. Pharax selbst und anscheinend auch Offiziere des Dionysios operierten in der Folgezeit bei Akragas, wo Herakleides, der inzwischen nach Syrakus zurückgekehrt war, den mit dem syrakusanischen Aufgebot anrückenden Dion gegen dessen Willen zur Schlacht mit jenen nö tigte, die mit seiner Niederlage endete. Dionysios jedoch hatte davon offenbar keinen Vorteil, da sein Bundesgenosse, mehr Condottiere als spartanischer Offi zier, in der Folgezeit selbständig schaltete und, während er sich als Bringer der Freiheit aufspielte, in Wahrheit sizilische Städte vergewaltigte. In Sparta hat man die Entsendung dieses Mannes, der mit Dion überhaupt nicht in Verbindung ge treten war, ihn vielmehr bekämpfte, offenbar als Mißgriff angesehen und nun mrhr eindeutig den «Ehrenspartiaten» Dion unterstützt, dem ein gewisser Gai sylos zu Hilfe geschickt wurde mit dem Auftrag, gegebenenfalls die militärische Führung zu übernehmen. Da Dion letzteres ablehnte, beschränkte sich der Spar taner darauf, den Zwist zwischen ihm und Herakleides beizulegen. Dionysios aber sah seine Hoffnung auf den Widerstreit im gegnerischen Lager schwinden; Dion konnte sich nun auf die Belagerung von Ortygia konzentrieren, wo die Lebens mittelknappheit immer größer wurde. Es scheint, daß der Tyrann resignierte und sein Einverständnis dazu gab, daß Apollokrates gegen Zusicherung freien Ab-
Sizilien und Unteritalien
zuges die Burg samt ihrem Inhalt Dion überließ und mit fünf Schiffen zu seinem Vater nach Italien segelte (355) . Mochten auch einige Städte Siziliens und Unter italiens noch dem Dionysios untertänig sein, das von seinem Vater errichtete Herrschaftsgebäude mit dem Zentrum Syrakus war zusammengebrochen. 2. S I Z I L I S C H E
TYRAN N E N
UM
D I E J A H R H U N D E RT M ITT E
Eine Schilderung von Dions weiterem Wirken und tragischem Scheitern gehört nicht in eine Geschichte der Tyrannis. Denn mochten seine Gegner ihn, der dem Tyrannenhaus angehörte und sich das einst dem älteren Dionysios zuerkannte Amt des Strategos autokrator übertragen ließ, der sich ferner auf Söldner stützte, durch eine Leibwache sicherte, die Tyrannenfeste nicht niederriß und in seiner herrischen Art den Vorstellungen vom Befreier wenig entsprach, als Tyrann hin stellen, als einen nüchternen, der an die Stelle eines trunkenen getreten sei, es läßt sich mit Sicherheit sagen, daß Dion eine gesetzlose Gewaltherrschaft nicht erstrebt hat. Wie immer er sich die Gestaltung des syrakusanischen Gemeinwesens dachte, in dem er ohne Zweifel eine leitende Stellung einnehmen wollte, seine Position sollte verfassungsmäßig festgelegt sein. Jene tyrannisch wirkenden Züge aber waren zu einem guten Teil durch die Notwendigkeit bedingt, die im Kampf gegen Dionysios gewonnene Macht nicht aus der Hand zu geben, bis das Gesetzgebungs werk durchgeführt war. Daß es nicht dazu kam, lag neben manchen persönlichen und sachlichen Momenten am utopischen Charakter des Reformplans, der auch die oligarchischen Kreise dem Dion entfremdete, so daß er, der vom Demos so wenig wissen wollte wie dieser von ihm und die Forderungen seiner Söldner nicht mehr befriedigen konnte, schließlich in ohnmächtiger Isoliertheit dastand. Im Grunde war er schon gescheitert, noch bevor der Athener Kallippos, der einst dem Kreise der Akademie angehört und an Dions Feldzug nach Sizilien in bevor zugter Stellung teilgenommen hatte, ihn ermorden ließ (354) . Nicht weil auch er Dion für einen Tyrannen gehalten hätte, sondern ange sichts des zunehmenden Chaos in Syrakus, dessen der doktrinäre Reformer nid1t Herr zu werden vermomte, hat Kallippos die Tat begangen. Daß zugleich persön licher Ehrgeiz, der Wunsch, im syrakusanischen Gemeinwesen, dessen Bürger recht er möglicherweise erhielt, die leitende Stellung einzunehmen, ihn dazu trieb, braucht deshalb nicht geleugnet zu werden. Vom Demos, für den Dion zuletzt ein Tyrann gewesen war, gefeiert, meldete er das Geschehene stolz dem Volk von Athen, wo man ihn ebenfalls als Befreier gepriesen zu haben scheint. Dions Söld ner, die er schon vorher insgeheim an sich gezogen hatte, und die Gunst der Menge machten ihn für ein Jahr zum leitenden Mann der Polis, die er nam allem, was sich erkennen läßt, nicht tyrannisch vergewaltigte. Begreiflich, daß die An-
Kleinere Tyrannen auf Sizilien
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hänger Dions und wohl auch die Oligarchen ihn, der sich auf den Demos stützte, bekämpften, allen voran Hipparinos und Nysaios, die Söhne des älteren Diony sios und der Aristomache, Dions Schwester, doch mußten sie aus der Stadt wei chen und in dem Dion ergebenen Leontinoi Zuflucht suchen, während Aristo mache und Dions Gemahlin Arete, die nach dessen Ermordung gefangengesetzt worden waren, weiter in Haft blieben. Kallippos fühlte sich seiner Stellung so sicher, daß er 353 auszog, nördlich gelegene Städte, die sich noch oder wieder unter Dionysios' Herrschaft befanden, zu befreien. Dies gelang bei Katane, miß glückte bei Messana, doch konnte aus dem gegenüberliegenden Rhegion die Besat zung des Tyrannen vertrieben werden. Indem er dieser Stadt und vermutlich auch Ka tane die Autonomie gab, zeigte Kallippos, daß ihm auch außerhalb von Syrakus die Errichtung einer tyrannischen Herrschaft fernlag. Seinem Wirken ist denn auch nicht durch einen Aufstand das Ende gesetzt worden. Vielmehr war es in Syrakus der aus Leontinoi heimkehrende Hipparinos, dem Kallippos' Abwesen heit die Möglichkeit gab, die Macht an sich zu reißen. Jenem scheinen dadurch die Mittel zur Bezahlung der Söldner gesperrt worden zu sein; seine Truppen meu terten in Rhegion, und zwei Offiziere, Leptines und Polyperchon, brachten ihn um (35211). Anders als Kallippos, obwohl wie dieser einst dem Kreis der Akademie nahe stehend und ein Freund Dions, strebte Leptines nach Macht und Stellung eines Tyrannen. Er nahm die Söldner in seinen Dienst, verließ mit ihnen Rhegion und erkämpfte sich auf Sizilien eine eigene Herrschaft über Apollonia, Engyon und einige andere Plätze an der mittleren Nordküste, wo er sich etwa acht Jahre be haupten konnte. Um dieselbe Zeit mag sich ein gewisser Hippon zum Herrn von Messana gemacht haben, während Katane dem Mamerlcos untertan wurde, einem Feldhauptmann campanischer Söldner, die seit Jahrzehnten auf der Insel immer zahlreicher geworden waren. Vermutlich etruskischer Herkunft, war er griechisch gebildet, verfaßte sogar, vielleicht durch das Vorbild des großen Dionysios an geregt, Gedichte und Tragödien, auf die er sich wie dieser viel zugute tat, ohne jedoch als Herr der Stadt die Art des rauhen und harten Kriegsmannes zu ver leugnen. Über Tauromenion gebot bereits seit 358 Andromachos, auch er ein Ty rann, selbst wenn er, wie sein Sohn Timaios später behauptete, kein krasses Ge waltregiment führte. Daß einige Plätze im Süden, vermutlich Akragas selbst, nach Dions Niederlage vor dieser Stadt mindestens zeitweise unter der Herrschaft des spartanischen Condottieren Pharax standen und von diesem viel zu leiden hatten, lassen vereinzelte Angaben mehr ahnen als erkennen. Nimmt man hinzu, daß die Sikelerstädte Kenturipe und Agyrion in der Folgezeit ebenfalls von Dy nasten regiert wurden, jene von Nikodemos, wohl dem gleichnamigen Sohn oder Enkel des Fürsten der neunziger Jahre, diese von ApolIoniades, einem Nachfolger
Sizilien und Unteritalien
des Agyris, so zeigt sich, daß der Sturz der Tyrannis des Dionysios durch Dion nicht nur eine Atomisierung des großen Machtgebildes, sondern statt allgemeiner Freiheit der Gemeinwesen vielmehr das Aufkommen oder auch Fortbestehen ty rannischer Stadtherrschaften zur Folge hatte. Das gilt im besonderen von Syrakus. Die Abwesenheit des Kallippos nutzend hatte Hipparinos von der Söldnersiedlung Leontinoi aus sich mit Miettruppen relativ leicht in den Besitz von Syrakus setzen können (352/1) . In seinem Ge folge kehrten die geflüchteten Dioneer zurück; Aristomache und Arete samt einem Knaben, den sie nach Dions Tod in der Haft geboren hatte, wurden befreit, um freilich nicht lange hernach auf der Fahrt in die Peloponnes umzukommen. Wenn jetzt die Freunde Dions im Sinne des Ermordeten sich von platon Rat hinsichtlich der Gestaltung des syrakusanischen Gemeinwesens erbaten, so dürfte es mit Wis sen und Willen des Hipparinos geschehen sein, der schon als Jüngling den Ge danken des Meisters zugänglich gewesen war. Er hatte also offenbar nicht die Absicht, es bei der tyrannenähnlichen Machtstellung, die er gewonnen hatte, zu belassen, sondern scheint sich als Nachfolger Dions gefühlt zu haben. Was der greise Philosoph vorschlug, erfahren wir von ihm selbst: Hipparinos sowie der gleichnamige, zur Unterscheidung aber auch Aretaios genannte Sohn Dions und, wenn er auf tyrannische Herrschaft verzichte, sogar Dionysios sollten gemein sam als legitime Könige an die Spitze des Staates treten, doch nicht im Besitze der eigentlichen Regierungsgewalt sein, die vielmehr einem, auch mit richter lichen Befugnissen ausgestatteten Kollegium von 35 Männern zu übertragen wäre. Vorgesehen wurde eine verfassungsgebende Kommission, in die freilich nur Männer gewählt werden dürften, die von Hipparinos und Dions Sohn zur Beilegung der Feindschaft mit Dionysios bestimmt wären. Zur Ausführung ist das Verfassungsprojekt, dessen Realisierung viele Schwierigkeiten entgegenstan den, nicht gekommen. Selbst Dions Anhänger mochten einsehen, daß besser als neue Experimente eine maßvolle Tyrannis sei. So blieb Hipparinos vorerst an der Macht, von deren Ausübung uns leider nichts bekannt ist. Schon 350 fand er, an geblich bei einem in Trunkenheit begangenen Scherz, den Tod. Sein Bruder Ny saios, der ihm ohne Schwierigkeit in der Tyrannis folgte, hat, obwohl einst für Platons Gedanken aufgeschlossen, an Reformen nicht mehr gedacht. Der boshafte Historiker Theopompos schildert ihn als einen Trinker, der zudem der Völlerei und jeder Art von Ausschweifungen ergeben gewesen wäre. Seinem kraftlosen Regiment, das sich in leerem Prunk gefiel, machte im Jahre 346 Dionysios ein Ende, indem er, anscheinend durch Verrat, mit seinen Söldnertruppen Syrakus zurückeroberte. Nysaios selbst kam dabei ums Leben. Während der zehn Jahre seit seiner Abfahrt von Ortygia hatte Dionysios vor nehmlich in dem verbündeten Lokroi gelebt, der Heimat seiner Mutter Doris, wo
Hipparinos. Nysaios. Dionysios II. in Unteritalien
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er bereitwillig aufgenommen worden war. Von dort hatte er seinem Sohn Apollo krates in Syrakus den Nypsios zu Hilfe gesandt und wohl auch gegen Luka ner und Brettier gekämpft. Auf Sizilien konnten seine Truppen, wie schon zu bemerken war, einige Städte behaupten oder zurückgewinnen, bis der zunächst für ihn wirkende Spartaner Pharax sich selbständig machte und Kallippos Katane befreite. üb Dionysios Messana, das Kallippos nicht nehmen konnte, behielt, ist fraglich; das wiedererstandene Rhegion jedenfalls ging ihm verloren und auch sonst mag der vom Vater überkommene Herrschaftsbereich in Unteritalien zu sammengeschrumpft sein. Es sind vermutlich diese Verluste gewesen, welche Dionysios veranlaßten, sich durch die Besetzung der Burg von Lokroi und Er richtung einer Tyrannis über die Stadt gleichsam eine neue Basis zu schaffen (35211) . Die über diesen schnöden Undank mit Recht erbitterte Bürgerschaft hat er während der folgenden Jahre durch ein brutales Regiment niedergehalten. Nach den wegen ihrer tyrannenfeindlichen Tendenz freilich nur beschränkt glaubwür digen Angaben antiker Autoren hätte er Frauen und Mädchen in scheußlicher Weise vergewaltigt, den Besitz der begüterten Lokrer konfisziert und sie selbst des Landes verwiesen oder getötet. Den Gedanken jedoch an eine Wiedergewin nung von Syrakus hat er wohl nie aufgegeben. Er ergriff daher ohne Rücksicht auf die Bedrohtheit seiner Herrschaft über Lokroi durch die ihn hassende Bür gerschaft die Möglichkeit, welche die Schwäche des Nysaios der Verwirklichung dieses Wunsches bot. Kaum jedoch war er fortgesegelt, da vertrieben die Lokrer seine Besatzung und stellten in weiteren schweren Kämpfen mit den Truppen des Tyrannen die Freiheit der Stadt wieder her. Alle Bitten des Dionysios und der sich für ihn verwendenden Tarentiner um Freigabe seiner Gemahlin und Kinder, die in Lokroi geblieben waren, hatten sie abgelehnt und sowohl an Sophrosyne wie an den beiden Töchtern des Tyrannen furchtbare Rache genommen. Auch der jüngere, kaum erwachsene Sohn wurde anscheinend umgebracht, während der ältere, Apollokrates, der zu seinem Vater zeitweise in Gegensatz gestanden hatte, in dessen Gefolge gegen Syrakus ausgefahren war. Mit Lokroi dürfte Dionysios alles verloren haben, was etwa sonst von der einstigen Herrschaft in Unteritalien bisher noch übriggeblieben war. In Sizilien aber war es allein Syrakus, über das er nach dem Sturz des Nysaios gebot. Im nahen Leontinoi hatte sich inzwischen Hiketas, einst ein Anhänger Dions, zum Tyrannen machen können. Auch von ihm zeichnet die tyrannenfeindliche überlieferung ein finsteres Bild, zu dem es nicht recht passen will, daß die Dioneer aus Syrakus vor Dionysios zu ihm flüch teten und ihm sogar die Führung im Kampf gegen den zurückgekehrten Gewalt haber antrugen im Vertrauen darauf, daß der alte Parteigänger Dions nach dem Siege in dessen Geist verfahren werde. An die Stelle der weitgespannten territorialen Tyrannis des großen Dionysios
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nh auf Sizilien war nun vollends eine vielzahl lokaler Tyranne errschaften getre von der in die ihnen vergewaltig wahrgenommen, Männern on v ils großente ten, ten Stadt nicht beheimatet waren. Sie konnten wohl versuchen, durch Plünde rungszüge bis an die Küsten Italiens sich die zur Behauptung ihrer Stellung not wendigen Mittel zu verschaffen, doch hätte keiner von ihnen vennocht, aus ei gener Kraft die Herren der anderen Städte zu verdrängen und noch einmal den Zusammenschluß des sizilischen Griechentums zu erzwingen. Diese Zersplitte rung, dazu die Entvölkerung und Verödung einst blühender Orte, die durch die neuen Tyrannen und ihre Söldnerhorden aufs Ganze gesehen eher verschlimmert als gebessert wurde, nahm den Hellenen der Insel die Möglichkeit und Kraft, den Karthagern geschlossen entgegenzutreten, wenn sie ihre einstigen Eroberungs pläne wiederaufgreifen sollten. Der Zerfall des Dionysios-Reiches mußte dazu ver locken, um so mehr, als sie damit rechnen konnten, daß manch einer der Tyrannen um der Erhaltung oder Erweiterung seiner Stadtherrschaft willen ihnen zuneigen, wo nicht gar sie herbeirufen würde. In der Tat suchte Hiketas gegen Dionysios Verbindung mit ihnen, während die zu ihm geflüchteten Syrakusaner sowohl ge gen Dionysios wie gegen die drohende Gefahr eines Vordringens der Punier von der Mutterstadt Korinth Hilfe erbaten, ein Schritt, den Hiketas in der Hoffnung, daß die Korinther sich versagen würden, zum Schein unterstützte. Als die tyran nenfeindlichen Korinther sich jedoch zur Hilfeleistung entschlossen, mußte er für seine Stellung in Leontinoi, vor allem aber für die von ihm erstrebte Herrschaft über Syrakus fürchten, die er mit Hilfe der Karthager glaubte gewinnen zu kön nen. Er schloß daher mit diesen ein Bündnis, riet dagegen den Korinthern von einer Expedition nach Sizilien ab, bei der sie sich der überlegenen Seemacht der Punier gegenübersehen würden. Auf die Nachricht, daß trotz dieser Warnung der Korinther Timoleon mit einem Geschwader ausgefahren sei und sich der Insel nähere, glaubte Hiketas rasch handeln zu müssen. Während er die Karthager auf forderte, an der Meerenge von Messana dem Timoleon entgegenzutreten, führte er mit den bei ihm befindlichen Syrakusanern und seinen sonstigen Streitkräften einen Angriff auf Syrakus, in das er jedoch nicht einzudringen vennochte. Erst als er, bereits auf dem Rückzug nach Leontinoi begriffen, den ihn verfolgenden Dio nysios geschlagen hatte, konnte er den festländischen Teil der Stadt gewinnen, nicht aber Ortygia, wo der Gegner sich weiter hielt. Die Lage ähnelte jetzt um so mehr derjenigen zur Zeit Dions, als Hiketas, solange er die Syrakusaner zum Kampf um die Inselburg benötigte, nicht daran denken konnte, seine wahren Ziele bekanntzugeben, sondern sich als Bringer der Freiheit gebärden mußte (345). Inzwischen war Timoleon, zum Kampf gegen die Punier und die Tyrannen aus gesandt, bis Rhegion vorgedrungen, wo er ein karthagisches Geschwader antraf, dessen Führer ihn zur Heimkehr zu bewegen suchten. Auch Gesandte des Hiketas
Hiketas. Dionysios' 11. Sturz und Ende
erschienen dort und erklärten, daß ihr Herr, der sich natürlich auch dem Korinther gegenüber als Freiheitskämpfer ausgab, diesen persönlich gern als Berater bei sich sehen werde, ihm aber die Rücksendung seiner Streitkräfte nahelege, da der Kampf gegen Dionysios fast schon entschieden sei. Doch Timoleon ließ sich weder täu schen noch aufhalten. Mit seinen zehn Schiffen entging er geschickt den Puniern und landete bei Tauromenion, dessen Tyrann Andromachos sich ihm anschloß. Jetzt mußte Hiketas Farbe bekennen und tat es, indem er ein karthagisches Flot tenkontingent herbeirief und auf das Hilfegesuch eines Teiles der Bevölkerung des südwestlich vom Ätna gelegenen Adranon gegen Timoleon ins Feld zog. Die sem aber gelang es, obwohl er nur über geringe Streitkräfte verfügte und bei den so oft durch Freiheitsparolen künftiger Machthaber betrogenen Bürgern der Grie chenstädte bisher kaum Anklang gefunden hatte, den fragwürdigen Nebenbuhler im Befreiungskampf zu besiegen und dadurch dessen Stellung in Syrakus so zu schwächen, daß Hiketas auf eine baldige Gewinnung der Tyrannis über die ganze Stadt vorerst nicht hoffen konnte (345/44) . Seine Chancen in dieser Hinsicht ver schlechterten sich weiter dadurch, daß Timoleon, der aus taktischen Gründen zu nächst auch mit willfährigen Tyrannen zusammenging, nicht nur Mamerkos von Katane als Bundesgenossen gewann, sondern auch überraschend schnell in den Besitz von Ortygia gelangte. Dionysios nämlich, der sich jetzt von drei Feinden, Hiketas, dem karthagischen Geschwader und dem in Eilmärschen heranrückenden Timoleon, bedroht sah, trat in Verhandlungen mit dem Korinther, die dazu führ ten, daß diesem die Inselburg samt dem reichen Kriegsmaterial und 2000 Söld nern übergeben wurde. Das Kommando übernahmen an der Spitze von 400 Mann zwei korinthische Offiziere, während Dionysios selbst mit einigen Vertrauten sich unter Mitnahme seiner Gelder in Timoleons Lager bei Katane begab. Er wurde von diesem ins Exil nach Korinth geschickt (344) . Dort hat der gestürzte Tyrann unangefochten noch längere Zeit als Privatmann gelebt und im Jahre 337 anscheinend eine Begegnung mit König Philipp gehabt, dessen Interesse der Mann erregen mochte, der einst die größte Macht im grie chischen Bereich besessen hatte. Sein Sturz aus herrscherlicher Höhe erschien Zeit genossen wie Späteren als ein echtes Tyrannenschicksal, und man wurde nicht müde, die Jämmerlichkeit seiner Existenz in Korinth auszumalen. Bald ließ man ihn mit niederem Volk in Schenken zechen oder Sängerinnen unterweisen, bald sollte er als Schulmeister sich betätigt haben oder Bettelmönch der Großen Mutter geworden sein. In Wahrheit lebte er wohl in bescheidenen Verhältnissen weniger seinen Gelüsten als der Beschäftigung mit geistigen Dingen, im besonderen mit der Philosophie, von der er, wie es scheint, nie gelassen hatte. Mit Speusippos versöhnte er sich nicht, sondern verglich ihn zu seinem Nachteil mit Platon, dem er offenbar ein gutes Andenken bewahrte. Zu anderen bedeutenden Geistern der
Sizilien und Unteritalien
Zeit stand er in Beziehung, so zu dem Aristotelesschüler Aristoxenos, dem er die Geschichte von Damon und Phintias erzählt haben soll. Daß er der allgemeinen Verachtung anheimgefallen sei, ist gewiß übertrieben, wie denn das Bild des jüngeren Dionysios von der überlieferung, mit Ausnahme Platons, tendenziös entstellt worden ist. Sind auch seine Schwächen und Laster nicht zu leugnen, so besaß er doch einen sprühenden Geist, lebendiges Interesse für die großen Lebens fragen, Neigung zur Poesie und manche menschlich sympathische Eigenschaften. Auch als Politiker und Herrscher ist er offenbar nicht so minderwertig gewesen, wie die tyrannenfeindliche Tradition glauben machen will. Verglichen mit den anarchischen Zuständen und der Zersplitterung des sizilischen Griechentums nach seinem Sturz durch Dion ist das Jahrzehnt seines außenpolitisch bewahrenden, im Inneren nicht allzu drückenden Regimentes fast eine glückliche Zeit zu nennen. Aus eigener Kraft Besseres an die Stelle zu setzen haben die Hellenen der Insel nicht vermocht. Ob der Korinther Timoleon dazu imstande sein würde, konnte erst sein weiteres Wirken zeigen. Syrakus war durch die übergabe von Ortygia und Dionysios' Abzug nur von einem der zwei Machthaber befreit worden, denn im festländischen Stadtteil gebot nach wie vor Hiketas, der nun kaum noch verhehlen konnte, daß es ihm nicht um die Befreiung der Bürgerschaft ging, die ihn anscheinend auch nicht zum Strategos autokrator bestellte, sondern um tyrannische Herrschaft. Als sowohl seine Angriffe auf die Inselburg wie ein Mordanschlag auf den fernen Timoleon scheiterten, rief er auf Grund des einst geschlossenen Bündnisses den karthagischen Feldherrn Mago zu Hilfe, der bisher wohl an Siziliens Südküste operiert hatte. Mit 150 Schiffen lief dieser in den «Großen Hafen» ein, ohne jedoch die Verpro viantierung von Ortygia durch Timoleon hindern zu können. Man beschloß da her, gemeinsam gegen diesen nach Katane zu ziehen, ein Unternehmen, das sich, noch ehe es dort zu Kampfhandlungen kam, unglücklich auswirkte. Denn inzwi schen gelang es dem Korinther Neon, dem Kommandanten der Inselburg, auf das festländische Stadtgebiet überzugreifen und den Bezirk von Achradina zu be setzen. Der eilends zurückkehrende Hiketas sah sich auf den restlichen Teil von Syrakus beschränkt. Doch damit nicht genug : Spannungen zwischen ihm und Mago die nicht ausbleiben konnten, sowie die Kampfesunlust der Syrakusaner, die weder den vorgeblichen Befreier noch die verhaßten Punier unterstützen wollten, vor allem aber Wirren in Karthago, wo die Tyrannis eines Hanno drohte, veranlaßten Mago, sich nach Westen zurückzuziehen. Bald darauf erschien Timoleon vor Sy rakus. Seine überlegenheit war jetzt so groß, daß er Hiketas zu einem Abkommen nötigen konnte, in dem dieser anscheinend der Verbindung mit den Karthagern absagte, der Schleifung der Tyrannenburg zustimmte und jeden Anspruch auf eine leitende Stellung in Syrakus fahren ließ. Er zog sich darauf mit seinen Streit-
Hiketas und Timoleon
kräften nach Leontinoi zurück, wo seine Tyrannis unerschüttert geblieben war (343 /2) . Timoleon, jetzt Herr der gesamten Stadt, ließ nicht nur die Zwingburg auf Ortygia niederreißen, sondern auch die Häuser der einstigen Gewalthaber, ja selbst ihre Grabmäler zerstören. Er, dem es Ernst mit der Befreiung von Tyran nis war, ordnete die Verfassung in demokratischem Sinne, jedoch mit dem olig archischen Zug, daß der aus drei Geschlechtern zu wählende Priester (Amphipolos) des Olympischen Zeus fortan das höchste und eponyme Ehrenamt innehaben sollte, das freilich großer politischer Befugnisse entbehrte. Seine Sorge galt fer ner der Auffüllung der Bürgerschaft. Da ein Appell zur Rückkehr an diejenigen Syrakusaner, die während der letzten Zeit in festen plätzen Zuflucht gesucht hat ten, ohne rechten Erfolg blieb, wurden mit Hilfe der Korinther die in der Ägäis welt lebenden Exulanten zur Heimkehr aufgefordert. Es sollen an die fünftausend gekommen sein, ferner weitere aus Italien und Sizilien. Darüber hinaus erbat man Neusiedler aus Korinth und dem übrigen Hellas, die sich in großer Zahl einfanden, so daß auf altsyrakusanischem Territorium angeblich 40 000, in dem unterdessen zu Syrakus geschlagenen Gebiet von Agyrion 1.0 000 sich niederlassen konnten. Offensichtlich wollte Timoleon ein starkes Syrakus, das an der Spitze eines Bun des der sizilischen Griechenstädte den Karthagern gewachsen sein könnte. War er doch auch zur Abwehr dieses Feindes ausgesandt worden, der, wie die Hinrichtung des von Syrakus abgezogenen Mago in seiner Heimat zeigte, am Gedanken der Gewinnung ganz Siziliens festhielt. Die erwartete Offensive blieb jedoch infolge innerer Wirren in der punischen Hauptstadt zunächst aus. Timoleon hat den Aufschub genutzt, indem er einmal die neue Ordnung in Syrakus festigte, zum anderen die Gefahr, daß Hiketas und andere Tyrannen sich mit den Karthagern verbinden könnten, zu bannen suchte. Es gelang ihm zwar nicht, Leontinoi zu nehmen und Hiketas zu stürzen, doch vermochte er Leptines, den Herrn von Engyon und Apollonia, gegen den er sich nunmehr wandte, dazu zu bringen, daß er der Tyrannis entsagte und nach Korinth ins Exil ging. Die bisher diesem Machthaber untertänigen Städte erhieltenAutonomie. Ein jäher Vor stoß, den Hiketas inzwischen auf Syrakus unternommen hatte, war erfolglos gehlieben (342/1.), veranlaßte andererseits Timoleon nicht, noch einmal einen An griff auf Leontinoi zu wagen. Statt dessen ließ er seine Söldner, teils um sie zu beschäftigen und Mittel für ihre Entlohnung zu gewinnen, teils um die gegen wärtige Schwäche Karthagos auszunutzen, Vorstöße in das punische Herrschafts gebiet machen, wo sie den Abfall einiger Städte bewirkten, und gewann selbst das den Karthagern anheimgefallene Entella. Vor allem aber brachte er angesichts der drohenden Reaktion der Punier einen Kampfhund (Symmachia) der ihm zu gefallenen oder zuneigenden Griechenstädte Siziliens unter Führung von Syrakus
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zustande (341/40) . Ihm gehörten nicht nur autonome Gemeinwesen an wie das um 344/3 von Timoleon gewonnene und tyrannenfrei gewordene Messana oder Engyon und Apollonia, sondern auch die Tyrannen Andromachos von Tauromenion und Mamerkos von Katane. Ja selbst Hiketas von Leontinoi, mit dem Timoleon Verhandlungen aufnahm, erklärte sich bereit, für den Kampf gegen Karthago ein beträchtliches Söldnerkorps zur Verfügung zu stellen, und hielt seine Zusage, als der Krieg im Jahre 339 entbrannte. Es verdient bemerkt zu werden, daß der große Sieg, den der Korinther am Krimisos-Fluß über die Punier davontrug, mit Hilfe von Kontingenten mehrerer Tyrannen erfochten wurde. Der glänzende Erfolg jedoch und die Machtstellung auf der Insel, die er dem Korinther gab, machten es diesem möglich, seinen von Anfang an gehegten Plan, alle Tyrannenherrschaften in Sizilien zu beseitigen, in die Tat umzusetzen. Von ihm bedroht, schlossen Hiketas und Mamerkos nicht nur miteinander, sondern auch mit den Karthagern ein Bündnis, die den willkommenen Bundesgenossen gewiß Erhaltung oder gar Erweiterung ihrer Herrschaft versprachen. Wirklich glückte es auch, gemeinsam ein Söldnerkorps Timoleons bei Messana aufzureiben, ein Erfolg, auf den sich Mamerkos viel zugute tat. Hiketas freilich erhielt für seinen Kampf gegen Timoleon und die Syrakusaner keine Hilfe : auf eigene Faust fiel er, während der Korinther die kleine Stadt Kalauria belagerte, plündernd in das syrakusanische Gebiet ein, wurde aber auf dem Rückweg von jenem am Damyriasfluß geschlagen. Als der Sieger darauf vor Leontinoi rückte, erhoben sich Hiketas' Söldner gegen ihren von den Karthagern im Stich gelassenen und allein dem Gegner nicht gewachsenen Herrn. Sie nahmen ihn samt seinem Sohn Eupolemos und dem Reiterführer Euthymos gefangen und lieferten ihn an Timo leon aus. Alle drei wurden als Tyrannen oder Verräter hingerichtet; die weiblichen Angehörigen des Gewalthabers ließ Timoleon nach Syrakus bringen und dort von der Volksversammlung zum Tode verurteilen, möglicherweise auf Grund der Behauptung, daß Aristomache und Arete einst auf der Fahrt in die Peloponnes von Hiketas umgebracht worden seien. Es blieb die Abrechnung mit den anderen noch vorhandenen Tyrannen, vor allem mit Mamerkos. Trotz karthagischer Unterstützung erlitt dieser eine schwere Niederlage und sah sich wenig später durch den erneut die Halykosgrenze fest legenden Friedensschluß zwischen Timoleon und den Puniern, in dem diese aus·· drücklich auf Unterstützung der Tyrannen verzichteten, völlig isoliert (338). In seiner Bedrängnis fuhr er nach Unteritalien, um die Lukaner sich zu verbinden. Seine Umgebung, der dieser Plan aussichtslos schien, verließ ihn und lieferte Katane dem Timoleon aus, der auch der Herrschaft campanischer Söldner in Aitna ein Ende bereitete. Mamerkos aber, von den Lukanern abgewiesen und macht los geworden, fand bei Hippon, dem wohl von den Karthagern wiedereingesetzten
Ende der Tyrannenherrschaften. Timoleon
Tyrannen von Messana, Aufnahme. Hier ereilte ihn das Schicksal. Als nämlich Timoleon vor der Stadt erschien, wurde Hippon nach einern vergeblichen Flucht versuch von der aufständischen Bevölkerung unter Martern umgebracht, worauf sich Mamerkos auf die Zusicherung hin, daß er zwar vor das syrakusanische Volksgericht gestellt, jedoch nicht von Timoleon angeklagt werden würde, ergab. Hatte er gehofft, daß vor diesem Forum eine Rede, die der auf seine Bildung stolze Tyrann sich einstudiert hatte, Eindruck machen werde, so sah er sich arg enttäuscht. Die Bürgerschaft, über seine Piratenfahrten empört, hörte ihn kaum an, und als er in seiner Verzweiflung Selbstmord begehen wollte, ergriff man ihn und überlieferte ihn, anscheinend auf Wunsch Timoleons, dem Kreuzestod. Die Tyrannen in den Sikelerstädten südwestlich des Ätna, Nikodemos von Ken turipe und Apolloniades von Agyrion, waren vermutlich schon vor dem Zug nach Messana von Timoleon gestürzt worden. Der erstere entfloh; ob auch der zweite mit dem Leben davonkam, ist unbekannt. Sowohl Kenturipe wie Agyrion, das eine große Anzahl neuer Siedler erhielt, wurden in den syrakusanischen Bürger verband einbezogen. Was schließlich Tauromenion betrifft, so hatte ein Teil der Bevölkerung offenbar mit Nikodemos in Verbindung gestanden, nicht aber der Tyrann Andromachos selbst, der, wie er sich schon bei Timoleons Ankunft auf Sizilien diesem angeschlossen hatte, ihm stets und so auch jetzt treu geblieben war. Er ist daher der einzige Stadtherr gewesen, den der Korinther in seiner Stellung beließ. Nichts weist darauf hin, daß Timoleon trotz der großen Macht, die er jetzt besaß, eine eigene Herrschaft auf Sizilien erstrebt hätte. Es war vielmehr sein Ziel, Syrakus, dessen demokratische Verfassung er in einigen Punkten modifizieren ließ, zu einern autonomen und starken Staat zu machen, der als Haupt eines Kampfbundes der Griechen- und Sikelerstädte imstande wäre, die Karthager dauernd abzuwehren. Daß er Syrakus durch Heranziehung vieler Tausender neuer Bewohner von nah und fern wieder zu einer Riesenstadt machte, in welche die Leontiner verpflanzt, die Bewohner von Kenturipe und Agyrion rechtlich auf genommen wurden, erinnerte zwar an den älteren Dionysios, doch ließ Timoleon im Gegensatz zu ihm zahlreiche andere, darniederliegende Städte neu erstehen. Davon zeugt sowohl die literarische überlieferung für Akragas, Gela und Ka marina wie der archäologische Befund an diesen und anderen Plätzen. Allent halben wurde der Mann als Befreier und Oikist geehrt, der die Städte von Ty rannen, Söldnerhorden oder Karthagerherrschaft befreit hatte, ihnen neue Siedler zuführte und ihr Fortbestehen in Autonomie und Wohlstand zu gewährleisten suchte. In die Symmachie wurden nach dem Frieden mit den Puniern alle Städte östlich der Halykoslinie aufgenommen, und der Bund erhielt eine feste Ordnung, die sich auch in der Münzprägung ausdrückte. Gleichwohl blieb die Frage, ob die
Sizilien und Unteritalien
sizilischen Griechen in dieser Form ihre Freiheit auf die Dauer behaupten würden. Zeugte nicht schon die Bestimmung, daß im Falle eines neuen Karthagerkrieges das Haupt der Vereinigung, Syrakus, einen Feldherrn aus der Mutterstadt Ko rinth holen sollte, davon, daß Timoleon das Aufkommen einer neuen Tyrannis befürchtete ? Einige Jahre noch wachte er selbst, der sich durchaus als Korinther fühlte, auch niemals ein syrakusanisches Amt bekleidete, über seinem Werk, wie wohl seit dem Feldzug gegen Messana völlig erblindet. Und auch nach seinem Tode hielt seine Schöpfung für ein Jahrzehnt zum Segen Siziliens stand. Aber es hätte seltsam zugehen müssen, wenn in einer Zeit, da die städtischen Gemeinwesen des Mutterlandes innen- wie außenpolitisch absanken, der von Timoleon herauf beschworenen Erneuerung des Polisgeistes in einem Bereich der griechischen Welt dauernder Erfolg beschieden gewesen wäre, wo dieser Geist schwächer entwickelt war, seine den Partikularismus fördernde Stärkung aber angesichts der latenten Bedrohung durch Karthago bedenklich sein mußte. Nur eine machtvolle Tyrannis, die sich über ihn hinwegsetzte, hatte vor Timoleon den Puniern wirkungsvoll zu begegnen vermocht. Daß ein Bund autonomer Städte in Zukunft dazu fähig sein oder ein neuer Timoleon kommen werde, war in einem Zeitalter kaum zu er warten, das seit Philipp und Alexander im Zeichen großer Territorialherrschaften stand und die Polis fast bloß noch in deren Rahmen oder im Anschluß an sie ge deihen ließ. Auch für die Hellenen Siziliens konnte es, auf weite Sicht, nur die Alternative geben, entweder von einer der Mächte der Umwelt abhängig zu wer den oder wieder einem Tyrannen nach Art des Dionysios anheimzufallen, der selbst eine große Territorialherrschaft errichtete. Beides würde schwerlich ver derblicher sein, als wenn die fortdauernden sozialen Spannungen in den Gemein wesen noch einmal eine Mehrzahl von kleinen Tyrannen aufkommen ließen, die nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte statt äußerem Schutz und innerer Befriedung nur von neuem anarchische Zustände bringen würden. Während die Griechenstädte Unteritaliens, wo es im 4. Jahrhundert nirgends zur Begründung einer nennenswerten Tyrannis gekommen zu sein scheint, allmählich mehr und mehr in den Schatten der römischen Macht traten, ist auf Sizilien schon zwanzig Jahre nach Vollendung von Timoleons Werk nochmals ein großer Tyrann aufge standen, Agathokles, der ein Menschenalter die Herrschaft behaupten konnte. Es scheint für die Art und Lage des sizilischen Griechentums charakteristisch, daß die von Timoleon gestiftete freiheitliche Ordnung Episode blieb, eingebettet in eine mehr als hundertjährige Epoche der Tyrannis.
Z W E I T E S KAPI T E L
D A S MUTTE R LA N D
I. T H E S S A LI E N
Im Laufe des 5. Jahrhunderts war neben den feudal-agrarischen Zuständen, wie sie in der weiträumigen Landschaft noch bestanden, durch das Erstarken städti scher Gemeinwesen mit gewerbe- und handeltreibenden Bevölkerungsschichten ein neuer Faktor zu Bedeutung gelangt. Seine sozialen Ansprüche sowie die wach sende Unzufriedenheit der mehr oder weniger hörigen Penesten konnten einem Manne, der sich ihrer annahm, eine Gefolgschaft zuführen, mit der er versuchen mochte, sich der Tyrannis über eine Stadt zu bemächtigen. Vielleicht daß ein ge wisser Prometheus derartiges plante, als er um 406 im Verein mit dem aus Athen verbannten Kritias in einem uns unbekannten Teile Thessaliens die Penesten ge gen ihre Herren bewaffnete, wenn er auch vorgab, eine demokratische Ordnung begründen zu wollen. Er scheint jedoch, nachdem ein Attentat gegen ihn miß lungen war, politisch gescheitert zu sein. Wie dieser Prometheus durch Kritias mit den Lehren der Sophisten vertraut wurde, so ließen manche der großen Grund herren, zu denen möglicherweise auch er gehörte, sich vom Geist der neuen Bil dung ergreifen, der sie vornehmlich wohl die Lehre vom Herrenrecht des über legenen Einzelmenschen enmahmen. Die Aleuaden von Larisa standen mit Gor gias in Verbindung; ein Angehöriger des Hauses, Eurylochos, suchte ebenso wie der fürstlich reiche Skopas in Krannon den Sokrates in seine Umgebung zu ziehen, der freilich in beiden Fällen die vermutlich in Unkennmis seiner Art ergangene Einladung ablehnte. Dürfen wir Xenophons Schilderung glauben, der freilich das positive Urteil Platons entgegensteht, so stellte gegen Ende des 5. Jahrhunderts der aus dem Fürstengeschlecht von Pharsalos stammende Menon den Typus des sophistisch gebildeten thessalischen Herrn dar. Er, der anscheinend den Gorgias gehört hatte, wäre von skrupelloser Habgier und Herrschsucht gewesen. Nicht viel anders dürften sich jene Männer gezeigt haben, die um die Jahrhundertwende auf thessalischem Boden eine Tyrannis errichteten oder eine tyrannenähnliche Stellung gewannen. Wann Lykophron von Pherai sich zum Tyrannen seiner wirtschaftlich fortge schrittenen Vaterstadt aufgeworfen hat, wissen wir nicht. Im Jahre 404 war jeden-
Das Mutterland
falls seine Macht so gefestigt und stark, daß er, vielleicht mit Billigung der Spar taner, versuchen konnte, ganz Thessalien, das seit dem Tode des letzten Tagos Daochos (um 420115) weniger als je eine politische Einheit bildete, in Abhängig keit zu bringen. Am 3. September schlug er die Larisaier und andere Thessaler in einer Schlacht, vermochte wohl auch das Regiment der Aleuaden zu stürzen, so daß in Larisa eine gemäßigte Demokratie Platz greifen konnte, aber seinen gro ßen Plan zu verwirklichen gelang ihm nicht. Ja, Aristippos, das Haupt der Aleuaden, führte nicht lange darauf einen Gegenstoß (4°2/1), nachdem ihm von dem persischen Prinzen Kyros, den er persönlich um 2000 Söldner und Lohn für drei Monate gebeten hatte, 4000 Mann und Sold für sechs Monate überlassen worden waren, und brachte Larisa in seine Gewalt. Als Kyros bald diese Truppen zum Feldzug gegen seinen Bruder abberief und den Aristippos zum Vergleich mit seinen Gegnern aufforderte, scheint dieser dem Ersuchen nicht nachgekommen zu sein, sondern höchstens den ihm befreundeten Menon von Pharsalos bestimmt zu haben, dem Prinzen 1000 Hopliten und 500 Peltasten zuzuführen. Er bedurfte militärischer Macht, um gegenüber Lykophron und den widerspenstigen Lari saiern seine Herrschaft aufrechtzuerhalten, die zwar als Fortsetzung der «Dy nasteia» des Aleuadenhauses ausgegeben wurde, sich aber kaum von derjenigen eines Tyrannen unterschieden haben dürfte. Möglich, daß Aristippos und die Aleuaden damals in solche Schwierigkeit gerieten, daß sie den Makedonen könig Archelaos zu Hilfe riefen und ihm dadurch Gelegenheit gaben, sich den größten Teil Thessaliens botmäßig zu machen und Larisa durch eine Besatzung zu sichern, doch blieb die fremde Oberhoheit nur kurze Zeit bestehen, da der Kö nig bereits 399 starb. Auch Aristippos ist wahrscheinlich bald aus dem Leben geschieden, denn im Jahre 3 95 ist Machthaber über Larisa Medios, offenbar wie jener ein Aleuade. Er nahm den Kampf mit dem zu Sparta haltenden Lykophron von Pherai, dem Feinde seines Geschlechtes, wieder auf und eroberte mit Hilfe der antispartanischen Koalition in Mittelgriechenland und der Peloponnes die Stadt Pharsalos, wo seit einigen Jahren eine spartanische Besatzung postiert war. Ein Teil der Einwohner wurde in die Sklaverei verkauft. Wenn Medios jedoch gehofft hatte, Lykophron zu stürzen und seinem Hause die einstige FührersteI lung zurückzugewinnen, so erfüllten sich trotz der im Lande verbreiteten Sparta feindschaft seine Erwartungen nicht. Allenthalben gab es Spartafreunde, nicht zuletzt in Larisa selbst. Als Agesilaos 394 bei seiner Rückkehr aus Kleinasien Thessalien durchzog, hatten die Gegner noch das übergewicht, doch wohl schon im selben Jahre, nach der Schlacht von Koroneia, wandte sich, mindestens in Pharsalos, das Blatt: in einem blutigen Massaker wurden dort die Söldner des Medios umgebracht. Von der Art seiner tyrannenähnlichen Herrschaft, die in Pharsalos die heimischen Behörden bestehen gelassen hatte, wissen wir ebenso
Tyrannenähnliche Herren in Thessalien
wenig wie von der des Lykophron. Nicht einmal die Dauer des Regimentes der beiden Machthaber läßt sich bestimmen, weil die Überlieferung von der Ge schichte Thessaliens während der nächsten anderthalb Jahrzehnte schweigt. Wohl zu Beginn der siebziger Jahre führten innere Wirren in Pharsalos dazu, daß von den Bürgern Polydamas mit besonderen Vollmachten ausgestattet wur de. Er scheint nicht wie Menon, der in Asien umgekommen war, dem einst füh renden Geschlecht der Stadt angehört zu haben, erfreute sich aber in ganz Thes salien großen Ansehens. Man überantwortete ihm die Burg sowie die Einziehung der gesetzlichen Steuern und ihre Verwendung zu öffentlichen Zwecken, räumte ihm also eine fast monarchische Stellung ein. Er besoldete nun die Burgbesat zung, die offenbar aus Söldnern bestand, trieb fürstlichen Aufwand und schoß auch gelegentlich aus seinem eigenen großen Vermögen Gelder vor, doch unter schied er sich von Tyrannen durch die Legalität seiner Stellung, die er seiner seits wahrte, indern er jährlich Rechenschaft ablegte. Außenpolitisch hielt er als Leiter des Gemeinwesens an der seit der Niedermetzelung von Medios' Söldnern bestehenden Verbindung mit Sparta fest und lehnte daher 3 75 einen freiwilli gen Anschluß an Jason, den mächtigen Tyrannen von Pherai, ab, bis die Wei gerung der Lakedaimonier, diesem energisch entgegenzutreten, ihn zur Verstän digung mit dem gefährlichen Nachbarn nötigte. Auch dabei verfuhr er nicht ty rannisch, indern er etwa eigenmächtig und nur persönlich einen Vertrag geschlos sen hätte. Er versprach vielmehr, die Pharsalier zu einern Bündnis mit Jason zu bewegen und für dessen Wahl zum Tagos der Thessaler einzutreten, gab jedoch andererseits seine eigenen Kinder als Pfand für die Wahrung des Bündnisses. Seine kluge, maßvolle Politik hatte zur Folge, daß er über Jasons Tod (370) hinaus im Besitz der Burg von Pharsalos und der ihm zuerkannten quasimonar chischen Stellung blieb. Vorerst stand er allerdings in Abhängigkeit von dem Manne, der unter allen Tyrannen, welche das 4. Jahrhundert im griechischen Mutterland zeitigte, der machtvollste und bedeutendste war. J ason von Pherai Jason, wohl sicher ein Sohn des Lykophron von Pherai, gehörte zu jenen herrsch süd,tigen Männern der Zeit, die in ihrer Jugend sophistische Bildung genossen hatten. Er war Hörer des Gorgias gewesen und stand mit dessen Schüler Isokra tes in freundschaftlicher Verbindung. Ob er dem Lykophron unmittelbar in der Herrschaft über Pherai folgte oder zunächst Polyalkes, wohl ein älterer Bruder Jasons, die Tyrannis erbte, ist nicht auszumachen ; auch der Zeitpunkt, an dem er das Regiment übernahm, bleibt ungewiß. Jedenfalls geschah es noch in den achtziger Jahren ; denn kurz vor 3 79 half er einern gewissen Neogenes, gewalt sam die Burg von Hestiaia im Norden Euboias zu gewinnen und sich zum Ty-
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rannen über das umliegende Land und die Stadt Oreos zu machen. Dem Ver such, auf diese Weise sich selbst vor dem Ausgang des Pagasaiischen Golfes einen Stützpunkt zu verschaffen, blieb allerdings dauernder Erfolg versagt, da die Spartaner bald Jasons Kreatur verjagten und Oreos durch eine Besatzung sicherten. Dagegen gelang es ihm in den Jahren bis 375 mit einer Söldnermacht von 6000 vorzüglich ausgebildeten Männem die meisten und größten Städte Thes saliens zum Bündnis mit ihm zu nötigen und auch die Maraker, Doloper und den Molosserkönig Alketas in Epirus sich botmäßig zu machen. Polydamas von Pharsalos, der gegen ihn stand, mußte sich, wie wir sahen, schließlich eben falls beugen, als Sparta gegen den mächtigen Mann, der sich zudem mit Theben und anderen Feinden der Lakedaimonier verbunden hatte, nichts zu unterneh men wagte. So konnte Jason, der anscheinend auch die Perrhaiber im Norden in Abhängigkeit von sich gebracht hatte, ohne Schwierigkeit die Wahl zum Tagos der Thessaler erreichen (vermutlich 375'4), womit er legal an die Spitze allerThes saler trat. Er gab diesem Amt, das seit vierzig Jahren nicht mehr besetzt worden war, einen viel monarchische ren Charakter, als es je besessen hatte, und sah es als Basis für eine weitere Ausdehnung seiner Herrschaft an. Die Randvölker sollten angegliedert werden einschließlich der Makedonen, deren Wälder ihm das Holz zum Bau einer großen, mit Penesten zu bemannenden Flotte liefern konnten. Die Ausrüstung der Schiffe würde, so meinte er, dank den Kriegsbeiträgen des rei chen thessalischen Landes und den Tributen der abhängigen Gebiete ein leich tes sein. Dabei fühlte er sich durchaus als Konkurrent, wo nicht gar als Gegner Athens und seines See bundes, in den einzutreten er sich denn auch nicht bewe gen ließ. Bundesgenosse der Athener, wenn auch nicht Seebundsmitglied, ist er 3 73 allerdings doch geworden, angeblich durch einen listigen Streich des mit ihm Verhandlungen führenden attischen Strategen Iphikrates überrumpelt. Ge gen Ende desselben Jahres kam er sogar persönlich nach Athen, um für den an geklagten Feldherrn Timotheos zu zeugen. Aber trotz der offiziellen Verbindung mit Athen bewahrte Jason seme Hand lungsfreiheit nach allen Seiten. Mit Sparta hielt er, obwohl mit dem Gedanken spielend, es in Mittelgriechenland auszuschalten, die ihm von Lykophron über kommenen guten Beziehungen aufrecht und legte Wert darauf, Gastfreund der Lakedaimonier zu sein. In Theben, nach dem er schon früh seine Tochter Thebe benannt hatte, stand ihm Pelopidas nahe; auch soll er sich um Epameinondas bemüht haben, freilich ohne Erfolg. Dieser mußte in ihm einen Rivalen beim Kampf gegen Sparta und einen Gegner bei Begründung einer boiotischen Macht sehen, wie andererseits Jason im Hinblick auf seine eigenen Pläne ein Erstarken Thebens nicht wünschen konnte. Zwar glaubte man dort nach der Schlacht bei Leuktra mit seiner Hilfe Sparta völlig niederzwingen zu können und rief ihn herbei
fasan von Pherai
(3 71) . Er kam auch mit Soldtruppen und Schiffen; von einem Vernichtungskampf gegen das lakedaimonische Heer riet er jedoch ab. Boiotien sollte nicht zu mäch tig werden, ein Gleichgewicht mit Sparta war erwünscht, das ihm die Möglichkeit des Einwirkens und gegebenenfalls des Eingreifens gab. So bewirkte er einen Waffenstillstand zwischen den Gegnern, der den Resten des geschlagenen Heeres die ungehinderte Heimkehr in die Peloponnes ermöglichte. Dann wandte er sich nach Norden zurück, wo er schon kurz zuvor die Phoker bekriegt hatte und nun nicht nur Teile ihres Landes verwüstete, sondern auch in Ausnutzung von Spar tas Schwäche die Mauern der Zwingburg Herakleia Trachinia niederlegte. Das Stadtgebiet überließ er den benachbarten Oitaiern und Maliern, die als «Periö ken» der Thessaler ihm, dem Tagos, unterstanden. Da ferner der Makedonenkö nig Amyntas III. in Form eines Bündnisses J asons Oberhoheit hatte anerkennen müssen, wie dasselbe auch vom Molosserkönig Alketas geschehen war, erstreckte sich 3 71/0 das Machtgebiet des großen Dynasten nach Süden, Norden und We sten über die Grenzen Thessaliens hinaus. Ausgangspunkt war die Tyrannis über Pherai und das nahe Pagasai gewesen, die schon Lykophron besessen hatte und J ason zeitlebens beibehielt. Sie ruhte auf dem ererbten Reichtum der Familie, den er, wie so manche Gewalthaber, durch Finanzmanipulationen, angeblich sogar gegenüber den eigenen Verwandten, zu mehren wußte. Von Anfang an hatten ihm diese Mittel die Möglichkeit zum Unterhalt eines Söldnerheeres gegeben, das schon um 3 75 sechstausend Mann zählte. Es waren ausgesuchte, vorzüglich geschulte Leute, denn wie Dionysios 1., dem er in manchem glich, forderte Jason hohe Leistungen und stachelte durch Belohnungen den Ehrgeiz an, während er unbrauchbare Elemente unweigerlich ausschied. Gestützt auf diese Söldnermacht, gesichert durch eine Leibwache, herrschte er über Pherai kaum anders als einstige Tyrannen in Griechenland. Von der Bekleidung eines städtischen Oberamtes findet sich keine Spur. Jason, der reiche, mächtige Herr, stand als eigene Größe neben dem Gemeinwesen, dessen kommunale Ordnung bestehenblieb, wie auch die Münzen weiterhin den Namen der Pheraier trugen. Ob der Tyrann eine regelmäßige Ertragssteuer erhoben hat, läßt sich nicht sagen. Daß seine Herrschaft über die Stadt, soweit wir sehen, fest gegründet war, lag offenbar nicht nur an der erdrückenden militärischen Macht, sondern kaum minder an dem maßvollen Regiment des Gewalthabers und wohl auch an den wirtschaftlichen Vorteilen, die seine weitgespannte Politik der Be völkerung brachte. Bei aller Herrschsucht, die sein von Aristoteles überlieferter Ausspruch bekundet : er hungere, wenn er nicht als Tyrann gebiete, zählte Jason doch nicht zu den Tyrannen, welche skrupellos über Recht und Gesetz hinweg schritten. Sein Wort «Man muß einiges Ungerechte tun, um einiges Gerechte tun zu können» läßt ihn als einen Mann von tiefer Einsicht in die ethische Problematik
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alles politis chen HandeIns erscheinen. Auf Xenophon jedoch und gewiß auf viele andere Zeitgenossen haben vor allem seine gewaltige Energie, seine Selbstzucht und seine ungewöhnlichen militärischen Fähigkeiten Eindruck gemacht. In körper lichen Leistungen oder im Ertragen von Strapazen gab Jason seinen Soldaten per sönlich das beste Beispiel. Auch sorgte er für die Kranken sowie für ehrenvolle Bestattung der Gefallenen und erwies sich sowohl im Feld wie durch Erfindung taktischer Neuerungen als Meister der Kriegskunst. Von seinem innenpolitischen Wirken erfahren wir leider nichts. Seine Herrschaft über Pherai dürfte am ehe sten beim Demos der Stadt Anklang gefunden haben ; um eine grundsätzliche Besserstellung der Penesten jedoch hat sich Jason, soweit wir sehen, weder als Tyrann noch als Tagos der Thessaler bemüht. Nach der Wahl zu diesem lebenslänglichen Führeramt des gesamten Stammes, die formal korrekt, faktisch jedoch unter dem Druck der überlegenen Macht des sich zur Wahl Stellenden erfolgte, ist Jason Stadtherr von Pherai geblieben und hat als solcher nicht nur seine eigene Außenpolitik gegenüber den Athenern und anderen getrieben, sondern auch Feldzüge lediglich mit seinen Soldtruppen ge führt. Selbst für sein Eingreifen nach der Schlacht von Leuktra steht dies außer Frage, obwohl er von den Boiotern auf Grund ihres Bündnisses mit den Thessalern herbeigerufen worden war. Es sieht denn auch so aus, als habe er die Oitaier, Malier und Perrhaiber weniger den Thessalern als sich persönlich verbunden. Stand schon der Tagos an sich dem Stammesverband (Koinon) als Partner gegen über, so ähnelte Jasons Stellung zu ihm derjenigen eines Tyrannen zu seiner Polis, in der dieser - wie etwa Dionysios - ein außerordentliches höchstes Amt inne hatte. Und auch die Tatsache, daß er nicht zur Führung eines von der Gesamt heit der Thessaler getragenen Krieges, der normalen Aufgabe eines Tagos, son dern bestenfalls zur Beilegung der innerthessalischen Wirren, vor allem jedoch weil man seinem Wunsche willfahren zu müssen meinte, gewählt worden war, läßt an Tyrannis denken. Nicht minder die spätere Vererbung des Amtes in der Familie, die gestattete, von einer Dynasteia zu sprechen. Gleichwohl ist von einer Tyrannis Jasons über die gesamte Landschaft nach Art der Territorialherrschaft des Dionysios nicht zu sprechen. Von einer Vergewaltigung der Städte außer Phe rai findet sich keine Spur, nicht einmal von der Nutzung des großen militärischen Potentials Thessaliens für die Ausweitung seiner persönlichen Macht. Er selbst soll es auf 8000 Reiter, 20 000 Hopliten und viele Leichtbewaffnete beziffert ha ben, wozu dann noch die Masse der auf der Flotte zu verwendenden Penesten so wie Kriegsbeiträge der Randstämme hinzuzuzählen wären. In der Zukunft freilich dachte er diese Streitmacht einzusetzen, wenn er darangehen würde, im Zeichen der Parole, die schon sein Lehrer Gorgias ausgegeben hatte und jetzt der befreun dete Isokrates verkündete, den Perserkönig zu bekriegen, dessen Sturz er für
lason von Pherai
weniger schwierig gehalten haben soll als die Unterwerfung Griechenlands. Zu nächst aber war es dazu nötig, dem Koinon der Thessaler die Hegemonie über Hellas zu gewinnen, wofür eine Erneuerung der alten Führerstellung in der del phischen Amphiktyonie den Boden bereiten sollte. Jetzt erst, im Winter 3 71/0, trat er nach außen als Tagos ganz Thessaliens hervor. Für die Feier der Pythien im Frühjahr, deren Vorsitz er selbst übernehmen wollte, ließ er in allen Städten Opfertiere in ungewöhnlich großer Zahl bereitstellen und setzte als Siegespreis für den schönsten Leitstier einen goldenen Kranz aus. Die Thessaler selbst aber sollten in Kriegsrüstung erscheinen. Wenn die Delpher daraufhin fürchteten, daß Jason sich an den Schätzen des Heiligtums vergreifen könnte, so war das gewiß unberechtigt. Ihm ging es darum, die ihm zu Gebote stehende militärische Macht zu demonstrieren und sich als den gegebenen Führer ganz Griechenlands für den gemeinsamen Kampf gegen das Perserreich auszuweisen. Ob er damit Erfolg ge habt hätte, wird man trotz seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten, trotz der Stärke des thessalischen Heeres und den relativ günstigen Chancen, die sich aus dem Zu sammenbruch Spartas ergaben, nicht nur im Hinblick auf Boiotiens Erstarken, sondern auch aus allgemeinen Gründen bezweifeln dürfen. Noch weniger als auf Sizilien war das Polisgriechentum im Mutterlande bereit, einen Zwingherrn zur Einheit freiwillig anzuerkennen, geschweige denn einen Mann, an dem das Odium der Tyrannis hing. Als Jason, noch vor dem Aufbruch zur Pythienfeier, bei der Musterung der Reiterei in Pherai von sieben vornehmen Jünglingen er mordet wurde, fanden fünf der Täter, die der Leibwache entkommen konnten, in außerthessalischen Städten begeisterte Aufnahme. Denn so sehr, sagt der Zeit genosse Xenophon, der im übrigen voll Bewunderung von J ason spricht, fürch teten die Hellenen, daß er ihr Tyrann werden könne. Man sah also offenbar auch in der Führung des Tagosamtes - und nicht ganz ohne Grund - eine verschleierte Tyrannis und hielt deren Ausdehnung über ganz Griechenland für möglich. Die Hintergründe des Attentates, das vielleicht nicht das erste war, liegen im dunkeln. Möglich, daß, wie manche behaupteten, Jasons Bruder Polydoros irgendwie betei ligt war, sicher, daß es weder den Sturz der Tyrannis in Pherai noch gar einen Aufstand im übrigen Thessalien zur Folge hatte. Stadtherrschaft und Tagosamt blieben dem Hause des Ermordeten erhalten. Die drei Söhne, welche Jason hinterließ, scheinen zur Zeit seines jähen Todes noch nicht erwachsen gewesen zu sein. Jedenfalls wurde, offenbar ohne weiteres, das Tagosamt den beiden Brüdern des Verstorbenen, Polydoros und Polyphron, übertragen, die gewiß auch über Pherai zunächst gemeinsam die Herrschaft führ ten, wie dies ähnlich sonst, etwa bei den Peisistratiden, geschehen war. Aber schon nach kurzer Zeit wurde Polydoros auf dem Wege nach Larisa umgebracht, angeblich von Polyphron, der nun Tyrannis und Tagosamt allein führte. Im
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Gegensatz zu Jason, der sich als Tagos gewaltsamer Eingriffe in thessalische Ge meinwesen enthalten hatte, machte Polyphron, wie Xenophon bemerkt, die Tageia einer Tyrannis ähnlich, indern er in Pharsalos den Polydamas samt acht der ein flußreichsten Bürger beseitigen ließ und eine nicht geringe Zahl von Larisaiern verbannte, vornehmlich Angehörige des Aleuadenhauses. In beiden Städten hatte sich Opposition gegen die Umwandlung des Tagosarntes in eine Dynasteia geregt. Doch Polyphrons Herrschaft währte nur zehn Monate, dann brachte ihn Alexan dros, ein Sohn des Polydoros, um, nicht nur weil er in ihm den Mörder seines Va ters sah, sondern weil er selbst nach der Herrschaft verlangte. Alexandros von Pherai Mit der Beseitigung des Oheims hat Alexandros sowohl die Tyrannis über Pherai wie die Stellung des Tagos gewonnen. Vennählt mit J asons Tochter Thebe, ver mochte er sich elf Jahre (369-358) als Herr seiner Vaterstadt zu behaupten, ver lor aber die Machtposition im übrigen Thessalien allmählich ganz. Schon 3 69 riefen die von Polyphron verbannten Larisaier den Makedonenkönig Alexan dros H. zu Hilfe, der daraufhin diese Stadt und ebenso Krannon besetzte, nicht jedoch um den beiden Gemeinwesen die Freiheit zu gewährleisten, vielmehr um die Plätze für sich selbst zu behalten. Vergeblich hatte der Pheraier Alexandros dies zu verhindern gesucht. Er mußte sich mit dem Verlust der Städte abfinden, zumal da sich auch an anderen Orten Widerstand gegen ihn regte. Denn es wurde bald offenbar, daß er, der sich zunächst als Befreier von der Tyrannis des Poly phron ausgegeben hatte, in dessen Fußtapfen trat und, anders als ehedem Jason, thessalische Städte zu vergewaltigen suchte. Diese und ebenso wohl Larisa und Krannon wandten sich in ihrer Bedrängnis an Theben mit der Bitte, ihre Freiheit zu sichern oder wiederherzustellen. Es erschien denn auch Pelopidas mit einern Heer, besetzte Larisa, rückte nach Makedonien vor, wo er Thronstreitigkeiten schlichtete und Alexandros H. zum Verzicht auf die beiden thessalischen Plätze nötigte. Dann erst scheint er sich der anderen S tädte angenommen zu haben, indern er versuchte, den Pheraier zur Aufgabe seines tyrannischen Verhaltens gegenüber den Thessalern und zur Führung des Tagosamtes im Sinne Jasons zu bewegen. Als dieses Bemühen sdleiterte, stärkte er durch Herstellung einer Ein heitsfront aller Thessaler, die er offenbar einen neuen Tagos wählen ließ, die Abwehrkraft gegen den Tyrannen. Da dieser jedoch von Angriffen auf die Städte nicht abließ, erbaten die Thessaler von neuem Thebens Hilfe (368) . Militärische Unterstützung erhielten sie nicht, wohl aber wurde zur Vennittlung Pelopidas mit Ismenias geschickt. Alexandros scheint sich zunächst ruhig verhalten zu haben, so daß der Thebaner in Makedonien, wo Alexandros H. gestorben war, abermals in dynastische Streitigkeiten eingreifen konnte. Im Begriff, dort angeworbene, aber
Alexandros von Pherai
abtrünnig gewordene Söldner bei Pharsalos zu stellen, sah er sich unerwartet dem mit Heeresmacht gekommenen Tyrannen gegenüber, der ihn, als er sich zu Verhandlungen in dessen Lager begab, samt seiner Begleitung wortbrüchig gefan gen nehmen ließ. Anschließend bemächtigte sich Alexandros der Stadt Pharsalos, wo der Widerstand gegen die Herren von Pherai auch nach Beseitigung des Poly damas nicht erloschen war. Der nun vollzogene offene Bruch mit Theben mußte es dem Gewalthaber nahelegen, bei dessen Gegnern Unterstützung zu suchen, vor allem bei Athen. Er schloß ein Bündnis mit der Stadt, die ihm alsbald ein Hilfskorps schickte, während er seinerseits ihr Subsidien zahlte. Die von Boiotien drohende Gefahr war freilich vorerst nicht allzu groß. Ein in Thessalien eindrin gendes Heer, von unfähigen Männern geführt, geriet in schwerste Bedrängnis, aus der es nur der bisher vom Kommando ausgeschaltete, nun aber von den Truppen spontan wieder zum Feldherrn erhobene Epameinondas befreite. Die dem Alexandros feindlichen Thessaler hatten kaum Hilfe geleistet und unter stützten die boiotischen Streitkräfte auch nur wenig, als diese im Jahre 3 67 unter Epameinondas' Führung abermals in Thessalien erschienen. So war schon viel erreicht, als Alexandros zu einem Waffenstillstand und zur Freigabe des Pelopi das gebracht werden konnte. Vielleicht gab er auch Pharsalos heraus ; im übrigen jedoch blieb Thessalien ihm schutzlos überlassen. Mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit hat der Tyrann die dadurch gegebenen Möglichkeiten wahrgenommen. Noch vor Epameinondas' letztem Zug überfiel er die Städte Meliboia und Skotussa, ließ die männlichen Bürger durch seine Söldner grausam niedermetzeln, die Frauen und Kinder als Sklaven verkaufen, um aus dem Erlös Mittel zur Bezahlung der Miettruppen zu gewinnen. Natürlich sah er sich weiterhin nicht nur als den Tagos der Thessaler an, sondern hielt auch an dem Willen zu tyrannischer Herrschaft über die gesamte Landschaft fest. Einen schlimmen Tagos für die Thessaler nennt ihn Xenophon, schlimm auch als Feind für die Thebaner und Athener, einen frevelhaften Räuber zu Lande wie zur See. Auch bei späteren Schriftstellern ist häufig von der Grausamkeit seiner Tyrannis die Rede. Man sagte ihm, der angeblich eine dramatische Aufführung verließ, um nicht von Mitleid gerührt zu werden, die scheußlichsten Gewalttaten nach, und über seinen Argwohn liefen ähnliche Geschichten um wie über das Mißtrauen des Dionysios. Mag in solchen Erzählungen auch das Bild des Tyrannen mit den seit dem 5. Jahrhundert immer wieder gebrauchten typischen Farben gemalt sein, an dem Despotischen seines Wesens und seiner Herrschaft kann nicht gezweifelt wer den. Die Rechte, welche Jason der Polis Pherai gelassen hatte, wurden von seinem Neffen, der als erster Stadtherr den eigenen Namen, nicht den des Gemeinwesens auf die Münzen setzte, offenbar gemindert, die Bemühungen, ganz Thessalien sich untertänig zu machen, energisch fortgesetzt. Wirklich gelang es Alexandros
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die Randstämme der phthiotischen Achaier und Magneten niederzuwerfen und ihre Gebiete durch Besatzungen an sich zu ketten, auch konnte er manche Städte des Kernlandes vergewaltigen, doch war die Folge, daß die Thessaler nun in höchster Not sich zum dritten Male an Theben um Hilfe wandten. Pelopidas, von begreiflichem Haß gegen den einst wortbrüchigen Tyrannen erfüllt, konnte zwar ein Aufgebot von 7000 Mann, das die Thebaner zu entsenden beschlossen hat ten, nicht ins Feld führen, weil eine Sonnenfinsternis (Juli }64) dem Auszug ent gegenstand, doch erschien er mit }OO freiwilligen Reitern und einem Söldnerkorps in Südthessalien, wo er Zuzug aus den um ihre Freiheit ringenden Städten erhielt. Hoffnungen auf einen den Gegner lähmenden Zwist im Tyrannenhause erfüllten sich nicht. So mußte er diesem mit einem wesentlich schwächeren, nur an Reiterei überlegenen Heer entgegentreten. An den Kynoskephalai-Bergen errang er zwar einen Sieg, fand aber beim Versuch, den Tyrannen mit eigener Hand nie derzustrecken, den Tod. Alexandros scheint dem Zweikampf bewußt ausge wichen zu sein. Die Lage der Thessaler blieb weiter prekär, bis ein zweiter Sieg, den das boiotische Aufgebot wohl noch im selben Jahre erfocht, ihnen die Rettung brachte. Der Gewalthaber mußte sich jetzt zu einem Frieden bequemen, in dem er der Herrschaft über Thessalien und die Randgebiete mit Ausnahme des süd lichen Teiles des Magnetenlandes entsagte. Auf Pherai und Pagasai beschränkt, hatte er den Boiotern fortan Heeresfolge zu leisten wie, unabhängig von ihm, auch das Koinon der Thessaler, dessen Kontingent neben dem des Tyrannen bei Mantineia (}62/1) auf Seiten des Epameinondas kämpfte. Gegen den immer noch gefährlichen Herrn von Pherai hatte der Verband an Theben bis dahin Rückhalt. Als es jedoch nach dem Zusammenbruch der boiotischen Macht wieder zu krie gerischen Verwicklungen mit Alexandros kam, schlossen die Thessaler lieber mit Athen einen Bündnisvertrag, der beiden Partnern einen Separatfrieden mit dem Tyrannen untersagte (}61/0) . Dieser nämlich hatte nach dem Verzichtfrieden von }64/} sich seinen einsti gen Bundesgenossen zum Feinde gemacht. Wohl um die nötigsten Mittel zur Bezahlung seiner Soldtruppen zu gewinnen, trieb er von einigen Punkten des ihm verbliebenen Südens der Halbinsel Magnesia aus Piraterie in großem Stil, wobei er auch die Athener aufs schwerste beeinträchtigte. Nachdem er im Som-: mer }62 die Insel Tenos überfallen und ihre Bewohner versklavt hatte, griff er im nächsten Jahre außer anderen Kykladen auch noch Peparethos an, das Mitglied des Attischen Seebundes war. Die Athener erklärten daraufhin dem Tyrannen, dessen sie ohnehin seit dem allgemeinen Frieden von }62/1 nicht mehr bedurften, den Krieg und verbanden sich mit den freien Thessalern, ohne jedoch gegen Alexandros Wesentliches ausrichten zu können. Diesem gelang es vielmehr, fünf attische Trieren zu kapern, 600 Gefangene zu machen und seine
Alexandros v o n Pherai
zeitweise auf der Insel eingeschlossenen Truppen zu befreien. Wohl im An schluß an diesen Erfolg ließ er sogar ein Geschwader überraschend in den Pi räus vorstoßen, wo seine Leute das Geld von den Tischen der Wechsler rauben und mit ihrer Beute wieder abfahren konnten. Größere politische Pläne dürf ten für diese Unternehmungen schwerlich bestimmend gewesen sein. Der in Thessalien eingeengte Tyrann betätigte sich wie ein Räuberhauptmann und suchte bezeichnenderweise sich mit dem Condottieren Charidemos zu verbin den, der nicht lange zuvor als Tyrann über Städte der Troas geboten hatte. Bald jedoch ereilte ihn das Schicksal. Seine Gemahlin Thebe, deren Neigung zu der Stadt, nach der sie hieß, und im besonderen zu Alexandros' Feind Pelopidas schon früher zu Zwistigkeiten mit ihrem Manne geführt hatte, lebte in kinderloser und offenbar unglücklicher Ehe. Das Verhältnis zwischen den Ehegatten wurde in folge besonderer Vorfälle, über die schon die Zeitgenossen nichts Sicheres wuß ten, unerträglich. Thebe behauptete, daß ihr Gemahl ihr nach dem Leben trachte, und brachte ihre Brüder Tisiphonos und Lykophron dazu, Alexandros von ihren Augen im ehelichen Schlafgemach zu ermorden. Spätere, unter ihnen der Dich ter Moschion, der die Tat in einer Tragödie »Die Pheraier« auf die Bühne brach te, sahen darin ein typisches Tyrannenschicksal, wie denn Alexandros hinfort als Muster des hemmungslosen, grausamen Tyrannen galt. Seine Leiche, erzählte man, sei von den Pheraiern geschändet worden; andere behaupteten, die Mörder hätten sie ins Meer geworfen, was der Wahrheit entsprechen dürfte. Ein dem Tyrannen nahestehender Mann aus Pagasai ließ sie angeblich herausfischen, zu Gleichgesinnten nach Krannon bringen und dort beisetzen. Tyrannen um die Jahrhundertmitte Mit Alexandros' Tod wurde Tisiphonos, der älteste der drei Söhne Jasons, Herr von Pherai, doch spielte neben ihm sein Bruder Lykophron eine nicht geringe Rolle, so daß abermals eine Art von Samtherrschaft Platz griff. Beide erfreuten sich als Beseitiger des verhaßten Gewalthabers allgemeiner Sympathie, um so mehr, als die Herrschaft über Pherai j etzt milder wurde. Gegenüber dem Koinon der Thessaler allerdings verfolgte Tisiphonos die einstige Politik des Alexan dros, gestützt auf die von ihm übernommenen Söldner, so daß die bedrohten Gegner, vor allem die Aleuaden, in Makedonien bei Philipp Ir. Hilfe suchten. Dieser kam und verhinderte, daß die Macht der Herren von Pherai sich erneut über andere Städte Thessaliens erstreckte (357) . Tisiphonos, von dem wir noch hören, daß er im gleichen Jahre auf Grund des einst dem Alexandros aufgenötig ten Vertrages die Thebaner gegen die Athener auf Euboia unterstützte, muß be reits vor 354 gestorben sein, denn in diesem Jahre war bereits Lykophron im Be sitz der Herrschaft über Pherai, an welcher der dritte der Brüder, Peitholaos, in
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ähnlicher Weise teilgehabt zu haben scheint wie Lykophron zuvor an derjenigen des Tisiphonos. Vielleicht schon in dessen letzter Zeit, spätestens aber jetzt, än derte sich innen- und außenpolitisch insofern der Kurs, als das Regiment über die Stadt trotz Mahnungen des Isokrates wieder härter wurde und an die Stelle des Bündnisses mit Theben ein solches mit dem Philipp-feindlichen Athen trat. Denn Lykophron, der wie seine Vorgänger die Macht des Tyrannenhauses über ganz Thessalien ausdehnen wollte, sah in dem Makedonenkönig, der Tisipho nos' Absichten vereitelt hatte, seinen Hauptgegner. Und dies mit Recht. Als er nämlich die freien Thessaler, vor allem Larisa, 354 mit Krieg überzog, wandten diese sich abermals an den Nachbarn im Nor den. Philipp erschien mit Heeresmacht, trieb Lykophron zurück und schnitt ihn nach einem erfolgreichen Angriff auf Pherai durch Besetzung des nahen Pagasai vom Meere ab. Vom verbündeten Athen im Stich gelassen, rief der Tyrann nun Onomarchos, den mächtigen Feldherrn der Phoker, zu Hilfe, der ihm auch 7000 Mann unter seinem Bruder Phayllos sandte (353 ) . Sie wurden zwar vom Makedonenkönig geschlagen, doch als nunmehr Onomarchos mit großer Heeres macht kam, siegte er in zwei Treffen über Philipp. Lykophron freilich hatte da von außer der momentanen Entlastung keinen Gewinn, weil der Sieger nicht dar an dachte, ihm Thessalien zu überantworten, das er vielmehr der eigenen Herr schaft angliedern wollte. Bei einem neuen Vorstoß des Makedonen (352) mußte der Tyrann denn auch dem Phoker den Besitz Thessaliens anbieten, um ihn zu nochmaligem Eingreifen zu bewegen. Jetzt aber gelang es Philipp, mit Unter stützung der in gleicher Weise die Herrschaft des Onomarchos wie die des Lyko phron fürchtenden Thessaler auf dem Krokosfelde einen entscheidenden Sieg zu erringen, der dem phokischen Machthaber das Leben kostete. Damit war auch Lykophrons Tyrannis über Pherai unhaltbar geworden. Er und sein Bruder Pe i tholaos, der erst jetzt hervortritt, kapitulierten vor dem möglicherweise schon damals zum Tagos gewählten Philipp gegen die Zusicherung, mit 2000 Söldnern abziehen zu dürfen. Sie führten diese Truppen dem Phoker Phayllos zu bis auf 150 Reiter, die sie den Spartanern zum Kampf gegen Megalopolis sandten. Im Jahre 349 hielten sich beide in Athen auf, wo sie sich vor Gericht gegen eine uns unbekannte Anklage zu verteidigen hatten. Das attische Bürgerrecht, das man ihnen wohl zur Zeit des Bündnisabschlusses verliehen hatte, wurde dem Peitholaos abgesprochen; Lykophron, der nicht mehr genannt wird, scheint vor dem Ende des Prozesses gestorben zu sein. Ob Peitholaos kurz darauf noch ein mal die Tyrannis über Pherai gewinnen konnte, aber alsbald von Philipp vertrie ben wurde, wie Diodor berichtet, ist höchst zweifelhaft. Vermutlich ist die Stadt seit 352 frei und Mitglied des Koinon der Thessaler gewesen. Aus Pherai stammte auch ein Deinias, Sohn des Telesippos, der um die Mitte
Tlzessalisd1e Tyrannen
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die lahrhundertmitte
der fünfziger Jahre die Herrschaft über Krannon innehatte. Er soll dort durch Vogelfang reich geworden sein und vom Gemeinwesen die Bewachung der Stadt in Pacht übernommen haben. Drei Jahre lang sorgte er, wie es heißt, vorzüglich für die Sicherheit der Bürger, vermehrte dabei die Polizeitruppe und ermöglichte es seinem Bruder, den von der Polis erhobenen Zehnten des Getreideertrages zu pachten. Zahlreiche junge Wachleute gab er ihm zur Durchführung seines Ge schäftes bei. Nachdem er so bewaffnete Männer über Stadt und Land verteilt hat te, überfiel er mit ihnen am Itonienfest die Bürger, machte angeblich tausend von ihnen nieder und gewann die Tyrannis über Krannon. Auf ähnliche Weise hat te einst Phalaris um 570 Akragas in seine Hand gebracht. Von der Art, wie Deinias die Herrschaft ausübte, wissen wir nichts ; auch über sein Verhältnis zu den Tyrannen von Pherai lassen sich höchstens Vermutungen anstellen. Späte stens nach der Schlacht auf dem Krokosfelde (352) muß der Tyrann gestürzt wor den sein. In Larisa hatten vor allem die Aleuaden immer wieder ein Übergreifen der Tyrannen von Pherai auf ihre Stadt zu verhindern gesucht, doch waren wie in früheren Zeiten auch jetzt Männer aus ihren eigenen Reihen vom Streben nach Tyrannis nicht frei. Wohl um 350 nahm der Aleuade Simas, gestützt auf einen Teil der Sippe, eine tyrannen ähnliche Stellung ein, die sich etwa darin bekun dete, daß er gleich Alexandros von pherai und Tisiphonos seinen Namen auf Münzen der Stadt setzen ließ. Widerstand scheint er weniger im Volk als bei dem ihm abgeneigten Teil der Aleuaden gefunden zu haben, mit dem es zu blu tigen Auseinandersetzungen kam. Als ein Bruder des Simos von einem Ange hörigen dieser Gruppe, Eurydamas, dem Sohn des Medios, umgebracht worden war, ließ er den Mörder nicht nur töten, sondern seinen Leichnam um das Grab mal des Ermordeten schleifen. Es scheint, daß Simos' Gegner sich schließlich an König Philipp wandten, der 344/3 den Gewalthaber, obwohl dieser ihn einst nach Thessalien gerufen hatte, samt seinem nächsten Anhang vertrieb. Die beiden Gruppen des Aleuadenhauses einigten sich auf die Einsetzung eines mit militä rischer Macht ausgestatteten, über den Parteien stehenden Archon, der eine ähn liche Stellung einnahm wie in den siebziger Jahren Polydamas in Pharsalos. Seit di�ser Zeit hat es in Thessalien keine Tyrannen mehr gegeben ; dafür sorgte al lein schon die neue Ordnung, die der Makedone dem Lande gab. Wenn der von ihm zum Tetrarchen ernannte Pharsalier Thrasydaias von dem Historiker Theo pompos als Tyrann bezeichnet wird, so handelt es sich um eine seiner boshaften Bemerkungen, die nicht einmal über die Art der Amtsführung Sicheres aussagt.
Das Mutterlalld
11. M I TTE L G R I ECHE N LA ND :l. PHOKIS
Der Phoker Onomarchos, den Lykophron von Pherai zweimal zu Hilfe gerufen hatte, nahm in der Mitte der fünfziger Jahre selbst eine tyrannenartige Stellung ein. Gewisse Ansätze dazu sind schon bei seinem Vorgänger im Oberbefehl, Phi lomelos, zu bemerken. Ihn hatten die Phoker, als sie beschlossen, dem Urteils spruch der Amphiktyonen über einige vornehme Männer zu trotzen, zum Strate gos autokrator gewählt (356) und damit sich ähnlich einem einzelnen Manne unterstellt wie die Syrakusaner dem Dionysios in der Not des Karthagerkrie ges. Philomelos, ein vornehmer und reicher Mann aus Ledon, rief 1000 Peltasten unter die Waffen, im übrigen aber stellte er aus seinen privaten Mitteln sowie aus Geldern, die der Spartanerkönig Archidamos III. ihm persönlich, nicht dem Gemeinwesen der Phoker, zukommen ließ, ein starkes Korps landfremder Söld ner auf. Er schuf sich also, wie so manche künftige Tyrannen, ein eigenes mili tärisches Instrument. An die Errichtung einer monarchischen Herrschaft dachte er jedoch, mindestens vorerst, nicht, besetzte vielmehr für die phoker das Delphische Heiligtum mit seinen Truppen und besoldete diese fortan mit Geldern, die er durch Beschlagnahme von Schätzen des pythischen Gottes gewann. Diese Inan spruchnahme des Tempelbesitzes könnte als krasser Gewaltakt erscheinen und somit an Tyrannis erinnern, wäre sie nicht im Namen und zugunsten der Pho ker geschehen, denen man daher auch später den Frevel - denn ein solcher blieb es trotz der gewaltsamen Einbeziehung Delphois in den phokischen Stamm staat - zur Last legte. Die Söldner standen j etzt im Dienste der Phoker, nicht des Philomelos, der sie als gewählter Feldherr befehligte, zudem versprach, über die beschlagnahmten Schätze vor ganz Hellas Rechenschaft zu geben. Auch die Be seitigung des delphischen Geschlechtes der Thrakiden und die Konfiskation ihres Besitzes kann kaum als «Tyrannenakt» gelten, da nichts dafür spricht, daß er diese Güter sich selbst aneignete. So sind, wenn man nicht Klatschgeschichten u�d Legenden unverdiente Bedeutung beimißt, höchstens in den Anfängen des Philo melos Anklänge an das Vorgehen von Tyrannen zu bemerken. Etwas anders steht es mit Onomarchos, der in den letzten Kämpfen dem Phi lomelos als Mitfeldherr beigegeben war und nach dessen Tod in einer unglück lichen Schlacht bei Neon (354) zum Strategos autokrator gewählt wurde. Schon daß er sich seinen Bruder Phayllos mit der Anwartschaft auf Nachfolge beige sellen ließ, deutet darauf hin, daß er dynastische Ziele verfolgte. Er war, mag die ihm und seinem Hause feindliche Überlieferung auch manches übertrieben oder erfunden haben, jedenfalls skrupelloser und selbstsüchtiger als sein Vorgänger.
Pholcis: Philomelos. Onomarchos. Phayllos
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Aus persönlichen Motiven soll der ruhm- und machtgierige Mann die Fortset zung des Krieges gegen die Amphiktyonen erzwungen haben. Seine Gegner in Phokis ließ er hinrichten und ihren Besitz einziehen, vielleicht zur eigenen Be reicherung, wie er auch einiges von den Tempelschätzen an sich genommen zu haben scheint. Von einer Vergewaltigung des phokischen Stammstaates ist frei lich auch bei ihm in der kurzen Zeit seines ganz den auswärtigen Kämpfen ge widmeten Wirkens nichts zu erkennen außer der bemerkenswerten Tatsache, daß er - wie schon vorher der Tyrann Alexandros von Pherai - seinen Namen auf die heimischen Münzen setzte. Auch sein Eingreifen in Thessalien für den Ty rannen Lykophron von Pherai, das freilich in Onomarchos' eigenem Interesse lag, verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung. Nach vielen erfolgreichen Kämpfen, die den Anschein erwecken konnten, als würde der phokische Feldhauptmann eine Hegemonie über weite Teile Mittel und Nordgriechenlands errichten, wurde er 35 2 auf dem Krokosfelde von König Philipp vernichtend geschlagen und fand selbst den Tod. Das Amt des Strategos autokrator ging jetzt gemäß der früher getroffenen Regelung auf seinen Bruder Phayllos über. Zeigt sich in dieser fast dynastischen Nachfolge eine weitere Hin wendung zur Tyrannis, so scheint auch die Persönlichkeit des Phayllos sidl vom Typus eines tyrannischen Gewalthabers nur wenig unterschieden zu haben. Noch rücksichtsloser als Onomarchos, ließ er die heiligen Sdlätze einschmelzen und in Waffen oder in Münzen mit dem eigenen Namen verwandeln; der Sold der Miet truppen, die er beträchtlich vermehrte, wurde verdoppelt und aus den ihm zur Verfügung stehenden Kostbarkeiten soll er seinen Hetären manche reiche Ge schenke gegeben haben. Eine Art von «Tyrannensolidarität» war wohl im Spiel, wenn Lykophron und Peitholaos, die gestürzten Herren von Pherai, die ihnen verbliebenen Söldner dem phokischen Machthaber zuführten. Als Phayllos, von einer tödlichen Krankheit befallen, sein Ende nahen fühlte, setzte er nach Tyran nenart eigenmächtig seinen noch nicht voll erwachsenen Neffen Phalaikos, einen Sohn des Onomarchos, als Nachfolger im Oberbefehl ein unter Vormundschaft eines Verwandten, des Mnaseas von Elateia, der freilich noch im gleichen Jahre (351) fiel. Der junge Phalaikos, der bezeichnenderweise die Bemühungen eines aus Eretria vertriebenen Kleitarchos um die Errichtung einer Tyrannis über seine Heimat begünstigte, vermochte sich trotz wiederholter thebanischer Angriffe von 351 bis 347 in seiner Stellung zu behaupten. Die allmähliche Erschöpfung der Tempel schätze j edoch und die dadurch hervorgerufene Unzufriedenheit der Söldner tat seiner Autorität auch bei den Phokern Abbruch, zumal da er große militärische Erfolge nicht erringen konnte. Man wollte ihn los sein, beschuldigte ihn der Ver
untreuung von heiligen Geldern und entsetzte ihn seiner fast monarchischen Stel-
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lung; einer seiner Gehilfen wurde sogar unter Martern hingerichtet. Obwohl nun wieder ein dreiköpfiges Strategenkollegium gewählt wurde, muß Phalaikos es doch verstanden haben, durch Gelder, die er sich auf eine uns unbekannte Weise verschaffte, einen Teil der Söldner an sich zu ketten. Denn bald darauf sehen wir ihn, der sich wohl weiterhin als Strategos autokrator betrachtete, erneut an der Macht und die von jenem Kollegium mit Athen und Sparta aufgenommenen Verhandlungen brüsk desavouieren. Zugleich scheint er angesichts des Dahin schwindens der Tempelschätze Fäden zu König Philipp gesponnen zu haben, um wenigstens für sich und die Söldner freien Abzug zu erreichen. Jedenfalls schloß er im Hochsommer 346 unter dieser Bedingung mit dem Makedonen einen Ka pitulationsvertrag, nur auf sich und seine Truppen bedacht, den phokischen Stamm jedoch der zu erwartenden schweren Bestrafung durch die Amphiktyonen über lassend. Wie er in der Folgezeit sein Heer zunächst in der Peloponnes aus wider rechtlich mitgenommenen Geldern unterhielt, dann von Korinth nach Tarent se gelte und diese Stadt gegen die Lukaner unterstützte, bis ihn die meuternden Söldner zur Umkehr zwangen, wie er sich schließlich mit seinen Leuten von den Knosiern auf Kreta anwerben ließ (um 342) und im Kampf um Kydonia fiel, das alles zeigt ihn als reinen Condottieren. Für die Geschichte der jüngeren Ty rannis ist es insofern von Bedeutung, als sich darin jene Verbindung von tyran nischem Machtwillen und Condottierengeist bekundet, die bereits bei Alexandros von Pherai anzutreffen war und uns noch öfter im Bereich der Ägäisländer be gegnen wird. Reine Tyrannen sind die vier phokischen Strategen um die Jahrhundertmitte nicht gewesen, mochten sie auch von ihren Gegnern und namentlich von späte ren Schriftstellern als solche bezeichnet werden. Das Amt des Strategos autokra tor, das dem Phalaikos, obwohl es bereits erblich geworden war, von den Pho kern genommen, allerdings auch von dem Abgesetzten erneut usurpiert werden konnte, nicht die eigenständige Macht eines neben dem Gemeinwesen stehenden Gewalthabers, war die Basis ihrer fast monarchischen Stellung. Freilich sind die Grenzen zwischen einem derartigen legalen Sonderamt und illegaler Tyrannis schon im Hinblick auf die mehr der Person des Feldherrn als dem Staate verb�n denen Soldtruppen fließend, wie denn auch sonst manche Tyrannenherrschaften des 4. Jahrhunderts mit der rechtlichen Struktur der betroffenen Gemeinwesen enger verflochten waren als einst das Regiment eines Peisistratos oder Polykra tes. Im vorliegenden Falle dies zu erkennen hindert die allzu dürftige Überliefe rung. Sie gestattet auch nicht zu sagen, ob es nach 346 in einzelnen Städten von Phokis Tyrannen gegeben hat. Zwar wird vom älteren Plinius der zur Zeit Alexanders des Großen lebende Mnason von Elateia, ein Sohn jenes Mnaseas, der für Phalaikos die Vormundschaft geführt hatte, als Tyrann bezeichnet, doch
Phalaikos. Lokris. Theben
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scheint weder Aristoteles, der ihn kannte, noch der tyrannenfeindliche Historiker Timaios etwas von einer Herrschaft des Mannes über seine Heimat gewußt zu haben. Bedrückend war offenbar lediglich sein Reichtum, der ihm gestattete, 1000 Sklaven zu halten, durch die in dem völlig verarmten Phokis die Ver dienstmöglichkeit freier Arbeiter zur allgemeinen Erbitterung beschränkt wurde. 2. OZOL I S CHES LOK R I S Schon i m ersten Viertel des Jahrhunderts hatte in Oiantheia an der Küste des Korinthischen Golfes ein Phrikodemos die Tyrannis gewonnen. Die einzige Nach richt über ihn ist leider so sehr vom konventionellen Tyrannenbild späterer Zeiten bestimmt, daß ihr wenig Sicheres zu entnehmen ist. Der Gewalthaber, der die Brüder des von ihm zur Ehe mit seinem Sohne Phiion gezwungenen Mäd chens Themisto wilden Tieren vorwerfen läßt, die junge Frau selbst, die den ver haßten Gatten im Schlafgemach ersticht, um dann im Heiligtum des Poseidon zu Helike in Achaia Schutz zu suchen, wo sie jedoch unter Verletzung des Asyl rechtes dem Bruder des Ermordeten ausgeliefert wird, die Befreiung schließlich der von diesem Entführten durch die dem Phrikodemos feindlichen Akarnanen, die ihr den Schwager gefesselt überantworten und ihn martervoll töten, obwohl Themisto dem Tyrannen seine Freigabe zusagt und dafür ihre Eltern zurück erhält : das alles trägt zu sehr den Stempel der Tyrannenlegende, als daß es Glaubwürdigkeit beanspruchen könnte. Lediglich daß Oiantheia in den Jahren vor der Erdbebenkatastrophe von Helike (373) unter der Herrschaft eines harten Tyrannen mit Namen Phrikodemos stand, der, wie die Erzählung noch angibt, von den Bürgern ermordet wurde, darf als historische Tatsache gelten. 3. THEBEN
«Tyrannen» werden von Xenophon und späteren Autoren die Thebaner Archias, Philippos, Leontiades und Hypates samt ihren Genossen genannt, die 382 dem Spartaner Phoibidas die Kadmeia in die Hände spielten, um unter seinem Schutz die Stadt beherrschen zu können. Sie bildeten eine Hetairie, deren offenbar in vielem gesetzloses Schalten während der nächsten drei Jahre, in denen dreihun dert politische Gegner Theben verlassen mußten, demjenigen von Tyrannen zu gleichen schien. Dabei bekleideten Archias und Leontiades, vielleicht auch Philip pos, mindestens im Jahre 379/8 das dreistellige, mit bedeutenden zivilen Kompe tenzen ausgestattete Polemarchenamt, zu dem die Vollbürger sie freilich kaum aus freien Stücken gewählt hatten. Doch so wenig wie sonst bei der Verbindung von Tyrannis und Oberamt bildete das letztere die eigentliche Basis ihres Wirkens, es
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war vielmehr die faktische Macht, welche sie, ohne einer eigenen Söldnertruppe zu bedürfen, dank der Unterstützung durch den spartanischen Burgkommandan ten besaßen, was ihr Willkürregiment ermöglichte. Tyrannis mit Hilfe und von Gnaden einer auswärtigen Macht wurde im 4. Jahrhundert immer häufiger, des gleichen die Erscheinung, daß nicht nur ein einzelner Mann mit seinem Haus, sondern eine kleine Gruppe von Oligarchen die Gewalt an sich riß und dann eine Art von Samtherrschaft führte, wie sie seit alter Zeit bisweilen von Mitglie dern einer Tyrannenfamilie ausgeübt worden war. Auch die Art, wie die ge nannten Männer schließlich teils bei einem Festmahl, teils in ihren Wohnungen umgebracht wurden, erinnert an Tyrannenmord und ist bereits von Zeitgenos sen einem solchen gleichgesetzt worden. 4. EUBO I A
Schon i n anderem Zusammenhange war zu erwähnen, daß i n Oreos-Hestiaia um 3 80 ein Neogenes mit Hilfe J asons von Pherai Söldner anwerben, die Burg be setzen und sich zum Tyrannen über Stadt und land aufwerfen konnte. Aber nur für kurze Zeit, denn die Lakedaimonier vertrieben ihn, da er sich nicht zur Abdankung bewegen ließ, in Zusammenwirken mit der von ihnen zur Freiheit aufgerufenen Bevölkerung. Ein bis zwei Jahre war dann ein spartanischer Har most in der Stadt postiert, die sich später bald an Theben, bald an Athen anschloß. In dieser Zeit, vermutlich in den sechziger Jahren, scheint sie vorübergehend wie der einem Gewalthaber untertan gewesen zu sein, von dem wir jedoch nicht mehr als seinen Namen, Charigenes, wissen. Besser dagegen ist uns die Tyrannis des Philistides und seiner Genossen aus der zweiten Hälfte der vierziger Jahre be kannt. Den makedonenfeindlichen Demokraten unter Euphraios' Führung traten damals Philistides, Menippos, Thoas, Agapaios als Führer einer oligarchischen Gruppe entgegen, die nicht zuletzt aus eigensüchtigen Motiven den Anschluß Hestiaias an König Philipp betrieb. Von Euphraios angeklagt, rottete sich diese Schar zusammen und erreichte, daß er ins Gefängnis geworfen wurde (343 ) . �m Herbst des folgenden Jahres öffneten sie dem makedonischen Feldherrn Parmenion die Tore und konnten nun, gestützt auf die fremde Macht, vollends ein Gewalt regiment üben. Wie ein Menschenalter zuvor in Theben handelt es sich auch hier um die von außen begünstigte Herrschaft einer Hetairie, die nicht ohne Grund von den Gegnern als Tyrannis bezeichnet wurde. Euphraios starb in der Haft, sei es durch Selbstmord, sei es daß Parmenion seine Hinrichtung befahl, die übrigen Widersacher flüchteten aus der Stadt oder wurden umgebracht. Von positiven Taten verlautet nur, daß Philistides die städtische Bevölkerung durch Aufnahme von Ellopiern aus der Umgegend vermehrte. Wahrscheinlich hoffte er sich in die-
Oreos-H estiaia. Eretria
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sen Leuten, die er mit konfiszierten Gütern der Vertriebenen oder Hingerichteten ausgestattet haben dürfte, eine zuverlässige Anhängerschaft zu gewinnen. Doch schon im Sommer 341 wurde seine und seiner Genossen Gewaltherrschaft durch die Athener im Verein mit Kallias von Chalkis gestürzt und die Demokratie wie derhergestellt. Philistides selbst fand dabei den Tod. In Eretria begegnet um die Mitte der sechziger Jahre ein Tyrann Themiso71, neben dem ein gewisser Theodoros stand, so daß vielleicht auch hier an eine Art von Samtherrschaft zu denken ist. Zur Macht gelangte Themison anscheinend mit Hilfe der Thebaner, von denen er jedenfalls so abhängig war, daß er ihnen die attische Stadt Oropos, deren er sich bemächtigte, überlassen mußte. Auch in der ersten Zeit nach dem Ende der Vormachtstellung Thebens war dessen Einfluß auf Eretria noch beträchtlich. Damals kam es zu blutigen Kämpfen zwischen Anhän gern und Gegnern Thebens, bis die Athener im Jahre 357/6 eingriffen. Spätestens jetzt, wenn nicht schon froher, muß die Tyrannis des Themison ihr Ende gefunden haben, doch sind auch die folgenden Jahre, während deren die Stadt im Bündnis mit Athen stand, nicht tyrannenlos geblieben. Um 352 gebot über Eretria ein Menestratos, der wohl nur wegen seiner Athenfreundlichkeit von Demosthenes «Dynastes», nicht «Tyrann» genannt wird, und drei Jahre später nahm dieselbe Stelle Plutarchos ein. Es waren jetzt nicht mehr Athen und Theben, sondern Athen und König Philipp, die hinter den Parteikämpfen in den Städten Euboias standen. Bedroht von seinem makedonenfreundlichen Landsmann Kleitarchos, der in der Verbannung von Phalaikos, dem phokischen Gewalthaber, Söldner zu erhalten wußte, wandte sich Plutarchos an Athen, wo er in Meidias einen Freund besaß, um Hilfe, die ihm auch unter Phokions Führung zuteil wurde. Aber im Kampf, den sie gemeinsam bei Tamynai gegen Kleitarchos und den ebenfalls makedonenfreundlichen Kallias von Chalkis zu bestehen hatten, ging Plutarchos auf die Gegenseite über, wohl in der Meinung, daß die Athener die Annexion der Insel beabsichtigten. Der siegreich gebliebene Phokion vertrieb ihn samt seinen Söldnern darauf aus Eretria und stellte die frei staatliche Verfassung wieder her, die er durch eine Besatzung zu sichern suchte (348) . Trotz einem Aufstand, bei dem der Kommandant gefangengenommen wurde, blieb es während der nächsten sechs Jahre bei dieser Regelung. Plutarchos' Rolle war ausgespielt, Kleitarchos aber, der wohl nicht mehr über die phokischen Söldner verfügte, auch von König Philipp vorerst keine militärische Unterstützung erhielt, konnte nicht an einen Staatsstreich denken. Erst als der Makedone 342 nach Euboia übergriff und Porthmos, den Hafen von Eretria, besetzte, schlug seine Stunde. Denn nun wurde er zusammen mit zwei Anhängern des Königs, Automedon und dem greisen Hipparchos, der freilich bald starb, als Tyrann eingesetzt. Wieder finden wir die Herrschaft einer kleinen Gruppe, wieder das Ausgehaltenwerden der Gewalthaber
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durch eine fremde Macht. Daß Athen politische und kriegerische Anstrengungen unternahm, den unerwünschten Zustand in der nahen Stadt zu beseitigen, ist be greiflich genug. Zweimal hat Philipp zur Unterstützung seiner «Klienteltyran nen» ein Korps nach Eretria detachieren müssen, ohne doch verhindern zu können, daß kurz nach dem Ende des Philistides in Hestiaia (341) die Athener, nachdem der Demos von Eretria ihre Gesandten abgewiesen und sich zu Kleitarchos bekannt hatte, ihn gewaltsam stürzten und den früheren Zustand wiederherstellten. Das Volk war offenbar mit Kleitarchos' Regiment, von dessen Form und Art wir leider keine Kenntnis haben, nicht unzufrieden gewesen. Wenn gleichwohl nun ein Gesetz beschlossen wurde, das durch Androhung strenger Strafen für den Ver such eines Staatsstreiches und Aussetzung von Belohnungen für Tyrannenmörder die abermalige Errichtung einer Tyrannis verhindern sollte, so kann das kaum anders als unter athenischem Druck geschehen sein. Eine ähnliche Stellung wie Plutarchos in Eretria nahm zu Beginn der vierziger Jahre in Chalkis· Kallias mit seinem Bruder TauTosthenes ein, nur daß er, wie schon sein Vater Mnesarchos, nicht zu Athen, sondern zu König Philipp hielt. Daß attische Redner von einer Tyrannis sprechen, mag vorwiegend darin seinen Grund haben. Miettruppen, die auch er von Phalaikos sowie vom Makedonen könig erhielt, scheinen von ihm nicht zur Sicherung einer Gewaltherrschaft, son dern nur zum Kampf gegen Athen verwandt worden zu sein. Immerhin besaß er eine Macht und Autorität, die ihm gestatteten, die Politik der Stadt nach seinem Willen zu lenken. Auch die Niederlage, die er durch Phokion bei Tamynai erlitt, änderte daran nichts. Kallias bemühte sich in der Folgezeit vergeblich um Hilfe bei Philipp, den er angeblich beleidigte, ging dann mit Theben zusammen, um schließlich sich ganz Athen zuzuwenden, wo man ihm nach Abschluß eines Bünd nisses das Bürgerrecht verlieh (341) . Indem er gemeinsam mit den Athenern die Stadtherren von Oreos-Hestiaia und Eretria, Philistides und Kleitarchos, stürzte, konnte er sein schon früher erstrebtes Ziel, die Erneuerung eines Verbandes der Gemeinwesen Euboias mit Chalkis als Mittelpunkt, erreichen. Als Gründer und Leiter dieses Bundes, der unter seiner Führung bald der antimakedonischen F�ont in Hellas beitrat, ist Kallias zwar nicht der Beherrscher der Insel, aber doch ihr Haupt gewesen, bis Philipps Sieg bei Chaironeia (33 8) , seinem Wirken ein Ende setzte. Die berechtigte Frage, ob und wieweit es sich bei den Männern auf Euboia, von denen zu sprechen war, um Tyrannis, also um illegale Herrschaft, handelt, ist sowohl wegen des Schweigens der überlieferung über ihre Stellung neben oder in ihrem heimischen Gemeinwesen wie angesichts der Leichtfertigkeit, mit welcher attische Redner feindliche Politiker anderer Staaten «Tyrannen» zu nennen pfleg ten, schwer zu beantworten. Am ehesten scheinen in Oreos-Hestiaia echte Ty-
Chalkis. Athen
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rannenherrschaften bestanden zu haben, während das Bild in Eretria ungewiß schillernd bleibt und Kallias von Chalkis kaum als Tyrann anzusprechen sein dürfte. Immerhin berechtigen die Abhängigkeit der Gewalthaber von einer aus wärtigen politischen Macht, die Verwendung von Söldnern des Phokers Phayllos, die wenn auch unter Einwirkung Athens in Eretria beschlossene Sicherung gegen Wiederkehr einer Tyrannis sowie die Tatsache, daß der erneute Zusammenschluß der euboiischen Städte erst nach dem Sturz des Philistides und Kleitarchos möglich war, dazu, in den Männern, die um die Mitte des 4. Jahrhunderts auf der Insel hervortraten, tyrannenähnliche Erscheinungen zu sehen. 5. ATHEN
Die Polis der Athener hat im 4. Jahrhundert aus außenpolitischen Gründen die Verbindung mit Dionysios 1., Alexandros von Pherai und anderen Tyrannen zwar nicht gescheut, sich aber auch jetzt noch als stark genug erwiesen, in ihrem eigenen Bereich kein Streben nach Tyrannis aufkommen zu lassen. Nicht nur daß die Politiker jede Gelegenheit wahrnahmen, ihre Tyrannenfeindschaft zu bekun den, Demosthenes sich angeblich gern «Tyrannenhasser» nannte, es drohte seit dem Sturz der Dreißig jedem, der tyrannischer Umtriebe verdächtig war, ein Eisan gelieverfahren. Die Bildung von Hetairien, die auf Sturz der Demokratie aus gingen, war gesetzlich verboten und selbst auf das nicht mehr geltende Psephis ma des Demophantos (410/9) wurde von den Politikern gern hingewiesen. Den Tyrannenmördern Harmodios und Aristogeiton, deren Verunglimpfung aus drücklich untersagt war, zollte man dieselbe, wenn nicht noch größere Verehrung als im 5. Jahrhundert. Eine ernste Gefahr, daß eine Gewaltherrschaft errichtet oder auch nur die Demokratie beseitigt würde, hat denn auch bis zur Schlacht von Chaironeia nicht bestanden. Dann freilich war zu befürchten, daß König Philipp, obwohl der von ihm geschaffene Korinthische Bund den einzelnen Staaten Auto nomie und Freiheit zusicherte, durch Begünstigung des Machtstrebens eines ein zelnen oder einer ihm zuneigenden Gruppe die innenpolitische Situation ver ändern könnte. Hatte er doch auf Euboia und, wie sich noch zeigen wird, in ein zelnen Städten der Peloponnes das Aufkommen von Tyrannen unterstützt. Wie groß in Athen bei den makedonenfeindlichen Demokraten die Besorgnis und das Mißtrauen gegenüber den als Makedonenfreunde geltenden Mitgliedern des Areiopags war, lehrt ein sehr bald nach Konstituierung des Korinthischen Bun des im Jahre 33 7/6 beschlossenes Gesetz, das in Anknüpfung an das Psephisma des Demophantos bestimmte, es solle straflos sein, wer denjenigen töte, der mit dem Ziel der Tyrannis sich gegen den Demos erhebe oder sich an der Errichtung einer Tyrannis beteilige oder den Demos der Athener oder die Demokratie auf-
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löse. Darüber hinaus wurde verfügt, daß bei Auflösung des Demos oder der Demokratie in Athen kein Mitglied des Areiopags an einer Sitzung dieser Kör perschaft teilnehmen dürfe. Täte es einer doch, so solle er samt seinem Geschlecht des Bürgerrechtes und des Vermögens verlustig gehen. Eine Anwendung des Ge setzes ist, soweit wir sehen, nicht nötig geworden, und als im Winter 3 2 2/1. die Demokratie wirklich aufgehoben wurde, geschah es nicht durch einen Tyrannen oder eine oligarchische Gruppe, sondern durch den siegreichen makedonischen Ver weser Antipatros. Bezeichnenderweise ist damals Eukrates, der das Gesetz bean tragt hatte, ebenso wie Hypereides und Demosthenes zum Tode verurteilt worden.
IIr. I S TH M O S U N D P E L O P O N N E S
Die Städte am Isthmos, ein günstiger Nährboden schon für die ältere Tyrannis, haben auch im 4. Jahrhundert Gewaltherrschaften gesehen, die freilich kurzlebig und an Bedeutung mit den großen Erscheinungen der archaischen Zeit nicht ver gleichbar waren. Megara, wo der reiche Ptoodoros maßgebenden Einfluß besaß, wäre 344/3 beinahe unter die Tyrannis des zu seiner makedonenfreundlichen He tairie gehörenden Peri/los gekommen, dem König Philipp für einen Putsch Söld ner zur Verfügung stellte, doch scheiterte der Anschlag vor allem am Eingreifen Athens. In Korinth und Sikyon sahen sich die Oligarchen durch den Zusam menbruch der spartanischen Macht mit der Schlacht von Leuktra des lakedai monischen Schutzes gegen das Aufkommen von Tyrannen beraubt, wie er für das nahe Phleius um 380 anscheinend noch wirksam gewesen war. Die Verschär fung der wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze sowie die Verwendung von Söldnern durch die Städte konnten jetzt einen machtgierigen Mann dazu ermun tern, sich durch Aufwiegelung der unteren Schichten und mit Hilfe von Miet truppen den Weg zur Herrschaft zu bahnen. In Korinth war es der einer vornehmen und reichen Familie, also den maß gebenden oligarchischen Kreisen angehörende Timophanes, der sich um )66 zum Tyrannen aufwarf. Wegen seiner besonderen militärischen Tüchtigkeit hatte man ihm das Kommando über 400 Söldner, die zum Schutze der infolge von Spartas Schwäche auf sich allein gestellten Stadt angeworben worden waren, über tragen. Gestützt auf diese Mannschaft und die ihm anhängende besitzlose Menge, die er vermutlich mit Waffen versah, machte er sich zum Herrn der Stadt. Zwar gab er sich weiter als Volksführer, doch ähnelte sowohl die Verfügung über ein ihm ergebenes Söldnerkorps wie die Hinrichtung zahlreicher Oligarchen ohne Richterspruch den Praktiken eines Tyrannen, als der er denn auch seinen Gegnern erschien. Sein Bruder Timoleon, nachmals der Befreier Siziliens, sein Schwager
Megara. Karinth. Sikyan
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Aischylos und ein Seher aus dem Kreise seiner Hetairie suchten vergebens ihn zur Aufgabe seiner Machtstellung zu bewegen, die offenbar keinerlei legale Basis hatte. Als alle Vorstellungen nichts fruchteten, wurde Timophanes mit Billigung des Timoleon, der ihm vielleicht die Söldner abspenstig gemacht hatte, von Aischy los und dem Seher umgebracht. Die Tat fand, auch was Timoleons Haltung be traf, begreiflicherweise die Billigung der Oligarchen, deren traditionelle Tyran nenfeindschaft durch das Wüten des Ermordeten gegen sie entflammt worden war, während die Anhänger des Timophanes sie zwar nicht offen zu verurteilen wagten, aber doch dem Timoleon Brudermord vorwarfen. Eine Änderung der Verfassung oder der sozialen Zustände hat die nur wenige Monate währende Ty rannis nicht zur Folge gehabt. Etwa zwei Jahre vorher (um 3 68) war das benachbarte Sikyon ebenfalls unter eine Tyrannis gekommen. Euphron, gleich den auch in dieser Stadt maßgebenden Oligarchen, denen er selbst angehörte, ein Anhänger Spartas, hatte nicht ver hindern können, daß seine Standesgenossen auf Grund der veränderten Lage in der Peloponnes im Gegensatz zu ihrer bisherigen Haltung mit großer Mehrheit be schlossen, sich den Thebanern unter Epameinondas anzuschließen, die in der Folgezeit die Stadt durch eine Besatzung sicherten. Da dem ehrgeizigen Euphron bei seinem Bestreben, in Sikyon die erste Rolle zu spielen, Sparta jetzt nicht mehr von Nutzen sein konnte, vollzog auch er einen Frontwechsel, indem er zwar nicht unmittelbar auf die Seite Thebens trat, aber sich mit den spartafeindlichen Argi vern und Arkadern in Verbindung setzte und sie bewog, in Sikyon die Umwand lung der oligarchischen Verfassung in eine demokratische zu unterstützen, die denn auch vollzogen werden konnte. Die neue Volksversammlung wählte Eu phron mit vier anderen Männern zu Strategen. Alsbald übertrug er das Komman do über die Söldner, welche auch diese Polis hielt, seinem Sohne Adeas. Nach dem freilich nicht tendenzlosen Bericht Xenophons hätte er sodann mit Geldern, die er sich aus Staatsmitteln, Tempelschätzen und durch Konfiskation von Gütern angeblich spartafreundlicher Oligarchen zu verschaffen wußte, die Söldner be reichert und damit in ihnen eine brauchbare Waffe zur Verfolgung seiner tyran nischen Ziele gewonnen. Nicht nur seine politischen Gegner, auch seine Mitstra tegen konnte er jetzt, ähnlich wie ein Menschenalter zuvor Dionysios, teils ver bannen, teils hinrichten lassen und die Stadt völlig in seine Hand bringen. «Of fensichtlich», heißt es bei Xenophon, «war er nun Tyrann» . Um seinen Anhang im Volk zu stärken, soll er Sklaven in die Bürgerschaft aufgenommen haben; auch besetzte er später die Burg von Sikyon und prägte anscheinend Münzen mit Andeutung des eigenen Namens. Die Argiver und Arkader wurden von ihm durch Bestechungen und militärische Hilfe, die er ihnen mit seinen auf 2000 Mann gebrachten Soldtruppen lieh, zu Anerkennung des neuen Zustandes und zu Bünd-
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Das Mutterland
nissen gewonnen. Den thebanischen Kommandanten, der in Sikyon postiert wor den war, muß er für sich eingenommen haben, denn dieser schritt gegen ihn nicht ein, führte vielmehr mit ihm gemeinsam gegen das noch zu Sparta haltende Phleius eine Expedition, bei welcher das sikyonische Bürgeraufgebot ihm unter stand, während Euphron selbständig, als Tyrann neben der Polis stehend, seine Söldner befehligte (367) . Bald darauf wurde die thebanische Besatzung aus Si kyon zurückgezogen, und Euphron konnte die Burg der Stadt seinerseits besetzen, aus der er jedoch bald von Aineias, dem Strategen der Arkader, der gegen den un bequem gewordenen Gewalthaber vorging, vertrieben wurde (366) . Euphron flüchtete zum Hafen und überantwortete diesen seinen einstigen Freunden, den Spartanern, vor denen er sein bisheriges Verhalten mit dem Zwang der Verhält nisse zu rechtfertigen wußte. Er gewann dadurch freilich nichts, weil der Hafen wenig später von den Sikyoniern und Arkadern zurückerobert und die Burg er neut von den Thebanern gesichert wurde. Aber die gerade infolge seiner Ver treibung wiederaufflammenden Kämpfe zwischen den nunmehr sich rührenden Oligarchen und dem Demos, der die Verfassungsänderung Euphron verdankte, ermöglichten ihm die Rückkehr. Hatte er bisher zwischen Spartanern, Argivern, Arkadern und Thebanern laviert, um seine Stellung in Sikyon zu erhalten, so war es jetzt Athen, mit dessen Hilfe er ein neues Söldnerkorps aufstellte und, unterstützt von der großen Anhängerschaft im Volk von Sikyon, nochmals die Macht über seine Vaterstadt gewann. Diese Macht war freilich insofern beschränkt, als auf der Burg eine thebanische Besatzung lag, welche die Oligarchen, sowohl die einst von ihm verschonten wie die von den Arkadern aus der Verbannung zurückgeführten, schützte. Euphron machte denn auch alle Anstrengungen, die Burg wieder in seine Hand zu bekommen, aber vergeblich. Verwegen und toll kühn, wie er war, glaubte er nun, wenn er sich selbst nach Theben begäbe, durch Bestechungen die Abberufung der Garnison erreichen zu können. Dort jedoch erschienen gleichzeitig seine oligard1ischen Gegner und stießen ihn bei Verhand lungen auf der Kadmeia vor den Augen des thebanischen Rates nieder (36514) . Dieser, im Grunde froh, des unzuverlässigen und eigenwilligen Mannes ledig.zu sein, sah von einer Bestrafung der Mörder ab. Der Demos von Sikyon aber, der nach wie vor in Euphron seinen Vorkämpfer sah, ließ die Leiche in die Heimat bringen und auf dem Markt bestatten, wo man fortan dem Toten als Retter und Neugründer der Stadt heroische Ehren erwies. Die von Euphron anfangs ins Le ben gerufene, später gefestigte demokratische Verfassung muß also von Bestand gewesen sein, ein Erfolg seines Wirkens, der dieses von dem der meisten Tyran nen unterscheidet und seine Ausübung der tyrannischen Macht als Mittel zu höheren, nicht nur egoistischen Zwecken erscheinen läßt. Es konnten denn auch sowohl sein Sohn Adeas, der vermutlich eine Einigung mit Theben bewirkte, wie
Sikyon. Pellene
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der nach dem Großvater benannte Enkel Euphron in Sikyon eine führende Rolle spielen, ohne, soweit sich erkennen läßt, tyrannischer Macht zu bedürfen. Nicht daß die Stadt während der folgenden Jahrzehnte von Tyrannis verschont ge blieben wäre, aber es waren anders geartete, von den Makedonenkönigen aus gehaltene Männer, denen der jüngere Euphron als Vertrauensmann des Demos entgegentrat. Aristratos, der gemeinsam mit anderen Oligarchen um 343 den Anschluß Sikyons an König Philipp bewirkte, wurde ein Jahrhundert später von Aratos als Tyrann angesehen, der deshalb mit den Bildern aller anderen heimi schen Tyrannen ein unter Beteiligung des Apelles geschaffenes Gemälde vernich ten wollte, auf dem Aristratos dargestellt war. Auch in einer Anekdote, die im übrigen von dem lebendigen Interesse des Mannes für Dichtung und Malerei zeugt, wird Aristratos als Tyrann gekennzeichnet. Wieweit er es wirklich war, ist nicht mehr festzustellen ; Demosthenes nennt ihn unter den Verrätern an der griechischen Sache und bemerkt, daß er «weggeworfen» worden sei, was auf eine Entfernung wohl noch durch Philipp schließen läßt. Unter Alexander ist dann, vermutlich durch den Verweser Antipatros in der Zeit zwischen 334 und 331, ein neuer Tyrann eingesetzt und durch eine Besatzung gestützt worden. Die ser Mann, dessen Namen wir nicht kennen, soll vorher Gymnastiklehrer, also geringen Standes gewesen sein. Vielleicht war er es, der den jüngeren Euphron verbannte, doch kann sein Regiment nur relativ kurze Zeit gewährt haben, da Alexander im Jahre 330 die Auflösung der Tyrannenherrschaften in Hellas ver fügte. Von diesen sind uns außer der genannten höchstens drei bekannt, eine in Achaia, eine in Messenien, eine in Argos. Könnte bei dem letzten Gewalthaber von Sikyon die Behauptung, er sei früher Gymnastiklehrer gewesen, eine Verleumdung sein, so war Chairon, Tyrann über die Stadt Pel/ene in Achaia, bezeugtermaßen ein be rühmter Ringkämpfer, der allein in Olympia vier Siege gewann. Da er jedoch Pla ton und Xenokrates hörte, kann er kein Mann niederer Herkunft gewesen sein. Die Herrschaft über Pellene verdankte er anscheinend dem makedonischen Feldherrn Korrhagos, der spätestens 331 mit Heeresmacht in die Peloponnes kam. Chairon gebrauchte die ihm durch fremde Gewalt verschaffte Macht nicht im Sinne seiner philosophischen Lehrer, sondern gehörte zu jenen Mitgliedern der Akademie, die später durch tyrannische Herrschaft den Lehren Platons hohnsprachen. Die Häupter der Bürgerschaft soll er verbannt, ihren Besitz und sogar ihre Frauen freigelas senen Sklaven gegeben haben, um sich in diesen einen ergebenen Anhang zu gewinnen, wie Ähnliches auch von anderen Tyrannen berichtet wird. Ob er, was manche behaupteten, eine Stadt Chaironeia gründen wollte, die dann seinen Na men und zugleich den des Ortes von König Philipps entscheidendem Sieg (3 3 8) getragen hätte, muß dahingestellt bleiben. Es scheint, daß Chairon, unter dem
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Das Mutterland
Pellene im Kriege des Spartanerkönigs Agis III. auf der Seite Makedoniens stand, umgebracht wurde, wohl noch ehe Alexanders Befehl, die Tyrannenherrschaften in Hellas aufzulösen, wirksam werden konnte. Was die Tyrannis in Messenien betrifft, so waren Neon und Thrasylochos, die Söhne eines Philiades, zur Zeit König Philipps, und zwar nicht erst in dessen letzten Jahren, die Häupter der makedonenfreundlichen Partei in ihrer Heimat, deren Haltung wesentlich durch die Feindschaft gegen Sparta bestimmt wurde. Daß sie nicht als Tyrannen schalteten, vielmehr die Gesetze achteten und ihre Pflich ten gegen die Vaterstadt erfüllten, glaubte später Polybios entgegen den von antimakedonischer Leidenschaft diktierten Behauptungen des Demosthenes fest stellen zu müssen. Auf die Kunde von Philipps Ermordung (336) scheinen sie vom Volk vertrieben worden zu sein, doch wurden sie unter Alexander, wahrscheinlich durch Antipatros, zurückgeführt und mögen jetzt tyrannischer geschaltet haben, wenngleich ihre Herrschaft durch keine makedonische Besatzung geschützt wurde. Natürlich nannten die Makedonenfeinde sie nun erst recht Tyrannen, was jedoch noch nicht beweist, daß ihr Regiment j etzt gesetzlos war und als offensichtliche Tyrannis auf Grund von Alexanders Erlaß 330129 sein Ende gefunden hätte. Wie so oft im 4. Jahrhundert ist auch hier zwischen Führern einer mächtigen Faktion und Tyrannen, wenn wir über ihre Stellung und ihr Einwirken auf das Gemeinwesen keine Kunde haben, schwer zu scheiden. Das gilt auch von Mnaseas, einem Füh rer der Makedonenfreunde in Argos während der letzten Jahre König Philipps. Daß er nach der Schlacht von Chaironeia den attischen Metöken Athenogenes über Troizen setzte und durch ihn in der Folgezeit die Bürger der Stadt vertreiben ließ, könnte für eine tyrannenähnliche Stellung sprechen. üb eine solche anders wo von einzelnen Führern der Makedonenfreunde innegehabt wurde, läßt sich nicht sagen, doch scheint es, als bezögen sich die von einem Zeitgenossen gegen die unter Alexander in einzelnen Städten gebietenden Tyrannen erhobenen Vor würfe : Hinrichtung von Gegnern ohne Gerichtsverfahren, Vergewaltigung von Frauen und Kindern, Erniedrigung der Bürger zu rechtlosen Untertanen, nicht nur auf die wenigen uns bekannten Gewalthaber. Wie Athen ist auch der Staat der Lakedaimonier im 4. Jahrhundert noch fest genug gewesen, um das Streben eines einzelnen Mannes nach Tyrannis nicht auf kommen zu lassen. Zwar fehlte es auch am Eurotas an herrischen, machtsüchtigen Naturen nicht, aber sie konnten ein Wirkungsfeld nur außerhalb der Heimat fin den. Daß die Institution der Harmosten und Dekarchien die Möglichkeit zu tyran nischem Wirken gab, war bereits zu erwähnen ; es hat denn auch an schweren Vorwürfen, daß Sparta dergleichen zuließ, nicht gefehlt. Aber seit dem Siege über Athen waren die Spartaner in den Strudel reiner Machtpolitik geraten und der maßen vom Willen nach der Herrschaft über Griechenland erfaßt worden, daß
Messenien. Argos. Sparta
sie alte Grundsätze und vor allem die von ihnen selbst proklamierte Autonomie aller hellenischen Staaten verleugneten. So wenig sie sich zur Stärkung ihrer Stel lung in Hellas scheuten, mit dem Tyrannen Dionysios ein Bündnis einzugehen, so wenig haben sie Bedenken getragen, nach der gewaltsamen Besetzung der Kad meia die Stadt Theben einer Gruppe von Männern zu überantworten, die sich in ihrem Schalten von Tyrannen kaum unterschied. Nach der Schlacht bei Leuktra und den durch Epameinondas bewirkten Veränderungen in der Peloponnes war Sparta freilich zu solchen Maßnahmen nicht mehr fähig. Männer, deren Ehrgeiz und Tatendrang im Rahmen der verbliebenen Möglichkeiten keine Befriedigung mehr finden konnte, traten als Condottieren in fremde Dienste, selbst die Könige Agesilaos und sein Sohn Archidamos. Daß sie sich davon die Gewinnung einer irgendwie gearteten persönlichen Herrschaft versprachen, ist für den greisen Age silaos, der mit Söldnern dem ägyptischen König Tachos zu Hilfe kam, nicht an zunehmen. Hatte er doch während der vier Jahrzehnte seines Königtums bei aller Eigenwilligkeit keine tyrannischen Tendenzen gezeigt. Aber auch dem Sohne, der die Tarentiner gegen Messapier und Lukaner unterstützte, derartige Absich ten zuzuschreiben, fehlt jeder Grund. Lediglich der dem jüngeren Dionysios 355/4 zu Hilfe geschickte Spartaner Pharax scheint sich auf eigene Faust vorübergehend in den Besitz einiger Städte Siziliens gesetzt zu haben.
D R I TTES K A P I TEL
N O R D Ä G ÄI S U N D P O N T O S E U X E I N O S
1. D A S G E B I E T D E R M E E R E N G E N
Schon in der Geschichte der älteren Tyrannis hatte das Gebiet beiderseits der Meerengen eine nicht geringe Rolle gespielt. Es sei nur an die Herrschaft der Mil tiadesfamilie auf der thrakischen Chersones, der Peisistratiden über Sigeion, des ihnen verwandtschaftlich verbundenen Hippoklos in Lampsakos, an Pausanias' Schalten in Byzanz sowie an die «Persertyrannen« zur Zeit vor dem Ionischen Aufstand erinnert. Hundert Jahre später erhielt Alkibiades durch den Thraker könig Medokes einen fürstlichen Besitz nahe dem Hellespont, und in Byzanz übte der Spartaner Klearchos zeitweise ein Willkürregiment, das an Gewaltsam keit dasjenige des Pausanias noch übertraf. Als zwei Jahre nach Klearchos' Tod in der Feme sein Mitcondottiere Xenophon mit etwa 6000 Söldnern, dem noch Rest der «Zehntausend», bei dem Odrysenfürsten Seuthes Dienst nahm (399) , bot ihm dieser zunächst beinahe dieselben Plätze an, die er einst dem Alkibiades gegeben hatte : Bisanthe, Neon Teichos und Ganos. Es hätte damals leicht zu einer tyrannenähnlichen Herrschaft des Atheners dort kommen können, wäre nicht Seuthes durch einen Griechen seiner Umgebung bewogen worden, das dem Xeno phon gemachte Angebot wieder zurückzuziehen. In der Troas finden wir zur gleichen Zeit ein Dynastentum, das zwar im stren gen Sinne nicht als griechische Tyrannis anzusprechen ist, aber, da es sich über griechische Städte erstreckte und wenigstens zum Teil von Griechen getragen wurde, nicht übergangen werden kann, zum al da es in seiner Art den unter Da reios I. bestehenden Tyrannenherrschaften verwandt ist. Mania, die Witwe eines Dardaners Zenis, dem der Satrap des hellespontischen Phrygiens Pharnabazos das troische Binnenland unterstellt hatte, trat dessen Nachfolge an und eroberte mit hellenischen Söldnern nach dem Zusammenbruch der attischen Seemacht die Städte Larisa, Hamaxitos und Kolonai. Sie wurde von ihrem griechischen Schwie gersohn Meidias ennordet. Dieser vennochte von den zahlreichen Plätzen, die Mania unterstanden hatten, nur Skepsis und Gergis - in diesen Orten waren die Schätze der Dynastin deponiert - sich anzueignen; die übrigen Städte und ihre Besatzungen beriefen sich auf Pharnabazos als ihren Herrn, der Meidias nicht
Troas
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anerkenne, und verweigerten die Übergabe. Aber auch Skepsis und Gergis hat Meidias, von dessen Herrschaft wir bloß wissen, daß er sich nach Tyrannenart eine Leibwache hielt, nur kurze Zeit behaupten können. Als der spartanische Feld herr Derkylidas erschien (3 99) und die griechischen Gemeinwesen der Troas zur Freiheit aufrief, konnte der Gewalthaber sich in Gergis gegen den Willen der Be völkerung nicht halten und scheint auch Skepsis verloren zu haben. Die letztgenannte Stadt ist nach drei Jahrzehnten nochmals unter ein tyrannen ähnliches Regiment gekommen, nachdem sie ebenso wie llion und Kebren den aus Rhodos stammenden Brüdern Mentor und Memnon untertan gewesen war, als deren Schwager, der Satrap Artabazos, dem Großkönig aufgesagt hatte (um 3 61) . Der aus Oreos auf Euboia stammende Condottiere Charidemos, als Söld nerführer für Athen und den Thrakerfürsten Kotys tätig, trat damals mit seinen Truppen in den Dienst jener beiden Männer, brach aber kurz darauf den mit ihnen geschlossenen Vertrag und nahm eigenmächtig Skepsis, Kebren und Ilion für sich in Besitz, ohne daß Artabazos und seine Schwäger es zu hindern vermochten. Wie so manche Tyrannen verfügte er die Entwaffnung der Bürger und preßte, um seine Söldner entlohnen zu können, ihnen durch listige Manipulationen, in denen er auch auf seinen Feldzügen Meister war, Geld und Sachbesitz ab. Daß er als Herr neben und über den Gemeinwesen stand, darf als sicher gelten. Bald jedoch rückte Artabazos, der einige Zeit als Empörer gegen den Großkönig gefangen gewesen war, mit so starker Heeresmacht heran, daß Charidemos' Lage aussichtslos wurde (um 359) . Zwar erreichte er durch Vermittlung des Mentor und Memnon freien Abzug, die Tyrannis über die drei Städte aber war verloren. Sein weiteres reich bewegtes Leben als Helfer des Thrakerfürsten Kersobleptes, seines Schwagers, als Feldherr Athens, das ihm schon in den sechziger Jahren das Bürgerrecht ver liehen hatte, und endlich als Söldnerführer im Dienste des Perserkönigs Dareios III. hat ihn nicht noch einmal eine Tyrannenherrschaft gewinnen lassen. Ilion, Skepsis und Kebren sind nach dem Abzug des Charidemos vermutlich wieder dem Mentor und Memnon untertan geworden, doch war auch dieser Zu stand nicht von langer Dauer. Denn mit dem Scheitern einer neuerlichen Erhebung ihres Schwagers Artabazos in der Mitte der fünfziger Jahre entschwand für sie die Möglichkeit, sich in der Troas zu behaupten. Während Mentor nach einiger Zeit vom Großkönig in Gnaden aufgenommen und sogar mit einer hohen Kommando stelle im Feldzug gegen Ägypten betraut wurde (um34615), lebten Artabazos und Memnon als Flüchtlinge am Hofe König Philipps, bis Mentor, der als siegreicher Feldherr die besondere Gunst Artaxerxes' III. erlangte, bei diesem die Rückkehr seiner Verwandten erwirken konnte (um 343 /2) . Er selbst war inzwischen zum Oberfeldherrn in Westkleinasien ernannt worden ; die drei Städte in der Troas schei nen Memnon überlassen worden zu sein, der sie jedenfalls nach dem Tode des Bru-
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Nordägäis und Pontos Euxeinos
ders (vor 336) allein besaß und über sie ohne Zweifel wie ein Tyrann gebot. Um ihn bei Dareios III. zu diskreditieren, ließ Alexander nach seinem Übergang über den Hellespont «Memnons Land» schonen und erst später durch den makedoni schen Satrapen des hellespontischen Phrygien besetzen. Auch über Lampsakos mag Memnon nach seiner Rückkehr aus dem Exil geherrscht und hier nach Ty rannenart mit List von den Bürgern Geld eingetrieben haben, doch bleibt es fraglich, ob er diese Stadt persönlich besaß oder ihr nur als Nachfolger Mentors im Oberbefehl über Westkleinasien beim Zurückwerfen des makedonischen An griffskorps im Jahre 335 seinen Willen auferlegte. Als Alexander kam, waren die Bürger perserfreundlich ; von Memnon ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Lampsakos war während der vorausgehenden Jahrzehnte in besonderem Maße Tyrannen ausgeliefert gewesen. Ihre Reihe eröffnete, wie es scheint, philiskos aus dem nahen Abydos, der zuerst als Helfer des athenischen Strategen Chabrias in der Seeschlacht von Naxos (376) und den anschließenden Kämpfen begegnet. Wohl nicht lange darauf vermochte er mit Truppen, die ihm sein Gönner Ariobarzanes, der Satrap des hellespontischen Phrygiens, zur Verfügung stellte, sich einiger grie chischer Städte, darunter auch Lampsakos, zu bemächtigen und hier eine Tyrannis zu errichten, die, soweit den Worten des Demosthenes zu glauben ist, sich durd1 besondere Brutalität auszeichnete. Was ihm von dem Redner zur Last gelegt wird : Verachtung der Gesetze, Vergewaltigung freigeborener Kinder, Schändung von Frauen und Untaten jeglicher Art, smeint freilim der Tyrannentypologie entnom men und insofern ni mt beglaubigt zu sein. Dank der Unterstützung durm Ariobar zanes, der ihn 3 69/8 als Gesandten zum Kongreß der griechischen Staaten des Mutterlandes nach Delphoi schickte, konnte er, der mächtigste der «Persertyran nen» in den sechziger Jahren, den Hellespont beherrschen. Zu Athen, wo man ihm 367 das Bürgerrecht verlieh, stand er in engen Beziehungen und entlohnte mit eigenen Geldern, die er wohl aus Durchgangszöllen und Besteuerung der ihm untertänigen Städte gewann, Söldner des attismen Staates in Perinth. Wie lange Philiskos, der gleich den meisten griechischen Gewalthabern von Persiens Gna den sowohl hellenischer Stadtherr wie Organ des persischen Satrapen war, im Be sitz von Lampsakos blieb, ist unbekannt. Es mag mit dem gewaltsamen Ende des am Satrapenaufstand beteiligten Ariobarzanes (362/I) zusammenhängen, daß zwei Lampsakener, Exekestos und Thersagoras, den verhaßten Tyrannen beseitig ten. Der Zeit nam seinem Ende, also der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, dürfte der Versuch des Platonschülers Euaion, eines gebürtigen Lampsakeners, angehören, sich durch Finanzmanipulationen zum Tyrannen seiner Vaterstadt zu machen. Aus seinem offenbar sehr beträchtlichen Reichtum gab er dem Gemeinwesen ein Darlehen zur Befestigung der Akropolis. Als dieses, wie er wohl erwartet hatte,
Lampsakos. Sigeion
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nicht rechtzeitig zurückerstattet oder die Zinsen nicht termingerecht bezahlt wur den, beabsichtigte er, die ihm verschuldete Stadt, vielleicht indem er die mit sei nen Geldern ausgebaute Burg für sich in Anspruch nahm, unter seine Herrschaft zu bringen. Die Lampsakener jedoch wollten davon nichts wissen, zahlten die ihnen geliehene Summe zurück und vertrieben Euaion. Von einem weiteren Ty rannen über Lampsakos, Astyanax, der ebenfalls in die Zeit kurz vor 355 ge hören muß, berichtet nur eine dürftige Notiz, daß er die ihm schriftlich zugelei tete Warnung vor einem Attentat nicht las und kurz darauf umgebracht wurde. Von langer Dauer dagegen war in Lampsakos die Tyrannis eines Mannes, der, ebenso wie Charidemos in der Troas, sich als Condottiere zum Gewalthaber über griechische Gemeinwesen am Hellespont aufwarf. «Alle diese Söldnerführer» , sagt Demosthenes im Hinblick auf Charidemos, «suchen hellenische Städte, wenn sie solche gewonnen haben, zu beherrschen» . So verfuhr auch der Athener Chares, einer der bedeutendsten und gefeiertsten Feldherren seiner Vaterstadt um die Jahrhun dertmitte, als er mit dem ihm unterstehenden Söldnerkorps um 3 55 Sigeion und Lampsakos überfiel, plünderte und für sich selbst in Besitz nahm. Es ist bemer kenswert und erinnert an die Zustände der spätarchaischen Epoche, als der Athe ner Miltiades, ohne aus dem attischen Staatsverband auszuscheiden, eine eigene, selbständige Herrschaft auf der Chersones innehaben konnte, daß Chares über zwei Plätze, die einst den Peisistratiden oder ihren Verwandten gehört hatten, eine auf Söldner gestützte Tyrannis errichten konnte und dabei nicht nur atti scher Bürger blieb, sondern sich sogar als Feldherr Athens betätigte. Seine Resi denz hatte er während friedlicher Zeiten fortan in Sigeion, wo er sich angeblich einem genießerischen Leben hingab. Ein Versuch, auch in den Besitz von Me thymna auf Lesbos zu gelangen, scheiterte (340) ; Lampsakos verlor er spätestens 335 an Memnon, Sigeion dagegen vermochte er bis zur Ankunft Alexanders zu behaupten. Als der König 334 Ilion aufsuchte, begab sich Chares zu ihm und über reichte in der Hoffnung, eine Bestätigung seiner Herrschaft über Sigeion zu er langen, einen goldenen Kranz. Aber während die persische Regierung und Mem non diese Tyrannis bestehen gelassen und nur ein Übergreifen des unruhigen Mannes nach Lesbos verhindert hatten, versagte sich der Makedone, gegen dessen Vater Chares noch vor vier Jahren bei Chaironeia gekämpft hatte, seinen Wün schen. Beseitigte Alexander doch allenthalben an der kleinasiatischen Westküste die vom Perser geduldeten oder geförderten Tyrannenherrschaften und Oligar chien. Chares trat darauf als Feldhauptmann förmlich in persische Dienste. Später erscheint er noch einmal als Befehlshaber eines von den Athenern aufgestellten Söldnerkorps (wohl um 3 2615) , Sigeion aber blieb ihm verloren. Am asiatischen Ufer des Hellespontes treffen wir auch in Abydos während der Wirren am Ende der sechziger Jahre eine Tyrannis an. Als die hier bestehende Oli-
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Nordiigäis und Pontos Euxeinos
garchie mehrerer Hetairien sich spaltete, kam man überein, den Schutz der Stadt den Söldnern unter Führung eines zwischen den Parteien stehenden Archon zu über tragen, wie ein solcher gelegentlich auch in thessalischen Städten eingesetzt wor den war. Dieser Archon - es war Iphiades, selbst das Haupt einer Hetairie - riß mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Miettruppen die Herrschaft an sich. Daß es sich um echte Tyrannis handelte, wird aus einem Beschluß der Knidier deutlich, die in der Polis Abydos bereits durch einen Proxenos vertreten waren, gleichwohl aber auch dem Iphiades dieses Amt übertrugen und sogar noch seinen Nachkommen besondere Vorrechte beim Besuch von Knidos verliehen, offenbar weil sie sich den neben und über der Polis stehenden Machthaber persönlich ver binden wollten. Es sind denn auch in der Eroberung des Abydos gegenüberliegen den Sestos (360159) und der Stadt Parion an der Propontis Akte des Tyrannen zu sehen, durch die er seine Herrschaft ausdehnte. Er selbst scheint sie bis zu seinem baldigen Tode behauptet, sein namentlich nicht bekannter Sohn sie je doch verloren zu haben. Jedenfalls befand sich dieser um die Mitte der fünf ziger Jahre beim Thrakerfürsten Kersobleptes, der seine Auslieferung den Athe nern zunächst versprach, dann aber vorenthielt. Tyrann im eigentlichen Sinne, wenn auch wohl von Persiens Gnaden, dürfte ferner Nikagoras über Zeleia im Binnenland südwestlich der Propontis gewesen sein ; er wurde von Alexander 334 entfernt. Da er dem sich als Zeus ausgebenden Arzte Menekrates durch Mysien im Kostüm des Hermes gefolgt sein soll, liegt der Gedanke nahe, daß er ähnlich wie der bald zu erwähnende Klearchos von Herakleia als Gott angesehen werden wollte, mithin sich wohl als absoluter Herr seiner Stadt fühlte. Am europäischen Ufer der Meerengen und der Propontis finden wir im 4. Jahr hundert nur einen einzigen Mann, der eine tyrannenähnliche Stellung eingenom men zu haben scheint : Hekataios von Kardia, doch ist weder von seinem Wirken noch von seinem Verhältnis zu der heimischen Polis etwas bekannt. Vermutlich gewann er an der Spitze des promakedonischen Teiles der Bürgerschaft schon unter König Philipp eine Machtposition, deren Beseitigung sein Landsmann Eumenes vergeblich bei Alexander zu erwirken suchte, so daß Hekataios über den Tod des großen Königs hinaus Kardia leiten konnte. Wenn in den anderen Städten an der thrakischen Küste keine Tyrannen begegnen, dann dürfte dies seinen Grund kaum in der Lückenhaftigkeit der Überlieferung haben, sondern im Fehlen der Voraus setzungen, die für die Errichtung von Tyrannenherrschaften auf asiatischem Bo den bestanden. Denn dort gaben die wiederauflebende Neigung der persischen Regierung, sich der Untertänigkeit der Städte durch Begünstigung von Tyrannen zu versichern, die zunehmende Schwäche der Reichsverwaltung und die Satrapen aufstände mit ihren weiten Auswirkungen machtlüsternen Politikern und Con dottieren erwünschte Gelegenheit, sich zum Herrn einer oder mehrerer Städte zu
Abydos. Zeleia. Kardia. Herakleia
p.s
machen. Soziale Krisen innerhalb der Gemeinwesen scheinen dabei keine wesent liche Rolle gespielt zu haben. Anders stand es um die Tyrannis in Herakleia am Pontos, die sich nicht nur in dieser Hinsicht von den soeben besprochenen Er scheinungen unterscheidet.
11. H E RA K L E 1 A AM P O N T O S
Klearchos Die blühende megarische Kolonie im Westen der kleinasiatischen Nordküste, die über ein großes, von einheimischen Hörigen (Mariandynern) bebautes Territorium verfügte, hatte im Laufe ihrer Geschichte mannigfache Verfassungskämpfe er lebt. Sie lassen sich zeitlich ebensowenig fixieren wie die gelegentlich erwähnte Tyrannis eines Euopios, die womöglich noch dem 6. Jahrhundert angehört. Um 3 65 muß ein oligarchisches Regiment bestanden haben, das jedoch von dem auf begehrenden Demos schwer bedroht war. Wie so oft in dieser Epoche war der Gegensatz vorwiegend wirtschaftlicher Art. Es heißt, daß die ärmeren Schichten Schuldenerlaß und Aufteilung des Bodenbesitzes forderten, der sich offenbar gro ßenteils in den Händen der Oligarchen befand. Vergeblich hatten diese in ihrer Be drängnis zunächst den attischen Feldherrn Timotheos, sodann den im Friihsommer 3 64 bei Byzanz operierenden Epameinondas zu Hilfe gerufen. Es blieb ihnen schließlich nichts übrig als sich an einen vornehmen Herakleioten zu wenden, der von ihnen selbst des Landes verwiesen worden war und bei Mithradates, vielleicht dem Sohn des Satrapen Ariobarzanes, als Söldnerführer Dienst genommen hatte. Klearchos, ein hochgebildeter Mann - er hatte Platon gehört und war vier Jahre hindurch Schüler des Isokrates gewesen - ließ sich nicht lange bitten, sah er doch in dem Ruf eine willkommene Möglichkeit, sich der Herrschaft über seine Vater stadt zu bemächtigen. Die Zustimmung des den Herakleioten feindlichen Mi thradates wußte er sich im geheimen dadurch zu gewinnen, daß er versprach, ihm die Stadt zu unterstellen, über die er dann als «Klienteltyrann» gesetzt werden sollte. Nach Herakleia zuriickgekehrt, brachte er durch ein listiges Manöver die Oligarchen dahin, daß sie selbst wünschten, er möchte seine die Ländereien heim suchenden Söldner in der Akropolis kasernieren, die er auf diese Weise kampflos gewann. Im Sinne der Oligarchen war es auch, wenn er sich um einen für diese günstigen Vergleich mit dem Demos bemühte, zu dem er, wie seine frühere Ver bannung zu zeigen scheint, wohl gute Kontakte hatte, und daß er sie von der Furcht vor Mithradatas befreite. Denn statt diesem zur verabredeten Zeit Hera kleia zu übergeben, versicherte er sich heimtückisch seiner Person und ließ ihn nur gegen Verzicht auf die Stadt und hohes Lösegeld frei. Die dadurch
Nordägäis und Pontos Euxeinos
gewonnenen Gelder setzten ihn in den Stand, die ihm unterstellten Söldner des Persers in eigenen Dienst zu nehmen, sie zu vermehren und sich eine Leibwache zuzulegen. Diesem ersten Schritt zur Tyrannis folgte rasch ein zweiter. Klearchos erklärte nämlich, er wolle die Regierung in die Hände des oligarchischen Rates der Dreihundert legen, sich selbst aber zurückziehen. Als daraufhin sich die Kör perschaft im Ratsgebäude versammelte, um ihn zu beloben, ließ er das Gebäude umstellen und an 60 Mitglieder - die anderen konnten entfliehen - gefangen auf die Burg bringen. Vor dem Volk bekannte er sich jetzt als dessen Führer und tat kund, daß er, sofern der Demos sich zur Abwehr einer Erneuerung des Oligarchen regimentes stark genug fühle, abziehen werde, im anderen Falle jedoch bereit sei, die Sache des Volkes zu führen. Die Versammlung, die auf seine Anregung dar über beriet, wählte ihn spontan zum Strategos autokrator. Es war derselbe Weg zur Tyrannis, den der ältere Dionysios beschritten hatte, und es wird auch aus drücklich bezeugt, daß Klearchos den großen sizilischen Machthaber, nach dem er einen seiner Söhne nannte, als Vorbild ansah. Der rein tyrannische Charakter der Herrschaft, die der damals Fünfundvierzigjährige noch im gleichen Jahre, in dem man ihn aus der Verbannung zu Hilfe gerufen hatte (364/3), mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit begründete, war durch die gleichzeitige Führung des außerordent lichen Strategenamtes, das er nach dem Willen des Volkes wohl bis zur Konsti tuierung einer demokratischen Verfassung innehaben sollte, um nichts gemindert. Klearchos hat vielmehr, auch darin dem Beispiel des Dionysios folgend, das Amt für die Dauer beibehalten und die Bürgerschaft, zu deren Feldherrn er bestellt wor den war, später entwaffnen lassen, um sie ganz durch die ihm ergebenen Söldner in Schach halten zu können. Das formale Bestehen einer Demokratie hatte unter diesen Umständen wenig zu bedeuten. Die Nachrichten, die wir über Klearchos' Herrschaft besitzen, bieten das Bild eines von Hybris geschwellten, grausamen Despoten, dessen brutale Maßnahmen nicht mehr erkennen ließen, daß er in früheren Jahren die Lehren des Platon und Isokrates bereitwillig aufgenommen hatte. Manches mag von der tyrannenfeind lichen Tradition übertrieben worden sein, der im schlimmen Sinne tyrannische Charakter des Mannes und seines Verfahrens ist jedoch angesichts der Tatsache, daß sein einstiger, sich später von ihm distanzierender Lehrer Isokrates in einem Brief, den er nach Klearchos' Tod an dessen Sohn Timotheos richtete, wenigstens andeutend davon spricht, nicht zu bezweifeln. Opfer des rabiaten Vorgehens waren natürlich in erster Linie die betrogenen und darum haßerfüllten Oligarchen. Von den sechzig inhaftierten Ratsherren soll er für die Zusicherung, daß er sie der Volkswut entziehen werde, zunächst große Summen erpreßt, sie dann aber doch dem Tode überantwortet haben. Als ferner geflüchtete Oligarchen mit Hilfe benachbarter Städte zum Krieg gegen ihn rüsteten, gab er, wie es heißt,
Klearchos von Herakleia
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ihren Knechten, also wohl den Mariandynern, die Freiheit und zwang ihre Töch ter und Frauen sich mit diesen zu vermählen. Abermals, und nicht zufällig, wer den wir an Dionysios erinnert. Ist der Überlieferung weiter zu glauben, so hätte Klearchos, nachdem er die ihn bedrohenden Flüchtlinge in einer Schlacht besiegt hatte, die Gefangenen, bevor er sie unter Martern umbringen ließ, im Triumph aufgeführt. Daß darüber hinaus Verbannungen, Einkerkerungen, Hinrichtungen und nicht zuletzt Konfiskationen erfolgten, durch die er sein Vermögen mehrte und Mittel zum Unterhalt der Söldner gewann, entsprach dem Vorgehen so man cher Tyrannen gegen ihre oligarchischen Feinde. Es erhielt bei Klearchos angeb lich eine besondere Note dadurch, daß er seinen Opfern einen aus der heimischen Pflanze Akoniton bereiteten Gifttrank geben ließ. Gleichwohl hat er die Opposi tion nicht ersticken können. Mehrmals sind Verschwörungen gegen sein Leben angezettelt worden, ja ein gewisser Seilenos vermochte sogar sich vorübergehend der Burg von Herakleia zu bemächtigen. Der Argwohn, mit dem der Tyrann seine Umgebung betrachtete, war offenbar nicht unberechtigt. Man erzählte später, Klearchos habe aus Angst vor Attentaten nicht mehr in seinem Bett, sondern in einer Kiste geschlafen. Das Volk, das zunächst in ihm den siegreichen Führer gegen die Oligarchen sah, scheint allmählich gemerkt zu haben, daß es selbst eine radikale Tyrannis herauf beschworen hatte. Denn mehr und mehr zeigte sich, daß Klearchos nicht als lei tender Staatsmann die Interessen des demokratischen Gemeinwesens wahrnahm, sondern gestützt auf seine Söldner es gleichsam von außen her vergewaltigte, wo bei er sowenig wie andere Tyrannen die Verfassung als solche aufhob. Die Stim mung der Menge verschlechterte sich um so mehr, als die Hoffnung auf Schuldener laß und Aufteilung des Großgrundbesitzes enttäuscht wurde. Das Aufgebot der Bürger konnte unter diesen Umständen dem Gewalthaber nicht mehr als zuverläs sig gelten. Auch wenn die Erzählung von einem Scheinangriff auf Astakos, den der Tyrann angeblich nur unternahm, damit die wehrhaften Herakleioten von dem in jener Gegend herrschenden Sumpffieber hingerafft würden, in dieser Form kei nen Glauben verdient, die wohl bald darauf vorgenommene Entwaffnung des Bürgeraufgebotes zeigt, daß Klearchos dieses los sein wollte, weil er einen Auf stand befürchtete. Ob weitere Maßnahmen zur Niederdrückung des Volkes, etwa eine an den Tyrannen zu zahlende Ertragssteuer, folgten, wissen wir nicht. Da gegen sind Anzeichen vorhanden, daß Klearchos, der seine Herrschaft durch die Söldner anscheinend nicht genügend gesichert sah, Anlehnung an auswärtige Mächte suchte. An die Perserkönige Artaxerxes 11. und III. hat er Gesandtschaf ten geschickt, vermutlich, um in der Zeit der Satrapenaufstände seine Ergebenheit zu bekunden und ihre Anerkennung zu erhalten. Mit Athen, vor allem mit dem Feldherrn Timotheos, nach dem cr seinen ältesten Sohn benannt hatte, stand er
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seit seinem Studienaufenthalt in Verbindung. Die Athener scheuten auch hier das Zusammengehen mit einem Tyrannen nicht und verliehen ihm auf Timo theos' Antrag das Bürgerrecht. Ein expansives Ausgreifen in die umliegenden Ge biete verbot sich dem Gewalthaber freilich im Hinblick auf die schlechte Stimmung der Bürgerschaft und die dadurch gegebene Notwendigkeit, einen großen Teil seiner Söldner als Sicherungstruppe in Herakleia zu halten. Außer dem offen sichtlich erfolglosen Kampf gegen das damals unter einem bithynischen Dynasten stehende Astakos verlautet von außenpolitischen Unternehmen nichts. Was wir sonst noch über Klearchos hören, betrifft sein persönliches Gebaren und den Anspruch auf göttliche Abkunft, den er erhob. Er nannte sich Sohn des Zeus, legte bei festlichen Anlässen Kleidungsstücke an, wie sie nur Göttern eig neten, bemalte sein Gesicht mit roter Farbe, ließ einen goldenen Adler vor sich hertragen, schmückte sich mit einem goldenen Kranz und soll seinen Sohn - ver mutlich den Timotheos - «Keraunos» (Donnerkeil) genannt haben. Es war die Zeit, als im Westen der jüngere Dionysios, mit dem Klearchos, der Verehrer seines Vaters, Beziehungen unterhalten haben mag! sich als Sohn ApolIons aus gab. Vielen Zeitgenossen mußte dieses Verhalten als unerträgliche Anmaßung erscheinen; immerhin wurde gleichzeitig König Philipp in Amphipolis kultisch verehrt, und als Sohn des Zeus fühlte sich ein Menschenalter später Alexander. Es handelt sich also schwerlich nur um eine theatralische Marotte oder einen Aus druck übersteigerter Eitelkeit. Vielmehr hat es den Anschein, als sei der Tyrann bestrebt gewesen, seiner illegalen Herrschaft eine religiöse Weihe zu geben. Auf die Gebildeten in Herakleia und anderswo wird diese Verbrämung des Gewalt regimentes vermutlich ebensowenig Eindruck gemacht haben wie die Tatsache, daß er seine geistigen Interessen nach wie vor pflegte, ja sogar - auch darin ein Vorläufer hellenistischer Könige - eine Bibliothek gründete. Chion aus Hera kleia, wie Klearchos ein Schüler Platons, aber eben deshalb über die Entartung seines Landsmannes tief empört, verschwor sich mit einer Anzahl Gleichgesinnter, den verhaßten Tyrannen aus dem Wege zu räumen. Da er mit ihm verwandt war, konnte er sich, ohne Verdacht zu erregen, in seine nächste Umgebung mischen. Zudem bot ein Götterfest, bei dem Klearchos ein großes Opfer darbrachte, gute Gelegenheit zur Tat. Von Chion in die Weichen getroffen, brach er zusammen, starb aber erst nach zwei Tagen, in denen dem von furchtbaren Schmerzen Ge quälten, wie man sich mit Genugtuung ausmalte, die Geister der von ihm Ge töteten erschienen seien. Die Attentäter wurden teils von den Leibwächtern er stochen, teils später gefaßt und martervoll hingerichtet. Chions Andenken scheint man in der Akademie in Ehren gehalten zu haben. Der letzte der unter seinem Namen in der Kaiserzeit verfaßten Briefe gibt vor, ein Abschiedsbrief an Platon zu sein, dem der Entschluß zu der ruhmvollen Tat mitgeteilt wird.
Herakleia: Klearchos und seine Nachfolger
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Satyros und Timotheos Die Beseitigung des Klearchos, der nach einer zwölfjährigen Tyrannis im Alter von 58 Jahren fiel (35211), brachte nicht das Ende der Herrschaft seines Hauses. Ohne daß es zu einer Erhebung der freilich entwaffneten Bürgerschaft gekommen wäre, konnte sein Bruder Satyros für die noch unmündigen Söhne des Ermordeten die Macht übernehmen und an den Attentätern samt ihren Kindern blutige Rache üben. Darnach scheint er allerdings in mildere Bahnen eingelenkt zu haben, weiß die ihm feindliche Tradition doch nichts von weiteren Grausamkeiten zu berich ten, so daß sie sich auf die allgemeine Bemerkung beschränken muß, Satyros sei der Philosophie wie dem Geistigen überhaupt abhold und durchaus schledlt ge wesen. Ja, sie kann sogar nicht umhin zuzugeben, daß der neue Tyrann darauf bedacht war, das Erbe seines Bruders dessen Söhnen zu erhalten, wie denn auch das Vorhandensein eines beträchtlichen Schatzes bei seinem Tode für eine un eigennützige Verwaltung des Familienbesitzes spricht. Noch bevor eine schwere Krankheit, deren ekelerregende Begleiterscheinungen als Strafe für seine Gewalt taten hingestellt werden, ihn im Alter von 65 Jahren dahinraffte (3 45), übergab Satyros die Herrschaft dem älteren der beiden Söhne des Klearchos, Timotheos, in dessen Hand sie acht Jahre lang blieb. Mehr noch als sein Vorgänger suchte dieser das Gewaltregiment zu mildern, sei es daß brutales Vorgehen seiner Natur widerstrebte, sei es daß er, ähnlich wie der jüngere Dionysios, meinte, es werde ohne einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung sich die Tyrannis über Herakleia nicht behaupten lassen. Gläubigern zahlte er ihre Gelder zurück, Notleidende erhielten zinslose Darlehen, Unschuldige und sogar Schuldige wurden aus der Haft entlassen, und gegenüber Angeklagten bewies er sich als ein menschlicher, vertrauenerweckender Richter. Auch dem geisti gen Leben zeigte sich Timotheos, unter dessen Regierung der Platonschüler Hera kleides (Pontikos) in der Stadt eine Philosophenschule gründen konnte, aufge schlossener als sein Oheim. Der greise Isokrates, seines Vaters Lehrer, zählte ihn unter die besten seiner Anhänger, lobte seine Herrschaft und riet ihm, die Polis, nachdem Klearchos die Tyrannis notwendig mit Gewalt habe gründen müssen, einem glücklicheren Zustand entgegenzuführen. Timotheos verfuhr ohnehin auf solche Weise und wird dementsprechend in der Tradition gepriesen, ein Ruhm, den er freilich nicht zuletzt dem Kontrast verdankte, in dem sein Wirken zu dem des Vaters stand. Denn die Tyrannis als erbliche Herrschaft blieb durchaus bestehen. Das zeigt sowohl die Annahme des jüngeren Bruders Dionysios als Mitregenten, ein Ereignis, das vielleicht durch eine Festprägung von Silber münzen mit dem vollen Namen beider Fürsten ohne Nennung der Polis Herakleia gefeiert wurde, wie die von Timotheos geübte, schwerlich auf einem Polisamt
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basierende richterliche Gewalt. Ein grundsätzlicher Wandel ist, soweit erkennbar, nur hinsichtlich der Wiederbewaffnung der Bürger eingetreten. Denn wenn wir von der Tüchtigkeit des Tyrannen im Kriege, von seiner persönlichen Bewährung im Kampf, seiner klaren Einsicht und zielbewußten Tatkraft bei der Durchführung von Unternehmungen hören, wenn ferner gesagt wird, daß er zu den Feinden furcht bar, zu den Bürgern dagegen milde war, so dürfte an Feldzüge mit dem Bürger aufgebot gedacht sein, wenn solche auch erst für seinen Nachfolger bezeugt sind. Wie in Syrakus scheint sich mit der Tyrannis auch der Oberbefehl über die hei mischen Kontingente vererbt zu haben. Dionysios Timotheos starb, allgemein betrauert, bereits im Alter von 30 Jahren (337) . Ihm folgte ohne Schwierigkeit sein jüngerer, ihm eng verbundener Bruder Dio nysios, der, 3 60/59 geboren, von ihm um 340 als Mitregent angenommen wor den war. Der neue Herrscher ehrte das Andenken des Verstorbenen, indem er ihm ein prunkvolles Leichenbegängnis ausrichten und wie einem Heros regel mäßig hippische, gymnische und szenische Agone darbringen ließ. War schon der Lebende von den dankbar aufatmenden Herakleioten als Wohltäter und Ret ter gepriesen und damit in jene übermenschliche Sphäre erhoben worden, der an zugehören sein Vater herrisch für sich beansprucht hatte, so erhielt der Tote nun einen Kult, wie er Gründern oder Neugründern von Städten erwiesen zu werden pflegte. Gleich seinem Bruder hat auch der kluge, politisch begabte Dionysios ein besonnenes Regiment geführt. Zwar wird berichtet, daß sich Verbannte an Alexan der und später an den Verweser Perdikkas wandten, um die Beseitigung der Ty rannis zu erreichen, doch steht dahin, ob diese Männer erst kürzlich vertrieben worden waren oder ob sie beziehungsweise ihre Nachkommen das Schicksal durch die ersten Tyrannen erlitten hatten. Die außenpolitische Lage war für Dionysios erheblich schwieriger als für seine wohl in guten Beziehungen zum Perserkönig stehenden Vorgänger, weil seit Alexanders Übergang über den Hellespont zu be fürchten stand, daß von dem neuen Gebieter über Kleinasien wie so manche- an dere Tyrannenherrschaften auch die seine beseitigt werden würde. Andererseits bot die Tatsache, daß der König den äußersten Nordwesten der Halbinsel auf seinem Zuge nicht berührte und der von ihm über das hellespontische Phrygien gesetzte Satrap mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, die Möglichkeit zu gewissen territorialen Erweiterungen, die denn auch von Dionysios wahrgenom men wurde. Den Vorstellungen der verbannten Herakleioten lieh Alexander freilich sein Ohr und drohte aus der Ferne mehrmals mit Krieg, doch verstand es der Tyrann durch Hinweis auf das gute Verhälmis zu seinen Untertanen und durch Gewinnung der Fürsprache von Alexanders Schwester Kleopatra sowie
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durch einige Zugeständnisse und geschickte Verschleppungstaktik die Entschei dung lange hinauszuzögern, bis ihn der vorzeitige Tod des Königs von der Ge fahr befreite. Die maßlose Freude, die er auf die Kunde von diesem Ereignis zeig te - er soll der Euthymia, der frohen Stimmung, ein Standbild errid1tet haben -, war allerdings verfrüht, denn die Verbannten wandten sim jetzt an den Reichs verweser Perdikkas, so daß die Lage kaum gebessert war. Doch zum zweiten Male rettete den Dionysios seine gewandte Diplomatie und der jähe Tod des Herrn über Asien (321) . In den nachfolgenden Diadomenkämpfen hat er dank seiner klugen Politik nicht nur die Herrsmaft über Herakleia behaupten, sondern durch kriegerische Unternehmungen, die er mit Hilfe des Bürgeraufgebotes führte, seinen Mamtbereich erweitern können. Ja nom mehr: Bereits vor Perdikkas' Ende ist er durch Vermählung mit Amastris, einer Nimte des letzten Perserkönigs Dareios, in verwandtschaftliche Verbindung mit einigen Diadochen getreten. Alex anders Feldherr Krateros, der die Prinzessin auf Wunsch des Königs hatte hei raten müssen, trennte sich nam dessen Tode von ihr und stimmte der Ehe mit Dionysios zu. Amastris brachte ihrem neuen Gemahl beträchtliche Schätze mit, die ihm eine prunkvolle Hofhaltung gestatteten. Daß er, wie die Überlieferung behauptet, erst jetzt den Hausrat des großen Dionysios erwarb, wird man bezweifeln dürfen und diese materielle Anknüpfung an das sizilische Tyrannenhaus, nach dessen Gründer er hieß, lieber seinen früheren Jahren zuschreiben, als ihn nom nicht die Welt der makedonischen Großen umfing. Unter diesen war es vor allem der im Jahre 3 21 zum Oberbefehlshaber des Reichsheeres bestellte Antigonos, dessen Gunst für den Bestand von Dionysios' erweiterter Herrschaft von Bedeutung sein mußte. Vielleicht hatte smon der gemeinsame Gegensatz zu Perdikkas sie zusammenge führt. Jedenfalls gewann der Tyrann durch die Unterstützung, die er 3 14 dem Anti gonos lieh, so sehr dessen Zuneigung, daß dieser eine weitere Ausdehnung von Dionysios' Machtbereich duldete und in die Vermählung seines das helle sponti sche Phrygien verwaltenden Neffen Ptolemaios mit einer Tochter des Tyrannen aus erster Ehe einwilligte. Wie sehr sich der Stadtherr von Herakleia, jetzt Fürst eines nicht geringen Territoriums, den makedonischen Großen ebenbürtig fühlte, zeigt die Tatsache, daß er zur gleichen Zeit wie sie (306) den Königstitel annahm. Schon längst hatte er auf Silbermünzen seinen vollen Namen statt des Namens der Herakleioten setzen lassen. Es schien, als sollte die nun schon länger als ein halbes Jahrhundert bestehende Tyrannis über die pontisme Stadt sim zu einer hellenisti schen Territorialmonarchie entfalten. Aum Erben der fürstlichen Herrschaft hat ten sich eingestellt : Klearchos und Oxathres, nam dem väterlichen und mütter lichen Großvater benannt, sowie eine Tochter, die den Namen der Mutter Ama stris trug.
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Dionysios' äußere Erscheinung und Lebensweise ließen nicht ahnen, welche Fähig keiten und Energie dieser Mann besaß. Er war so beleibt, daß er an schwerer Atemnot litt und bei Audienzen seine Körperfülle zu verstecken pflegte. Von seiner Schlafsucht erzählte man, er könne nur durch Einstechen von Nadeln zum Erwachen gebracht werden. Aber trotz seiner Schwerfälligkeit, seiner Neigung zu genießerischem Leben und scheinbarer Gleichgültigkeit gegenüber den Regie rungsgeschäften hat sich Dionysios als Regent und Politiker vorzüglich bewährt. Unter seiner Herrschaft blühte Herakleia wirtschaftlich auf. Während einer Hun gersnot in der Ägäis (330-326) konnte der Tyrann den Athenern, deren Bürger recht sein Vater erhalten hatte, Getreide senden und dafür staatliche Ehren emp fangen. Nicht ohne Grund nannte man ihn in Herakleia den «Trefflichen», be trauerte, als er nach dreiunddreißigjähriger Regierung im Jahre 305'4 starb, sei nen Tod und erwies, wie es scheint, dem Verstorbenen kultische Ehren. Nachfolger des Dionysios Dank der fortdauernden Gunst des Antigonos blieb der glückliche Zustand auch unter Dionysios' Witwe Amastris· erhalten, einer klugen, tatkräftigen Frau. Da die beiden Söhne noch zu jung waren, hatte der Gatte vor seinem Tode ihr die Herrschaft übertragen. Als nach wenigen Jahren (302) die übrigen Diadochen sich gegen Antigonos zusammenschlossen, löste sie die Verbindung zu diesem und knüpfte mit dem über Thrakien gebietenden König Lysimachos, der am ehe sten gefährlich werden konnte, Beziehungen an. Indem dieser darauf einging und Amastris zur Gemahlin nahm, gewann er in Herakleia einen wichtigen Stütz punkt für seine militärischen Operationen gegen Antigonos. Mit dessen Nieder lage und Tod bei Ipsos (301) verlor die Stadt jedoch für ihn diese Bedeutung; andere politische Erwägungen traten in den Vordergrund und bestimmten ihn, trotz seiner Neigung zu Amastris die Ehe bereits nach zwei Jahren wieder zu lösen, um des Königs Ptolemaios Tochter Arsinoe heiraten zu können. Das gute Verhältnis zwischen beiden blieb jedoch bestehen und schloß auch die Söhne der Fürstin ein. Anfangs scheint Amastris nach ihrer Rückkehr aus Sardeis, wohin Lysimachos sie hatte kommen lassen, noch selbst die Herrschaft geführt und da mals auch nordöstlich von Herakleia die Stadt gegründet zu haben, die fortan ihren Namen trug. Die neue Polis wurde durch Zusammenschluß, nicht aber durch Zusammensiedlung der Bewohner von Sesamos, Kytoros, Kromna und Tios gebildet, Plätzen, die wohl von Dionysios gewonnen worden waren. Die im alten Sesamos gelegene Burg dürfte Amastris zu ihrem Witwensitz gewählt haben, als die inzwischen herangewachsenen Söhne selbst die Regierung über nahmen. Der ältere Sohn, Klearchos, leistete um 292 seinem Stiefvater Lysimachos
Ende der Tyrannis in Herakleia
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Heeresfolge gegen die Geten, wurde mit ihm von diesen gefangengenommen, kam aber nach einiger Zeit, in der er anscheinend als Geisel zurückgehalten wurde, wieder frei. Vom leiblichen Vater hatte weder er noch sein Bruder Oxathres Klugheit und Mäßigung geerbt. Durch Gewalttaten entfremdeten sie sich die Bevölkerung von Herakleia, ja, sie brachten sogar die eigene Mutter um. Es heißt, daß Amastris ihnen keinerlei Anlaß zum Haß, geschweige zu solcher Tat gegeben habe. Aber sollten die Söhne auch durch ihre starke, herrscherliche Persönlichkeit sich bedrückt gefühlt haben oder gar von ihr gereizt worden sein, der Mutter rnord war nicht nur grausig, sondern im Hinblick auf den noch immer zu seiner einstigen Gemahlin haltenden Lysimachos auch politisch töricht. Er rächte sich alsbald. Der König nämlich verschaffte sich unter dem Schein der Freundschaft freien Einlaß in Herakleia und ließ erst den Klearchos, sodann den Oxathres um bringen. Die Schätze der Fürsten eignete er sich an und stellte nach fünfundsieb zigjähriger Tyrannenherrschaft in Herakleia die freistaatliche Ordnung in demo kratischer Form wieder her (288/7) . Von wirklicher Selbständigkeit der Polis konnte natürlich auch fortan nicht die Rede sein, da Lysimachos die Stadt samt dem ganzen, von Dionysios gewonnenen Herrschaftsgebiet als ihm gehörend an sah. Das wurde deutlich, als er diesen Besitz wenige Jahre darauf (284) seiner Gemahlin Arsinoe schenkte, die ihn durch einen Mann aus Kyme, Herakleides mit Namen, verwalten ließ. Sein Regiment, das nach Lysimachos' Tod vom Volk gestürzt wurde (28:1), unterschied sich nicht von dem durch auswärtige Mächte eingesetzter oder gestützter Tyrannen. Erst mit der Beseitigung dieses Gewalt habers gewann die Stadt ihre Freiheit zurück. Die überführung der Stadttyrannis in ein hellenistisches Territorialkönigtum, die unter Dionysios schon erreicht zu sein schien, war schließlich, und kaum nur durch die Minderwertigkeit der Nach folger, doch nicht gelungen. Sie gelang dagegen außerhalb des Bereiches der großen Diadochenherrschaften am fernen Kimmerischen Bosporos.
I I I. D E R K I M M E R I S C H E B O S P O R O S
Die Notwendigkeit straffer Zusammenfassung aller Kräfte zur Selbstbehauptung gegenüber den Barbaren des Hinterlandes und fremden Mächten der Umwelt hatte in Städten am Rande des griechischen Siedlungsgebietes von jeher das Auf kommen von Tyrannen begünstigt. Eine Sonderstellung nehmen, verglichen etwa mit Sizilien, die Plätze an der Straße von Kertsch ein, insofern als hier die Folge von älterer Tyrannis, tyrannenloser Zeit und jüngerer Tyrannis nicht be gegnet, vielmehr, soweit wir erkennen können, erst in der sonst tyrannenlosen Epoche um 440 ein Tyrann in Erscheinung tritt, der dann allerdings die Herr-
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schaft seines Hauses über Pantikapaion und Phanagoreia, zusammenfassend «Bosporos» genannt, für Jahrhunderte begründen konnte. Wie die politischen Verhältnisse vorher geartet waren, ist kaum zu sagen. über das 6. Jahrhundert fehlt jede Kunde, doch mag schon damals Phanagoreia in Abhängigkeit von Pantikapaion getreten sein. über diese Stadt gebot seit 480/79 das vermutlich aus der Mutterstadt Milet stammende Geschlecht der Archeanalaiden, deren Stel lung Diodor ungenau als Königtum bezeichnet, während sie in Wahrheit wohl den höchsten gewählten Beamten zu stellen hatten. Vielleicht handelt es sich um die Nachkommen des Oikistenj jedenfalls besteht kein zureichender Grund, in ihnen Tyrannen zu sehen. Erst Spartolws, dessen Name auf thrakische Herkunft weist, errichtete 438/7 eine Tyrannis, wahrscheinlich indem er gewaltsam die Archeanaktiden verdrängte. Er selbst mag bereits stark hellenisiert gewesen sein, seine Nachkommen, die teils griechische, teils noch thrakische Namen trugen, können, wiewohl sie sich mehrfach mit heimischen Fürsten der Umgegend ver schwägerten, als so gräzisiert gelten, daß dem gesamten Geschlecht ein Platz in der Geschichte der griechischen Tyrannis gebührt. Satyros Von Spartakos, dessen Regierung anscheinend nur fünf Jahre währte (438/7) bis 433 12), ist leider außer der Gewinnung der Herrschaft nichts bekannt. Erst über seinen Sohn und Nachfolger Satyros, der vierundvierzig Jahre lang (bis 3 89/8) die Tyrannis innehatte, an der er vielleicht bis 3 93/2 einen Verwandten, wo nicht gar Bruder, mit Namen Seleukos teilnehmen ließ, erfahren wir einiges. Das Kommando über die Sold truppen übertrug er dem Griechen Sopaios, den er auch mit reichem Landbesitz ausstattete. Freilich geriet dieser bald in Verdacht, seinen Gönner stürzen zu wollen, und wurde deshalb eine Zeitlang in Haft gehalten, doch erwies sich die Beschuldigung als unbegründet. Er erhielt daraufhin die Freiheit und noch größere Ländereien, ja er wurde sogar durch Vermählung seiner Tochter mit Leukon, dem Sohne des Satyros, in dessen Familie aufgenommen, die sich dadurch noch weiter hellenisierte. Auch der Athener Gylon, des Red ners Demosthenes Großvater mütterlicherseits, wurde für treue Dienste be lohnt. Als Abgesandter seiner Heimat hatte er in der nahe bei Pantikapaion gelegenen Stadt Nymphaion attische Interessen dem Tyrannen preisgegeben und, da er in Athen Verurteilung befürchtete, Satyros aufgesucht, der ihm den Platz Kepoi am asiatischen Ufer der Meerenge überließ. Dort heiratete er eine reiche Skythin und mag als «Klienteltyrann» geschaltet haben. Die guten Be ziehungen, in denen Satyros zu Athen stand, scheinen dadurch nicht gestört wor den zu sein, schon weil man dort auf den Import pontischen Getreides angewie sen war. Das blieb auch unter den nachfolgenden Tyrannen so : immer wieder
Kimmerischer Bosporos: Satyros. Leukol1
ist von Getreideschenkungen der Machthaber am Bosporos, von Erlaß der Zölle und anderen Vergünstigungen die Rede sowie von Ehrenbeschlüssen der Athener, die mit Verleihung des Bürgerrechtes und der Steuerfreiheit, mit goldenen Krän zen und Errichtung von Ehrenstatuen dankten. Für den Export des Korns und anderer Waren stand zunächst der Hafen von Pantikapaion zur Verfügung, wäh rend die für diesen Zweck noch günstiger gelegene Stadt Theodosia bis in den Anfang des 4. Jahrhunderts ihre Selbständigkeit gegenüber Satyros behauptete. Bevor dieser daranging, durch ihre Eroberung seine Herrschaft auf der Krim nach Westen auszudehnen, hatte er auf der asiatischen Seite der Straße von Kertsch seinen Machtbereich auszudehnen gesucht. Hier herrschte über den auf der Tamanhalbinsel ansässigen Stamm der Sinder ein Grieche, Hekataios, der mit Tirgatao, einer Angehörigen des Fürstenhauses der am Asowschen Meer wohnenden Ixomaten, vermählt war. Aus seiner Herr schaft vertrieben, wurde er von Satyros wieder zurückgeführt, der ihn zu seinem Schwiegersohn machte, womit die Oberhoheit des Herrn am Bosporos über die Sinder erreicht werden sollte. Aber die erst von ihrem Gemahl gefangengesetzte, dann in ihre Heimat geflüchtete Tirgatao veranlaßte den König der Ixomaten zu einem Rachekrieg gegen die Sinder und Satyros. Dieser sah sich zu einem Frie den genötigt, welcher der Fürstin die Rückkehr gestattete und ihn selbst zur Stel lung seines Sohnes Metrodoros als Geisel verpflichtete. Gleichwohl hat der Ty rann den Vertrag, der ihn des neuen Machtbereiches wieder beraubte, nicht ein gehalten, vielmehr Tirgatao nach dem Leben getrachtet, die daraufhin den Metro doros beseitigte und den Krieg gegen Satyros - von Hekataios verlautet nichts mehr - erneuerte. Das Ende dieses für ihn schweren und erfolglosen Kampfes hat Satyros nicht mehr erlebt ; er fiel im Ringen um das von Herakleia am Pon tos unterstützte Theodosia, das sich seiner seit einiger Zeit geführten Angriffe bisher hatte erwehren können, und erhielt auf einer Landzunge am Kimmeri schen Bosporos seine Grabstätte. Leukon Die Tyrannis über Pantikapaion und Phanagoreia ging auf seinen Sohn Leu kon über, der sie vierzig Jahre innegehabt hat (389/8-349/8). Ihm ist es gelun gen, Theodosia in Besitz zu nehmen und auch die von seinem Vater vergeblich erstrebte Herrschaft über die Sinder zu gewinnen. Zwar mußte zunächst sein Bruder Gorgippos sich mit reichen Geschenken zu Tirgatao begeben und Frieden erbitten, doch scheint im Anschluß daran eine Regelung der Art erfolgt zu sein, daß Gorgippos eine heimische Prinzessin, vielleicht eine Tochter der Tirgatao, heiratete und dadurch spätestens nach Tirgataos Tod Fürst der Sinder wurde. Er schuf sich am «Sinderhafen» eine Residenz, die er nach sich selbst «Gorgippia»
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benannte, stand aber offenbar unter Oberhoheit des Leukon, mit dessen Sohn Pairisades seine Tochter Komosarye vermählt wurde. Seit dieser Eheschließung, wenn nicht schon früher, hat Leukon in seine Titulatur die Bezeichnung «König der Sinder» aufgenommen. Auch die südlich und nördlich des Kuban ansässigen Toreten, Dandarier und Psesser hat er unterworfen und jeweils die Königswürde usurpiert. Ob seine Kämpfe mit den auf der Krim gelandeten Herakleioten noch in den Krieg um Theodosia gehören oder mit einem etwaigen Angriff des Ty rannen auf Chersonesos in Zusammenhang zu bringen sind, ist nicht zu entschei den. Desgleichen muß offenbleiben, ob der Plan des Rhodiers Memnon, einen Krieg gegen Leukon zu führen, den er anscheinend während seines Aufenthaltes in Makedonien faßte, ausgeführt wurde. Zu Athen blieben die guten Beziehun gen des Vorgängers bestehen : Leukon und seine Söhne empfingen das attische Bürgerrecht. Freundliche Verbindung unterhielt er auch zu anderen Städten der Ägäiswelt, etwa zu Mytilene auf Lesbos, dessen Bürgern Ermäßigung der Ge treidezölle gewährt wurde, vielleicht auch zu den Arkadern. Die Frage, welcher Art die Herrschaft der Spartokiden über die griechischen Städte ihres Machtbereiches war, läßt sich erst für Leukons Zeit, aus der wir neben literarischen Angaben auch inschriftliche Zeugnisse besitzen, mit einiger Sicherheit beantworten. Während es keinem zweifel unterliegt, daß Leukon und seine Nachfolger über die unterworfenen Barbarenstämme als deren Könige ge boten, sich also an die Stelle heimischer Fürsten setzten, bedarf ihre Monarchie über hellenische Gemeinwesen der Klärung. Zeitgenössische und spätere Autoren haben die Herren am Bosporos schlechthin «Tyrannen» genannt, ohne sie da mit diskreditieren zu wollen. Schon gewisse äußere Ähnlichkeiten mit Tyran nenherrschaften, etwa das Vorhanden sein einer Leibwache, ausgedehnter persön licher Grundbesitz, der große Landschenkungen an ergebene Männer gestattete, eine aus griechischen und skythischen Elementen zusammengesetzte Söldner macht, Verbannung politischer Gegner und dergleichen, mußte das nahelegen. Ausschlaggebend dafür, daß es sich wirklich um eine Tyrannis handelt, ist je doch das Verhältnis dieser Männer zur Polis. Leukon und schon seine Vorgän ger dürften, rechtlich gesehen, Bürger von Pantikapaion gewesen sein, wo sie auch residierten. Die Griechen sahen in ihnen wie in allen Tyrannen Privatper sonen, nicht Könige oder legitime Vorsteher eines oder mehrerer Gemeinwesen ; nur ihnen persönlich wurden Ehrenrechte verliehen und Statuen errichtet, nur ihnen, nicht den Bürgerschaften, Steuerfreiheit gewährt. Als absolute Herrscher geboten die Spartokiden über Pantikapaion und Phanagoreia, seit Leukon auch über Theodosia, und zwar so sehr, daß sie ohne Beteiligung städtischer Organe Zollerleichterungen, Proxenie oder andere Privilegien verleihen und ihren dies bezüglichen Willen durch bloßen Heroldsruf bekanntmachen konnten. Wie so
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häufig bei Tyrannen erscheint unter Leukon zwar noch der Name der Städte, nicht der des Machthabers auf den Münzen, doch lag die Münzprägung gleich wohl bei ihm. Denn er war es, der eine Umprägung der Geldstücke vornahm, de ren Nennwert dabei verdoppelt wurde, eine Maßnahme, die wie weitere Finanz manipulationen, von denen berichtet wird, ähnlich durch andere Tyrannen vor genommen wurde. Gewaltige Einnahmen müssen den Machthabern aus den fruchtbaren, wohl von hörigen Eingeborenen bebauten Ländereien, aus den Ab gaben der unterworfenen Barbarenstämme und namentlich aus den Zöllen zu geflossen sein. Ihr Reichtum machte es ihnen leicht, ein starkes Söldnerheer und eine ansehnliche Flotte zu halten. Zusammen mit etwaigen Bürgeraufgeboten und den Kontingenten der wohl sicher heerespflichtigen Sinder, Toreten, Dan darier und Ps esser besaßen sie eine achtunggebietende Streitmacht. Die mögliche Führung der Bürgeraufgebote stellt uns vor die Frage, ob die Spartokiden wie die meisten Tyrannen ohne jede gesetzliche Verankerung ihrer Machtstellung neben den Gemeinwesen standen oder ob sie, gleich dem großen Dionysios, zugleich das höchste Polis amt innehatten. Auf Inschriften werden sie seit Leukon «Archon von Bosporos und Theodosia» genannt, doch dürften auch schon die Vorgänger als Archon von Bosporos bezeichnet worden sein. Freilich handelt es sich stets um eine Datierungsformel ohne Angabe eines Amtsjahres, so daß man von vornherein zweifeln muß, ob mit dem Ausdruck ein Amt oder nicht vielmehr der Tatbestand der Herrschaft gemeint ist, wie dies für Dionysios als «Archon Siziliens» anzunehmen war. Daß letzteres zutrifft, ergibt sich so wohl daraus, daß das «Archontat» mehrere Städte, nämlich Pantikapaion, Pha nagoreia und Theodosia, dazu wohl auch noch kleinere, in der Datierungsformel nicht genannte Plätze, überspannte, wie aus dem Umstand, daß ein lebensläng liches, staatsrechtlich erbliches Archontenamt in einer oder gar mehreren grie chischen Städten ohne Beispiel wäre, schließlich auch aus der Samtherrschaft des Satyros und Seleukos sowie des Leukon und seiner Söhne. Es findet sich denn auch von einer Bestellung zum Leiter der Gemeinwesen oder von Wahl zu einem außerordentlichen Strategenamt keine Spur. Wenn gleichwohl der Oberbefehl über die Bürgeraufgebote bei den Spartokiden gelegen haben dürfte und statt nach eponymen Jahresbeamten nach der Regierungszeit der Machthaber ohne Jahresangabe datiert werden konnte, so zeigt dies erst recht, daß - im Einklang mit der Terminologie der antiken Autoren - eine reine Tyrannis bestand, die bloß durch ihre Dauer eine gewisse Legitimität erhielt. Wie auch sonst unter Tyrannenherrschaft blieb die kommunale Polisverfassung mit ihren Organen bestehen ; nur unter Leukons Sohn Pairisades ist sie in Pantikapaion aufgeho ben oder mindestens gewaltsam verändert worden. Zwar hat es an Widerstand gegen das monarchische Regiment nicht gefehlt - er äußerte sich in Kampfunlust
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Nordiigiiis und Pontos Ellxeinos
der Bürgertruppen oder auch in Komplotten, die bei ihrer Entdeckung zur Ver bannung der Schuldigen und Verdächtigen führten -, aber im ganzen hat die milde Herrschaft der Dynastie und ihre Sorge für den Wohlstand der Untertanen, von dem reiche Funde zeugen, die Bürger der lediglich unter der Regierung des Pai risades nicht steuerfreien Städte willig die Tyrannis ertragen lassen. «Sie wurden Tyrannen genannt», sagte später der pontische Grieche Strabon, «doch die meisten von ihnen seit Leukon und Pairisades waren gute Regenten.» Pairisades und seine Söhne Als Leukon nach vierzigjähriger Regierung starb (349/8) , hinterließ er drei Söhne, die bereits unter ihm offiziell an der Herrschaft teilgehabt hatten. Der älteste, Spartokos 11., übernahm die Tyrannis von Bosporos, dem zweiten, Pairi sades, fiel die Herrschaft über Theodosia sowie das Königtum über die Sinder, Thateer und wahrscheinlich auch über die Stämme am Asowschen Meere zu, während der dritte, ApolIonios, keinen eigenen Bezirk erhalten zu haben scheint. Fünf Jahre (bis 344/3) währte die Samtherrschaft, in deren Verlauf die erstge nannten beiden Brüder die von ihren Vorgängern den Athenern gewährten Privi legien durch Gesandte erneuern ließen und dafür Ehrungen und Zugeständnisse empfingen. Dann starb Spartokos, und Pairisades von Apollonios ist nicht mehr die Rede - besaß fortan das gesamte, vorn Vater ausgebaute Reich, das er während seiner dreiunddreißigjährigen Regierung (344/3-Y l1.lo) nicht nur zu behaupten wußte, indern er etwa die abgefallenen Psesser unterwarf, sondern noch erweiterte. Stolz konnte er, der auf dem Festland auch die Doseher bot mäßig machte, sich König aller Maioten nennen und rühmen, daß seine Herr schaft von den Taurern bis an die Grenzen des kaukasischen Landes reiche. Es scheint, daß der Rückzug der Skythen, mit denen er anscheinend erfolgreiche Kämpfe führte, aus dem Gebiet östlich des Asowschen Meeres eine Folge dieser Expansion war. Dem asiatischen Teil seines Herrschaftgebietes war Pairisades zudem durch seine Ehe mit Komosarye, der Tochter seines Oheims Gorgippos, verbunden, doch stand er auch zu den Städten der griechischen Welt bis nach Syrakus durch Handelsverträge in Beziehung. Die Athener ehrten ihn und seine Söhne Satyros und Gorgippos, indern sie ihnen auf der Agora eherne Standbilder errichteten. Von irgendwelchen Verbindungen zu Alexander oder den Diadochen verlautet nichts, doch weist wie bei einigen anderen Tyrannen die Heranziehung hellenischer Künstler, etwa des Kitharöden Stratonikos, und namentlich die gött liche Verehrung, die Pairisades allem Anschein nach für sich in Anspruch nahm, auf Hofhaltung und Herrscherturn hellenistischen Gepräges. Im Gegensatz zu sei nem Vater ließ er denn auch auf Münzen den eigenen Namen setzen. Ein Fürst von großer Wendigkeit, der seine Kleidung den jeweiligen militärischen oder -
Kimmerischer Bosporos: Pairisades und seine Söhne
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kriegerischen Umständen angepaßt haben soll, bewies Pairisades zugleich des potische Tatkraft. Das erfuhren im besonderen die griechischen Städte seines Machtbereiches. In Pantikapaion hat er, wie bereits zu bemerken war, die Polis verfassung wenn nicht aufgehoben, so doch mindestens nach seinem Willen um gestaltet, die Steuerfreiheit beseitigt und anscheinend das ihm abgeneigte, unzu verlässige Bürgeraufgebot durch Vermehrung fremder Soldtruppen ersetzt. Es mag damit zusammenhängen, daß unter dem Gemahl der nur halbgriechischen Komosarye, der den nichthellenischen Teil des Herrschaftsbereiches erheblich er weiterte, die barbarischen Elemente kulturell stärker zur Geltung kamen. Noch bevor Pairisades im Jahre 311110 starb, begann bereits der Streit seiner Söhne, deren er drei hinterließ : Satyros II., Eumelos und Prytanis. Gorgippos war vermutlich vorher gestorben. Zum Nachfolger hatte der Vater Satyros be stimmt, der nach dessen Tod von dem mit Aripharnes, einem wohl von Pairisades verdrängten, jetzt aber zurückgekehrten Thateerkönig, verbündeten Eumelos angegriffen wurde, ihn jedoch in einer großen Schlacht besiegte, so daß der Ge schlagene in die Königsburg des Aripharnes flüchten mußte. Bei der verlustrei chen Belagerung dieser Feste erlitt Satyros eine tödliche Verwundung, die seiner Regierung bereits nach neun Monaten ein Ende setzte (310/9) . Prytal1is ließ die Leiche in Pantikapaion bestatten, übernahm das Kommando über das Heer des Gefallenen und beanspruchte seinerseits das gesamte Herrschaftsgebiet. Auf Eu melos' Vorschlag, den väterlichen Besitz zu teilen, ging er nicht ein, wiewohl ihm nicht einmal die Residenz Pantikapaion sicher war. So kam es, daß er über dem Bemühen, die Hauptstadt zu sichern, eine Anzahl Burgen an Eumelos verlor und, als er den Krieg gegen ihn aufnahm, zur Kapitulation gezwungen wurde. Er mußte seine Truppen dem Bruder übergeben und in einem Vertrag auf jede Machtausübung verzichten. Sein Versuch, sich gleichwohl im Besitz von Panti kapaion zu behaupten, scheiterte ; auf der Flucht nach Kepoi wurde Prytanis er schlagen. Eumelos, nun der alleinige Herr des Reiches, ließ, um sich zu schützen, nicht nur die nächsten Anhänger, sondern auch die Frauen und Kinder seiner Brüder umbringen, bis auf einen Sohn des Satyros, Pairisades, dem es gelang, zum Skythenkönig Agaros zu flüchten. Man hatte allen Grund, von seiner Regie rung das Schlimmste zu befürchten. Aber das Gegenteil trat ein. Offenbar war sich Eumelos bewußt, daß er die gewaltsam errungene, mit Bluttaten befleckte Herrschaft am ehesten durch Ent gegenkommen gegenüber der Bürgerschaft der griechischen Städte, im beson deren Pantikapaions, würde festhalten können. Er stellte daher die Polisverfas sung, wie sie vor Pairisades bestanden hatte, wieder her, erneuerte die frühere Steuerfreiheit und scheint neben anderem die Entlassung oder wenigstens Ver minderung der Soldtruppen versprochen zu haben, was wohl zugleich ein Wie-
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Nordägäis und Pontos Euxeinos
deraufleben des Bürgeraufgebotes bedeuten sollte. Trugen schon diese Maßnah men dazu bei, daß seine Herrschaft im Vergleich mit derjenigen des Pairisades als «gerecht» erschien und ihm die Anerkennung nicht versagt wurde, so wußte Eumelos sich durch Bekämpfung der Taurer sowie der am Kaukasus ansässigen Stämme der Heniocher und Achaier, dazu durch Wohltaten, die er den Städten Sinope, Byzanz und dem von König Lysimachos belagerten Kallatis erwies, auch die Sympathien anderer griechischer Plätze am Pontos zu gewinnen. Sie hätten es anscheinend nicht ungern gesehen, wenn dieser Fürst, der durch Ansiedlung von tausend aus ihrer Stadt weichenden Kallatiern und Gründung einer neuen Griechenstadt, Psoa, im Gegensatz zu seinem Vater das hellenische Element wie der stärkte, auch die Kolonien im Westen und Süden des Schwarzen Meeres in den Rahmen seiner Herrschaft einbezogen hätte. Schon hatte er über weite, sei nen Vorgängern nicht untertänige Strecken des Barbarenlandes ausgegriffen, und sein Ruhm wuchs. Da verunglückte er im Sinderland mit seinem Wagen und starb nach einer Regierung von nur fünfeinhalb Jahren (3°4/3) . Von der zwanzigjährigen Herrschaft seines Sohnes Spartokos III., die keine weitere Ausdehnung des Machtbereiches gebracht zu haben scheint, wissen wir so gut wie nichts. Ob er in der Behandlung der Griechenstädte dem Beispiel seines Vaters folgte, bleibt daher ebenso offen wie die Frage, ob schon er oder erst sein Sohn Pairisades II. (284/3 bis nach 250) auch ihnen gegenüber den Königstitel angenommen hat. Die Titulatur auf Inschriften schwankt zwischen «Archon» und «König» selbst noch bei dem letzteren, der sich jedoch auf Goldmünzen schlecht hin als König bezeichnete, wie es seine Nachfolger allgemein taten, so daß an der Begründung eines Hellenen und Barbaren überspannenden Königtums nach Art desjenigen der Diadochen kein Zweifel bestehen kann. Was in Herakleia nicht gelungen war, die Entfaltung hellenistischen Herrschertums aus einer griechischen Stadttyrannis, wurde am Kimmerischen Bosporos, wo freilich die Tyrannis seit langem mit dem Königtum über Barbarenstämme gekoppelt war, Wirklichkeit. Es scheint für das Phänomen der Tyrannis kennzeichnend, daß durch diesen über gang das Verhältnis des Machthabers zu den griechischen Gemeinwesen keine grundsätzliche Veränderung erfuhr. Freilich hatte jetzt das territoriale Element die Oberhand über das städtische gewonnen, das einst Ausgangspunkt gewesen war, und als natürliche Folge stellte sich ein, was seit langem als Schicksal über dem seiner Herkunft nach nur halbgriechischen, seit seinen Eroberungen mit der nichthellenischen Umwelt mannigfach verflochtenen Tyrannenhause hing, der Prozeß zunehmender Barbarisierung. Hatten die Herren am Bosporos im 4. J ahr hundert eine hellenische Mission erfüllt, die ihre Tyrannis rechtfertigte, so ist den Königen der späteren Zeit der Ehrentitel eines Schützers des Griechentums kaum noch zuzuerkennen.
Kimmerischer Bosporos : Nachfolger des Eurne/os
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Außerhalb des Machtbereiches der Spartokiden kennen wir im Norden des Schwarzen Meeres keine Tyrannen mit Ausnahme eines dem Namen nach unbe kannten Mannes römischer Zeit, dessen Herrschaft über die Stadt Chersonesos gewaltsam gestürzt wurde.
V IERTES K A P ITEL
D I E WE STKÜSTE K L E I N A S I E N S
I. MYSI E N U N D AIOLIS
Wie im Bereich der Meerengen und der Troas hat e s im 4 . Jahrhundert auch in Mysien und der Aiolis an Tyrannenherrschaften nicht gefehlt, von denen einige bereits seit der Zeit der älteren Tyrannis bestanden. So geboten über Pergamon, Teuthrania und Halisama um 400 noch die Nachkommen des Lakedaimonierkö nigs Damaratos ; Palaiogambreion, Gambreion, Myrina und Gryneion besaßen nach Jahrzehnten der Entmachtung ihres Hauses wieder Abkömmlinge des Ere triers Gongylos, der um 480 von Xerxes über sie gesetzt worden war. Die zwei Brüderpaare, dort Eurysthenes und ProkIes, hier Gorgion und Gongylos, die jetzt Herren der beiden Städtegruppen waren, dürften jedoch, da sie sich 399 dem Spar taner Thibron zum Kampf gegen Persien anschlossen, nach Wiederherstellung der Macht des Großkönigs in Westkleinasien (um 394) ihren Besitz mindestens vorübergehend verloren haben. Ob neue Tyrannen eingesetzt wurden, ist unbe kannt. Auch über das Aufkommen tyrannischer Stadtherren zur Zeit der großen Satrapenaufstände sind wir ungenügend unterrichtet. Denn der einzige erkenn bare Fall, derjenige von Atameus und Assos, dürfte kaum allein gestanden haben. Diese beiden Plätze, von denen der erste westlich von Pergamon, der zweite an der Südküste der Troas lag, gewann um 3 60 der hellenisierte Bithynier Eubulos. Ge schickt wußte er in der Folgezeit Atarneus gegen einen Angriff des Satrapen Autophradates zu behaupten. Daß er, der den Dichter Persinos in seine Umge bung zog und anscheinend auch sonst geistige Interessen pflegte, despotischer re . giert habe als sein Nachfolger Hermeias, kann tendenziöse Erfindung zu Ehren des letzteren sein, der in den der Akademie und dem Peripatos nahestehenden Kreisen als Freund und Gönner der Philosophen gepriesen wurde. Hermeias von Atarneus Hermeias, gleich Eubulos ein hellenisierter Bithyner, aber unfreier Abkunft, und angeblich ein Eunuch, stammte aus der kleinen Stadt Tarne. Ob er Sklave des Eubulos war und erst von ihm freigelassen wurde oder, schon ehe dieser ihn her anzog, als Freigelassener eines anderen Herrn zu Reichtum und Ansehen gelangt
Hermeias von Atarneus
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war, ist ebensowenig zu entscheiden wie die Frage, ob Hermeias, um sich in den alleinigen Besitz der Herrschaft zu setzen, den Tod des erkrankten Eubulos, dessen Mitregent er zuletzt gewesen sein soll, herbeiführte. Des Sklavenstandes war er jedenfalls schon ledig, als er sich in den fünfziger Jahren nach Athen begab und dort mit Aristoteles und anderen Schülern Platons, nicht jedoch mit diesem selbst, in nähere Verbindung trat. Die geistige Gemeinschaft, die ihn hier umfing, ist, auch nachdem er heimgekehrt und nicht lange vor 350 Herr über Atarneus und Assos geworden war, von starkem Einfluß auf ihn geblieben. Nicht nur daß er eine Schrift über die Unsterblichkeit der Seele verfaßte, es konnte sich Platon mit Erfolg durch einen Brief bemühen, zwischen seinen Anhängern Erastos und Ko riskos in der troischen Stadt Skepsis und ihm Kontakt im Geiste der Philosophie herzustellen, und nach dem Tode des Meisters gingen Aristoteles und Xenokrates zu Hermeias, bei dem der erstere drei Jahre (348/7-34514) blieb. Er beriet ihn und trat durch Vermählung mit seiner Nichte Pythais sogar in verwandtschaft liche Beziehung zu ihm. Von Hermeias' offenbar außerordentlicher Persönlich keit ein klares Bild zu gewinnen ist schwer, weil der in den Philosophenschulen bewahrten rühmenden Tradition eine herabsetzende Überlieferung gegenüber steht, vertreten durch zwei Zeitgenossen, den gegen Platon eingenommenen Hi storiker Theopompos und seinen dichtenden Landsmann Theokritos, die beide es nicht verwinden konnten, daß der Machthaber die Schutzherrschaft über den auf dem Festland gelegenen Gebietsteil ihrer Heimatstadt Chios übernommen hatte. Doch mag schon Hermeias selbst in seinem Wesen und seinem Wirken wider spruchsvoll gewesen sein und gegensätzliche Urteile herausgefordert haben. Für die Art der Herrschaft über Atarneus und Assos, die mehrfach als Tyrannis bezeichnet wird, ist es charakteristisch, daß Hermeias dem AristoteIes sowie den genannten Platonikern Erastos und Koriskos die Stadt Assos zuteilte und ge stattete, daß von dem Philosophenkollegium dort eine gemäßigt demokratische Verfassung eingerichtet wurde, wie sie als «mittlere Verfassung» dem Aristote Ies vorschwebte. Sowenig wie andere «Gefährten» des Tyrannen, denen anschei nend untertänig gewordene Plätze zugewiesen wurden, waren die Männer jenes Kollegiums Organe der ihnen überantworteten Gemeinwesen, deren Bürgerrecht fie vermutlich nicht einmal besaßen, sie standen vielmehr nach Tyrannenart neben und über diesen. Die Herrschaft des Hermeias stellt sich so als das Regiment einer Hetairie dar. In einem Bündnisvertrag mit Erythrai werden weder die Städte seines Machtbereiches noch er allein, sondern «Hermeias und seine Hetairoi» als Vertragsparmer genannt, denen das gesamte Territorium gehört. An sie haben die Erythraier für die Aufbewahrung ihrer Habe in Kriegszeiten eine Abgabe zu entrichten. Von ihnen als den Eigentümern des Landes dürfte auch eine Ertrags steuer erhoben worden sein. Handelt es sich also um die reine Tyrannis einer
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Die Westküste Kleinasiens
kleinen Gruppe, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß der eigentliche Gebieter Hermeias selbst war, was durch die freilich tendenziöse Behauptung des Theopompos bestätigt wird, er habe viele seiner «Freunde» beseitigt. Immerhin bleibt die Errichtung einer «Philosophenherrschaft» über Assos auf tyrannischer Grundlage sowohl im Hinblick auf das gescheiterte Unternehmen des Dion in Sizilien wie auf jene Mitglieder der Akademie, die, zur Macht gelangt, nach Art des Klearchos von Herakleia Platons politische Lehren in den Wind schlugen, denkwürdig. In seiner Residenz Atarneus hielt Hermeias glänzenden Hof. Mit seinen Ge spannen beteiligte er sich an den großen hellenischen Agonen, und der Gottes friede für das Hochfest in Olympia wurde auch bei ihm angesagt. über die Art seiner Regierung urteilten Freund und Feind sehr verschieden, doch ist es schwer denkbar, daß Aristoteles ihm einen die Arete verherrlichenden Paian gewidmet und später für seine Statue in Delphoi ein ehrendes Epigramm gedichtet haben würde, ja daß er sich ihm überhaupt freundschaftlich und verwandtschaftlich ver bunden hätte, wäre der Tyrann wirklich ein so grausamer Despot gewesen, wie sein Gegner Theopompos ihn schildert. Hermeias hat es offenbar verstanden, durch Geldgeschäfte und wohl auch durch Besteuerung der Untertanen großen Reich tum zu erwerben. Von den Erythraiern ließ er sich, wenn sie bei ihm deponierten Besitz verkauften, eine Abgabe von zwei Prozent, von den Chiern und Mytile naiern für den Schutz ihrer Festlandsbesitzungen erhebliche Beträge zahlen. Außen politisch mußte die Hauptaufgabe sein, die in den Zeiten der Satrapenaufstände von Eubulos errichtete Herrschaft, die unter Hermeias wohl noch eine territoriale Erweiterung erfuhr, so daß sie eine ganze Anzahl von Städten und festen Plätzen umfaßte, vom Großkönig bestätigt zu sehen. Und das um so mehr, als Hermeias wie ein souveräner Fürst mit Städten innerhalb und außerhalb der persischen Reichsgrenzen Bündnisse oder Verträge schloß. Formal erkannte der Tyrann die Oberhoheit des Königs an und konnte es unbeschwert tun, weil Artaxerxes III. Ochos vorerst durch die Wiedergewinnung Phönikiens und Ägyptens in Anspruch genommen war und den kleinasiatischen Angelegenheiten nur wenig Aufmerk samkeit zu schenken vermochte. Als aber das Nilland botmäßig gemacht wurde (345'4) und Mentor das Kommando über die westkleinasiatischen Küstengebiete erhielt, änderte sich die Lage. Der Tyrann fühlte sich mit Recht bedroht und nahm Verbindung mit König Philipp auf, dem im Hinblick auf sein Verhältnis zum Per ser daran liegen mußte, im Gebiet j enseits des Hellespontes einen Parteigänger zu haben. Doch nun schritt Mentor, der offenbar Kunde davon erhalten hatte.. ein. Er führte Truppen heran, lud den Abtrünnigen, dem er die Verzeihung des Großkönigs in Aussicht stellte, zu einer Unterredung und nahm ihn hinterrücks gefangen. Hermeias wurde dem Artaxerxes übersandt und auf dessen Befehl hin-
Hermeias von Atarneus. Ionien
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gerichtet. Kallisthenes, des AristoteIes Neffe, hat wie dieser in einem Enkomion die Arete des Mannes und im besonderen seine Standhaftigkeit gepriesen, die ihn nichts von den mit Philipp getroffenen Abmachungen verraten ließ. Hermeias' Haltung, so erzählte er, habe auf den Perserkönig solchen Eindruck gemacht, daß er ihn freilassen wollte und, als Mentor sowie der einflußreiche Bagoas sich da gegen erklärten, ihm wenigstens die Martern erließ. Seine Feinde jedoch be haupteten, er sei gefoltert und gekreuzigt worden. Hermeias starb in der über zeugung, nichts der Philosophie Unwürdiges und Charakterloses getan zu haben. Seine «Gefährten», denen er dies melden ließ, wurden in seinen Untergang hin eingerissen, soweit sie sich nicht retten konnten wie Aristoteles, der sich nach Mytilene begab. Mentor besetzte, nachdem er durch Briefe mit Hermeias' Siegel die einzelnen Städte oder deren Herren mit Erfolg zur übergabe aufgefordert hatte, das gesamte Herrschaftsgebiet (344) .
I r. I O N I E N
Von Tyrannen, welche wie Eubulos und Hermeias unter Ausnützung der Schwäche des persischen Reichsregimentes im Westen auf eigene Faust eine Herrschaft er richten und einige Jahre behaupten konnten, ist in Ionien nichts bekannt, es sei denn man dürfte Python von Klazomenai, der mit Söldnern seine Vaterstadt nahm, oder den in Phokaia waltenden «Archon» Aristoteles von Rhodos als solche Machthaber ansehen. Die dürftige überlieferung gestattet jedoch keine sichere Bestimmung, wie auch die Tatsache, daß zu Larisa am Hermos im 4- Jahr hundert der Palast erneuert wurde, nicht einmal über das Bestehen einer Tyrannis, geschweige denn über ihre Stellung zur persischen Reichsgewalt etwas aussagt. Tyrannen begegnen uns lediglich in Ephesos zur Zeit Alexanders. Hier setzte Memnon, als er 33 6/5 die bis dorthin vorgedrungenen makedonischen Truppen zurückgedrängt hatte, anstelle der mit ihrer Hilfe eingerichteten demokratischen Ordnung, der vielleicht schon eine perserhörige Tyrannis vorausgegangen war, das Regiment einer oligarchischen Gruppe ein, an deren Spitze offenbar die Fa milie des Syrphax stand, und sicherte es durch eine Besatzung. Von dieser ge schützt, konnten die Stadtherren Gegner verbannen, sich an den Schätzen des Artemisheiligtums vergreifen, ein dort aufgestelltes Standbild König Philipps umstürzen und das Grab des als Befreier verehrten Heropythos auf der Agora be seitigen. Da die Besatzung jedoch schon bei Alexanders Herannahen abzog und der König kampflos in Ephesos einrücken konnte, fand ihre Herrschaft bald ein Ende; die Demokratie wurde wiederhergestellt (334) . Das erbitterte Volk aber kühlte an Syrphax und dessen Verwandten seine Wut. Sowohl die Art der Tötung,
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Die Westküste Kleinasiens
durch Steinigung, wie die den Machthabern vorgeworfenen Taten scheinen an zuzeigen, daß keine verfassungsmäßige Oligarchie, sondern, mindestens faktisch, die Tyrannis einer oder mehrerer Hetairien bestanden hatte. Wenn jetzt dieser Zustand durch Alexander, der übrigens dem Hinmorden weiterer Mitglieder der Gruppe Einhalt gebot, beseitigt wurde, so besaß Ephesos ebenso wie die anderen Griechenstädte auf bisher persischem Boden, die nun in Alexanders Besitz übergin gen, doch nur eine prekäre, von ihm gewährte Freiheit, welche Eingriffe nicht aus schloß. Ein solcher erfolgte in den zwanziger Jahren. Damals stand die Stadt unter einem Tyrannen Hegesias, der von dem über das Küstengebiet gesetzten Make donen Philoxenos gestützt wurde. Als er von drei Brüdern, Anaxagoras, Kodros und Diodoros, ermordet wurde, verlangte Philoxenos deren Auslieferung und legte, da man sie verweigerte, eine Besatzung in die Stadt. Die Täter ließ er ge fesselt ins Gefängnis nach Sardeis bringen, von wo Anaxagoras und Kodros ent weichen konnten. Diodoros wurde kurz vor Alexanders Tod ins Hoflager geschickt, aber nicht mehr von ihm gerichtet, sondern vom Verweser Perdikkas zur Aburtei lung nach Ephesos gesandt, wo ihn seine Brüder befreiten. Ein Grund, warum Alexander bzw. sein Bevollmächtigter sich für den Tyrannen einsetzte, ist nicht zu erkennen. Hatte der König doch nicht nur, wie gleich zu berichten sein wird, auf Lesbos und Chios Tyrannenherrschaften beseitigt, sondern auch im Bereich des Korinthischen Bundes deren Auflösung verfügt. Vielleicht daß er zur Erhaltung der Botmäßigkeit der untertänigen Städte Kleinasiens in seinen späteren Jahren das einst von den Persern gebrauchte Mittel der Begünstigung oder gar Einsetzung eines willfährigen Tyrannen nicht verschmähte.
l l I. V O R G E LA G E RT E I N S E L N
1.
Lesbos
Zur Zeit, als Henneias im nahen Atarneus an der Macht war, begegnet auf der Insel Lesbos, die im Bundgenossenkriege und weiterhin den Athenern treu geblieben war, ein Tyrann, dessen Herrschaft freilich nur kurz dauerte. Um '349/8 bemächtigte sich ein gewisser Kammys mit Söldnertruppen der Stadt Mytilene, vennutlich seiner Heimat, und löste deren Verbindung mit Athen. Noch vor dem Frühjahr 346 jedoch wurde er mit Hilfe des attischen Strategen Phaidros ge stürzt. Später waren die Oligarchen von Mytilene persisch, der Demos makedo nisch gesinnt, so daß die ersteren nach Alexanders Sieg am Granikos ihre Heimat verlassen mußten. Zu ihnen gehörte Diogenes, den die Perser, nachdem es ihnen gelungen war, sich in den Besitz der Insel zu setzen (333), zum Tyrannen über die Stadt machten und durch ein Söldnerkorps unter dem Condottieren Charcs
Ephesos. Lesbos
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gegen makedonische Angriffe zu schützen suchten. Aber mit der Übergabe der Stadt an die Makedonen endete bereits im nächsten Jahre Diogenes' Herrschaft; er selbst wurde wahrscheinlich nach Ägypten gebracht und von Alexander seinen Mitbürgern zur Aburteilung überwiesen. Ein ähnliches Bild bietet Methymna, nur daß hier der etwa gleichzeitig mit Kammys zur Herrsdlaft gelangte Kleommis nicht Feind, sondern Freund der Athe ner war. Von Isokrates wird er wohl nicht nur deshalb als ein «nichttyrannischer» Gebieter geschildert, der keine Hinrichtungen, Verbannungen und Konfiskationen vornahm, Verbannte zurückrief und restituierte, der Bürgersmaft die Waffen und weitgehend ihre politischen Rechte beließ. Auch soll er sittenstreng gegen Dirnen wesen und Kuppelei vorgegangen sein. Dem Seeraub steuerte er nach Kräften und befreite einige Athener aus den Händen von Piraten, was man ihm durch Verleihung der Proxenie und anderer Ehren für sim und seine Namkommen dankte. Vor 340 muß die Tyrannis des Kleommis ihr Ende gefunden haben, denn damals war Aristonymos, ein Freund des Memnon und demgemäß auch der Per ser, Herr der Stadt. Ein Versuch des Chares, von Sigeion aus den wohl durch die Perser zur Herrschaft gekommenen Tyrannen zu vertreiben und sim selbst an seine Stelle zu setzen, smeiterte am Eingreifen Memnons, dom wurde Aristony mos spätestens bei Alexanders Vormarsch an der Festlandsküste gestürzt und eine demokratisme Ordnung in Methymna eingerichtet. Sie war zunächst von kurzem Bestand, denn Memnon vermochte nimt lange darauf, als ihm die Be setzung von Lesbos gelang, einen neuen Tyrannen in Methymna einzusetzen, Aristonikos, der sich denn auch als getreuer Gefolgsmann der Perser erwies. Mit fünf Schiffen kam er dem Admiral Pharnabazos zu Hilfe, fiel aber, da dieser kurz zuvor von den Gegnern gefangengenommen war, in die Hände der Make donen (332). Alexander, dem er nam Ägypten zugeführt wurde, überwies ihn dem Gericht seiner Mitbürger, die ihn unter Martern hinrichten ließen. Aum in Antissa hat vor der Schlamt am Granikos eine Tyrannis bestanden, deren Inhaber uns jedom unbekannt ist. Sie wurde 334 gestürzt, ohne daß sich sagen ließe, ob sie noch einmal für kurze Zeit durch Memnon erneuert wurde. Besser unterrichtet sind wir dank einer umfangreichen Insmrift über die Verhält nisse in Eresos. Hier begegnet in den vierziger Jahren Tyrannis in Form der Samtherrschaft von drei Brüdern, Hermon, Heraios und Apollodoros, deren Perser hörigkeit als sicher gelten darf, weil ihr Sturz um 34312 mit Hilfe König Philipps erfolgte, der, wie schon seine Beziehungen zu Hermeias zeigten, an der klein asiatischen Küste Stützpunkte gewinnen wollte. Zum Dank für die Befreiung weihten die dankbaren Eresier dem Zeus Philippios Altäre, die Gewalthaber aber richteten sie auf Grund eines bestehenden, vielleicht nach Beseitigung einer frühe ren, uns unbekannten Tyrannis beschlossenen Gesetzes, das für Tyrannen die Tod es-
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Die Westküste Kleinasiens
strafe, für ihre Nachkommen Ächtung und im Falle, daß die Schuldigen nicht greifbar waren, Verbannung und Vermögenskonfiskation vorsah. Über Hermon, Heraios und Apollodoros scheint das Volk in absentia das Urteil gesprochen zu haben. Doch nur für wenige Jahre brachte dieser Tyrannensturz, an dem der be rühmte Philosoph Theophrastos beteiligt gewesen sein soll, der Stadt die Freiheit. Spätestens zur Zeit von Philipps Ermordung (336) gewannen, wahrscheinlich mit Hilfe Memnons, zwei Männer die Herrschaft über Eresos, Agonippo5 und Eury silaos. Sie beseitigten die Altäre des Zeus Philippios, erneuerten die Zwingburg auf der Akropolis, zwangen die Bürger zur Zahlung von 20 000 Stateren und scheinen in größerem Umfang Piraterie getrieben zu haben. Als sie gleich den anderen Tyrannen auf Lesbos nach der Schlacht am Granikos gestürzt wurden, flüchteten sie zu Memnon, der sie bald darauf wiedereinsetzen konnte. Nun ließen sie ihrer Rache freien Lauf, entwaffneten die Bürger, verbannten eine große Zahl von ihnen, deren Frauen und Kinder als Geiseln zurückbehalten wurden. Auch erpreßten sie jetzt nochmals 3200 Statere und plünderten die Stadt samt den Hei ligtümern, von denen einige in Flammen aufgingen. Wie die Tyrannen von My tilene und Methymna fielen sie 332 in die Hände der Makedonen und wurden Alexander nach Ägypten zugeführt. Vor ihm wußten sie jedoch sich so geschickt zu verteidigen, daß der König ihre Rücksendung zur Aburteilung mit einem un freundlichen Schreiben an den Demos von Eresos begleitete, wodurch der Haß der Bürger gegen sie freilich eher gesteigert als gemildert wurde. Ein vereidigtes Gericht von 883 Männern, das unter dem Druck eines von der Volksversammlung gegen die Tyrannen ausgesprochenen Fluches stand, sprach in geheimer Sitzung mit allen gegen sieben Stimmen das Todesurteil, zog den Besitz der Gewalthaber ein und verbannte ihre Kinder. Schwere Bestrafung wurde jedem angedroht, der Aufhebung des Urteils beantragen würde. Mit der Hinrichtung der Tyrannen, denen die Todesart freigestellt wurde, fand auch in Eresos die perserhörige Herr schaft einzelner Männer ihr Ende. Zwar haben die Enkel des Hermon und Heraios versucht, für sich und die Kinder des Apollodoros sowohl über Alexander wie später über den König Philippos Arrhidaios eine Revision des Urteils zu erreichen, und im gleichen Sinne sind die Söhne des Agonippos noch nach 306 beil? Kö nig Antigonos vorstellig geworden. Doch in allen Fällen wurde die Angelegenheit von den Königen an die Eresier verwiesen, die den Verbannungsbeschluß aufrecht erhielten. Dem Wunsche nach Auslieferung haben die Herrscher allerdings nicht entsprochen. 2. Chios und Rhodos Wenn gelegentlich zu bemerken war, daß im 4. Jahrhundert manchmal schwer zwischen legaler, mindestens quasilegaler Oligarchie und illegaler Tyrannis zu
Chios. Rhodos. Karien. Lykien
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scheiden ist, zumal sofern beide als Regiment einer Gruppe von Männern er scheinen, so bietet dafür Chios ein gutes Beispiel. Hier wurde 334 die perser freundliche Oligarchie in einem blutigen Aufstand gestürzt, nicht lange darauf aber von Memnon wiederhergestellt, der ApolIonides, Phesil1os, Megareus und einigen anderen die Herrschaft über die Insel, die sie ihm in die Hände gespielt hatten, übertrug. Nicht anders als Tyrannen übten sie ein reines Gewaltregiment, gerieten jedoch bald mit der nach Chios gelegten persischen Besatzung in Kon flikt. Nach dem Siege der makedonischen Flotte (333/2) erlitten sie ein ähnliches Schicksal wie die lesbischen Tyrannen, nur daß Alexander sie nicht in der Heimat aburteilen ließ, sondern sie seinerseits nach Elephantine in Oberägypten depor tierte. Samos, das seit 3 65 im Besitz der Athener war, scheint auch in den voraus gehenden Jahrzehnten frei von Tyrannen geblieben zu sein. Dagegen findet sich auf Rhodos zur Zeit, als es nach dem Bundesgenossenkrieg in den Schatten von Maussolos' Macht trat (355), eine tyrannenähnliche Herrschaft. Damals gelang es einem Hegesilochos mit Hilfe des karischen Dynasten die bestehende Demokra tie zu stürzen und ein oligarchisches Regiment einzurichten, an dessen Spitze er selbst trat. Getragen von einer Hetairie und durch einen fremden Machthaber begünstigt, war dieses, selbst wenn es einer Rechtsgrundlage nicht entbehrte, der Tyrannis verwandt, und es dürfte nicht nur böswillige Verleumdung sein, wenn der Historiker Theopompos im einzelnen schildert, wie Hegesilochos und seine «Ge fährten» sich zynisch die schlimmsten Ausschreitungen erlaubten und auf Ko sten der Bürger ihren sinnlichen Genüssen frönten. Ob auch in anderen griechi schen Städten, über die des Maussolos und seiner Nachfolger Macht sich erstreckte.. etwa in Kos, Herakleia am Latmos oder Chios, ähnliches wie auf Rhodos geschah, entzieht sich unserer Kenntnis.
IV. K A R I E N U N D L Y K I E N. N I C H T L O K A L I S I E R B A R E R T Y RA N N
Daß griechische oder stark gräzisierte Städte Kariens im 4. Jahrhundert unter der Herrschaft von Tyrannen gestanden hätten, ist nicht erkennbar. Zwar wird auf ei.ner Inschrift ein Phileratos «König von Kaunos» genannt, doch bleibt es min destens fraglich, ob er eine tyrannenartige Stellung einnahm. Das Dynastenturn des Hekatomnos und seiner Nachfolger, im besonderen des Maussolos, ist weder eine griechische Stadttyrannis gewesen noch aus einer solchen hervorgegangen, sondern durch Verselbständigung des Satrapen amtes entstanden. Die Stellung der Fürsten gegenüber den Gemeinwesen mit hellenischer Stadtverfassung ist denn auch, nachdem sie sich faktisch der persischen Oberhoheit entledigt hatten,
Die Westküste Kleinasiens
kaum eine andere gewesen, als es einst diejenige des Satrapen gewesen war. Von Einsetzung oder Begünstigung lokaler Tyrannen findet sich im karischen Bereich keine Spur, vielmehr verkehren die Dynasten offensichtlich mit den verfassungs mäßigen Organen der einzelnen Städte. Auch als Maussolos seine Residenz von Mylasa nach Halikarnassos verlegte, wurde er nicht zum Tyrannen dieser Stadt, die ihm wie seinem Vorgänger als Satrapen ohnehin untertan war. Ebensowenig ist bei den Dynasten Lykiens, von denen zwei den hellenischen Namen Perildes tragen, griechische Stadtyrannis im Spiel. Schon der ältere von ihnen, der dem Ausgang des 5. Jahrhunderts angehört, wird in seiner Grabschrift «König der Lykier» ge nannt, und ebenso bezeichnet Theopompos den jüngeren Perikles, dessen Herr schaft wohl in die Zeit nach dem Königsfrieden fällt. Die Schwäche der persischen Zentralregierung hatte hier, begünstigt von der Unzugänglichkeit des Landes, seit langem das Bestehen von ganz oder fast selbständigen Fürstentümern er möglicht. Von griechischen Tyrannen ist in dem städtearmen Gebiet nichts be kannt. An einem unbekannten Ort, vielleicht im Bereich der kleinasiatischen Küste, ver mochte sich im 4. Jahrhundert ein Mann zum Tyrannen aufzuwerfen, der bis dahin Austernfischerei getrieben hatte : Philoxenos Solenistes. Er gelangte an die Macht, indem er demagogisch die ärmere Bevölkerung für sich gewann, scheint aber früher oder später ein gewaltsames Ende gefunden zu haben.
F Ü N F TES K A P I TEL
KYPROS UND KYRENE Für die kyprischen Stadtfürsten der älteren Zeit war festzustellen, daß e s sich bei ihnen nicht um Tyrannen, sondern um legale Könige handelt. Wenn in den Jahren nach dem Kalliasfrieden (449/8), der praktisch die Insel dem Perser über ließ, die Reihe der griechischen Fürsten abriß, so nicht, weil Gewaltherrschaften gestürzt worden wären, sondern weil Salamis, Idalion und wohl noch andere Griechenstädte unter phönikische Machthaber gerieten. In Salamis stürzte den letzten hellenischen König ein Phöniker aus seiner Umgebung, der in der Folge zeit nicht nur der Stadt ein fremdes Gepräge gab, sondern seine Macht im Sinne und zu Nutzen des Perserkönigs über die ganze Insel ausdehnte. Auch unter Abdemon von Tyros, der ihn beseitigte und seine Nachfolge antrat, hatte das Griechentum schwer zu leiden : Euagoras, ein Sproß des alten, sich auf Teukros zurückführenden Königshauses von Salamis, mußte, weil von ihm eine Erhebung gegen die phönikische Herrschaft geplant wurde, um 415 die Heimat verlassen und nach Kilikien flüchten. Wenige Jahre später führte der etwa Fünfundzwanzig jährige das Ende der Regierung des Abdemon herbei (um 412) . Mit angeblich nur fünfzig Mann drang er in Salamis ein, besetzte die Stadt, ohne daß die Be völkerung ihm Hilfe geleistet hätte, sowie den Königspalast, nahm Rache an seinen Gegnern und ergriff die Herrschaft. Die staatsrechtliche Frage, ob diese Herrschaft Tyrannis oder Königtum war, ist im Sinne der zweiten Alternative zu beantworten. Als König hat sich Euagoras sowohl auf Münzen wie in Verhandlungen mit den Persern bezeichnet, zeitgenös sische Schriftsteller nennen ihn und seine Nachfolger König und sprechen von seinem Regiment als Königtum. Die Ehren der Vorfahren, heißt es, gewann er zurück, wie er denn auch auf seine Zugehörigkeit zur Familie der Teukriden be sonderen Wert gelegt zu haben scheint. Nichts in der Überlieferung weist auf die für die Tyrannis charakteristische Spannung zwischen Machthaber und Polis, vielmehr deutet alles darauf hin, daß Euagoras, der nach den Gesetzen Recht sprach, die Regierung kraft traditioneller königlicher Vollmacht geführt hat. Dem entsprechend findet sich von Rat, Volksversammlung oder sonstigen Polisorganen keine Spur. Auch für die anderen griechischen Städte auf der am Rande der hel lenischen Welt gelegenen Insel darf derselbe Zustand angenommen werden. Je denfalls werden die dortigen Fürsten im allgemeinen König, gelegentlich auch
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Kypros und Kyrene
Archon oder Dynastes, niemals jedoch Tyrann genannt. Wenn gleichwohl Iso krates den Euagoras und seinen Sohn Nikokles bald als König, bald als Tyrann bezeichnet, so ist darin schwerlich nur stilistische Variation des Ausdrucks und terminologische Ungenauigkeit zu sehen. Sowohl die Art der Herrschaftsgewin nung wie die absolute monarchische Gewalt, die den Einfluß des nahen Orients nicht verleugnet, mußte den Griechen als tyrannisch erscheinen. Anderes, etwa daß der Fürst sich durch willfährige Kreaturen über die Stimmung im Volke unterrich ten ließ, daß er der Menge freundlich begegnete, ihr durch bedeutende Bauunter nehmen sowie durch Aufstellung einer Flotte Verdienst gab und den Handel för derte, konnte diesen Eindruck nur verstärken. Desgleichen gehörte die tatkräftige Energie, die an Euagoras gerühmt wird, aber auch die Neigung seines Sohnes Niko kles zu üppigem Leben zu jenen Zügen, die als kennzeichnend für Tyrannen galten. Es waren in der Tat Herrscher ähnlicher Art, wenn auch verschiedener Rechtsstellung, die der Athener Konon zusammenführen wollte, als er sich um eine verwandt schaftliche Verbindung zwischen Euagoras und dem älteren Dionysios bemühte. Dem Isokrates vollends mußten beide als Vorkämpfer des Hellenenturns gegen die Barbaren nahe aneinanderrücken. Trotzdem wäre es falsch, wollte man wegen gewisser an echte Tyrannen gemahnender Maßnahmen und Eigenschaften den König von Salamis und die übrigen Stadtkönige auf Kypros zu den Tyrannen rech nen. Wo die entscheidenden Merkmale fehlen, daß nämlich ein Grieche, ohne rechtliche Anwartschaft auf eine fürstliche Stellung zu haben, sich gewaltsam einer oder mehrerer Städte bemächtigt und auf Grund seiner reinen Machtposition ille gal über sie gebietet, kann von Tyrannis im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden. Es bleibt eine kurzlebige Gewaltherrschaft in Kyrene zu erwähnen, wo seit der Mitte des 5. Jahrhunderts eine freistaatliche Verfassung bestand. Um 400 setzte sich hier ein gewisser Ariston zusammen mit anderen Männern, offenbar seiner Hetairie, in den Besitz der Stadt. Fünfhundert der vornehmen Bürger soll er um gebracht haben; die übrigen Angehörigen der Oberschicht flohen, wie es scheint, nach Euesperides, das einst schon Arkesilaos IV. als Zufluchtsort gedient hatte, und setzten von dort mit Hilfe von Messeniern, die nach Athens Fall Naupaktos und Kephallenia hatten verlassen müssen, den Kampf gegen das tyrannische Re giment ins Werk. Nach ungewöhnlich blutigen Kämpfen kam ein Vergleich zu stande, mit dem die Herrschaft des Ariston und seiner Genossen ihr Ende ge funden zu haben scheint. Das Fehlen jeglicher sonstiger Überlieferung läßt leider nicht erkennen, ob dies der einzige Versuch der Errichtung einer Tyrannis war und wie er in die Geschichte der Stadt einzuordnen ist.
S E C H S TE S K A P I TE L
D E R TYR A N N IM U RT EI L D E S V I E RT E N J A H R H U N D E RT S
1 . A L L G E M E I N E E I N S T E L L U N G Z U R TY R A N N I S
Das Urteil über die Tyrannis war im 5 . Jahrhundert von einer Gesinnung be stimmt gewesen, die im Banne eines das ganze Leben der staatlich geformten Gesellschaft bestimmenden Nomos gestanden hatte, als dessen Verletzer und Widerpart der Tyrann erschien. Diese Gesinnung wurde zur Zeit des so viele Bindungen lösenden Peloponnesischen Krieges brüchig. Nicht nur weil die So·· phisten Berechtigung und Gültigkeit des Nomos in Frage stellten - ihre Wir kung blieb auf einen relativ kleinen Kreis beschränkt -, sondern weil in der Breite sich ein folgenschwerer Wandel vollzog. Private Interessen der Bürger, im besonderen solche wirtschaftlicher Art, bestimmten in zunehmendem Maße die Haltung des einzelnen gegenüber seiner Polis, beeinträchtigten die sittliche Ver bindlichkeit ihrer Ordnungen und drohten diese zur bloßen Organisation werden zu lassen. Anstelle des Nomos, der über allen gewaltet hatte, wurden es mehr und mehr einzelne Nomoi mit geringer sittlicher Autorität, an die man sich hielt, ja zwischen Gesetzen und bloßen Volksbeschlüssen wurde bisweilen nicht mehr grundsätzlich geschieden, und es konnte sogar die Frage aufgeworfen werden, ob nicht Verfügungen von Tyrannen als Gesetze anzusehen seien. Die Verwischung des Gegensatzes zwischen Freistaat und Tyrannis, die sich darin bekundet, mochte sich um so leichter einstellen, je eigensüchtiger und willkürlicher sich sowohl Oligarchen wie auch der radikalisierte Demos im Besitz der Regierungsgewalt ge bärdeten. Nicht ohne Grund schienen dem Aristoteles Oligarchie und Demokra tie in ihren Extremen nahe verwandt zu sein. Glaubte er doch feststellen zu können, daß es in den Poleis Sitte geworden sei, nicht mehr die Gleichheit zu wollen, sondern entweder nach Herrschaft zu streben oder sich bestehender Herr schaft zu fügen. Und selbst Demosthenes meinte, in den Städten wolle zwar ein Teil der Bürger über niemand gewaltsam herrschen noch die Herrschaft eines an deren erdulden, ein anderer Teil jedoch, der allenthalben die Oberhand bekommen habe, strebe nach Tyrannis oder tyrannisähnlicher Herrschaft und sei bereit, sich um dieses Zieles willen einem anderen - gemeint ist König Philipp - unterzu ordnen, so daß nur noch Athen eine Polis mit gesicherter Demokratie wäre.
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D e r Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
Auch im zwischenstaatlichen Bereich verwischt sich der Gegensatz zwischen Freistaat und Tyrannis. Mochte Demosthenes noch um die Jahrhundertmitte er klären, eine Polis könne sich nicht ohne Gefahr mit einem Tyrannen verbinden, in Wahrheit scheuten längst weder Athen noch Sparta mehr vor Bündnissen mit Tyrannen zurück, wenn sie sich davon Gewinn versprachen. Vor allem aber mußte die imperialistische Machtentfaltung einzelner Staaten, im besonderen Spartas während der ersten Dezennien des Jahrhunderts, die außenpolitischen Praktiken dem Verfahren von Gewalthabern angleichen. Hatte bereits Athen mit seiner als Tyrannis empfundenen Herrschaft über die Mitglieder des ersten Seebundes sich in diesem Sinne betätigt, so war es nun der einstige Tyrannenfeind und Prostates von Hellas selbst, der durch Harmosten oder Regierungskollegien anderen Städten seinen Willen aufzwang und in seiner von keinem gemeingriechischen Nomos gezügelten Politik an Herrschsucht und Gewalttätigkeit den Tyrannen nicht nachstand. Es sind denn auch schwere Vorwürfe gegen den Staat am Eurotas wegen der Einsetzung von tyrannisähnlichen Regierungen erhoben worden, und in Athen glaubte man sich etwas darauf zugute tun zu können, daß einst unter der als Tyrannis verschrieenen Seebundsherrschaft in den Städten kein Tyrann geduldet worden war. Denn trotz allem, was in der Praxis die Kluft zwischen Frei staat und Tyrannis minderte oder gar überbrückte, blieb die Ablehnung der Ty rannis, ja der Tyrannenhaß ein integrierender Bestandteil des Polisbewußtseins, das sich gerade an ihm mit einer für die Zeit charakteristischen romantischen Auf wallung immer wieder entzündete. Bei den Olympischen Spielen von 388 konnte der Redner Lysias die Festteilnehmer gegen den Tyrannen Dionysios zu Gewalt taten aufreizen. Mörder eines Tyrannen, etwa diejenigen Jasons, durften allgemei ner Anerkennung oder freundlicher Aufnahme sicher sein oder sich auf das Ruhmvolle ihrer Tat berufen wie jene Männer, die den Euphran von Sikyon umgebracht hatten. In Athen hielt man unbeschadet der zum Teil nicht unfreund lichen Beurteilung, welche Peisistratos und sein Sohn Hipparchos in der zeitge nössischen Literatur fanden, das Andenken des Harmodios und Aristogeiton hoch in Ehren, und selbst die Spartaner, freilich erst nach der Katastrophe von Leuktra, erinnerten die Athener an die Vertreibung der Peisistratiden als ihre vyohltat. Daß Timoleons Beteiligung an der Ermordung des Timophanes in Korinth ge teilte Aufnahme fand, lag abgesehen von dem Odium des Brudermordes, daran, daß der Demos in Timophanes seinen Führer sah und es zur Konstituierung einer Tyrannis kaum gekommen war. Im ganzen jedoch galt das Wort, das Xenophon den Hieran sagen läßt : «Statt die Tyrannenmörder zu bestrafen, beschließen ihnen die Städte große Ehren ; statt sie von den Opfern auszuschließen, wie es bei Mör dern von Privatpersonen geschieht, stellen sie in den Heiligtümern Statuen dieser Leute auf.» Gesetze, welche die Tyrannis und schon den Versuch der Errichtung
Tyrannenhaß und monarchischer Gedanke
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einer Gewaltherrschaft mit dem Tode oder gar mit martervoller Hinrichtung ahn deten, mindestens aber mit Verbannung und Vermögensentzug bestraften, gab es wie in Eretria und Eresos gewiß vielerorts. So konnte Isokrates die allgemeine Feststellung treffen, daß bei den Griechen, die keine Monarchie ertrügen, die nach Alleinherrschaft Strebenden nicht nur selbst vernichtet, sondern auch ihr Ge schlecht ausgerottet würde. In Wahrheit aber war die Haltung gegenüber Tyrannis und tyrannischem Ver fahren im 4. Jahrhundert eine zwiespältige, wovon auch die zeitgenössische li teratur Zeugnis gibt. Ablehnung der Gewaltherrschaft eines einzelnen oder einer kleinen Gruppe erscheint zwar als selbstverständlich, und zahlreich sind die Stim men derer, die sich zum Sprachrohr des alten, anti tyrannischen Polisgeistes ma chen. Den Einsichtigen aber, mögen sie nun die Mangelhaftigkeit und Entartung der überkommenen Staatsordnung oder ihre Ohnmacht in der Außenpolitik und ihr Versagen gegenüber den gemeingriechischen Belangen erkennen, stellt sich doch die Frage, ob unter den gegebenen Verhältnissen nicht die Monarchie den Vorzug verdiene. Sowohl die maßgebende Bedeutung, welche außerordentliche Persönlichkeiten im militärischen und politischen Bereich gewannen, wie die staatstheoretische Kritik der Sophisten und der Sokratiker mußten diesen Gedanken nahelegen. Während es aber bei den Sophisten die lehre vom natürlichen Recht des Stärkeren auf Herr schaft war, in deren Zeichen die Monarchie gefordert und sogar die Tyrannis ge rechtfertigt werden konnte, entwarfen Sokratiker wie Antisthenes in seinen Schriften über das Königtum oder Xenophon in der «Kyropädie» und dem En komion auf Agesilaos das Bild eines idealen, sittlich und geistig hochstehenden, nach Recht und Gesetz verfahrenden, politisch und kriegerisch überlegenen Herr schers. Wert und Vorzüge der Monarchie wurden hier aufgezeigt und gleichsam stillschweigend den in den griechischen Freistaaten herrschenden Zuständen ge genübergestellt. Zu einer Art von Fürstenspiegel aber gestaltete sich das Ideal bild, wenn es Tyrannen oder Königen vorgehalten wurde mit der Mahnung, es sich zum Muster zu nehmen, wie dies durch Isokrates in seinen Schriften an Ni kokles von Salamis und anderen Sendschreiben geschah. Es bedarf keiner Er klärung, daß die positive Wertung der Monarchie, die jenen Entwürfen zu grunde liegt, sich auf die Beurteilung der Tyrannis auswirken mußte, einmal in dem Alleinherrschaft als solche nicht mehr verwerflich schien, sondern die Art ihrer Handhabung das Kriterium bildete, zum anderen indem die Tyrannis durch Konfrontierung mit dem wahren Königtum schärfere Konturen erhielt und eine Wandlung zu diesem ins Auge gefaßt werden konnte. Fragen wir nach der Einstellung der Männer des geistigen lebens zur Tyran nis, so treten im Vergleich mit dem 5. Jahrhundert die Dichter als Zeugen stark
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
zurück. Nicht nur weil uns von den poetischen Werken der Zeit ganz wenig er halten ist, sondern vor allem wohl weil Prosaschriftsteller und Philosophen die Nachfolge angetreten haben. Mythische Gestalten sind gewiß nach wie vor als Tyrannen auf die Bühne gebracht worden, und manche Gewaltnaturen sagen hafter Vorzeit mögen erst jetzt die Züge von Tyrannen erhalten haben, wie es mit Echetos und Pelias schon früher geschehen war. «Tyrannen» werden von Speu sippos der Gigant Alkyon von Pallene, die ebenfalls auf der Chalkidike lokalisier ten Söhne des Proteus, Tmolos und Telegonos, sowie Hippokoon aus Sparta ge nannt. Sie alle sollten durch Herakles umgebracht worden sein, von dem man glaubte, daß er die Erde wie von tierischen Ungeheuern so von Tyrannen gesäu bert habe. Auch Omphale galt nun als Tyrannin, und ebenso mag der von Pla ton auf Grund einer Sage erwähnte Ardiaios der Große in Pamphylien erst jetzt zum Tyrannen gestempelt worden sein. Im Urteil über die Tyrannis scheinen die Tragiker des 4. Jahrhunderts, wie einige wenige Fragmente erkennen lassen, dem konventionellen Verdikt Rechnung getragen zu haben. Selbst der Tyrann Diony sios meinte als Tragödiendichter in diesen Chor miteinstimmen zu müssen. Frei lich bildete er selbst zur Zeit, als er Sparta gegen Athen begünstigte, die Ziel scheibe der attischen Komödie. Der aus Syrakus entwichene Dithyrambiker Phi loxenos gab ihn in der Gestalt des tolpatschigen Kyklops der Lächerlichkeit preis, Strattis verspottete die Angst des Gewalthabers um sein Leben, Eubulos verfaßte ein Stück mit dem Titel «Dionysios», das eine Karikatur des Gewalthabers ge bracht haben dürfte. Im übrigen wurden nach wie vor die Auswüchse der Furcht des Demos vor einer Tyrannis und des mit dem Andenken der Tyrannenmörder getriebenen Kultes aufs Korn genommen, solange die Dichter noch zu öffentlichen Angelegenheiten Stellung nahmen. Mit der Hinwendung zu den privaten Lebens bereichen jedoch mußte für die Komödie auch alles, was mit Tyrannis zusammen hing, an Interesse verlieren. Für die attischen Redner, die sich an die Masse des Volkes wandten, war radi kale Ablehnung jeder Tyrannis eine Selbstverständlichkeit. Aber während Lysias in allgemeinen Tönen das Vorhandensein von Tyrannen sowie deren Macht, im besonderen diejenige des Dionysios, beklagt und zugleich die Tyranne:q.feind schaft der Athener früherer Zeiten rühmt, ist der Haß des Demosthenes, Hy pereides und anderer Makedonenfeinde auf den legitimen König Philipp gerich tet, der, wie auch sein Sohn Alexander, als Tyrann gebrandmarkt wird. Und zwar nicht so sehr, weil er mancherorts Tyrannenherrschaften begünstigte, son dern weil er Monarch ist. Königtum und Tyrannis, erklärt Demosthenes, seien in gleicher Weise Gegner von Freiheit und Gesetzen. Seinem Widersacher Aischi nes jedoch scheinen Oligarchie und Tyrannis zusammenzugehören, weil beide nicht vom Nomos, sondern von der Art der Herrschenden bestimmt seien. In der
Dichter. R edner. Isokrates
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Verwerfung der durch Mißtrauen, Gewalt und Begünstigung der Anhänger ge kennzeichneten Tyrannis besteht Übereinstimmung, mag auch Aischines die innenpolitische Situation, Demosthenes das Verhalten des Freistaates gegenüber auswärtigen Machthabern vor Augen haben. Diesen muß man mit Argwohn be gegnen, vor allem wenn sie benachbart sind, und ihre Stellung durch Angriffs kriege erschüttern, denn die Brüchigkeit des tyrannischen Regimentes, die, so lange es offensiv ist, verborgen bleibt, bricht auf, sobald es in die Verteidigung gedrängt wird. Immerhin erkennt Demosthenes den Vorteil an, den die Ge waltherrschaft dadurch besitzt, daß unter ihr, anders als in Demokratien, alles auf Befehl des Monarchen schnell ausgeführt wird. Viel aufschlußreicher für die Beurteilung der Tyrannis im 4 . Jahrhundert als die gelegentlichen Bemerkungen einzelner Redner sind die Schriften des Isokrates, auf die vorerst nur insoweit eingegangen werden soll, als sie über die Einstellung des großen Rhetors zur Tyrannis Auskunft geben. Diese ist sowohl aus den be reits erwähnten allgemeinen Gründen wie auch deshalb von einer gewissen Zwie spältigkeit, weil Isokrates sich mit seinen Gedanken der jeweiligen Aufgabe und den Menschen, zu denen er sprach, anzupassen pflegte. Manche seiner Äußerun gen lassen an eindeutiger Ablehnung und Verurteilung der Tyrannis nichts zu wünschen übrig. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, daß er, aus dessen Schule nach einem Wort Ciceros reine Fürsten (principes) hervorgingen, zu Tyrannen und Tyrannensöhnen in freundschaftlichen Beziehungen stand, daß er auf Euagoras, der zwar kein Tyrann, aber doch ein absoluter König war, eine Lobschrift verfaßte und die Herrschaft des Nikokles, indem er sie mit seinen Rat schlägen begleitete, rechtfertigte. Hier erscheint die Monarchie als die beste Ver fassung. Ihre Vorteile bei Führung der Außenpolitik, ihre Leistungen im Kriege und für das Gedeihen der Polis, die Möglichkeit des Herrschers, Wesen und Handlungen der Menschen zu durchschauen und die tüchtigsten Männer heraus zufinden, werden rühmend hervorgehoben. Was aber von besonderer Bedeutung ist : Isokrates macht dabei sprachlich zwischen legitimem Königtum und ille gitimer Tyrannis keinen grundsätzlichen Unterschied, wie er denn die kyprischen Fürsten bald als Könige, bald als Tyrannen bezeichnet. Das ist nicht bloß ter minologische Ungenauigkeit nach Art des Herodot, hat auch nichts mit der Gleichstellung von Tyrann und König zu tun, die Demosthenes in seinem Haß gegen Philipp vornimmt, es zeugt vielmehr davon, daß der Rhetor mit dem Wort «Tyrann» nicht unbedingt eine negative Wertung verbindet, geschweige daß er wie die Sokratiker König und Tyrann als Typen des Herrscherturns einander gegenüberstellt. So kann er von Euagoras sagen, dieser habe die Tyrannis, die nach allgemeiner Meinung von den menschlichen Gütern das größte, erhaben ste und wünschenswerteste sei, auf edelste Weise erworben. Die in solchen Wor-
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhun derts
ten sich bekundende Verwischung der Gegensätze, von der als allgemeiner Er scheinung schon zu sprechen war, erklärt sich bei Isokrates nur zu einem Teil da mit, daß er, der das Heil für Hellas von einem starken, den innergriechi schen Zwist beendenden und die Führung im gemeinsamen Kampf gegen die Bar baren übernehmenden Fürsten erhoffte, wenig darnach fragen mochte, ob der ersehnte Retter ein Tyrann war. Es ist vielmehr unverkennbar, daß er das Bestehen von Tyrannenherrschaften hinnahm und in seinem pädagogischen Eifer die Auf gabe nicht in ihrer radikalen Ablehnung sah, sondern darin, auf ihre Träger ver edelnd einzuwirken. Einem brutalen Regiment hat er niemals das Wort geredet. höchstens die gewaltsame Errichtung einer Tyrannis entschuldigt. Um so mehr war er bemüht, Machthaber wie Nikokles, Jasons Söhne oder Timotheos von Herakleia zu maßvollem, besonnenen, «menschenfreundlichen» Verhalten zu überreden. Gleich Theseus mochten sie Tyrannenmacht besitzen, doch sollten sie sich wie dieser als wahre Volksführer erweisen. Denn worum es Isokrates ging, war die geistige und sittliche Bildung des Monarchen - bezeichnenderweise ge braucht er gern diesen indifferenten Ausdruck -, und gewiß gab er sich der Hoff nung hin, durch seine Mahnungen, die keinen Verzicht auf die absolute Machtstel lung verlangten, mehr zur Beseitigung nackter Gewaltherrschaft beizutragen als andere durch kategorische Forderungen oder ohnmächtige Haßgesänge. Er konnte sich dabei in Nachfolge Pindars und anderer Dichter fühlen. Xenophon ist dem Isokrates mit seiner wohl bald nach 3 60 verfaßten Schrift «Hieran», die kaum an einen bestimmten Tyrannen, etwa den jüngeren Diony sios, gerichtet war, auf diesem Wege gefolgt, indem er den Dichter Simonides
dem sizilischen Tyrannen raten läßt, wie er durch entsprechendes Verhalten die Liebe der Bürger und allgemeine Bewunderung gewinnen könne. Schon vorher hatte er in der «Kyropädie» ein Bild des idealen Herrschers entworfen und in der Lobschrift auf Agesilaos den Spartaner als Muster eines Königs verherrlicht. Die Tyrannis erscheint in den beiden erstgenannten Werken als schrankenlose Gewaltherrschaft : dem gesetzestreuen Perser Kyras wird der despotische Meder Astyages als Tyrann gegenübergestellt, und auch Hieran verfügt über alle Mög lichkeiten und Praktiken eines absoluten Machthabers. Aber für die Einstellung des Autors zur Tyrannis, um die es uns zunächst geht, ist bezeichnend, daß der syrakusanische Tyrann, der unter der unseligen Rolle, die zu spielen er sich ge nötigt fühlt, leidet, als tragische Figur gesehen und nicht einfach verurteilt wird. Denn Xenophon, der Gefolgsmann des jüngeren Kyras, der Führer der Zehntau send, er, der selbst fast zum Stadtherrn geworden wäre, wußte um die Problematik jeder tyrannischen Herrschaft. Wohl gilt sein Preis dem legitimen, verantwortungs bewußten, von allgemeiner Zuneigung getragenen Königtum, doch zeigt er, zu mal in seinen Geschichtswerken, Verständnis oder gar Sympathie für den sou-
Isokrates. Xenoplton. Tlteopo111poS. Epltoros
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verän gebietenden Einzelmenschen auch dann, wenn dieser ein Tyrann ist und all gemein als solcher gilt. In den Worten hoher Bewunderung für J asons Fähigkei ten und Leistungen, die er dem Pharsalier Polydamas in den Mund legt, schwingt spürbar des Schriftstellers eigene Meinung mit. Auch die Weisheit und das Glück früherer Tyrannen ist er bereit anzuerkennen. Freilich ist sein Urteil nicht immer von persönlichen oder politischen Rücksichten frei. Das Willkürregiment des als Söldnerführer unter dem jüngeren Kyros ihm nahestehenden Klearchos über Byzanz hat er verschwiegen und den Tyrannen Euphron von Sikyon durch spar · tanische Brille gesehen. Letztlich jedoch sind es nidu diese persönlichen Motive, welche auch bei Xenophon eine gewisse Zwiespältigkeit in der Beurteilung der Tyrannis bewirken, sondern der zeitbedingte Konflikt zwischen traditionellem Tyrannenhaß und strikter Ablehnung der Tyrannis durch die Sokratiker auf der einen, den eigenen politischen Erfahrungen und der weniger grundsätzlichen Wer tung des Historikers auf der anderen Seite. Soweit die Fragmente aus den verloren gegangenen Werken anderer Geschichts schreiber des 4. Jahrhunderts etwas über die Einstellung ihrer Autoren zur Ty rannis verraten, ist es von geringer Bedeutung. Theopompos äußerte sich über Machthaber wie Hermeias von Atarneus oder König Philipp einmal anerkennend, wo nicht gar bewundernd, ein anderes Mal voller Bosheit und Haß. Bei allem Sinn für außerordentliche Menschen, der ihm, dem Ioner, eignete, war es doch vor allem das Streben nach Effekt, was ihn bei seinen Lobsprüchen und mehr noch bei seiner Anprangerung der sinnlichen Ausschweifungen von Königen oder Tyrannen leitete, dazu die leidenschaftliche Parteinahme des in den Strudel politischer Kämpfe hineingerissenen chiischen Patrioten. Immerhin dürften seine mit pikanten Zügen gewürzten Schilderungen einzelner Tyrannen origineller und fesselnder gewesen sein als diejenigen, die sein Zeitgenosse Ephoros aus Kyme bot. Denn nach allem, was sich noch ausmachen läßt, malte dieser die Tyrannen in den konventionellen düsteren oder grausigen Farben ohne eigene Note, ge schweige, daß er von einem geistig begründeten Standpunkt aus die älteren und jüngeren Gewaltherrschaften gewertet hätte. Ein solcher war selbst im Mutterland, mit dessen Polisgeist sich die Hellenen im Osten der Ägäis nie hatten messen können, für alle selbständig Denkenden nicht mehr in der gegenwärtigen, frag würdig gewordenen Staatsordnung gegeben, er ließ sich nur aus einer sittlichen Übe rzeugung gewinnen, die alle Erscheinungen des politischen Lebens an unver brüchlichen Normen maß. Die große geistige Auseinandersetzung mit der Tyran nis hat sich daher im 4. Jahrhundert weder in der Dichtung noch im rhetorischen Schrifttum noch in der Geschichtsschreibung vollzogen, sondern in der Philoso phie. Von dieser Auseinandersetzung wird des näheren später zu sprechen sein; vorerst sei lediglich die Einstellung der bedeutendsten zeitgenössischen Philoso-
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Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
phen und ihrer Anhänger zur Tyrannis wie auch zu einzelnen Tyrannen betrachtet. Daß Sokrates die Tyrannis, die seinen sittlichen Anschauungen und seinem Verhältnis zu Staat und Recht widersprach, kategorisch ablehnte, würde, selbst wenn es nicht bezeugt wäre, außer Zweifel stehen, mochten auch seine Wider sacher ihm im Hinblick auf Alkibiades und andere vorwerfen, daß er die Men schen tyrannisch mache. Seine Schüler, so verschiedene Folgerungen sie sonst aus der Lehre des Meisters zogen, sind seiner Ablehnung gefolgt: Antisthenes, Aristippos und vor allem Platon. Von ihnen ist Antisthenes allem Anschein nach in keine persönliche Beziehung zu einem Tyrannen oder Fürsten getreten, doch hat er, wie schon zu bemerken war, das Bild des wahren Königs gezeichnet und diesem den Tyrannen als verwerflichen Gewaltherrscher gegenübergestellt. Ari stippos, der längere Zeit am syrakusanischen Hofe weilte, hat sich, seiner ganzen Art und Geistesrichtung entsprechend, weder dort persönlich noch in seinen Schriften gegen die Tyrannis gewandt, sie aber, sofern ihm zugeschriebene Aus sprüche als echt gelten dürfen, gelegentlich als gesetzlose, eigensüchtige Gewalt herrschaft und Krankheit bezeichnet. über Platons Verhältnis zum älteren und jüngeren Dionysios war bereits in anderem Zusammenhang zu sprechen; von seinem Tyrannenbild wird im nächsten Abschnitt die Rede sein. Was seine Ein stellung zur Tyrannis gegenüber derjenigen anderer Geister auszeichnet, ist ein mal die sittliche Kraft und Unbedingtheit, mit der er diese Herrschaftsform in ihrer typischen Erscheinung ablehnt, zum anderen der von ihm und Dion un ternommene Versuch, sie auf Sizilien in ein gesetzliches Königtum zu über führen, und der Glaube, mit Hilfe eines jungen, ethisch hochstehenden und auf geschlossenen Tyrannen den Staat der Gerechtigkeit nach Maßgabe des Mög lichen verwirklichen zu können. Auch davon soll später gehandelt werden. Da gegen verdient schon jetzt Erwähnung, wie sich die Anschauungen und Lehren des Meisters auf die Einstellung seiner Jünger zur Tyrannis ausgewirkt haben. Unter ihnen hat es solche gegeben, die aus Platons radikaler Verurteilung der nackten Gewaltherrschaft für sich die Folgerung zogen, daß sie ein derartiges Regiment beseitigen und ihrem Träger das verdiente Schicksal bereiten müßten. So brachte Chion aus Herakleia den Klearchos um, und ähnliche Motive dürften bei der Ermordung des Thrakerfürsten Kotys durch das Bruderpaar Python und Herakleides mitgespielt haben, wenn die beiden in erster Linie auch ihren Vater rächen wollten. Dion trachtete dem jüngeren Dionysios zwar nicht nach dem Leben, unternahm es aber, seine Tyrannis zu stürzen, nachdem der Versuch die Herr schaft grundsätzlich umzugestalten, gescheitert war. Bei diesem Versuch hatte zunächst Dion, dann Platon selbst als Ratgeber neben dem Machthaber gestan den, und kaum anders scheint die Rolle gewesen zu sein, die sein Schüler Eu phraios am Hofe des Makedonenkönigs Perdikkas III. spielte, der ihn auf Empfeh-
Sokratiker. Schüler Platons. Aristoteles
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lung des Philosophen zu sich berufen hatte. Erfolg blieb allen diesen Bemühungen versagt. Und auch als Dion nach Vertreibung des Dionysios der Polis Syrakus im Sinne Platons eine neue Verfassung geben wollte und dabei gemäß der Lehre des Meisters vor tyrannischen Maßnahmen nicht zurückscheute, war sein Unter nehmen zum Scheitern verurteilt. Zu tragischem Scheitern, denn die Tyrannis hatte er nicht erstrebt. Andere Männer dagegen, die kürzer oder länger im Kreise der Akademie gelebt hatten, warfen sich zum Tyrannen ihrer Vaterstadt auf. üb sie sich auf platons Meinung beriefen, daß die rechte Staatsordnung am ehesten von einem Tyrannen eingeführt werden könnte, erfahren wir nicht, doch scheint es, daß die meisten nicht einmal den Versuch gemacht haben, die gewonnene Macht in diesem Sinne zu gebrauchen. Klearchos von Herakleia war selbst nach dem Zeugnis des ihm einst befreundeten Isokrates ein reiner Gewaltherrscher, bei dem die in der Akademie empfangenen geistigen Anregungen höchstens in der Gründung einer Bibliothek nachwirkten. Und was über die Tyrannis des Chairon von Pellene oder über Euaion von Lampsakos und Timolaos von Kyzikos be richtet wird, die beide sich zum Tyrannen machen wollten, läßt nichts von höheren Zielen erkennen. Mit höhnischer Genugtuung konnten Gegner der Akademie auf solche Erscheinungen hinweisen. Noch im 3. rahrhundert verfaßte Hermippos eine Schrift über Philosophen, die zu Tyrannen oder Dynasten geworden waren. In der Tat schienen einige rünger Platons, zu denen jedoch nicht Dions Mörder Kallippos gezählt werden darf, das Wort des Meisters zu bestätigen, daß es einen vom Verlangen nach Besonnenheit und Gerechtigkeit erfüllten Machthaber nicht mehr gebe. Als Tyrannen, ja schon beim Versuch, eine Gewaltherrschaft aufzu richten, achteten sie der einst empfangenen Lehren nicht. Eine Ausnahme bildet Hermeias von Atarneus, der auch im Besitz tyrannischer Macht auf den Rat seiner Freunde aus der Akademie hörte und ihnen die Möglichkeit gab, in Assos eine Verfassung nach ihrem Sinne einzuführen, von der es allerdings fraglich ist, wie weit sie dem Staatsgedanken des inzwischen verstorbenen platon entsprach. Aristoteles, der zu jenen Freunden gehörte, mußte, von Platons Einwirkung abgesehen, auf Grund seiner eigenen Auffassung von der ethischen und politi schen Bestimmung des Menschen die reine Tyrannis verwerfen, doch urteilte er über sie, wie sich noch zeigen wird, unbefangener und dank seinem weiten Überblick über die Gewaltherrschaften sowohl der älteren Zeit wie der jüngsten Vergangenheit nüchterner als andere. Schon im 6. und namentlich im 5. r ahrhundert hatte sich eine feste Vorstellung von der Tyrannis als dem gesetzlosen, brutalen Willkürregiment eines einzelnen gebildet. Sie wirkte im geistigen Leben des 4. r ahrhunderts fort und wurde von Aristoteles begrifflich schärfer gefaßt und differenziert, indem er der nackten Tyrannis, als deren Prototyp seit Herodot Periandros galt, die verschleierte Tyrannis gegenüberstellte. In der Kennzeich-
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Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
nung der ersteren stimmt er im wesentlichen nicht nur mit Platon und anderen Philosophen, sondern auch mit Xenophon und Isokrates überein, so daß es dem Historiker der Tyrannis, dem es weniger um die individuellen Nuancen der ein zelnen Autoren als um das einheitliche Bild im ganzen geht, wohl erlaubt ist, bei Fixierung dieses Bildes die Ausführungen des Platon und Aristoteles mit einander und mit denen der übrigen Schriftsteller zu verbinden.
I r. D A S B I L D D E R R E I N E N T Y RA N N I S
Im Gegensatz zu dem synonymen Gebrauch von «Tyrann» und «König», wie er im 5 . Jahrhundert bei Herodot und Sophokles begegnete und später, wenn gleich aus anderen Gründen, von Isokrates geübt wurde, nahm Sokrates eine klare Bestimmung der beiden Herrschaftsformen vor. «Königtum», so berichtet Xenophon, «nannte er die mit Willen der Menschen und gemäß den Gesetzen geführte Herrschaft, unter Tyrannis dagegen verstand er eine solche, die gegen den Willen der Untertanen und nicht gemäß den Gesetzen, sondern nach Will kür des Herrschers gehandhabt werde» . Diese der traditionellen Auffassung ent sprechende Definition, die anscheinend gelegentlich auch von Aristippos gege ben wurde, liegt sowohl der Charakterisierung des idealen Königtums durd1 Antisthenes und Xenophon wie der Kennzeichnung der Tyrannis bei Platon, Aristoteles, Isokrates und Xenophon zugrunde. Wenn die beiden Philosophen, wie schon Aischylos und Herodot, die Unverantwortlichkeit des Tyrannen be tonen und seine Gewalt als unbegrenzt bezeichnen oder Aristoteles erklärt, daß kein Freier die Tyrannis freiwillig ertrage, so war das in der sokratischen Be stimmung mitbeschlossen. Nicht dagegen wurde in ihr oder sonst in der grie chischen Staatstheorie ausdrücklich die Usurpation der Macht als wesentliches Merkmal der Tyrannis genannt, vielmehr nur festgestellt, daß die Herrschaft mit Gewalt aufrecht erhalten werde und der Tyrann der absolute Herr der von ihr geknechteten Polis sei. Die so geartete Tyrannis als Staatsverfassung (Politeia) anzuerkennen lehnen Platon und andere mit aller Entschiedenheit ab ; dem Ari stoteles gilt sie als schlechte, widernatürliche Nebenform, als Parekbasis echter Verfassung, ja geradezu als Widerpart des vollen Königtums (Pambasileia) und unter den drei schlechten Nebenformen, die er kennt, als die schlechteste, weil sie die schlimmsten Züge der beiden anderen, Oligarchie und radikale Demokratie, in sich vereint. Für ihn ist die Tyrannis entweder überhaupt keine Politeia, so daß die Haftbarkeit der Polis für die von ihrem Tyrannen eingegangenen Ver pflichtungen Problem werden kann, oder die übelste. Nicht minder scharf äußerte sich Platon, wenn er den von einem Tyrannen beherrschten Staat nicht nur für
Definition des Tyrannis. Aufkommen von Tyrannen
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den unglücklichsten erklärte, sondern - ähnlich wie schon Euripides und später angeblich Aristippos - die Tyrannis als Krankheit und zwar als die vierte und letzte Krankheit der Polis bezeichnete. Wie sehr gleichwohl den Griechen die Tyrannis begehrenswert schien, wuß ten bereits Solon, Euripides und andere. Auch im 4. Jahrhundert war es die Mei nung vieler, nicht nur derjenigen, die sophistischen Lehren anhingen, daß der Tyrann glücklich und «göttergleich» sei, weil seine unbeschränkte Herrschaft ihm die Befriedigung aller Wünsche erlaube. Denn nach wie vor galt als Ty rannis eine Monarchie, welche dem persönlichen Nutzen ihres Inhabers diente. Dieser Nutzen aber wurde weniger in dem Genuß der Macht gesehen als in der Möglichkeit, den sinnlichen Begierden hemmungslos frönen zu können. Ziel der Tyrannis, sagt AristoteIes, ist das Angenehme. Vom Begehrlichen wird nach Pla ton die Seele des Tyrannen beherrscht, und auch Isokrates muß feststellen, daß die Tyrannen sich durch Leiden anderer Vergnügungen verschaffen. Liebes genuß, stimulierende Speisen, prächtige Kleidung, Üppigkeit jeder Art sind die Freuden, in denen der Tyrann schwelgt, während von höheren Gesichtspunkten, die für die Usurpierung und Ausübung der Herrschergewalt etwa bestimmend sein könnten, so gut wie nirgends die Rede ist. Wenn Isokrates in dieser Hinsicht über Euagoras anders urteilt, so ist zu bedenken, daß dies in einer Lobschrift auf einen Mann geschieht, der nicht eigentlich Tyrann war. Das Aufkommen von Tyrannen stellt sich Platon als eine durch zuchtlose Le bensführung der Bürger begünstigte Entartungserscheinung dar, die zwar auch durch Depravation des Königtums entstehen kann, im allgemeinen aber aus der extremen, den Freiheitsgedanken überspannenden Demokratie hervorgeht, wo für ihm vor allem wohl Syrakus als Beispiel diente. Ein Demagoge - führt er aus - wirft sich zum Anwalt (Prostates) und Führer der zuchtlosen Menge gegen die Begüterten auf, er verfolgt diese, um den Wünschen des niederen Volkes Ge nüge zu tun, mit Prozessen, unterwirft sie einer übermäßigen staatlichen Be steuerung, verbittert sie durch Propagierung von Schuldenerlaß und Landauftei lung, bis ihm, will er sein Leben vor ihnen retten, nichts anderes übrig bleibt als auf die Tyrannis auszugehen, die er denn auch nach vorübergehender Ver treibung durch seine Gegner wirklich gewinnt. Dieser Auffassung vom nor malen Entstehen einer Tyrannis, für die neben dem Beispiel des Dionysios na mentlich platons Doktrin von einer bestimmten Abfolge der Verfassungen maß gebend war, widersprach AristoteIes nicht nur im Hinblick auf die Doktrin, bei der nach seiner Meinung offen blieb, welche Staatsform auf die Tyrannis folgen würde, sondern mehr noch deshalb, weil ihm Platons schematische Einordnung der Tyrannis nicht der Vielfalt der historischen Erscheinungen zu entsprechen schien. AristoteIes weiß, daß Tyrannis sowohl aus dem Königtum hervorgegan-
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Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
gen ist, dann nämlich, wenn Könige sich über die väterlichen Ordnungen hin wegsetzten und zu despotischen Herrschern wurden, wie aus Oligarchien und Demokratien. Ja es kann einer Tyrannis auch eine Tyrannis vorausgehen. Olig archien geben nach Aristoteles den Anstoß zu einer Tyrannis, wenn die herr schende Schicht das Volk ungerecht behandelt und dadurch einern Manne, im besonderen einern aus den eigenen Reihen, ermöglicht, als Führer der unzufrie denen Menge die Alleinherrschaft zu gewinnen, oder wenn sie genußsüchtig ihr Vermögen verschwendet und dann von der eigenen Tyrannis oder der eines an deren Rettung erhofft, ferner wenn durch übertragung des Oberbefehls ein oder mehrere Männer die Chance erhalten, eine Tyrannis oder die tyrannische Herrschaft einer Gruppe (Dynasteia) zu errichten. In friedlichen Zeiten können zudem durch Zwist gespaltene Oligarchien einen schiedsrichterlichen Oberbeam ten bestellen, der sich dann leicht zum Herrn des Staatswesens aufwerfen kann. Da er legale Vollmachten besitzt, ist er im Grunde so wenig Tyrann wie der aus ähnlichen Gründen eingesetzte Aisymnetes, dessen Stellung als «gewählte Ty rannis» bezeichnet wird. Was Aristoteles veranlaßt, hier und ebenso bei dem Königtum mancher Barbarenvölker von Tyrannis zu sprechen, ist weder die Ge setzlosigkeit noch der allgemeine Widerwille - beides träfe nicht zu -, sondern der despotische Charakter der zuerkannten Gewalt, und er ist sich wohl bewußt, daß nur insofern der Ausdruck dyrannisdl» zutreffen kann. Auch bei längerer Führung eines legalen Oberamtes ist mächtigen Männern die Möglichkeit zur Errichtung einer Tyrannis gegeben. Das gilt wie für die Oligarchie so auch für die Demokratie. Bei ihr unterscheidet Aristoteles zwischen früheren Zeiten, die er hinsichtlich der Entstehung der Tyrannis aus der Oligarchie allein im Auge hatte, und der Gegenwart. Einst waren die Volksführer zugleich Heerführer, die höchsten Beamten besaßen große Machtvollkommenheiten, die Städte waren noch klein und die Menge ging auf dem Lande ihrer Arbeit nach. So konnten diejenigen, die sich zu ihrem An walt machten und durch ihren Kampf gegen die Reichen Vertrauen gewannen, wenn sie zugleich Kriegstüchtigkeit bewiesen, die Tyrannis gewinnen. Noch der ältere Dionysios wird zu diesen Männern gezählt. Wie aber in seiner ,eigenen Zeit Tyrannenherrschaften entstehen, gibt der Philosoph nicht recht zu erken nen. Demagogen, bemerkt er, machen aus mangelnder Erfahrung im Kriegs wesen sich jetzt nicht mehr zu Tyrannen, und wenn er auch betont, daß der Ty rann, anders als ein König, aus dem Volk und der Menge zu deren Schutz ge genüber den Vornehmen sich erhebe und man sogar sagen dürfe, es seien fast die meisten Tyrannen Volksführer gewesen, so schränkt er die letztere Behaup tung doch dahin ein, daß auf diese Weise Tyrannenherrschaften zur Zeit, als die Städte wuchsen, entstanden seien, und erklärt an anderer Stelle ohne zeitliche
Entstehen einer Tyrannis. Unrecht und Gewalt
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Beschränkung, Tyrannis entstehe aus zügelloser Demokratie oder Oligarchie, viel seltener bei Überwiegen des Mittelstandes. Von der Bedeutung, die in sei ner Zeit das Söldnerwesen für das Aufkommen von Tyrannen hatte, spricht er nur andeutend im Hinblick auf den Sturz von Oligarchien, wiewohl Demokra tien nicht minder davon betroffen wurden. Demosthenes dagegen hat die von Söldnern und Condottieren drohende Gefahr eindringlich gewürdigt. Was schließ lich die Verfassung betrifft, die nach dem Ende der Tyrannis sich einstellt, so hatte Platon darauf keine Antwort gegeben. AristoteIes zeigte sich auch hier von jedem Schema frei : Tyrannis kann sowohl in Oligarchie wie in Demokratie wie in abermalige Tyrannis umschlagen, doch erscheint für die älteren Zeiten der Ab lauf: Oligarchie-Tyrannis-Demokratie als der normale. Hat sich nun jemand zum unbeschränkten Herrn einer Stadt gemacht, was im allgemeinen durch Besetzung der Akropolis, dieser «oligarchischen und monar chischen Maßnahme», geschieht, so kann er sein tyrannisches Wirken entfalten. Anfangs, so sieht es Platon, ist er allen gegenüber liebenswürdig, versichert, kein Tyrann zu sein, stellt Verbesserungen in Aussicht, mildert auch wirklich die Schuldenlast und verteilt an das Volk sowie an seine Anhänger Ländereien. Bald aber, wenn er mit den äußeren Feinden fertig geworden ist, zeigt sich seine Herr schaft in ihrer wirklichen Gestalt, nämlich als das vollkommenste Unrecht. Denn Tyrannis bedeutet für einen solchen Menschen Möglichkeit, nach seinem Belieben zu schalten, nach eigenem Ermessen zu verbannen und zu töten. Wie früheren Generationen gilt auch Platon und anderen Zeitgenossen der jüngeren Tyrannis Unrecht und Gewalttätigkeit als das hervorstechendste Merkmal, während von der Hybris, die einst den Machthabern vorgeworfen wurde, im Zeitalter zunehmen der Säkularisierung kaum mehr gesprochen wird. Der Tyrann gibt seine Befehle ohne Rücksicht auf die bestehenden Gesetze, sein persönlicher Wille soll Gesetz sein. Fremdes Gut, das sich in seinem Besitz befindet, gibt er nicht heraus ; h at aber einer etwas, was dem Tyrannen gehört, so verlangt er die Rückgabe samt Zinsen. Vor keinem noch so brutalen Mittel scheut er zur Befriedigung seiner Habsucht und seiner Gelüste zurück. Wie die meisten Tyrannen verfahren, hat Aristoteles in seiner «Politik» und zwar im ersten Teil der Darlegungen über die Erhaltung von Tyrannenherrschaf ten ausgeführt. Die dort erwähnten Maßnahmen, für die, wie bemerkt, das Wirken des Periandros als typisch galt, entsprechen weitgehend denen, die Pla ton, Isokrates, Xenophon und andere Zeitgenossen nennen. Darnach stellte sich den Gebildeten im 4. Jahrhundert das von reinen Tyrannen geübte Regiment etwa folgendermaßen dar: Der Tyrann läßt hervorragende Männer nicht aufkommen, er beseitigt viel mehr alle, die mannhaft, hochgemut, besonnen und reich sind, selbst wenn sie
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
ihm früher nahestanden. Hinrichtungen, auch Unschuldiger, und Morde sind an der Tagesordnung. Gemeinsame Männermahle werden von ihm verboten, des gleichen Hetairien und Vereinigungen, welche der geistigen Bildung dienen. Denn er ist ein Feind der Bildung (Paideia), weil sie hohen Sinn erzeugt, der ihm gefährlich werden könnte, und fürchtet nicht minder den Geist wechselseitigen Vertrauens, wie er in jenen Gemeinschaften entsteht. Ferner hält der Tyrann dar auf, daß die Bürger sich immer in der Öffentlichkeit zeigen, damit ihr Tun nicht verborgen bleibt und sie sich als Sklaven, die sie sind, an niedrige Gesinnung gewöhnen. Ist doch Knechtschaft das Schicksal der von einem Tyrannen beherrsch ten Bürger. Durch Späher läßt er sie überwachen, so daß sie sich nicht offen zu äußern wagen aus Furcht, daß jedes Wort dem Gewalthaber hinterbracht wird. Dem gleichen Zweck der Unterdrückung oppositioneller Strömungen dient es, daß er Feindschaften unter den Bürgern begünstigt, Freunde gegen Freunde, das Volk gegen die Vornehmen und Reichen, diese wiederum gegeneinander hetzt. Wenn des weiteren dem Tyrannen das Bestreben zugeschrieben wird, die Unter tanen arm zu machen, damit sie nicht eigene Wachtruppen aufstellen können und über der Sorge um den Lebensunterhalt keine Zeit zu Konspirationen finden, so denkt Aristoteles, der als Beispiel die kostspieligen Bauten und wertvollen Weihgeschenke einzelner Tyrannen und auch die Pyramiden der Pharaonen an führt, dem Thema seiner Darlegungen entsprechend nur an die Bedeutung, wel che die Finanzpolitik und die großen Anlagen für die Sicherung der Herrschaft haben konnten, während in diesem Zusammenhang dasjenige Moment, das sonst in der Diskussion über die Tyrannis einen beträchtlichen Platz einnimmt, außer Betracht bleibt: die persönliche Habsucht, ja geradezu Raubgier der Machthaber. «Man wird ja nicht Tyrann, um zu frieren», meint Aristoteles selbst an anderer Stelle, und das Verlangen nach Bereicherung, nach Ansammlung von Schätzen scheint ihm wie seinen Zeitgenossen charakteristisch für die Tyrannen. Unter ihnen gibt es solche, die aus Besitzgier Häuser niederreißen, die Bewohner töten und oft auch ganze Städte versklaven, läßt Xenophon den Antisthenes sagen. Auch für Platon, der wie Aristoteles das Armrnachen der Bürger, im besonderen der Oberschicht, durch harte Besteuerung erwähnt, ist der Tyrann ein Räuber im Großen, ein Wolf und Geier, der unersättlich alles, dessen er habhaft werden kann, an sich reißt. Nicht stückweise nimmt er fremdes Gut, religiös geschütztes und profanes, privates und öffentliches, sei es heimlich, sei es mit offener Ge walt, er rafft vielmehr gleich alles zusammen. Ähnlich äußern sich Isokrates und Xenophon. Die Mittel aber, die er auf solche Weise gewinnt, verwendet der Tyrann zur Sicherung seiner Herrschaft, vor allem zum Unterhalt seiner Leib wache, und für Zuwendungen an seine Umgebung, an Zechgenossen und He tären. Für Kriege erhebt er, wie Platon und Aristoteles, vielleicht im Hinblick
Unterdrückung. Raubgier. Söldner
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auf den wohl auch sonst manchmal im Hintergrund stehenden Dionysios, bemer ken, eine eigene Vermögenssteuer. Denn der Tyrann - und wiederum scheint in erster Linie an Dionysios gedacht zu sein - ist kriegerisch, einmal weil im Kampf gegen auswärtige Feinde die Untertanen dauernd angespannt sind und seiner Führung bedürfen, sodann weil Kriege ihm die Möglichkeit geben, seine heimischen Gegner im Felde hinzuopfern und für sich und seine Trabanten durdl kühne, glückliche Operationen reiche Mittel zu gewinnen. Dem Volke aber geht erst allmählich auf, daß der Mann, dem es selbst zur Herrschaft verholfen hat, auf seine Kosten lebt und daß statt der erhofften grö ßeren Freiheit, schlimmste Knechtschaft eingetreten ist. Vergeblich versucht es sich aufzulehnen und den Zwingherrn zu vertreiben. Nur harte Bestrafung der Aufsässigen und Verschärfung des Gewaltregimentes wird die Folge sein. Und je mehr Haß und Mißtrauen gegen den Tyrannen, selbst in der breiten Menge, wächst, um so größer wird andererseits dessen Argwohn, der ihn schon vorher zu Sicherungsmaßnahmen gegen einen etwaigen Aufstand veranlaßt hat. Ari stoteles nennt als solche : Entwaffnung der Bürgerschaft, Mißhandlung der Masse, Vertreibungen und Auseinandersiedlungen, sämtlich Akte, die ähnlich von Olig archien vorgenommen würden. Daß die Tyrannen, obwohl sie im eigenen In teresse um die Polis bemüht sein müßten, ohne die sie weder sich behaupten noch glücklich sein könnten, es vermeiden, die Bürger wehrhaft zu machen und gut zu bewaffnen, sagt auch Xenophon. Es sind demnach vornehmlich Söldner, mit denen der Gewalthaber seine Kriege führt. Diese sollen denn auch s tärker sein als das Bürgeraufgebot. Weil nämlich dem Tyrannen die Bürger, deren Haß er fühlt, als Feinde gel ten, so daß er mit ihnen in einem latenten Kriegszustand lebt, zieht er mit Vor liebe Fremde heran, sowohl als Tischgenossen und Helfer wie als Neubürger und namentlich als Mannschaft seiner Leibwache. Und nicht etwa nur aus freien Grie chen wird das Söldnerkorps gebildet, dessen kein Gewalthaber entraten kann, sondern häufig aus Barbaren oder früheren Sklaven der Bürger, die er zu die sem Zwecke freigelassen hat. Wirken derartige Freilassungen an sich schon auf reizend, so muß es die Bürger erst recht erbittern, daß sie mit Hilfe ihrer eige nen früheren Knechte niedergehalten werden. Der Tyrann freilich sieht gerade darin seinen besten Schutz gegen die einstigen Herren. Ihm ist es auch lieb, wenn in den Häusern sich die Sklavenzucht lockert oder den Frauen größere Freiheit gewährt wird, denn in beiden Fällen hofft er, über die Geheimnisse der Männer leichter Auskunft zu erhalten. Aristoteles weist in diesem Zusammenhang auf ähnliche Erscheinungen in den radikalen Demokratien hin, während ein anderes Phänomen ihm die innere Verwandtschaft von Tyrannis und Oligarchie bestätigt: Hier wie dort erträgt die Masse des Volkes, der es vor allem um den privaten
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
Erwerb geht, das Gewaltregiment, sofern sie nur ungehindert ihren Geschäften nachgehen kann und nicht materiell geschädigt wird. Für die Tyrannis gelte dies allerdings nur in der älteren Epoche ; von der eigenen Zeit spricht er leider nicht, so daß unklar bleibt, inwiefern und warum es im 4. Jahrhundert, für das doch ein stärkeres Hervortreten privater Interessen charakteristisch ist, anders gewesen sein soll. Im besonderen richtet sich das Mißtrauen des Tyrannen, das als ein Grundzug seines Wesens gilt, gegen seine Freunde einschließlich der Leibwache, weiß er doch, daß, wo alle ihn stürzen wollen, diese es am ehesten vermöchten. Er hat ja die Schlechtesten zu Freunden, weil nur Schlechte sich zu Schlechtem gebrau chen lassen und er Leute um sich sehen will, die ihm unterwürfig nahen, was Männer mit freiem Sinn, die lieben, nicht schmeicheln wollen, ablehnen. Einem Menschen von Würde und freiem Geist ist der Tyrann, der allein als solcher erscheinen möchte, nicht gewogen ; er fürchtet, daß dieser ihm seine Überlegen heit und das Despotische seiner Stellung nehme, und haßt ihn als einen, der die Tyrannis auflösen könnte. Freilich sind nur wenige Menschen solcher Art; die meisten, wofern sie nicht gar am Tyrannenhof vergnüglichen Zeitvertreib suchen und dem Machthaber schön tun, schweigen und sinnen höchstens Böses gegen ihn. Wie in der extremen Demokratie sich das Volk von Demagogen umschmeicheln läßt, so der Tyrann von seiner Umgebung, in der sich auch häufig Dichter be finden, die für ihre Lobeshymnen Ehren und Belohnungen erhalten. Platon hat sie mit besonderer Schärfe gebrandmarkt und ihnen den zuletzt beim Makedo nenkönig Archelaos weilenden Euripides zugerechnet. Es liegt in der Natur der Tyrannis als einer primär innenpolitischen Erschei nung, daß für ihr Bild die Außenpolitik der Gewalthaber den Griechen wenig relevant schien. Von ihr ist denn auch generell, abgesehen von der Betonung der aus kriegerischen Unternehmungen dem Tyrannen erwachsenden innenpoliti schen Vorteile, kaum die Rede. Nur in Einzelfällen kann sie das Urteil beeinflus sen. So erkennt Platon trotz seiner grundsätzlichen Ablehnung einer Tyrannis nach Art derjenigen des Dionysios dessen Abwehr der Karthager als eine rüh menswerte Leistung an, als eine panhellenische Tat, wie sie Isokrates, der schon den Euagoras als Vorkämpfer der Hellenen gefeiert hatte, von dem sizilischen Tyrannen und von dem thessalischen Machthaber Jason für die Griechen der Ägäis gegenüber Persien erhoffte. Erscheint hier der Tyrann dank seinen wirk lichen oder vermeintlichen Möglichkeiten als Schützer und Führer gegen die Barbaren in hellerem Lichte, so ist er doch im allgemeinen, wofern er außen politische Macht entfalten kann, der Vergewaltiger anderer Städte, sei es daß er sie seinem eigenen Herrschaftsbereich einverleibt, sei es daß er als Condottiere durch Eroberung einer oder mehrerer fremder Städte erst eine Tyrannis er-
Mißtrauen. Schmeichler. Außenpolitik. Tyrannenmord
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richtet. Ein Freistaat wird daher nicht ohne Gefahr in enge Verbindung mit einem solchen Manne treten. Vertraut er sich gleichwohl seinem Schutze an, so gräbt er sich selbst das Grab. Für den Tyrannen dagegen kann die Verbindung mit fremden Gemeinwesen oder Fürsten nützlich sein, weil er von ihnen gegebenen falls Heeresmacht zur Unterdrückung der eigenen Bürgerschaft zu erhalten ver mag. Fürchten muß er natürlich die Feindschaft eines antityrannisch eingestell ten und mächtigeren Staates. Denn wird er von einem solchen angegriffen, so tut sich die ganze Brüchigkeit seiner Herrschaft auf ; es droht ihr der Untergang. Für die grundsätzliche Beurteilung der Tyrannis ist freilich wie im 5. J ahrhun dert so auch jetzt ihr Sturz durch auswärtige Mächte weit weniger wichtig gewe sen als die Beseitigung von Gewalthabern durch Bürger der eigenen Stadt. Seit den Tagen des Harmodios und Aristogeiton spielt der Tyrannenmord im poli tischen und staatstheoretischen Denken der Griechen eine nicht geringe Rolle. Prinzipiell wird er allgemein bejaht und als verdienstvolle Tat angesehen. Pla ton wollte den der Scham und Gerechtigkeit entbehrenden Herrscher als einen Krebsschaden ausgemerzt sehen, Isokrates, Xenophon und Aristoteles wiesen auf die allenthalben Tyrannenmördern bezeigten, nach ihrer Ansicht durchaus gerechtfertigten Ehren hin. Eingehend hat sich der letztere über die Anlässe ge äußert, die den Sturz einer Gewaltherrschaft herbeizuführen pflegen. Abgesehen von den bereits erwähnten Angriffen auswärtiger Mächte sind es im wesent lichen zwei : Zwist im Schoße der Tyrannenfamilie und Attentate von seiten schwer gereizter Bürger, während von Aufständen, die bei der überlegenen Macht des Zwingherrn allerdings nur mit fremder Hilfe gewagt werden konnten, kaum die Rede ist. Unter den Motiven der Attentäter findet sich nach Aristoteles am seltensten der freilich den selbstlosen Einsatz des eigenen Lebens fordern de Wille, durch Befreiung der Vaterstadt von gesetzloser Despotie Ruhm zu gewinnen. Nur Dion kann er als Beispiel solcher Haltung nennen, sonst sind es unpolitische, rein private Beweggründe, die von ihm angeführt werden. An schläge, die sich gegen Leib und Leben oder die Art der Herrschaft des Tyrannen richten, erfolgen aus Haß, Verachtung und Ehrgeiz. Aus Haß, wenn der Täter an sich selbst oder einem ihm Nahestehenden Beschimpfung, Mißhandlung, Ver gewaltigung erfahren hat, wofür zahlreiche Beispiele genannt werden. Es sind die «Tyrannenmorde aus Rache», über die Aristoteles' Schüler Phainias aus Ere sos eine eigene Schrift verfaßte. Verachtung stellt sich im allgemeinen weniger gegenüber dem Begründer der Tyrannis ein, der ja meist eine starke Persönlich keit ist, als gegenüber den in Schwelgerei erschlaffenden Söhnen und Nachfol gern. Diesen fühlen sich häufig Männer ihrer Umgebung überlegen, namentlich Inhaber hoher militärischer Stellen, die in ihrem Ehrgeiz sich selbst die Führung der Herrschaft zutrauen. Eine weitere Möglichkeit des Tyrannensturzes, daß näm-
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
lieh der Verwalter der Schätze die Abwesenheit des Gewalthabers im Felde be nutzt, die Macht an sich zu reißen, erwähnt Aristoteles an anderer Stelle. Von allen aber, die es auf seinen Sturz abgesehen haben, sind für den Tyrannen am meisten diejenigen zu fürchten, die ihres eigenen Lebens nicht achten, wenn sie nur ihn umbringen können. Zusammenfassend bemerkt der Philosoph, daß dieselben Ursachen, die zur Auflösung der extremen Demokratie und Oligarchie führen, nämlich Habsucht und Genußsucht der Demagogen, Ungerechtigkeit, despotisches Gebaren, Üppig keit und eifersüchtige Ränke der Regierenden untereinander, auch das Ende von Tyrannenherrschaften bewirken. Mit der extremen Oligarchie teilt die Tyrannis ferner die kurze Dauer, auf die schon Thales hingewiesen haben sollte und die auch Platon und Xenophon hervorheben. Denn wenn die Tyrannis auch manches mit der radikalen Demokratie gemein hat, so ist sie in besonderem Maße der Olig archenherrschaft verwandt, zumal wenn es sich um das Willkürregiment einer kleinen Gruppe, um eine Dynasteia, handelt. Wurde doch auch die Tyrannis bis weilen in Samtherrschaft von mehreren Männern ausgeübt. Wie Thukydides, dem die Dynasteia als «nächstverwandt der Tyrannis» erschien, sehen auch Aristote Ies und Demosthenes keinen wesentlichen Unterschied, nur daß bei dieser meist einer, bei jener meist mehrere die Macht innehaben. Sie kann hier wie dort durch Reichtum, großen Anhang oder jahrelange Bekleidung hoher Ämter gewonnen wer den, und für beide Herrschaftsformen ist es kennzeichnend, daß nicht die Ge setze, sondern der Wille der Machthaber maßgebend ist. Allerdings geht nach Aristoteies die Dynasteia niemals aus der Demokratie hervor, sie entsteht viel mehr, von auswärtigen Einwirkungen abgesehen, wenn einige der Oligarchen den anderen überlegen werden oder die Zahl der Vollbürger infolge Beibehal tung eines alten hohen Zensus auf einen ganz engen Kreis zusammenschrumpft. Die Abneigung der Philosophen gegen ein solches Regiment ist kaum geringer als die gegen reine Tyrannis. Für Platon steht die Dynasteia mitten zwischen den vier verfehlten Verfassungen, das sind die kretische oder lakedaimonische, die Oligarchie, die Demokratie und - die schlechteste von ihnen - die Tyrannis.
I r I. D E R T Y R A N N U N D D A S B E M Ü H E N U M S E I N E B I L D U N G
Die Geister des 4. Jahrhunderts hat nicht nur die Tyrannis als politische Erschei nung, sondern auch die Psychologie des Tyrannen beschäftigt. Sein Bild der Ge waltherrschaft ergänzt Platon, für den die Staatsformen menschlichen Charakteren entsprechen, durch das Bild des tyrannischen Menschen, dessen innere Verfas sung derjenigen einer tyrannisch beherrschten Polis gleicht. Über beide haben die
Tyrannis und Dynasteia. Der tyrannische Mensch
schlimmen und wilden Begierden unbegrenzte Macht. Erzogen von einem aus dem Volke stammenden, aber nicht mehr in kleinlicher Erwerbssucht befangenen, sondern Genüssen maßvoll zugetanen Vater, fällt eine tyrannische Natur Ver führern anheim, die sie zu Ungesetzlichkeiten jeder Art veranlassen und sie in einen Rausch versetzen, der das Verlangen nach unbeschränkter Befriedigung ih rer Gelüste entfesselt, während Vernunft und Sittlichkeit verdrängt werden, nicht anders, als wenn der Tyrann die guten Bürger verbannt. Bald geht einem solchen Menschen das Geld aus, und nun gebraucht er Betrug und Gewalt, selbst gegen die eigenen Eltern, um neue Mittel in die Hand zu bekommen und seinen Lüsten weiter frönen zu können. Jetzt ist er völlig Knecht seiner Begierden geworden, die ihn - wie der Tyrann die Polis - zu jedem Wagnis hinreißen. Sind derartige Menschen in einem Staat gering an Zahl, so nehmen sie als Söldner bei einem Gewalthaber Dienst oder verüben Diebstahl, Einbruch, Tempelraub und derglei chen. Sind es aber viele, dann bringen sie dank dem Unverstand der Menge einen wirklichen Tyrannen hervor, und zwar denjenigen, der die größten und stärksten Leidenschaften als Tyrann seiner selbst in sich trägt. Dieser Mann wird, falls man ihm Widerstand leistet, seiner Vaterstadt Gewalt antun wie einst sei nen Eltern und, von weiteren Anhängern unterstützt, sie knechten. Damit ist das letzte Ziel seiner Begehrlichkeit erreicht. Im Besitz der Macht aber entfalten sich seine schlechten Anlagen erst ganz. Einstige Helfer und bisher schmeichlerisch umworbene Leute stößt er brüsk zurück, wahrer Freundschaft ist er unfähig, weil er sich entweder despotisch oder heuchlerisch kriechend gebärdet, Unrecht be geht er im höchstem Maße. Dabei ist er, weil ja die Menschen im Hinblick auf Wert und Glück den Staatsformen entsprechen, nicht nur der schlechteste, sondern auch der unglücklichste von allen, wie andererseits der von einem wah ren König gelenkte Staat der beste und glücklichste ist. In sklavischer Abhän gigkeit von seinen Begierden bleibt er unfrei und, da er in seiner Unersättlich keit nie zur Befriedigung seiner Gelüste gelangt, stets arm. Gilt das schon von jedem tyrannisch gearteten Menschen, wieviel mehr vom eigentlichen Tyrannen, der auch noch von dauernder Furcht geplagt wird, weil seine Stellung nicht wie diejenige eines Herrn gegenüber seinen Sklaven durch den Staat geschützt ist, sondern nur in sich selbst ruht und darum dauernd ge fährdet ist. In beständiger Angst vor Feinden, die ihn umgeben und bedrohen, kann er nicht wagen zu reisen oder an einem Fest teilzunehmen, er muß sich in seinem Haus begraben. So wirkt er auf seinem Tyrannenthron wie ein körper lich Benachteiligter bei Wettkämpfen. Sklave und Schmeichler der Verworfensten, kann er seine Gelüste nicht stillen; ann und gedrückt führt er das jämmerlichste Leben, das eines Sklaven. Erwägt man ferner, daß er von Anfang an treulos, un rechtlich, ohne Freunde, gottlos, jeder Schlechtigkeit Hehler und Pfleger ist und
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhun derts
alles dies, von der Gewaltherrschaft weiter verdorben, immer mehr wird, so liegt auf der Hand, daß, wenn schon der tyrannische Mensch als der unrechtlichste und unglücklichste erscheint, der wirkliche Tyrann als der allerunrechtlichste und allerunglücklichste gelten muß. Von der wahren, der philosophischen Lust ist er am weitesten entfernt. Deshalb läßt Platon in der Seelenwanderungslehre des «Phaidros» diejenige Seele, die am wenigsten von der Idee erblickt hat, in einer Tyrannenseele Wohnung nehmen. Und wenn es im «Gorgias» heißt, daß der Tyrann am schlechtesten lebe, weil er vom Unrechttun nicht mehr loskomme, so wird im «Staat» geradezu berechnet, daß er siebenhundertneunundzwanzigmal elender sei als ein vemunftgeleiteter König, und im Mythos am Ende des Wer kes erscheint ein Ardiaios, ein pamphylischer Tyrann aus ferner Vorzeit, der grausige Verbrechen begangen hatte, als zu ewigen Höllenqualen verdammt. Noch in den «Gesetzen» erklärt der Philosoph, dessen Einstellung zur Tyrannis, wie wir sehen werden, inzwischen eine gewisse Wandlung erfahren hatte, die Tyrannen, «die oft tapfer und von hohen Gaben sind», für unglücklich. Der landläufigen Meinung, daß der Tyrann besonders glücklich sei, traten auch Isokrates und Xenophon, traten wohl überhaupt die Gebildeten der Zeit ent gegen, nachdem die sophistische Verherrlichung des Herrenmenschen abgeklun gen war. Im Hinblick auf Ehren, Reichtum und Macht, bemerkt der attische Rhe tor, würden die Tyrannen zwar allgemein für glücklich gehalten, doch möchte man angesichts der Furcht und Gefahr, darin sie schweben, sowie der Gewalt taten, zu denen sie sich sogar in der eigenen Familie gedrängt sehen, lieber auf jede andere Art leben, als mit ihnen König von Asien sein. Der nicht erst im verbürgerlichten 4. Jahrhundert ausgesprochene Gedanke, daß gegenüber der Tyrannis dem Privatleben der Vorzug zu geben sei, klingt auch in Xenophons Dialog «Hieron» an, der die Frage, ob ein Tyrann glücklich sein könne, ausführ lich erörtert. Die Darlegung des unglücklichen Zustandes, in dem dieser sich be findet, ist um so eindrucksvoller, als sie dem Gewalthaber selbst in den Mund gelegt wird. Es ist nicht wahr, läßt der Autor ihn zu dem Dichter Simonides sa gen, daß der Tyrann größere Freuden und geringere Leiden hat als die anderen Menschen, es fehlen ihm vielmehr Ruhe und Frieden. Beständig lebt er im Krieg, entbehrt die Zuneigung seiner Verwandten und wird, umgeben von feilen Skla ven oder Feinden, unausgesetzt von Mißtrauen gequält. Auch sein Reichtum ge währt ihm keine Befriedigung. Weil er die besten seiner Untertanen zu fürch ten hat, ist er genötigt, gerade sie zu entfernen, seine Vaterstadt muß er lieben und zugleich hassen, der gesellige Umgang wird ihm durch Angst vergällt. Wel chen Genuß soll ihm eine Macht bereiten, die ihm nicht gestattet, seinen Freun den wohlzutun und seinen Gegnern zu schaden, welche Genugtuung die Ehren, die man ihm nur aus Furcht, nicht aus Neigung erweist? Dabei ist es dem Ty-
Der Tyrann unglücklich. Rat an Tyrannen
rannen verwehrt, sich aus dem Elend seines Herrscherturns durch Abdankung zu befreien, denn wie sollte er alles das, was er getan hat, je gutmachen können? Nur der Selbstmord kann seinem jämmerlichen Dasein ein Ende bereiten. Daß sich diese Schilderung mit dem von Platon entworfenen Bilde eng be rührt, ist nicht zu verkennen, doch tritt bei Xenophon weit stärker als bei dem richtenden Philosophen die tragische Ausweglosigkeit hervor. Der Gesprächs partner Simonides will sie nicht gelten lassen, er sucht zu zeigen, wie ein Tyrann sehr wohl sein Leben angenehm und glücklich machen könne. Ist dieser dod dank seiner Machtstellung und den mit ihr verbundenen Ehren in der Lage, sich die Zuneigung anderer in höherem Maße zu erwerben als ein Privatmann. Nur muß er vermeiden, was Haß erregt, erbitternde Maßnahmen anderen überlassen und persönlich bloß solche vornehmen, die ihm Sympathien eintragen, wie etwa die Auszeichnung vortrefflicher Bürger. Gewiß, Söldner sind einem Tyrannen un entbehrlich, doch soll er sie als stehendes Heer zur Sicherung der Polis, nicht zur Unterdrückung der Bürger einsetzen, um so der allgemeinen Abneigung gegen das Vorhandensein dieser Truppe zu begegnen. Auch seine Aufwendungen möch ten weniger der eigenen Person und dem Hofhalt als dem Gemeinwesen gelten, dessen Wohlstand er auf mannigfache Weise fördern kann. Verfährt er auf diese Art, dann wird ihm die Liebe und Bewunderung aller zuteil werden, und er dient, indem er seinen Freunden und dem Staate dient, zugleich sich selbst. Xenophons «Hieron» war weder der erste noch der einzige Versuch, Gewalt habern zu zeigen, wie sie den Haß der Untertanen vermeiden und durch Sorge für sie zu beliebten und glücklichen Menschen werden könnten. Die «Kyropädie» mit ihrer Idealisierung des großen Kyros als eines sittlich hochstehenden, ver antwortungsbewußten Herrschers, wohl in Nachfolge des Antisthenes konzipiert, konnte und sollte, auch wenn sie einen König und sogar einen nichthellenischen als Vorbild hinstellte, griechischen Tyrannen der Gegenwart eine Mahnung sein, diesem Beispiel zu folgen. Als Fürstenspiegel ist sie dem Geist der Schriften ver wandt, welche Isokrates an den König Nikokles von Salamis sandte, und so ist denn auch die Übereinstimmung der beiden Autoren in dem, was sie vom rech ten Herrscher erwarten, groß. Fürstliche Abkunft wird zwar an Nikokles' Vater Euagoras wie an Kyros geriihmt, entscheidend aber ist die sittliche Überlegen heit des Fürsten, die sich in einem milden Regiment, menschenfreundlichem Verhalten und Hingabe an den Staat bekundet. Auch wer die Herrschaft gewalt sam gewonnen hat, kann ein trefflicher Monarch werden. Ein solcher wünscht in gutem Rufe zu stehen, würdevoll tritt er auf, ehrt die Götter und übt eine Ge rechtigkeit, die nicht alle Bürger auf eine Stufe stellt, sondern jeden nach seinem Verdienst wertet. Kriegstüchtig wird er sein und mehr nach Ruhm als nach Geld trachten, wackere Männer nimmt er sich zu Freunden, gestattet den Bürgern freie
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
Rede und sucht durch Anregung ihrer Aktivität den allgemeinen Wohlstand zu heben. Unterscheidet er sich schon in alle dem vom reinen Tyrannen, so vor al lem auch darin, daß er seine Begierden bezwingt, Selbstbeherrschung übt und in einer Weise regiert, daß die Bürger ihm freiwillig gehorchen, weil er sie besser zu leiten versteht, als sie selbst sich leiten könnten. Von gesetzlicher Fundierung und Besduänkung der Herrschaft ist freilich bei Isokrates nicht die Rede. Er läßt vielmehr den Nikokles in der nach ihm benannten Schrift, die den Untertanen ihre Pflichten gegenüber dem Fürsten vor Augen halten soll, erklären, daß seine Worte als Gesetze zu befolgen seien, und unterwirft die Bildung von Hetairien der Genehmigung durch den König. Xenophon, dessen Herrscherbild sich auch sonst in manchen, hier nicht zu erörternden Nuancen von dem des Isokrates unterscheidet, rühmt zwar an Kyros' Vater, daß er den Nomoi der Perser Rechnung getragen habe, und spendet dem Agesilaos das Lob, es hätten ihm die Gesetze der Heimat mehr gegolten als die Herrschaft über Asien, aber auch für ihn ist der gute König «sehendes» Gesetz, und unter den Ratschlägen, die er Simonides dem Hieron geben läßt, fehlt bezeichnenderweise die Mahnung, sich einer ge setzlichen Bindung zu unterwerfen und damit der Tyrannis zu entsagen. Beiden Schriftstellern geht es nicht, mindestens nicht in erster Linie, um die Monarchie als Verfassungsfonn, sosehr sie deren Vorzüge würdigen, sondern um die gei stige und sittliche Bildung des Herrschers, mag er nun König oder Tyrann sein. Sie ist von den Machthabern selbst schon deshalb zu erstreben, weil sie ein Regi ment bewirkt, das Sympathien erweckt und dadurch seinen Bestand sichert. Es wird also einem gewissen Abbau der Tyrannis insofern das Wort geredet, als eines ihrer wesentlichen Merkmale, der Widerwille der Beherrschten, entfallen soll, während ein zweites, das Fehlen gesetzlicher Bindung, unangetastet bleibt. Anders bei Platon, der sich nicht mit humanen und nützlichen Ratschlägen be gnügte, sondern durch einen Tyrannen den rechten Staat verwirklicht sehen wollte. Schon im «Staat» hatte er die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß Söhne von Dynasten oder Königen geboren würden, die kraft ihrer Veranlagung und Neigung zur Philosophie sich dieser Aufgabe unterziehen könnten. Dann hatte er auf den jüngeren Dionysios seine Hoffnung gesetzt und sich, wenn auch vergeblich, bemüht, ihn für sein Anliegen zu gewinnen. In den Jahren zwischen den beiden Aufenthalten des Philosophen in Syrakus (366 und 3 61/0) entstand der «Politikos«, eine Schrift, die im Vergleich mit der radikalen Ablehnung der Tyrannis im «Staat» einen gewissen Wandel der Einstellung erkennen läßt. Zwar der egoistische, seinen Begierden sklavisch frönende Gewalthaber wird nach wie vor aufs schärfste verdammt, aber das Moment der Ungesetzlichkeit der Herr schaft und ihrer Ablehnung durch die Bürger tritt zurück hinter der Forderung, daß ihr Inhaber das wahre politische Können und die wahre Erkenntnis besitzen
Fürstenspiegel. Pla/ans «Falitikas»
müsse. Ist dies der Fall, dann darf ein solcher Monarch nicht an Gesetze gebunden sein, die in ihrer unvermeidlichen Starrheit den wechselnden Verhältnissen unge nügend Rechnung tragen und ihn an der Betätigung seiner besseren Einsicht hin dern. Dann ist es auch gleichgültig, ob er mit Zustimmung der Bürger oder gegen ihren Willen herrscht, geschweige daß noch nach der formalen Legitimität seiner Stellung gefragt würde. Weiß er doch besser als die, welche Gesetze beschließen, was gerecht ist und dem Gemeinwesen frommt. An einer berühmten Stelle hatte Platon bereits im «Staat» den Sokrates sagen lassen, es gäbe für die Gemein wesen und wohl auch für die gesamte Menschheit keine Erlösung von den Miß ständen, wenn nicht entweder die Philosophen Könige oder die, welche jetzt Kö nige oder Dynasten hießen, Philosophen würden und politische Macht und Phi losophie in eins zusammenfielen. Jetzt wird in Weiterführung dieser und ver wandter Gedanken demjenigen, der die höchsten Herrscherfähigkeiten im Sinne Platons besitzt, eine schrankenlose Gewalt zugebilligt, wie sie im griechischen Bereich nur Tyrannen eignete. überzeugt, daß ohne die souveräne Macht eines einzelnen der Staat der Gerechtigkeit nicht geschaffen werden könne, gestattet der Philosoph dem wahren Staatsmann auch solche Maßnahmen, die den Geruch der Tyrannis an sich tragen : Verbannungen, Hinrichtungen, Aufnahme von Neubür gern, Entfernung von Mißliebigen durch Entsendung in Kolonien, sofern derglei chen ihm im Interesse seines höheren Zieles geboten scheint. Wie ein Arzt aus brennt und ausschneidet, soll er die verderblichen Elemente des Gemeinwesens ausmerzen. Auch von Isokrates und Xenophon wird dem guten Herrscher man ches zugestanden, was sonst als typisch für Tyrannen gilt, etwa das Halten von Söldnern und die Einschränkung von Hetairien, aber sie proklamieren doch nicht geradezu seine Unabhängigkeit von den Gesetzen und dem Willen der Bürger, rechtfertigen und befürworten auch nicht tyrannische Akte der angeführten Art. Freilich tut der Staatsmann Platons das Rechte und Gute, auch wenn er sich tyrannischer Mittel bedient, er denkt nicht an den eigenen Nutzen und seine per sönliche Lust, sondern an das richtig verstandene Gesamtwohl und die Verwirk lichung der Gerechtigkeit. Alle anderen Staatsformen sind mehr oder minder un vollkommene Nachahmungen der von ihm geschaffenen Verfassung, auch die landläufige Tyrannis, doch muß sie, gerade weil sie die größte Macht besitzt, als die verderblichste gelten. Denn der Tyrann, so wird auch hier betont, maßt sich ein absolutes Herrschertum an, ohne das wahre Herrschertum zu besitzen. Er hat weder das überlegene Können und Wissen noch hält er sich an die Gesetze, son dern dient nur sich selbst und seinen Gelüsten. Wird im «Politikos» der wahre Staatsmann über die bestehenden Gesetze ge stellt, so sind doch andererseits seine Anordnungen selbst Gesetze und um so verbindlicher, als sie politischem Können und echter Erkennmis entstammen, wie
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
sie niemals eine Menge, vielmehr nur ein einzelner oder wenige besitzen können. Ob aber wirklich ein Gewalthaber zugleich ein gesetzgebender Staatsmann im höchsten Sinne sein kann, ist dem greisen Platon, wohl nicht zuletzt auf Grund seiner Erfahrungen in Syrakus, sehr fraglich geworden. Die Realisierung der bestmöglichen gesetzlichen Ordnung, um die es ihm in seinem Alterswerk, den « Gesetzen» geht, ist nur durch eine Macht zu erreichen, wie sie der unbe schränkte Herrscher, der Tyrann, besitzt. Läßt sich von einem solchen die Erfül lung der Aufgabe erwarten? Wie die menschliche Natur nun einmal ist, wird ein Fürst, insonderheit ein jugendlicher, nicht stets verständig sein und seine egoistischen Triebe unterdrücken. Auch wenn der Vater ein guter König war, ent arten, wie das Beispiel des Kambyses und Xerxes zeigt, häufig die Söhne auf eine Art, die sie kaum noch von manchen Tyrannensöhnen unterscheidet. Eine Füh rung und Bindung ist nötig. Neben den Tyrannen muß der Gesetzgeber treten. Dann kann die Macht des Gewalthabers die von jenem konzipierten Gesetze in die Praxis umsetzen. Am ehesten wird das dort zu erreichen sein, wo der Gesetz geber mit einem jungen, aufgeschlossenen, gelehrigen, tatkräftigen und zugleich besonnenen Tyrannen zusammentrifft. Mit der Möglichkeit dieser Konstellation wird von Platon jetzt eher gerechnet als einst im «Staat». Aber das Nebenein ander von Tyrann und Gesetzgeber, bei dem diesem die Gesetzesschöpfung, jenem die Exekutive zufällt, befriedigt noch nicht ganz. Wenn etwa eine Auswahl unter den Bürgern vorgenommen werden soll oder schlechte Elemente auszuscheiden sind, ist es am besten, Tyrann und Gesetzgeber sind dieselbe Person. Das setzt freilich einen Machthaber voraus, der vom Verlangen nach Besonnenheit und Ge rechtigkeit erfüllt ist, wie es einst Nestor war. Einen solchen gibt es nicht mehr. Hat er einmal gelebt, sollte er künftig leben oder wider Erwarten in der Gegen wart doch vorhanden sein, dann ist nicht nur er selbst glücklich, sondern auch die, welche seine Weisungen empfangen. Das Nebeneinander von Gesetzgeber und Tyrann erscheint mithin nur als die zweitbeste Lösung. Die beste Verfassung und die besten Gesetze lassen sich erst verwirklichen, wenn größte Macht mit wahrer Einsicht und Vernunft sich in einem Manne ver einigen, sonst niemals. Es ist also, wie im «Politikos», die Tyrannis, aus der, wenn überhaupt, der beste Staat hervorgehen kann. Zum Gehorsam gegenüber den von dem idealen Tyrannen gegebenen Gesetzen sind die Bürger weder einseitig durch Zwang noch einseitig durch Überredung zu bringen; beides muß sich vielmehr verbinden, damit schließlich die freiwillige Anerkennung der neuen staatlichen Ordnung erreicht wird. Verfährt ein Tyrann, in dem sich die Gesetzlichkeit ver körpert, auf diese Weise, dann ist er zum gesetzestreuen Monarchen geworden, der mit Zustimmung der Bürger herrscht. Das heißt: er ist, da er jene beiden Merkmale verloren hat, welche sonst die Tyrannis kennzeichnen, Gesetzlosigkeit
Platons "Gesetze». Aristoteles: Erhaltung der Tyrannis
und Widerwille der Bürger, kein Tyrann mehr. Verdammenswerter Tyrann aber bleibt der Gewalthaber, der jenen hohen Forderungen nicht genügt oder sie miß achtet und statt der gesetzlichen Ordnung seinen persönlichen Interessen mit brutalen Maßnahmen dient. Er ist für Platon nach wie vor der schlechteste und zugleich unglücklichste Mensch. So stolz seine Macht auch scheinen mag, das Ge schick wird ihn ereilen. Jedem Tyrannen wird darum im achten Brief geraten, die Bezeichnung «Tyrann» und die ihr entsprechenden Taten zu meiden, seine Herr schaft vielmehr in ein gesetzlich beschränktes Königtum umzugestalten. Die aber, welche nach der Tyrannis streben, sollten das gepriesene Glück hab- und genuß süchtiger Machthaber verabscheuen und sich ebenfalls bemühen, die Herrschaft einem dem Gesetz unterworfenen Königtum anzupassen, denn dadurch würden sie nach dem Willen der Menschen und nach den Gesetzen im Besitz der höchsten Ehren bleiben. Sehr viel nüchterner sind die Ratschläge, die Aristoteles den Tyrannen gibt. Sie sind nicht von der Absicht bestimmt, die Tyrannis in ein gesetzlich beschränktes, von den Bürgern bejahtes Königtum umzuwandeln, sondern haben die Erhal tung der Tyrannis im Auge. Diese kann entweder mit brutaler Gewalt nach Art des Periandros behauptet werden, wie sie uns im Bild der reinen Tyrannis be gegnete, oder durch eine gewisse Milderung und mindestens scheinbare Anglei chung an ein legales Königtum. Indem der Philosoph darlegt, wie ein Gewalt haber, der den zweiten Weg einschlägt, sich verhalten müsse, berühren sich seine Weisungen zwar inhaltlich mit denen des Isokrates und Xenophon, bis zu einem gewissen Grade auch mit denjenigen Platons, doch sind sie im wesentlichen tak tischer Art und zeigen kein unmittelbares Bemühen um die Bildung des Macht habers zu einem idealen Herrscher. Wie das Königtum, so meint Aristoteles, sich dadurch das Verderben bereite, daß es tyrannisch werde, so lasse sich umgekehrt die Tyrannis dadurch erhalten, daß man sie «königlicher» mache, natürlich unter Beibehaltung der unbeschränk ten Macht, damit die Herrschaft auch gegen den Willen der Bevölkerung aufrecht erhalten werden könne. Denn wer die Macht preisgibt, gibt die Tyrannis preis. Im übrigen jedoch muß der Tyrann so handeln oder mindestens zu handeln schei nen, als spiele er die Rolle des Königs gut. Er wird also für den Staatshaushalt sorgen, nicht verschwenderisch private Geschenke machen noch großen persön lichen Aufwand treiben, sondern, wie schon einige Tyrannen taten, über Ein nahmen und Ausgaben Rechenschaft ablegen, damit er nicht als Tyrann, viel mehr als Verwalter erscheine. Ihm selbst werden dabei die Mittel nicht ausgehen, da er ja Herr über die Polis ist. Verlangt er Vermögenssteuer oder besondere Ab gaben, so soll er den Eindruck erwecken, daß die Finanzlage des Gemeinwesens oder Kriege ihn dazu zwängen, stets bemüht, als Wächter und Schatzmeister des
Der Tyrann im Urteil des vierten Jahrhunderts
allgemeinen, nicht seines persönlichen Besitzes zu erscheinen. Im Umgang mit den Bürgern zeige er sich nicht schwierig, sondern würdevoll ; nicht Angst er wecke er, sondern Ehrfurcht, wenn nicht durch andere Tugenden, so wenigstens durch kriegerische Tüchtigkeit. Wichtig ist ferner, daß er oder jemand aus seiner Umgebung nicht offensichtlich einem Jüngling oder einem Mädchen Schmach an tut, auch nicht Frauen seines Hauses anderen Frauen, denn durch Frevel der Frauen sind schon viele Tyrannenherrschaften zugrunde gegangen. Im Gegensatz zu manchen zeitgenössischen Tyrannen, die sich mit Wohlleben und Schwelgerei sogar öffentlich brüsten, empfiehlt es sich maßzuhalten, mindestens sich bei sol chem Treiben nicht sehen zu lassen. Ist doch der Nüchterne und Wache nicht so leicht anzugreifen und zu verachten. Aufs Ganze gesehen wird ein Tyrann, der in diesem Sinne verfährt, das Gegenteil von dem tun, was Aristoteles vorher als Maßnahmen der Herrschaftssicherung nach Art des Periandros angeführt hat. Verschönert er die Stadt, so hält man ihn statt für einen Tyrannen für deren Pfle ger, versteht er den Eindruck zu erwecken, als nehme er es mit der Göttervereh rung sehr ernst, dann gewinnt er Zutrauen und erschwert Anschläge gegen sein Leben, vorausgesetzt, daß er nicht plump verfährt. Fähige Bürger auszuzeichnen, Bestrafungen dagegen den Beamten und Richtern zu überlassen, gehört ebenso wie die Mahnung, würdevoll aufzutreten, zu den Ratschlägen, die sich auch bei Isokrates und Xenophon finden, doch fügt Aristoteles noch die Warnung an alle Monarchen hinzu, einen einzelnen Mann groß werden zu lassen. Gefahrloser ist es bei mehreren, weil diese sich gegenseitig in Schach halten. Wenn der Tyrann gleichwohl einen einzelnen herausheben zu müssen meint, so darf es jedenfalls kein tollkühner Mensch sein; entkleidet er jemanden seiner Machtstellung, so soll es sukzessiv geschehen. Bei Bestrafungen Jugendlicher muß er sich mit Rücksicht auf das empfindliche Ehrgefühl den Anschein väterlicher Absichten geben, Miß handlung und Gewalttat vermeiden und im Umgang mit ihnen Zuneigung, nicht Willkür zur Schau tragen. Was nach Kränkung aussieht, gilt es durch betonte Ehrungen wettzumachen, sind doch Leute, die vom Tyrannen Schimpf erlitten haben, in ihrem leidenschaftlichen Haß am gefährlichsten. Hinsichtlich der zwei in jeder Polis bestehenden Gruppen, Oligarchen und Demokraten, wird dem Tyrannen geraten, beide oder wenigstens die stärkere an seiner Herrschaft zu interessieren. Gelingt ihm das, dann braucht er nicht zu Mitteln wie Freilassung von Sklaven oder Entwaffnung der Bürger seine Zuflucht zu nehmen. Auf weitere detaillierte Anweisungen verzichtet Aristoteles mit dem Bemerken, die allgemeine Absicht seiner Ratschläge sei ja klar, nämlich daß man sich nicht tyrannisch, sondern kö niglich und als Verwalter, nicht eigensüchtig, sondern als Pfleger zeige, als ein Mann ferner, der Exzesse vermeidet und Maß hält, der mit Vornehmen auf glei cher Stufe verkehrt und die Menge durch Demagogie gewinnt. Bei solchem Ver-
Aristoteles: Erhaltung der Tyrannis
halten wird des Tyrannen Herrschaft, weil sie sich nunmehr über nicht ernied rigte Menschen erstreckt und weil sie weder gehaßt noch gefürchtet wird, besser, schöner und auch von längerer Dauer sein. Der Charakter eines Tyrannen dieser Art ist tugendhaft oder doch halb tugendhaft, nicht schlecht, sondern nur halb schlecht. Vom praktischen Gedanken, wie eine Tyrannis auch auf andere Art als die bru tale des Periandros erhalten werden könne, sind die Ratschläge des Aristoteles bestimmt. Manches, etwa die Warnung, einen einzelnen nid1t groß werden zu lassen und Leuten in mächtiger Stellung diese nur schrittweise zu nehmen, könnte auch für Tyrannen nach Art des Periandros gelten. Weder die Niederlegung der absoluten Gewalt noch ihre gesetzliche Beschränkung, wie sie nach Xenophon und Platon Lykurgos den lakedaimonischen Königen, um tyrannisches Gebaren zu verhüten, auferlegt hatte, steht zur Debatte. Daß der Tyrann über seine Finanz gebarung Rechenschaft ablegt, geschieht aus freiem Entschluß auf Grund utilitari stischer überlegungen. Und ebenso ist das, was er für die Stadt tut, oder die Änderung seines Lebensstiles und sein Verhalten gegenüber den Bürgern nur durch Berechnung bestimmt, ja fast ein Täuschungsmanöver. Wird doch immer wieder betont, daß es darauf ankomme, den Schein eines guten, fürsorglichen Fürsten zu erwecken. Die dadurch zu erreichende Sympathie der Bürgerschaft be deutet denn auch keine grundsätzliche Anerkennung der Tyrannis, geschweige daß sie ihr eine verfassungs ähnliche Grundlage gäbe, und die Annäherung an echtes Königtum bleibt trotz allem äußerlich. War es Isokrates, Xenophon und vor allem natürlich Platon auf Erziehung des Tyrannen zu einem sittlich hochstehenden, an Fähigkeiten und Einsicht überragenden Fürsten angekommen, so ist bei Be folgung der praktischen Ratschläge des Aristoteles ein gewisser Wandel des Cha rakters zum Guten nicht viel mehr als eine sekundäre Folge politischer Erwägun gen. Immerhin hat es der Philosoph für möglich gehalten, daß ein Tyrann sich als idealer Herrscher bewähre. Wozu nämlich die Darlegung der Praktiken, eine Ty rannis zu behaupten, keine Gelegenheit gab, das findet sich an anderen Stellen ausgesprochen. Emphatisch preist Aristoteles den Hermeias von Atarneus, der die beste, die «mittlere» Verfassung verwirklicht oder doch zu verwirklichen geholfen habe, und feiert in einem Paian die Arete des Mannes. Höchste Arete aber ist es, was den idealen König ausmacht, der - wie der Staatsmann Platons - über einem geltenden Nomos und den Gesetzen steht, ja selbst Nomos ist. Das Königtum, des sen Wert als Institution Aristoteles in mancherlei Hinsicht problematisch scheint, gilt ihm nur dann als die beste Verfassungen, wenn es von einem Mann mit dieser höchsten, Können, Wissen und alle Herrschertugenden umfassenden Arete ge tragen wird. Sein Wert ist durch die Persönlichkeit des Herrschers bedingt. Entfällt aber für den idealen König die Bindung an die Gesetze der Polis, so
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hebt sich auf oberster Ebene wenigstens in diesem Punkt die übliche Unterschei dung zwischen Königtum und Tyrannis auf. Es bleibt das zweite Kriterium : An erkennung oder Ablehnung durch die Beherrschten. Doch auch hier - und das selbe gilt für die in der sokratischen Definition des Königtums nicht erwähnte Für sorge für die Polis - werden die Grenzen fließend, wenn ein Tyrann sich mehr «kö niglich» als «tyrannisch» verhält. Ähnlich wie bei Isokrates, Xenophon und nament lich Platon verschiebt sich bei Aristoteles in einer für den Geist des 4. Jahrhun derts charakteristischen Weise das Schwergewicht von der Herrschaftsform auf die Herrscherpersönlichkeit, mag die mehr verfassungsmäßige Kennzeichnung der Tyrannis nach Ungesetzlichkeit und Widerwillen der Bürgerschaft auch fortwir ken. Schon Sokrates soll erklärt haben, daß Könige und Herrschende nicht die jenigen seien, die das Zepter führten und von den Nächstbesten gewählt würden, noch jene, die durch Losung dazu gelangten, oder solche, die Gewalt gebraucht und betrogen hätten, sondern diejenigen, die zu herrschen verstünden. Diese an keine legale Stellung gebundene Fähigkeit kann auch ein Tyrann besitzen. Ja die Tyran nis eröffnet sogar eher als das durch Traditionen oder Gesetze eingeschränkte Königtum die Möglichkeit, wahres Herrscherturn zu entfalten, wie denn auch Pla ton die Verwirklichung des rechten Staates von einem Tyrannen erhoffte. Schon in früheren Zeiten war gemäß dem rein persönlichen Charakter der Ty rannis das Verhalten des Gewalthabers für die Beurteilung mitbestimmend ge wesen. Von der Hybris, die damals in besonderem Maße den Tyrannen zu kenn zeichnen schien, ist im 4. Jahrhundert nicht mehr generell die Rede, wohl aber und zwar mit Nachdruck, von jenen Zügen, die stets als ihre Äußerungen erschie nen : Rechtsverletzung, Unterdrückung, Gewalttätigkeit, Raub und schamlose Be friedigung aller, auch der niedrigsten Begierden. Mit dem Zurücktreten der staats rechtlichen Unterscheidung und dem Überwiegen moralischer Kriterien wurden die mehr oder weniger verbrecherischen Momente vollends bestimmend für den Tyrannisbegriff und sind es seither durch die Jahrtausende geblieben. Verstand man aber unter tyrannischem Wirken die sittlich hemmungslose, despotische Ausübung jeder politischen Gewalt, dann konnte von Tyrannis auch gesprochen werden, wenn staatsrechtlich eine solche nicht bestand. So war schon das durch Volksbeschluß, freilich unter Druck, eingesetzte Kollegium der «Dreißig» als Tyrannen gebrandmarkt worden, so galt die legale Amtsgewalt der spartanischen Ephoren manchen als tyrannisch, und der von der Wehrgemeinde anerkannte König der Makedonen Archelaos war für platon das Muster eines Tyrannen. Noch leichter als früher ließ sich nun jeder feindliche oder auch nur unbequeme Herrscher zum Tyrannen stempeln, wie es Philipp und Alexander von seiten der antimakedonischen Redner in Athen widerfuhr. Ja schon der für Sparta uner wünschte Zusammenschluß von Argos und Korinth zu einem Einheitsstaat (394'3)
Individualeth ische Wertung des Tyrannen
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konnte von Xenophon als ein tyrannischer Akt des korinthischen Demos bezeich net werden. Je mehr aber der Begriff «Tyrann» moralisch gefaßt und verallgemeinert wurde, um so mehr löste er sich nicht nur vom Institutionellen, sondern auch vom innen politischen Bezirk der Polis, seinem Wurzelboden, ab. Den Griechen der vorsophi stischen Zeit war das persische Königtum als solches im Hinblick auf seine unbe schränkte Macht über die geknechteten Völker des Reiches als Tyrannis erschienen. Platon machte demgegenüber ausdrücklich einen Unterschied zwischen den einzelnen Königen. Während er im großen Dareios den Typus eines guten Königs und Gesetz gebers sah, meinte er von Kambyses und von Xerxes, daß sie wie Tyrannensöhne schlecht erzogen worden seien und in ihrer Herrschaft wie in ihrem Schicksal sich als Tyrannen erwiesen hätten. Xenophon andererseits stellte dem traditionsgebundenen, vom Volke anerkannten Königtum des Reichsgründers Kyros das tyrannische Regiment des Astyages gegenüber, der sich zum «Despoten» der Meder gemacht hatte. Die hier gültigen Maßstäbe der Gesetzlichkeit und Bejahung durch die Untertanen waren weitgehend auch für die staatstheoretischen Erörterungen des Aristoteles gültig, der freilich zwischen den einzelnen Fürsten oder Völkern der Barbaren nicht unterschied. Bei ihnen, so meint er, besitzen die Könige eine den Tyrannenherrschaften ähnliche Machtfülle, aber ihre souveräne Stellung ent spricht dem Nomos und ist überkommen, sie wird zudem von dem knechtischen Sinn der Barbaren willig ertragen, so daß sie gesichert ist und keiner Fremden als Leibwächter bedarf. Der sittliche Wert der Herrscherpersönlichkeit, der hier außer acht bleibt, klingt dagegen in der Charakterisierung des griechischen Kö nigtums an. Zwar wird für seinen Untergang in der Vergangenheit ein Grund darin gesehen, daß die letzten Könige sich wider den Nomos tyrannische Macht befugnisse anmaßten, und insofern am Kriterium der Gesetzlichkeit festgehalten, doch antwortet der Philosoph auf die Frage, warum keine neuen Königtümer mehr entständen und, wo dies dennoch der Fall sei, sie tyrannisähnlich oder reine Tyrannenherrschaften wären, ähnlich wie Platon mit der Feststellung, es gäbe nie manden mehr, der so hervorragte, daß er der Größe und Würde einer mit erheb lichen Machtvollkommenheiten ausgestatteten und gleichwohl freiwillig aner kannten Monarchie entspräche. Es liegt also an den mangelnden persönlichen Qualitäten der gegenwärtigen Machthaber, daß ihr Regiment von den Bürgern nicht anerkannt wird und daher kein «Königtum» ist, ganz abgesehen davon, daß für Aristoteles eine mit Betrug und Gewalt errichtete Monarchie ohnedies als Ty rannis gilt. Beim erblichen Königtum aber, meint er, geschehe es oft, daß verächt liche Naturen auf den Thron kämen, und wiewohl sie keine tyrannische, sondern eine königliche Stellung innehätten, Frevel begingen. Sichtlich werden dabei die sokratischen Maßstäbe für das, was als Königtum, was als Tyrannis anzusehen
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ist, mit der individual ethischen Wertung der Zeit verbunden. Und indem von AristoteIes nicht anders als von Platon mit derselben Gewißheit, mit der die Zu stimmung der Bürger zur Regierung eines wahren Königs angenommen, die Ab lehnung eines sd1lechten Herrschers vorausgesetzt wird, indem ferner der wahre König zwar nicht den Gesetzen der Polis untersteht, aber selbst den rechten No mos verkörpert, stellt sich auf der Ebene einer mehr ethischen als politischen Be urteilung wiederum freiwillige Anerkennnung und Gesetzlichkeit als Kennzeichen des Königtums gegenüber der Tyrannis ein.
S IEBENTES K A P I T E L
D I E H I S T O R I S C H E F U N K T I O N D E R J Ü N G E R E N TYRA N N I S Die uns geläufige Unterscheidung von älterer und jüngerer Tyrannis, die sich schon äußerlich im Hinblick auf eine fast tyrannenlose Zwischenzeit anbietet, kann sich auf kein antikes Zeugnis berufen. Selbst Aristoteles kennt diese Trennung nicht, höchstens daß er für das Entstehen von Gewaltherrschaften auf gewisse Verschiedenheiten in älterer und neuerer Zeit hinweist. Auch die durch die Un gleichheit des politischen Entwicklungsstandes und die Veränderung der Umwelt bedingten Variationen der Tyrannis im 4. Jahrhundert, die noch reicher sind als in spätarchaischer Zeit, werden von ihm kaum berührt. Während etwa in Thes salien das Aufkommen von Tyrannenherrschaften mit dem Erstarken städtischer Gemeinwesen gegenüber der traditionellen Feudalordnung zusammenhängt, so daß man versucht ist, von einem Nachläufer der älteren Tyrannis zu sprechen, in Phokis es noch der Stamm, nicht eine Polis ist, zu dessen Herren sich Heer führer aufwerfen, setzt in den meisten Gebieten des hellenischen Siedlungsberei ches die jüngere Tyrannis das Bestehen einer voll entwickelten, ja überreifen Polis voraus, die im Begriff steht, aus einem echten politischen Organismus zu einer den privaten Interessen der Bürger dienenden kommunalen Organisation zu werden. Wie einst die Unfertigkeit und die dadurch bedingte Schwäche der Polis Tyrannenherrschaften ermöglicht hatte, so ist es nun eine gewisse innere Schwä che des Spätzustandes, die ähnliche Folgen zeitigt, so verschieden auch die Um stände und damit die historische Funktion der Tyrannis geworden sind. In archaischer Zeit hatte die Tyrannis, die ein revolutionäres Übergangsstadium vom Adels- zum Bürgerstaat darstellte, zum Entstehen oder zur Ausbildung der neuen Gemeinschaftsordnung, der klassischen Polis, indirekt und wider Willen beigetragen, indem sie durch Nivellierung der Stände die künftige Gleichheit der Vollbürger, durch ihr auf bloßer Macht, nicht auf gesetzlicher Basis ruhendes Ge waltregiment das Verlangen nach einem freien, sich selbst die politische Fonn gebenden Gesetzesstaat erweckte. Die Funktion der jüngeren Tyrannis war natur gemäß eine andere. Sie bereitete nicht der Verwirklichung einer neuen Gestalt des Stadtstaates ungewollt die Bahn, sondern förderte unmittelbar und nicht selten sogar bewußt einen bereits im Gange befindlichen Prozeß, den man als zuneh mende Kommunalisierung der Polis bezeichnen darf. Der wachsenden Bedeutung privater Belange, der nachlassenden Bereitschaft der Bürger zum Kriegsdienst, dem
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Die historische Funktion der jüngeren Tyrannis
Hervortreten des Fachlichen und Technischen gegenüber dem Allgemeinen und Ursprünglichen, des Wirtschaftlichen gegenüber dem Politischen entsprach es, wenn Tyrannen die Bürgerschaft zu entpolitisieren suchten, Kriege vornehmlich mit eigenen Söldnern führten, fachliche und technische Leistungen begünstigten und nicht nur im Hinblick auf Zoll- und Steuereinkünfte sich am materiellen Ge deihen ihrer Stadt interessiert zeigten. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob die jüngere Tyrannis Wesentliches dazu beigetragen hat, die aus jenem Prozeß er wachsenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen der Polis, denen gerade die bedeutendsten Gewalthaber ihren Aufstieg verdankten, zu überwin den. Verschärfte sich doch seit dem Ende des 5. Jahrhunderts infolge einer immer krasseren Ungleichheit des Besitzes der Gegensatz von Reich und Arm, Oligarchen und Demos derart, daß es vielerorts zu schweren, mit größter Brutalität ausgetra genen Bürgerkämpfen kam, die häufig auch die außenpolitische Selbstbehauptung der Städte in Frage stellten. Daß angesichts der inneren und äußeren Nöte, in welche die Polis geriet, man sich in den Kreisen der Gebildeten fragte, ob nicht der bestehenden Misere die Leitung des Staates durch einen maßvollen, sich im Rahmen der gesetzlichen Ord nung haltenden oder gar diese Ordnung selbst repräsentierenden Mann vorzu ziehen sei, ist auch ohne den in diese Richtung weisenden Einfluß der Sophistik begreiflich. Ebenso begreiflich freilich auch die Scheu der im allgemeinen olig archisch gesinnten Besitzenden, sich einem aus ihren Reihen unterzuordnen, der sie zu Verzichten und Opfern nötigen könnte, wofern er nicht gar sein Amt, wie zu befürchten stand, zur Errichtung einer reinen Tyrannis mißbrauchte. Auch hat ten die Oligarchen selten die Möglichkeit, eine derartige Umgestaltung der Staats ordnung in die Wege zu leiten, schon weil sie in Faktionen gespalten waren, von denen jede ihre eigenen egoistischen Interessen verfolgte und, wenn sie mit frem der Hilfe an die Macht gelangte, wie etwa in Theben, sich in ihrem Gebaren von Tyrannen wenig unterschied. Das Verlangen nach einem maßvollen, gesetzestreuen Monarchen, das in den gebildeten Kreisen laut wurde, hat denn auch nur ganz selten Verwirklichung erfahren ; selbst Schüler Platons sind der Versuchung tyran nischen Wirkens erlegen. Dem reinen Tyrannen, der meist im Gegensatz zu den Oligarchen die Herrschaft gewann, haben diese nicht minder feindlich gegenüber gestanden als einst die Aristokraten den Gewalthabern ihrer Zeit. Zwar fühlten sie auch in demokratischen Staatswesen durch Sykophantenturn und Mehrheits beschlüsse ihren Besitz bedroht, aber unter einer Tyrannis waren sie oft weit Schlimmerem ausgesetzt : Vermögenskonfiskation, Verbannung, wo nicht gar Tö tung. Zum mindesten sahen sie sich bis auf diejenigen, die sich dem Gewalthaber anzuschmiegen wußten, jedes politischen Einflusses beraubt, den sie selbst in einer radikalen Demokratie dank Besitz und Tradition in gewissem Umfang noch aus-
Verhältnis von Oligarchen und Demo kraten zur Tyrannis
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üben konnten. Im übrigen war in ihnen, bei denen die Lehren der zeitgenössischen Staatsphilosophen am ehesten Resonanz fanden, der Wille zum Freistaat lebendig und stark genug, daß sie grundsätzlich, nicht bloß aus egoistischen Motiven, die Tyrannis ablehnten. Sogar Dion hat, als er sich zu tyrannischen Maßnahmen ge drängt fühlte, die Anhängerschaft der Oligarchen verloren. Lediglich dort, wo eine starke auswärtige Macht Tyrannen einsetzte oder stützte, wie die Perser es in der östlichen Ägäis taten, haben Oligarchen darin innen- und außenpolitisch einen Schutz der eigenen Interessen gesehen und gegen einen solchen Stadtherrn keine Abneigung gezeigt. Sich selbst tyrannische Macht anzueignen, trugen freilich we der einzelne Männer noch Gruppen aus den Reihen der Oligarchen Scheu, und die Masse des Volkes in den demokratisch organisierten Poleis hat sich mit Grund durch Gesetze zur Erhaltung der Verfassung in gleicher Weise gegen Tyrannis wie Oligarchenherrschaft zu sichern gesucht. Denn dem Demos dieser Städte ging es um die Wahrung und Erfüllung der demokratischen Ordnung samt allen materiellen Vorteilen und ideellen Werten, die sie einer ebenso eigensüchtigen wie romantischer Freiheitsbegeisterung fähi gen Menge bot. Beides war in den oligarchisch regierten Gemeinwesen den niede ren Schichten mehr oder weniger versagt. Hier verlangte das Volk nach politischer Gleichberechtigung und fast mehr noch nach Beseitigung der infolge zunehmender kapitalistischer Wirtschaftsgebarung zwar allenthalben eingetretenen, unter der Herrschaft einer besitzenden Minderheit jedoch besonders kraß gewordenen Un gleichheit der Lebensumstände. Demagogen, die eine grundlegende Änderung die ser Situation oder gar völlige Neuaufteilung des Bodens verhießen, durften einer großen Anhängerschaft sicher sein, die bereit war, ihnen eine Macht in die Hand zu geben, kraft deren sie die gesamte Stadt vergewaltigen konnten. An die Gefahr, die damit für die Freiheit des Gemeinwesens heraufbeschworen wurde, dachte man offenbar kaum, wie denn die Menge auch, nachdem die Tyrannis auf irgend eine Weise errichtet war, sich bereit zeigte, sie hinzunehmen, wenn die wirtschaft liche Lage einigermaßen erträglich wurde. Schon Aristoteles hat das bemerkt, und nicht wenige Tyrannen haben durch Bauten und andere Unternehmen, die der ärmeren Bevölkerung Verdienstmöglichkeiten gaben, dieser Tatsache Rechnung getragen. Erst wenn die materiellen Erwartungen bitter enttäuscht wurden oder man gar erkennen mußte, daß die Bedrückung durch den Tyrannen schlimmer war als vorher durch die Besitzenden und Regierenden, entzündete sich im Volk das Freiheitsideal, um nach dem Tode oder der Vertreibung des Tyrannen, auch wenn sie nicht durch einen allgemeinen Aufstand herbeigeführt worden waren, in Verdammung seines Andenkens und Racheakten an seiner Familie zu trium phieren. Einen grundsätzlichen, zukunftsträchtigen Wandel der politischen Struktur des
Die historische Funktion der jüngeren Tyrannis
griechischen Stadtstaates, der als kommunale Organisation, zu der er ohnehin weitgehend wurde, im allgemeinen auch unter der Gewaltherrschaft eines einzelnen bestehenblieb, hat die jüngere Tyrannis nicht gezeitigt. Selbst dort nicht, wo sie ausnahmsweise von längerer Dauer war. Höchstens daß die demokratische Form, die freilich allgemein im Vordringen war, durch die Demagogen-Tyrannen bei ihrem Aufstieg gefördert, nach Gewinnung der monarchischen Macht bestehen gelassen und in einigen Fällen durch Aufnahme von zahlreichen Neubürgem er weitert wurde. Auch an der sozialen Struktur hat sich durch die Tyrannenherr schaften nichts Wesentliches geändert. Die von einigen künftigen Gewalthabern versprochene Neuaufteilung des Bodens ist, soweit wir sehen, von keinem nach Erreichung seines Zieles durchgeführt worden, und wenn in manchen Städten ein großer Teil der besitzenden Oligarchen seiner Güter beraubt wurde, so traten, indem der Tyrann seine Anhänger damit ausstattete, diese an die Stelle der Ex propriierten und bildeten zusammen mit den verschont Gebliebenen weiterhin eine Schicht der Reichen, denen die besitzlose Menge mit derselben Feindschaft gegenüberstand wie ihren Vorgängern. Die soziale Krise blieb letztlich die glei che, von dem Gewaltregiment nur zeitweise überdeckt, um nach seinem Ende in unverminderter Schärfe wider offen zutage zu treten und womöglich einem neuen Tyrannen den Aufstieg zu ermöglichen. Am ehesten hat noch auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet das Wirken fortschrittlich gesinnter Machthaber zukunfts voll gewirkt, indem unter ihnen Handel und Gewerbe einen beträchtlichen Auf schwung nahmen, doch lag dies im Zuge der Zeit und war nicht auf die Städte beschränkt, die unter eine Tyrannis gerieten, ganz abgesehen davon, daß deren Kurzlebigkeit im allgemeinen zu dauernden Neuerungen kaum die Möglichkeit gab. Aufs Ganze gesehen hat die jüngere Tyrannis weder innenpolitisch noch so zial noch wirtschaftlich epochemachend gewirkt. Insofern steht sie an historischer Bedeutung hinter der älteren Tyrannis zurück. Als Herrschaftsform unterscheidet die jüngere Tyrannis sich von der älteren grundsätzlich nicht. Neue Spielarten, die durch die inzwischen vollzogene organi satorische Vervollkommnung der Polis bedingt sind, berühren kaum den funda mentalen Tatbestand der Ungesetzlichkeit einer auf persönliche Anhängerschaft und mehr oder minder verbrämte Gewalt gegründeten, keiner Rechenschaftspflicht unterworfenen Alleinherrschaft. Denn auch wenn die übertragung eines außer ordentlichen, mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Oberamtes die Errich tung einer Tyrannis ermöglichte, war deren Basis weniger dieses Amt als die außerstaatliche Machtstellung, die sein Inhaber dank eigenen Söldnern, einer star ken Gefolgschaft oder durch den Besitz von ihm unterworfener Territorien ein nahm. Auch die Wege, auf denen die Tyrannis erlangt werden konnte, waren großenteils dieselben wie in archaischer Zeit: Durch demagogische Faszinierung
Soziale Wirkung. Außenpolitische Bedingtheit
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der aufbegehrenden niederen Schichten, durch Aktivierung einer oligarchischen Hetairie, durch überrumpelung mittelst einer aus privaten Mitteln aufgestellten Truppe, durch Ergebenheit gegenüber einer starken auswärtigen Macht, die ihre Oberhoheit über die betreffende Stadt durch das Regiment eines von ihr wo nicht eingesetzten, so doch ausgehaltenen und daher auf sie angewiesenen Gewalthabers am besten gewährleistet glaubte. Eine neue Erscheinung jedoch, die erst möglich wurde, seitdem gegen Ende des 5. Jahrhunderts griechische Staaten in zunehmen dem Maße Söldner anwarben, ist die Gewinnung der Tyrannis durch Befehlshaber solcher Formationen. Im allgemeinen waren es fremde Städte, in deren Besitz sich diese Männer, obwohl Amtsträger ihrer heimischen Polis, setzten, um hier als un umschränkte Herren walten zu können. Sie, doch ebenso diejenigen, die dank einer der schon einst geübten Praktiken zur Tyrannis gelangten, gehörten wohl gelegentlich alten vornehmen Familien an, aber im Gegensatz zur archaischen Zeit, in dem nur Adlige es wagen konnten, sich zum Herrn einer Stadt zu machen, begegnen in dem verbürgerlichten 4. Jahrhundert Leute aus dem Mittelstand - wie Dionysios -, und sogar ein Austernfischer soll sich zum Tyrannen aufgeschwun gen haben. Läßt in vielen Fällen sich die soziale Herkunft auch nicht mehr be stimmen, so wird doch so viel deutlich, daß edles Geschlecht keine Rolle mehr spielte, geschweige daß es die Voraussetzung für Gewinnung und Ausübung der Alleinherrschaft gebildet hätte. Das ist nicht ohne Wirkung auf den Charakter der jüngeren Tyrannis gewesen. Der adlige Tyrann der frühen Zeit blieb trotz Unter drückung seiner Standesgenossen doch persönlich dem Adelstum verhaftet und weitgehend an dessen Sitte und Normen gebunden, der Individualismus der nach sophistischen Epoche dagegen gestattete dem von keinen Standestraditionen um fangenen Gewalthaber eine ungehemmte re Ausübung der Herrschaft, deren Mög lichkeiten gerade der Emporkömmling auszukosten suchte. Das Tyrannenbild in der zeitgenössischen Literatur und zahlreiche Einzelangaben zeugen davon. Nur ganz wenige Männer haben im Banne staatsphilosophischer und ethischer Lehren den Besitz der absoluten Macht als Verpflichtung empfunden. Das 4. Jahrhundert war eine Zeit, in der mehr als bisher in Griechenland die außenpolitische Situation Schicksal und Haltung der Staaten bestimmte. Grund sä,zliche Tyrannenfeindschaft konnte selbst für die Städte, die bei sich keinen Ty rannen aufkommen ließen, in den auswärtigen Beziehungen nicht maßgebend sein. Begünstigungen von Tyrannen oder ein Zusammengehen mit ihnen haben weder Sparta noch Athen gescheut, wenn sie sich davon Vorteile und eine Stärkung der eige nen Macht versprachen. Was aber die Tyrannis als solche betrifft, so hat das Eindrin gen König Philipps in Hellas das Aufkommen einer Anzahl Klienteltyrannen gezei tigt und damit diese Erscheinung, die einst im wesentlichen auf die westlichen Rand bezirke des Perserreiches beschränkt gewesen war und dort sich auch jetzt wieder fand,
Die historische Funktio1l der jüngeren Tyrannis
im Mutterland heimisch gemacht. Mindestens zu einem guten Teil außenpolitisch bedingt hatte sich auf Sizilien schon die ältere Tyrannis gezeigt. Wie damals die Notwendigkeit einer straffen Führung im Kampf gegen die Karthager und andere Barbarenvölker dazu drängte, sich einem fähigen und kraftvollen Manne zu unter stellen und seine Tyrannis in Kauf zu nehmen, wo nicht gar zu bejahen, so war es wiederum die von den Puniern drohende Gefahr, die Dionysios zur Errichtung und Behauptung der Alleinherrschaft verhalf. An ihm wird zugleich ein anderer Zug deutlich, der zwar schon einigen der frühen Tyrannen eignete, im Zeitalter hegemonialer Machtentfaltung jedoch erst zu voller Auswirkung kam, das Stre ben nach einer nicht nur auf eine einzelne Stadt beschränkten, sondern zahlreiche Gemeinwesen umfassenden Territorialherrschaft. Im Mutterland war es J ason von Pherai, der dieses Ziel verfolgte, am Kimmerischen Bosporos das Haus der Spar tokiden, in Kleinasien Klearchos und Dionysios von Herakleia, und auch Euago ras und Maussolos, wiewohl keine Tyrannen, sind in diesem Zusammenhang zu nennen. üb die Autonomie der von ihnen in Abhängigkeit gebrachten Städte einigermaßen geachtet, empfindlich eingeschränkt oder gar aufgehoben wurde -, die Stellung dieser Tyrannen und Fürsten gegenüber den Poleis scheint bereits auf diejenige der Könige und Dynasten nach Alexander hinzuweisen, wie auch der Typus des Condottiere-Tyrannen in hellenistischer Zeit seine Fortsetzung findet. Daß die Hofhaltung machtvoller Tyrannen, im besonderen des Dionysios in Sy rakus, mit burg artiger Residenz, leibwache, Rat der Freunde und der Gloriole eines Kreises von Dichtern und Philosophen wie eine Vorwegnahme hellenisti scher Königsrepräsentation wirkt, ist bereits an anderer Stelle bemerkt worden, doch war dort auch der wesentliche Unterschied selbst der größten Tyrannen herrschaften gegenüber den Reichen der Diadochen zu betonen. Weder an ein Stammeskönigtum noch an sonst eine in der Bevölkerung ein gewurzelte monarchische Tradition konnten die Tyrannen des 4. Jahrhunderts an knüpfen. Ihre Herrschaft erstreckte sich zudem mit wenigen Ausnahmen nur über Griechenstädte, meist nur über eine Stadt, und entbehrte im allgemeinen der Basis außerhalb dieses Bereiches, die für das Verhältnis der hellenistischen Herrscher zu den Poleis innerhalb ihrer Machtsphäre grundlegend war. Die Tyrannen blieben mit ihrer Existenz der Polis verhaftet und damit einer Staatsform, die zu ihrer Herr schaft in unaufhebbarem Gegensatz stand. Denn mochte Isokrates auch zeitweise das politische Heil für Hellas von einem Tyrannen erhoffen, der griechische Staats gedanke und Staatswille war auch noch in seiner Zeit, wie er selbst bemerkt, im Grunde monarchenfeindlich. Die Tyrannis konnte, wenn sie der Selbstzerflei schung der Bürgerschaft ein Ende bereitete, vor auswärtigen Feinden rettete oder wirtschaftlichen Aufschwung brachte, wohl eine Zeitlang hingenommen werden, die Kluft zwischen ihr und der Polis aber schloß sich nie, mochten einzelne Ge-
Tyrannis und hellenistisches Königtum
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walthaber auch durch maßvolle Herrschaft oder panhellenische Parolen sie zu überbrücken suchen. Allein auf der Persönlichkeit des Gewalthabers und seiner momentanen Macht ruhend, blieb die Tyrannis auch im 4. Jahrhundert ephemer, wie sie es stets gewesen war. So konnte es trotz einer gewissen inneren Verwandt schaft und äußeren Ähnlichkeit, die uns in den folgenden Kapiteln noch mehrfach be gegnen wird, nicht ihre historische Funktion sein, das absolutistische Königtum der hellenistischen Zeit anzubahnen, das aus anderen Wurzeln erwuchs. Bezeichnen derweise ist nur am Kimmerischen Bosporos, wo die Stadtherren durch Usurpierung barbarischer Stammeskönigtümer sich eine breite und überpersönliche Machtbasis außerhalb der griechischen Poleis legen konnten, die Tyrannis nicht nur andert halb Jahrhunderte lang erhalten geblieben, sondern schließlich zu einem den hel lenistischen Monarchien vergleichbaren Königtum geworden, während die An nahme des Königstitels durch Dionysios von Herakleia nichts daran zu ändern vermochte, daß seine Herrschaft im Grunde Stadttyrannis blieb und als solche nach seinem Tode bald zusammenbrach.
D I E TYRAN N I S
V I E RT E R T E I L
I N H E LL E N I S T I S C H E R Z E I T
Die Darstellung der griechischen Tyrannis im Zeitalter des Hellenismus, den drei Jahrhunderten von Alexanders Tod bis zur Schlacht von Actium und deren Fol gen, begegnet, auch abgesehen von der Dürftigkeit der Überlieferung, einer Reihe von Schwierigkeiten. Wurde die Bezeichnung «Tyrann» schon früher vielfach in einem Sinne gebraucht, der weniger die staatsrechtliche Situation als die harte und willkürliche Handhabung eines Amtes oder einer Herrschaft betraf, so war von den Philosophen und Publizisten des 4. Jahrhunderts der moralische Bedeutungs wert der Wörter Tyrann, Tyrannis und tyrannisch derart in den Vordergrund ge rückt worden, daß sie, zumal in der Umgangssprache, über den rechtlichen und politischen Sachverhalt kaum noch etwas aussagten. Nicht nur jeder gewalttätige Herrscher, auch jeder unbequeme Staatsmann und überhaupt jeder politische Feind konnte leicht zum Tyrannen gestempelt werden. Wie Philipp und Alexander sind legitime hellenistische Könige wegen der Art ihrer Herrschaft und Politik oder auch auf Grund ihres Charakters von Zeitgenossen als Tyrannen gebrandmarkt, von späteren Schriftstellern als solche geschildert worden. Dasselbe gilt für kleinere Territorialfürsten, Statthalter und Gouverneure, für ordnungsmäßig bestellte lei tende Beamte einer Polis und Männer, die dank großem Reichtum und hohem An sehen in einer Stadt die maßgebende Rolle spielten. Noch weniger als in den vor aufgehenden Zeiten läßt sich daher aus der bloßen Bezeichnung «Tyrann» auf wirkliche Tyrannis schließen. Andererseits können sich unter der Bezeichnung «Dynastes», die in der Amtssprache des Seleukidenreiches Territorialfürsten meint und auch von uns fortan in diesem Sinne gebraucht werden soll, bei Schriftstellern wie Diodor jedoch auch promiscue mit «tyrannos» erscheint, echte Stadttyrannen verbergen. Und selbst wo kein titularer Hinweis gegeben ist, bleibt zu untersu chen, ob nicht die Art seines Wirkens einen Mann als Stadttyrannen erweist oder wenigstens ein Anklang an echte Tyrannis festzustellen ist. Daß die Grenzen zwi schen dieser und einer legalen Amtsstellung in hellenistischer Zeit noch fließender werden, als sie es schon im 4. Jahrhundert waren, bereitet einer eindeutigen Be stimmung weitere Schwierigkeiten. Gleichwohl wird in einem Buch, das der Tyran nis bei den Griechen gewidmet ist, versucht werden müssen, diese Grenzen nach Möglichkeit zu ziehen, wenn das Fortleben der Tyrannis in den späten Jahrhun derten der griechischen Geschichte begriffen und zur Geltung gebracht werden soll. Relativ einfach liegt der Fall, wo es sich einwandfrei um rechtmäßige Könige und Fürsten oder von diesen eingesetzte Beamte (Strategen, Phrurarchen, Epimele ten usw.) handelt, da sie als solche außerhalb des Rahmens unseres Themas bleiben und nur insofern zu berücksichtigen sind, als sich bei ihnen, etwa einigen Lakedai-
Die Tyrannis in hellenischer Zeit
monierkönigen oder selbstherrlichen Besatzungskommandanten, Elemente einer Stadttyrannis finden können. Weniger leicht ist dagegen auszumachen, ob andere, in der Überlieferung als Tyrannen bezeichnete Machthaber wirklich diesen zuzu rechnen sind oder ob sie nicht vielmehr Territorialherren, Stammes- oder Räuber häuptlinge, Führer aufständischer Sklavenmassen und dergleichen waren, ohne daß im strengen Sinne von Tyrannis gesprochen werden könnte. Denn als Tyrann kann, politisch gesehen, nach wie vor nur ein Machthaber gelten, der ohne recht liche Befugnis und gesetzliche Bindung seine Gewalt über eine oder mehrere grie chische Städte in einer Weise ausübt, daß deren Autonomie erheblich gemindert, wo nicht aufgehoben ist. Gesetzlosigkeit und Gesetzwidrigkeit einer nicht übertra genen, sondern usurpierten Herrschaft, die, auch wenn sie von der Bürgerschaft widerstandslos ertragen wird, letztlich auf nackter Gewalt ruht, diese mindestens latente Spannung zwischen der Polis und dem, der sich zu ihrem Herrn gemacht hat, bleibt auch in den Jahrhunderten nach Alexander das Kennzeichen griechischer Tyrannis. Was ihre Träger betrifft, so werden, entsprechend der Angleichung von Makedonen und Griechen, die sich in diesem Zeitraum vollzieht, makedonische Stadtherren einzubeziehen und auch hellenisierte Orientalen zu berücksichtigen sein. Desgleichen ist hinsichtlich der Herrschaftsobjekte der Blick nicht nur auf die rein griechischen, sondern auch auf die gräzisierten, polisähnlichen Städte der öst lichen Länder zu richten. Dagegen können die Staatenbünde und Bundesstaaten der hellenistischen Zeit außerhalb der Betrachtung bleiben, höchstens daß sie am Rande erscheinen. Denn der Gegenspieler der Tyrannis bei den Griechen ist durch die Jahrhunderte hin der autonome Stadtstaat, der auch jetzt noch, wenngleich zu meist der alten Bedeutung entbehrend, sein Lebensrecht inmitten einer veränderten Welt behauptet. Über ihm die Tyrannis aufzurichten bieten sich innen- und außenpolitisch einern herrschsüchtigen, verwegenen und fähigen Manne noch dieselben Möglichkeiten wie einst. Die sozialen Krisen dauern im ganzen griechischen Siedlungsbereich an, Kämpfe gegen auswärtige Mächte legen die Bestellung eines Feldherrn mit weit reichenden, der Errichtung einer Tyrannis günstigen Vollmachten nahe, die Ver wendung von Söldnern durch die Städte zeitigt nach wie vor ein Condottierentum, das häufig nach Errichtung einer eigenen Herrschaft verlangt; auch an Einsetzung oder Unterstützung von Klienteltyrannen durch die großen Könige, an Vergebung von Städten als Lohn für ihnen geleistete wertvolle Dienste fehlt es jetzt so wenig wie zur Zeit des Perserreiches. Dazu üben die hellenistischen Monarchien auf ehr geizige und machtlüsteme Männer einen Anreiz aus, wenigstens im kleinen Rah men der Stadtherrschaft eine ähnlich absolute Machtstellung einzunehmen wie die Könige und womöglich durch Eroberung größerer Gebiete ihnen an Umfang der Herrschaft und Glanz ebenbürtig zu werden. Die Rivalität der Diadochen und
Abgrenzl/ng des Themas. Arten der Tyrannis
ihrer Nachfolger kommt namentlich in der östlichen Ägäiswelt und Kleinasien solchen Bestrebungen zugute. In den Ländern der Levante mit ihren alten Stadt königtümern und monarchischen Tempelherrschaften finden zudem kühne Aben teurer in Zeiten allgemeiner Wirren Gelegenheit, sich an die Stelle eines früheren Fürstenhauses zu setzen. Auch hier wird freilich stets zu fragen sein, ob die Be zeichnung als Tyrann zu Recht besteht und ob es sich wirklich um eine griechische und im oben skizzierten Sinne echte Tyrannis handelt.
E R S TE S K A P I TEL
DAS M U T T E RLA N D U N D M A K E D O N I E N
l. D I E Z E I T D E R D I A D O C H E N ( 3 2 3 - 2 7 6)
Während der beiden ersten Jahrzehnte nach Alexanders Tod scheint es in Hellas keine Tyrannenherrschaften gegeben zu haben. Wo solche mit Duldung oder För derung des Verwesers Antipatros unter dem großen König zunächst bestanden hatten, waren sie auf Grund von dessen Erlaß (330) aufgelöst worden. Die älteren Diadochen suchten sich der Gemeinwesen Griechenlands im allgemeinen nicht durch Begünstigung einzelner Machthaber zu versichern, sondern unterstützten entweder - wie Antipatros und Kassandros - oligarchische oder - wie Polyperchon, Antigonos und Demetrios Poliorketes - demokratische Regierungen. Immerhin hat Athen zur Zeit des Kassandros zweimal unter der Leitung von Männern gestan den, die mit Recht oder Unrecht als Tyrannen bezeichnet werden konnten. 1.
ATHEN
Während der Jahre 317 bis 307 nahm Demetrios von Phaleron eine fast monar chische Stellung ein. Als Vertrauensmann des Kassandros mochte er an die einst von König Philipp in manchen Städten ausgehaltenen Gewalthaber erinnern, so daß begreiflich ist, wenn seine Gegner von einer Tyrannis sprachen und ihm vor warfen, daß er wie Tyrannen staatliche Gelder für seine angeblich sehr üppigen Gastereien verwende. Gleichwohl ist er nicht als Tyrann anzusehen, denn der unter der oligarchischen Verfassung wahlberechtigte Teil der Bürgerschaft hatte ihn legal, wenn auch unter dem Druck des Makedonen und seiner Besatzung, zum Leiter (Epimeletes) des Staatswesens berufen und übertrug ihm zeitweise noch zusätzlich das Amt des Archon oder eine der Strategenstellen. Auch war das kluge und maßvolle Regiment des hochgebildeten Peripatetikers von egoistischer Gewaltherrschaft weit entfernt. Eine solche hätte zudem schwerlich den Wünschen des Kassandros entsprochen, der durch ihre Duldung nicht nur außer den Demo kraten auch die Oligarchen in Athen gegen sich aufgebracht, sondern zugleich seinen Rivalen im Ringen um Hellas die zündende Parole des Tyrannensturzes an die Hand gegeben hätte. Erst nach dem Ausscheiden des Polypcrchon (303) und
Demetrios von Phaleron. Lachares
der Niederlage des Antigonos und seines Sohnes bei Ipsos (301) schien diese Rück sicht nicht mehr in gleichem Maße vonnöten. Jetzt begegnet in Athen ein echter Tyrann. Schon bald nach dem Abzug des Demetrios Poliorketes (Herbst 302) begann in der Stadt, deren demokratische Verfassung 307 wiederhergestellt worden war, ein gewisser Lachares als Führer des Demos eine Rolle zu spielen. Ob er maß gebend an dem attischen Volksbeschluß beteiligt war, der dem geschlagenen Demetrios Poliorketes den Einlaß in Athen mit dem Hinweis darauf verweigerte, daß man keinen König mehr aufnehmen wolle (300), muß offen bleiben. Zum Strategen der Söldner des attischen Staates gewählt, entzweite er sich mit seinem Kollegen Charias, dem Strategen der Bürgertruppen, der auch nach Anerkennung der Autonomie Athens durch König Kassandros (299) diesem feindlich gegenüber gestanden haben dürfte, während Lachares zu ihm hielt und von ihm ermuntert worden sein soll, sich der Tyrannis über die Stadt zu bemächtigen. Offenbar um dieser Gefahr zu begegnen, besetzte Charias die Akropolis, scheint aber die Er wartungen des Volkes hinsichtlich einer zureichenden Versorgung mit Lebensmit teln enttäuscht zu haben, was seinem Gegner zugute kommen mußte. Es gelang Lachares, den Charias samt seinen Truppen aus der Burg zu vertreiben und in der Volksversammlung die Hinrichtung des Mannes und seiner nächsten Genossen durchzusetzen, die vergeblich im Tempel der Athena Asyl gesucht hatten. Der Sieg war jedoch insofern kein vollständiger, als Charias' Truppen, denen freier Abzug gewährt worden war, sich zusammen mit einem Teil der städtischen Be völkerung in den Besitz des Piräus setzten, aus dem sie Lachares nicht zu vertrei ben vermochte. In Athen dagegen gebot er, der mit den ihm sichtlich ergebenen Söldnern die Akropolis innehatte und mindestens anfänglich die Sympathie der Mehrheit des Demos besaß, anscheinend unbeschränkt. Nach mehr als zweihun dert Jahren war die Stadt wieder einem Tyrannen anheimgefallen (wohl 299/8). Daß Lachares auch für die nächsten Jahre zum Strategen der Söldner gewählt wurde, ist nicht bezeugt. Aber selbst wenn es geschehen sein sollte, würde es nichts an der Tatsache ändern, daß er sich der Miettruppen wie ein Tyrann zur Sicherung seiner Herrschaft bediente. Um sie entlohnen zu können, hat er das berühmte Gold-Eifenbeinbild der Athena Parthenos seines metallenen Schmuckes entkleiden lassen, auch die goldenen Schilde auf der Burg und die kostbare Aus stattung mancher Gebäude beschlagnahmt, Maßnahmen, die ihm als Gottesfrevel vorgeworfen wurden. Wohl hatten die Athener am Ende des 5. Jahrhunderts heiligen Besitz für kriegerische Zwecke in Anspruch genommen, doch war das Verfahren des Lachares, mochte es auch Söldner betreffen, die offiziell im Dienste der Polis standen, allem Anschein nach durch keinen Volksbeschluß gedeckt und auch im Hinblick auf die Verwendung der Truppen zu eigenem Nutzen des Macht-
Das Mutterland und Makedonien
habers ein tyrannischer Akt. Ob das Urteil eines späten Autors, nach dem Lachares' Regiment nicht nur gegen die Götter das schonungsloseste, sondern auch gegen die Menschen das grausamste gewesen sei, zutrifft, wird man, da sonst von Gewalttaten nichts verlautet, bezweifeln dürfen. Die Organe der Polis ließ der Machthaber wie die meisten Tyrannen bestehen bis auf einige uns nicht be kannte, beim Volke angeblich besonders beliebte Ämter. Die Volksversammlung trat zusammen, Archonten und Strategen wurden bestellt, nur daß ein Mal - wahr scheinlich wegen oppositioneller Umtriebe - während des Amtsjahres auf Wunsch des L achares neue Beamte gewählt werden mußten. Daß die Bürger im Piräus und vielleicht auch auf dem Lande sich als die rechtmäßigen, weil freien Träger des Staates ansahen, konnte der Tyrann nicht verhindern. Bald jedoch sah er sich, durch den Tod des Kassandros (298/7) seiner makedo nischen Stütze beraubt, dazu von dem um Wiedergewinnung Athens bemühten Demetrios Poliorketes bedroht, der zwar zunächst (296) infolge des Scheiterns seiner Flotte im Sturm an Aktionen gehindert wurde, im nächsten Jahre aber Aigina und Salamis besetzen, auf dem attischen Festland lagern und daran gehen konnte, durch Verwüstung der Felder und schärfste Blockade zur See die Stadt sowie den Piräus auszuhungern. Es half den dortigen Feinden des Lachares nichts, daß sie dem Belagerer auf seinen Wunsch tausend Mann zum Kampf gegen den Tyrannen zur Verfügung stellten, Demetrios war gekommen, um die abtrünnigen Athener insgesamt seiner Herrschaft zu unterwerfen. Diese Absicht, nicht bloß der von Lachares ausgeübte Zwang, bewog die Bürgerschaft in der Stadt, jedem den Tod anzudrohen, der für Frieden und Aussöhnung mit dem König einträte. Indessen, die Hungersnot wuchs mit jedem Tage und die Preise für die einfach sten Lebensmittel stiegen ins Unerschwingliche. Der Tyrann, der durch betont kärgliche Lebenshaltung ein Beispiel des Durchhaltens zu geben suchte, hoffte auf Rettung durch eine Flotte des Königs Ptolemaios, die auch wirklich im Saronischen Golf erschien, vor der überlegenen Seemacht des Demetrios sich aber zurückzog. Damit schwand jede Aussicht auf Befreiung. Lachares entwich jetzt nach Boiotien und überließ Athen seinem Schicksal, auch darin sich als Tyrann erweisend. Vom Hunger zermürbt öffneten die Bürger den Belagerern die Tore, die wohl schon vorher den Piräus und Munichia genommen hatten (Frühjahr 294) . Der Sieger legte zwar eine Besatzung auf den Musenhügel, erwies sich aber im übrigen milde und sorgte für Wiederherstellung der reinen Demokratie. Lachares wurde gewiß zum Tode verurteilt, über seine Nachkommen sprach man die Verbannung aus. Er selbst fand nach mannigfachen Abenteuern in Theben Aufnahme, von wo er 292, als Demetrios auch diese Stadt nahm, über Delphoi an den Hof des Lysima chos gelangte. Ob er von diesem in irgendeiner Weise verwendet wurde, ist unbe kannt. Zur Zeit, als nach dem Tode des Königs in der Schlacht von Kurupedion
Lachares. Eretria. Sikyon. Argos
(281) Seleukos den Hellespont überschritt, verstand es Lachares wiederum, rechtzeitig zu entweichen und in Lysimacheia Aufnahme zu finden. Wenig später (279) hielt er sich in Kassandreia auf. Daß der einstige Tyrann auf Antrag des Kassandreiers Apollodoros, der bald darauf selbst sich zum Tyrannen seiner Vaterstadt aufschwang, ausgewiesen wurde, ist das Letzte, was wir von ihm hören. 2. DA S Ü B RI G E G RIE C H E N LAND
Wie weit es im übrigen Hellas während des ersten Viertels des dritten Jahrhun derts zur Errichtung von Tyrannenherrschaften gekommen ist, läßt sich sowohl wegen der ungemeinen Dürftigkeit der überlieferung wie wegen der unpräzisen Verwendung des Wortes «Tyrann» durch spätere Schriftsteller kaum erkennen. So dürfte unter den «Tyrannen», von denen angeblich der Philosoph Menedemos seine Vaterstadt Eretria mit Hilfe des Demetrios Poliorketes zu befreien suchte, eine oligarchische Gruppe zu verstehen sein, die wohl ähnlich wie Lachares bald nach 301 mit Rückhalt an Kassandros zur Macht gelangt war. Immerhin läßt Polybios einen aitolischen Gesandten in Sparta (211/10) im Hinblick auf Kassan dros, Demetrios und seinen Sohn Antigonos Gonatas sagen, es hätten die einen von ihnen in die Städte Griechenlands Besatzungen gelegt, die anderen Tyrannen «eingepflanzt» , so daß mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß nicht nur, wie sich noch zeigen wird, Antigonos, sondern auch sein Vater und Kassandros das Auf kommen einzelner Tyrannenherrschaften begünstigt haben. Beispiele für die letzt genannten Könige finden sich bis 276 jedoch kaum. Was Kassandros betrifft, so ist allein auf Lachares zu verweisen, und dem Demetrios kann mit einiger Sicher heit nur die Duldung eines monarchischen Gewaltregimentes in der ihm auch nach der Schlacht von Ipsos noch untertänigen Stadt Sikyon zugeschrieben werden, über der in dem halben Jahrhundert von 301 bis 251 mit geringen Unterbrechun gen Tyrannen gewaltet haben. Ganz ungewiß ist es, ob auch Argos während der ersten Jahrzehnte nach 300 zeitweise unter einem tyrannischen Machthaber ge standen hat. Von zwei argivischen Tyrannen, deren zeitliche Ansetzung unsicher bleibt, scheint der eine, Archinos, dem 6. Jahrhundert anzugehören, der andere, Laphaes, könnte in den genannten Jahrzehnten kurzfristig die Herrschaft inne gehabt haben. Freilich wird von ihm nur berichtet, daß er - irgendwann - Tyrann der Stadt war und, als das Volk ihn vertrieb, von den Spartanern aufgenommen wurde, die sich sogar, wenn auch vergebens, um seine Rückführung bemühten. Vielleicht daß diese Aktion der Lakedaimonier, die schon das Aufkommen des Laphaes gefördert haben könnten, in die Zeit der imperialistischen Politik des Königs Areus (3°9/8-265) gehört. Jedenfalls ist an eine Tyrannis zu denken, die
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Das Mutterland und Makedonien
nicht von einem der Makedonenkönige, sondern eher im Gegensatz zu ihnen von Sparta begünstigt wurde. Dieses selbst blieb nach wie vor von Gewaltherrschaft frei. Tyrannische Gelüste konnten die Angehörigen der beiden Königshäuser nur in der Ferne befriedigen. So haben zwei Söhne des Königs Kleomenes II., die nicht auf den Thron gelangten, sich im Westen als Stadtherren gebärdet: Alcrotatos in Akragas, dessen Bürger ihn zur Führung des Kampfes gegen Agathokles gerufen hatten (3 15) , Kleonymos, den sich die Tarentiner zwölf Jahre später als Feldherrn gegen die Lukaner und Römer verschrieben, in Metapont, das ihm nicht sogleich willfährig gewesen war. Beide sollen spartanische Lebensart abgelegt und wie arge Tyrannen geschaltet haben. Sie gehören in die Reihe jener uns schon aus dem 4. Jahrhundert bekannten Condottieren, welche die ihnen anvertraute militärische Macht zur Gewinnung einer eigenen Herrschaft zu benutzen suchten. Aber ohne dauernden Erfolg. Den Akrotatos verjagten die Akragantiner bald; Kleony mos vermochte, nachdem er in Unteritalien nicht recht hatte Fuß fassen können, zwar Korkyra zu erobern, blieb aber nur zwei bis drei Jahre im Besitz der wert vollen Insel, die er gleich einem Tyrannen beherrscht haben dürfte, bis sich die Korkyraier um 299 seiner entledigten. An der Nordküste der Peloponnes begegnen außer in Sikyon während des ersten Viertels des 3 . Jahrhunderts auch in der von Demetrios Poliorketes 303 unterworfenen Landschaft Achaia Tyrannen. üb sie ihre Herrschaft noch diesem König oder erst seinem Sohn Antigonos Gonatas verdankten, dem der Vater, als er 287 nach Asien ging, seine Besitzungen in Hellas anvertraute, ist nicht zu sagen. Wir erfahren nur, daß Bum, auch nachdem 281/80 vier achaiische Städte das makedonische Joch abgeschüttelt und sich zusammengeschlossen hatten, noch fünf Jahre unter einem Tyrannen unbekannten Namens stand, der dann von den Achaiern unter Führung des jugendlichen Margos von Karyneia umgebracht wurde, daß ferner zur gleichen Zeit in Karyneia selbst der Tyrann Iseas ange sichts der Vertreibung der makedonischen Besatzung aus Aigion unter Zusiche rung von Straffreiheit die Herrschaft niederlegte und seine Stadt dem neuen Achaiischen Bunde zuführte. Sollten auch in anderen Städten der Landschaft, die noch abseits standen, Tyrannen an der Macht gewesen sein, so sind sie dieser spätestens beim Erscheinen des vom Achaiischen Bunde herbeigerufenen Pyrrhos (27312) verlustig gegangen, als der Rest der achaiischen Städte dem Antigonos absagte und der Vereinigung beitrat. Seitdem ist Achaia nicht nur frei von Tyrannen geblieben, sondern sogar zum Vorkämpfer gegen Tyrannenherrschaf ten in der gesamten Peloponnes geworden.
Sparta. Achaia. Apollodoros von Kassandreia
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) . MAKEDONIEN
Durch die von ihm beantragte Ausweisung des einstigen athenischen Tyrannen Lachares (279) soll Apollodoros VOI! Kassandreia, ein Demagoge, der offenbar die Scharen der Handwerker hinter sich hatte, dem Verdacht, daß er selbst nach der Tyrannis strebe, zu begegnen versucht haben, wie er auch dem Antrag eines Theodotos, der ihm eine Leibwache zuerkennen wollte, demonstrativ wider sprach und angeblich bei Symposien die Tyrannis für etwas Furchtbares und Frevelhaftes erklärte. Gleichwohl blieben seine wahren Absichten nicht verborgen. Man klagte ihn tyrannischer Umtriebe an, und nur dadurch, daß er beim Prozeß in schwarzem Gewande erschien und seine Gattin sowie seine Töchter auftreten ließ, hätte er, wie es heißt, die Richter gerührt und Freispruch erlangt. Damals war der makedonische Thron durch den Tod des Ptolemaios Keraunos im Kelten kampf verwaist, es herrschten anarchische Zustände. Eurydike, des gefallenen Königs Mutter, hatte sich genötigt gesehen, der Stadt Kassandreia die Freiheit zu geben. Apollodoros führte daraufhin einen Volksbeschluß herbei, durch den ihr zu Ehren ein Fest «Eurydikeia» gestiftet und den abziehenden Besatzungstruppen das Bürgerrecht der Polis und Landlose auf der Halbinsel Pallene zuerkannt wurden, damit sie als «Wächter der Freiheit» im Umkreis der Stadt verblieben. In Wirklichkeit wollte er sich damit für den geplanten Staatsstreich militärischen Rückhalt verschaffen. Zugleich suchte er außenpolitisch das Gelingen des Unter nehmens zu sichern, indem er einen Volksbeschluß durchsetzte, der Freundschaft und Bündnis mit dem Seleukiden Antiochos I. zum Inhalt hatte, ja dem König, dessen Vater Seleukos bereits Ansprüche auf Makedonien erhoben hatte, Kassan dreia geradezu anvertraute. Als Dank dafür dürfte Apollodoros die künftige Aner kennung seiner Tyrannis durch den Seleukiden erwartet haben. Nach diesen Vorbereitungen erfolgte der Putsch im Jahre 279/8 mit Hilfe von Sklaven und Handwerkern, die Apollodoros sich angeblidl durch gemeinsames Verzehren eines geschlachteten Jünglings auf Gedeih und Verderb verbunden hatte. Man wird darin eine der Greuelgeschichten zu sehen haben, die noch in der römischen Kaiserzeit von dem Machthaber, der wie Phalaris als Muster des ge walttätigen, blutdürstigen Tyrannen galt, erzählt wurden. Immerhin scheint be reits der zeitgenössische Dichter Lykophron in seinem Drama » Kassandreier« das furchtbare Wüten des Apollodoros geschildert zu haben, so daß an der Willkür und Grausamkeit des Mannes kaum gezweifelt werden kann, mögen auch manche Einzelzüge des in der späteren Literatur gewiß ausgestalteten Bildes dem belieb ten Modell des blutigen Tyrannen entnommen sein. Als sicher kann ferner gelten, daß er seine Herrschaft durch eine Garde wilder keltischer Söldner stützte, die er ebenso wie seine sonstigen Truppen, vor allem die einstige Besatzung, gut be-
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zahlte, daß er ferner viele begüterte Bürger hinrichten ließ und ihr Vermögen sich aneignete, um die Soldaten zu entlohnen. Auch die allmähliche Steigerung seiner erpresserischen Methoden, die ihn vor der Anwendung der Folter gegen über Frauen nicht zurückschrecken ließ, wird man als Tatsache hinzunehmen haben. üb ihn bei alledem wirklich ein gewisser Kalliphon beriet, der angeblich in Sizilien mehreren Tyrannen nahegestanden hatte, bleibt allerdings fraglich, galt doch die Insel als eine Brutstätte der Tyrannis. Im übrigen darf nicht über sehen werden, daß Apollodoros als Führer einer sozialen Revolution zur Macht gelangt war, daß seine brutalen Maßnahmen nur die Vermögenden betrafen, während das niedere Volk von ihm in einem Maße mit konfiszierten Gütern bedacht wurde, wie es nur wenige der als Demagogen aufgestiegenen Tyrannen im Besitz der Herrschaft taten. Aber trotz der Begünstigung des Demos und der bedeutenden militärischen Macht, die der Gewalthaber zu unterhalten vermochte, war der Bestand auch die ser Stadttyrannis letztlich durch die allgemeine politische Lage im Ägäisraum bedingt. Apollodoros zählte auf Antiochos 1. und dessen Verbündete in Hellas, von denen mindestens Sparta unter seinem König Areus sogar unmittelbar mit dem Herrn von Kassandreia verbündet war. Als jedoch Antiochos und Antigonos Gonatas Frieden schlossen und dem letzteren Makedonien überlassen wurde (278), war an den Seleukiden als Stütze nicht mehr zu denken, es drohte vielmehr der Sturz durch Antigonos. In der Tat rückte dieser nach seinem Sieg über die Kelten (277) vor die Stadt und begann die Belagerung. Daß er zehn Monate lang nicht zum Ziele kam, lag gewiß zu einem guten Teil an den starken Befestigungswerken von Kassandreia, wäre aber doch kaum möglich gewesen, wenn Apollodoros nicht weiterhin die Masse des Volkes hinter sich gehabt hätte. Nur durch eine List des Königs, der sich selbst zurückzog und einem aitolischen Piratenhäuptling die Führung von Scheinverhandlungen übertrug, die den Tyrannen in Sicherheit wiegten und den Wad1tdienst vernachlässigen ließen, gelang schließlich die Ein nahme der Stadt. Mit dem Einzug des Antigonos fand die Herrschaft des Apollo doros ihr Ende (276) . Wir hören nicht, was aus ihm wurde, es heißt nur, er habe in Träumen bald seinen Körper von den Skythen geschunden und in einem Kessel gekocht, bald seine Töchter in Flammen um seinen eigenen leib tanzen gesehen. Der Gedanke liegt nahe, daß damit auf ein grausiges Ende, das er fand, angespielt wird. Die Volksmenge, die anscheinend bis zuletzt zu ihm gehalten hatte, fiel nach der Niederlage über seine Freunde und nächsten Anhänger her.
Apo llodoros von Kassandreia. Peloponnes
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11. DIE ZElT DER ANTIGONIDEN (276-168)
Mittel- und Nordgriechenland sind während dieser Zeitspanne wie - mit Ausnahme Athens - schon im vorausgehenden halben Jahrhundert von Tyrannen frei geblie ben. Kein Gewalthaber ist uns bekannt, der in sozialen Kämpfen oder durch Unterstützung seitens einer auswärtigen Macht zur Herrschaft über eine Stadt gelangt wäre. Die Gemeinwesen waren entweder frei oder standen für kürzer oder länger in einer Abhängigkeit von den Makedonenkönigen, die anscheinend nir gends durch Förderung oder gar Einsetzung eines Tyrannen gewährleistet zu werden brauchte. Anders auf der Peloponnes. Hier begegneten schon kurz vor 276 in Sikyon sowie in Städten Achaias Tyrannen, die freilich um die Mitte der siebziger Jahre, als der junge Achaiische Bund sich von der makedonischen Herr schaft befreite, abtreten mußten. Auch weiterhin hat der sich machtvoll entfaltende Bund nach dem Zeugnis des Polybios diejenigen, die von sich aus oder mit Hilfe der Antigoniden ihre Vaterstadt knechteten, bekriegt. Allenthalben die Allein herrschaften aufzulösen und den Städten die Freiheit der Väterzeit zurückzugeben, sei im besonderen das Ziel seines bedeutendsten Führers, des Aratos von Sikyon, gewesen, während Antigonos Gonatas den Hellenen die meisten Monarchien »eingepflanzt« habe. Es gilt diese Behauptung des Historikers, der als Sohn des achaiischen Strategen Lykortas in seinen jüngeren Jahren nicht nur ein leiden schaftlicher Patriot, sondern auch einer der Staatsmänner des Bundes gewesen ist, an Hand der überlieferung zu prüfen und jeweils zu fragen, ob Einwirken des Makedonenkönigs oder soziale Krisen oder auch beides zusammen zur Errichtung von Tyrannenherrschaften geführt haben. Dabei ist natürlich von Besatzungs kommandanten oder Gouverneuren des Königs abzusehen, auch wenn sie, wie die makedonischen Befehlshaber im Piräus um 245, gelegentlidl Tyrannen genannt werden. 1. SIKYON
Aus der Reihe der Tyrannen, die von etwa 301 bis 251 über Sikyon geboten, ist uns mit Namen als erster Kleon bekannt, eine Abenteurernatur, sofern die Angabe, er sei früher Seeräuber gewesen, zutrifft. Wann und wie er zur Herrschaft ge langte, wird nicht gesagt; vielleicht daß es zu Beginn der sechziger Jahre geschah. Eine Unterstützung durch Antigonos ist weder überliefert noch wahrscheinlich, da Plutarch die Tatsache, daß die Stadt im zweiten Viertel des Jahrhunderts von einem Tyrannen an den anderen geriet, innerem Zwist und dem Ehrgeiz der Demagogen zuschreibt, auch der König an einer so fragwürdigen Gestalt wie Kleon schwerlich Interesse haben konnte. Antigonos hat aber auch nicht einge-
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Das Mutterland und Malcedollien
griffen, als Kleon nach kurzer Zeit beseitigt wurde, vielmehr die Wiederherstel lung des Freistaates geduldet, an dessen Spitze zwei gewählte Archonten standen, zunächst wohl Euthydemos und Timokleidas, dann Timokleidas und Kleinias, der Vater des Aratos. Der sozialen Krise vermochten diese vornehmen Männer freilich nicht Herr zu werden. Nachdem Timokleidas schon vorher gestorben war, fand Kleinias 2 64 den Tod von der Hand des ihm verschwägerten Aballtidas, der erneut eine Tyrannis errichtete. Auch er ist nicht von Antigonos gestützt worden, zu dem vielmehr der ermordete Kleinias, dessen Verwandte und Freunde jetzt vertrieben oder sogar getötet wurden, in guten Beziehungen gestanden hatte. Kleinias' damals siebenjährigen Sohn Aratos soll Abantidas' Schwester Soso nach Argos in Sicherheit gebracht haben. Die relativ lange Dauer der neuen Tyrannis (264-253/2) läßt auf ein Regiment schließen, dem die Mehrheit des Volkes nicht abgeneigt war. An ihrer Spitze mag Abantidas seine Machtstellung gewonnen haben. Im übrigen fehlte es ihm, der gern philosophischen Disputationen bei wohnte, nicht an geistigen Interessen. Aber eben unter den Philosophen war seit den Tagen Platons der Tyrannenhaß verbreitet. So geschah es, daß bei einer sehr heftigen Diskussion auf dem Markt der Gewalthaber von seinen Gesprächs partnern Deinias und dem «Dialektiker» Aristoteles umgebracht wurde. Die Tat entsprach schwerlich der Stimmung des Volkes, sonst hätte nicht Abantidas' Vater Paseas ohne Schwierigkeiten an die Stelle des Sohnes treten können. Wenn auch er, und zwar bereits nach einem Jahre, ermordet wurde, so war wiederum nicht allgemeiner Unwille der Grund, sondern das Streben eines anderen Mannes nach der Herrschaft, die er bezeichnenderweise nicht mit Zustimmung des Volkes, sondern mit Hilfe von Söldnern nach der Bluttat gewann. Dieser letzte unter den Tyrannen von Sikyon, Nikokles, hat sich nur vier Monate behaupten können (251). Sein von den Soldtruppen getragenes Regiment soll - anders als das seiner Vorgänger - besonders brutal gewesen sein. Man behauptete, er gleiche auch in seiner Erscheinung dem Periandros, der seit lan gem als Prototyp des grausamen Gewalthabers galt. Angeblich wurden achtzig Bürger von ihm verbannt. Eine Kreatur des Antigonos war Nikokles freilich so wenig wie Kleon, Abantidas und Paseas. Im Gegenteil : er schloß sich an Alexan dros, den Sohn von Antigonos' Halbbruder Krateros, an, der zunächst wie sein Vater Vertreter des Makedonenkönigs in Hellas gewesen war, vor kurzem aber sich von seinem Oheim losgesagt hatte. Da Alexandros nach wie vor in Korinth residierte und den Zugang zur Peloponnes beherrschte, war es Antigonos unmög lich, in Sikyon einzuschreiten, wie es der inzwischen herangewachsene Aratos ihm von Argos aus auf Grund der guten Beziehungen seines Vaters Kleinias nahelegte. Vielleicht versuchte der König es auf indirektem Wege, könnte doch ein damals von den Aitolern unternommener Versuch, sich Sikyons zu bemächtigen, seiner
Sikyon : Abantidas. Paseas. Niko kles
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Anregung zuzuschreiben sein. Aratos scheint diese Art des Eingreifens nicht gewünscht zu haben, und da er auch von Ptolemaios 11., zu dem sein Vater eben falls Verbindung gehabt hatte, vorerst keine Unterstützung erlangen konnte, ent schloß er sich trotz seiner Jugend zu selbständigem Vorgehen. In seinem Aufent haltsort Argos hat der dort herrschende Tyrann Aristomachos (I) keinen Grund gesehen, dem zwanzigjährigen Jüngling entgegenzutreten, der nur einen kleinen Teil der in der Stadt lebenden sikyonischen Verbannten für sein tollkühnes Wagnis gewinnen konnte. Außer diesen hatte Aratos bloß einige Leute bei sich, die ihm von befreundeten Argivern ausgerüstet und besoldet wurden, ferner dreißig Sklaven, die er selbst bewaffnete, und die Räuberbande eines Xenophilos, die auf Beute an pferden hoffte. Von Tyrannenhaß waren außer Aratos selbst, der durch einen Tyrannen Vater und Heimat verloren hatte, nur die wenigen Verbannten erfüllt sowie in besonderem Maße zwei Männer aus Megalopolis, die bereits dort, wie noch zu erzählen sein wird, einen Tyrannen gestürzt hatten, Ekdelos und Demophanes. Beide waren Schüler des Arkesilaos, des damaligen Hauptes der Akademie, und fühlten sich offenbar auf Grund ihrer philosophischen Überzeugung verpflichtet, auch außerhalb ihrer Heimat den Kampf gegen die Tyrannis zu führen. Sie stellten sich dem Aratos mit Rat und Tat zur Verfügung. Nikokles, obwohl angeblich durch Späher über Aratos' Absichten unterrichtet, maß diesen anscheinend keine Bedeutung bei und unterließ es Abwehrmaßnahmen zu treffen. So war dem nächtlichen Zug der kleinen Schar gegen Sikyon Erfolg beschieden. Mit nur etwa 50 Männern, unter denen sich Ekdelos befand, erstieg Aratos die Mauer und drang ungehindert bis zu Nikokles' Haus und dem mili tärischen Kommandogebäude vor, wo die Söldner des Tyrannen überrumpelt und gefangengenommen werden konnten. Als bei Tagesanbruch das Volk ins Theater strömte, ungewiß, ob das Geschehene nicht etwa wie mehrmals schon die Errich tung einer neuen Tyrannis bedeute, ließ Aratos ähnlich wie einst Dion, mit dem er die grundsätzliche Tyrannenfeindschaft teilte, die Bürger zur Freiheit aufrufen. Die Menge setzte daraufhin das Haus des Nikokles in Brand, löschte dann aber das Feuer und gab sich der Plünderung hin. Der Tyrann selbst entkam durch unter irdische Gänge. Seine Güter wurden unter das Volk verteilt, gewiß nicht zur Be friedigung oder gar auf Anregung des Aratos, der vielmehr durch Restitutionsfor derungen der Verbannten, von denen achtzig durch Nikokles, hundertundfünfzig durch frühere Tyrannen vertrieben und ihres Besitzes beraubt worden waren, in Schwierigkeiten geriet, zumal da er den Demos sich nicht entfremden mochte. Doch mit dem ihm eigenen taktischen Geschick fand er einen Ausweg. Dank den Beziehungen seiner Familie zu Ptolemaios 11., der auf der Peloponnes seine Hand im Spiel haben wollte, erlangte Aratos von ihm die nötigen Geldmittel, um die Zwischenbesitzer für die Rückgabe der Güter an die alten Eigentümer entschädigen
Das Mutterland und Makedonien
zu können. Die Wiederherstellung der freistaatlichen demokratischen Verfassung aber bekundete er dadurch, daß er alle Bildnisse der Tyrannen, selbst solcher des 4. Jahrhunderts, zerstören oder wenigstens übermalen ließ. Sikyon trat nunmehr dem tyrannenfeindlichen Achaiischen Bunde bei. Die Epoche der Tyrannis in dieser Stadt läßt nichts erkennen, was auf eine Begünstigung oder gar Einsetzung eines heimischen Machthabers durch Antigonos Gonatas hinwiese. Sie war durch die sozialen und politischen Spannungen inner halb der Bürgerschaft bedingt, wohl auch durch eine gewisse Anfälligkeit des Demos für Tyrannis. Hatte doch nicht nur hundert Jahre lang in archaischer Zeit, sondern vorübergehend auch im 4. Jahrhundert hier eine Gewaltherrschaft beste hen können. Ob einzelnen Machthabern, etwa Abantidas und Paseas, vom Volk amtliche Befugnisse übertragen wurden, erfahren wir nicht; bei Nikokles, der sein Regiment auf Soldtruppen gründete, scheidet diese Möglichkeit wohl aus. Die Verflechtung mit der großen Politik der Zeit war auf seiten der Tyrannen wie ihrer Gegner gleich gering. Ohne fremde Hilfe erfolgte die Befreiung der Stadt, ein ganz persönliches Werk des Aratos, dessen grundsätzliche, von Männern wie Ekdelos und Demophanes gestärkte Tyrannenfeindschaft die treibende Kraft war. Er sollte Gelegenheit haben, diese Gesinnung auch außerhalb seiner Heimat zu be tätigen. 2. ARGOLlS
Über Argos, wo Aratos seine Jugend verlebt hatte, gebot am Ende der fünfziger Jahre als Tyrann Aristomachos, wohl sicher ein Sohn des Aristippos, der zwanzig Jahre vorher als Anhänger des Antigonos Gonatas Gegenspieler seines Mitbürgers Aristeas gewesen war, welch' letzterer damals den Pyrrhos herbeigerufen hatte. Die Zeit der Errichtung der Tyrannis über Argos ist mit Sicherheit nicht zu bestim men, doch darf als sehr wahrscheinlich gelten, daß nach Pyrrhos' Tod (27211) sich jener Aristippos (I) mit Antigonos' Zustimmung oder Hilfe zum Herrn der Stadt machte und ihm sein Sohn Aristomachos (I) in dieser Stellung folgte. Die Familie war reich und seit langem mit Athen befreundet, dem einer ihrer Angehörigen schon um 300 wertvolle Dienste geleistet hatte. Auch Aristomachos stand mit den Athenern gegen den von seinem Oheim Antigonos abgefallenen Alexandros zusammen, bis die beiden Verbündeten, wohl wegen des Ausbleibens der Hilfe des Königs, mit jenem einen Frieden schlossen, für dessen Herbeiführung der Ty rann durch einen attischen Volksbeschluß geehrt wurde (um 249). Das Verhältnis des Aristomachos zu Antigonos Gonatas, dem vermutlich sein Vater die Gewin nung der Tyrannis, er selbst deren Bestand verdankte, erfuhr dadurch anscheinend keine Trübung. Wie sehr er des Rückhaltes an dem Könige bedurfte, wird aus der
Argo s : Aristippos (I). Aristomachos (I). Aristippos
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Tatsache ersichtlich, daß er die Bürger entwaffnete, die Mehrheit der Argiver also wohl gegen sich hatte. Als reiner Tyrann stand Aristomachos neben und über der Polis. Außenpolitische Abmachungen wurden von ihm allein, nicht von den Organen des Gemeinwesens getroffen; auch leistete er gegebenenfalls für solche Zwecke aus eigenen Mitteln so beträchtliche Zahlungen, daß es naheliegt, an eine Besteuerung der Bürgerschaft durch den Gewalthaber zu denken. Es kann daher nicht verwundern, daß sein Regiment, ohne geradezu grausam zu sein, Erbitterung hervorrief. Sie machte sich in einem Attentatsversuch Luft, der von dem um die Befreiung der Stadt und ihre Einbeziehung in den Achaiischen Bund bemühten Aratos, der die Herrschaft des Tyrannen aus eigener Anschauung kannte, durch Waffensendungen unterstützt wurde. Aber der Anschlag scheiterte, weil die Häup ter der Verschwörung, Aischylos und der Seher Charimenes, sich entzweiten und der letztere das Komplott verriet. Immerhin konnten die meisten Beteiligten ent kommen und in dem vor kurzem von Aratos eroberten Korinth Zuflucht finden. Den Tyrannen aber ereilte bald auf andere Weise das Schicksal: er wurde von sei nen Sklaven umgebracht (um 241) . Der Tod des Aristomachos brachte Argos nicht die Freiheit. Ohne daß es zu einer Erhebung der Bürgerschaft gekommen wäre, konnte Aristippos (II), vermut lich der Sohn des Ermordeten, dank dem Rückhalt, den auch er an Antigonos Gonatas besaß, die Nachfolge in der Tyrannis antreten. Unsere den Aratos ver herrlichende, dem Tyrannen feindliche Tradition behauptet, Aristippos sei ein noch ärgerer Wüterich gewesen als sein Vorgänger, und gefällt sich darin, das Bild des gewalttätigen, mißtrauischen, angsterfüllten Gewalthabers auszumalen. Keinen seiner Gegner habe er am Leben gelassen, zum Schutze seiner Person eine große Leibwache unterhalten, die Trabanten und Wächter aber lieber außerhalb des Hauses in einem Säulenhof schlafen lassen, wie er auch die Sklaven, vor denen ihn das Ende des Aristomachos warnen mußte, nachts aus der Wohnung gewie sen und mit seiner Geliebten in einem kleinen Raum über einer Falltür geschlafen habe, von der die Leiter jeweils von der Mutter des Mädchens entfernt und bis zum Morgen unter Verschluß gehalten werden mußte. Gleichwohl scheint die Herr schaft des Aristippos nicht so schlimm gewesen zu sein, wie man nach derartigen Schilderungen annehmen müßte. Als nämlich Aratos, freilich nicht lange nach ihrem Beginn, mit einem Korps junger Achaier sie zu stürzen suchte, erklärte sich niemand in der Stadt für den Befreier, und auch bei einem späteren Unternehmen, das ebenfalls die Beseitigung des Tyrannen und den Anschluß von Argos an den Achaiischen Bund zum Ziele hatte, blieb Aratos ohne rechten Beistand von seiten der Bürger, obwohl er die Mauer erstiegen hatte und Aristippos schon die Flucht mit seinen Schätzen vorbereitete. Die von Polybios und Plu tarch gegebene Erklärung, es seien die Argiver eingeschüchtert und an Knechtschaft gewöh n t
Das Mutterland und Makedonien
gewesen, vermag um so weniger zu überzeugen, als das Andenken des Aristippos später nicht verfemt gewesen zu sein scheint, sein Regiment also kaum so ent nervend gewesen sein dürfte. Den ersten der mißlungenen Angriffe des Aratos erwiderte der Tyrann damit, daß er vor einem aus Mantineiern gebildeten Schiedsgericht den Achaiischen Bund des Friedensbruches bezichtigte mit dem Ergebnis, daß zwar nicht der Bund, aber Aratos, der den Anschlag offenbar auf eigene Faust geführt hatte, zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Versuche, den unversöhnlichen Feind meuchlings zu beseitigen, die Aristippos damals (wohl 240) mit Hilfe des greisen Antigonos Gonatas machte, der seine Stellung auf der Peloponnes durch Aratos' Umtriebe bedroht sah, blieben dagegen ergebnislos. So konnte Aratos als Strategos des Bundes nicht nur jenen zweiten Angriff auf Argos führen, sondern nach dessen Scheitern die Entscheidung im Felde suchen. Bis in die Nähe der Stadt drang er vor, erlitt aber hier nicht ohne eigenes Ver schulden am Charadrosbach eine Niederlage (235). Dagegen gelang es ihm, Kleonai, das anscheinend nicht der Herrschaft des Aristippos unterstand, zum An schluß an den Achaiischen Bund zu bringen. Als der Tyrann daraufhin gegen diese Stadt mit Heeresmacht vorrückte, sah er sich überraschend von Aratos ange griffen. Seine Truppen wandten sich zur Flucht, wurden jedoch bei Mykenai einge holt und vollständig geschlagen. Fünfzehnhundert Mann sollen gefallen sein, Aristippos selbst wurde von einem Kreter Tragiskos getötet (235/4). Aber wiederum bedeutete der Tod des Tyrannen nicht das Ende der Tyrannis, obwohl das Söldnerkorps, ihre Stütze, zusammengeschrumpft war. Mit Truppen des Makedonenkönigs Demetrios (239-229) , die wohl von Korinth herbeieilten, besetzten Aristomachos (II), der Bruder des gefallenen Aristippos, und Agias die Stadt, bevor Aratos dort eindringen konnte. Noch deutlicher als zuvor zeigte sich hier, wie sehr die Tyrannis in Argos von den Antigoniden ausgehalten wurde. Das Urteil der antiken Autoren über den neuen Stadtherrn ist zwiespältig. Während Phylarchos ihn als einen «nicht üblen» Mann bezeichnet und im Hinblick auf sein bitteres Ende meint, daß nie ein Mensch so Ungerechtes und Furchtbares erlitten habe, findet Polybios sein Schicksal für einen Tyrannen nur gerecht, ja fast zu milde. Er weist dabei ganz allgemein auf zahlreiche Freveltaten hin, führt aber nur eine einzige an, daß nämlich Aristomachos achtzig unschuldige Bürger auf Grund der Behauptung umbringen ließ, sie hätten unter seinem Vater dem Aratos, als dieser die Stadt fast schon nahm, bei der Bürgerschaft aber sonst keine Unterstützung fand, Beistand versprochen. Es handelt sich offenbar um eine blutige Aktion, die der Tyrann zu Beginn seiner Regierung im Hinblick auf die Katastrophe bei Mykenai gegen oppositionelle, mit dem Achaiischen Bund sympa thisierende Elemente durchführte, während seine weitere Herrschaft keine drük kende war. Das wird, im Gegensatz zum Urteil des Polybios, der den Feind und
Argos: Aristippos (Il). Aristomachos (Il)
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späteren Verräter des Achaiischen Bundes trotz seiner gegenteiligen Versicherung mit Haß verfolgt, aus dem Verhalten des argivischen Volkes nach Aristomachos' Abdankung deutlich. Obwohl dieser nämlich, soweit wir sehen, einige Jahre über die Stadt gebieten konnte, ohne durch innere Revolten oder Angriffe des Achai ischen Bundes behelligt zu werden, glaubte er nach dem Tode des Königs Deme trios (229), den Polybios »Choregen und Soldgeber« der Tyrannen nennt, sich nicht mehr gegen den immer mächtiger werdenden Bund behaupten zu können, zumal da die makedonische Hilfe, welche für die Tyrannis in Argos von Anfang an entscheidend gewesen war, ausblieb. Des Demetrios Nachfolger Antigonos Doson (229-22211) war durch Kämpfe im fernen Norden an jeglicher Hilfeleistung gehindert und ließ wohl schon bald erkennen, daß er die Stadtherren in der Peloponnes nicht zu begünstigen gedachte. Als in dieser Situation Aratos, der nach seinen früheren Erfahrungen einen Krieg um Argos vermeiden wollte, dem Aristomachos für die Niederlegung der Tyrannis persönliche Sicherheit, Beloh nungen und Ehren, ja sogar die Anwartschaft auf das Strategenamt des Achaiischen Bundes für 228/7, in Aussicht stellte, erklärte dieser sich zur Annahme des Angebotes bereit, wofern er außerdem 50 Talente für die Auszahlung der zu ent lassenden Söldner erhielte. Nach Bewilligung dieser Forderung durch die achaiische Bundesversammlung entsagte Aristomachos der Herrschaft, Argos aber trat nach jahrzehntelanger Tyrannis als Freistaat dem Bunde bei. Hätte Polybios mit seinem Urteil über den letzten Tyrannen recht, so würde die Bürgerschaft gewiß ihre Wut an Aristomachos gekühlt haben. Aber nichts derglei chen geschah. Obwohl seine Herrschaft mit Hilfe makedonischer Truppen errichtet und durch Soldtruppen gesichert worden war, die mindestens zum Teil der König bezahlte, ließ man den bisherigen Gewalthaber nicht nur, ohne seinen Besitz zu schmälern, in der Stadt wohnen, er konnte während der folgenden Jahre dort noch eine führende Rolle spielen. Schwierig dagegen war Aristomachos' Stellung im Achaiischen Bund, besonders gegenüber Aratos. Zwar wählte man ihn, wie vorgesehen, zum Strategen, sein Feldzug gegen den Lakedaimonierkönig Kleome nes III. jedoch wurde von Aratos nicht gut geheißen, der eine Feldschlacht ver hinderte und sich einer Wiederwahl des Aristomachos in den Weg stellte. Diese Zurücksetzung scheint den ehrgeizigen Mann zur Abkehr vom Bund und zur Begünstigung des Kleomenes bewogen zu haben, dem er die Einnahme von Argos ermöglichte. Wenn es auch nicht zu einer Erneuerung der Tyrannis mit sparta nischer Hilfe kam, so hat Aristomachos doch als Parteigänger des Königs, der die Stadt durch ein Bündnis an sich band und mit einer Besatzung belegte, praktisch die Leitung des Gemeinwesens wieder in die Hand bekommen. Die wohl damals vollzogene Vermählung seiner Nichte Apia mit dem spartanischen Prinzen Nabis sowie Ehrungen durch die zu Kleomenes haltenden Tegeaten lassen das fast
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Monarchische seiner Stellung erkennen, die wiederum durch eine auswärtige Macht gestützt wurde. Ihr mußten die Argiver zunächst sich fügen. Als aber Antigonos Doson am Isthmos erschien (224) und - anders als seine Vorgänger die Städte der Peloponnes nicht durch Besatzungen und Tyrannenherrschaften, sondern durch Einbeziehung als freie Gemeinwesen in einen unter seiner Hegemo nie stehenden Bund an sich zu ketten suchte, begehrten sie auf. Der wachsenden Opposition ist Aristomachos offensichtlich nicht Herr geworden und hat damit für Kleomenes jedes Interesse verloren. Nach dessen Rückzug sowie dem offenen Über tritt der Argiver zu Antigonos und dem mit ihm verbündeten Achaiischen Bund fiel er in die Hände seiner Feinde. Als Verräter an der Sache des Bundes wurde er bei Kenchreai im Meere ertränkt (224) i seine Besitzungen machte die Bürgerschaft auf Anraten des Aratos dem Makedonenkönig zum Geschenk. Des Aristomachos und der früheren Tyrannen Statuen wurden in Argos umgestürzt, doch bald von Anti gonos, wiewohl er kein Förderer der Tyrannenherrschaften war, wieder aufgerich tet, und auch die Asinaier ließen eine von ihnen nach Epidauros geweihte Gruppe, die Aristomachos, seine Nichte Apia und ein anderes Mitglied der Tyrannenfamilie darstell te, bestehen. Zugleich mit Aristomachos haben bald nach dem Tode des Königs Demetrios die Tyrannen zweier im Umkreis der Argolis gelegenen Städte, Xenon von Her mione und Kleonymos von Phleius aus denselben Gründen wie er ihre Herrschaft niedergelegt, von der wir sonst gar nichts wissen, so daß offenbleibt, ob sie schon unter Antigonos Gonatas bestand oder erst unter seinem Nachfolger errichtet wurde. Daß auch diese Gewalthaber wie diejenigen von Argos ihre Stütze am Makedonenkönig hatten, steht freilich außer Zweifel. Nach ihrer Abdankung traten beide Städte dem Achaiischen Bunde bei. ) . A R KAD I E N
Die Errichtung einer Tyrannis über Megalopolis scheint in die Zeit nach Pyrrhos' Tod zu gehören und wie die gleichzeitige Machtergreifung des Aristippos in Argos von Antigonos Gonatas gefördert oder gar bewirkt worden zu sein. Sicher ist, daß in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Aristodemos, Sohn eines Artylas aus Phigaleia, aber durch Adoption Megalopolite, die Herrschaft innehatte. Im Ge gensatz zu den anderen arkadischen Städten hielt unter ihm oder, falls er erst vor kurzem einem Vorgänger gefolgt war, unter diesem Megalopolis im Chremo nideischen Kriege zu Antigonos, dessen Sieg über den Spartanerkönig Areus (264) die Stellung des Tyrannen noch stärken mußte. So vermochte er, als des gefallenen Areus Sohn Akrotatos nicht lange darauf ihn angriff, in einer blutigen Schlacht zu siegen. Ob er nach diesem Erfolg seine Herrschaft über andere arkadische Städte
Argolis. Megalopolis
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ausdehnen konnte, bleibt fraglich. In Megalopolis errichtete er aus der Beute eine prächtige, Myropolis genannte Säulenhalle und bemühte sich auch durch Tem pelbauten um die Verschönerung der Stadt. Sein Regiment scheint nicht nur auf den Waffen von Söldnern und dem Geld des Makedonenkönigs geruht, sondern die Zustimmung der Mehrheit der Bürgerschaft gefunden zu haben, deren er schon beim Kampf gegen Akrotatos sicher gewesen sein muß . Zwar hat es auch unter ihm an Verbannungen nicht gefehlt, von denen vor allem wohl oppositionelle Oligarchen betroffen wurden, aber die ungewöhnliche Tatsache, daß er, ein Tyrann , den Beinamen «der Treffliche» erhielt, läßt auf ein relativ uneigennützi ges Wirken schließen, das die Menge als wohltuend empfand. Wenn Aristodemos gleichwohl um 253 durch zwei aus der Stadt verwiesene Schüler des Arkesilaos, Ekdelos und Demophanes, die bald darauf, wie wir sahen, am Sturz des Nikokles von Sikyon beteiligt waren, ermordet wurde, so entsprang die Tat weder allge meinem Unwillen noch dem Rachedurst von Verbannten, sondern der grundsätz lichen Tyrannenfeindschaft von Männern aus dem Kreise der Akademie. Die Bürger von Megalopolis dagegen haben dem Aristodemos ein ehrendes Andenken bewahrt. Er erhielt vor der Stadt ein monumentales Grabmal, während die Mörder anscheinend ihre Heimat verlassen mußten. In der Folgezeit ist Megalopolis als Freistaat Haupt eines arkadischen Bundes geworden, der dem Achaiischen Bunde nahestand. Eine Belagerung durch die Lakedaimonier, gegen die schon Aristodemos gekämpft hatte, muß te man zwar allein bestehen, doch stritten in der Entscheidungsschlacht bei Mantineia (um 249) die übrigen Arkader und Truppen des Achaiischen Bundes an der Seite der Me galopoliten, deren Kontingent von Lakydas und Lydiadas befehligt wurde. Der letztere, ein junger Mann aus vornehmem Hause, der wohl aus dem kleinen Orte Kaphyai stammte, hat sich einige Jahre später, wahrscheinlich als ein Einfall der Aitoler in Arkadien eine s.traffe, diktatorische Führung der Abwehrkräfte not wendig machte (um 244), zum Tyrannen über Megalopolis aufgeworfen. Von der Art seiner Herrschaft, die er fast ein Jahrzehnt behaupten konnte, wissen wir wenig Sicheres, da die positiven Urteile, die seine Ehrenhaftigkeit und patriotische Gesinnung rühmen oder mindestens zugeben, daß er nicht unedel, von Habsucht frei, wenn auch von Ehrgeiz beseelt gewesen sei, vermutlich mehr durch sein späteres Wirken als durch seine Haltung als Tyrann bestimmt sind. Nach den spärlichen Angaben der Überlieferung zu urteilen, führte er ein selbstherrliches Regiment und sah sich so sehr als Besitzer des Territoriums von Megalopolis an, daß er bei einem Privatgeschäft mit den Eleiern den Ort Alipheira ihnen im Tausch abtrat. Gleichwohl scheint sich in der Stadt kein ernsthafter Widerstand geregt zu haben. Es waren vielmehr außenpolitische Gründe, die ihn als ersten Tyrannen auf der Peloponnes im Jahre 235!4 zur Niederlegung der Herrschaft bewogen. Lydiadas
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hatte diese ohne Zutun des Antigonos Gonatas gewonnen und wurde auch nicht von dessen Nachfolger Demetrios unterstützt, als er sich von den anderen Ar kadern, die nach Errichtung der Tyrannis in Megalopolis das Bündnis mit der Stadt gelöst hatten, und dem mit ihnen zusammengehenden tyrannenfeindlichen Achaiischen Bund angegriffen sah. In seiner Isoliertheit fühlte er sich den Streit kräften der Feinde, die Aratos nach seinem Siege über Aristippos von Argos gegen ihn führte, nicht gewachsen und sah offenbar in einer friedlichen Vereinbarung den einzigen Ausweg. Wie sechs Jahre später Aristomachos (II) , erklärte Lydiadas sich gegen Zusicherung der Anwartschaft auf das Strategenamt des Achaiischen Bundes bereit, der Tyrannis zu entsagen, die freistaatliche Ordnung in Megalopo lis wiederherzustellen und die Stadt dem Bunde zuzuführen (235) . Daß diese Umstellung sich ohne innere Schwierigkeiten vollziehen konnte, zeigt erneut, wie die Bürgerschaft trotz des autokratischen Charakters seiner Herrschaft keinen unversöhnlichen Haß gegen Lydiadas hegte. Von der achaiischen Bundesversammlung ist der bisherige Tyrann nicht nur 234, sondern noch zweimal (232 und 230) zum Strategen gewählt worden und konnte sogar noch ein viertes Mal kandidieren (227), unterlag aber bei dieser Wahl seinem Rivalen Aratos. Wie gespannt das Verhältnis des Verfechters frei staatlicher Ordnungen zu einstigen Tyrannen auch nach deren Abdankung blieb, hatte bereits Aristomachos von Argos kurz zuvor erfahren müssen, der damals von Lydiadas vor der unauslöschlichen Abneigung des Aratos gegen Tyrannen gewarnt worden war. Ja, dessen Eingriff in die 228/7 von Aristomachos als Stra tegen geleiteten militärischen Operationen hatte den Megalopoliten als Ankläger auf den Plan gerufen, wobei neben berechtigter Kritik an Aratos' geringer militä rischer Begabung eine gewisse Solidarität der einstigen Tyrannen mitgesprochen haben mag. Während aber Aristomachos auf Grund jener Gegensätze später zu Kleomenes überging, ist Lydiadas, der sich 227/6 seinem Rivalen als Reiterführer unterstellen ließ, der Sache des Bundes treu geblieben. Nur die Unschlüssigkeit und zögernde Taktik des Strategen Aratos ertrug er nicht. Als es bei Megalopolis zur Schlacht gegen den Spartanerkönig karn, brach er mit der Reiterei eigenmächtig vor, wurde jedoch nach anfänglichem Sieg umzingelt und getötet. Die Achaier gaben an seinem Untergang Aratos die Schuld, der Lydiadas preisgegeben habe. Kleomenes ehrte den tapferen Gegner, indern er seine Leiche, mit Purpurmantel und Kranz geschmückt, vor die Tore von Megalopolis bringen ließ. Vielleicht hat auch das arkadische Orchomenos im 3. Jahrhundert zeitweise unter Tyrannen gestanden. Es ist möglich, wenn auch nicht erweisbar, daß der Gewalt haber Aristomelidas in diesen Zeitraum gehört. Die einzige Angabe über ihn be sagt lediglich, daß er ein von ihm geliebtes Mädchen einern gewissen Chronios anvertraut habe, dem, als es sich aus Angst und Scham das Leben nahm, Artemis
Megalopolis. Orchomenos. Elis
erschienen sei und die Tötung des Tyrannen nahegelegt habe. Nach der Tat hätte Chronios sich nach Tegea geflüchtet und der Göttin ein Heiligtum errichtet . Ist hier immerhin eine Tyrannis bezeugt, deren chronologische Bestimmung freilich unsicher bleibt, so ist es in einem anderen Falle, dem des Nearchos, zweifelhaft, ob es sich überhaupt um einen Tyrannen handelt, während die zeitliche Ansetzung auf die Jahre vor 235 einigermaßen gesichert scheint. Denn eine Urkunde über die etwa gleichzeitig mit der Abdankung des Lydiadas vollzogene Aufnahme von Orchomenos in den Achaiischen Bund enthält die Bestimmung, daß die gegen Nearchos und seine Söhne früher erhobenen Vorwürfe als erledigt gelten und keine Gerichtsverfahren eingeleitet werden sollten. Man hat daraufhin vermutet, daß Nearchos Tyrann von Orchomenos war und wie Lydiadas die Herrschaft niederlegte, doch könnte er auch nur Führer einer den Achaiern feindlichen Gruppe der Bürgerschaft gewesen sein. 4.
E LI S
Etwas mehr erfahren wir über die nur fünf Monate währende Tyrannis des Aristotimos von Elis, dessen Gestalt sich die in Frauengeschichten und rührenden Szenen schwelgende Geschichtsschreibung des Phylarchos bemächtigt hat. Vor nehmer Herkunft, Sohn des Damaretos und Enkel des Etymon, gewann er bald nach Pyrrhos' Tod mit Hilfe des Antigonos Gonatas die Herrschaft (271/0). Sei nen Söldnern, die mindestens zum Teil Italiker, vermutlich Osker, waren, soll er jede Gewalttat nachgesehen, dabei in steter Angst gelebt haben, selbst zum Knecht dieser Horden zu werden. Aristotimos' Regiment, das anscheinend nur auf den Miettruppen ruhte und ohne Anhang im Volke war, wird in grellen Farben als ein besonders grausames geschildert. Seiner Gegner, die vor allem den vor nehmen und begüterten Familien entstammten, entledigte er sich durch Tötung oder Verbannung. Achthundert Männer, so heißt es, konnten unter Zurücklassung ihrer Frauen und Kinder zu den Aitolern flüchten. Vergeblich forderten diese von Aristotimos die Freigabe der Angehörigen ihrer Schützlinge. Der Tyrann hielt die wertvollen Geiseln in strenger Haft und bedrohte sie, als die Flüchtlinge einen Platz in Elis besetzten, mit dem Tode. Die Erzählung ergeht sich sodann in der Schilderung des Heldentums einer Megisto, die das Ansinnen des Gewalthabers, die Frauen sollten ihre Männer brieflich zum Verlassen des Landes auffordern, stolz zurückwies und angeblich sogar ihr eigenes Kind zur Ermordung anbot. Aristo timos ließ sich jedoch durch Kyllon, einen seiner Freunde, besänftigen, ohne zu ahnen, daß dieser insgeheim schon an einer Verschwörung gegen ihn beteiligt war. Inzwischen hatte der Tyrann, in der Erkenntnis, daß er sich allein mit den Söldnern auf die Dauer nicht würde behaupten können, den makedonischen
Das Mutterland und Makedonien
Feldherrn Krateros, der als Statthalter seines Halbbruders Antigonos Gonatas in Korinth residierte, zu Hilfe gerufen und war auf die Nachricht, der Makedone stehe bereits bei Olympia, so sorglos, daß er sich ohne Leibwache in der Stadt sehen ließ. Diese Gelegenheit nahmen die Verschwörer wahr; ihr Haupt, Hella nikos, rief zur Erhebung gegen den Tyrannen auf. Dieser wurde von Kyllon und anderen auf dem Markt angefallen und, nachdem er sich zunächst in den Zeus tempel hatte flüchten können, dort unter Nichtachtung der Asylie des Heilig tums niedergemacht. Der Rachgier der Menge, die das Haus des Aristotimos stürmte, entzog sich dessen Gattin durch Selbstmord ; auch seine Töchter, die man schon zur Marterung und Hinrichtung weg schleppte, für deren Schonung sich aber Megisto edelmütig eingesetzt haben soll, machten, vom Volk dazu genötigt, ihrem leben ein Ende. Dem Befreier Kyllon errichteten zwar nicht die Eleier, aber die Aitoler eine Statue in Olympia. ob der kurzen Tyrannis des Aristotimos, an deren Art und Härte trotz der romanhaften Tradition nicht zu zweifeln ist, noch andere von Antigonos begün stigte Tyrannenherrschaften in Elis folgten, entzieht sich unserer Kenntnis. Sofern die Behauptung des Polybios, daß dieser König den Griechen die meisten Monarchen eingepflanzt habe, nicht eine arge Übertreibung darstellt, ist mit weiteren, uns unbekannten Klienteltyrannen auf der Peloponnes zu rechnen, denn die Reihe derer, bei denen sich Begünstigung durch den Makedonenkönig nach weisen oder wenigstens wahrscheinlich machen läßt, ist nicht eben groß. Immerhin steht fest, daß Antigonos Gonatas sich in einem gewissen Ausmaß der Förderung von Tyrannenherrschaften als eines Mittels zur Sicherung seiner Oberhoheit bedient hat, wie dies schon König Philipp und bis 330 auch Alexanders Verweser Antipatros getan hatten. Daß der philosophisch gebildete Fürst, wie man gemeint hat, nicht nur vom Gedanken der Zweckmäßigkeit, sondern auch von dem Wun sche geleitet worden wäre, in den betroffenen Städten das Ideal der Herrschaft des Weisen zu verwirklichen, ist nicht anzunehmmen. Könnte Aristodemos, der «Treffliche» dafür sprechen, der Wüterich Aristotimos zeugt dagegen. Im übrigen hat Antigonos' Nachfolger Demetrios, dem keine philosophischen Motive zuzu trauen sind, die Politik seines Vaters fortgesetzt. Auch fand die Tyrannis, selbst eine maßvoll geübte, gerade in Philosophenkreisen ihre leidenschaftlichsten Geg ner. Grundsätzlich unterscheidet sich denn auch das Regiment derjenigen Tyran nen, die infolge der sozialen Kämpfe oder als militärische Führer die Herrschaft über ihre Stadt gewannen, von dem der Klienteltyrannen nicht. Wie diese haben sie Leibwachen und eigene Söldner, verbannen oder töten ihre Gegner und erscheinen als absolute Herren der Gemeinwesen, deren Organe sie im allgemeinen zwar bestehen lassen, aber zu politischer Bedeutungslosigkeit herabwürdigen. Manche, sowohl der makedonenhörigen wie der eigenständigen Stadtherren, hatten die
Art der Tyrannis auf der Peloponnes. Sparta
Masse des Volkes hinter sich, konnten die Bürgerschaft zu auswärtigen Kriegen aufbieten und hinterließen ein gutes Andenken, das sie ihrem maßvollen Regi ment verdankten. Nur diejenigen Gewalthaber, die durch Brutalität und Exzesse Erbitterung erregten, wie Aristotimos, Aristomelidas und wohl auch Kleon von Sikyon, sind, wie es scheint, mit allgemeiner Billigung beseitigt worden, während in Argos trotz der Opposition, die der ältere Aristomachos fand, das Bestehen einer Tyrannendynastie vier Jahrzehnte lang geduldet wurde. Ihr Ende hat die Tyrannenepoche auf der Peloponnes denn auch nicht aus innenpolitischen Gründen, sondern infolge der Veränderung der außenpolitischen Lage gefunden. Das Erstarken und Ausgreifen des Achaiischen Bundes, der unter Aratos' Führung allgemein den Tyrannensturz propagierte, nötigte, nachdem in Sikyon der Ge waltherrschaft bereits 251 das Ende bereitet worden war, zunächst in Arkadien, später auch in der Argolis die Tyrannen zur Abdankung. Vollends seitdem Anti gonos Doson den Bund sich eng verband und damit zugleich von der Art abging, wie seine Vorgänger ihre Machtstellung auf der Peloponnes zu sichern versucht hatten, war an eine Behauptung der jeder auswärtigen Stütze beraubten Tyrannis nicht mehr zu denken. Als Tyrann, der die peloponnesischen Städte zu unterjochen droht, erscheint jetzt der Lakedaimonierkönig Kleomenes III. 5. S PA RTA
Von einer Tyrannis in Sparta während des}. und beginnenden 2. Jahrhunderts ist nur mit Vorbehalt zu sprechen, wenn auch Livius erklärt, die Stadt habe lange Zeit unter Tyrannen gestanden, deren erster Kleomenes gewesen sei. Bis auf Machanidas handelt es sich aber um legale Könige, die freilich dadurch, daß sie die traditionellen Grenzen ihrer Vollmachten überschritten oder gar Fundamente der Staatsordnung gewaltsam stürzten und auch sonst in ihrem Gebaren tyran nische Züge zeigten, als Vertreter jener schon von Aristoteles gekennzeichneten Kategorie der Tyrannis angesehen werden konnten, die aus Mißbrauch der kö niglichen Gewalt entsteht, welche in Sparta eine beschränkte Amtsgewalt war. In unserem Rahmen muß davon abgesehen werden, eine Geschichte dieser Könige zu bieten; es ist lediglich darnach zu fragen, wieweit sie ausgesprochen tyrannische Züge trugen und ob sie etwa eine gesetzlose Gewaltherrschaft errichteten, vor der das Königsamt in den Hintergrund trat. Schon in der ersten Hälfte des}. Jahrhunderts ließen Angehörige des Agiaden hauses tyrannische Tendenzen erkennen. Von den Brüdern Akrotatos und Kleony mos, die, wie bereits zu erwähnen war, diesen Geist im Westen bekundeten, hat der letztere um 274/} mit Hilfe des Pyrrhos versucht, seinem Neffen Areus die Königswürde streitig zu machen, doch wurde er, weil «gewalttätig und monar-
Das Mutterland und Makedonien
chiseh», zurückgewiesen. Areus selbst (3°9/8-264), der Sohn des Akrotatos, durchbrach in mancher Hinsicht die einem Lakedaimonierkönig gesetzten Grenzen. Selbstherrlich drängte er den Mitkönig Archidamos IV. völlig zurück und ließ, entgegen allem bisherigen Brauch, Münzen mit dem eigenen Namen schlagen. Auswärtigen Mächten schien er ein eigener politischer Faktor zu sein, der in Verträgen neben den Lakedaimoniern als Partner zu nennen war, was an die Stel lung von Tyrannen erinnert. War es auch nicht seine Absicht, sich durch militärisches Ausgreifen eine eigene, persönliche Herrschaft auf der Peloponnes zu verschaffen, wo er vielmehr Spartas Führerstellung wiederherstellen wollte, so wünschte er doch, mit den hellenistischen Königen zu rivalisieren, an außenpoliti scher Energie, Ansehn und Prunk es ihnen gleichzutun. Deutlicher noch zeigt diese Züge der dem Eurypontidenhaus angehörende Kö nig Kleomenes III. (235-22211). Polybios spricht von ihm als dem schärfsten Tyrannen : die väterliche Verfassung habe er aufgelöst und das gesetzmäßige Königtum in Tyrannis verwandelt. Die Worte sind um so weniger als bloße Verunglimpfung eines der gefährlichsten Feinde des Achaiischen Bundes abzutun, als derselbe Polybios an anderer Stelle der ungewöhnlichen Persönlichkeit des Königs Achtung zollt. Auch werden sie weitgehend durch Tatsachen bestätigt, die der dem Kleomenes nicht unfreundliche Phylarchos überliefert. Hatte Kleomenes' Vater und Vorgänger Leonidas, der zeitweise an Satrapenhöfen des Seleukiden reiches gelebt hatte, gleich Areus Neigung zu fürstlichem Prunk bekundet, so waren die «tyrannischen» Neigungen des Sohnes nicht so äußerlicher Art. Im Bestreben, sich zum absoluten Monarchen zu machen, hat er zwei der ehrwürdig sten Institutionen Spartas gewaltsam beseitigt, das Ephorat und das Doppelkönig tum. Es entsprach dem bei Errichtung einer Tyrannis nicht selten angewandten Verfahren, wenn Kleomenes mit den ihm ergebenen Söldnern in die Stadt ein drang und die Ephoren, bis auf einen, der entfliehen konnte, beim Nachtmahl umbrachte, während das Bürgeraufgebot von ihm bewußt in Arkadien zurück gelassen worden war (227). Von den Ehrensesseln der Ephoren ließ er nur einen für sich selbst stehen, zum Zeichen, daß er die Amtsbefugnisse der Behörde seiner seits in Anspruch nahm. Während diese eigenmächtige Verfassungs änderung von dem König, der sich in seinen bald darauf durchgeführten Sozialreformen als Er neuerer der lykurgischen Ordnung ausgab, propagandistisch damit gerechtfertigt werden konnte, daß es unter Lykurgos noch keine Ephoren gegeben habe, stellte die Ausschaltung des Königshauses der Eurypontiden eine krasse Verletzung auch der ältesten Institution Spartas dar. Ob Kleomenes an dem vorzeitigen Tod seines ersten Mitkönigs, des noch nicht erwachsenen Eudamidas, Schuld trug, ist fraglich, seine Teilnahme an der Beseitigung des Nachfolgers Archidamos V. aber sehr wahrscheinlich. Um den Namen der Monarchie zu vermeiden, heißt es bei Plutarch,
Sparta: Areus. Kleomenes IH. Lykurgos
habe Kleomenes den eigenen Bruder Eukleidas als Mitkönig angenommen, was, auch wenn dieser nicht völlig in seinem Schatten gestanden hätte, die Verwerfung der Tradition des Königtums zweier Familien bedeutete. Bei der Verbannung von achtzig Spartiaten, der Neuaufteilung des Landes und der Auffüllung der Voll bürgerschaft hat der König gewiß sozialen und politischen Notwendigkeiten Rechnung getragen, doch dürfte zugleich der an so manche Tyrannen erinnernde Wunsch, eine große persönliche Gefolgschaft zu gewinnen, mitgesprochen haben. In der Tat scheint es ihm denn auch mit ihrer Hilfe gelungen zu sein, seine Ver fassungsänderungen und Reformen durch Volksbeschluß zu legalisieren. Außer halb Spartas läßt sowohl der von Areus inaugurierte, von Kleomenes noch gesteigerte Imperialismus wie der Umstand, daß - beispielsweise in Korinth ehrgeizige Männer durch Verbindung mit ihm Herr ihrer Vaterstadt zu werden hofften, den Geist der Tyrannis und des hellenistischen Herrscherturns spüren, deren innere Verwandtschaft auch an Kleomenes in Erscheinung tritt. Doch ist eben nur von tyrannischem Geist zu sprechen. Denn so wenig der König in Lako nien nach seinen revolutionären Maßnahmen sich neben und über die Staatsord nung stellte und ein durch Volksbeschluß nicht legitimiertes Gewaltregiment, etwa mit Söldnermacht, übte, so wenig hat er durch seine Feldzüge auf der Peloponnes sich eine persönliche Herrschaft gewinnen wollen. Nach außen und innen blieb er König der Lakedaimonier, in deren Namen und zu deren Nutzen er zu handeln bestrebt war. Von den beiden Königen, die nach der Schlacht von Sellasia (222) und Kleo menes' Flucht im Rahmen der vom Sieger Antigonos Doson wiederhergestellten alten Verfassung durch die Ephoren bestellt wurden (219), war der dem Agiaden hause entstammende Agesipolis noch ein Kind, der andere, Lykurgos, angeblich nicht einmal Angehöriger einer der Königsfamilien. Durch Bestechung der Epho ren war es ihm gelungen, den reformfreudigen Eurypontiden Cheilon auszuschal ten, der bald darauf einen Putsch unternahm, die Ephoren ermordete, des flüchti gen Lykurgos aber nicht habhaft werden konnte und, da er mit seinen auf weitere Landaufteilung zielenden Plänen keine Resonanz fand, Lakonien verließ. Ein Jahr später mußte auch Lykurgos, dem die Ephoren Umsturzpläne vorwarfen, nach Aitolien entweichen. Die Beschuldigung scheint nicht unbegründet gewesen zu sein, wie sowohl die Tatsache, daß Lykurgos seine persönliche Gefolgschaft mit sich führte, auf die er sich nach Tyrannenart bei seinen Maßnahmen gestützt haben mag, als auch sein Verfahren nach der Rückkehr (21 8/7) nahelegt. Damals näm lich vertrieb er den noch unmündigen Mitkönig Agesipolis und bereitete, indem er dessen Stelle nicht wieder besetzen ließ, dem Doppelkönigtum für immer ein Ende. Mehr noch als die unlautere Gewinnung der Königswürde hat dieser Akt, wiewohl wahrscheinlich durch Volksbeschluß legalisiert, dazu beigetragen, daß
Das Mutterland und Makedonien
Lykurgos von Späteren als Tyrann angesehen wurde. Doch auch bei ihm ist es so, daß zwar tyrannische Züge hervortreten, seine Stellung und sein Wirken, zumal als Heerführer, aber die eines legalen Königs der Lakedaimonier waren, wie denn auch die Römer seinen Sohn und Nachfolger Pelops als rechtmäß igen König ange sehen haben. Anders liegen die Dinge bei dem nächsten der sogenannten Tyrannen von Sparta, bei Machanidas. Er war nicht König, ja wohl nicht einmal, wie gern ge glaubt wird, nach dem Tode des Lykurgos (um 212) Vormund für dessen in zar tem Kindesalter stehenden Sohn Pelops, auf den die Königswürde anscheinend ohne Schwierigkeiten überging. Wenn er in der freilich von seinen auswärtigen Feinden bestimmten Überlieferung allgemein als Tyrann bezeichnet wird, dann vermutlich in erster Linie deshalb, weil er die beherrschende Persönlichkeit in Sparta war und des Kleomenes imperalistische Politik gegenüber den Freistaaten in der Peloponnes aufnahm, doch deutet immerhin einiges auf eine tyrannisähn liche Stellung hin. Die Söldner, die er befehligte und mit denen er seine großen teils erfolgreichen Feldzüge führte, waren, wenn nicht in seinen persönlichen Dienst genommen, so doch jedenfalls ihm derart ergeben, daß er praktisch mit ei gener Heeresmacht neben dem Gemeinwesen stand, mochte er auch die Truppen, soweit wir sehen, für dessen auß enpolitische Entfaltung und nicht zur Errichtung oder Erhaltung einer eigenen Gewaltherrschaft einsetzen. Wieweit er auf das innenpolitische Leben einwirkte und ihm seinen Willen auferlegte, hören wir nicht ; von brutalen Maßnahmen ist nirgends die Rede, was auf ein besonnenes Regiment schließen läßt, dem er es möglicherweise auch verdankte, daß ein öffent liches Gebäude nach ihm benannt wurde und weiterhin seinen Namen trug. Wesentlich radikaler und tyrannischer verfuhr Nabis·, der, nachdem Machanidas in einer unglücklichen Schlacht gegen Philopoimen, den Strategen des Achaiischen Bundes, gefallen war (207) , an die Spitze des lakedaimonischen Staates trat. Er war der Sohn eines Damaratos, vermutlich eines Nachkommen des im Anfang des 5. Jahrhunderts zu den Persern geflüchteten gleichnamigen Königs, dessen Familie wir noch um 400 im Besitz einiger einst ihrem Ahnherrn vom Großkönig ge schenkten Städte fanden. Ein Vorfahr des Nabis sd1eint gegen Ende des 4. Jahr hunderts wieder in Sparta Wohnung genommen zu haben. Nabis gehörte also einem Zweig des Eurypontidenhauses an, dessen Tradition auf Tyrannen zurück wies, und auch seine Gemahlin Apia, eine Tochter des Aristippos von Argos und Schwester des zweiten Aristomachos, entstammte einer Tyrannenfamilie. Von einer Vormundschaft für den jungen Pelops ist bei ihm so wenig wie bei Macha nidas etwas zu bemerken ; das ihm im Wege stehende Kind hat er bald beseitigen und sich selbst die Königswürde übertragen lassen. Nicht nur in Lakonien führte er fortan unangefochten den Königstitel, auch von auswärtigen Staaten, selbst von
Sparta: Mnchanidas. Nabis
Rom, ist er als König anerkannt worden. Lakonikos, einen Angehörigen eines der beiden Königshäuser, ließ er mit seinen eigenen Kindern erziehen ; der von Lykur gos vertriebene Agesipolis dagegen blieb in der Verbannung, ging später zu den Römern und wurde von ihnen, als sie sich 195 mit Nabis überwarfen und diesen nicht mehr als König gelten ließen, sondern als Tyrannen brandmarkten, für den rechtmäßigen König ausgegeben. Ist also staatsrechtlich die Stellung des Nabis in Sparta nicht als Tyrannis, sondern als Königtum zu bezeichnen, so erhebt sich doch die Frage, ob er nicht die Befugnisse seines Amtes willkürlich überschritten und die Herrschaft in einer Weise geführt hat, die ihn mit Recht als Tyrannen erschei nen ließ. Unsere vom Haß der Achaier und der Feindschaft Roms verzerrte Über lieferung, die das Bild des Königs mit den für die Schilderung von Tyrannen längst typisch gewordenen Farben malt, ist freilich nur mit größter Vorsicht zu verwerten. Selbst Polybios erzählt mit Behagen Greuelgeschichten wie die von der «eisernen Jungfrau», einem angeblich der Apia gleichenden Gebilde, in dessen Armen das Opfer von spitzen Nägeln zerstochen und zur Angabe seines von dem Wüterich begehrten Vermögens gezwungen wurde. Aber nur einiges läßt sich als offensichtliches Tyrannencliche abtun; meist ist es schwer, wo nicht gar unmög lich, Wahrheit und böswillige Erfindung zu scheiden. Daß Nabis zahlreiche vornehme Spartaner getötet oder verbannt, daß er ihr Vermögen beschlagnahmt und die Familien der Vertriebenen als Geiseln zurück gehalten hat, ist angesichts der sehr konkreten Angaben kaum zu bestreiten. Ebensowenig, daß er nach Tyrannenart sich eine Leibwache hielt und die Sold truppen mittelst erpreßter oder konfiszierter Gelder vermehren konnte, mag aud1 die Zahl der Trabanten übertrieben und die Behauptung des Polybios, das Soldheer hätte aus Mördern, Räubern, Dieben, Betrügern der verschiedensten Herkunft bestanden, nicht ernst zu nehmen sein. Die für die Kennzeichnung der Herrschaft des Nabis als Tyrannis wesentliche Frage, ob die Mietvölker von ihm persönlich oder vom lakedaimonischen Staat unterhalten wurden, ist auf Grund der uns vor liegenden Tradition nicht zu lösen, weil in ihr Söldner und Leibwache miteinander vermengt und alle Maßnahmen im Sinne einer krassen Tyrannis gedeutet werden. Die Wahrscheinlichkeit spricht wie bei den Vorgängern für Truppen des Staates und damit auch für Eintreibung der für die Besoldung notwendigen Gelder zu Nutzen der Staatskasse, nicht des Machthabers persönlich, der denn auch gegen aufständische Bürger nicht das Soldheer, sondern seine Leibwache einsetzte. Als tyrannische Maßnahme wird Nabis ferner die Freilassung zahlreicher Heloten, ihre Ausstattung mit Land, im besonderen aber die erzwungene Vermählung von Helo ten und Söldnern mit den Frauen verbannter Spartiaten, die den Eintritt in die Vollbürgerschaft nach sich zog, vorgeworfen. Es ist möglich, daß Nabis hier ty rannischer verfuhr als Agis IV. und Kleomenes IH., deren sozialrevolutionäre
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Neuerungen er weiterführte, wie er sich auch, obzwar mit geringerem Recht, auf den berühmten Gesetzgeber Lykurgos berief. Andererseits gehören Sklaven befreiung und gewaltsame Vermählung von Frauen verbannter Bürger mit ihren einstigen Knechten oder mit Söldnern zum Bild des grausamen Tyrannen, so daß auch in diesem Falle Mißtrauen gegenüber der Überlieferung berechtigt scheint. Die nicht zu bezweifelnde Freilassung von Heloten setzte im übrigen nur die seit langem in Gang befindliche soziale Umschichtung fort, die vor allem militärisch geboten war, womit nicht geleugnet werden soll, daß Nabis zugleich die Zahl der ihm persönlich verpflichteten Bürger vermehren, seine Gefolgschaft stärken wollte. Und kann die Maßnahme nicht «untyrannisch» auf Grund eines Volksbeschlusses erfolgt sein? Daß die Volksversammlung unter Nabis zusammentrat, bestritten selbst seine Gegner nicht, nur behaupteten sie, er habe die freie Meinungsäuße rung unterdrückt. Die Mehrheit der Spartaner ist jedoch seinem Regiment nicht abgeneigt gewesen, hat vielmehr, als Sparta von den Römern belagert wurde (195), zu ihm gehalten. Selbst der achaiische Bundesfeldherr rechnete sichtlich da mit, daß Nabis bei freiwilliger Niederlegung der Herrschaft von den Lakedaimo niern nichts zu befürchten haben würde. Im besonderen scheint er der Periöken, die einen wesentlichen Teil des Heeres ausmachten und deren Küstenorte den Aus gangspunkt für seine Seeoperationen bildeten, sicher gewesen zu sein. Ist nach alledem rur Lakonien trotz manchen tyrannischen Momenten weder staatsrechtlich noch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen König und Volk von einer Tyrannis des Nabis zu sprechen, so bleibt doch die Frage, ob die von ihm ge wonnenen auswärtigen Plätze, vor allem Argos und einige Städte auf Kreta, ihm persönlich oder dem Staat der Lakedaimonier untertan wurden. Argos, über das allein die antiken Autoren Angaben bringen, wird von ihnen für die Jahre 197 bis 195, nachdem die Stadt von Philipp V. dem Nabis überlassen worden war, als in dessen Besitz angesehen. Er sicherte es durch eine Besatzung, nahm Konfiska tionen, Verbannungen und Hinrichtungen vor, erpreßte auch Steuern, wobei seine Gemahlin Apia den Frauen ihrer Heimat den Schmuck abgenommen haben soll. Vor der argivischen Volksversammlung gab Nabis Schuldenerlaß und Landvertei lung bekannt, traf also auch hier sozialrevolutionäre Maßnahmen, die ihm die Menge geneigt machen sollten. Eine Inschrift, welche die gewaltsame Fortführung der jungen Mannschaft des damals zu Argos gehörenden Mykenai erwähnt, läß t erkennen, daß die Nachrichten der ihm feindlichen Tradition, mögen sie in man chem auch übertrieben sein, hinsichtlich der Härte seines Verfahrens zutreffen. Es findet sich in ihnen jedoch kein Anhaltspunkt dafür, daß Nabis sich neben sei nem lakedaimonischen Königtum eine persönliche Herrschaft in der Argolis er richtet hätte, und auch für die kretischen Städte, die ihm Hilfstruppen stellten, ist dergleichen nicht anzunehmen. Ebenso dürfen seine maritimen Unternehmungen,
Sparta: Nahis. Chairon
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die von seinen Gegnern als schamloses Piratenturn gebrandmarkt wurden, als Aktionen des Lakedaimonierkönigs, nicht als gleichsam private Aktionen eines Tyrannen angesehen werden, wie denn auch die Delier, denen Nabis sich dabei gefällig erwies, ihn in einem Ehrendekret als König bezeichneten. Gewiß war dieses Königtum nicht mehr das streng normierte Heerkönigtum der einstigen Archagaten. Mehr noch als Areus und Kleomenes, die aus den alten Traditionen herausgetreten waren, erschien Nabis, der keinen Mitkönig mehr ne ben sich hatte, angesichts des nur formal wiedererstandenen Ephorates, der Will fährigkeit einer von seinen Vorgängern und ihm umgeschichteten Bürgerschaft und namentlich dank der von ihm entfalteten außenpolitischen Energie, mit der er die Herrschaft des Lakedaimonierkönigs über weite griechische Gebiete anstrebte, den Zeitgenossen als Autokrat, in stadtstaatlicher Perspektive gesehen als Tyrann. Historisch betrachtet stellt er sich eher als einer der lokalen Fürsten dar, die un ter Ausnutzung der weltpolitischen Spannungen um die Wende vom 3. zum 2. J ahr hundert versuchten, es den großen Monarchen der Zeit gleichzutun und in ihre Gesellschaft einzutreten. Daß er Münzen mit seinem Namen und dem Königstitel prägen ließ, ist in dieser Hinsicht ebenso bezeichnend wie die Tatsache, daß phi lipp V. ihm die Ehe eigener Söhne mit seinen Töchtern anbot, oder die Pracht des Palastes, den er in Sparta bewohnte. Der Versuch ist schließlich gescheitert, nach dem selbst die siegreichen Römer nicht gewagt hatten, Nabis' Absetzung zu er zwingen. Von den ihm bisher verbündeten Aitolern wurde er verräterisch umge bracht (:192) . Mit seinem Tode endete das lakedaimonische Königtum, das schon von seinen Vorgängern entstellt, durch ihn vollends seines traditionellen Charak ters entkleidet worden war. Der Achaiische Bund, in den Sparta nunmehr hineingezwungen wmde, hat in Lakonien weder Königtum noch Tyrannis geduldet. Immerhin konnte es gesche hen, daß in Opposition gegen den Bund und in Anknüpfung an Nabis' Reformen der Demagoge Chairon nach einem Jahrzehnt mehr oder minder willkürlich Land verteilungen an die ärmere Bevölkerung vornahm und, wie es heißt, ohne Rück sicht auf Gesetze, Volksversammlung und Behörden öffentliche Gelder veraus gabte, also nach Art eines Tyrannen verfuhr (:18:1) . Als er jedoch ein Mitglied der vom Achaiischen Bund eingesetzten Prüfungskommission ermorden ließ, warf man ihn ins Gefängnis und hob seine Maßnahmen auf. Für soziaIrevolutionäre Neuerungen oder gar für tyrannisches Wirken eines einzelnen Mannes gab es in Sparta während der Folgezeit keine Möglichkeit mehr.
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I I r. D I E Z E I T D E R R Ö M I S C H E N H E R R S C H A F T ( 1 6 8 B I S A U G U S T U S)
Das griechische Mutterland ist während dieser Epoche im allgemeinen frei von Tyrannen gewesen. Die Einsetzung oder Unterstützung von Stadtherren gehörte nicht zu den Mitteln, deren sich die römische Politik zur Behauptung ihrer Herr schaft über Hellas bediente. Sie pflegte ihre Interessen auf andere Weise, vor allem durch Begünstigung der oligarchischen Gruppen in den einzelnen Gemeinwesen, wahrzunehmen. Dagegen haben die Jahre 88-86, in denen die Macht des Königs Mithradates VI. sich auch über Teile von Hellas erstreckte, wenigstens an einer Stelle das Aufkommen tyrannenähnlicher Gewalthaber gezeitigt, in Athen. :1 . A T H E N Hier hatte kurz vor der Jahrhundertwende eine von Rom geförderte oligarchi sche Umgestaltung der demokratischen Verfassung innere Wirren ausgelöst. Mehr als zwei Jahre konnte sich ein gewisser Medeios im Amt des Archon behaupten (9:1/0-89/8) , das damals eine Bedeutung gehabt zu haben scheint wie vor fünf Jahrhunderten, als Damasias das Archontat ebenfalls über zwei Jahre beibehielt. Als dann der Mithradatische Krieg über die Athener kam, heißt es bei Strabon, brachte er ihnen Tyrannen, die der König wollte. Es waren, soweit wir sehen, nur zwei, die sich in kurzem Abstand folgten, Athenion und Aristion. Über Atheniol1 berichtet Poseidonios in einer farbenreichen, mit Spott und Ironie gewürzten Er zählung, daß er der Sohn eines im Peripatos gebildeten Atheners Eurymneus ge wesen sei und sich selbst als philosophischer Lehrer dieser Richtung in Messene und Larisa betätigt habe. Durch den Unterricht reich geworden, kehrte er in die Heimat zurück und wurde zur Zeit von Mithradates' ersten Erfolgen in Asien (89/8) von seinen Mitbürgern als Gesandter an ihn geschickt. Er gewann die Gunst des Königs, wurde sogar unter dessen «Freunde» aufgenommen und kündigte in Briefen den Athenern an, daß der Herrscher nicht nur den einzelnen Bürgern und der Polis Geschenke machen werde, sondern daß auch die Stadt von ihren Schulden befreit sein und die demokratische Verfassung wiedererhalten solle. Bei seiner Rückkehr wurde Athenion von dem durch seine Schreiben begeisterten athenischen Volk, das den Zusammenbruch der römischen Herrschaft wie in der Provinz Asia so auch in Hellas gekommen wähnte, mit überschwenglichen Ehren eingeholt. Bald zeigte er sich der staunenden Menge in prunkvollen Gewändern und nahm ihre Huldigungen gönnerhaft entgegen. In einer Rede von der sonst römischen Statthaltern vorbehaltenen Tribüne an der Säulenhalle des Attalos pries er Macht und Erfolge des Mithradates, schilderte das jämmerliche Schicksal römischer Beam-
Athen: Athenion
ter in Asia und rief die Bürgerschaft auf, dem unerträglichen Zustand Athens, des sen ehrwürdigste Einrichtungen verkümmert seien, durch Anschluß an den Roms Macht vernichtenden König ein Ende zu bereiten. Man wählte ihn daraufhin zum leitenden Strategen und duldete, daß er die anderen hohen Ämter mit Leu ten seiner Wahl besetzte. Schon nach wenigen Tagen, so heißt es weiter, habe der Philosoph sich als Tyrann gezeigt, der mehr den Lehren des Pythagoras über hinterlistige Anschläge als denen des Peripatos folgte. Die gut gesinnten Bürger räumte er aus dem Wege und verbot streng jedes Entweichen aus der Stadt. Zuwiderhandelnde wurden von Reitern gejagt und teils getötet, teils gebunden zurückgeführt. Gegen alle, die mit geflüchteten Bürgern in Verbin dung standen, ging Athenion vor und ließ sie ohne ordentlichen Richterspruch hinrichten. Bald entstand in Athen Mangel an Lebensmitteln, so daß den Bürgern Getreide zugemessen werden mußte, was jedoch nur in ganz unzureichender Men ge geschah. Auch durfte niemand bei Nacht, in der die Tore geschlossen wurden, mit Licht ausgehen. So weit die Erzählung des Poseidonios, deren hier nur inhaltlich wiedergege bener Wortlaut in der überlieferung zum Teil durch Wiederholungen und Miß verständnisse entstellt ist. Sie zeigt eine dem Athenion ungünstige Tendenz, die bei der Beurteilung des Mannes und seiner Stellung in Rechnung zu stellen ist. Da jedoch jede andere Tradition fehlt, ist es schwer zu sagen, wie weit die Färbung reicht und ob es sich wirklich um eine Tyrannis handelte. Man könnte an einen Ausnahmezustand denken, für dessen Verhängung die innenpolitischen Spannun gen und die außenpolitische Situation bestimmend gewesen sein mochten. Als lei tender Stratege hatte Athenion für die Aufrechterhaltung der Ruhe zu sorgen und war wohl auch zur Ahndung von Verstößen gegen seine Anordnungen befugt. Andererseits fehlt es in dem Bild nicht an ausgesprochen tyrannischen Zügen. Ist auch der Schilderung von Athenions prunkvollem Auftreten in dieser Hinsicht keine besondere Bedeutung beizumessen, so würden die eigenmächtige Bestellung der hohen Beamten, die Konfiskation von Bürgervermögen, die Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren und das in einer Version des Berichtes vorausgesetzte Bestehen einer Leibwache für eine Tyrannis sprechen, wenn die Angaben als zu verlässig gelten könnten. Das ist jedoch nicht der Fall, es finden sich vielmehr im Text, wie bemerkt, Unstimmigkeiten und Widersprüche. Der Hinrichtung ohne Prozeß steht die in einer Variante erwähnte Abgabe von richterlichen Stimmstei nen durch Athenion selbst gegenüber, die Ergreifung flüchtiger Bürger soll einmal durch die Leibwache des Machthabers, dann wieder durch dem Strategen unter stehende Bürgertruppen erfolgt sein, und ob die hohen Beamten von Athenion eigenmächtig eingesetzt oder nicht vielmehr auf seinen Vorschlag gewählt wur den, bleibt zweifelhaft. Auch die Bezeichnung als Tyrann, mit der man leicht bei
Das M�ttteriand und Makedonien
der Hand war und die zudem seit dem 4. Jahrhundert mehr im moralischen als im staatsrechtlichen Sinne gebraucht wurde, schließt nicht aus, daß Athenion in Wahr heit nur ein skrupelloser Demagoge war, der von der antirömisch gesinnten Men ge zum leitenden Strategen gewählt wurde und von seiner Amtsgewalt hem mungslos Gebrauch machte. Dafür scheint auch die Tatsache zu sprechen, daß das einzige auswärtige Unternehmen, das er einleitete, nicht seiner persönlichen Herr schaft, sondern den Interessen des attischen Staates galt. Denn nicht um heilige Schätze sich anzueignen, wie Poseidonios unter Verwendung eines beliebten Mo tivs der Tyrannentypologie behauptet, wurde von ihm der Peripatetiker Apellikon mit Truppenmacht nach Delos gesandt, sondern um die Insel, welche die zahlrei chen dort ansässigen Römer von Athen losgerissen hatten, zurückzugewinnen. Athenion, der sich bisher wo nicht als Freund der Römer gegeben, so doch den Bruch mit ihnen vermieden hatte, eröffnete damit gegen sie den Krieg, der schließlich zur Einnahme der Stadt durch Sulla führen sollte. Das Mißlingen des Angriffes, der von den römischen Inselbewohnern unter Orbius abgewehrt wurde, hat offenbar bewirkt, daß Athenion von der politischen Bühne abtreten mußte. Wir hören nichts mehr von ihm, auch nicht, daß man gegen ihn als einen Tyran nen vorgegangen wäre, der er anscheinend nach der Meinung seiner landsleute nicht war. Sein kurzes Wirken als leitender Stratege dürfte spätestens mit Ablauf des Amtsjahres 89/8 geendet haben. Daß nicht lange darauf ein anderer Athener, der Epikureer Aristion, als «Ty rann» erscheint, zeugt von dem Fortbestehen der innenpolitischen Spannungen, die sich auch darin bekunden, daß im Jahre 88/7 die Stelle des Archon nicht be setzt werden konnte. Aristion, der wie Athenion enge Verbindung mit Mithrada tes suchte, begab sich zu dessen Feldherrn Archelaos, der, nachdem er Delos be setzt hatte, ihn mit den heiligen Schätzen unter dem Schutz von 2000 Soldaten nach Athen sandte, ohne Zweifel mit der Absicht, die Stadt, die bereits im Krieg mit Rom stand, an die Sache des Königs zu ketten. Mit Hilfe dieser Truppen be mächtigte sich Aristion, der nach Strabon der mächtigste der damaligen atheni schen «Tyrannen» war, der Herrschaft über die Polis, tötete die unentwegten Rö merfreunde oder lieferte sie dem Mithradates aus. Die Schätze deponierte er, wohl zu eigenem Gebrauch, auf der Burg; er hielt sich eine Leibwache und vergewaltigte die Bürgerschaft. Hier ist, sofern die Überlieferung nicht in die Irre führt, weit eher als bei Athenion von Tyrannis zu sprechen. Von einem Amt mit weitgehen den Vollmachten, das Aristion bekleidet hätte, verlautet nichts, die Stellung des Machthabers ruhte auf der pontischen Garnison, der Verfügungsgewalt über die delischen Schätze und dem Rückhalt an Mithradates, für den Aristion auch als Gesandter an andere griechische Städte tätig war. Wenn auf Münzen sein Name neben dem des Königs erscheint, so gewiß nicht deshalb, weil Aristion attischer
Athen: Athenion. Aristion. Sparta: Enlykles
Münzmeister gewesen wäre, sondern weil er sich als den von Mithradates gestütz ten Herrn Athens dokumentieren wollte. Auch die Verbannung, welche später seine Nachkommen traf, deutet darauf hin, daß von Aristion eine Tyrannis errich tet worden war. Die scharfen Maßnahmen, die er im Winter 87/ 6, als die Römer Athen belagerten, gegen alle einer Kapitulation zuneigenden Bürger ergriff, haben ihn auch im moralischen Sinne als Tyrannen erscheinen lassen. Denn während die Bevölkerung bereits darbte, soll er sich Schmausereien und Gelagen hingegeben, an Possenspielen erfreut haben und der Priesterin der Athena ehrfurchtslos, ja höhnisch begegnet sein. Nachdem die Unterstadt von Sulla am 1. März 86 er stürmt war, verteidigte sich Aristion noch eine Zeitlang auf der Akropolis, wo er möglicher Weise von Anfang an Wohnung genommen hatte, bis schließlich der Mangel an Wasser ihn zur Kapitulation zwang. Der Sieger Sulla, in dessen Hände er fiel, ließ ihn erst, nachdem der Vorfriede mit Archelaos zustande gekommen war ( 85) , durch Gift beseitigen, anscheinend um dem pontischen Feldherrn, mit dem Aristion sich entzweit hatte, gefällig zu sein. 2. S P A RTA
Als Tyrann ist von manchen seiner Mitbürger der Spartaner Euryldes angese hen worden, der während der ersten Jahrzehnte der Herrschaft des Augustus in seiner Heimat eine monarchische Stellung einnahm. Schon sein Vater Lachares war reich und über die Grenzen Lakoniens hinaus angesehen. Wenn Antonius ihn wegen angeblichen Seeraubes hinrichten ließ, dann vor allem wohl deshalb, weil Lachares wie das gesamte in Klientel der Claudier, besonders der Livia, stehende spartanische Gemeinwesen zu Octavian hielt, auf dessen Seite denn auch der Sohn bei Actium kämpfte. Eurykles erwarb sich dadurch die Gunst des Siegers, erhielt das römische Bürgerrecht, so daß er fortan den Namen C. Julius Eurycles führte, und konnte in der Folgezeit mit Augustus' Einverständnis wie ein Fürst über der Stadt am Eurotas walten. Staatsrechtlich ist seine Stellung, die von dem zeitgenös sischen Strabon mit den unbestimmten Ausdrücken «Hegemonia» und «Epistasia» bezeichnet wird, nicht zu fixieren, sie ruhte offenbar auf dem Wohlwollen des Kai sers, großem Reichtum und Sympathien, die sich Eurykles durch Stiftungen bei der Bevölkerung gewann. Immerhin scheint er nach Tyrannenart einen eigenen Be amtenapparat unterhalten zu haben, der denjenigen des Staates wohl überschat tete, und durch seine Maßnahmen bei vornehmen Spartiaten unbeliebt geworden zu sein. Die Rückgabe von Kythera an die Lakedaimonier durch Augustus (21. v. Chr.) mußte seine monarchische Position insofern stärken, als Eurykles dort offenbar große Ländereien besaß und nun sein wirtschaftliches Übergewicht noch stärker geltend machen konnte. Auch die Verbindung, die er mit anderen Poten-
Das Mutterland und Makedonien
taten aufnahm, erinnert an Tyrannis. Im Jahre 9/ 8 begab er sich an den Hof des Herodes, wie es heißt, um Geld zu gewinnen. Wirklich wurde er von dem König und seinem Sohn Antipatros, dem er wichtige Informationen über dessen Halb bruder Alexandros gab, fürstlich bedacht und erhielt auch in Kappadokien von König Archelaos, dem Schwiegervater des Alexandros, zum Dank dafür, daß er den Schwiegersohn mit dessen Vater Herodes aussöhnte, beträchtliche Gelder. Es scheint, daß er diese Mittel nach seiner Rückkehr dazu verwandte, Städte der «freien Lakonen» wie Asopos und Gytheion, aber darüber hinaus vielleicht auch Korinth und Athen, durch Wohltaten an sich zu binden, was über die ihm von Augustus zugebilligte «Epistasia» in Sparta hinausging. Damit war seinen Geg nern eine Handhabe gegeben, den Kaiser zum Einschreiten gegen seinen Günst ling zu veranlassen, der, wie sie behaupteten, die Provinz Achaia in Unruhe stürze und die Städte beraube. Augustus reagierte zunächst nicht und willigte erst, als eine zweite Gesandtschaft vorstellig wurde, ein, daß Eurykles verbannt wurde, sofern er nicht etwa seinerseits die Ausweisung verfügte. Die Strafe war jedoch nicht mit der Einziehung des großen Vermögens verbunden. Der Verbannte konn te vielmehr bis zu seinem Tode (vermutlich 2 v. ehr.) seine Umtriebe außerhalb Spartas fortsetzen. Eurykles' Sohn Lakon hat, wohl nach einiger Zeit, aber noch unter Augustus, die Stellung des Vaters in Sparta übernehmen können, weil er dessen Ruhm- und Herrschsucht absagte. Es besteht, soweit wir sehen, kein Grund, ihn und seine Nachkommen, die bis tief ins 2. Jahrhundert n. ehr. eine führende Rolle spielten, den Tyrannen oder tyrannenähnlichen Erscheinungen zuzurechnen, während Eu rykles das Vertrauen seines Gönners mißbraucht und sich eine fast tyrannische Macht anzumaßen versucht hatte. Gleichwohl ist der selbstherrliche Mann beim Volk in guter Erinnerung geblieben, und auch Augustus hat in seinen letzten Re gierungsjahren gegen eine Rehabilitierung des Verstorbenen offenbar keine Ein wände erhoben. Im Jahre 15 n. ehr. konnte zur Erinnerung an Eurykles das Fest der Eurykleia konstituiert werden, das dank dem fortdauernden Ansehn der Fa milie langen Bestand hatte.
Z W EIT E S KAPIT E L
D E R G RI E CHI S C H E O S T E N
l . D I E Z E I T D E R D I A D O C H E N (3 2 3 -2 8 1)
In Kleinasien und auf den seiner Küste vorgelagerten Inseln hat es zur Zeit von Alexanders Tod kaum mehr Tyrannen oder selbständige Territorialfürsten (Dy nasten) gegeben, es sei denn in Gebieten, die der König nicht betreten hatte und wo auch seine Satrapen sich nicht hatten durchsetzen können. So vermochte der Perser Mithradates seine Herrschaft über die Städte Kios und Karine in Mysien, die ihm von seinem Vater Ariobarzanes überkommen war (337), nicht nur zur Zeit Alexanders, sondern bis zum Jahre 302 zu behaupten. Desgleichen blieb die Tyrannis des Dionysios über Herakleia am Pontos bestehen (337-304) . Ja durch seine Vermählung mit der persischen Prinzessin Amastris und die Annahme des Königstitels schien der Stadtherr sogar eine eigenständige hellenistische Monar chie gegründet zu haben, der jedoch das Wüten der Söhne gegen die Mutter und das Eingreifen des Lysimachos nach anderthalb Jahrzehnten (288/ 7) ein Ende be reiteten. Die Wirren und Machtkämpfe der Zeit von Alexanders Tod bis zum Siege des Seleukos über Lysimachos (281) haben einzelnen machtgierigen und tatkräftigen Männern gestattet, über mehrere Städte oder kleinere Territorien eine persön liche Herrschaft zu errichten. Da es sich meist um makedonische Offiziere, dazu um Territorialherren handelt, die zu den ihnen untertänig gewordenen Poleis in einem ähnlichen Verhältnis standen wie die großen Könige der Zeit zu den städti schen Gemeinwesen ihres Herrschaftsbereiches, wird man sie eher zu den Dynasten als zu den Tyrannen zählen müssen, doch ist eine klare Scheidung zwischen den beiden Gattungen nur selten möglich. So setzt sich zwar in Thibron, einem aus Sparta stammenden, unter Alexanders Schatzmeister Harpalos dienenden Offizier, der nach dessen Tod Kydonia auf Kreta in seine Hand brachte, sodann die Städte der Kyrenaika sich untertan zu machen suchte, der uns aus dem 4. Jahrhundert bekannte Typus des Condottiere-Tyrannen fort, aber die Absicht des verwegenen Mannes war es nicht eine Stadttyrannis zu errichten, sondern eine Territorial herrschaft über die gesamte Kyrenaika und das benachbarte Libyen zu begründen. Münzen, auf die er seinen Namen setzte, bekunden seinen monarchischen An-
Der griechische Osten
spruch. Ihn zu verwirklichen wurde er freilich bald (322) durch Ophellas gehindert, der ihn besiegte und gefangennahm. Auch bei Eup o /emos, der um 3 1 5 anschei nend über mehrere karische Städte, nämlich Mylassa, Iasos und Theangela, herrsch te, ist nicht von eigentlicher Stadttyrannis zu sprechen. Zwar begegnet der Name in Theangela auch sonst, so daß man an einen heimischen Machthaber denken könnte, aber nicht nur die Wahrscheinlichkeit, daß der Herr jener Städte mit einern gleichnamigen, in Karien operierenden Offizier des Kassandros identisch ist, son dern auch die Tatsache, daß seine in Mylasa geprägten Münzen makedonische Schilde zeigen, spricht dafür, daß Eupolemos ein - vielleicht schon auf dem Alexan derzuge - reich gewordener Offizier war, der seine Geldmittel und ihm von einern der Diadochen erteilte militärische Aufträge dazu benutzte, sich zwischen den Kämpfen der Großen eine eigene Herrschaft über mehrere karische Städte zu ge winnen. Daß diese keine Stadttyrannis, sondern die Dynasteia über ein Territorium war, zeigt eine Inschrift aus Theangela, in der das «Land» des Eupolemos erwähnt wird. Eine ähnliche Erscheinung begegnet uns in Dobmos, der von Antigonos Mon ophthalmos über Großphrygien als Stratege gesetzt wurde. Eine von ihm ge gründete Stadt, wo er anscheinend Veteranen ansiedelte, nannte er nach sich selbst Dokimeion und setzte seinen Namen als den ihres Oikisten auch auf Münzen. Das Oikistentum mag ihm wie etwa einst dem älteren Miltiades auf der Chersones dem neuen Gemeinwesen gegenüber eine tyrannenähnliche Stellung gegeben ha ben, doch wird man auch in Dokimos einen Territorialdynasten zu sehen haben, der sich von der Oberhoheit des Antigonos zu emanzipieren suchte. Die ihm von diesem anvertrauten, in einigen festen Plätzen verwahrten Schätze hat er freilich nicht zur Errichtung einer selbständigen Herrschaft verwenden können, wie es der im Jahre 3 02 bei ihm weilende Philetairos später mit den Geldern seines Oberherrn tat; er sah sich vielmehr genötigt, sie noch vor der Schlacht von Ipsos dem Gegner des Antigonos, Lysimachos, auszuhändigen. Mehr den Typus des Condottiere-Tyrannen verkörpert der Makedone Antip atrides, der sich einige Zeit nach Alexanders Tod der lykischen Stadt Telmessos bemächtigte, aber von Nearchos, dem Satrapen von Lykien und Pamphylien, seinem einstigen Freunde, mit List aus der Burg verdrängt und der angemaßten Herrschaft entsetzt wurde. Von seinem Wirken als Stadtherr ist leider nichts bekannt. Sowohl die wechselnden Machtkonstellationen der Zeit wie die fortbestehenden sozialen und wirtschaftlichen Spannungen haben es in einigen Städten auch zu rei nen Tyrannenherrschaften kommen lassen, deren Zahl vermutlich weit größer war, als wir bei der Dürftigkeit der Überlieferung noch zu erkennen vermögen. Ob der Epikureer und Historiker Idomeneus von Lamp salws, der zu den vornehmen Her ren in seiner Heimat gehörte, wirklich, wie man gemeint hat, gemeinsam mit
Dynasten und Tyrannen. Gesetz von Ilion
anderen ein «Philosophenregiment» über die Stadt ausgeübt hat wie einst Her meias in Atarneus, seine Gefährten in Assos oder die Platoniker Eratos und Ko riskos in Skepsis, muß fraglich bleiben. Gut bezeugt sind dagegen die tyrannischen Umtriebe des Platon-Schülers Timolaos in Kyzikos. Er bereitete um 3 20 in seiner Vaterstadt den Sturz der bestehenden Verfassung vor, indem er durch Verteilung von Geld und Getreide an die ärmeren Bürger sich eine starke persönliche Gefolg schaft gewann und zugleich mit Arrhidaios, dem Satrapen von Kleinphrygien, in Verbindung trat. Beide Wege zur Gewinnung der Herrschaft waren nicht neu und von manchen erfolgreich beschritten worden. Timolaos jedoch gelangte nicht ans Ziel, weil Arrhidaios, der eine Besatzung in die Stadt legen und damit wohl einer Herrschaft des von ihm abhängigen Mannes Rückhalt geben wollte, von den Kyzi kenem zurückgeschlagen wurde. Den gescheiterten Usurpator verhafteten sie, stell ten ihn vor Gericht und verurteilten ihn, jedoch nicht - wohl im Hinblick auf seinen bedeutenden Anhang - zu Verbannung oder Tod, sondern anscheinend nur zu einer Geldstrafe, so daß Timolaos bis in sein Alter in der Stadt wohnen bleiben konnte, wenn auch, wie es heißt, ehrlos und seines früheren Ansehns beraubt. In Ilion ist für die Zeit von 3 23 bis 28:1 zwar kein Tyrann namentlich bezeugt, doch scheint ein inschriftlich erhaltenes Gesetz, das den Jahren nach der Schlacht von Kurupedion (28:1) angehören dürfte, anzuzeigen, daß die Stadt unter der Herrschaft des Lysimachos zeitweise einem Tyrannen ausgeliefert war, mindestens aber, daß man auf Grund in der letzten Zeit gemachter Erfahrungen meinte, die demokratische Ordnung gegen jeden Versuch der Errichtung einer Oligarchie oder Tyrannis schützen zu müssen. Wie schon bei ähnlichen Gesetzen, die in früheren Zeiten anderswo, beispielsweise in Athen, beschlossen worden waren, wurden auch jetzt noch Häupter von oligarchischen Faktionen, Tyrannen und jegliche Geg ner der Demokratie in gleicher Weise als deren ärgste Feinde angesehen. Da die Urkunde nicht nur die Möglichkeit des Aufkommens von Tyrannen in den ersten Jahrzehnten des 3 . Jahrhunderts beleuchtet, sondern auch die ausführlichsten Be stimmungen enthält, die uns über Belohnung von Tyrannenmord und Bestrafung gestürzter Tyrannen und ihrer Anhänger überliefert sind, verdient sie eine nähere Betrachtung. Zunächst werden Belohnungen für diejenigen festgesetzt, welche einen Tyran nen, Oligarchenführer oder Attentäter gegen die Demokratie umgebracht haben, und zwar gestaffelt je nadl dem, ob die Mörder Vollbürger, Fremde oder Sklaven sind. Die ersten erhalten sofort ein Silbertalent, später ein ehernes Standbild, fer ner lebenslängliche Speisung im Prytaneion und zwei Drachmen täglich ; sie sollen bei den öffentlichen Agonen namentlich zum Ehrensitz geladen werden. Dieselben Auszeichnungen werden Fremden gewährt, dazu noch das Bürgerrecht von Ilion und die Erlaubnis, sidl selbst die Phyle, in die sie einzuschreiben sind, zu wählen.
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Sklaven erhalten Freiheit, Rechtsfähigkeit und anscheinend den Stand von Met öken; sie bekommen überdies alsbald 30 Minen und lebenslänglich eine Drachme pro Tag. Die Ehrungen der ersten beiden Gruppen erinnern so sehr an diejenigen des Harmodios und Aristogeiton, daß man eine Nachahmung des berühmten athe nischen Vorbildes annehmen darf, neu dagegen und dem Geist der hellenistischen Zeit entsprechend ist die Ausstattung mit einer Rente auf Lebenszeit. Was das Vermögen der beseitigten Staatsfeinde betrifft, so fällt ein Teil an die Polis, die damit die unter dem gestürzten Regime in ihrem Besitz beeinträchtigten Bürger entschädigt; der Rest dürfte für die Belohnung der Befreier verwandt worden sein. Ist der Tyrann, Oligarchenführer oder sonstige Vergewaltiger der Demokratie durch seine «Mitkämpfer» gestürzt worden, so wird diesen für die ihm früher ge leisteten Dienste Straffreiheit gewährt, ja es erhält sogar jeder von ihnen ein Silbertalent. Ein weiterer Abschnitt des Gesetzes handelt von Strategen und Amtsträgern, die unter einer Tyrannis oder Oligarchie rechenschaftspflichtig fungiert haben, so wie von denjenigen, die damals Bürgern Geldauflagen gemacht haben. Niemand darf von ihnen etwas kaufen noch als Pfand oder Mitgift nehmen ; ein solches Ge schäft würde ungültig sein. Denn den von einem der Genannten Geschädigten soll es erlaubt sein, ohne Abschätzung ihrer Forderung sich an dessen ganzem Vermö gen schadlos zu halten. Strategen oder sonstige Amtsträger, die zweimal die be treffende Stellung innehatten, haften zudem für alle durch ihre Hand gegangenen öffentlichen Gelder wie für ihre persönlichen Schulden. Sie können jederzeit von jedem beliebigen belangt werden, bis unter der Demokratie die gerichtliche Ent scheidung gefällt ist. Das gilt auch für jene, die unter einer Tyrannis oder Olig archie aus öffentlichen Mitteln Gelder vergeben oder genommen haben. Die folgenden Bestimmungen, deren erster Teil in der Inschrift zerstört ist, set ten fest, daß der Besitz derer, die unter der verurteilten Herrschaft einen Bürger umgebracht haben, zur Hälfte der Polis, zur Hälfte den Kindern des Getöteten oder seinen Erben zufallen soll. Wer damals einen Bürger gefesselt, in Haft gehalten oder ins Gefängnis geworfen hat, erhält das Doppelte der sonst üblichen Strafe und muß in doppelter Höhe Schadenersatz leisten. Ist ferner unter einer Tyrannis oder Oligarchie von einem Manne in amtlicher Stellung ein Bürger ums Leben gebracht worden, so gelten alle, die ihre Stimme dafür abgegeben haben, als Mör der und können als solche vor Gericht gezogen werden. Sollte sich einer von ihnen dem Prozeß durch Flucht entziehen, so geht er der bürgerlichen Rechte verlustig und bleibt samt seinen Nachkommen für ewige Zeiten verbannt. Er kann nicht etwa durch verwandtschaftliche Verbindung mit seinem Ankläger oder durch Geld zahlung an ihn eine Versöhnung herbeiführen. ließe sich dieser darauf ein, würde er derselben Strafe wie jener verfallen. Alle Käufe von Land, Häusern, Sklaven
Gesetz 'Von Ilion
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und sonstigen Besitztümern, die von einem Tyrannen, einem Führer der Oligarchie oder einem durch Verbindung mit ihnen in ein Amt gekommenen Bürger getätigt wurden, sind ungültig; das Gekaufte fällt wieder dem Verkäufer zu. Nach einem Paragraphen, der sich gegen solche richtet, die in einer Oligarchie die Wahl eines nur scheinbar demokratischen Rates oder Wahlen zu nur scheinbar demokratischen Ämtern betrieben haben, folgen Anweisungen über die Tilgung des Namens eines Tyrannen, eines Führers der Oligarchie und eines Mannes, der einen Tyrannen zur Herrschaft gebracht oder die Demokratie gestürzt hat, auf ihren Weihgeschenken, Grabsteinen und in den Priesterlisten. Auf Inschriften, die einer der Genannten als Privatmann gesetzt hat, ist der gesamte Text auszumeißeln, damit kein Erinne rungszeichen an ihn bestehen bleibt. über die Weihgeschenke selbst wird der De mos befinden. Ist das Weihgeschenk gemeinsam mit anderen Bürgern aufgestellt worden, so muß wenigstens der Name des Volksfeindes unkenntlich gemacht wer den. In einem letzten Abschnitt schließlich wird denjenigen Bürgern, die durch Auf wendung privater Mittel zu seinem Sturz sich verdient gemacht haben, die Ehre öffentlicher Bekränzung zuerkannt und Rückerstattung der geleisteten Zahlungen gewährt. Der Zweck dieses Gesetzes, dessen unversöhnliche Feindschaft gegen Tyrannen und alle sonstigen Vergewaltiger der Demokratie kaum überboten werden kann, ist nicht nur die Abschreckung derjenigen, die sich etwa mit Umsturzplänen trü gen, sondern auch aller, die sich etwa einem undemokratischen Regime zur Ver fügung stellen würden. Es geht daher hinsichtlich dessen, was diese Leute nach dem Sturz einer Tyrannis oder Oligarchie zu erwarten haben, weit über die re lativ milden Bestimmungen des nach Zusammenbruch der Herrschaft der Dreißig in Athen beschlossenen Gesetzes hinaus, dessen Ziel die innenpolitische Befrie dung war. Wie im allgemeinen unter einer Tyrannis die Organe der Polis erhalten blieben, so wird auch in dem Gesetz mit dem Vorhandensein von Strategen und anderen rechenschaftspflichtigen Jahresbamten unter einer etwaigen Gewaltherr schaft gerechnet, was das Fortbestehen von Wahlen durch eine Volksversammlung zur Voraussetzung hat. Dasselbe gilt ohne Zweifel vom Rat zur Zeit einer Tyran nis, wenn auch in dem betreffenden, zum Teil zerstörten Passus nur von einem Rat unter oligarchischem Regiment die Rede ist. Eine Durchbrechung der demo kratischen Ämterordnung scheint offenbar dann gegeben, wenn ein Amt zweimal bekleidet wird. Da die Tyrannen, wie schon das Beispiel des Peisistratos zeigt, auf das innerstaatliche Leben gern dadurch Einfluß nahmen, daß sie ihnen ergebenen Männern zu einem hohen Amt verhalfen, lag es nahe, in allen Amtsträgern unter einer Tyrannis treue Anhänger oder willfährige Kreaturen des Gewalthabers zu sehen, die nur zu dessen oder zu eigenem Nutzen gehandelt hätten. Ähnlich wer den die Vorsitzenden und Beisitzer von Gerichtshöfen beurteilt und behandelt.
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Daß alle, die von einem Beamten der Tyrannenzeit materiell geschädigt zu sein behaupteten, sich ohne Feststellung der Berechtigung ihrer Forderung an ihm schadlos halten dürfen, zeigt ebenso wie die summarische Erklärung, daß jeder, der für Hinrichtung eines Bürgers gestimmt habe, als Mörder anzusehen sei, wie sehr bei Abfassung des Gesetzes politische Leidenschaft rechtliches Denken überwog. «Mitkämpfer», unter denen man vom Tyrannen verwandte Söldner oder auch Bürgersoldaten verstehen mag, sind an sich auch von Strafe bedroht, die der uns erhaltene Text allerdings nicht näher bestimmt, da er diese Gruppe nur a.1s etwaige Mörder des Gewalthabers erwähnt. Desgleichen bietet der Text nichts mehr über die Strafe, die den Tyrannen selbst und sein Haus treffen soll, doch darf im Hin blick sowohl auf den radikalen Charakter der übrigen Strafbestimmungen wie auf das Gesetz von Eresos aus Alexanders Zeit als sicher gelten, daß auch in Ilion auf Tyrannis der Tod stand, daß die Angehörigen des gestürzten Machthabers und seine Nachkommen, soweit sie nicht ebenfalls dem Tode verfielen, auf ewige Zeit verbannt wurden, daß ferner der gesamte Besitz des Hauses konfisziert wurde, daß man schließlich den Tyrannen und seinen nächsten Anhang feierlich verfluchte. Auch die Bestattung seines Leichnams ist gewiß untersagt worden. Das lehrt die entsprechende Bestimmung einer etwa gleichzeitigen Urkunde aus der an der kari schen Küste gelegenen Insel Nisyros, wo in der letzten Zeit des Königs Lysimachos eine uns sonst nicht bekannte Tyrannis bestanden zu haben scheint. Die Frage end lich, ob das Gesetz von Ilion rückwirkende Kraft hatte, hängt mit der anderen, schon angedeuteten Frage zusammen, ob ein tyrannisches oder oligarisches Regi ment unmittelbar vorausgegangen war, was weder bewiesen noch bestritten wer den kann, so daß eine Entscheidung nicht möglich ist. Wie für Nisyros ist für drei Städte Ioniens das Vorhandensein einer Tyrannis im 3. Jahrhundert bezeugt, von der sich leider in keinem Falle sagen läßt, wer ihr Träger war. Auch bleibt es fraglich, ob diese Herrschaften bereits der Zeit vor 281 angehören. Auf der Insel Chios wurden Kämpfer, die unter Einsatz ihres Lebens einen Tyrannen getötet hatten, durch ein Denkmal geehrt. In Erythrai oder Klazo menai war ein Tyrann von einem gewissen philitos umgebracht worden, dem dar aufhin von der wiederhergestellten Demokratie ein ehernes Standbild mit Schwert errichtet wurde. Als die Oligarchen, die hier wie gelegentlich sonst in Ionien mit der Tyrannis sympathisierten, dieses Schwert entfernten, beschloß der Demos, die Statue in ihrer ursprünglichen Form wiederherzustellen und sie an Festtagen be kränzen zu lassen. In Teos erließ man aus Furcht, es könnte der Befehlshaber über das angegliederte Kyrbissos sich zum Tyrannen aufschwingen, wie es offenbar bereits einmal geschehen war, ein Gesetz, das Tyrannis mit Verbannung, Verflu chung und Einziehung des Vermögens bestrafte, den Mörder eines Tyrannen aber für unbefleckt von Blutschuld erklärte.
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Bleibt in diesen drei Fällen der Tyrann für uns namenlos und ohne Konturen, so lassen sich aus der Zeit um 300 zwei andere Tyrannenpersönlichkeiten etwas klarer fassen. Bald nach der Schlacht bei Ipsos (301) vermochte sich Hieron von Priene zum Herrn seiner Vaterstadt zu machen. Ob ihm dies mit Hilfe von Söld nern oder dank Unterstützung durch einen größeren Teil der Bevölkerung oder durch Zusammenwirken beider Faktoren gelang, erfahren wir nicht. Wahrschein lich war das Letztere der Fall, denn es wird bezeugt, daß ihm als Tyrannen ein Teil der Bürgerschaft gewogen war und daß er feste Plätze in der Umgegend mit erge benen Truppen besetzen konnte. Von der Bekleidung eines Amtes ist nichts be kannt. Hierons Herrschaft galt noch Späteren als grausam, erst recht seinen Geg nern, die er nach Tyrannenart aus der Stadt vertrieb. Sie waren jedoch so zahlreich, daß sie einen jener festen Plätze nehmen und sich dort gegen den Machthaber be haupten konnten. Auch führten sie Streifzüge durch das Land und gingen sowohl die Rhodier wie die Ephesier um Hilfe an. Während jene sich anscheinend zurück hielten, sandten diese mit Duldung des von Demetrios Poliorketes in Ephesos stationierten Kommandanten Ainetos ihnen Unterstützung. Die Verbannten sa hen sich gegenüber dem unter Hieron stehenden größeren Teil der Bevölkerung als die allein legitime Bürgerschaft von Priene an ; sie faßten eigene Volksbeschlüsse und wurden, wenigstens soweit sie sich in das Grenzkastell Charax geworfen hat ten, von den Ephesiern offiziell als Bundesgenossen bezeichnet. Hieran, der wie die meisten Tyrannen die Polisorgane bestehen ließ, so daß auch in Priene selbst Volksbeschlüsse gefaßt werden konnten, hat sich vermutlich bei Demetrios über das Verhalten des Ainetos beschwert, im übrigen den König Lysimachos um Bei stand ersucht, jedoch von ihm so wenig wie von einer anderen auswärtigen Macht Hilfe erhalten. Gleich manchen anderen Stadtherren mußte er erfahren, daß in die ser Zeit eine Tyrannis ohne Rückhalt an einem der Diadochen auf die Dauer kaum zu behaupten war. Die Vertriebenen konnten nach vorausgegangener Belagerung in die Stadt eindringen, den Gewalthaber stürzen und die frühere politische Ordnung wiederherstellen, ein Ereignis, das man fortan mit einem jährlichen Freiheitsfest feierte. Was aus Hieran wurde, erfahren wir nicht; er mag wie einige seiner An hänger nach Rhodos entkommen sein (298/ 7) . Auch auf Samos hat in dem halben Jahrhundert nach Alexanders Tod und dem Ende der attischen Kleruchie (3 22) eine Tyrannis bestanden. Sie wurde von Duris, dem bekannten Historiker, ausgeübt, doch scheint schon sein Vater Kaios Herr der Stadt gewesen zu sein. Ist man geneigt, dessen Herrschaft noch in die frühe Dia dochenzeit zu setzen, bevor die Insel unter die Oberhoheit des Antigonos geriet (306), so bleibt es aus Mangel an Zeugnissen ungewiß, ob der Sohn noch vor die sem Zeitpunkt oder erst in den Jahren nach der Schlacht von Ipsos über die Insel gebot. Auch von der Form und Art seiner Herrschaft wissen wir nichts. Aus der
Der griechisch e Osten
Tatsache, daß Duris und sein Bruder Lynkeus Schüler des Theophrastos gewesen waren, also dem Kreise des Peripatos angehört hatten, lassen sich in dieser Hin sicht so wenig wie bei den aus der Akademie hervorgegangenen Stadtherren Schlüsse ziehen. Desgleichen ist nicht zu sagen, ob die in Duris' Geschichtswerk gelegentlich zutage tretende antiathenische Tendenz ihren Grund in der früheren Herrschaft Athens über die Insel oder in späteren Erfahrungen des Autors ihren Grund hat und ob die «eigenen Leiden», von denen er einmal spricht, auf das Ende seiner Tyrannis und die Folgen, die es etwa für ihn hatte, zu beziehen sind. Dieses Ende fällt jedenfalls nicht mit seinem Tode zusammen, denn er hat die Besitz nahme der Insel durch Ptolemaios II. nach der Schlacht von Kurupedion (281) noch erlebt. Daß ihm nicht das Schicksal so mancher anderer Tyrannen widerfuhr, könn te anzeigen, daß sein Regiment ein mildes war. Die Stadtherren auf Kypros, die uns unter Alexander und den älteren Diado chen mehrfach begegnen, waren ebensowenig wie einst Euagoras und die anderen damaligen Fürsten der Insel Tyrannen, vielmehr legale Stadtkönige, die zumeist einer alten Dynastie entstammten. Sie werden denn auch auf Inschriften, Münzen und einhellig in der literarischen überlieferung als Könige bezeichnet. Von einer tyrannischen überschreitung ihrer Befugnisse ist nichts bekannt. Wenn späte Au toren den Nikokreon von Salamis (33 1-311/0) «Tyrann» nennen, dann deshalb, weil er den Demokriteer Anaxarchos von Abdera, der ihn gereizt hatte, angeblich auf grausamste Weise umbringen ließ. Der mannhafte, der Martern und des To des spottende Philosoph verlangte als Gegenspieler nicht einen König, sondern einen Tyrannen, wie denn auch als Parallele die Szene zwischen dem Eleaten Zenon und einem Tyrannen von Elea angeführt wird. Es ist also ein beliebtes Motiv, das in Zeiten der vorwiegend moralischen Fassung des Tyrannenbegriffes den König Nikokreon zum Tyrannen gestempelt hat, der er politisch gesehen nicht war.
I I. D I E Z E I T D E S S E LE U K I D E N R E I C H E S (2 8 1 - 6 6 )
1. KLEINASIEN
Für die zwei Jahrhunderte nach der Schlacht von Kurupedion, durch die ganz Kleinasien in den Herrschaftsbereich der Seleukiden trat, ist die auf uns gekom mene überlieferung zu dürftig, als daß sich die Verbreitung griechischer Stadt tyrannis auf asiatischem Boden und die Formen, die sie etwa annahm, auch nur einigermaßen deutlich abzeichneten. Um so weniger, als die Schwierigkeit, zwi schen Tyrannen, Dynasten und Gouverneuren zu scheiden, ungemindert fortbe steht. Immerhin läßt sich allgemein wohl sagen, daß weder die Seleukiden noch die
Kypros. Philetairos von Pergamon
Ptolemaier in den Griechenstädten Kleinasiens, die ihnen unters tanden oder von ihnen abhängig waren, das Aufkommen willfähriger Tyrannen ähnlich gefördert haben, wie es die Antigoniden auf der Peloponnes zeitweise taten. Der älteste der Machthaber, bei dem sich das Problem, ob er eine Tyrannis er richtete, erhebt, ist Philetairos von Pergamon. Sohn eines Attalos, war er väter licherseits offenbar makedonischer Abkunft, während seine Mutter Boa einer vor nehmen Familie Paphlagoniens entstammte. Seine Jugend, in der er angeblich durch einen Unglücksfall die Manneskraft verlor, mag er in seiner Heima.t Tios verbracht haben, einer der Städte, die später Amastris in der ihren Namen tragen den Neugründung aufgehen ließ. Von seinem Bruder Eumenes heißt es, daß er um 279 diese neue Stadt innehatte, sie aber dann dem pontischen Fürsten Ariobarzanes übergab. Mit Recht hat man angenommen, daß Eumenes nicht Tyrann von Ama stris, sondern der von Lysimachos' Gattin Arsinoe eingesetzte Zivilgouverneur war, wie ein solcher auch in Herakleia begegnet. Gleich seinem Bruder ist Phile tairos im Dienst des Lysimachos aufgestiegen, zu dem er - schon vierzigjährig noch vor der Schlacht bei Ipsos im Gefolge des Dokimos übergegangen zu sein scheint. Hatte dieser von Antigonos einst die Verwaltung von Schätzen übertragen erhalten, so wurde Philetairos in den achtziger Jahren von Lysimachos mit der Sicherung und wohl auch Verwaltung in Pergamon deponierter Gelder, angeblich 9000 Talenten, betraut. Aber während des blutigen Zwistes in der königlichen Familie sagte er sich von seinem Herrn los und schloß sich Seleukos an, von dem er sich anscheinend versprechen ließ, daß er die bisher für Lysimachos verwahrten Schätze und die Stadt Pergamon für sich behalten dürfe (28312) . War er bisher praktisch Gouverneur der Stadt gewesen, so wurde er jetzt ihr Herr und unter schied sich in seiner Stellung kaum von einem Tyrannen. An einen solchen erin nern denn auch der große Reichtum des Machthabers, der ihm gestattete, ein star kes Söldnerheer zu unterhalten, das Fortbestehen der Polisorgane, deren Spitzen, fünf Strategen, der Machthaber allerdings - darin despotischer als die meisten Tyrannen - seinerseits bestellte, die Errichtung prächtiger Bauten und die Stiftung von Weihgeschenken an nahe und ferne Heiligtümer. Auch die Anerkennung der Oberhoheit des Seleukidenkönigs, welche Münzen erweisen, kann nicht dagegen sprechen, gab es doch seit dem 6. Jahrhundert «Klienteltyrannen». Und doch wird man Philetairos und noch weniger seine Nachfolger zu den Tyrannen rechnen wollen. Er war zunächst der Gouverneur eines Königs und trat, indem er diesem aufsagte, nicht nur der Polis Pergamon, sondern auch anderen Städten gegenüber an dessen Stelle. Denn er ve rstand es, wohl bald nach der Schlacht von Kurupedion und dem Tode des Seleukos, ganz Mysien unter seine Herrschaft zu bringen, also Fürst eines bedeutenden Territoriums zu werden, wie er denn auch in der überlie ferung «Dynastes», nie «Tyrann» genannt wird. Seine und der späteren Atta.liden
Der griechische Osten
Stellung zu Pergamon war die der hellenistischen Könige zu ihren Residenzen. Daß manches an Tyrannis denken läßt, zeigt nur von neuern, wie ähnlich das Ver hältnis dieser Fürsten und auch der Dynasten zu den ihnen untertänigen Städten einer echten Stadttyrannis war. Eine solche treffen wir um die Mitte des 3. Jahrhunderts in Milet an. Ptolemaios, ein Sohn des Königs Ptolemaios lI. Philadelphos, sagte sich von seinem Vater los und rief, während er sich in Ephesos festsetzte, den aitolischen Condottieren Ti marchos zu seiner Unterstützung herbei. Dieser landete südlich der Stadt an der Küste, verbrannte seine Schiffe und nahm den Kampf gegen Milet auf. Der dortige Kommandant des Philadelphos kam dabei ums Leben. Angetan mit dessen make donischerTracht soll Timarchos sich die Einfahrt in einen Hafen verschafft haben, anscheinend denjenigen von Samos. Von hier aus gelang es ihm, sich in den Be sitz von Milet zu setzen, über das er nun etwa zwei Jahre lang (259/8) als Tyrann gebot. Wieder begegnet uns der schon aus dem 4. Jahrhundert bekannte Typus des Condottiere-Tyrannen. Seine Herrschaft, über deren Art und Form wir nichts wis sen, wurde freilich schon bald durch den Seleukidenkönig Antiochos lI. gestürzt, der Milet die Freiheit und die demokratische Verfassung zurückgab, wofür ihm die Bürger durch Zuerkennung göttlid1er Ehren dankten. Die ohne Rückhalt an eine starke auswärtige Macht in dieser Zeit lebensunfähige Stadttyrannis war in Milet nur eine flüchtige Episode. Sie ist denn auch bis ans Ende des 3. Jahrhunderts, so weit wir sehen, auf kleinasiatischem Boden die einzige ihrer Art geblieben. Noch weniger nämlich als Philetairos können kleine Dynasten, die wir im mitt leren und südwestlichen Kleinasien antreffen, als griechische Stadttyrannen gelten, wiewohl oder gerade weil sie nach dem Beispiel mächtiger Herrscher Städte grün deten, denen sie ihren eigenen Namen gaben. Wie schon bei Dokimos handelt es sich um Männer makedonischer oder auch griechischer Abkunft, die von einer hohen militärischen oder zivilen Amtsstellung aus praktisch zu Herren eines Terri toriums wurden. So konnte Themison, der Günstling des Antiochos lI., in Süd phrygien, wohl auf einem ihm vom König geschenkten Gebiet, die Stadt Themiso nion ins Leben rufen, Lysanias (auch mit der Kurzform «Lysias» genannt) , ein Dynast in Phrygien, etwa zwei Jahrzehnte später auf seinem Territorium eine Stadt Lysias erstehen lassen und sein Sohn Philomelos, dem Beispiel des Vaters folgend, zum Gründer von Philomelion werden. Neben Lysanias werden ferner unter den Dynasten, die um 227 zum Wiederaufbau der durch ein Erdbeben verheerten Stadt Rhodos materiell beitrugen, der sonst nicht bekannte Limnaios sowie Olym pichos genannt, welch letzterer wohl in Alinda residierte. Von einer Tyrannis ist auch bei ihm nicht zu sprechen, vielmehr war Olympichos formal Strategos von Karien unter Seleukos lI., später unter Philipp V., faktisch aber Dynast der land schaft, in der schon einst die Hekatomniden eine ähnliche Stellung eingenommen
Timarchos von Milet. Kleinasiatische Dynasten
hatten. Daß es in der Nähe des Latmosgebirges, anscheinend in Herakleia, zur Zeit Antiochos' III. einen Tyrannen gab, der vermutlich gewaltsam beseitigt wurde, scheint aus einer unveröffentlichten Inschrift hervorzugehen. Etwa gleichzeitig (um 203/2) gebot ein Molpagoras über Kios. Geschickt im Reden und Handeln hatte er sich zum Sprecher der gegen die Reichen aufgebrachten Menge gemacht und da durch, daß er jene verdächtigte, für sich selbst als Volksführer eine monarchische Stellung gewonnen, die an Tyrannis denken läßt. Immerhin wäre es möglich, daß Beseitigung und Verbannung der Besitzenden nicht auf seinen Befehl, sondern durch Volksbeschluß erfolgten. Jedenfalls behielt er die konfiszierten Güter nicht für sich selbst, sondern brachte sie unter der ärmeren Bevölkerung zur Verteilung. Leider fehlt es an jeglicher Kunde, ob auch in anderen Städten Kleinasiens die so zialen Spannungen ähnliche Erscheinungen zeitigten. Zweifelhaft ist es ferner, ob einige als Tyrannen bezeichnete Gewalthaber im lykisch-pisidischen Raum wirklich als solche anzusehen sind. Daß sie zu einem guten Teil heimischer Herkunft waren, braucht freilich ihre Zuordnung zu den griechischen Tyrannen nicht zu verhindern, da sie selbst weitgehend hellenisiert waren und über Städte mit griechischer Polisverfassung geboten, doch erhebt sich gleichwohl die Frage, ob es sich um eigentliche Stadtherren oder nicht vielmehr um Dynasten, wo nicht gar um Räuberhäuptlinge handelt. Wenn eine wohl aus dem Anfang des 3. Jahrhunderts stammende Inschrift aus dem lykischen Apollo nia von Tyrannen früherer Zeiten spricht, so mögen damit Dynasten nach Art der für das 5. und 4. Jahrhundert bezeugten Fürsten oder auch kleine makedonische Machthaber gemeint sein wie jener Antipatrides, der sich nach Alexanders Tod in Telmessos festsetzte. Dieselbe Stadt wurde, nachdem Lykien spätestens 2 80 in den Besitz der Lagiden gekommen war, von Ptolemaios III. um 240 einem Sohn des Königs Lysimachos und der berühmten Arsinoe mit Namen Ptolemaios unter stellt, dessen Nachkommen noch bis ins 2 . Jahrhundert über sie herrschten. Ty rannen waren diese Angehörigen des Königshauses nicht, sondern Vizekönige über ein auch Telmessos umfassendes Territorium, die eigene Verfügungen erlie ßen und mit dem Nachlassen der Zentralgewalt eine immer selbständigere Stellung eingenommen haben dürften. Anders steht es mit dem Lykier Moagetes, der in einer wahrscheinlich um 1 80 verfaßten Inschrift als Tyrann erscheint und zwar vermutlich der Stadt Bubol1. Jedenfalls hatte er mit den Bubonen einige Zeit vorher, vielleicht noch ehe An tiochos III. Lykien gewann (197), Raubzüge unternommen, doch scheint er damals auch in einem besonderen, nicht mehr recht erkennbaren Verhältnis zu der Stadt Kibyra gestanden zu haben, vielleicht sogar von ihr abhängig gewesen zu sein. Denn die bedrohten Bewohner von Araxa, gegen das Moagetes vorging, schickten zunächst an Kibyra, dann erst an ihn Gesandte. Nach Polybios, der den Mann
Der griechische Osten
als grausam und hinterlistig schildert, war er im Jahre 1.89 Tyrann von Kiby ra, Syleion und einer weiteren, «im Sumpf gelegenen Stadt». Damals hätte er nach einer scharfen Auseinandersetzung mit dem römischen Feldherrn Cn. Man lius Vulso diesen bewogen, ihn gegen Zahlung von 1.00 Talenten und 1.0 000 Me dimnen Getreides in die Freundschaft des römischen Volkes aufzunehmen. Moage tes, der also über bedeutende Gelder und fruchtbare Gebiete verfügt haben muß, behielt demnach seine Stellung und scheint mindestens in der Tyrannis über Kibyra einen Nachfolger namens Pankrates gehabt zu haben. Dieser muß jedoch vor 1. 67 abgetreten oder gestürzt worden sein. Auch in Bubon hat es um die Mitte des Jahrhunderts keinen Tyrannen mehr gegeben. Denn ein Mann aus der Stadt, der höchstwahrscheinlich Moagetes (11) hieß und wohl sicher ein Verwandter des einstigen gleichnamigen Tyrannen war, benutzte, nachdem er nicht lange vor 1.40 von den Pisidern auf Grund des Ansehens, das er bei ihnen genoß, zu ihrem Stra tegen gewählt worden war, dieses Amt, sich zum Herrn über Bubon zu machen. Er umgab sich mit einer Leibwache und gebärdete sich auch sonst als Tyrann. Nach einiger Zeit aber ennordete ihn sein Bruder Semias und übernahm selbst die Herr schaft, bis die in Termessos herangewachsenen Söhne des Ermordeten den Vater rächten und den Bürgern von Bubon, statt sie erneut zu vergewaltigen, die frei staatliche Ordnung zurückgaben. Von Kibyra hören wir in diesem Zusammen hange nichts, doch behauptet Strabon, es hätte die Stadt, die Vorort der Bubon, Balbura und Oinoanda umfassenden Tetrapolis war, immer unter Tyrannen ge standen, deren Regiment freilich milde gewesen sei. Erst der römische Feldherr L. Licinius Murena habe der Herrschaft eines Moagetes (IlI) das Ende bereitet und Bubon sowie Balbura dem Lykischen Bunde angegliedert (84 v. Chr.) . Was die Art der Tyrannis über die genannten Städte betrifft, so ist zu bemerken, daß neben dem ersten Moagetes die Bubonen und anscheinend auch die Kibyraten an den Kämpfen gegen Araxa beteiligt waren, also keine Entwaffnung der Bürger erfolgt war. Das Verhältnis zwischen ihnen und dem Tyrannen dürfte mithin kein feindliches gewe-sen sein. Dazu stimmt die Angabe Strabons über die milde Herr schaft der Machthaber und die Tatsache, daß der zweite Moagetes, obwohl der Tyrannenfamilie angehörend, vor Wiederherstellung der Tyrannis ruhig in Bubon leben konnte, daß ferner der Rhodier Polyaratos unter Berufung darauf, daß er die Kinder des Pankrates bei sich erzogen habe, Aufnahme in Kibyra erlangte. Nur unter Moagetes lI., der sich mit einer Leibwache umgab, und seinem durch Bruder mord zur Herrschaft gelangten Nachfolger Semias scheint das Regiment unbeliebt gewesen zu sein, so daß nach Beseitigung des letzteren es den Söhnen des Moage tes lI. geraten schien, Bubon die Freiheit zu geben. Obwohl wir von der Stellung der Machthaber zu den beiden Poleis nichts Näheres hören, ist am Bestehen einer echten Tyrannis kaum zu zweifeln. Sie erstreckte sich unter Moagetes 1. und wohl
Lykische Städte. Tarsos
auch unter Pankrates allem Anschein nach über Bubon, Kibyra, Syleion und die «Stadt im Sumpf», unter Moagetes Ir. und Semias sicher über Bubon, wahrschein lich aber auch über Kibyra und die beiden anderen Städte, da der dritte Moagetes als Tyrann von Kibyra erscheint. Daß auch Balbura und Oinoanda als Orte der Tetrapolis faktisch dem Tyrannen des Vorortes Kibyra unterstanden, wird man annehmen müssen. Es handelt sich also, soweit die dürftige überlieferung Einblick gewährt, um eine Tyrannis über mehrere Städte, die sich mit Unterbrechungen in der Familie des ersten Moagetes vererbte. Außer ihm sind für die Zeit vor 1 80 noch andere Tyrannen in Lykien bezeugt, die vielleicht mit ihm in Verbindung standen. Lysanias und Eudemos vermochten sich nach blutigen Kämpfen in den Besitz von Xanthos zu setzen. Wie ein Feldzug des Lykischen Bundes gegen die beiden Gewalthaber ausging, erfahren wir nicht, doch mußte sicher Eudemos, wahrscheinlich auch Lysanias weichen. Als der erstere sich bald darauf der Stadt Tlos bemächtigte und hier eine Tyrannis errichtete, ward er abermals von den Streitkräften des Bundes angegriffen und erlag ihnen. Ebenso scheint in dem nicht weit von Araxa gelegenen OrZoanda um dieselbe Zeit ein Tyrann gestürzt worden zu sein, worauf das befreite Gemeinwesen in den Lyki schen Bund aufgenommen wurde. Denn wie der Achaiische Bund im griechi schen Mutterland zeigte sich dieser als grundsätzlicher Tyrannenfeind und Schüt zer freistaatlicher Ordnungen. Mit den Herren von Kibyra und Bubon ist er aller dings nicht fertig geworden, auch nicht mit den nahen Bergpisidern, deren Gebiet, wie Strabon berichtet, in Tyrannenherrschaften aufgeteilt war. Hier ist jedoch schon wegen der Städtearmut und der geringen Hellenisierung nicht an griechische Stadttyrannis zu denken, zumal da es von jenen Machthabern ausdrücklid1 heißt, daß sie ein Räuberleben führten. Die angeblichen Tyrannen dort sind also in Wahrheit Räuberhäuptlinge gewesen, die ganze Bezirke zeitweise in ihre Gewalt brachten. Räuberhäuptlinge waren offenbar auch die «Tyrannen», die nach dem Zeugnis Strabons vor seiner Zeit das «Rauhe Kilikien», das sonst den Priesterfürsten des in der Nähe von Olbe gelegenen Zeusheiligtums unterstand, für einige Zeit in ihre Gewalt brachten, dann aber vertrieben werden konnten, entweder durch die Rö mer, die seit 10) in jener Gegend Fuß gefaßt hatten, oder erst um die Mitte des 1. Jahrhunderts durch Zenophanes, der damals die Priesterherrschaft von Olbe usurpierte. Dagegen ist der Epikureer Lysias von Tarsos im «ebenen Kilikien» als echter Stadttyrann anzusehen. Zum Stephanophoros, das heißt zum Priester des mythischen Oikisten Herakles gewählt, legte er das Amt, mit dem offenbar be trächtliche politische Kompetenzen verbunden waren, nach Ablauf der gesetz lichen Frist nicht nieder, sondern wurde, wie es heißt, von dieser zivilen Stellung aus Tyrann. Er kleidete sich in einen halbpurpurnen, halbweißen Chiton, legte um
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Der griechische Osten
seine Schultern ein kostbares Obergewand und trug weiße Sandalen sowie einen goldenen Lorbeerkranz. Die Güter der Reichen verteilte er unter die Armen, Wi derstrebende ließ er umbringen. Auf kleinasiatischem Boden ist in hellenistischer Zeit Lysias neben Molpagoras von Kios der einzige Tyrann, für den sozialrevolu tionäre Maßnahmen bezeugt sind, ohne daß er dabei als Werkzeug einer auswär tigen Macht erschiene, doch gestattet die Dürftigkeit unserer Überlieferung nicht den Schluß, daß die beiden genannten wirklich die einzigen Gewalthaber dieser Art waren. Daß Lysias unter den Augen des in Tarsos residierenden römischen Statthalters sich auf solche Weise hätte betätigen, ja überhaupt Tyrann der Stadt hätte werden können, ist nicht zu glauben. Man wird in Ermangelung sonstiger chronologischer Angaben sein Wirken lieber in die Zeit, als Tigranes von Arme nien seine Macht über Kilikien ausgedehnt hatte (83-69 v. Chr.), als in die Zeit des Antonius oder gar des Augustus setzen. Im Gegensatz zum Verhalten der Römer, die seit ihrem Übergreifen nach Klein asien dort so wenig wie in Griechenland Tyrannenherrschaften gefördert haben, steht bezeichnenderweise die Art, wie Mithradates VI. von Pontos bei Sicherung seiner Herrschaft über das westliche Anatolien verfuhr. Wir hören, daß der König an seine Freunde Reichtümer, Dynasten- und Tyrannenherrschaften verteilte, und können aus der Zeit seines ersten großen Krieges mit Rom wenigstens noch zwei Fälle namhaft machen. So stand damals Kolophon unter einem Tyrannen Epiga nos, den Lucullus im Jahre 85 beseitigte, Tralleis unter der Herrschaft der Söhne eines Kratippas, die ebenfalls eine Tyrannis ausübten. Diese Männer waren offen sichtlich Bürger der betreffenden Städte, nicht etwa vom König eingesetzte Gouver neure wie beispielsweise Philopoimen aus Stratonikeia, der Vater seiner Gemahlin Monime, den er zum Aufseher über Ephesos bestellte. Gewiß stand jenen gleich diesem eine pontische Besatzung zur Seite, auf deren Waffen ihre Herrschaft ruhte, wie ja auch in Athen sich Aristion mit Hilfe der Truppen des Feldherrn Archelaos behauptete. Mithradates bediente sich also zur Erhaltung der Willfährigkeit grie chischer Städte Westkleinasiens desselben Mittels, das vor Jahrhunderten schon Dareios I. ihnen gegenüber angewandt hatte. Auch zu Beginn seines letzten Krieges gegen Rom ist Ähnliches zu erkennen. Damals brachte in Adramyttion ein gewisser Diadoros, Bürger und Stratege der Stadt, um dem König gefällig zu sein, die Mit glieder des offenbar romfreundlichen Rates um, und es ist sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht ausdrücklich bezeugt, daß er sich damit die Tyrannis gewann. An demagogischem Geschick wird es dem einstigen Anwalt und Redner nicht gefehlt haben. Beim Rückzug des Mithradates aus der Gegend von Adramyttion folgte er ihm nach Pontus, wurde von seinen Mitbürgern mit schwerster Strafe belegt und nahm sich, angeblich weil er, der als Schüler der Akademie gelten wollte, die Schande nicht ertrug, in Amaseia das Leben.
Tyrannen unter Mithradates. Kyrene
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2. K Y R E N E
Während unter ptolemaiischer Herrschaft weder die wenigen griechischen Poleis Ägyptens noch die kyprischen Städte jemals eine Tyrannis erlebten oder auch nur zu befürchten hatten, hat Kyrene in Zeiten, als das Regiment der Lagiden unter brochen oder in Verfall geraten war, vorübergehend unter Tyrannen gestanden. Wahrscheinlich in den Jahren um 250, als Demetrios der Schöne, ein Halbbruder des Makedonenkönigs Antigonos Gonatas, über die Kyrenaika gebot und ihren Städten größere Selbständigkeit gewährte, haben die uns von ihrem Wirken auf der Peloponnes als Tyrannenstürzer bekannten Akademiker Ekdelos und Demo phanes die Verfassung von Kyrene auf Wunsch der Bürger neu geordnet und, wie es heißt, ihnen die Freiheit erhalten, doch erwähnt die Überlieferung nur inneren Zwist, nicht eine Tyrannis, die vorausgegangen wäre. Eine solche scheint erst fast ein Jahrhundert später, um 16312, aufgekommen zu sein. Damals riefen die Kyrenaier im Krieg mit einem Ptolemaier, vermutlich Ptolemaios Physkon, den Bruder des Ptolemaios VI. Philometor, einen aitolischen Condottieren Lykopos zu Hilfe und gaben die Leitung des Gemeinwesens in seine Hand. Der Tod des größ ten Teiles der kyrenaiischen Bürgertruppen im Kampf ermöglichte es diesem eine «Monarchie», also eine Tyrannis zu errichten, von der leider nichts weiter verlau tet, als daß sie dem Gewalthaber leidenschaftliche Schmähungen von seiten der Frauen der Stadt zugezogen haben soll, die er daraufhin angeblich in Massen um bringen ließ, wobei viele sich selbst der Tötung gestellt hätten. Die Gewaltherr schaft dürfte nur eine kurze Episode in der Geschichte Kyrenes gebildet haben. Dasselbe gilt von der Tyrannis eines Nilwhates und seines Bruders Leandros, über die uns neben knappen Angaben eine romanhaft ausgeschmückte Erzählung vorliegt. Kurz vor seinem Tode (96 v. Chr.) hatte Ptolemaios VIII. Sohn Apion, der mit der Kyrenaika abgefunden worden war, dieses Land den Römern vermacht, die es jedoch nicht in eigene Verwaltung nahmen, sondern die Städte für frei er klärten. Die Folge waren innere Wirren und Kämpfe, in deren Verlauf es dem Nikokrates gelang, sich zum Tyrannen der Stadt Kyrene und wohl auch der ande ren Gemeinwesen aufzuwerfen, wahrscheinlich mit Unterstützung der niederen Bevölkerung. Er wird als grausamer Despot geschildert, der nicht nur viele Ge walttaten verübte, eine große Zahl von Bürgern verbannte oder hinrichten ließ, sondern angeblich auch an den Toren die Leichenbegängnisse kontrollierte, damit nicht heimlich ein Lebender aus Kyrene fortgetragen würde. Aretaphila, die schöne und kluge Tochter des von Nikokrates umgebrachten Kyrenaiers Phaidimos, wäre von dem Tyrannen zur Ehe mit ihm gezwungen worden, hätte aber, wiewohl sie seine aufrichtige Liebe und sogar Anteil an der Herrschaft genoß, den Vergewalti ger ihrer Vaterstadt zu ermorden getrachtet. Nachdem ein Versuch mit Gift miß-
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Der griechische Osten
lungen war, soll sie durch Vermählung ihrer Tochter (aus einer früheren Ehe) mit Nikokrates' Bruder Leandros diesen für ihren Plan gewonnen haben. Durch einen Sklaven Daphnis ließ Leandros den Gewalthaber niedermachen. Als aber Areta phila sehen mußte, daß ihr Sd1wiegersohn sein Versprechen, Kyrene die Freiheit wiederzugeben, nicht hielt, vielmehr nun selbst unbesonnen und willkürlich als Tyrann herrschte, hätte sie, die neben Leandros in Macht und Ehren stand, ihn bewußt in einen Krieg mit dem Libyerfürsten Anabos verwickelt, dann jedoch auf die gefährliche Unlust seiner Freunde und Offiziere hingewiesen und sich anhei schig gemacht, zur Beilegung des Kampfes eine Unterredung zwischen ihm und Anabos herbeizuführen. Dem Libyer wäre von ihr eine hohe Geldsumme geboten worden, wenn er bei den Verhandlungen Leandros festnähme. Dieser habe zunächst mit der Begegnung gezögert und auf seine Leibwache warten wollen, sei aber dann doch in die Falle gegangen und in Anwesenheit der Aretaphila sowie einiger Kyrenaier von Anabos festgesetzt und den Bürgern der Stadt übergeben worden. Man soll ihn in einem Sack ertränkt haben, während des Nikokrates und Leandros' Mutter Kalbia, die eine erbitterte Feindin der Aretaphila war, angeblich bei leben digem Leibe verbrannt wurde. Eine Beteiligung an der nunmehr konstituierten oligarchischen Regierung der »Besten« lehnte die vom Volk überschwenglich geehrte Befreierin ab ; sie zog sich ins Privatleben zurück. So suspekt an dieser Erzählung die romanhaften Züge, die Verwendung der Farben des typischen Tyrannenbildes und sogar der Name der «tugendliebenden» Aretaphila sein mögen, an der wohl im Jahre 9312 errichteten Tyrannis des Niko krates und derjenigen seines Bruders sowie an der Art, wie beide ein gewaltsames Ende fanden, ist angesichts der detaillierten Angaben nicht zu zweifeln. Es scheint bezeichnend für das Griechentum dieser späten Zeit, daß eine der ehrwürdigsten Hellenenstädte, nachdem sie zwei Jahrhunderte unter ptolemaiischer Herrschaft gestanden hatte, mit ihrer Freiheit nichts mehr anzufangen wußte und alsbald Tyrannen anheimfiel. Auch unter der nach Leandros' Tod eingeführten oligarchi schen Verfassung scheinen die Wirren nidH aufgehört zu haben. Erst Lucullus machte ihnen 86 v. Chr. ein Ende, indem er Kyrene eine gemäßigt demokratische Ordnung gab. Fortan hat es keine Tyrannis in der Kyrenaika mehr gegeben ; die seit 74 dort fungierende römische Provinzialverwaltung würde jeden dahin gehenden Versuch im Keime erstickt haben. 3. V O R D E R E R O R I E N T
Noch schwieriger als für Kleinasien ist für Syrien und die benachbarten Länder festzustellen, welche in der überlieferung als Tyrannen bezeichneten Gewalthaber griechische Tyrannen oder auch nur Tyrannen im griechischen Sinne waren. Selbst
Kyrene. Syrische Länder
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wenn altorientalische Städte sich so weitgehend gräzisierten, daß sie hellL'nischen Poleis an die Seite gestellt werden können, und wenn man Männer, welche, aus hei mischen Familien stammend, einen griechischen Namen angenommen haben, als Griechen gelten läßt, bleibt doch häufig die Frage offen, ob es sich um angestammte Stadtherren, Priesterfürsten von Tempelstaaten, Territorien beherrschende Dyna sten, Gouverneure eines Königs oder wirklich um Gewalthaber handelt, auf die der griechische Tyrannisbegriff noch zutrifft. Wie wenig die bloße Bezeichnung als Tyrann, auch wenn sie nicht offensichtlich nur im moralischen Sinne gebraucht wird, über Charakter und Form einer monarchischen Herrschaft auszusagen ver mag, wurde schon oft deutlich und gilt besonders auch im Hinblick auf unsere wich tigsten Gewährsmänner für die Geschichte der Städte in Vorderasien, Strabon und Josephus. Die sachlichen Angaben aber, die sie bieten, sind meist so dürftig, daß sie nur sehr selten die politische Struktur erkennen lassen. Wenn etwa im transjordanischen Philadelphia zur Zeit des Antiochos Sidetes (139/8-1 29) Zenon Kotylas als Tyrann genannt wird, dessen Sohn Theodoros sich auch Gerasa, Gadara und Amathus unterwarf (um 100) , so könnte eine echte Stadttyrannis über Philadelphia das Kernstück der weiträumigen, durch den Judenkönig Alexandros Iannaios freilich bald auf Philadelphia und Gerasa, unter Theodoros' Sohn Zenon sogar wieder auf Philadelphia allein beschränkten Herr schaft gebildet haben, doch ist Gewißheit darüber nicht zu erlangen. Ebensowenig bei Zoilos, der um die Wende des 2. zum 1. Jahrhundert südlich des Karmel den Küstenplatz Dora sowie die «5tratonsburg» als Tyrann innehatte und im Besitz einer wohl aus Söldnern bestehenden Streitmacht sich angesichts des Zwistes zwischen den Seleukiden Antiochos VIII. Grypos und Antiochos IX. Kyzikenos Hoffnung auf eine noch größere «Tyrannis» machte, die er jedoch nicht gewann, da er von dem ihm zunächst verbündeten Ptolemaios XI. Lathyros in Verbindung mit Alexandros Iannaios überwältigt wurde. Noch zweifelhafter ist gegen Ende der achtziger Jahre des 1. Jahrhunderts die Tyrannis eines Demetrios über Gamela und andere Orte östlich des Sees Genezareth, wird er doch selbst von J osephus nicht Tyrann, sondern Archon genannt, also wohl als leitender Beamter angese hen. Am ehesten ließe sich in Beroia, der Neugrundung des ersten Seleukos im nordöstlichen Syrien, die gewiß eine hellenische Stadtverfassung besaß, an grie chische Tyrannis denken. Hier scheint die Alleinherrschaft von Dionysios, Sohn des Herakleon, errichtet worden zu sein, nachdem er im Jahre 96 den Seleukiden Antiochos VIII. Grypos umgebracht hatte. Auch kleinere Städte wie Bambyke und das östlich von Antiocheia gelegene Herakleia vermochte er in seine Hand zu brin gen. Ob 5traton, der um 88 als Tyrann von Beroia begegnet und wohl sein Nach folger war, als Sohn des Dionysios anzusehen ist, läßt sich nicht sagen. Die genannten Männer bieten nicht die einzigen Beispiele dafür, daß der völlige
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Zerfall des Seleukidenreiches das Aufkommen von lokalen Gewalthabern in Syrien und den benachbarten Ländern begünstigte. Als Pompeius in diesen Gebieten erschien (64), fand er eine Anzahl von Stadtherren vor, deren Regiment er ein Ende setzte. Außer dem Juden Silas, der über Lysias am mittleren Orontos gebot, werden von der Überlieferung Kil1yras, der Tyrann von Byblos, und in der weiter nördlich gelegenen Küstenstadt Tripolis ein Diol1ysios genannt. Beide erlitten den Tod von Henkershand, während der mit Dionysios verschwägerte Ptolemaios, Sohn des Mennaios, der in Challds am Libanon residierte, den Fortbestand seiner Herrschaft erkaufen konnte, die er bereits seit mehr als zwanzig Jahren innehatte und später seinem Sohne Lysanias vermachte. Diese beiden Fürsten und schon Mennaios sind freilich weniger Stadttyrannen von Chalkis als Dynasten des Stammes der Ituräer gewesen. Von Art und Form der Herrschaft der eigentlichen Stadttyrannen erfahren wir nichts, auch nicht, ob sie sich gegen eine starke Oppo sition zu behaupten hatten oder das Gewaltregiment in der an Despotie gewöhnten orientalischen welt von den Bürgern der Städte williger ertragen wurde als von den Bewohnern der griechischen oder stark gräzisierten Gemeinwesen Kleinasiens. Immerhin ist es möglich, daß die Hinrichtung des Silas und Dionysios durch Pom peius dem Wunsche ihrer Untertanen entsprach. Die Frage schließlich, ob und wieweit im Partherreich mit seinen hellenisierten Verwaltungsformen Tyrannen aufkommen konnten, begegnet denselben Schwie rigkeiten staatsrechtlicher Bestimmung, die für Kleinasien und die syrischen Länder eine klare Antwort nur selten zulassen. Die Erblichkeit etwa des Strategen amtes in Dura-Europos wird man trotz einem gewissen tyrannischen Element, das in ihr liegt, nicht als Zeichen des Bestehens einer Tyrannis ansehen. Für Babylol1 und Seleukeia am Tigris berichtet Poseidonios, das Himeros sich mit 300 Mann zum Tyrannen der beiden Städte gemacht habe, und aus Münzen läßt sich erken nen, daß dieser Mann, der vom Partherkönig Phraates H. im Jahre 129/8 zum Gouverneur über Mesopotamien bestellt worden war, während der Jahre 1 24 bis 122 unabhängig von seinem Oberherrn herrschte, doch handelt es sich offenbar um ein territoriales Fürstentum, dessen Träger den Städten gegenüber an die Stelle des parthischen Königs trat. Die Bezeichnung als Tyrann scheint sich auch hier weniger auf die staatsrechtliche Situation als die Härte des Regimentes zu beziehen. Erzählen doch andere Schriftsteller, daß Himeros mit «tyrannischer Grausamkeit» oder gar «grausamer als alle Tyrannen» geschaltet habe. Dagegen ist in zwei anderen Fällen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Bestehen einer echten Tyrannis gegeben. Wir hören, daß zu der Zeit, als Crassus gegen die Parther vorrückte (53 ) , die Stadt Zenodotion unter einem Tyrannen Ap ollol1ios stand, daß ferner Andromachos von Karrhai zum Lohn dafür, daß er den Crassus und sein Heer verräterisch in die Falle geführt hatte, die Tyrannis über seine
PartIzerreich. Römische Herrschaft
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Vaterstadt erhielt, später aber wegen seiner Grausamkeit samt seiner ganzen Familie verbrannt wurde. Ließe sich bei Apollonios wohl noch an einen vom Partherkönig bestellten Gouverneur denken, bei Andromachos ist sowohl die Belehnung mit einer Stadt auf Grund eines wertvollen Dienstes wie die furchtbare Rache, welche die Bewohner von Karrhai an ihm nahmen, ein Zeichen dafür, daß hier wirklich ein heimischer Bürger zur Tyrannis über seine Vaterstadt gelangt war. Die Erkenntlichkeit des Königs, der er dies verdankte, und die spätere Be günstigung von Stadtherren in Syrien durch den Parther, die noch zu erwähnen sein wird, machen es wahrscheinlich, daß auch sonst die Partherkönige sich zur Si cherung der Willfährigkeit der gräzisierten Städte des Mittels der Einsetzung oder Unterstützung von Tyrannen bedienten, das einst schon die Perser gegenüber den Griechenstädten Kleinasiens und der vorgelagerten Inseln angewandt hatten.
I I I. D I E Z E I T D E R R Ö M I S C H E N H E R R S C HA F T (66 B I S A U G U S T U S)
So wenig wie in früheren Zeiten hat während des letzten halben Jahrhunderts der römischen Republik die Einsetzung oder Unterstützung von Tyrannen zu den Mitteln gehört, mit denen Rom seine Oberhoheit über griechische Städte zu sichern suchte. Wenn gleichwohl noch eine - freilich geringe - Zahl von Tyrannen oder tyrannenähnlichen Persönlichkeiten in den östlichen Ländern des Imperiums begegnet, so deshalb, weil es in manchen Bezirken politisch geraten schien, erge bene Stadtherren in ihrer Stellung zu belassen, zum anderen weil in den Bürger kriegen die Begünstigung solcher Herren den miteinander ringenden G roßen von Vorteil sein konnte. Wiederum ist von Territorialdynasten abzusehen, in deren Gebiet Griechenstädte lagen oder denen, sei es durch Pompeius, sei es durch spä tere römische Feldherren im Osten, Griechenstädte zugewiesen wurden. Näher als diese Landesfürsten stehen der Tyrannis die Hohenpriester großer Heiligtümer als Herren der Städte, in oder neben denen die Tempel lagen. Hier handelt es sich um reine Stadtherrschaften, die allerdings zumeist in der Priesterfamilie erblich waren und, wie immer die Befugnisse gewesen sein mögen, als legal gelten konnten. Zwar wird Zenophanes, ein Angehöriger der sich auf Teukros zurückführenden Priesterdynastie zu Olbe im Rauhen Kilikien, von Strabon als Tyrann bezeichnet, doch dürfte der Grund dafür darin zu suchen sein, daß der Mann, ohne Erban sprüche zu haben, die Priesterherrschaft usurpiert hatte (Mitte des 1. Jahrhunderts). Indem er seine Tochter Aba dem rechtmäßigen Erben vermählte, legitimierte er gewissermaßen seine eigene Stellung, die er freilich nicht dem Schwiegersohn, sondern Aba übertrug, für die er selbst, solange er lebte, die Verweserschaft
Der griechische Osten
führte. Gleichwohl scheint Abas Herrschaft, die sich wie die der Vorgänger über weite Teile der Landschaft erstreckte, als widerrechtlich und somit als Tyrannis empfunden worden zu sein. Konnte sie sich auch zunächst dank dem Wohlwollen des Antonius und der Kleopatra, das sie im Jahre 41 zu gewinnen wußte, behaup ten, so wurde sie doch später gestürzt. Tyrannen werden, wie bereits früher zu erwähnen war, auch Räuberhäupt linge im Rauhen Kilikien und den benachbarten Berglandschaften genannt. Ihnen ist der um 50 v. Chr. im Taurus sein Wesen treibende Moiragenes, nicht jedoch Antipatros von Derbe in Lykaonien zuzuzählen, mochten seine Gegner ihn auch als Räuber bezeichnen. Schon die Tatsache, daß er mit Cicero bereits vor dessen kilikischer Statthalterschaft (51/0) nicht nur durch Gastfreundschaft, sondern durch vertrauten Verkehr verbunden war, dürfte dies ausschließen. Auf welche Weise er, dessen Name und Vatersname (Perilaos) auf makedonische Abkunft weist, in den Besitz der Städte Derbe und Laranda kam, ist nicht zu sagen, die Möglichkeit, daß es mit Hilfe des Pompeius geschah, kaum abzuweisen. Da seine Herrschaft anscheinend nur die beiden Plätze und kein weiteres Territorium umfaßte, da ferner Derbe von Strabon als «Tyrannensitz» bezeichnet wird, besteht Grund, an eine echte Stadttyrannis zu denken. Ihr Bestand wurde schon im Jahre 54 bedroht, als der Statthalter der Provinz Asia Qu. Marcius Philippus des Antipatros Söhne gefangen hielt, für deren Freilassung sich Cicero verwandte. Immerhin hat sich der Tyrann weiterhin, auch in den wirren Zeiten nach Caesars Tod, behaupten können, bis er, wohl nach der Schlacht von Actium, einem Angriff des Galater königs Amyntas erlag. Der Mitte des 1. Jahrhunderts dürfte ferner die Herrschaft zweier Frauen über Prusias am Meer, das einstige Kios, zuzuweisen sein, die sich beide «Königin» nannten, Musa Orsobaris und Orodaltis. Sie sind uns nur aus Münzen bekannt, die weder eine genaue chronologische Fixierung noch eine Bestimmung der Art des Fürstentums gestatten, von dem sich lediglich vermuten läßt, daß es tyrannis ähnlich war. Desgleichen bleibt zweifelhaft, ob Orsobaris mit der gleichnamigen, von Pompeius im Triumph aufgeführten Tochter des großen Mithradates identisch ist, die dann später die Stadt Prusias erhalten haben müßte, und ob der Lyko medes, als dessen Tochter sich Orodaltis bezeichnet, derselbe ist, dem Caesar die Priesterherrschaft im pontischen Komana gab. Nicht unter die Tyrannen zu rechnen sind einzelne angesehene und reiche Männer wie etwa Mithradates von Pergamol1, der mit Streitkräften, die er anscheinend aus f'igenen Mitteln aufgestellt hatte, Caesar beim Kampf in Ägypten unterstützte. Sie haben gewiß in ihren Heimat städten eine maßgebende Rolle gespielt, doch finden sich keinerlei Anzeichen für eine Tyrannis oder tyrannenähnliche Herrschaft. In den syrischen Ländern blieben auch nach Einrichtung der Provinz durch
Kleinasien und Syrien nach 66
v.
ehr. Antonius
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Pompeius (64) zahlreiche Dynasten- und Tyrannenherrschaften bestehen. Mit den letzteren, die sowenig wie jene der Steuereintreibung durch die Publicani unter worfen waren, schloß der Proconsul Gabinius im Jahre 57/6 Verträge über Geld zahlungen ab, und der Pompeianer Metellus Scipio trieb nach der Schlacht bei pharsalos von ihnen hohe Summen ein. Zu den Dynasten dagegen gehörte offen bar Ptolemaios, Sohn des Soaimos, der um 47 als «Tyrann am Libanon» genannt wird, in Wahrheit aber wie der früher erwähnte Ptolemaios, Sohn des Mennaios, einer der heimischen Territorialfürsten war. Die Zahl solcher Gewalthaber und im besonderen auch der Stadttyrannen scheint nach Caesars Tod, als Cassius in Syrien gebot, noch zugenommen zu haben. Behauptet doch J osephus, es sei damals (4312) das gesamte Land in Tyrannenherrschaften aufgeteilt worden. Wir kennen freilich aus der Reihe der von Cassius eingesetzten oder begünstigten Tyrannen allein Marion von Tyros, der seine Macht sogar nach Galiläa auszudehnen ver mochte. Er mag sich noch über den Tod seines Gönners hinaus mit Hilfe der im Jahre 40 wieder nach Westen vordringenden Parther behauptet haben. Denn diese begünstigten, wie bezeugt wird, damals und vielleicht auch schon nach der Nie derlage des Crassus (53) die Tyrannen in Syrien, die auch ihrerseits Anlehnung an sie suchten. Erst der von Antonius unternommene Partherkrieg (38-36) führte zum Sturz der in Klientel des Feindes stehenden Stadtherren. Beseitigte hier der Triumvir aus außenpolitischen Gründen Tyrannen, so erhebt sich doch die Frage, ob er nicht in Kleinasien, wo dieses Motiv kaum in Betracht karn, während des Jahrzehntes, als die Halbinsel ihm unterstand (41-31), Tyran nen begünstigt hat. Ihm, der angeblich Dynastenherrschaften verkaufte oder Für sten und Städte zu Geldzahlungen nötigte, könnte auch die Tyrannis ergebener Männer über griechische Gemeinwesen für die Festigung seiner Stellung in der Auseinandersetzung mit Octavian erwünscht gewesen sein. Es findet sich aber in der Überlieferung kaum ein Stadtherr dieser Art genannt. Nicht ein Grieche, sondern Adiatorix, der Sohn eines galatischen Fürsten, erhielt von Antonius den hellenischen Teil von Herakleia am Pontos, wo seit Caesar auch eine römische Kolonie bestand, deren offenbar zu Octavian haltende Bürger vor der Schlacht bei Actium, angeblich auf Antonius' Befehl von Adiatorix umgebracht wurden. Dieser ward deshalb später, nachdem er samt Gattin und Kindern im Triumph aufgeführt worden war, hingerichtet. Läßt sich hier vielleicht von einer durch Antonius begründeten Klienteltyrannis des gräzisierten Galaters über die Polis Herakleia sprechen, so ist bei dem gleichzeitig über Amisos gebietenden Straton ein derartiges Verhältnis zu dem Triumvirn nicht zu erkennen. Vielmehr hat Antonius die Stadt «den Königen» übergeben, unter denen am ehesten Polemon 1. und sein Haus zu verstehen sein dürften. Der Tyrann, der durch den Sieger Octa vian die Herrschaft, wenn auch nicht das Leben, verlor, ist also von jenen abhän-
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gig gewesen, sofern er nicht etwa ihnen gegenüber eine gewisse Eigenständigkeit zu behaupten vermochte. Von der Art seiner Herrschaft ist nichts bekannt. Auch für den berühmten Rhetor Hybreas 'Don Mylasa, der - wie schon vorher der reiche Euthydemos - in seiner Vaterstadt eine fast monarchische Stellung einnahm, ist eine unmittelbare Begünstigung durch Antonius nicht zu erweisen. Hybreas, der das Amt des Marktaufsehers bekleidete, verstand es, sich nach der Schlacht bei Philippi durch demagogisches Geschick zum maßgebenden Mann in Mylasa zu machen, eine Stellung, die er auch nach seiner zeitweiligen Vertreibung durch den jüngeren Labienus, den parthischen Feldherrn, wieder innehatte. Als Tyrann ist er um so weniger anzusprechen, weil nicht einmal Strabon ihn mit die sem Worte belegt, sondern sich auf die Bemerkung beschränkt, daß an seinem Wirken, das der Polis zu Nutzen gereichte, «etwas Tyrannisches» war. Ähnlich steht es mit Zenon im phrygischen Laodikeia, wie Hybreas ein Rhetor, der gleich diesem seine Vaterstadt vom Zusammengehen mit Labienus zurückhielt. Für ihn ist weder eine enge Verbindung mit Antonius bezeugt, die anscheinend erst sein Sohn Polemon einging, der von ihm zunächst zum König von Teilen Kilikiens, später von Pontos gemacht wurde, noch deutet etwas darauf hin, daß Zenon mehr als der leitende Politiker von Laodikeia war. Ein Günstling des Antonius ist da gegen Boethos 'Don Tarsos gewesen, der sich bei ihm durch ein Gedicht auf die Schlacht von Philippi beliebt gemacht haben soll. Antonius setzte ihn als seinen Stellvertreter im Amt des Gymnasiarchen ein und erteilte ihm auch die Befugnis zur Eintreibung von Beiträgen für Beschaffung des im Gymnasion benötigten Ols. Wie weit er dabei Veruntreuungen beging, derentwegen er vor seinem Gön ner ohne Erfolg verklagt wurde, und ob er wirklich, wie Strabon behauptet, die Stadt ausplünderte, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls würde es nicht genügen, Boethos zum Tyrannen von Tarsos zu stempeln. Bis über die Katastrophe des Antonius hinaus blieb er unbehelligt, dann bewirkte sein Landsmann Athenodo ros kraft der ihm von Augustus verliehenen Vollmacht, daß er verbannt wurde. Lassen sich mithin auf kleinasiatischem Boden kaum Tyrannen nachweisen, die als Kreaturen des Antonius gelten könnten - von Territorialfürsten ist wiederum abzusehen -, so hat der Triumvir auf der Insel Kos eine Tyrannis mindestens begünstigt, wahrscheinlich sogar ihr Entstehen ermöglicht. Nikias, ein gelehrter, geistvoller und reicher Bürger der Stadt, der seit den fünfziger Jahren mehrfach in Rom gewesen und zu Pompeius, Cicero und anderen bedeutenden Männern in persönliche Beziehungen getreten war - er hesaß das römische Bürgerrecht -, vermochte, nachdem er wohl im Jahre 44 sich wieder dauernd in Kos niedergelas sen und in der Folgezeit dank seinen Verbindungen zu Brutus und Cassius die Stadt vor deren Zugriff bewahrt hatte, um 41/0 daselbst die Tyrannis zu gewin nen. Auf Münzen der folgenden acht Jahre finden sich sein Name und Bild, aber
Zeit des Antonius. Nikias von Kos. Augllstus
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zugleich die Namen von Jahresbeamten ; es blieb also auch hier unter dem Tyran nen die kommunale Verwaltung bestehen. Eine Stütze seiner Herrschaft scheint Nikias nicht nur an Antonius, sondern auch im Volk gefunden zu haben, für das er offenbar manches tat. Inschriften preisen ihn als Heros und Wohltäter, ja sogar als Sohn des Demos, eine Bezeichnung, aus der man wohl mit Recht geschlossen hat, daß Nikias sich formal vom Demos adoptieren ließ. Natürlich fehlte es auch diesem Tyrannen an innenpolitischen Gegnern nicht, deren Haupt der Musiker Theomnestos war. Man ist zunächst geneigt, an oligarchische Kreise zu denken, doch scheint angesichts der späteren Haltung des Volkes auch eine wachsende Opposition im Demos möglich. Zwar starb Nikias um 32 eines natürlichen Todes, ohne aus der Herrschaft verdrängt worden zu sein, aber nach dem Sturz seines Protektors Antonius riß man den Leichnam des Tyrannen aus dem Grabe und tilgte auf amtlichen Listen die Namen der Priester, die unter ihm fungiert hatten, wohl nicht nur um sich vor Octavian, der die Stadt milde behandelte, von der Vergangenheit zu distanzieren. Denn als Tyrann lebte Nikias im Bewußtsein des Volkes fort. Koische Kinder erzählten sich, ihm habe, als er noch Privatmann war, ein Lamm einen Löwen geworfen, ein Vorzeichen der späteren Tyrannis. Von Octavian sind nach seinem Siege über Antonius manche Könige und Dynasten, die sein Rivale eingesetzt hatte, beseitigt worden, auch Adiatorix von Herakleia. Andere verblieben in ihrer Stellung oder wurden, weil sie dem Anto nius rechtzeitig abgesagt hatten, sogar begünstigt. So erfuhr der Brigant Kleon, der sich einst in Gordiu Kome am mittleren Sangarios festgesetzt hatte und in der Auseinandersetzung mit dem parthischen Feldherrn Labienus dem Antonius nütz lich gewesen war (40/3 9) , wegen seines Abfalls von diesem einen Machtzuwachs, der ihn nach Strabons Worten zu einem Dynasten machte. über Gordiu-Kome, das er zu einer Stadt mit Namen Iuliupolis erhob, könnte er als Tyrann geboten haben, doch läßt ihn das Priesterfürstentum von Abrettene südlich des mysisd1en Olymp, das er samt der Landschaft Morene erhielt, als Territorialfürsten erschei nen. Auch das Priestertum von Komana in Pontus, das ihm schließlich noch über tragen wurde, kurz bevor er starb, hat nichts mit Tyrannis zu tun. Ebensowenig kann ein Mann ganz anderer Art, der Stoiker Athenodoros von Tarsos, als Tyrann seiner Vaterstadt angesehen werden. Lehrer und Vertrauter des Octavian, kehrte er nach dessen Sieg über Antonius in die Heimat zurück und bewirkte kraft einer ihm von seinem Schüler gegebenen Vollmacht, daß der bis dahin in Tarsos maß gebende Boethos vom Volk verbannt wurde, nachdem er vergeblich versucht hatte, auf ihn und seinen Anhang gütlich einzuwirken. Bis ihn in hohem Alter der Tod dahinraffte, hat Athenodoros, ohne dauernd ein Amt zu bekleiden, an der Spitze der Stadt gestanden, getragen von der Zuneigung des Volkes, das ihm nach sei nem Hinscheiden sogar heroische Ehren zuteil werden ließ. An seine Stelle trat der
44°
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Akademiker Nestor, der als einstiger Lehrer des jungen Marcellus ebenfalls in einem persönlichen Verhältnis zu Augustus stand, im übrigen gleich seinem Vor gänger die Zuneigung der Bürgerschaft von Tarsos besaß. Zeigt in beiden Fällen das Fehlen einer amtlichen Basis und der Rückhalt an einem Herrscher auch Anklänge an Tyrannis, so ist doch von einer solchen noch weniger als bei Eurykles von Sparta zu sprechen. Was einst Tyrannis hätte sein oder werden können, war jetzt im Rahmen des gefestigten Imperiums eine sowohl vom Vertrauen des Kai sers wie von der Zustimmung der Bürger getragene Stellung, die in ihrer Amt losigkeit und praktischen Wirkung an die eines Prostates des Demos in klassischer Zeit erinnern konnte. «Tyrann» wird auf klein asiatischem Boden nach der Schlacht von Actium nur ein mit Namen nicht bekannter Mann genannt, der jedoch kein griechischer Stadtherr, sondern Häuptling des am Trogitissee im lykaonisch-isau rischen Grenzgebiet ansässigen Stammes der Homonadeer war. Er wurde 25 v. Chr. von Amyntas, dem Galaterkönig, umgebracht.
D R I T T E S K API T E L
D E R GRIECHISCHE WESTEN
1 . A G AT H O K L E S
Während die Griechenstädte Siziliens, die Timoleon von Tyrannen- oder Kartha gerherrschaft befreit und zu einer Symmachie unter Führung der Syrakusaner zusammengeschlossen hatte, in den zwei Jahrzehnten nach seinem Ausscheiden (337/6) anscheinend von keinen inneren Kämpfen zerrissen wurden, vollzog sich in Syrakus selbst nicht lange nach dem Tode des Korinthers eine folgenschwere Veränderung. Hier ging die politische Macht trotz der von Timoleon eingerichte ten gemäßigten Demokratie an eine oligarchische Faktion über, die unter Leitung des Herakleides und Sosistratos stand. Die Opposition des Demos gegen diesen Zustand schuf eine spannungsreiche Atmosphäre, in der es einem geschickten und kühnen Demagogen wohl gelingen konnte, als Anwalt der breiten Masse eine große Gefolgschaft zu gewinnen und mit ihrer Hilfe eigene ehrgeizige Pläne zu verfolgen. Zu Beginn der zwanziger Jahre trat ein solcher Mann auf den Plan: Agathokles. Sein Vater Karkinos stammte aus Rhegion, war aber von dort ver bannt worden und hatte in der zum karthagischen Herrschaftsgebiet gehörenden Stadt Thermai im Nordwesten Siziliens Wohnung genommen, wo er eine hei mische Frau heiratete, die ihm einen Sohn Antandros und - im Jahre 360 - den Agathokles gebar. Was wir von dessen Jugend hören, ist teils Legende, wie sie die Kindheit manches künftigen Herrschers umrankt, teils böswillige Verleumdung des später von Agathokles verbannten Historikers Timaios von Tauromenion, der unter anderem behauptete, der künftige Tyrann sei einst ein feiler Lustknabe gewe sen. Immerhin dürfte die freilich auch in legendärem Zusammenhange stehende Angabe, der Junge sei bei seinem mütterlichen Oheim Herakleides aufgewachsen, zutreffen. Karkinos, der eine keramische Manufaktur betrieb, in welcher der Sohn das Töpferhandwerk erlernte, folgte, als Timoleon aus ganz Sizilien Siedler nach Syrakus einlud, dem Ruf und erhielt daselbst für sich und seine Söhne das Bür gerrecht. Er muß den begüterten Kreisen der Stadt angehört haben, denn sein älterer Sohn Antandros konnte unter der Herrschaft der Oligarchenfaktion zum Strategenamt gelangen. Agathokles selbst zeichnete sich noch unter Timoleon im Kampf gegen die Campaner in Aitna als Rottenführer aus, einige Jahre später
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in einem Krieg gegen Akragas als Chiliarch, Befehlshaber also einer größeren Formation, eine Stellung, die er angeblich dem reichen Syrakusaner Damas ver dankte. Indem er bald darauf dessen Witwe heiratete, gelangte er in den Besitz eines großen Vermögens, das ihm helfen konnte, im politischen leben eine Rolle zu spielen. Er suchte sie nicht im Anschluß an die herrschende Hetairie der sogenannten Sechshundert, sondern als Sprecher der Menge in der Volksversammlung, wo er seine ungewöhnlichen rednerischen und demagogischen Fähigkeiten entfaltete. Den Unwillen der Oligarchen bekam er bald zu spüren. Denn obwohl Agathokles sich in einem Feldzug, der den Oligarchen von Kroton gegen den dortigen Demos Hilfe bringen sollte, als Chiliarch durch ungewöhnliche Tapferkeit hervortat, sah er sich nach Abschluß des Unternehmens nur ungenügend belohnt. Erbittert über diese Zurücksetzung nahm er nun offen den Kampf gegen die Sechshundert auf, klagte Sosistratos und seinen Anhang des Strebens nach Tyrannis an, überschätzte jedoch seine Anhängerschaft im Demos und verfehlte sein Ziel. Ja, die von ihm Angegriffenen konnten nach ihrer Rückkehr von Kroton erst recht die volle poli tische Gewalt an sich reißen und sie brutal behaupten. Für Agathokles war unter diesen Umständen kein Bleiben in Syrakus, geschweige daß er an eine erfolgreiche Betätigung hätte denken können ; er suchte sich außerhalb des syrakusanischen Bereiches, in Unteritalien, eine Basis des Wirkens zu schaffen. Die persönliche Gefolgschaft, die ihn begleitete, war offenbar zahlreich; auch dürften ihm seine reichen Mittel die Anwerbung von Söldnern gestattet haben. Der Versuch jedoch, sich in den Besitz von Kroton zu setzen, wo er auf Unterstützung durch den Demos rechnen mochte, scheiterte, und so nahm er als Condottiere Dienst bei den Tarentinern, die den verwegenen, unheimlichen Mann freilich bald wieder ent ließen. Aber auch dieser neue Mißerfolg ließ Agathokles nicht verzagen. Als um 3 2 2 Herakleides und Sosistratos das damals demokratische Rhegion, die Ge burtsstätte seines Vaters, wohl mit der Absicht angriffen, dort eine ihnen genehme oligarchische Verfassung einzurichten, sammelte er, der inzwischen Piraterie gegen syrakusanische Schiffe getrieben zu haben scheint, in Unteritalien aus ihren Städten verbannte Demokraten und zog mit ihnen den bedrängten Rheginern zu Hilfe. Hier stand er seinen syrakusanischen Widersachern gegenüber und errang dadurch, daß sie zum Abzug gezwungen wurden, vielleicht sogar eine regelrechte Niederlage erlitten, zugleich auch in der Heimat einen Erfolg. Sosistratos und Herakleides wurden auf Grund des Mißlingens ihres Unternehmens gestürzt und samt zahlreichen vornehmen Anhängern aus Syrakus verbannt, während Agatho kIes, der sich als Vorkämpfer der Demokratie erwiesen und indirekt zum Sturz des oligarchischen Regimentes beigetragen hatte, die Erlaubnis zur Heimkehr erhielt. Eine leitende Stelle in der Polis wurde ihm allerdings nicht übertragen. Schon da-
Agathokles vor Gewinnung der Herrschaft
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mals scheint die Besorgnis bestanden zu haben, er könnte eine solche Position zur Errichtung der Alleinherrschaft ausnutzen. So hat Agathokles an den folgenden Kämpfen gegen die Verbannten, die am oligarchischen Gela Rückhalt fanden, nur als Chiliarch, zeitweise sogar als ein facher Soldat teilgenommen. Und selbst angesichts der Tatsache, daß unter der derzeitigen Führung die nun auch von den Karthagern unterstützten Exulanten nicht zu schlagen waren, entschloß man sich lieber zu einem Vergleich mit ihnen, als daß man dem gefährlichen Mann das Oberkommando übertragen hätte. Nach einem unter Timoleon für etwaige Staatskrisen ergangenen syrakusanischen Ge setz wurde die Mutterstadt Korinth um Entsendung eines Strategen ersucht, der den inneren Zwist schlichten und gegebenenfalls den Kampf nach außen führen sollte. Da Akestoridas, den die Korinther schickten, von vornherein auf Beile gung des Kampfes mit den Oligarchen bedacht war, verließ der radikale Oligar chenfeind Agathokles abermals die Stadt. Des Strebens nach der Tyrannis ver dächtig, mußte er sich von Akestoridas bedroht fühlen. In der Tat soll dieser zwar im Hinblick auf die Anhängerschaft des Mannes vor einer Hinrichtung zurück geschreckt sein, aber doch versucht haben, ihn heimlich zu beseitigen. Die Verbannten konnten dank der Vermittlung des Korinthers bald darauf zurück kehren, ohne allerdings die frühere Machtposition voll wiederzugewinnen; mit den ihnen verbündeten Karthagern wurde Friede geschlossen. Unter diesen Um ständen war dem Agathokles, auch nachdem Akestoridas heimgekehrt war, ein politisches Wirken in Syrakus unmöglich. Nur durch Druck von außen her konnte er hoffen, sich mehr oder minder gewaltsam eine Position in der Stadt zu ver schaffen. In der Tat brachte er nun mit Hilfe seiner reichen Geldmittel im Binnenland eine private Streitmacht auf und gewann sich auch einige den Syrakusanern untertänige und mit diesem Zustand unzufriedene Sikelerstädte. Die Zahl der ihm daraufhin zur Verfügung stehenden Truppen war so beträchtlich, daß er so wohl die ihm als Helfer der Oligarchen verhaßten Karthager wie namentlich die Syrakusaner bedrängen konnte, denen er das seit Timoleon zu ihrer Polis gehö rende leontinoi entriß. Sogar Syrakus selbst griff er an, vermochte jedoch hier nichts zu erreichen, weil der punische Feldherr Hamilkar zum Schutz der Stadt und der von ihm schon vorher begünstigten Oligarchen heranrückte. Mit dem ihm eigenen diplomatischen Geschick hat Agathokles diese prekäre lage gemeistert, indem er seinerseits mit dem Karthager, der in seiner Heimat eine ähnliche Machtstellung erstrebt zu haben scheint wie er für sich in Syrakus, Verbindung aufnahm und von ihm erreichte, daß er abzog, ohne sich weiter in die syrakusani schen Angelegenheiten einzumischen. Der Demos, der jetzt, da die Oligarchen ihren militärischen Rückhalt verloren hatten, in der Polis die Oberhand gewann,
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rief angesichts der erhöhten Gefahr tyrannischer Vergewaltigung, die nunmehr von Agathokles drohte, ihn unter der Bedingung zurück, nichts gegen die Demo kratie zu unternehmen. Wirklich verpflichtete sich dieser dazu durch einen feier lichen Eid im Heiligtum der Demeter. Er hat dementsprechend sein ihm gewiß längst vor Augen stehendes Ziel, die Leitung des Staates zu übernehmen, während der nächsten Zeit mit legalen Mitteln verfolgt. Um Macht und Einfluß der Oligarchen zu brechen und sich selbst eine feste Basis für alles Weitere zu verschaffen, mußte ihm zunächst daran liegen, die Masse des niederen Volkes als Anhängerschaft zu gewinnen. Kamen ihm dabei auch die sozialen Spannungen, die in Syrakus nicht geringer waren als in anderen griechi schen Städten, zugute, so ist sein Erfolg doch wohl in erster Linie der demago gischen Kunst zuzuschreiben, mit der er die Menge zu behandeln wußte. Durch Scherzworte und durch theatralische Gesten verstand er sie in seinen Bann zu ziehen, wie er sich auch noch später als Monarch darin gefiel, an die Zeit zu erin nern, als er im Betrieb seines Vaters das Töpferhandwerk erlernt hatte. Trotz seinem Reichtum, den er im politischen Machtkampf spielen lassen konnte und gewiß auch spielen ließ, wollte er offensichtlich als der Mann aus dem Volke gelten. Im übrigen konnte er, auch wenn er jetzt die aus eigenen Mitteln angewor benen Söldner entließ oder in den Dienst der Polis überführte, weiterhin auf die nahen Sikeler, die von ihm eine Besserung ihrer Lage erhofften, zählen. Sowohl zwischen ihnen und den Syrakusanern wie innerhalb der Stadt zwischen Demos und Oligarchen einen Ausgleich herzustellen, schien im allgemeinen Interesse zu liegen. Agathokles erreichte unter diesen Umständen, daß er zum «Strategos und Wächter des Friedens» gewählt wurde, ein Amt, das er so lange innehaben sollte, bis unter den «in der Stadt Zusammengekommenen» Einigkeit hergestellt sei. Im Hinblick auf die Sikeler und einige Plätze wie Leontinoi, vielleicht auch Megara Hyblaia, die er bei seinem Angriff auf Syrakus genommen hatte, wurde ihm im besonderen das Kommando über die festen Orte im Binnenland mit außerordent lichen Vollmachten übertragen (Y19) . In einigen Sikelerstädten, namentlich in Morgantine, hat er denn auch Aushebungen vornehmen können, um bei Herbita «Abtrünnige» zu bekämpfen, unter denen wohl eher aus Syrakus entwichene Oligarchen als aufständische Sikeler zu verstehen sind. Noch war Agathokles nicht alleiniger Stratege, doch vermochte er dank seinen Befugnissen im auswärtigen Bereich Syrakus in Schach zu halten, wo freilich die Hetairie der Sechshundert weiter rührig war, mochten auch Sosistratos und Herakleides kaum mehr dort weilen. Warum er während der nächsten drei Jahre gezögert hat, einen entscheidenden Schlag gegen die Oligarchen zu führen und sich selbst an die Spitze des syrakusa nischen Staatswesens zu stellen, entzieht sich unserer Kenntnis. Erst die Einlei-
Agathokles: B egründung der Alleinherrschaft
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tung des erwähnten Unternehmens bei Herbita, das ihm die Möglichkeit gab, außer Morgantinern und Leuten aus anderen Landstädten auch arme, revolutionär ge sinnte Syrakusaner in die militärischen Formationen einzureihen, ist von ihm zur Vernichtung der innenpolitischen Gegner genutzt worden (3 16) . Zu einer da mals im «Timoleonteion» anberaumten Besprechung fanden sich arglos auch vierzig Männer aus der Gruppe der Sechshundert ein. Ähnlich wie einst Peisistratos vor der athenischen Volksversammlung behauptete Agathokles hier, es werde ihm nach dem Leben getrachtet. Jene Vierzig ließ er kurzerhand festnehmen. Durch seine Erklärung, man wolle wegen seiner Volksfreundlichkeit Gewalt gegen ihn gebrauchen, konnte er sodann die ihm ergebenen Truppen dermaßen aufreizen, daß sie nach Rache an den Frevlern verlangten. Er entsprach ihrem Wunsch, befahl sie zu töten und die Besitzungen der Sechshundert sowie aller an ihren Umtrieben Beteiligten zu plündern. So grausig das blutige und räuberische Wüten gewesen sein muß, das in der auf den Historiker Timaios zurückgehenden überlieferung breit ausgemalt wird, es gelang doch vielen, die sich bedroht fühlten, angeblich sogar 6000, zu entkommen und in Akragas Aufnahme zu finden. Vor der Volks versammlung rechtfertigte Agathokles sein brutales Vorgehen damit, daß er die Polis von jenen, die früher eine Oligarchie gebildet, zuletzt sogar nach absoluter Herrschaft gestrebt hätten, gesäubert habe. Nun gebe er dem Demos die Demokra tie zurück, er selbst aber wolle sich, der Mühen satt, ins Privatleben zurückziehen und als Gleicher unter Gleichen leben. Er sah also seine Aufgabe als Stratege und Wahrer des Friedens für erfüllt an und betonte durch die Niederlegung des ihm für diese Aufgabe übertragenen Amtes abermals seine Loyalität gegenüber der Verfassung. Daß er ernstlich daran gedacht hätte, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen, wird man ihm so wenig glauben wollen wie Jahrhunderte später dem Octavian. Seine Absicht kann nur gewesen sein, durch die Ankündi gung des Rücktritts das Volk zu veranlassen, ihm neue und weiterreichende Be fugnisse zu übertragen, als er sie bisher besessen hatte. Immerhin ging er auch jetzt nicht vom legalen Wege ab, wiewohl er sich vermutlich durch einen Gewalt streich mit Hilfe der Truppen zum unbeschränkten Herrn von Syrakus hätte machen können. Seine Rechnung erwies sich als richtig. Nicht nur die an dem Gemetzel und den Plünderungen Beteiligten, die alles Interesse daran haben mußten, von ihm amtlich gedeckt zu werden, riefen ihm zu, er solle «die Sorge für das Ganze» übernehmen; auch die von ihnen mitgerissene oder vergewaltigte Masse des Volkes scheint ihn bedrängt zu haben, das Amt des Strategen weiter zu führen. Als Agathokles darauf - kaum anders als einst Dionysios - erklärte, er könne sich dazu nur bereit finden, wenn ihm keine Kollegen beigegeben würden, da er nicht für widerrechtliche Handlungen von Amtsgenossen aufzukommen wünsche, gestand ihm die Volksversammlung die alleinige Amtsführung zu,
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wählte ihn zum bevollmächtigten Strategen (Strategos autokrator) und übertrug ihm ausdrücklich die Waltung (Epimeleia) der Polis. Fortan, heißt es bei Diodor, war er offensichtlich Herrscher, und die Marmorchronik von Paros vermerkt zum Jahre 316/5 : «Agathokles wurde Tyrann der Syrakusaner». Nach jahrelangem, wechselvollem Ringen hatte der Vierundvierzigjährige sein Ziel erreicht. Das außerordentliche Amt eines Strategos autokrator war bisher in der grie chischen Welt, soweit wir sehen, stets zur Durchführung einer bestimmten mili tärischen Aufgabe übertragen worden und demgemäß befristet gewesen. Erst die eigenmächtige Beibehaltung über das Ende des ersten Karthagerkrieges hinaus, für den es ihm übertragen worden war, hatte den älteren Dionysios vollends als Tyrannen erscheinen lassen. Im Falle des Agathokles jedoch wurde weder ein bestimmter militärischer Auftrag erteilt noch direkt oder indirekt eine Befristung ausgesprochen ; auch bestand keine unmittelbare Gefährdung des Staates, da von den Verbannten oder Geflohenen vorerst nichts Ernstliches zu befürchten war. Unter diesen Umständen bedeutete die Bestellung eines Strategos autokrator, dazu ohne Befristung, also gewissermaßen auf Lebenszeit, die Einführung eines monarchischen Elementes in die syrakusanische Verfassung. Indem Agathokles das Amt übernahm, wurde er, ohne daß er seinen Eid, nichts gegen die Demokratie zu unternehmen, formal verletzte, praktisch der Herr von Syrakus. Seine Befug nisse als bevollmächtigter Feldherr werden kaum andere gewesen sein als die des Dionysios. Außer dem Oberbefehl über die gesamten Streitkräfte und der Ernen nung der Offiziere hatte er, wie die Überlieferung erkennen läßt, das Recht der Aushebung von Bürgertruppen, der Anwerbung von Söldnern und wohl der Erhebung von Kriegssteuern für Feldzüge, die von der Polis Syrakus unter seiner Leitung geführt wurden. Derartige Kriege zu beschließen, dürfte jedoch nach wie vor Sache der Volksversammlung gewesen sein. Schwieriger ist es, die Kompeten zen zu bestimmen, welche in der ihm übertragenen «Epimeleia» beschlossen lagen. Wenn Agathokles nach seiner Wahl Schuldenerlaß und Neuverteilung des Landes versprach, so wissen wir weder, wie weit und ob überhaupt diese Zusage eingelöst wurde, noch ob er sie kraft jener Epimeleia ohne besondern Volksbe schluß verwirklichen konnte. Das Letztere gilt auch hinsichtlich der von ihm in der Folgezeit vorgenommenen Einbürgerung zahlreicher Söldner in Syrakus. Vermutlich führte er jeweils einen Beschluß der Volksversammlung herbei, deren Zusammentreten unter seiner Herrschaft mehrfach bezeugt ist. Auch für das Fortbestehen der traditionellen Ämter mit Ausnahme des Strategenkollegiums finden sich Anzeichen, und daß der Rat der Polis niemals erwähnt wird, kann an der Dürftigkeit der Überlieferung liegen. So wenig wie unter Demetrios von Phaleron, den die Athener ein Jahr zuvor auf Wunsch des Kassandros zum Epi meletes ihrer Stadt gewählt hatten, ist also unter Agathokles die freistaatliche
Agathokles 5 trategos arltokrato r
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Ordnung aufgehoben gewesen, doch dürfte er gleich jenem Im zivilen Bereich außerordentliche, uns nicht näher bekannte Befugnisse gehabt haben. Mit der Möglichkeit widerrechtlicher übergriffe von seiten des Madlthabers muß man zwar rechnen, doch ist die Glaubwürdigkeit dessen, was Agathokles' Feind Timaios in dieser Hinsicht berichtet, höchst zweifelhaft. Seine Angaben sind, wenn auch nicht immer erfunden, so doch böswillig gefärbt. Manches, wie die Einziehung des Vermögens von Waisen, bis die Kinder erwachsen wären, Zwangs anleihen bei Kaufleuten, Beschlagnahme von Weihgeschenken in den Tempeln oder des Schmuckes der Frauen, gehört zu den Maßnahmen, die seit langem als typisch für Tyrannen galten, und erweckt schon insofern Mißtrauen. Zudem brauchen mit dem, was der tendenziösen Erzählung als wirkliche Anordnungen des Agathokles zugrunde liegen mag, die Befugnisse dö Strategos autokrator, der die militärischen Unternehmungen der Polis zu finanzieren hatte, nicht unbedingt überschritten worden zu sein. Desgleichen könnte hinter der Behauptung, Aga thokles habe Bürgern ihren Besitz genommen und ihn dem servilen Historiker Kallias geschenkt, nichts anderes stehen, als daß bei der Verteilung konfiszierten Gutes der Oligarchen der Günstling des Machthabers reich bedacht wurde. Denn die Einwirkungsmöglichkeiten des leitenden Mannes gingen natürlich weit über seine amtlichen Kompetenzen hinaus. Schon die bei ihm konzentrierte militärische Gewalt gab seinen persönlichen Wünschen Nachdruck, zumal da die Stadt unter ihm mindestens zeitweise ein großes Söldnerheer unterhielt, das dem Befehlshaber, der ihm Sold, Belohnungen, Beute und spätere Versorgung garantierte, ergeben war und daher notfalls von ihm gegen aufsässige Bürger eingesetzt werden konnte. Auch hatte Agathokles in den von ihm ernannten Offizieren eine beachtliche, vermutlich einflußreiche Gefolgschaft und durfte der Anhänglichkeit jener Bürger, die bei der Vergebung des Besitzes der Erschlagenen oder Entflohenen berücksich tigt worden waren, sicher sein. All das läßt ihn jedoch, rein staatsrechtlich gese hen, noch nicht als Tyrannen erscheinen. Seine Stellung war weder die einer bloßen Machtposition, die sich auf private Soldtruppen gegründet und der legalen Basis entbehrt hätte, noch wurde sie durch widerrechtliche Beibehaltung eines befristeten Amtes behauptet oder von einer fremden Macht ausgehalten. Aga thokles war vielmehr der vom Volk gewählte Leiter des syrakusanischen Gemein w esens und legte bis an sein Lebensende Wert darauf, als solcher zu gelten, wie er denn auch auf eine Leibwache verzichtete, die den Griechen stets als besonderes Merkmal der Tyrannis erschien. Wenn er gleichwohl in der historiographischen überlieferung und in der zeit genössischen Komödie als Tyrann bezeichnet wird, so ist damit die außerordent liche Machtfülle des zur Herrschaft gelangten Mannes, vor allem aber gemäß dem Gebrauch des Wortes in hellenistischer Zeit die Art seines Regimentes gemeint.
Der griechische Westen
Mit einem furchtbaren Massaker an den Sechshundert samt ihrem Anhang hatte er sich die Bahn zu seiner fast monarchischen Stellung frei gemacht, und auch in den folgenden Jahren ist er gegen oppositionelle Elemente gelegentlich mit bluti ger Gewalt vorgegangen, von der ungewöhnlich grausamen Behandlung der Stadt Segesta (306) zu schweigen. Wenn er wirklich, wie Polybios meint, nur bis zur Errichtung seiner Herrschaft über die Griechen Siziliens (um 3°514) besondere Härte und Roheit zeigte, in den späteren Jahren aber auffallende Milde bewies, so werden die früheren Taten doch unvergessen geblieben sein. Nicht nur der un versöhnliche Hasser Timaios, der nach Einnahme seiner Vaterstadt Tauromenion Sizilien verlassen mußte, auch der ferne Duris von Samos, der in seinem Ge schichtswerk das Wirken des Machthabers ausführlich behandelte, hat in Aga thokles einen Tyrannen im argen Sinne des Wortes gesehen. Selbst Polybios nennt ihn an anderer Stelle als der angeführten einen schlechten Menschen und Tyrannen, ja sogar den frevelhaftesten, obwohl er sich von Timaios' Schilderung distanziert. Die mitleidlose Behandlung der Oligarchen, gegen die Agathokles weiterhin, wenn er ihrer in ihren Zufluchtsorten habhaft werden konnte, mit be sonderer Härte verfuhr, mag für dies Urteil in erster Linie bestimmend gewesen sein, doch fehlt es nicht an Anzeichen, daß auch der Demos, mindestens zeitweilig, die Herrschaft des leitenden Strategen nur widerwillig und gezwungen ertrug� so daß sich trotz aller Verbrämung durch betonte Volks freundlichkeit mit einem gewissen Recht von Tyrannis sprechen ließ. Wie ein Papyrusfund gelehrt hat, konnten während Agathokles' Abwesenheit in Afrika (wohl ):10) Agenten des karthagischen Feldherrn und der Verbannten einen Teil der Volksversammlung gegen ihn einnehmen, und in den letzten, angeblich doch milden Jahren scheint der Machthaber beim Volk so wenig Sympathien besessen zu haben, daß man nach seinem Tode, obwohl er sterbend der Polis die volle Freiheit wiedergegeben hatte, die von ihm errichteten Bildsäulen umstürzte und sein Vermögen konfiszierte. Was im besonderen Ärgernis und Feindschaft erregte, läßt unsere namentlich für die späteren Regierungsjahre äußerst spärliche überlieferung nicht mehr erken nen. Da es schwerlich, wie das Verhalten der Syrakusaner in den zwei Jahrzehn ten nach Agathokles' Hinscheiden zeigt, das monarchische Regiment als solches war, wird man geneigt sein, für die Zeit um 3 10 den Grund in der außenpolitisch verzweifelten Lage von Syrakus, für die letzten Regierungsjahre in der Belastung durch den Bau einer großen Flotte zum Offensivkampf gegen Karthago zu suchen oder an unpopuläre Maßnahmen wie die Einbürgerung fremdstämmiger Söldner scharen, mit denen es nach dem Tode des Machthabers zu offenem Konflikt kam, zu denken, doch ist hier über vage Spekulationen nicht hinauszukommen. Daß Agathokles in den Jahren, die seiner Wahl folgten (31514) außenpolitische Unternehmen als Feldherr der syrakusanischen Polis, nicht wie ein Tyrann in
Agatholdes' Herrsch aft. Kämpfe für Syrakus. Akrotatos
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eigenem Namen und zu eigenem Nutzen durchführte, gibt sogar der tendenziöse Bericht des Timaios noch zu erkennen. Diese Feldzüge, die sich gegen plätze des Binnenlandes sowie gegen Messana und benachbarte Orte richteten, galten der Ausdehnung des Machtbereiches von Syrakus und sind daher bei aller persönlichen Initiative ihres Leiters für die Frage nach dem tyrannischen Charakter der Herr schaft des Agatholdes von untergeordneter Bedeutung. Dagegen verdient im Rah men einer Geschichte der griechischen Tyrannis erwähnt zu werden, daß damals die Akragantiner, die sich allein schon wegen der Aufnahme syrakusanischer Oligarchen von Agathokles bedroht fühlen mußten, nicht wagten, einem ihrer Mitbürger für den Abwehrkampf außerordentliche militärische und zivile Befug nisse zu übertragen, weil sie, durch das Beispiel von Syrakus gewarnt, besorgten, es könnte daraus eine Art von Tyrannis entstehen. Sie verschrieben sich deshalb als Führer den spartanischen Prinzen Alcrotatos, der ihnen denn auch mit taren tinischen Schiffen zu Hilfe kam. Aber von diesem Manne, einem der nach tyranni scher Herrschaft lüsternen Condottieren der Zeit, drohte erst recht die Gefahr der Vergewaltigung. Roher als ein Tyrann und ausschweifend wie ein Perser soll er sich benommen haben, ohne militärisch etwas zu leisten, so daß er nach kurzer Zeit die Stadt schimpflich verlassen mußte. Die Akragantiner, jetzt auch des Bei standes von Tarent beraubt, sahen sich genötigt, mit den Syrakusanern unter Agathokles einen erträglichen Frieden zu suchen, den der punische Feldherr Hamil kar vermittelte (3 14/3 ) . Ein Jahr zuvor waren die Karthager unter Berufung auf den unter Timoleon geschlossenen Vertrag gegen die syrakusanische Expansion eingeschritten und hatten Messana die Freiheit bewahrt; im neuen Friedensinstru ment wurde bestimmt, daß Herakleia und Selinus im Süden, Himera im Norden zum punischen Bereich gehören, die übrigen Griechenstädte der Insel aber als autonome Gemeinwesen eine Symmachie unter Hegemonie von Syrakus - nicht etwa des Agathokles persönlich - bilden sollten. Daß diese formal an Timoleons Ordnung anknüpfende Regelung angesichts der von Agathokles in bedrohlicher Weise aktivierten Macht von Syrakus die Regierung in Karthago nicht befriedigte, ist begreiflich : Hamilkar wurde seines Amtes entsetzt und verurteilt. In der Tat gab Agathokles keine Ruhe. Schon bald (3 13/2) ging er daran, nicht nur das dem Frieden bewußt fern gebliebene Messana zum Anschluß an Syrakus zu zwingen, sondern auch andere, durch den Vertrag geschützte Städte in Abhängigkeit zu bringen. Wenn er dabei, wie schon vorher, allenthalben mit syrakusanischen Emi granten, die er in den Plätzen antraf, und auch mit den dort heimischen Gegnern einer Oberhoheit von Syrakus hart verfuhr, so traf er damit zugleich die Feinde seiner eigenen monarchischen Stellung und diente ihrer Sicherung. Der Masse der Exulanten freilich, die sich um den einst mit ihm befreundeten und darum im Jahre 316 verschonten syrakusanischen Oligarchen Deinokrates gesammelt hatten,
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konnte er so nicht Herr werden. Sie sollten ihm in der Folgezeit noch schwer zu schaffen machen. Zunächst aber wandten sich die von der syrakusanischen Expansion bedrohten oder schon erfaßten Städte an Karthago um Hilfe, wo man um so mehr Grund zum Eingreifen hatte, als Agathokles sich nicht scheute, unter flagrantem Bruch des Vertrages ins punische Gebiet einzudringen und dort Herakleia zu nehmen. So fand er, als er bald darauf Akragas angreifen wollte, die Stadt durch 60 kar thagische Schiffe gedeckt, und auch Gela, das er anfangs für Syrakus durch eine Besatzung sichern und zu Geldleistungen nötigen konnte, mußte er vor der puni schen Übermacht räumen. Mit dem weiteren Vordringen der Karthager unter einem anderen Hamilkar, dem Sohn des Giskon, breitete sich der Abfall auf alle unter der Hegemonie von Syrakus stehenden Städte aus ; der bisherige Vorort einer den größeren Teil Siziliens umfassenden Symmachie wurde isoliert und ge riet in eine verzweifelte Lage. Schon sperrten die Karthager zur See die Häfen der Stadt. In dieser Situation (310) hat Agathokles den kühnen Entschluß gefaßt, durch einen unmittelbaren Angriff auf Karthagos afrikanisches Territorium und womöglich auf die feindliche Metropole selbst die Punier zur Abberufung des auf der Insel operierenden großen Heeres zu nötigen. Ihre Blockade vermochte er zu durchbrechen und mit einer Streitmacht von 13500 Mann an die libysche Küste überzusetzen, wo er bei Cap Bon landete. Auch dieser Feldzug war, wie die Teil nahme syrakusanischer Bürgertruppen beweist, kein rein persönliches Unterneh men des Agathokles, sondern eine unter Führung des gewählten Strategos auto krator stehende Aktion der Polis Syrakus. Agathokles hat denn auch nicht die Errichtu!1g einer eigenen monarchischen Herrschaft auf afrikanischem Boden beabsichtigt, dies vielmehr dem von Kyrene mit starker Heeresmacht heranziehen den Ophellas zugestanden. Selbst als er sich mit ihm nach kurzer Zeit entzweit, ihn ermordet und sein Heer dem eigenen angegliedert hatte, ist dergleichen nicht sein Ziel gewesen. Sizilien war es, auf das sich, nachdem mit der Auflösung der Symmachie und dem Zusammenbruch der bisher verfochtenen Vorherrschaft von Syrakus gleichsam ein politisches Vakuum entstanden war, seine persönlichen Herrschaftspläne richteten, deren Verwirklichung die gesamte Insel ihm als Mon archen untertänig machen sollte. In Syrakus hatte er für die Dauer seiner Abwesenheit in Afrika zum stellver tretenden Leiter (Epimeletes) des Gemeinwesens seinen Bruder Antandros bestellt und ihm für die dort zurückgelassenen Soldtruppen den Aitoler Erymnon beige ordnet. Hamilkar und die Exulanten vermochten zwar durch einen gewissen Diognetos Unruhe in der Bürgerschaft zu stiften. Als aber der Landangriff der Karthager auf die Stadt erfolgte, wurde er, gewiß unter starker Beteiligung der Syrakusaner, die zum Kampf gegen den verhaßten Punier sich auch Dionysios
Agathokles: Karthagerkrieg. Sizilisches Herrschaftsgebiet
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nicht versagt hatten, siegreich abgewehrt. Da die Karthager sich nunmehr nicht nur zurückziehen, sondern einen großen Teil ihrer Truppen ins schwer bedrängte Mutterland abordnen mußten, war es ihnen vorerst nicht mehr möglich, den Gang der Dinge auf der Insel zu bestimmen. Aber auch das zur See weiterhin blockierte Syrakus war dazu nicht imstande. So konnte Akragas den Versuch machen, sich an die Spitze der übrigen Griechenstädte zu stellen, um sowohl deren wie die eigene Autonomie zu wahren, freilich auch um nun seinerseits die erste Stelle einzunehmen. Im Sinne seiner neuen, monarchischen Herrschaftsziele hat Agatholdes dieses Bemühen zu vereiteln gewußt. Mit den in Syrakus und den umliegenden Kastellen stationierten Soldtruppen haben in seinem Auftrag die Heerführer Leptines und Demophilos die zunächst erfolgreich operierenden Akra gantiner so entscheidend geschlagen, daß die unter der Parole «Autonomie für die Städte Siziliens» begonnene Aktion zusammenbrach. Die von den beiden Feld herren gewonnenen oder wiedergewonnenen Plätze, deren Zahl und Namen wir nicht kennen, sind allem Anschein nach nicht mehr den Syrakusanern, sondern dem Agathokles persönlich untertan geworden. Eine weitere Ausdehnung der Eroberung stieß jedoch auf den harten Widerstand des Deinokrates, der mit den syrakusanischen Emigranten und anderen in letzter Zeit Vertriebenen ein starkes Heer gesammelt hatte. Angesichts dieser Gegnerschaft, welche die Errichtung der persönlichen Herrschaft über Sizilien zu verhindern drohte, übertrug Agathokles die Leitung des sich immer schwieriger gestaltenden afrikanischen Unternehmens vorübergehend seinem Sohne Archagathos und setzte mit 2000 Söldnern nach dem Karthago unterstehenden Teil Siziliens über, wo er in Selinus offensichtlich ohne Widerstand aufgenommen wurde (30S/7) . Von hier aus gelang es ihm, Herakleia in seine Hand zu bekommen, mit Segesta ein Bündnis und mit seiner Geburtsstadt Thermai einen Vertrag zu schließen. Auf das nichtkarthagische Ge biet übergreifend vereinigte er seine Streitmacht mit den Truppen des von Osten heranziehenden Leptines und eroberte an der Nordküste Kephaloidion, während andere plätze wie Apollonia ihm zu widerstehen vermochten. Wie weit sich in dieser Zeit, in der Agathokles auch kurz nach Syrakus zurück kehrte, sein persönliches Herrschaftsgebiet auf der Insel erstreckt hat, sagt die spär liche Überlieferung nicht. Nachdem er wieder den afrikanischen Kriegsschauplatz aufgesucht, angesichts der unglücklichen Wendung der Dinge dort aber das ge samte überseeische Unternehmen aufgegeben und sich unter Zurücklassung des aufsässigen Heeres sowie seiner Söhne Archagathos und Herakleides mit we nigen Begleitern nach Sizilien gerettet hatte, nahm er den unterbrochenen Kampf um den Besitz der Insel wieder auf und zwar unter erschwerten Bedingungen, da die Kunde von dem völligen Mißerfolg in Afrika ihre Wirkung auf die Be völkerung Siziliens nicht verfehlte. Scheint es in Syrakus selbst auch zu keinen
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ernsten Unruhen gekommen zu sein, so sagte sich doch einer seiner Feldherren, Pasiphilos, von ihm los, indem er die ihm unterstellten Truppen dem ohnehin an Soldaten- und Geldmangel leidenden Agathokles abspenstig machte und die ihm anvertrauten Städte in eigener Gewalt behielt. Auch verweigerte das verbündete S egesta jetzt die geforderten Leistungen. Agathokles konnte zwar die Stadt mit furchtbarer Härte bestrafen und an ihrer Stelle eine neue, Dikaiopolis (Stadt der Gerechtigkeit) genannte Polis ins Leben rufen, die er mit Überläufern besiedelte, aber seine Lage blieb im Hinblick sowohl auf das durch Pasiphilos' Abfall bewirkte Erstarken der unter Deinokrates' Kommando stehenden gegnerischen Streitkräfte wie auf einen möglichen Angriff der in Afrika triumphierenden Karthager äußerst prekär. Doch auch in dieser Bedrängnis bewährte er wieder seine unge meine Wendigkeit und sein taktisches Geschick. Durch ein großzügiges Angebot, in dem er sogar auf seine Stellung als Strategos autokrator in Syrakus zu verzich ten sich bereit erklärte und von der in den beiden letzten Jahren gewonnenen Ter ritorialherrschaft (Dynasteia) als eigenen Besitz sich nur Thermai und Kepha loidion ausbedang, wußte er den Deinokrates zu diskreditieren, der nicht geneigt war, seine Machtposition an der Spitze eines großen Heeres aufzugeben und sich in Syrakus der demokratischen Ordnung einzufügen. Als Deinokrates, wie erwar tet, das Angebot ablehnte und verlangte, daß Agathokles Sizilien verlasse, minde stens aber seine Kinder als Geiseln stelle, schloß dieser kurzer Hand mit den Karthagern, zu denen er wohl schon vorher diplomatische Beziehungen aufgenom men hatte, Frieden und sicherte sich dadurch den Rücken zum Kampf gegen seine Widersacher auf Sizilien. Natürlich mußte er auf das alte punische Gebiet im Westen der Insel einschließlich der jüngst von ihm gewonnenen Städte verzichten, doch erhielt er :150 griechische Silbertalente, deren er dringend bedurfte, sowie 200 000 Medimnen Getreide (30615) . Es scheint, daß den Karthagern damals Deinokrates für gefährlicher galt als Agathokles. Der Kampf zwischen beiden brachte jedoch Agathokles trotz numerischer Unterlegenheit einen vollen Erfolg, da in der entscheidenden Schlacht an 2000 Mann zu ihm übergingen. Deinokrates, der einstige Freund, trat sogar in seinen Dienst, lieferte ihm die Städte aus, als deren Beschützer er bisher aufgetreten war, ja er ließ den zu ihm abgefallenen Pasiphilos in Gela festnehmen und töten. Wo sich noch Widerstand regte, wie in Leontinoi, konnte er gebrochen werden. Nur Akragas scheint seine Selbständigkeit auch weiterhin behauptet zu haben, im übrigen war Sizilien außerhalb des kar thagischen Machtbereiches, mit Ausnahme allerdings von Syrakus, als «speer gewonnenes» Land persönlicher Besitz des Agathokles geworden. Wenn der Herr des größeren Teiles der Insel von antiken Schriftstellern ebenso wie Dionysios 1. als Tyrann Siziliens bezeichnet wird, so ist dies insofern berech tigter als der Terminus «Tyrann von Syrakus», weil Agathokles' Stellung gegen-
AgatA
�mg der Monarchie über Sizilien
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über den ihm untertan Städten - und das gesamte Gebiet setzte sich im wesentlichen aus S zusammen - allein auf seiner überlegenen 2nen Amt beruhte, was jedoch wie sich zeigte, Macht, nicht auf einem i in Syrakus der Fall war. . war von ihm eine große Territorialherrschaft «Tyrannis», das politisch als Korrelat die errichtet worden, für di llick auf jene Gliederung des Territoriums in Polis verlangt, sich höchs städtische Gemeinwesen rl ließ. Seiner HerrschersteIlung einen titularen Ausdruck zu geben hatte Uionysios nicht nötig gehabt, Agathokles wurde es durch gleichzeitige Vorgänge im Osten des Mittelmeeres nahegelegt. Als er erfuhr, so berichtet Diodor, daß die dortigen Dynasten - gemeint sind die großen Dia dochen - den Königstitel angenommen hätten, glaubte er weder an Machtmitteln noch an Land noch an Leistungen hinter ihnen zurückzustehen und nannte sich König. Das geschah allem Anschein nach im Jahre 304. Wie bei den Diadochen war das Königtum auch hier weder an ein bestimmtes Land noch gar an eine Stadt gebunden, es besagte vielmehr, daß sein Träger in den von ihm unterworfe nen oder noch zu unterwerfenden Gebieten keine Macht und kein Gesetz über sich anerkenne, daß er unbeschränkter Herr dieses gesamten Territoriums sei. In der Folgezeit, über die wir leider nur ganz geringe Kunde haben, vennochte Agathokles die Liparischen Inseln (um 304'3 ) , ferner Korkyra, wahrscheinlich auch Leukas (um 299), vor allem aber Teile der brettischen Halbinsel Unteritaliens zu erobern. Die bedeutendste der dortigen Griechenstädte, Kroton, fiel bald nach 299 in seine Hand; an der Westküste setzte er sich in den Besitz von Hipponion. Die Bezwingung der wilden Gebirgsstämme im Inneren bereitete allerdings große Schwierigkeiten und ist, wie es scheint, nur vorübergehend gelungen. Tarent und wohl auch die Peuketier und Iapyger traten zu dem König in ein Bundesverhälmis, das praktisch ein Abhängigkeitsverhältnis bedeutet haben dürfte, wie es denn auch zum Teil durch Besatzungen gesichert wurde. Von der Ausstrahlung der Macht des Agathokles über die Grenzen des eigentlichen Herrschaftsbereiches hinaus zeugt die Münzprägung von Metapont und Tarent, ja selbst von Elea und Neapel, die sich der seinen anschloß. Über das von ihm gewonnene Gebiet innerhalb und außerhalb Siziliens verfügte der König nach freiem Ermessen. Wie Privateigentum konnte es von ihm ver geben oder nach seinem Tode von Erben beansprucht werden. So erhielt seine Tochter Lanassa bei ihrer Vermählung mit Pyrrhos (bald nach 299) Korkyra als Mitgift, und Pyrrhos selbst erhob bei Fehlen anderer Erben als ihr einstiger Ge mahl im Jahre 278 Anspruch auf Agathokles' Herrschaftsgebiet in Sizilien. Es sind dieselben Verhältnisse wie in den Reichen des Ostens, deren Königen sich der Machthaber im Westen gleichgestellt hatte und von denen er als ihnen eben bürtig anerkannt wurde. Ptolemaios I. vermählte ihm seine Tochter Theoxene,
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Demetrios Poliorketes empfing des Agathokles Sohn mit königlichen Ehren. Von Tyrannis ist unter diesen Umständen kaum noch zu sprechen, weit eher von hel lenistischer Monarchie. Aufrecht erhalten wurde diese Königsherrschaft, über de ren Struktur wir leider so gut wie nichts wissen, freilich nicht anders als die Ty rannis durch ein dem Fürsten zu Gebote stehendes Söldnerheer, das sich aus Leu ten sehr verschiedenen Volkstums, Oskern und Kelten, Ligurern und Etruskern, dazu natürlich Griechen, zusammensetzte. Zu den Kriegen werden ferner Kontin gente der untertänigen Gemeinwesen aufgeboten worden sein. Die Frage, ob zu diesen jetzt auch die wehrhaften Bürger von Syrakus als Truppen des Königs gehörten, führt zu der weiteren Frage, ob sich durch die Begründung des König tums die rechtliche Stellung des Agathokles gegenüber der syrakusanisdlen Polis wandelte und er nun ohne städtisches Amt absolut und tyrannenähnlich über das Gemeinwesen gebot. Noch zur Zeit des Afrika-Feldzuges (3 10-30716) hat Agathokles als gewählter Strategos autokrator der Syrakusaner fungiert, betraut zugleich mit der Waltung der Stadt (Epimeleia) , die damals stellvertretend sein Bruder Antandros versah. Nichts deutet darauf hin, daß während der folgenden Jahre Syrakus gleich den anderen Städten, mit Ausnahme von Akragas, von ihm gewaltsam oder auf Grund einer Kapitulation in Besitz genommen worden wäre noch daß ihn die Bürger schaft zum König erhoben hätte. Zwar fügte Agathokles auf seinen in Syrakus geschlagenen Münzen dem Eigennamen seit 304 den Königstitel bei, aber das Recht, mit dem eigenen Namen zu prägen, hatte er schon vorher erhalten oder usurpiert, so daß es in keinem ursächlichen Zusammenhange mit der Annahme des Königs titels steht, sondern nur von einer Erweiterung der ihm ursprünglich verliehenen Vollmachten zeugt. Königswürde und Königsrnacht hat Agathokles in Syrakus so wenig als möglich hervortreten lassen. Behielt er auch seinen Wohnsitz in der Stadt, so ist doch von einem Palast oder einer Zwingburg, wie sie der Tyrann Dionysios errichtete, nirgends die Rede, während andere von ihm aufgeführte Bauten erwähnt werden. Auch findet sich in der freilich dürftigen Überlieferung keine Bemerkung über seine Hofhaltung. Nicht einmal Poeten, Gelehrte, Philoso phen, durch deren Heranziehung so manche Fürsten und Tyrannen dem eigenen Ruhm zu dienen suchten, werden genannt mit Ausnahme des Parodiendichters Boiotos, der jedoch verbannt wurde. Von herrscherlichem Prunk hören wir be zeichnenderweise nur in Zusammenhang mit Agathokles' Beziehungen zu ande ren Königen, wo es galt, auch äußerlich die Gleichwertigkf?it zu betonen. Für Syrakus ist eher das Gegenteil bezeugt. Agathokles legte nicht das Diadem an, sondern trug bei öffentlichen Veranstaltungen einen Kranz, der ihm auf Grund eines schon vor 316 bekleideten Priestertums zustand. Auf eine Leibwache hat er allem Anschein nach grundsätzlich verzichtet und sich vor der syrakusanischen
Agathokles: Königtum. Verhältnis
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Volksversammlung und erst recht bei Gelagen weiterhin nicht als der Herrscher, sondern als Mann aus dem Volk gegeben. Geht schon aus alledem mit Wahr scheinlichkeit hervor, daß Agathokles' Stellung in Syrakus nach Errichtung der Königsherrschaft über die unterworfenen sizilischen und unteritalischen Gebiete formal dieselbe blieb wie zuvor, so geben die Ereignisse vor dem Tode des Macht habers dafür die Bestätigung. Von den zwei oder drei Söhnen, die Agathokles aus seiner Ehe mit der Witwe des Damas gehabt hatte, war damals keiner mehr am Leben. Seine zweite Gemah lin, Alkia, hatte ihm außer der Tochter Lanassa einen Sohn geboren, der den Na men des Vaters trug. Auch von seiner dritten Gattin, Theoxene, einer Tochter Ptolemaios' 1., besaß er zwei Söhne, die aber noch unmündig waren. Als der Siebzigjährige 290/89 von einer unheilbaren Krankheit befallen wurde, kam für die Nachfolge mithin in erster Linie der Sohn Agathokles in Frage. Diesen stellte der Vater den Syrakusanern als den für die Nachfolge in der Königsherrschaft von ihm bestimmten Nachfolger vor und empfahl ihn wohl auch, wie die folgenden Ereignisse vermuten lassen, für die Wahl zum Strategos und Epimeletes der Stadt. Er sollte zunächst das Kommando der am Ätna stehenden Truppen anstelle des Archagathos, eines Enkels aus erster Ehe, übernehmen, wurde aber, als er sich dort einfand, von diesem, der selbst die Nachfolge erstrebte, umgebracht. Der todgeweihte Fürst klagte daraufhin Archagathos vor der syrakusanischen Volks versammlung der Ruchlosigkeit an und rief die Menge zur Rache an ihm auf. Zugleich erklärte er, daß er dem Demos die Demokratie zurückgebe, was nichts anderes bedeuten kann, als daß er selbst das Amt des Strategos autokrator und die Epimeleia niederlegte, ohne einen Nachfolger zu wünschen. Beides hatte er also, unbeschadet seines Königtums über den größten Teil Siziliens und unter italische Gebiete, bis zuletzt besessen, eine staatsrechtliche Situation, die ihr Befremdliches I " --. "'��n wir uns der Fürsten am Kimmerischen Bosporus ldert als Archon der Griechenstädte, aber König der erinnern, die il benachbarten ! ,tämme erscheinen. War dort der Unterschied von griechischen u� en Untertanen bestimmend, so erklärt sich die SonderIch in Agathokles' letzten Maßnahmen deutlich wird, stellung, wie ! aus der Entst( chte des großen politischen Machtgebildes. Es konnte au;;h später ni en, daß seine Keimzelle ein Stadtstaat, sein Begründer zugleich dess� .L Hier durften dem König Agathokles die ihm 316 zuerkannten �inend noch erweiterten Befugnisse um so eher genügen, als das im tehende Reich und das es schützende Söldnerheer ihm faktisch ein f des übergewicht gaben. Der resign [es sterbenden Machthabers, der bald darauf eines angeb lich qualvoll b, beendete diesen Zustand, der namentlich während der
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letzten Jahre als eine kaum verhüllte Tyrannis empfunden worden war. Was die Städte des Königreiches betrifft, so verlautet nicht, daß Agathokles ihnen letztwillig die Freiheit zurückgegeben habe. Die Herrschaft über sie, von deren Art und Orga nisation wir nicht mehr wissen, als daß sie, etwa in Kephaloidion, durch Besatzun gen gesichert war, konnte von dem verstoßenen Enkel Archagathos in Anspruch genommen werden, den freilich bald ein Menon aus Segesta beseitigte. Da auch kein anderer an die Stelle des toten Königs zu treten vermochte - die Kinder der Theoxene mit ihrer Mutter hatte dieser vor seinem Ende nach Alexandreia zurück gesandt -, zerfiel das Reich und die Städte erlangten gleichsam von selbst ihre Frei heit wieder. Daß sie die Königsherrschaft, wie immer sie sich auf die einzelnen Gemeinwesen ausgewirkt haben mochte, als Tyrannis angesehen hatten, nicht anders als einst die Herrschaft des Dionysios, läßt die Überlieferung noch ahnen. Ein abso lutes Königtum anzuerkennen, das im Gegensatz zu den Ländern des Ostens im westgriechischen Bereich niemals bestanden hatte, war man hier nicht bereit, ließen einige Städte Siziliens auch bald nach Agathokles' Tod (289) wieder Tyrannen, frei lich sehr viel geringeren Formates, aufkommen. Man darf daher zweifeln, ob das von ihm begründete Reich, selbst wenn es einem fähigen Nachfolger hätte übertra gen werden können, von längerem Bestand gewesen wäre. Der Gegensatz zu Kar thago jedenfalls war ein zu schwaches Ferment. Hatten doch weder Agathokles noch Griechenstädte der Insel, die sich von ihm bedroht fühlten, ein Zusammengehen mit den Puniern gescheut. Vor allem aber : Ein großes Gebiet, das im wesentlichen aus hellenischen oder hellenisierten Gemeinwesen bestand, deren jedes letztlich seine Autonomie zu wahren suchte, konnte wohl für wenige Jahrzehnte durch die Kraft eines überragenden Mannes unter seine Hand gezwungen, kaum jedoch für die Dauer zusammengehalten werden, wenn dem Herrscher nicht eine breite Macht basis außerhalb der städtischen Territorien zur Verfügung stand, wie sie im Osten die hellenistischen Könige, im Westen später die Römer besaßen. Indem die Kö nigsherrschaft des Agathokles mit seinem Tode verschwand, teilte sie das Schicksal so mancher Tyrannenherrschaften, von denen schon Aristoteles bemerkte, daß sie nur selten ihren Gründer überdauerten. Auch das mußte ihren Träger späteren Ge schlechtern mehr als Tyrann denn als König erscheinen lassen. Staatsrechtlich ist Agathokles, wie wir sahen, in Syrakus nicht Tyrann gewesen, und ebensowenig läßt sich sein Königtum, das dem Vorbild der Diadochen folgte, als Tyrannis bezeichnen. Daß er gleichwohl in der Geschichtsschreibung des Alter tums als Tyrann fortlebte, verdankt er zwar auch einigen besonders brutalen Maß nahmen und der Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel, mehr aber noch der haß erfüllten, mit allen Farben der Tyrannentypologie gesättigten Darstellung seines Feindes Timaios. Ihr gegenüber ist weder das schillernde Bild, das Duris von Sa mos entwarf, noch gar die positive Charakterisierung in den Werken des Bruders
Agath oklcs: Würdigung seiner Herrschaft
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Antandros und des ebenfalls zeitgenössischen Historikers Kallias durchgedrungen. In das moralische Verdammungsurteil hat Polybios eingestimmt, aber, von Timaios sich distanzierend, nicht nur das mildere Verhalten in den späteren Jahren, son dern auch die Größe des Machthabers anerkannt : Gerade weil er, was Timaios ihm höhnisch vorwarf, aus einer Töpferwerkstatt gekommen wäre, sei der Aufstieg zum Herrn Siziliens, sei die Tatsache, daß er Karthago in größte Gefahr gebracht, die Herrschaft bis ins hohe Alter behauptet und den Königstitel getragen habe, ein Beweis für seine hohen, bewunderungswürdigen Gaben, für seine starken Energien und Kräfte im politischen Wirken. Diese Eigenschaften hatte schon vor Polybios der ältere Scipio anerkannt, der auf die Frage, welche Männer er für die tatkräftigsten und bei aller Besonnenheit kühnsten halte, erwidert haben soll : Agathokles und Dionysios. Dem modernen Historiker ist angesichts der über wiegend von Timaios' feindseliger Schilderung abhängigen Tradition und des Fehlens auch nur einigermaßen ausreichender Nachrichten für die zweite Hälfte von Agathokles' Wirken das Urteil schwer gemacht. Er wird weder in die Ver dammung noch in die Verherrlichung - beides hat Agatholdes in neuerer Zeit er fahren - einstimmen wollen. Sind auch seine ungewöhnlichen militärischen und politischen Leistungen und das Außerordentliche seiner machtvollen Persönlich keit unbestreitbar, so wird man doch zögern, ihn unter die wirklich Großen der Geschichte zu rechnen. Die furchtbaren Blutopfer, die er rücksichtslos brachte, dienten nur der Errichtung und Erhaltung seiner monarchischen Macht, ohne daß diese in Sizilien und Unteritalien für längere Dauer einen Zustand begründet hätte, besser und gesicherter als der, den er bei seinem Auftreten vorfand. In dem Jahr zehnt nach seinem Tode waren die Zustände in seinem einstigen Herrschaftsbereich so wirr und unglücklich wie nur je. Verglichen mit dieser Zeit erscheinen aller dings die letzten fünfzehn Jahre der Herrschaft des Agathokles in einem nicht un günstigen Licht, mochten auch die Städte ihrer Freiheit entbehren. Andere Tyrannenherrschaften im westgriechischen Raum zur Zeit des Agatho kIes sind uns bis auf einen einzigen Fall nicht bekannt. In den zwanziger Jahren hatte der Demos von Kroton für den Kampf gegen die heimischen Oligarchen, die wegen ihrer Verbindung mit den syrakusanischen Standesgenossen Sosistratos und Herakleides verbannt worden waren, Paron und Menedemos zu Strategen ge wählt. Da nun bei Agathokles' Angriff auf die Stadt Menedernos als Tyrann von Kroton erscheint (um 295), wäre es möglich, daß auch er das Feldherrnamt zur Errichtung der Alleinherrschaft benutzt hat, die dann etwa ein Vierteljahrhundert bestanden hätte. Mit Agathokles verband ihn seit dem gemeinsamen Kampf gegen die Häupter der Oligarchie von Syrakus Freundschaft, was jedoch nicht hinderte, daß dieser ihn später listig täuschte, als er sich Krotons bemächtigte. Die Tyrannis des Menedemos, von der wir im übrigen nichts wissen, fand damit ihr Ende.
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Der griechische Westen 1 1. T Y RA N N E N N A C H A G AT H O K L E S ' T O D
Nach dem Ableben des Agathokles (289), dessen Leichenbegängnis durch Oxythe mis, einen Gesandten des Demetrios Poliorketes, anscheinend ohne Störung durch die sonst das Andenken des Tyrannen verfemende Menge ausgerichtet werden konnte, flüchtete der Segestaner Menon, der in der nächsten Umgebung des Ver storbenen geweilt hatte, aus Syrakus zu Archagathos. Gewillt, die Herrschaft an sich zu reißen, brachte er diesen um und übernahm die Führung der Soldtruppen, deren Vertrauen er auch gewann. Die Syrakusaner aber, denen jetzt die Vergewal tigung durch einen Fremden drohte, wählten zur Abwehr der Gefahr ihren Mit bürger Hiketas zum Strategen und zwar offenbar zum Strategos autokrator. Wur den doch in der Folgezeit Goldmünzen mit der Aufschrift «Zur Zeit des Hiketas» geprägt. Es blieb also für Syrakus im wesentlichen bei der staatsrechtlichen Situa tion, wie sie unter Agathokles bestanden hatte ; gleich ihm wird Hiketas in der überlieferung als Tyrann bezeichnet. Der neue Leiter des Gemeinwesens erwies sich zwar im Krieg dem Menon überlegen, doch fand dieser Verbündete an den Karthagern, die wohl schon im Hinblick auf den von Agathokles in seinen letzten Jahren vorbereiteten Großangriff ihre Heeresmacht auf Sizilien verstärkt hatten. Unter diesen Umständen sah sich Hiketas bald genötigt, den Kampf einzustellen und mit den Karthagern Frieden zu schließen. Die Verbannten, vermutlich Gegner des Agathokles, die im punischen Gebiet Zuflucht gesucht hatten, mußten in Syra kus wieder aufgenommen und 400 Geiseln gestellt werden. Von Menon verlautet nichts mehr, ebensowenig von seinen Truppen. Er mag von den Karthagern, denen es vor allem darauf ankommen mußte, Syrakus unter Kontrolle zu halten, preis gegeben worden sein. In der Stadt, wo Hiketas weiter in seiner außerordentlichen Machtstellung blieb, die er - auch die Bezeichnung als Tyrann könnte darauf hin deuten - nach dem Friedensschluß doch wohl widerrechtlich beibehielt, kam es bald darauf zu neuen Schwierigkeiten dadurch, daß zwischen den von Agathokles ein gebürgerten Söldnern und den Altbürgern ein Konflikt ausbrach. Die letzteren wollten jene von den Wahlen ausschließen. Schon standen sich beide Gruppen in Waffen gegenüber, als es - vielleicht dem Hiketas - doch noch gelang, einen Vergleich derart herbeizuführen, daß die Söldner sich bereit erklärten, ihren Be sitz zu verkaufen und innerhalb einer festgesetzten Frist Sizilien zu verlassen. Es waren in der Mehrzahl Osker, die sich selbst als «Marsmänner» (Mamertiner) bezeichneten. Auf dem Wege in ihre italische Heimat karner, sie nach Messana, wurden dort angeblich freundlich aufgenommen, setzten sich aber hinterrücks mit blutiger Gewalt in den Besitz der Stadt. Von hier aus haben sie in den nächsten Jahren nicht nur den Nordosten der Insel sich untertänig gemacht, sondern auch im weiteren Umkreis Städte zur Tributzahlung genötigt, ja an der Südküste
Hiketas. Mamertiner. Phintias
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Kamarina und Gela sogar verheert. Syrakus scheint unbehelligt geblieben zu sein, doch mag es mit der von den Mamertinern drohenden Gefahr zusammenhängen, daß Hiketas bis 280 sich in seiner Position zu behaupten vermochte. Der Zwang zu energischer Verteidigung unter einer straffen Führung dürfte neben dem Fortbestehen sozialer Krisen dazu beigetragen haben, daß ähnlich wie nach dem Zusammenbruch der Herrschaft des großen Dionysios auch jetzt in manchen der für Tyrannis besonders anfälligen Städte Siziliens machtlüsterne Männer die Gewalt an sich reißen konnten. Am Ende der achtziger Jahre finden wir außer Syrakus sowohl das nahe Leontinoi, das sich nach Agathokles' Tod von Syrakus gelöst hatte, wie Tauromenion und anscheinend auch Katane in der Hand von Tyrannen. In Leontil1oi gebot Herakleides, in Tauromenion Tyndarion, in Katane vermutlich Onomakritos, von dem freilich nur überliefert ist, daß er sich einen zahmen Löwen hielt. Der bedeutendste unter den Stadtherren dieser Jahre war jedoch Phintias· von Akragas, der einzigen Stadt, die nicht unter der Herr schaft des Agathokles gestanden hatte. An der Spitze des Demos ist Phintias wohl schon bald nach Agathokles' Tod durch Sturz der Oligarchen, von denen er viele töten ließ, an die Macht gelangt, die er in der ersten Zeit seiner Herrschaft brutal ausgeübt haben soll. Immerhin war sie zunächst so fest gegründet, daß es ihm möglich wurde, eine größere Zahl von Plätzen im Inneren der Insel, darunter Agyrion, sich zu unterwerfen. Selbst das feste Enna konnte sich nur durch Aufnahme einer karthagischen Besatzung sei nem Zugriff entziehen. Auf Grund dieser Eroberungen nahm Phintias in Nachfolge des Agathokles und der Diadochen den Königstitel an, den unter ihm geschlagene Kupfennünzen zeigen. Dem Beispiel der Diadochen eiferte er auch darin nach, daß er unweit des Eknomosgebirges eine Stadt ins Leben rief, der er den eigenen Na men, Phintias, gab. Hier siedelte er nach der Zerstörung Gelas durch die Mamer tiner die dort obdachlos gewordenen Einwohner an. Nach ihrer bisherigen Hei mat, deren Mauern und Häuser, soweit sie noch standen, der Tyrann niederreißen ließ, nannten sie sich weiterhin Geloer, wiewohl sie nun in der neuen, wohlum mauerten, mit Tempeln und einern prächtigen Markt versehenen Stadt ansässig waren, und bildeten hier mit Genehmigung des G ründers ein eigenes Gemein wesen. Auch anderen ihm untertänigen Städten gegenüber soll sich Phintias, nach dem seine anfängliche Härte zum Abfall von Agyrion und an manchen Orten zur Vertreibung seiner Besatzungen geführt hatte, großzügig gezeigt haben. Es scheint, daß jene Gegenbewegung durch den Ausgang eines Krieges zwischen ihm und Hiketas begünstigt wurde, in dem man gegenseitig die Ländereien verwüstete und sich schließlich am Terias-Fluß in einer Schlacht gegenübertrat. Phintias wurde ge schlagen und mag einen Teil seines Herrschaftsgebietes eingebüßt haben. Wie lange er noch über Akragas und der neugegründeten Stadt walten konnte, ist
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unbekannt. Daß ihm ein Traumgesicht den Tod durch einen wilder Eber prophe zeit haben soll, läßt keinen sicheren Schluß auf die Art seines Endes zu, da die Geschichte aus dem Eberbild, das die Rückseite der von ihm geprägten Münzen zeigte, herausgesponnen sein kann. Im Jahre 279 war er jedenfalls nicht mehr an der Macht und kaum noch am Leben. Damals hatte ein anderer Tyrann, Sosistratos, wohl ein Enkel des gleichnamigen, einst aus Syrakus nach Akragas entwichenen und dort von Akrotatos getöteten Gegners des Agathokles, diese Stadt und angeblich noch dreißig weitere Plätze in seiner Hand. Es ist unbekannt, auf welche Weise er die Tyrannis über Akragas gewann und die Nachfolge des Phintias antrat. Seiner Herkunft nach Syrakusaner, verlangte er, der anscheinend auch sonst das Herrschaftsgebiet seines Vorgängers erweiterte, darnach, auch die Heimatstadt seiner Familie in Besitz zu nehmen, und die Verhältnisse dort boten ihm 279/8 erwünschte Gelegenheit zum Eingreifen. Vor kurzem war Hiketas nach neunjährigem Regiment von einem Manne gestürzt worden, dessen Vatersname es nahelegt, in ihm einen Söldnerführer zu sehen : Thoinon, Sohn des Mameus. Er scheint die Tyrannis über die Stadt erstrebt zu haben, gestützt vermutlich auf seine Truppen und vielleicht auch auf alte Anhän ger des Agathokles, während der größere Teil der Bürgerschaft ihm feindlich ge wesen sein dürfte. Es gelang nämlich dem Sosistratos, der die gespannte Lage in Syrakus für sich auszunutzen verstand, die Mehrheit des Volkes zu bewegen, daß sie die Anhänger des Agathokles, im besonderen diejenigen, die einst dem Feinde seines eigenen Großvaters zur Macht verholfen hatten, verbannte. Tatsächlich wurden an tausend Menschen aus der Stadt geführt, dort aber von den sie begleiten den Hopliten und Reitern großenteils niedergehauen. Bald jedoch zeigte der Be freier von Resten der einstigen Tyrannis, als der er vor allem den Oligarchen er scheinen mochte, sein wahres Gesicht. Das Vermögen der Vertriebenen und Er mordeten behielt Sosistratos, der bereits über Akragas und andere Städte gebot, für sich, warb damit griechische und barbarische Söldner an und ließ sogar die Gefangenen aus den Steinbrüchen frei. Mit Hilfe dieser Scharen herrschte er nun mehr auch über den festländischen Teil von Syrakus, während Thoinon mit seinen Truppen sich auf Ortygia behauptete. Beide bekämpften einander mit erheblichen Streitkräften, bis durch das Vordringen der Karthager eine neue Situation ent stand. Es konnte nicht anders sein, als daß die Punier nach der ihnen so willkommenen Auflösung von Agathokles' Reich die Bildung einer neuen st<:rken Macht auf Si zilien mit allen Kräften zu verhindern sud1ten. So waren sie durch Besetzung des wichtigen Enna der Ausweitung der Herrschaft des Phintias entgegengetreten und hatten dem Hiketas nach dessen Sieg über den Herrn von Akragas eine Niederlage beigebracht, durch die wahrscheinlich sein Sturz durch Thoinon erleichtert wurde.
Sosistratos. Thoinol1. König Pyrrhos. Tyndarion
Erst recht waren sie nicht gewillt, die Vereinigung der Herrschaft des Phintias mit Syrakus und dessen Territorium in der Hand des Sosistratos zu dulden. Sie gingen zum Angriff vor, sperrten den großen Hafen von Syrakus und begannen auch zu Lande die Belagerung der Stadt, in deren Besitz sie sich offenbar setzen wollten. Wieder, wie einst, ehe Timoleon erschien, sahen die Griechenstädte Siziliens nach einem Retter aus, der sie von der Karthagergefahr und zugleich von den Tyrannen befreite. Mindestens die Bürger von Syrakus, Akragas und Leontinoi wandten sich an König Pyrrhos, der nach dem unbefriedigenden Ergebnis der Schlacht von Aus culum (279) geneigt schien, den Krieg gegen Rom vorerst abzubrechen und in Si zilien einzugreifen. Aber auch Sosistratos und Thoinon, beide durch die Punier in gleicher Weise bedroht und des fruchtlosen Kampfes miteinander müde, gingen den Fürsten um Hilfe an. Jeder von ihnen hoffte wohl, mit seiner Hilfe und in Anlehnung an ihn der karthagischen Umklammerung ledig zu werden und den Rivalen verdrängen zu können. Wie die Bürgerschaften erklärten auch sie sich bereit, ihm die von ihnen besetzten Teile von Syrakus auszuhändigen. Sosistratos dürfte das Gleiche für Akragas und die anderen ihm untertänigen Plätze verspro chen haben. Man wußte, daß Pyrrhos als einstiger Gemahl der Lanassa Anspruch auf das gesamte ehemalige Herrschaftsgebiet des Agathokles erhob und auch die Übergabe des diesem nicht zugehörigen Akragas fordern würde. Die Syrakusaner erinnerten ihn sogar ausdrücklich an seine Verwandtschaft mit Agathokles. Offen bar sahen sie und ebenso die Akragantiner und Leontiner im Vergleich zur bestehen den Tyrannis oder drohenden Karthagerherrschaft in einem Königtum des Epeiro ten über die Insel das geringere Übel. Pyrrhos folgte dem Ruf und setzte mit Heeres macht nach der Insel über, wo er, wie ehemals Timoleon, bei Tauromenion landete. Tyndarion, der Tyrann dieser Stadt, auf dessen Verhalten für den Beginn des Unternehmens viel ankam, nahm den König mit seinen Truppen bereitwillig auf. Er wurde dafür als Bundesgenosse in seiner Stellung anerkannt. Weder er noch die Bürgerschaft hatten Pyrrhos die Stadt übergeben, die denn auch außerhalb der sizilischen Königsherrschaft des Epeiroten blieb und weiterhin Gold- und Silber münzen prägte. Der Tyrann, dessen Regiment gleich dem des Andromachos, der einst den Timoleon aufgenommen hatte, beim Volk nicht unbeliebt gewesen zu sein scheint, hat in der Folgezeit gemäß dem Bundesverhältnis Pyrrhos mit Trup
pen unterstützt. Ob Katane damals unter einem Tyrannen, etwa dem erwähnten Onomakritos, stand, bleibt ungewiß, so daß der freundlichen Aufnahme, die der König auch dort fand, für das Verhältnis der sizilischen Tyrannen zu ihm nichts zu entnehmen ist. Dagegen wird es in anderen Fällen greifbar. Herakleides von Leontinoi überließ, nachdem die Bürgerschaft schon früher ein Gleiches zugestan den hatte, die Stadt samt einigen festen Plätzen und eine Streitmacht von 4500 Mann dem Epeiroten, als dieser auf dem Seeweg von Katane in Syrakus anlangte.
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Vielleicht, daß er sich daraufhin als von Pyrrhos geduldeter Tyrann behaupten konnte, doch verlautet nichts mehr von ihm. In Syrakus wurde dem König von Thoinon die Insel Ortygia, von Sosistratos der festländische Teil der Stadt über geben; auch die Flotte und das Kriegsmaterial erhielt er ausgeliefert. Es heißt, daß Pyrrhos die beiden Tyrannen miteinander versöhnte, doch läßt die äußerst dürfti ge Tradition leider nicht erkennen, welche Stellung sie während der folgenden Zeit in Syrakus einnahmen. Sosistratos hat bald darauf dem nach Westen vordringen den König Akragas und die dreißig anderen von ihm beherrschten Städte über geben, desgleichen seine Truppen in diesem Gebiet, angeblich 8000 Fußsoldaten und 800 Reiter. Es könnte sein, daß Sosistratos für diesen Bereich, Thoinon für Syrakus als Gouverneur bestellt wurde ; jedenfalls haben beide an Pyrrhos' weite ren Operationen aktiven Anteil genommen. Sie scheinen dabei nicht nur im Heer, in dem ihre einstigen Truppen ein starkes Kontingent bildeten, sondern zuneh mend sogar bei der zivilen Bevölkerung so starken Anhang gefunden zu haben, daß es den König, als er nach Afrika überzusetzen plante, gefährlich dünkte sie mitzunehmen, nicht minder gefährlich jedoch sie zurückzulassen. Er dachte an ihre Beseitigung. Sosistratos versuchte, sich diesem Schicksal durch Abfall zu ent ziehen ; ob mit Erfolg erfahren wir nicht. Thoinon, den der nun erst recht miß trauisch gewordene König beschuldigte, ebenfalls abfallen zu wollen, wurde auf seinen Befehl hingerichtet, wodurch, wie es heißt, der Haß gegen die Herrschaft des Epeiroten wuchs. Hatte Pyrrhos schon die Erwartungen hinsichtlich Aufhebung aller Tyrannenregimente nicht erfüllt, so ließen ihn seine immer despotischeren Maßnahmen in den untertänigen Städten schlimmer als jene Tyrannen erscheinen, deren Konflikt mit ihm sie jetzt beinahe in das Licht von Verfechtern der Freiheit rückte. Als Pyrrhos auch die Hoffnung auf völlige Vertreibung der Karthager von der Insel nicht zu erfüllen vermochte, traten manche Städte zu diesen über, andere suchten einen Vergleich mit den Mamertinern, gegen die er ihnen ebenfalls kei nen wirksamen Schutz bot. Bei seiner jähen Rückkehr aus Sizilien nach Italien (276) ist von Tyrannen in den Griechenstädten in unserer, freilich sehr mageren historiographischen Überlieferung nicht mehr die Rede. Soweit solche noch an der Macht waren, dürften sie nach Abzug des Königs gestürzt worden sein. Ein Jahr später jedoch gelang es dem Syrakusaner Hieron, sich der Herrschaft über seine Vaterstadt zu bemächtigen.
I I I. H I E R O N I r.
In den Kriegen des Pyrrhos auf sizilischem Boden hatte sich ein Syrakusaner aus angesehener Familie hervorgetan, der dafür vom König reich belohnt und seiner
Pyrrh os und die Tyrannen. Hieran II. : Aufstieg
Gastfreundschaft gewürdigt worden war, Hieran, des Hierokles Sohn. Er zählte damals 30 Jahre. Als der Epeirote die Insel verließ und nunmehr die Karthager von neuem vordrangen, schlossen sich die Städte im Osten zu einem Bund unter Führung von Syrakus zusammen und suchten gemeinsam der drohenden Gefahr zu begegnen. Es scheint das ohne rechten Erfolg geschehen zu sein, denn das gra ßenteils aus Söldnern bestehende Heer wählte eigenmächtig im Felde Hieran, der offenbar als Offizier an dem Abwehrkampf teilnahm, und einen Artemidoros anstelle der bisherigen Befehlshaber zu Feldherren. Diese setzten jedoch den Krieg gegen die Punier zunächst nicht fort, vielmehr führte Hieran - von Artemidoros ist nicht weiter die Rede - die ihm ergebenen Truppen nach Syrakus, wo seine An hänger ihm die Tore öffneten, so daß er sich relativ leicht in den Besitz der Stadt setzen konnte (275/4) . Er errichtete also mit Hilfe von Söldnern und eines Teiles der Bürgerschaft eine Tyrannis über die Syrakusaner, der die Notwendigkeit einer straffen Zusammenfassung der Kräfte unter monarchischer Führung für den Kampf gegen Karthago, ähnlich wie einst bei Dionysios und Agathokles, eine gewisse Berechtigung gab. Gleich dem Dichter Theokritos mögen damals manche von Hieran nicht nur Schutz vor den Puniern, sondern deren weites Zurückdrängen, ja ihre völlige Vertreibung von der Insel erhofft haben, doch geschah es gewiß auch unter dem militärischen Druck des neuen Tyrannen, daß die Mehrheit der Bürger schaft seine Erhebung zum Feldherrn legalisierte, indem sie ihn zum alleinigen bevollmächtigten Strategen (Strategos autokrator) wählte. Dieses außerordentliche Amt ist dem Hieron allem Anschein nicht, wie wenige Jahrzehnte vorher dem Agathokles, unbefristet, sondern, wie einst dem Dionysios, für den Karthagerkrieg übertragen worden. Für die anschließenden Kämpfe gegen die Mamertiner dürfte es allerdings verlängert worden sein. Da die verbündeten Städte der militärischen Führung von Syrakus unterstanden, von dem sie auch sonst in einem nicht mehr erkennbaren Grade abhängig gewesen zu sein scheinen, hatte der syrakusanische Stratege im Kriegsfall auch das Kommando über ihre Streitkräfte. Es waren dies die Aufgebote von Akrai, Neeton, Heloros, Megara Hyblaia und Leontinoi, jenen Gemeinwesen, die später von den Römern Hieron überlassen wurden. Wie weit er über die militärische Führung und die dem be vollmächtigten Strategen zustehenden Befugnisse hinaus in Syrakus und gegen über den angeschlossenen Städten die faktische Macht, die er dank den ihm zu Gebote stehenden Söldnern besaß, tyrannisch zur Geltung brachte, entzieht sich unserer Kenntnis. Immerhin spricht nicht bloß das Zeugnis des Hieran-freundlichen, ihn geradezu verherrlichenden Polybios, sondern auch das spätere Verhalten des Macht habers dafür, daß er krasse Gewalttaten vermied und im Gegensatz zu den meisten Tyrannen vergangener Zeiten Besitz und Leben der Oligarchen schonte. Ja, er be mühte sich, die Spannung, die anfangs begreiflicherweise zwischen ihm und die-
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sen Kreisen bestand, dadurch zu beheben, daß er sich mit Philistis, der Tochter des bei den Oligarchen in hohem Ansehn stehenden Leptines, vermählte und ihn für Zeiten, in denen er selbst auf Feldzügen fern von Syrakus weilte, mit seiner Ver tretung betraute. Daß Leptines ein Nachkomme von Dionysios' Bruder Leptines war, dessen Tochter den berühmten Feldherrn und Historiker Philistos geheiratet hatte, scheint ihm nicht als Odium angehaftet zu haben, sonst hätte Hieron nicht durch seine Heranziehung eine Versöhnung mit den Oligarchen herbeiführen kön nen. Diese kam in der Tat zustande und hat, indem sie fast sechzig Jahre wirksam blieb, zur Dauerhaftigkeit von Hierons Herrschaft wesentlich beigetragen. Den großen Kampf gegen die Karthager, den manche von ihm erwarteten, hat der neue Tyrann nicht geführt, sondern anscheinend durch Verhandlungen einen Syrakus und die verbündeten Städte sichernden Frieden erreichen können, der ihm die Möglichkeit gab, sich gegen die Mamertiner in Messana zu wenden. Diese hatten ihre Macht über zahlreiche Orte an der Nordküste und im Binnenland west lich des Ätna ausgedehnt ; sie bedrohten von dort aus auch das syrakusanische Bundesgebiet. Ein erster Feldzug, den Hieron wohl im Jahre 271 mit Söldnern und Bürgertruppen unternahm, trug ihm am Kyamosorosfluß eine empfindliche Nie derlage ein, doch vermochte er die Bürgerkontingente dadurch zu retten, daß er die Söldner bewußt opferte. Seine kluge Versöhnungspolitik, die sie enttäuscht hatte, weil sie den Tyrannen bis zu einem gewissen Grade von ihnen unabhängig machte und ihnen Belohnungen aus konfiszierten Gütern vorenthielt, gestattete ihm, auf die unbequem gewordenen Helfer zu verzichten. Es wird dies dazu bei getragen haben, daß man ihm die erlittene Niederlage nachsah. Söldner hat Hieron freilich sowohl im Hinblick auf neue Kämpfe mit den Mamertinern wie zur Be hauptung der eigenen monarchischen Stellung auch weiterhin nicht entbehren können. Er warb alsbald neue Miettruppen an, die nodl mehr als die früheren an ihn persönlich gebunden waren. Mit ihnen und den inzwischen geschulten und neubewaffneten Bürgertruppen zog er 270 abermals gegen die Mamcrtiner ins Feld, während er zugleich den Römern gegen die Campaner in Rhegion, an denen die Mamertiner bisher eine Stütze gehabt hatten, durch Sendung von Korn beistand. Jetzt gelang es ihm, die Feinde, die nach ihrem früheren Erfolg weiter ausgegriffen hatten, mit einem jähen Vorstoß nordwärts entlang der Ostküste, wo Katane und Tauromenion der syrakusanischen Bundesgenossenschaft beitraten, zu überraschen und Messana selbst anzugreifen. Zwar mußte er, als von den Plätzen im mamer tinischen Machtbereich Entsatztruppen heranrückten, von der Belagerung der Stadt ablassen, doch vermochte er Mylai und andere Orte zu erobern, unter ihnen auch das zwischen Kenturipe und Agyrion gelegene Ameselon, cas er zerstörte. Das Ge biet verteilte er an j ene beiden Städte, die, wie Katane und Tauromenion, offenbar schon vorher Bundesgenossen der Syrakusaner geworden waren.
Hieran H. : Mamertinerkämpfe. Königswürde
Hieron, der dank der Erweiterung des Bundesbereiches jetzt eine beachtliche Streitmacht besaß, konnte hoffen, durch einen neuen Feldzug im folgenden Jahre (269) der Mamertiner völlig Herr zu werden, mochte ihm aud1 Mylai inzwischen verlorengegangen sein. In der Tat fielen die jenen untertänigen Städte an der Nordküste zwischen Alaisa und Tyndaris ihm zu, sei es daß die Besatzungen ka pitulierten, sei es daß die Bürgerschaften den Retter von Fremdherrschaft bereit willig aufnahmen. Als er sich darauf von Tyndaris ostwärts wandte, traten die Mamertiner ihm von Messana her in der Ebene von Mylai am longanosfluß ent gegen. Mit überlegener Streitmacht schlug I-Heron sie so entscheidend, daß sie be reit waren, sich auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Kein Zweifel, daß er jetzt ihren Abzug aus Messana erreicht hätte, wäre nicht der karthagische Feldherr Han nibal, der mit einem Geschwader an den liparischen Inseln lag, bei ihm vorstellig geworden. Auf seinen Wunsch nahm der Sieger, der es auf einen Krieg mit den Puniern nicht ankommen lassen wollte, von jedem weiteren Vorgehen Abstand und ließ es geschehen, daß eine karthagische Besatzung Messana sicherte. War er auch um die letzte Frucht seiner großen Erfolge gebracht worden, so hatte er doch eine neue, beträchtliche Erweiterung des Kreises der syrakusanischen Bundesgenos sen erreicht : der gesamte Nordosten Siziliens mit Ausnahme Messanas unterstand militärisch dem Strategos autokrator von Syrakus. Doch Hieran genügte diese Stel lung nicht. Auf Grund seines glänzenden Sieges am Longanos ließ er sich von den Syrakusanern und Bundesgenossen im Heer zum König ausrufen. Fortan war er nicht mehr nur der militärische Führer der Symmachie, auch nicht bloß der Tyrann von Syrakus, der seine Macht die abhängigen Städte fühlen lassen konnte, sondern der anerkannte Herrscher über ein aus zahlreichen städtischen Territorien beste hendes Reich. Im Untersdüed zu Dionysios und Agathokles jedoch, welche die ih nen untertänigen Gemeinwesen mehr oder minder gewaltsam sich angeeignet hat ten, war Hierons Königsherrschaft aus einer Bundesgenossenschaft erwachsen und ihm von deren Mitgliedern einigermaßen freiwillig übertragen worden. Insofern trägt sie keine tyrannischen Züge. Gleichwohl verdient sie wegen der Art, in der Hieran sie wahrgenommen hat, im Rahmen einer Geschichte der griechischen Ty rannis Beachtung. Was zunächst ihren Umfang betrifft, so hat ein neuer Angriff, den der König 264 nach Abzug der punischen Besatzung auf Messana unternahm, in seinen Aus wirkungen zu einer Schrumpfung des Reiches auf das Gebiet der einstigen syraku sanischen Bundesgenossenschaft um 275/4 geführt. Denn ein Teil der Mamertiner rief die Hilfe der Römer an, welche die Stadt in ihre Bundesgenossenschaft aufnah men und zu ihrer Verteidigung den COTI5ul Appius Claudius mit 2 Legionen ent sandten. Zwar hatten die Karthager, von einem anderen Teil der Mamertiner her beigerufen, die Burg von Messana abermals besetzt, doch ließ sich der Befehlshaber
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zum Abzug nötigen und auch der Übergang des Consuls über die Meerenge konnte von ihnen nicht verhindert werden. Die Sicherung des Platzes durch römische Truppen, die in gleicher Weise Hierons und der Karthager Absichten vereitelte, führte die bisherigen Rivalen zusammen : der König schloß, so schwer es ihn an kommen mochte, mit dem punischen Feldherrn ein Bündnis zum gemeinsamen Kampf gegen Rom und beide Heere blockierten Messana vom Lande her. Aber Hieran wurde durch den Consul rasch aus seiner Stellung geworfen. Er zog nach Syrakus zurück, während die Karthager, die ebenfalls eine Niederlage erlitten, sich nicht mehr aus ihrem günstig gelegenen Lager und den festen plätzen des Hinter landes herauswagten. Appius Claudius erhielt dadurch die Möglichkeit, jäh nach Syrakus vorzustoßen, dessen Überrumpelung ihm freilich nicht gelang. Er mußte sich vielmehr unter größter Bedrängnis nach Messana zurückziehen, vor dessen Mauern Hieron wieder erscheinen konnte. Von seiner und der Punier Bedrohung wurden die Mamertiner erst im Sommer 263 durch die über vier Legionen verfü genden Consuln Manius Valerius und Manius Otacilius befreit. Letzterer ver mochte die vereinten Gegner zu schlagen. Als beide Consuln darauf nach Süden vordrangen, fielen fast alle von Hieron seit 271 zum Anschluß gebrachten Städte ab, und Syrakus sah abermals die Römer, jetzt mit weit größerer Heeresmacht, vor seinen Toren. Wollte der König seine Herrschaft wenigstens in einem gewissen Umfang erhalten, so gab es für ihn keinen anderen Ausweg, als dem Wunsch der Oligarchen, vermutlich auch des Demos, nachzugeben und Frieden mit den Rö mern zu schließen. Diese, denen im Hinblick auf den weiteren Kampf mit Karthago daran gelegen war, den Krieg mit Hieron zu beendigen und ihn als Bundesgenos sen gegen den alten Feind der Syrakusaner zu gewinnen, legten ihm zwar eine be trächtliche Kriegsentschädigung auf, beließen ihn aber in der Königsherrschaft über Syrakus und die Städte der einstigen syrakusanischen Bundesgenossenschaft : Akrai, Neeton, Heloros, Megara Hyblaia und Leontinoi. Dieses relativ kleine, doch sehr fruchtbare Gebiet, das später anscheinend etwas erweitert wurde, hat Hieran seit 26312 als ein den Römern verbündeter König fast ein halbes Jahrhun dert lang beherrscht. Das Königtum Hierons, das letztlich aus der Tyrannis über Syrakus hervorge gangen war, ist ein absolutes im Sinne der hellenistischen Monarchien des Ostens gewesen, denen es in Titulatur, dynastischer Ordnung, Hofhaltung und sonstiger Repräsentation glich. Auch die Annahme des Sohnes Gelon als Mitregenten weist in dieselbe Richtung. Syrakus war als Residenz des Herrschers seiner Größe wegen die natürliche Hauptstadt, doch nahm es nicht, wie unter Agathokles, eine Sonderstellung ein. Hieron hat als König nicht mehr das Amt des Strategos autokrator innegehabt. Den Oberbefehl über das Bürgeraufgebot, das freilich nach 26312 kaum mehr mobilisiert wurde, und ebenso das Kommando über die Kon-
Hieron H.: Krieg und Friede mit Rom. Königtum
tingente der anderen Städte besaß er kraft seiner königlichen Gewalt. «Königlich» und von dem Herrscher unterhalten waren die Kriegsflotte und die Söldner, der König war es auch, der die Modernisierung der Befestigungsanlagen und ihre Aus stattung mit neuartigen, von Archimedes konstruierten Geschützen organisierte und finanzierte. Ist schon in dieser Stellung des Monarchen neben und über der Stadt eine gewisse Fortsetzung der Tyrannis zu erkennen, so gilt dies erst recht von der Art der Besteuerung, die Cicero mit gutem Grund als tyrannisch bezeichnet hat. Nicht nur, daß der König sein Herrschaftsgebiet einschließlich Syrakus mit ei ner Zollschranke umgab und in ihm durch die berühmte «Lex Hieronica» über die Grenzen der städtischen Territorien hinweg die Erhebung des Zehnten vom Bo denertrag zu seinen Gunsten vornahm, es wurde das Aufbringen der Abgabe im Gegensatz zu dem in den hellenistischen Reichen üblichen Verfahren nicht den kommunalen Behörden überlassen, sondern der einzelne Bebauer unmittelbar von den Steuerpächtern herangezogen, so daß die Gemeinwesen, denen nur eine ver mittelnde und schiedsrichterliche Rolle zugestanden war, sich eines wesentlichen Teiles ihrer Autonomie beraubt sahen. Diese blieb nur insofern erhalten, als in Syrakus und den anderen Städten die alten Polisorgane, Beamte, Rat und Volks versammlung, fortbestanden, ohne politisch viel zu bedeuten. Die Könige der öst lichen Reiche konnten sich großzügiger zeigen, weil sie im allgemeinen über weite Territorien, nicht nur über Städte, geboten. Hieron dagegen, dem ein kleines, aus städtischen Gemeinwesen bestehendes Gebiet untertan war, mußte die Poleis fest in seiner Hand haben. Ein Verband der Städte seines Herrschaftsgebietes, der sich als «Sikelioten» bezeichnete, entbehrte daher, wie die Städte selbst, politischer Be fugnisse. Seine Aufgaben erschöpften sich im wesentlichen darin, auf eigene Ko sten Steuernöte zu mildern und die Loyalität gegenüber dem Königshaus zu be kunden. Während Agathokles wenigstens in Syrakus sich rechtlich mit dem freilich lebenslänglichen Amt des Strategos autokrator begnügt, jede aufreizende Betonung seines Königtums über weite Teile Siziliens unterlassen und sich keine burgartige Residenz auf Ortygia errichtet hatte, ist Hieron dem freistaatlichen Sinn der Bür ger weniger behutsam begegnet. Er war König auch über Syrakus, verzichtete dort weder auf das Diadem noch auf monarchischen Hofstaat und wohnte wie Dionysios, an den der Absolutismus seiner Herrschaft auch sonst erinnert, in einem festen Schloß auf der Insel Ortygia. Legt das Letztere schon den Gedanken nahe, daß Hieron beim Volke nicht so beliebt war, wie die ihn verherrlichende Tradition glauben machen möchte, so weisen andere Indizien eindeutig auf eine permanente Spannung zwischen dem König und der Masse der Bevölkerung hin, sowohl in Syrakus wie in den Landstädten. Es war bereits zu bemerken, daß die Tyrannis Hierons von derjenigen des Dionysios, Agathokles und so vieler anderer Tyrannen
Der griechische Westen
sich durch Begünstigung der Oligarchen unterschied. Auch als König hat der Machthaber diese Politik beibehalten. Daß der Rat der Polis Syrakus weiterhin überwiegend aus Oligarchen bestand, kann, selbst wenn es sich als ein Fortleben bzw. Wiederaufleben der von Timoleon gesetzten Ordnung darstellen mochte, nur mit Billigung des Königs und nach seinem Wunsch geschehen sein. Deutlicher noch zeigt sich die Bevorzugung dieser Schicht darin, daß von der Lex Hieronica bloß die Kleinbauern und Pächter, nicht dagegen die Grundbesitzer getroffen wur den, weder in Syrakus noch in den anderen Städten. Politisch und wirtschaftlich begünstigt, haben die oligarchischen Kreise Hierons Königtum bejaht und die Min derung der Polis-Autonomie, durch die ihre eigenen Interessen wohl nur wenig beeinträchtigt wurden, als einen erträglichen Preis für die Vorteile und die Siche rung angesehen, die ihnen zuteil wurden. Daß andererseits der städtische Demos sowie die Bauern und Pächter mit diesem Zustand unzufrieden waren, müßte auch dann angenommen werden, wenn die höchst spärliche überlieferung keine Anzei chen des Vorhandenseins einer starken Opposition im niederen Volke enthielte. Nun ist aber gut bezeugt, daß Hieron mehrmals erklärt hat, die Herrschaft niederlegen zu wollen, wofür kaum anderes als eben jene innenpolitischen Schwierigkeiten maß gebend gewesen sein kann, daß ferner sein Sohn und Mitregent Gelon, als er nach der Schlacht von Cannae (21.6) im Gegensatz zu seinem greisen Vater auf die Seite der Punier übertreten wollte, den Demos von Syrakus und die Bevölkerung der Landstädte für sich gewann, daß schließlich nach dem Ende von Hierons Enkel Hieronymos (21.4) sich zeigte, wie verhaßt bei der städtischen Menge und anschei nend auch beim Landvolk das Regiment des Großvaters gewesen war, dessen ganze Familie man auszurotten wünschte. Verhaßt offenbar wegen der Begünstigung der Oligarchen, der strengen Handhabung der Besteuerung und wohl auch wegen der Minderung der Freiheit und Autonomie der Gemeinwesen. Es zeugt von den au ßerordentlichen herrscherlichen und staatsmännischen Fähigkeiten Hierons, daß er fast ein halbes Jahrhundert lang die Opposition niederzuhalten vermochte, ohne, soweit wir sehen, die ihm zur Verfügung stehenden Söldner gegen die unzufrie dene Menge einzusetzen. Die Vertrauenskundgebungen, die er auf seine Rück trittsangebote erhielt, dürften freilich von ihm herausgefordert und, was das Ver halten des Demos betrifft, unter dem geheimen Druck der militärischen Macht des Königs erfolgt sein. Und doch hätten die Möglichkeit des Einsatzes von Soldtruppen und der Rückhalt an den Oligarchen das absolutistische Regiment Hierons, das trotz der Form des Königtums in weiten Kreisen als Tyrannis empfunden wurde, kaum Jahrzehnte hindurch aufrecht erhalten, wäre es nicht seit dem Frieden von 26312 durch Rom gestützt worden. Denn nicht nur außenpolitisd1e Gründe sind es gewesen, die den König zum treuesten Bundesgenossen der italischen Vormacht werden ließen,
Hieron II. : H errschaft und Außenpolitik
auch die Behauptung seiner Herrschaft im Inneren nötigte ihn dazu. Nachdem er sich einmal entschlossen hatte, statt der fragwürdigen Gefolgschaft des wankel mütigen Demos die zuverlässigere der besitzenden Schichten zu suchen, war durch die Verbindung mit ihnen, die - ähnlich wie später ihre Standesgenossen im grie chischen Mutterland - dem oligarchisch regierten Rom zuneigten, auch außenpoli tisch der Weg gewiesen, von dem Hieron nach dem kurzen Intermezzo von 264/3 nicht mehr abgegangen ist. Eben deshalb hat sich, für uns nur in den letzten Jahren erkennbar, die Erbitterung der Masse in gleicher Weise wie gegen ihn und die Oligarchen gegen Rom gerichtet. Der geschickten Politik des Königs ist es trotz dem seit Beendigung des ersten Punischen Krieges fast erdrückenden übergewicht der Römer auf Sizilien gelungen, die Selbständigkeit weitgehend zu wahren. Um zur Erhaltung eines gewissen Gleichgewichtes der Mächte, an dem ihm gelegen sein mußte, beizutragen, hat er zu Beginn der dreißiger Jahre das durch einen gro ßen Söldneraufstand an den Rand des Verderbens gebrachte Karthago durch Ge treidesendungen unterstützt und die Verstimmung Roms darüber zu beheben ge wußt. Wie Agathokles knüpfte er ferner verwandtschaftliche Verbindungen mit dem Königshaus der Molosser an, indem er seinen Sohn Gelon mit der Prinzessin Nerds vermählte, ein Akt, der freilich infolge des baldigen Sturzes der Monarchie in Epirus (etwa 230) um seine politische Wirkung kam. Mit den Ptolemaiern un terhielt Hieron, auch darin den Spuren des Agathokles folgend, gute Beziehun gen, griechischen Städten des Mutterlandes lieferte er Korn, und der Freistaat Rhodos erhielt von ihm nach dem furchtbaren Erdbeben von 227 eine große Geld summe und kostbare Gaben. Fehlte dem König des kleinen Territoriums auch be deutende militärische Macht, so hat er dank politischer Verwendung des Reich tums, den er durch die rigorose Besteuerung gewann, im Konzert der Großmächte doch eine beachtliche Rolle gespielt. Das gilt im Hinblick sowohl auf Rom und Karthago wie auf die hellenistischen Monarchien, mit deren Königen er bei der Unterstützung von Rhodos wetteifern konnte. Hier ging es freilich weniger um politische oder wirtschaftliche Vorteile als um Prestige und Ruhm. Dem Beispiel der Deinomeniden folgend, von denen abzustammen er behauptete und mit denen er die Begünstigung der oberen Schichten gemein hatte, ist Hieron bestrebt gewesen, auch an der alten panhellenischen Stätte von Olympia seinen Ruhm erstrahlen zu lassen. Er gewann dort zahlreiche Siegeskränze, und minde stens sechs Statuen, die teils von seinen Söhnen, teils von der syrakusanischen Po lis, teils von einer anderen, nicht mit Sicherheit zu benennenden Stadt geweiht worden waren, hielten späteren Generationen die Erinnerung an ihn lebendig. Durch großartige Bauten hatten schon manche Tyrannen ihrer Herrschaft Glanz zu geben und dauernde Denkmäler zu setzen gesucht. Hieron erbaute sich selbst auf Ortygia einen prächtigen Palast, errichtete dem Olympischen Zeus einen Tem-
Der griechisme Westen
pel am Markt von Syrakus, schuf einen Riesenaltar von 200 m Länge und gestal tete das benachbarte Theater zu einem der modernsten und schönsten der griechi schen Welt. Auch die kleineren Städte scheinen von ihm mit stattlichen Bauten geschmückt worden zu sein. Am deutlichsten aber bekundet das Riesenschiff «Sy rakosia» den Willen des Fürsten, durch staunenerregende Werke darzutun, wessen er und seine Herrschaft fähig waren. So wenig wurde bei diesem Fahrzeug, das dem Getreidetransport dienen sollte, zugleich jedoch mit unerhörtem Luxus ausgestattet war, seine praktische Verwendbarkeit berücksichtigt, daß schließlich kein Hafen außer dem von Syrakus und von Alexandreia es aufzunehmen vermochte. Doch selbst diesen Mangel wußte Hieran auszuwerten, indem er das Prunkschiff dem König Ptolemaios UI. zum Geschenk machte. Wenn ferner Archimedes, der die Oberleitung des Baues hatte, auf Wunsch des weniger an den wissenschaftlichen Entdeckungen des graßen Gelehrten als an der Brauchbarkeit seiner technischen Konstruktionen interessierten Fürsten neuartige und höchst wirksame Geschütze herstellte, so konnten auch sie in der Umwelt - etwa bei den Rhodiern, die fünfzig schwere Katapulte erhielten - Bewunderung für das erregen, was in dem kleinen sizilischen Reich unter einem König geleistet wurde, der wie nicht wenige Tyran nen älterer und jüngerer Zeit von einer gewissen Leidenschaft für neuartige tedl nische Werke beseelt war. Es ist bezeichnend, daß sein nüchterner Geist, der sich auch in dem illusionslosen Realismus seiner Politik bekundet, nach dieser Richtung tendierte, dagegen keine Neigung verspürt zu haben scheint, nach dem Vorbild früherer Tyrannen oder gleichzeitiger hellenistischer Könige durch Heranziehung von Dichtern, Philosophen und Gelehrten den Glanz seines Hofes zu mehren. Mehr als vierzig Jahre hatte Hieran in Anlehnung an Rom seinen Untertanen den Frieden und damit tratz der Besteuerung Wohlstand erhalten können, als der Ausbruch des zweiten Punischen Krieges (218) ihn und sein Reich in Gefahr brach te. Die längst vollzogene Ausstattung der Befestigungsmauern von Syrakus mit den modernsten Geschützen zeigt, daß diese Gefahr ihm nicht unerwartet kam. Sein Standort auf seiten Roms war Hieran, wie bemerkt, schon durch die innenpoli tische Situation vorgeschrieben, so daß man nicht unbedingt anzunehmen braucht, der kluge Rechner habe den Endsieg der Römer von vornherein für sicher gehalten. Zunächst war jedenfalls ein karthagischer Angriff auf sein Gebiet zu befürchten, der denn auch nach der Schlacht von Cannae tatsächlich erfolgte, zu einem Zeit punkt, als die katastrophale Niederlage Roms die innere Spannung in Hierans Reich zur Entladung zu bringen drahte. Der eigene Sohn Gelon unternahm den Versuch, an der Spitze der niederen Bevölkerung sich gegen seinen Vater zu empören und den Übertritt auf die punische Seite zu vollziehen. Sein jäher Tod hat Hieran zwar die Möglichkeit gegeben, in den wenigen Monaten, die ihm selbst noch zu leben vergönnt war, den Römern weiterhin militärisch und mit Sachlieferungen beizu-
Hieran II.: Bauten. Stiftungen. Letzte Jahre
stehen, aber den Neunzigjährigen mußte die Sorge quälen, ob nicht bei seinem baldigen Hinscheiden ein innen- und außenpolitischer Umschwung eintreten oder gar die von ihm begründete Königsherrschaft untergehen werde. Wenn er wirklich, wie Livius behauptet, daran gedacht haben sollte, Syrakus die Freiheit zurückzugeben, so konnte ihn schon der Gedanke an die chaotischen Folgen, welche dieser Akt nach Agathokles' Tod gehabt hatte, davon zurückhalten, und es dürfte kaum des angeblichen Einwirkens seiner beiden Töchter, deren Männer die Herr schaft zu übernehmen hofften, bedurft haben, ihn davon abzubringen. Andererseits wurde jetzt vollends deutlich, wie sehr Hierons Königtum über griechische Stiidte das von keiner dynastischen Tradition getragene Regiment eines einzelnen bedeu tenden Machthabers und insofern trotz aller Verbrämung und äußeren legalisie rung Tyrannis gewesen war. Das natürliche Schicksal jeder Tyrannenherrschaft, daß nämlich beim Ableben ihres Begründers ihr Fortbestand in Frage gestellt war und nur durch einen einigermaßen gleichwertigen Erben gewährleistet werden konnte, war auch das Schicksal dieser Monarchie, mochte sie gleich in den Kreis der hellenistischen Königtümer eingegangen zu sein scheinen. Es blieb dem ster benden Fürsten nichts anderes übrig, als testamentarisch seinen erst fünfzehnjähri gen Enkel Hieronymos, obwohl er sich über dessen bedenklichen Charakter ver mutlich im klaren war, zu seinem Nachfolger zu bestimmen, die Führung der Re gierungsgeschäfte aber, bis der Knabe erwachsen wäre, einern Vormundschaftsrat anzuvertrauen mit der Mahnung, die bisherige Politik des Festhaltens an Rom fortzusetzen (215) .
I V. H I E RO N Y M O S
Der junge König ist von den fünfzehn Vormündern, die ihm Hieron beigegeben hatte, der syrakusanischen Volksversammlung vorgestellt worden, die kaum an ders konnte als ihm die Akklamation zu erteilen. Von staatsrechtlich konstituieren der Kraft war diese Zustimmung nicht, schon weil das nunmehr auf Hierony mos übergehende Königtum weder seiner Entstehung noch seiner Ausdehnung nach auf Syrakus beschränkt war. Es handelte sich vielmehr wie einst bei Diony sios 11. lediglich um eine Demonstration. Die kurze, nur 13 Monate (215-214) währende Herrschaft des Jünglings, die sich rechtlich von derjenigen Hierons nicht unterschied, würde in einer Geschichte der griechischen Tyrannis keinen Platz verdienen, wäre sie nicht von Zeitgenossen und Späteren als Tyrannis empfunden und als solche bezeichnet worden. Über die «Tyrannis des Hieronymos» ver faßte Baton von Sinope eine eigene Schrift, die mit rhetorischer Übertreibung die mensch liche Minderwertigkeit und die wirklichen oder angeblichen Grausamkeiten des Für-
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Der griechische Westen
sten schilderte. Andere Autoren entwarfen ein ähnliches Bild, das von den römi schen Annalisten gern übernommen wurde, weil Hierons Enkel die schon von seinem Vater Gelon beabsichtigte Schwenkung vollzog und bald nach seinem Regierungs antritt auf die Seite der Karthager übertrat. Daß ihm in der radikal tyrannen feindlichen Literatur mehr Schandtaten angedichtet wurden, als er während seiner kurzen Regierungszeit hätte begehen können, ist schon von Polybios bemerkt worden, und selbst in der ihn verdammenden Erzählung des Livius wird deutlich, daß an manchen Gewaltakten, etwa der Hinrichtung des Römerfreundes Thrason, weniger Hieronymos als sein Oheim Adranodoros die Schuld trug. Dieser nämlich drängte schnell die anderen Vormünder beiseite und riß als alleiniger Berater sei nes Neffen die Gewalt an sich. Immerhin erscheint auch bei Polybios in der allge meinen Charakterisierung des jungen Königs und der glaubwürdigen Schilderung seines anmaßenden Benehmens gegenüber den römischen Gesandten Hieronymos als ein eitler, im Grunde schwacher, aber eben darum um so hochfahrenderer und zu Exzessen neigender Mensch. An den Vorwürfen des tyrannenfeindlichen Schrift tums, er habe sich von feilen Sdlmeichlern beeinflussen lassen, die ihn zu sittlicher Zügellosigkeit und tyrannischer Roheit verleitet hätten, dürfte also trotz allen Übertreibungen Richtiges sein, während die Behauptung, erst Hieronymos habe das Diadem angenommen, sich mit einer Leibwache umgeben und herrscherlichen Prunk entfaltet, mindestens hinsichtlich des Diadems, das bereits Hieron trug, unzutreffend ist. Im übrigen handelt es sich bei manchem, was Historiker dem Hieronymos zur Last legten, um beliebte, für den Einzelfall jedoch wenig besa gende Elemente der allgemeinen Tyrannentypologie. Römische Autoren haben sie begierig aufgegriffen, um dem maßvollen Römerfreund Hieron den in jeder Hin sicht maßlosen römerfeindlichen Enkel gegenüberzustellen. In Wahrheit hat dieser, soweit wir sehen, an der Struktur der von Hieron begründeten Monarchie nichts geändert. Nur im moralischen, nicht im politischen Sinne war er mehr Tyrann als sein Großvater. Eine Änderung der Innenpolitik trat mit dem Regierungswechsel allerdings in sofern ein, als der neue Herrscher, der zu den Karthagern überging, sich nicht mehr auf die römisch gesinnten Oligarchen stützte, in ihnen vielmehr seine Gegner sah, die er verfolgte. Ob er damit freilidl die Gunst der städtischen Menge und der Landbevölkerung gewann, ist höchst fraglich. Zwar wünschten diese Schichten die Abkehr von Rom, aber sowohl die Tatsache, daß die Lex Hieronica in Kraft blieb, wie der Ausbruch des Hasses gegen die Monarchie nach Hieronymos' Tod machen es wahrscheinlich, daß man - vielleicht nach anfänglichen Hoffnungen - von Hie ronymos enttäuscht war. Wie Hieron einst die Tyrannis mit Hilfe von Söldnern errichtet hatte, so ruhte die Alleinherrsdlaft schließlich wieder auf den aus dem Königsschatz bezahlten Soldtruppen, die ihr keine zuverlässige Stütze boten. Eine
Hieronymos. Ende der Dynastie Hierons
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in den Oligarchenkreisen gebildete Verschwörung hat ihr rasch das Ende bereitet. Als Hieronymos sich auf einem Feldzug gegen die Römer in Leontinoi befand, wurde er überfallen und erstochen (214) . Der Leichnam als der eines gestürzten Tyrannen blieb unbestattet. Sein Oheim Adranodoros vermochte sich gegen Oli garchen, städtischen Demos und Landbevölkerung, die sich im ersten Freiheits rausch zusammenfanden, nicht zu behaupten, geschweige an die Stelle des Ermor deten zu treten. Er sah sich genötigt, die Inselburg samt den Schätzen auszuliefern und sich dem oligarchischen Rat, der unter Hieronymos nicht hatte tagen dürfen, zu unterstellen. Die Dynastie Hierons hatte aufgehört zu herrschen und niemand wünschte, daß einer ihrer Angehörigen die Monarchie wieder erstehen lasse. Adranodoros hat es unter Ausnutzung der bald wieder auflebenden Feindschaft zwischen römerfreundlichen Oligarchen und karthagerfreundlichem Demos gleich wohl versucht, indem er sich gleichzeitig mit den vom Freistaat übernommenen kö niglichen Söldnern, den schon unter Hieronymos von Hannibal gesandten Brüdern Epikydes und Hippokrates sowie mit punischen Hilfstruppen, die vor einiger Zeit eingetroffen waren, ins Benehmen setzte. Da er, der vor allen den Anschluß an die Karthagern betrieben hatte, nach der Übergabe von Ortygia vom Volk an erster Stelle in das wiedererweckte Strategenkollegium gewählt worden war, bestand für ihn die Möglichkeit, einen Militärputsch unauffällig vorzubereiten. Durch die Unvorsichtigkeit des Themistos jedoch, des Gemahles von Gelons Tochter Harmo nia, den er ins Vertrauen gezogen hatte, kam der Anschlag dem Rat zu Ohren. Dieser ließ Adranodoros und Themistos, als sie ahnungslos das Ratsgebäude be traten, niedermachen und fand für die Tat die Billigung des Demos. Abermals führte der Haß gegen die Monarchie Volk und Oligarchen zusammen. Ja, die erbitterte Menge verlangte nun, daß kein Mitglied des einstigen Königshauses am Leben bleiben solle. Damarete und Herakleia, die beiden Töchter Hierons, von denen jene die Gemahlin des Adranodoros gewesen, diese die Gattin eines Zoip pos war, auch Harmonia und sogar Herakleias Töchter fielen der Volkswut zum Opfer. Am Leben blieben nur Zoippos und die jüngeren Brüder des Hieronymos, die sämtlich noch unter dessen Regierung an den Hof von Alexandreia geschickt worden waren und offenbar nicht mehr nach Syrakus zurückgekehrt sind. Die Ausrottung der Familie Hierons zeigt noch einmal mit aller Deutlichkeit, wie sehr das Königtum, das Adranodoros wiederherzustellen versucht hatte, in den Augen der Menge eine Tyrannis war und selbst von den Oligarchen als solche angesehen wurde, sobald der römer- und oligarchenfreundliche Kurs verlassen wurde. Mit der endgültigen Beseitigung der Monarchie brach aber auch Hierons Reich auseinander, indem die einzelnen Städte, wo der Demos jetzt an die Macht gelangt zu sein scheint, sich den Karthagern anschlossen, deren Oberhoheit man offenbar für milder erachtete als die bisherige Königsherrschaft mit ihrer Ein-
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schränkung der Polisautonomie und ihrem harten Steuerdruck. Auf die Seite der Punier wurden diese Gemeinwesen auch durch den von Rom begünstigten An spruch des oligarchischen Rates von Syrakus gedrängt, der für die eigene Stadt als Erben der Könige die Herrschaft über die einst diesen untertänigen Gemeinwesen verlangte. Zum ersten Versuch einer Verwirklichung der Forderung konnte es frei lich schon deshalb nicht kommen, weil unter dem Eindruck der Eroberung und Plünderung des romfeindlichen Leontinoi durch M. Claudius Marcellus (214113) und unter dem Einfluß der Sendboten Hannibals, Epikydes und Hippokrates, die der Demos nach Adranodoros' Tod zu Strategen gewählt hatte, der Rat die politi sche Leitung verlor, mochte es auch im Strategenkollegium Parteigänger der Olig archen geben. Es gelang den Brüdern, die Leontinoi nicht hatten retten können, von dem zu Karthago haltenden Herbessos aus die von ihren Gegnern im Strate genkollegium gegen sie herangeführten Truppen, vor allem die Söldner und ein stige Soldaten der königlichen Leibwache, aber auch überläufer von der römischen Flotte und sogar syrakusanische Bürger, für sich zu gewinnen und mit Hilfe eines Teiles der Stadtbevölkerung wieder in Syrakus einzuziehen. Nach dem tendenziös gefärbten Bericht des Livius wären Epikydes und Hippokrates nur von dieser bun ten Anhängerschaft wieder zu Strategen gewählt worden. Es muß jedoch die Mehr heit der Syrakusaner, die allein wahlberechtigt waren, ihre Stimme für sie abgege ben haben und zwar in dem Sinne, daß sie alleinige bevollmächtigte Strategen sein sollten, als die sie denn auch in der Folgezeit den Kampf gegen die Römer leite ten (213/12). Schon mehrmals hatte das außerordentliche Amt des Strategos autokrator als Sprungbrett zur Tyrannis gedient. Auch Epikydes und Hippokrates, die väter licherseits syrakusanischer Abkunft waren, jedoch eine karthagische Mutter hatten, sollen nach der uns allein vorliegenden römischen Tradition sich zu Tyrannen der Stadt aufgeworfen haben, wie sie schon vorher Trabanten des Tyrannen Hierony mos gewesen seien. Nach einer kurzen Zeit der Freiheit wäre Syrakus in die frü here Knechtschaft zurückgefallen. Durch überrumpelung der aufgeregten Bürger schaft hätten sie sich nach ihrer Rückkehr von Herbessos in den Besitz der Stadt gesetzt, Freiheit und gesetzliche Ordnung unterdrückt und sich als grausame Ge walthaber erwiesen. Es kann nicht verwundern, daß man in Rom die beiden Män ner, unter deren Führung Syrakus lange Zeit zähen Widerstand leistete, als Ty rannen brandmarkte, und es wird der Wahrheit entsprechen, daß die Mehrheit der Syrakusaner in der verzweifelten Lage, in welche die Stadt allmählich geriet, sich einredete, man sei von Tyrannen vergewaltigt und ins Unglück gestürzt worden. Aber schon Marcellus soll nach der Katastrophe auf die Beschwerden über seine Härte und den Versuch, die Schuld auf die beiden Brüder abzuwälzen, erklärt ha ben, die Bürgerschaft sei nicht von Tyrannen gezwungen worden, den Kampf ge-
Epikydes und Hippokrates
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gen Rom zu führen, sondern habe, um ihn bestehen zu können, sich selbst Tyran nen unterworfen, womit offenbar die Wahl der Brüder zu bevollmächtigten Strate gen gemeint war. In der Tat läßt sich fragen, ob wirklich von ihnen die Polis tyrannisch vergewaltigt wurde oder ob sie nur die Befugnisse ihres außerordent lichen Amtes ausübten. Wohl erinnert die Art, wie Epikydes und Hippokrates von Herbessos aus mit einer aus Söldnern und anderen Elementen zusammengesetzten bunten Streitmacht sich Eingang in Syrakus verschafften, an einen tyrannischen Staatsstreich, aber sie waren vorher von ihren oligarchischen Mitstrategen militä risch angegriffen worden und kamen dem Demos zu Hilfe. Dieser nahm sie bereit willig auf, erstürmte unter ihrer Führung den Stadtteil Achradina, wo jene sich verschanzt hatten und fielen, und wählte die Brüder zu bevollmächtigten Strategen gegen die andringenden Römer. Man begreift, daß sie bereits von den Oligarchen, nicht erst von den Römern, als Tyrannen hingestellt wurden und daß einer aus deren Reihen, Deinomenes, der schon an der Ermordung des Hieronymos beteiligt gewesen war, sich abermals als Tyrannenstürzer fühlte, als er ein Attentat auf die Brüder unternahm, das freilich scheiterte. Eindeutig tyrannische Maßnahmen weiß jedoch selbst die dem Epikydes und Hippokrates feindliche überlieferung nicht zu nennen. Die Freilassung von Sklaven und Gefangenen - an sich ein beliebtes Mo tiv der Tyrannentypologie - wird eher dem Volk als ihnen zugeschrieben und er klärt sich aus der Not des Verzweiflungskampfes, die Verfügung über Gelder aus dem einstigen Königsschatz dürfte ihnen als unbeschränkten Strategen zugestan den haben, und einer Leibwache - sonst oft das Kennzeichen einer Tyrannis - be durften sie im Hinblick auf die Nachstellungen der Oligarchen. Im übrigen schei nen sich sogar einige von diesen ihnen zur Verfügung gestellt zu haben. Auch das Ende der Brüder spricht nicht für Tyrannis : Als sie erkennen mußten, daß Syrakus aus eigener Kraft sich nicht gegen die Römer würde behaupten können, verließen sie beide die Stadt, um karthagische Hilfe herbeizuholen. In den Kämpfen des punischen Entsatzheeres ist Hippokrates vor Syrakus gefallen, während Epikydes, der keine neue Unterstützung erlangen konnte, in Akragas blieb, um dort an den weiteren Kämpfen gegen die Römer teilzunehmen und sich schließlich nach Karthago zu retten, wo beide Brüder einst ansässig gewesen waren. Nicht mit ihnen, sondern mit Hieronymos und dem mißglückten Versuch des Adranodoros endete die Ge schichte der griechischen Tyrannis auf Sizilien.
V I E RT E S K A P I T E L
D E R T Y RA N N I M U RT E I L D E R H E LL E N I S T I S C H E N Z E l T
l. D I E A LLG E M E I N E B E U RT E I LUNG
Das Bild, das man sich in den Jahrhunderten nach Alexander vom Tyrannen mach te, wird uns weniger durch die zeitgenössische griechische Literatur vermittelt, die größtenteils verloren ist, als von Schriftstellern der spätrepublikanischen Epoche Roms und der römischen Kaiserzeit. Zwar sind deren Äußerungen bis zu einem gewissen Grade von römischen Verhältnissen und Anschauungen bestimmt, weit mehr jedoch von der in klassischer Zeit ausgebildeten und seither herrschenden hellenischen Tyrannentypologie. Diese vermochte sich seit der Mitte des 3. Jahr hunderts kaum noch an gleichzeitigen griechischen Stadtherren zu bestätigen, weil es solche, die als Beispiel hätten dienen können, kaum noch gab. Es sind daher zu meist Gewalthaber einer fernen Vergangenheit : Phalaris, Peisistratos, Dionysios 1. und sein Sohn, Alexandros von Pherai, Apollodoros von Kassandreia, die als Repräsentanten reiner Tyrannis erscheinen. Da aber der Begriff der Tyrannis seit dem 4. Jahrhundert vorwiegend moralisch gefaßt und weniger zur Kennzeichnung der politischen Situation als zur Charakterisierung der Herrschaftsausübung ver wendet wurde, so daß ohne weiteres auch legitime Könige und Territorialfürsten zu Tyrannen gestempelt werden konnten, war man bei der Suche nach Tyrannen nicht auf ehemalige griechische Stadtherren beschränkt. Es ließen sich vielmehr ein stige oder zeitgenössische Monarchen jeglicher staatsrechtlicher Stellung, die ge waltsam verfuhren oder auch nur zu verfahren schienen, als Beispiele anführen. Der politische Tyrannenbegriff dagegen erhielt sich noch in den hellenischen Freistaaten, doch auch dort nur bis zu einem gewissen Grade, soweit nämlich Ge fahr bestand, daß ein sehr reicher, womöglich gar von einer auswärtigen Macht geförderter Bürger oder ein fremder Condottiere sich zum Tyrannen machte. Solche Fälle sind uns in der hellenistischen Welt mehrfach begegnet. Die Gefahr einer politischen Tyrannis im griechischen Sinne schien aber vor allem im spätrepubli kanischen Rom gegeben. Hier wurde das längst als Lehnwort geläufige «tyrannus» zur Brandmarkung eines Mannes gebraucht, der sich wirklich oder doch nach Ansicht seiner Gegner über Vätersitte und bestehende Staatsordnung hinwegsetzte, um eine mehr oder
Der griechische Tyrannenbegriff in Rom
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minder monarchische Machtstellung zu gewinnen und zu behaupten. So nannten die Gracchen und ihre Widersacher sich gegenseitig «Tyrannen», so belegte Cicero den Pompeius, den Vatinius, der ihm freilich den Vorwurf zurückgab, den Clodius mit diesem Ausdruck und stellte das Schalten des Antonius in den Jahren 44 und 43 als das Gebaren eines Tyrannen hin. Um den alten politischen Tyrannenbegriff handelt es sich auch, wenn Cicero, Brutus und andere in Caesar trotz seiner aner kannten Bedeutung und seiner dementia den Tyrannen sahen, dessen Beseitigung ihnen - wie einst den Verfechtern der freien griechischen Polis - als glorreiche Tat erschien. Denn weniger die Art als die Tatsache seiner nur wenig verbrämten Alleinherrschaft war es, was den Dictator auf Lebenszeit für sie unerträglich mach te. Anders bei dem «Tyrannen» Sulla, der sich diese Bezeichnung mehr durch die Willkür und Grausamkeit seines Verfahrens als durch die monarchische Stellung zuzog, die er drei Jahre lang als Dictator innehatte. Das moralische Kriterium war auch alleinbestimmend für Cicero, als er den skrupellosen Mißbrauch der Statt halterbefugnisse durch Verres mit allen Farben des griechischen Tyrannenbildes malte. Mit der Konsolidierung des Prinzipates, der mindestens in der ersten Zeit trotz aller republikanischen Bemäntelung im Nebeneinander von Princeps und Res publica, Machthaber und Gemeinwesen, an die hellenische Tyrannis erinnern mußte, verlor der politische Tyrannenbegriff, der seit Einbeziehung des griechi schen Ostens in das Imperium Romanum dort kaum mehr im Schwange gewesen war, auch in Rom seine Bedeutung. Dagegen lebte der auf die Art des Herrschers und seines Wirkens bezogene moralische Tyrannenbegriff der spätklassischen und hellenistischen Zeit im römischen Bereich nicht nur fort, er wurde angesichts der despotischen Persönlichkeit und des autokratischen Regimentes einzelner Kaiser immer wieder aktuell. Zudem spielte er nach wie vor in den Erörterungen über das Wesen des wahren Königtums eine bedeutende Rolle. Diese Erörterungen, die seit Antisthenes, Xenophon und Isokrates jahrhundertelang unermüdlich ange stellt wurden, lassen die allgemeine Einstellung zum Tyrannen im Hellenismus, dank der Konfrontation von idealem König und typischem Tyrannen, besonders gut erkennen. Schier unübersehbar ist die Menge der - freilich zum größten Teil verloren gegangenen - Schriften über das Königtum, die sich teils an die Gebildeten wand ten, teils als Sendschreiben oder Reden an einzelne Fürsten konzipiert wurden. Hatte zuerst die Misere der Polis im 4. Jahrhundert die Vorzüge der Monarchie erkennen und ein Wunschbild des Monarchen entwerfen lassen, so gewann die Behandlung des Themas zur Zeit der hellenistischen Könige und später der römi schen Kaiser einen anderen Gegenwartsbezug. Ob Mitglieder der Akademie, Me gariker, Kyniker, Peripatetiker, Pythagoreer, Epikureer oder Stoiker, die Verfas ser jener Schriften stimmten in den wesentlichen Forderungen, die sie an die Per-
Der Tyrann im Urteil der hellenistischen Zeit
sönlichkeit des Herrschers und die Art seiner Regierung stellten, untereinander und mit ihren Vorgängern so weitgehend überein, daß die mindestens für unser Anliegen unbedeutenden Divergenzen außer Betracht bleiben können. Auch wo von eklektischen Popularphilosophen, Historikern, Literaten der verschiedensten Gattungen oder in amtlichen Eingaben das Problem des wahren Königtums ange rührt wird, weichen die Auffassungen kaum von den in den Philosophenschulen tradierten Lehrmeinungen ab. Es kann also von einer Communis opinio, ja von einem Königskanon gesprochen werden, der, weil er das Gegenstück zum Tyran nenkanon bildet, im folgenden kurz skizziert sei. Was die Persönlichkeit des Königs betrifft, so soll er bei voller Mannestugend (Arete) Vernunft und Einsicht besitzen, dazu Nüchternheit und Selbstbeherrschung, hohen Sinn und Bildung, Ehrliebe, Wahrhaftigkeit und Frömmigkeit, ferner staats männisches Können, Tapferkeit im Kriege und Bereitschaft, Mühsale zu ertragen. Würdevoll ist sein Auftreten, die Regierungsgeschäfte nimmt er mit Eifer und Weitblick wahr; er pflegt Freundschaften und beweist den Untertanen gegenüber Menschenfreundlichkeit, Wohlwollen, Fürsorge, vor allem aber Gerechtigkeit. Indem er Milde und Gnade walten läßt, nur notgedrungen straft, zeigt er sich als ihr Hirte und Vater. Diese Eigenschaften, nicht Waffen und Besitz, unterscheiden ihn vom Tyrannen. Betätigt er sie und folgen die Beamten seinem Vorbild, so wird er beglückt sein und beglücken, seine Herrschaft festigen sowie Zuneigung, Bereitwilligkeit und Dankbarkeit ernten, ja als Wohltäter, Helfer und Retter ver ehrt werden. Das aber heißt : er regiert mit Zustimmung der Beherrschten und steht auch darin im Gegensatz zum Tyrannen, für den seit alters als Kennzeichen galt, daß er seine Macht gegen den Willen der Bürger ausübt. Weniger eindeutig ist der Gegensatz hinsichtlich des zweiten, ebenfalls alten Merkmales der Tyrannis, daß sie nämlich nicht nach den Gesetzen geführt wird. Denn wie schon für Platon im «Politikos» und auch für Aristoteles ein Monarch, der die höchste politische Einsicht und alle Herrschertugenden besitzt, über den Ge setzen stand oder gar selbst der Nomos war, so gilt den Griechen der späteren Jahrhunderte angesichts der absoluten hellenistischen Monarchien der wahre Kö nig als jeder Rechenschaft überhoben, ja geradezu als Verkörperung des Nomos (Nomos empsychos) . Das moralische Weltgesetz, von dem der den Göttern nach eifernde echte König sich durchdrungen zeigt, ist den geschriebenen, leblosen (apsychoi) Nomoi überlegen. Von Königsgesetzen hatten bereits Xenophon und Isokrates gesprochen. Wenn jetzt in der Praxis der Reichsverwaltungen königliche Erlasse als Gesetze bezeichnet werden, so entspricht das der Vorstellung vom idea len König als Träger des höchsten Nomos. Die Gesetzesgebundenheit des rechten Monarchen aber, von der nach wie vor die Rede ist, bezieht sich weniger auf vor handene Gesetze als auf jenen allgemeinen Nomos in ihm. Es liegt auf der Hand,
Tyrannis im Gegensatz zum wahren Königtum
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daß damit die Unterscheidung von König und Tyrann nur noch die Persönlichkeit des Machthabers und die Art seiner Herrschaft betrifft. In diesem Sinne ist denn auch von griechischen oder griechisch gebildeten Schriftstellern viele Jahrhunderte hindurch der wahre König, der dem allgemeinen Wohle dient, dem egoistischen, gesetzlosen, brutalen Tyrannen gegenübergestellt worden. Noch aus dem spätesten Altertum besitzen wir eine Liste der wertenden Beiwörter, mit denen ein echter König und mit denen ein Tyrann zu belegen sei. Diesem - das ist die allgemeine überzeugung - fehlt die Arete, er handelt in blinder leidenschaft und folgt hemmungslos seinen Begierden. Ausschweifend und anmaßend, entbehrt er der Bildung und des hohen Sinnes; Ehrliebe und Wahrhaf tigkeit sind ihm fremd. Statt Frömmigkeit zu beweisen, frevelt er an den Göttern und ihren Heiligtümern. Feige ist der Tyrann und erträgt keine Mühsale; staats männische Fähigkeiten gehen ihm ab. Das würdige Auftreten eines Königs, als der er gelten möchte, wird von ihm durch Entfaltung geschmacklos übertriebenen Prunkes karikiert. Nicht eifrige und uneigennützige Führung der Geschäfte liegt ihm am Herzen, sondern skrupellose Ausnützung seiner Macht zur Befriedigung seiner Gelüste. Weder von Menschenliebe noch von Freundschaft kann die Rede sein bei ihm, der nur Schmeichler um sich duldet und zu wahrer Zuneigung unfä hig ist. Voll Haß und Verachtung, unmenschlich in jedem Sinne, gleicht er einer wilden Bestie. Von wohlwollen und Fürsorge für seine Untertanen weiß er natür lich nichts, er unterdrückt sie vielmehr und macht sie zu Sklaven seiner Triebe. Und so wenig wie Milde und Gnade ist Gerechtigkeit vom Tyrannen zu erwarten, der ja doch das Recht mit Füßen tritt, sich von Geldgier leiten läßt und geradezu aus Lust tötet. Kein Vater und Hirte, nein, ein Despot, Schlächter, Räuber und Verderber, dem als Symbol nicht der Stier, das Sinnbild des Königs, sondern rei ßende Tiere wie löwe, Eber und Adler gebühren, erzeugt er statt Zuneigung Furcht und Haß und ist unglücklich, weil er nicht beglückt. Deshalb muß er stets Arg wohn hegen und um den Bestand seiner Herrschaft bangen, die er s ogar von den eigenen Trabanten bedroht sieht. So übt der Tyrann sein Regiment gegen den Willen der Untertanen und nicht nach den Gesetzen, weder nach den geschriebenen noch nach dem ungeschriebenen höheren Nomos, den der wahre König verkörpert. Diesem ist, wie es bei späten Autoren heißt, der Nomos seine Lebensart (tropos) , während dem Tyrannen die eigene lebensart als Nomos gilt. Zur Zeit des Kaisers Trajan hat der kynisch beeinflußte Rhetor Dion Chrysosto mos den Gegensatz von Königtum (Basileia) und Tyrannis in einem allegorischen Bild so eindrucksvoll dargestellt, daß dessen Wiedergabe an dieser Stelle berech tigt scheint. Herakles, der den Kynikern als der ideale Weltherrscher galt, er, der allenthalben Tyrannenherrschaften stürzte, wird von Hermes zu einem jähen Berg massiv geführt, das von unten als ein einziger Kegel erscheint, in Wahrheit aber
Der Tyrann im Urteil der hellenis tisdlen Zeit
zwei auseinanderstrebende Gipfel, die Königsspitze und die Tyrannenspitze, hat, von denen die erste dem Zeus geweiht, die zweite nach Typhon benannt ist. Der Weg zu jener ist breit und gefahrlos, zu dieser dagegen eng und gefährlich. Auch ist sie in Nebel gehüllt, während die höhere Königsspitze in den reinen Äther ragt. Hier sitzt in weißem Gewand, ein Szepter von edelstem Metall haltend, eine er habene Frauengestalt auf schimmerndem Thron. Ihr Antlitz strahlt Milde und Ho heit aus, ihre Miene zeigt gleichbleibende Ruhe. Nichts Unstetes ist in ihrem Blick. Ringsum sieht man schöne Früchte und Lebewesen jeglicher Art, dazu zahllose Schätze. Die Augen der Frau jedoch suchen nicht diese Schätze, sondern die Früchte und Lebewesen. Herakles, von ehrfürchtiger Scheu ergriffen, erhält auf seine Frage an Hermes, wer dies denn sei, die Antwort, es sei die Basileia, die beglückende Göttin, eine Tochter des Zeus. Von den sie umgebenden Frauen sei die zu ihrer Rechten, die gebietend und doch sanft blicke, Dike (Recht) ; neben ihr, ähnlich aus sehend, stehe Eunomia (Wohlgesetzlichkeit) . Auf der anderen Seite gewahre er die blühende, zierlich geschmückte, lächelnde Eirene (Frieden) . Der kräftige, ergraute, hochgesinnte Mann aber neben dem Szepter der Basileia sei der Nomos, auch «Ge rader Sinn» (Orthos Logos) genannt, ohne den jene Frauen nichts ausführen oder erdenken dürften. Sodann führt Hermes den Herakles zur Tyrannenspitze, nach der, wie er sagt, so viele streben und um derentwillen sie alles mögliche tun. Morde begehen die Unseligen ; Eltern, Kinder und Brüder trachten einander nach dem Leben, denn sie ersehnen und preisen das größte Übel, Macht ohne Verstand. Der einzig sichtbare Zugang zu dieser Spitze ist nicht nur sehr schmal, sondern auch durch jähe Schluch ten und Klüfte gefährdet. Ja, dieser Teil des Bergmassivs ist ganz von geheimen Höhlen durchzogen, und an den Pfaden sieht man Leichen und Blut. Auf einem äußeren Weg steigen beide hinan und sehen nun die Tyrannis, die sich als Basileia ausgibt und es ihr gleichtun will, auf einem absichtlich überhöhten, mit kostbarem Zierat überladenen, aber sdlwankenden Throne sitzen. Auch sonst ist alles nur auf Schein, Großtun, Üppigkeit, nicht auf Ordnung (Kosmos) angelegt. Statt Lächeln zeigt die Tyrannis ein tückisches Grinsen, statt hoheitsvoll blickt sie wild und fin ster. Um vornehm zu wirken, schaut sie verächtlich über die Eintretenden hinweg, macht sich dadurch bei jedem verhaßt und wird gegen jeden mißtrauisch. Unstet schweift ihr Auge, immer wieder springt sie von ihrem Sitze auf. Ihr Gold birgt sie schamlos im Busen, wirft es aber plötzlich erschrocken von sich und kann doch wiederum Vorübergehenden die geringste Kleinigkeit wegnehmen. Die Tyrannis trägt ein sehr buntes und prächtiges Kleid, das aber an vielen Stellen zerrissen ist. Der Ausdruck ihres Gesichtes wechselt ständig zwischen Furcht, Mißtrauen und Zorn : bald lacht sie hemmungslos, bald vergießt sie Tränen. Auch sie umgeben, wie die Basileia, Frauen, doch sind diese sehr anderer Art, nämlich Omotes (Ro-
König u1ld Tyrann. Dion Chrysostomos. Rom
heit), Hybris (Vermessenheit) , Anomia (Gesetzlosigkeit) , Stasis (Aufruhr) , die sämtlich sie zu verderben und zugrunde zu richten trachten. Im besonderen aber will dies die statt der Philia (Freundschaft) dastehende, sklavisch und niedrig gesinnte Kolakeia (Schmeichelei) . Auf Hermes' Frage, welche der beiden thronen den Frauen ihm besser gefalle, erklärt Herakles, daß er die Basileia bewundere und liebe, in ihr eine wahre, nachahmenswerte und glücklich zu preisende Göttin sehe. Die Tyrannis aber sei ihm so verhaßt, daß er Lust hätte, sie am Felsen zu zer schmettern. Zeus, dem Herrnes diese Antwort meldet, macht Herakles daraufhin zum Herrn über das gesamte Menschengeschlecht, und der Heros beseitigt allent halben bei Hellenen und Barbaren Tyrannenherrschaften. Die dem griechischen Denken entstammende moralische Unterscheidung zwi schen König und Tyrann, von der zuletzt zu handeln war, lag den Römern ur sprünglich fern. Sie machten in älterer Zeit, wie ausdrücklich bezeugt wird und der Sprachgebrauch ihrer Historiker beweist, keinen Unterschied zwischen rex und tyrannus im Sinne von gutem und schlechtem Herrscher und gebrauchten, sogar noch nachdem mit der griechischen Philosophie deren Begriffe und Vorstellungen in Rom Einzug gehalten hatten, beide Bezeichnungen bisweilen promiscue. Das konnte um so leichter geschehen, als den Römern, die kein eigenes Königsideal hatten, das Wort rex, wie Cicero bemerkt, seit den Tagen des Tarquinius Superbus verhaßt war und die hellenistischen Monarchien ihnen nicht ohne Grund Tyrannen herrschaften zu gleichen schienen. In den an griechische Vorbilder anknüpfenden staatstheoretischen Erörterungen römischer Geister setzte sich dann freilich die mo ralische Konfrontierung von König und Tyrann durch. Schon Cicero nahm sie vor und in der Zeit des gefestigten Principates war sie dem Stoiker Seneca ganz geläu fig. Dabei ließ sich nicht übersehen und war natürlich schon von den Griechen be merkt worden, daß die Wirklichkeit dem immer wieder neu gezeichneten Bilde vom idealen König weder zur Zeit entsprach noch kaum jemals entsprochen hatte. Zudem konnte man auf Herrscher einer fernen Vergangenheit verweisen, die aus guten Königen zu schlimmen Tyrannen geworden waren : Kekrops, einstige Für sten von Achaia, Romulus, Tarquinius Superbus. Daß Tyrannis nicht nur aus De magogie, sondern aus Entartung des Königtums hervorgehe, hatte bereits Aristo teles gegenüber Platon betont; in den Lehren vom Kreislauf der Verfassungen, wie sie Polybios und Cicero im Anschluß an griechische Philosophen darboten, erschien sie vornehmlich als das sich mit innerer Notwendigkeit einstellende Spät stadium des in Eigensucht und Schwelgerei, Gesetzlosigkeit und Gewalttätigkeit ver sinkenden Königtums. Andererseits war man sich in Zeiten drohender Vergewalti gung des römischen Freistaates durch einen Einzelnen gerade auch der anderen, von Platon so eindrucksvoII geschilderten Art des Aufkommens eines Tyrannen bewußt. Ganz im Sinne des Philosophen läßt Cicero den jüngeren Scipio den Auf-
Der Tyrann im Urteil der hellenistischen Zeit
stieg des Demagogen-Tyrannen dank der allgemeinen Zügellosigkeit skizzieren, darüber hinaus freilich auch den Gedanken äußern, daß die Entartung jeder der drei Staatsformen, Königtum, Aristokratie und Demokratie, Tyrannen oder ty rannische Faktionen zeitige.
I r . D A S B I L D D E S TYRA N N E N
Schon die Gegenüberstellung von König und Tyrann ließ erkennen, daß mit ge ringen Nuancen das im 5. und 4. Jahrhundert geprägte Bild des Tyrannen bis in die Spätantike gültig geblieben ist. Auch das Milieu der griechischen Polis blieb dabei, ausgesprochen oder unausgesprochen, gewahrt. Aus ihm werden die Bei spiele genommen, und selbst wenn eigentlich Willkür und Härte eines zeitgenös sischen Herrschers gebrandmarkt werden sollen, verleugnet sich nicht der alte Hintergrund. Die schier unübersehbare Fülle einschlägiger Äußerungen in allen Gattungen der griechisch-römischen Literatur sowie ihre weitgehende Überein stimmung und die ermüdende Wiederholung derselben Motive machen eine mög lichst vollzählige Anführung aller Zeugnisse nicht nur unnötig, sondern auch unerwünscht. Um so mehr, als wesentliche Züge schon bei der Gegenüberstellung von König und Tyrann zur Sprache gekommen sind, so daß es genügen mag, im Rahmen eines knappen Aufrisses diejenigen Momente hervorzuheben, die bisher nur wenig in Erscheinung traten. Von dem, was Dichter, Historiker, Philosophen und Rhetoren der hellenistischen Zeit zum Tyrannenbild beigetragen haben, wird ohnedies im nächsten Kapitel gesondert zu handeln sein. Zur politischen Stellung des Tyrannen bietet die moralisch bestimmte Typologie naturgemäß wenig. Für Cicero ist Tyrannis die absolute Herrschaft eines Einzelnen, während Cornelius Nepos sie staatsrechtlich genauer als unbeschränkte Macht über einen vorher freien Staat begreift. Jedenfalls aber ist es allgemeine Meinung, daß der Tyrann die Gesetze niedertritt, die Redefreiheit sowie jede echte politische Gemeinschaft aufhebt und daß das Staatswesen ihm gehört. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, ob ein unter Tyrannis stehender Staat, der krank, ja von einer Pest befallen ist, noch ein Staat (res publica) sei. Cicero läßt den jünge ren Scipio es verneinen, stellt jedoch nach Caesars Übergang über den Rubico Er wägungen an, ob man sich unter einer Tyrannis von den Staatsgeschäften zurück ziehen solle, ob man beim Kampf gegen den Tyrannen die Polis aufs Spiel setzen dürfe und dergleichen mehr. Daß er es in griechischer Sprache tut, ist für das Fort wirken des politischen Tyrannenbegriffes der Griechen ebenso bezeichnend wie das Zitieren von Platon und Euripides oder die Bildung neuer griechischer Wörter (z. B. «Phalarismos») zur Charakterisierung brutaler Gewaltherrschaft.
Das Bild des Tyrannen
Gekennzeichnet ist die Tyrannis nach wie vor durch schrankenlose Gewalt und deren verderblichen Gebrauch. Sie ist allgemein verhaßt und ein großes übel. Ihr Träger fällt der Verdammung anheim, ob seine Art als Ganzes zur Beurteilung steht, regelrechte Register der für ihn typischen Laster und Schandtaten gegeben werden oder es sich um die Herausstellung einzelner Charakterzüge handelt. Man schreibt ihm Frevel jeglicher Art gegen Götter und Menschen zu. Aus Lust zu wü ten gilt ihm, der unter demselben Sternbild wie der Henker steht, als Zeichen sei ner Macht. Abscheu erregt er bei allen und Furcht in einem Grade, daß der Ge danke, im Jenseits gäbe es keine Tyrannen, bei Todesfällen zu trösten vermag. Doch Haß und Angst fallen auf ihn zurück, denn weil er sie hervorruft, muß er selbst ständig sich ängstigen, Argwohn und Mißtrauen hegen, sogar gegen Ver wandte, Trabanten und scheinbare Freunde. So gleicht er den Schweinen des Aisop, die schon beim Antasten den Tod fürchten, weiß er doch, daß er sein Leben verwirkt hat. Auch die alten Motive, daß der Tyrann gerade die Besten tötet, weil er sie nicht ertragen kann, daß er zu wahrer Freundschaft unfähig ist, nur mit Schlechten verkehrt und statt von Freunden von Schmeichlern umgeben ist, be gegnen immer wieder. Aufrechte Männer lehnen jede Verbindung mit einem Ty rannen ab ; für die aber, welche mit ihm zu tun haben, ist der Umgang sehr ge fährlich. Tadeln kann man vor ihm höchstens einen anderen Tyrannen. Und gerade wer seinen Umgang sucht, wird von dem rohen Gewalthaber in den Abgrund ge stürzt. Daß der Tyrann, der Sklave seiner niedrigen Leidcnschaften ist, in Genuß sucht, üppigkeit und eine mit Grausamkeit gepaarte Weichlichkeit verfällt, obwohl gerade er zur Behauptung seiner Macht Selbstbeherrschung üben müßte, daß er in seiner Geldgier die Untertanen schamlos beraubt, daß er Frauen und Knaben ver gewaltigt, gehört jetzt wie früher zur Vorstellung, die man von ihm hegt. Ungebil det, unmenschlich in jeder Hinsicht, ist der Tyrann nichts anderes als eine reißende Bestie. «Kein ekelhafteres, scheußlicheres, Götter und Menschen verhaßteres Lebe wesen ist denkbar als der Tyrann. Wer kann den noch Mensch nennen, der mit keinem Bürger, ja mit keinem Menschen Gemeinschaft hat ?», heißt es in Ciceros «Staat». Und wie unter einer Tyrannis das Gemeinwesen von einer Pest befallen ist, so ist der Tyrann selbst seelisch krank. Krank und unglücklich. Auch dics ist eine alte Feststellung, die namentlich von Philosophen im Hinblick auf seine dauernde Angst und das Fehlen von Liebe, Freundschaft und jeder warmen persön lichen Beziehung nicht oft genug wiederholt werden kann. Die blinde Menge be wundert freilich Macht und Prunk des Gewalthabers, und herrschsüchtige Naturen lieben die Tyrannis als eine göttliche und kampfeswürdige Sache, während der Einsichtige das Leben eines Privatmannes dem falschen Glanz eines verhaßten, ganz unseligen Herrscherturns vorzieht, dem dazu noch ein baldiges gewaltsames Ende droht.
Der Tyrann im Urteil der hellenis tischen Zeit
Die in hellenistischer Zeit geltende Beurteilung der Beseitigung eines Tyrannen weicht so wenig wie die Charakterisierung der Tyrannis und ihres Inhabers von der Wertung des 5. und 4. Jahrhunderts ab. Sowohl inschriftlich erhaltene Gesetze als auch zahllose Stimmen in der griechischen und römischen Literatur zeugen da von, daß nach allgemeiner Meinung der Tyrann den Tod, der Tyrannenmörder Belohnung und Ehren verdiente. Ja, das Wort «tyrannoktonos» (Tyrannenmörder) wurde erst jetzt geprägt. Cicero übernahm es, doch bedienten schon bald sich Rö mer der lateinischen Übersetzung «tyrannicida». Nicht nur bei einem zeitgenössi schen Geschehen, etwa der Ermordung Caesars, brach die Begeisterung für die Tö tung eines Tyrannen aus, sie entzündete sich für die Gebildeten in den hellenischen oder weitgehend hellenisierten Ländern immer wieder an berühmten Beispielen der Geschichte, vor allem an den Gestalten des Harmodios und Aristogeiton. Es wird noch davon zu sprechen sein, wie beliebt in den Schulen der Tyrannenmord als Thema für rhetorische Übungen war. Hier wie in der gesamten den Gegenstand irgendwie berührenden Literatur wurden stillschweigend einstige griechische Ver hältnisse vorausgesetzt, etwa die Beseitigung von Statuen eines Tyrannen, Ver weigerung seiner Beisetzung in der Heimat, Tötung seiner Kinder, Aufhebung seiner Maßnahmen und Rückerstattung von ihm geraubten Gutes. Im übrigen ließ sich in Anlehnung an Platon und Aristoteles oder gar schon an Thales mit Befrie digung feststellen, daß die Tyrannis zum Glück kurzlebig sei und meist ein ge waltsames Ende finde, wobei die Bestrafung der Anklage, die Verurteilung der Überführung vorauseile. Wenn nicht schon den Begründer, so pflege doch seinen Sohn, der oft schlimmer als der Vater sei, das Schicksal zu ereilen. Was nach dem Sturz einer Tyrannis sich einstellt, hängt nach Meinung Ciceros davon ab, ob Pa trioten oder Abenteurer, Aristokraten oder das Volk ihn herbeigeführt haben.
I I I. D E R TY R A N N I N D E R L I T E R AT U R
Das allgemeine Tyrannenbild der hellenistischen Epoche, wie es im vorausgehenden Abschnitt nachzuzeichnen versucht wurde, bedarf der Ergänzung durch Betrachtung dessen, was Dichter, Historiker, Philosophen, Rhetoren auf ihre Weise zu seiner Wirkung beigetragen haben, mögen nicht wenige ihrer Äußerungen auch bereits als kennzeichnend für die allgemeine Vorstellung und Beurteilung herangezogen worden sein. Sowohl das moralisierende Eifern wie die geheime Lust an Schilde rung und Verdammung von Männern, die sich über alle menschlichen und göttli chen Ordnungen hinweggesetzt haben sollten, sind charakteristisch für die Begeg nung der Zeit mit dem Phänomen der griechischen Tyrannis und geeignet, jenem allgemeinen Bild mehr Profil und Farbe zu geben. Es versteht sich von selbst, daß
Das Bild des Tyrannen. Mythische Tyrannen
die Hauptzüge wiederkehren, weshalb gewisse Wiederholungen unvermeidlich sind, doch kommt es nun weniger auf diese bekannten Züge als auf Standpunkt und Anliegen der Autoren sowie auf die Art der Darbietung an. :1. D I C H T U N G
Den Stimmen der Dichter seien die verwandten Äußerungen der stets lebendigen mythischen Phantasie der Griechen vorangestellt. Wenn in hellenistischer Zeit nicht nur Götter wie Zeus, Hades, Eros und Ares, deren Allmacht oder Hemmungs losigkeit ihnen schon in klassischer Zeit die Bezeichnung «Tyrann» eintrug, son dern in der Magie auch ApolIon, Selene und die Allgottheit als Tyrannen bezeich net werden können, so mag man das mit Plutarch dem Aberglauben zuschreiben, eher aber dem Einfluß orientalischer Gottesvorstellungen, wie sie sich etwa in dem kleinasiatischen Sklaven gott Men mit dem Beinamen Tyrannos manifestieren. Tyrann wurde nun auch Poseidon genannt und die Zahl der mythischen Tyrannen scheint einen beträchtlichen Zuwachs erfahren zu haben, werden doch einige, sonst unbekannte sagenhafte Gewalthaber erst jetzt erwähnt. So erzählte eine aitiologi sche Legende, daß Artemis einen Tyrannen von Ambrakia namens Phalaikos von einer Löwin zerreißen ließ, eine andere, daß in Melite ein furchtbarer Tyrann, des sen Namen Tartaros nur Fremde aussprachen, durch Astygites, einen Bruder des von ihm geschändeten Mädchens Apalis, getötet worden wäre, worauf die Me litaier den Mörder geehrt, die Leiche des Wüterichs aber in einen Fluß geworfen hät ten, der noch jetzt Tartaros heiße. Auch ein Tyrann Milon in der Pisatis soll für seine Grausamkeiten ertränkt worden sein, während ein nicht lokalisierter, nur als «ein gewisser Tyrann» bezeichneter Tryzos, der angeblich das Reden und sogar das Mienenspiel verbot, mit seiner Leibwache umgebracht worden wäre, als er dagegen einschritt, daß zunächst einer, sodann sämtliche Bürger öffentlich wein ten. Von Götterhand ließ man wie den Phalaikos einen Tyrannen mit dem aufrei zenden Namen Philanthropos gestraft werden. Ihn, der aus Wut darüber, daß seine Gebete nicht erhört wurden, das Heiligtum von Olympia in Brand steckte, traf samt seinen dreihundert Gefolgsleuten der Blitzstrahl des Zeus. Giganten und andere sagenhafte Gewaltnaturen, denen Herakles den Garaus gemacht haben sollte, waren schon im 4. Jahrhundert als Tyrannen angesehen worden. Jetzt wur de auch Eurystheus als solcher bezeichnet und der kämpfende Heros selbst, wie schon zu bemerken war, vor allem von den Kynikern mit der Glorie des Tyrannen stürzers umgeben. Überflüssig zu sagen, daß alle jene mythischen Gestalten kaum im politischen, vielmehr wesentlich im moralischen Sinne für Tyrannen ausgege ben wurden. Beispielhafte Wüteriche und Unholde waren sie. Auch die legendäre orientalische Königin Semiramis wird nur deshalb Tyrannin genannt, weil sie im
Der Tyrann im Urteil der hellenistis men Zeit
Alter lüstern andere zum Beischlaf mit sich zwang, was nach Kenntnis des Rhetors Dion Chrysostomos unter den männlichen Tyrannen nur ein einziger, nicht mit Namen genannter getan hätte. In der Dichtung war es während des 5. Jahrhunderts die Tragödie gewesen, wel che mythische Könige als Tyrannen leibhaft vor Augen führte, und auch in den Dramen der Folgezeit hatten Tyrannengestalten nicht gefehlt. Der Komödie dage gen war, je mehr sie sich Themen aus der privaten Lebenssphäre zuwandte, um so weniger Anlaß gegeben, von Tyrannen zu sprechen oder einzelne Gewalthaber zu verspotten. In den Fragmenten aus Lustspielen frühhellenistischer Zeit finden sich daher nur einige sentenzenhafte Äußerungen, etwa daß Schmeichelei Tyrannen und Feldherren zugrunde richte, daß Tyrannen wegen des Argwohns, den sie dauernd hegen müssen, unglücklich wären, daß für manche Menschen ein Tyrann, für ei nen Tyrannen aber die Furcht der Herr sei. Dagegen ist für das halbe Jahrtausend nach Alexander mehrfach bezeugt, daß in zeitgenössischen Tragödien der Tyrann, gelegentlich auch der Tyrannenmord, ein beliebtes Thema bildete. Von griechi schen Stücken solcher Art besitzen wir seit einigen Jahren auf Papyrus das Frag ment eines Gyges-Dramas, aus dem sich leider kaum mehr ergibt, als daß der lydische Fürst, für den wohl schon Archilochos die Bezeichnung «Tyrann» ge brauchte, sich anscheinend tyrannisch gab. Mit größerer Sicherheit ist von ei nem Tyrannenbild bei einigen verlorenen Tragödien zu sprechen, wo im Mit telpunkt gleichfalls ein historischer Gewalthaber stand. In den «Pheraiern» des Moschion war es Alexandros von Pherai, in Lykophrons «Kassandreier» Apollo doros von Kassandreia, beide auch sonst als Prototypen grausamen Tyrannenturns oft genannt. Daß Tragiker sich die Gestalt des Phalaris nicht entgehen ließen, wür de man annehmen, auch wenn nicht die unter seinem Namen gehenden Briefe Hin weise darauf enthielten. Römische Dramatiker haben von den Griechen mit dem Tyrannen-Thema die hellenische Tyrannentypologie übernommen. Kein Zweifel, daß Accius in seinem «Brutus» den Tarquinius Superbus mit ihren Farben malte und erst recht den At reus in der gleichnamigen Tragödie, aus der das vielzitierte Wort «Oderint dum metuant» stammt. Vollends aber hat der jüngere Seneca sich in einigen seiner Tragödien nicht genug tun können, Tyrannen und tyrannische Art in ihren Aus wüchsen zu schildern. Ins Entsetzliche gesteigert erscheinen hier die euripideischen Gestalten des Lykos, Eteokles, Atreus und Aigisthos. So läßt der Dichter - um nur einige Beispiele zu geben - den Lycus erklären, es verstehe sich auf Tyrannis nicht, wer alle gleichermaßen mit dem Tode bestrafe. Die Strafe müsse vielmehr ver schieden sein : dem Elenden verbiete, dem Glücklichen befiehl zu sterben ! Dem Eteokles legt er die Worte in den Mund : «Wer Haß fürchtet, will nicht herrschen. Der göttliche Weltengründer hat Königsherrschaft und Haß einander gesellt. Ein
Dichtung
guter Herrscher drückt diesen Haß nieder. Liebe der Untertanen verbietet den Herrschenden vieles ; wer sie sucht, regiert schlaff» . Atreus brüstet sich damit, daß man unter seinem Regiment sich nach dem Tode sehne, und meint, daß, wo dem Fürsten nur Ehrenhaftes erlaubt sei, bloß mit Vorbehalt geherrscht werde. Ja, in tyrannischer Vermessenheit geht er so weit, die Götter zu entlassen, nachdem er seine Rache an Thyestes grausam gestillt hat. Wirkungslos bleibt, was Gesprächs partner gegen solches Gebaren vorbringen : daß Herrschermacht eitel und vergäng lich sei, daß Furchterregen den Erreger selbst in beständige Furcht versetzen müsse, daß besser als Tyrannis zu üben ein Leben im Stillen sei. Das Bild wahren und edlen Fürstentums, das der Chor gelegentlich entwirft, trägt nach dem Willen des Dichters nur dazu bei, die Kraßheit und Abscheulichkeit der Tyrannis erst recht spüren zu lassen. Und wie jene Könige der Vorzeit, so wird in der «Octavia» Nero, dessen Mutterrnord an die angebliche Tat des Dionysios denken ließ, nicht nur häufig Tyrann genannt, sondern auch mit Zügen der Tyrannentypologie charak terisiert : eine Pest ist er, schlimmer als Typhon, ein Feind der Götter und Men schen, den in der Unterwelt die verdienten furchtbaren Strafen erwarten. Auch die mythischen Gestalten der anderen Dramen Senecas sollten offenbar an Nero oder den Kaiser Gaius denken lassen. Doch war es nicht nur die politische Gegenwart, so aktuell in ihr die geistige Auseinandersetzung mit der Tyrannis sein mußte, auch nicht bloß die für den Stoiker selbstverständliche Verurteilung der Gewalt herrschaft, was Seneca dazu aufrief, den hemmungslos gewalttätigen und freveln den, gefürchteten und verhaßten Tyrannen in den schreiendsten Farben zu malen. Man spürt in der rhetorisch-pathetischen übersteigerung ein fast lustvolles Ver hältnis zum Laster und ein Schwelgen in den Künsten der Grausamkeit. Tyran nenbilder von so radikaler Unmenschlichkeit wie die des Dichters Seneca sind in der griechischen Literatur trotz allem leidenschaftlichen Tyrannenhaß, der auch sie beseelt, nicht zu finden. Bieten die Reste griechischer Epik der hellenistischen Zeit keine bemerkenswerte Äußerung über Tyrannen oder Tyrannis, so weist die epische und satirische Poesie der Römer mannigfache Spuren des Fortlebens des überkommenen hellenischen Tyrannenbildes auf, mag das Wort «tyrannus» auch häufig im Sinne von «rex» ohne betont negative Wertung verwendet werden. So schildert etwa Vergil den sagenhaften Herrn der Etruskerstadt Agylla, Mezentius, und seinen Sohn Lausus oder den Pygmalion von Tyros als grausame Tyrannen des geläufigen Typus. Von den hellenistischen Königen erscheint dem Dichter Lucanus im besonderen Ptole maios XIII., der den Pompeius umbringen ließ, in einem ähnlidlen Licht. Aber auch Caesar ist für ihn, anders als für die Zeitgenossen des Dictators, nicht nur im politischen Sinne Tyrann. Ausdrücklich bezeichnet er ihn als «wilden Tyrannen», und der Lobpreis seiner Ermordung soll an Beseitigung Neros denken lassen. Denn
Der Tyrann im Urteil der h ellenistischen Zeit
der Kaiser gilt ihm wie dem Verfasser der «Octavia» und noch später dem Juvenal als ein entsetzlich blutiger Tyrann, in dessen Bild ihm wirklich eigene We senszüge sich mit solchen verbinden, die der griechischen Tyrannenschilderung entnommen sind. Wie sehr diese das Denken und die Vorstellungswelt römischer Dichter bestimmte, wird namentlich auch in allgemeinen Bemerkungen deutlich, die sich in ihren Werken finden. «Den gerechten und charakterfesten Mann er schüttert nicht die Miene des drohenden Tyrannen» heißt es zu Beginn der dritten Römerode des Horaz. « Nichts ist empfindlicher als das Ohr eines Tyrannen, mit dem sogar über das Wetter zu sprechen gefährlich ist» meint Juvenal, der hier wie auch mit der Feststellung, daß Tyrannen nur selten eines natürlichen Todes ster ben, in griechischer Tradition steht. Nicht anders Horaz mit dem zitierten Wort und anderen Äußerungen oder Lucanus mit seinem Rat, in kritischen Lagen dem Tyrannen gegenüber den kleinen Mann zu spielen. Auch Persius ist in dieser Reihe zu nennen, der wilde Tyrannen, denen die Gier den Sinn verkehrt hat, dadurch bestraft sehen möchte, daß sie die Tugend, die sie verloren haben, schauen und an diesem Anblick vergehen müßten. 2 . G E S C H I C H T S S C H R EI B U N G
Trotz dem Verlust der meisten Geschichtswerke aus hellenistischer Zeit ist noch zu ahnen, ein wie großes Interesse die Historiker der Epoche den Tyrannen ent gegenbrachten, obgleich diese im politischen Kräftespiel seit dem Ende des ] . J ahr hunderts kaum noch ein bemerkenswerter Faktor waren. Bekundete sich die von Aristoteles inaugurierte staatswissenschaftliche Beschäftigung mit der Tyrannis bei den frühen Peripatetikern in einer Schrift des Theophrastos über die Erschei nung als solche und in einem Traktat des Phainias von Eresos über die Beseitigung von Tyrannen aus Rache, so hat der letztere doch auch eine historische Monogra phie über die Tyrannen in Sizilien verfaßt. Ein Jahrhundert später, um 200 v. ehr., handelten ebenfalls monographisch Baton von Sinope über die Tyrannis des Hiero nymos von Syrakus und eharon von Karthago in einem Werk, von dem leider kein einziges Fragment erhalten ist, über alle Tyrannen, die es bis auf seine Zeit in Europa und Asien gegeben hatte. In Lokalgeschichten wie denen des zeitlich nicht zu fixierenden Hippias von Erythrai oder des Nymphis (um 1.50100 v. ehr.) und des einige Generationen jüngeren Memnon von Herakleia am Pontos spielten Tyrannen, die über die Heimatstadt der Autoren geboten hatten, eine nicht geringe Rolle. Auf alle genannten Werke und gewiß auf viele andere, verlorengegangene dürfte sich die namentlich in peripatetischen Kreisen, aber auch sonst herrschende Neigung zu moralphilosophischer eharakterisierung und dramatischer Verleben digung ausgewirkt haben. Ist es doch offensichtlich dieser Neigung zuzuschreiben,
Geschichtsschreibung
daß es den Verfassern nur wenig um die Tyrannis als Erscheinung des politischen Lebens, sondern vor allem um die Persönlichkeit der Tyrannen ging, deren Bild mit Anekdoten und Schauergeschichten ausgestattet wurde. Manches derart hat schon früh in uns nicht mehr erhaltene Kuriositätensammlungen wie die des Hege sandros von Delphoi (um 150 v. ehr.) Eingang gefunden. Was wir von solchen Erzählungen kennen, verdanken wir großenteils den erhaltenen Werken späterer Sammler wie Valerius Maximus, Aelianus, Polyaenus, Athenaeus, auf welche hier summarisch verwiesen werden darf. Vieles bot gewiß auch das reiche bio graphische Schrifttum der hellenistischen Zeit, aus dem uns jedoch kein Tyran nenbild erhalten ist, sowie die erotische Literatur, der die angeblichen oder wirk lichen Ausschweifungen und Vergewaltigungen von Tyrannen sowie das Verhalten ihrer Frauen und Hetären pikante Themen bieten konnten. In der Historiographie großen Stiles sind es in erster Linie Timaios, Duris und Phylarchos gewesen, die im 3. Jahrhundert - wie schon zwei Generationen frü her Theopompos - sich in theatralisch aufgeputzten Erzählungen oder auch Schil derungen grausiger Vorgänge gefielen. Für Timaios zeugt neben einigen Fragmen ten, welche Dionysios I. und seinen Sohn sowie den von ihm besonders gehaßten Agathokles betreffen, Diodor davon, dessen Schilderung der sizilischen Tyrannen in einem freilich nicht zu bestimmenden Ausmaß auf das Werk des Taurome niers zurückgeht. Für Duri9 sind mindestens dramatische Verlebendigung und Freude an Anekdoten und Liebesaffären bezeugt. Von Phylarchos wissen wir, daß er das gewaltsame Ende des Tyrannen Aristomachos (II) von Argos effektvoll schilderte; auch das grauenvolle Bild des Aristotimos von Elis stammt höchstwahr scheinlich von ihm. Die Tyrannen als Wüteriche hinzustellen legte in manchen Fällen gewiß die historische Wahrheit, in anderen schlimme persönliche Er fahrung nahe, im allgemeinen jedoch waren dafür die herrschende Tyrannentypo logie und das gekennzeichnete Streben nach theatralischer Wirkung bestimmend. Nur bei Duris, der selbst Tyrann gewesen war, mögen in den farben- und anek dotenhaften Erzählungen die düsteren, furchtbaren Züge nicht dominiert haben. Jedenfalls scheint er die Fähigkeiten und Leistungen des Agathokles hervorgeho ben zu haben. In weit größerem Maße taten dies Antandros und Kallias von Syrakus, die beide eine Geschichte des Tyrannen schrieben, dessen Bruder Antan dros, dessen Kreatur Kallias war. Es ist für die Einheitlichkeit und Allgemeingül tigkeit des negativen Tyrannenbildes in hellenistischer Zeit bezeichnend, daß nur derartige persönliche Bindungen oder politische Motive zu literarischer Glorifizie rung eines Tyrannen führen konnten. Letzteres widerfuhr Hieron H. von seiten römischer Geschichtsschreiber, aller sonst von ihnen so gern bekundeten Tyran nenfeindschaft zum Trotz. In anderen Fällen wiederum war es die politische Geg nerschaft, welche den Historiker bei Schilderung und moralischer Verurteilung
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eines Tyrannen erheblich beeinflußte. So etwa bei dem Freiheitskämpfer Aratos, der in seinen «Denkwürdigkeiten» den Untergang des ihm verhaßten Tyrannen Nikokles von Sikyon dramatisch und mit Lust darstellte, oder bei den römischen Annalisten, welche im Anschluß an die im Krieg von Rom ausgegebene Anti tyrannen-Parole das Bild des Spartanerkönigs Nabis und das des Hieronymos von Syrakus mit den Farben der griechischen, von ihnen übernommenen Tyran nenpalette malten. Auch für die Einstellung des Polybios zur Tyrannis sind politische Faktoren seiner Zeit von beträchtlicher Bedeutung gewesen. Der freistaatliche Geist des Achaiischen Bundes, dem sein Vater als Stratege vorgestanden, er selbst in hohen Stellungen gedient hatte, wirkte sich in ungünstiger Beurteilung nicht nur einzel ner Könige, sondern sogar des Königtums und jeder Art von Monarchie aus. Sie schien ihm ihrer Natur nach Ansätze zur Tyrannis zu enthalten, wie er denn in den erzählenden Partien seines Geschichtswerkes umgekehrt das Wort «monar chos» zur Bezeichnung von Tyrannen verwendet. Diese werden von ihm natürlich weit schärfer verurteilt als Könige. «Schon das Wort schließt den ruchlosesten Inhalt ein und umfaßt alle menschlichen Schändlichkeiten und Ge setzlosigkeiten.» Denn der Tyrann erweckt Furcht und herrscht durch böses Tun als Despot über Widerwillige, von seinen Untertanen gehaßt und seinerseits sie hassend. Von theatralischer Ausmalung und Übertreibung der Frevel und Schick sale der Gewalthaber will der um sachliche Würdigung bemühte Historiker, der sich nachdrücklich gegen eine rhetorisch dramatisierende Geschichtsschreibung wendet, freilich nichts wissen. So zollt er den Leistungen des Agathokles, ohne seine Gewalttaten zu beschönigen, Anerkennung oder bemerkt, daß der junge Hieronymos in seiner kurzen Regierungszeit nicht so viele Verbrechen habe ver üben können, wie ihm von Geschichtsschreibern angedichtet worden seien. Sach lich ist auch die nüchterne Feststellung, daß die Tyrannis, die sich in Kriegen nicht auf das widerwillige Bürgeraufgebot verlassen könne, der Söldner bedürfe, zumal wenn sie Großes erstrebe. Weniger objektiv dagegen wirkt das Bild, das Polybios von Hieron Ir. zeichnet. Wie bei den römischen Annalisten ist es durch das Fest halten des Königs an Rom bestimmt und darum ungewöhnlich positiv, ja mit Zügen des idealen Königs ausgestattet. Denn trotz seinen Vorbehalten gegenüber Königsherrschaften ist dem Historiker jenes in seiner Zeit immer wieder gepriesene Ideal nicht fremd. Sowohl in der auch von ihm vorgenommenen Konfrontierung von wahrem König und typischem Tyrannen wie in seiner Konzeption vom Kreis lauf der Verfassungen tritt dies deutlich zutage. Hier erscheint in Anknüpfung an philosophische Lehren, vor allem wohl der Stoa, die Tyrannis als Entartung eines durchaus positiv gesehenen Königtums. Daß sie auch aus einer verwilderten, in Anarchie versinkenden Demokratie entstehen könne, wird am Ende der Dar-
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legung des Kreislaufes mehr angedeutet, als daß es klar ausgesprochen wäre. Die Historiker der folgenden Jahrhunderte, ob sie griechisch oder lateinisch schreiben, stehen ganz im Banne des kanonisch gewordenen hellenischen Tyrannen bildes. Eine Ausnahme ist es, wenn Cornelius Nepos, wohl durch Philistos beein flußt, dem großen Dionysios Anerkennung zollt ; denn im allgemeinen werden die Hauptzüge jenes Bildes von den Geschichtsschreibern ohne größere Abweichungen auf historische Persönlichkeiten übertragen, die Tyrannen waren oder als solche erscheinen sollten. Dabei ist es ohne Belang, ob die Autoren die üblichen Farben ihren Vorgängern entlehnen oder sie selbständig setzen. Sogar des Poseidonios amüsante und lebensvolle Schilderung der Tagesgrößen Athenion und Aristion bietet nichts grundsätzlich Neues. Neu dagegen ist nunmehr etwas anderes. Je ferner nämlich die Zeit rückte, in der hellenische Stadtherren noch etwas bedeute ten und Interesse erregten, je mehr zugleich die römische Geschichte auch für die Griechen zum Hauptthema der Historiographie wurde, um so häufiger übertrug man das griechische Tyrannenbild auf Gestalten der römischen Geschichte. Für die Entartung des Königtums zur Tyrannis müssen jetzt Romulus und vor allem L. Tarquinius Superbus als Beispiel dienen, sofern der letztere nicht von vornherein als ein Tyrann griechischer Prägung erscheint. Denn nach Livius und Dionysios von Halikarnassos hat er unrechtmäßig, durch Verwandtenmord die Herrschaft gewonnen, die er dann, auf eine Leibwache gestützt, mit einem Rat von «Freunden» gesetzlos und mit aller Härte übt. Anmaßend und grob ist oder wird jedenfalls mit der Zeit sein Gebaren, die Bürgerschaft durchsetzt er mit Spitzeln, verfügt willkürlich Tötungen und Verbannungen, legt Zwangsarbeiten auf, weil Müßiggang ihm gefährlich scheint, und bemüht sich zur Sicherung sei nes Regimentes um den Beistand auswärtiger Staaten. Sind alles dies, wie auch die Schändung von Frauen durch den Sohn Sextus, Züge, die sich schon in der Tyrannencharakteristik des Aristoteles oder in der Tradition über einzelne grie chische Tyrannen fanden, so macht auch der Beiname «Superbus», der an Tyran nenhybris denken läßt, und namentlich die Übertragung der Geschichte vom Abhauen der Ähren durch Thrasybulos von Milet vor Periandros auf Tarquinius deutlich, wie sehr nicht nur für die griechischen Autoren Dionysios von Halikar nassos und Cassius Dio, sondern nicht minder für den Römer Livius, der eben falls jene Anekdote erzählt, das hellenische Tyrannenbild maßgebend war. Auch der Schwur, den L. Brutus das Volk gegen Erneuerung des Königtums leisten läßt, erinnert an griechische Vorkehrungen gegen Wiederkehr der Tyrannis, mag gleich der lateinische Historiker von rex oder regnum sprechen und das Wort tyrannus nur zur Kennzeichnung auswärtiger Gewalthaber verwenden. Denselben Sprachgebrauch finden wir, wenn Livius und andere römische Schriftsteller das Scheitern von Versuchen schildern, eine monarchische Macht im
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früh republikanischen Rom zu begründen. Das «regnurn», das Sp. Cassius, L. Maelius, M. Manlius Capitolinus errichten wollen, ist politisch nichts anderes als eine Tyrannis, mit demagogischen Mitteln vorbereitet, jedoch von den Behörden im Keim erstickt und an den Usurpatoren durch spontanes Vorgehen oder gericht liche Verurteilung gesühnt. Griechische Autoren sprechen nicht nur hier von Tyrannen, ihnen erscheint auch die altrömische Dictatur und erst recht, ihrer Gewalttaten wegen, die Dictatur Sullas als Tyrannis. Daß auch Caesar in der griechischen Historiographie, zumal wenn der Ansicht seiner Gegner Raum gege ben wurde, zum Tyrannen, die Tat an den Iden des März zum preiswürdigen Tyrannenmord gestempelt werden konnte, ist angesichts der bereits erwähnten Verwendung des Wortes «tyrannus» im innerrömischen Kampf nur natürlich. Hatte doch schon Cicero, der mit dem Sieger im Bürgerkriege, wer er auch sei, die Tyrannis heraufkommen sah, Caesar so sehr als Tyrannen im griechischen Sinne gesehen, daß er ihn den Ausspruch des Eteokles aus Euripides' «Phoinissen» im Munde führen ließ: «Wenn schon das Recht verletzt werden muß, dann um der Tyrannis willen, im übrigen mag man sich fromm verhalten». Nachdem der Principat, dessen Begründer in seinen jungen Jahren sich wenig von brutalen Tyrannen unterschied, zur anerkannten Staatsform geworden war, verbot sich auch für die Historiker die Verwendung der Wörter rex und tyrannus zur Kennzeichnung der politischen Stellung des Kaisers. Was freilich die Persön lichkeit und die Art des Regimentes betraf, so wurden, wie schon zu bemerken war, Kaiser, welche die ihnen gesetzten Grenzen überschritten und eine krasse Willkürherrschaft übten, allgemein als Tyrannen bezeichnet. Auch zeitgenössi schen und späteren Historikern bot sich sowohl der Ausdruck wie das ganze Arse nal der griechischen Tyrannentypologie zur Charakterisierung eines derartigen Herrschers an. In den uns erhaltenen Werken römischer Historiker des 1. und 2. Jahrhunderts findet sich das Wort tyrannus freilich nur einmal bei Sueton mit Bezug auf Tiberius, während Tacitus, obwohl seine offensichtlich vom hellenischen Tyrannenbilde beeinflußte Zeichnung des Tiberius, Nero und namentlich des Domitian die Verwendung geradezu herausforderte, den Ausdruck bewußt ver meidet und ihn bloß im Rahmen eines Zitates aus Platon gebraucht. Daß andere lateinische Historiker, deren Werke verloren sind, ihn sich nicht entgehen ließen, wird man annehmen dürfen. Für griechische Autoren verstand er sich von selbst, wie Josephus, Herodian und Cassius Dio zeigen, welch letzterer sogar von Neros Erzieher Seneca als Tyrannenlehrer (tyrannodidaskalos) spricht. Aber auch späte ren, lateinisch schreibenden Historiographen, etwa Eutropius, den Scriptores Hi storiae Augustae, Aurelius Victor oder dem Verfasser der Epitome de Caesaribus, ist mit dem griechischen Wort der griechische Begriff ganz geläufig, und zwar im moralischen wie - bis zu einem gewissen Grade - auch im politischen Sinne.
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Denn neben der Verwendung des Ausdrucks zur Kennzeichnung eines despoti schen, grausamen Herrschers wird tyrannus anscheinend schon im 3. Jahrhundert, sicher aber seit Konstantin, im Sinne von Usurpator gebraucht. Gegenkaiser konn ten auf diese Weise sowohl hinsichtlich ihrer Legitimität wie ihrer Herrschafts führung diskreditiert werden. Aber nicht nur im Gebrauch des Wortes lebte der griechische Tyrannenbegriff in der antiken Geschichtsschreibung der Kaiserzeit fort. Die schon von Polybios betonte Problematik jeder Monarchie hat bedeutende Historiker auch weiterhin zur Erörterung der mit der Alleinherrschaft aufgeworfenen Fragen angeregt und dabei immer wieder nicht nur auf das griechische Königsideal, sondern auch auf das griechische Tyrannenbild verwiesen. So legte in der Zeit der Severer Cassius Dio, der gelegentlich des Sophokles Wort von der Knechtschaft, die der Umgang mit Tyrannen zur Folge habe, zitiert, in seinem großen Geschichtswerk dem Agrippa eine Rede in den Mund, die im Hinblick auf Octavians Stellung nach Gewinnung der absoluten Macht allgemeine Betrachtungen enthält. Da wird dem Freistaat zugleich mit der Monarchie die Tyrannis, die so leicht aus jener entstehe, gegenübergestellt, und in ihrer Willkür, ihrem verderblichen Druck, ihrer Verhaßt heit mit den Elementen des griechischen Tyrannenschemas geschildert, während in der Gegenrede des Maecenas die seit einem halben Jahrtausend immer wieder vorgenommene Konfrontierung von idealem Königtum und verwerflicher Tyran nis anklingt. .3 . P H I L O S O P H I E
Wie in der Vorstellung vom idealen König stimmen die Vertreter der verschiede nen Philosophenschulen oder auch Eklektiker wie Plutarch hinsichtlich seines Ge genbildes, des Tyrannen, mit der üblichen Anschauung so weitgehend über ein, daß im allgemeinen auf die ersten beiden Teile dieses Kapitels verwiesen werden kann und die folgenden Ausführungen sich auf gewisse Besonderheiten der einzelnen Richtungen sowie auf die grundsätzliche Gegenüberstellung von Philosoph und Tyrann beschränken dürfen. Was die Akademie betrifft, so ist im Rahmen unseres Themas kaum mehr zu sagen, als daß die Tyrannenfeindschaft ihres Gründers auch den Nachfahren eigen war. Bezeichnenderweise sind es zwei Schüler des Arkesilaos, Ekdelos und De mophanes, gewesen, die den Tyrannen Aristodernos von Megalopolis töteten und am Sturz des Nikokles von Sikyon beteiligt waren. Freilich hat es - wie schon in der Mitte des 4. Jahrhunderts - auch einzelne der Akademie nahestehende Män ner gegeben, die selbst nach der Tyrannis strebten. Demgegenüber blieb das Ver hältnis der Peripatetiker zur Tyrannis mehr theoretischer Art. Es fand, worauf
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bereits hinzuweisen war, seinen Ausdruck in historischen Monographien und mo ralphilosophischen Traktaten, in denen nicht zuletzt die Genußsucht (Tryphe) der Tyrannen gebrandmarkt wurde. Soweit ein staatswissenschaftlicher Aspekt zur Geltung kam, wird es derjenige des Aristoteles gewesen sein, wie denn sein Schüler Theophrastos - vielleicht in seiner Schrift über Tyrannis - gleich dem Lehrer die altgriechische Aisymnetie als «gewählte Tyrannis» bezeichnete. über haupt blieb, nachdem Platon und Aristoteles alles Wesentliche über die Tyrannis gesagt zu haben schienen, den Epigonen kaum noch Neues oder Bedeutendes zu sagen übrig. Bestimmter und sinnfälliger als bei Akademikern und Peripatetikern tritt die geistige Auseinandersetzung mit der Tyrannis bei den Kynikern in Erscheinung. Seit den Tagen des Antisthenes und sodann des Diogenes haben sie Jahrhunderte hindurch in besonderem Maße zur Verankerung und Ausgestaltung des allgemei nen Tyrannenbildes beigetragen. Ihre Wortführer, im besonderen Dion Chry sostomos, waren denn auch bereits für die herrschenden Vorstellungen vom idea len Königtum und von der Tyrannis anzuführen. Maßgebend für die Einstellung des Kynikers zum Tyrannen ist der Stolz des einsichtigen, bedürfnislosen, innerlich freien Mannes. In Legenden, die sich um die Gestalt des Diogenes von Sinope rankten, ihm zugeschriebenen Aussprüchen und Briefen, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden, bekundet sich diese selbstbewußte überlegenheit des kynischen Weisen gegenüber Königen, Tyrannen oder sonstigen Machthabern nicht ohne Ironie. Diese Männer sind sämtlich von einem Machtrausch erfaßt, aufgeblasen und der Genußsucht verfallen, mithin im Vergleich zum wahren König, der nur ein seine Begierden beherrschender Weiser kynischer Prägung sein kann, Tyrannen. Keiner mehr als der große Alexander, dessen angebliche Begeg nung mit Diogenes immer wieder leicht variiert erzählt wurde. Die Tyrannis aber, die nach einem Wort des Krates von Theben, eines Schülers des Diogenes, aus Schwelgerei und Prunksucht hervorgeht, ist das größte übel, mag sie auch für ein Gut angesehen werden. Epiktet, der nächst seinem Zeitgenossen Dion Chrysosto mos am eindrucksvollsten das kynische Tyrannenbild vermittelt, betont dies aus drücklich. Seine Äußerungen mögen die Herrschaft des Domitian im Auge haben, sind aber im wesentlichen an dem landläufigen griechischen Tyrannenbild orien tiert. Ungebildet, pocht der Tyrann in eitlem Selbstbewußtsein auf seine Macht über Leben und Tod. Doch da er bloß den Körper treffen, nicht die Seele vergewal tigen kann, wird nur ein Mensch, der falsche Ansichten über die wahren Güter hat, sich schrecken lassen und den Gewalthaber oder seine Diener umkriechen. Der Weise dagegen, dem der Körper wenig gilt, ja geradezu ein Tyrann seiner Seele ist, wird sich keinem Wüterich beugen und lieber den kurzen Tod durch ihn erlei den als etwa an langer Krankheit zugrunde gehen. Daß die Tyrannis das größte
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übel und der Tyrann im Gegensatz zur verbreiteten Meinung alles andere als be neidenswert, daß er vielmehr unglücklich ist, versteht sich für die Kyniker von selbst. Nicht lange nach Epiktet verglich Favorinus, der ihnen nahestand, den Tyrannen mit einem gehetzten Tier : der Strafe könne er nicht entgehen. Und in einem fingierten Gespräch mit Dionysios 1. nennt er als eine menschliche Freude für den in Genußsucht versunkenen Tyrannen : Hunger, um zu essen, Durst, um zu trinken, als Bestes aber die Niederlegung der Tyrannis. Das Tyrannenbild der Pythagoreer, soweit wir es zu erahnen vermögen, weist keine besonderen Züge auf. Denn daß der Tyrann das Gesetz verletzt und die Beherrschten zu Sklaven macht, daß unter ihm das Gemeinwesen unglücklich ist, war allgemeine Meinung, desgleichen die Charakteristik des Tyrannen, wie sie sich gleichsam als Negativ zu dem positiven Bilde des wahren Königs, auf das allein sich der Blick der Pythagoreer richtete, ergab. Auch von einem spezifischen Tyrannenbilde der Epikureer ist nicht zu sprechen. Natürlich lehnten sie die Tyrannis ab, doch blieb dies schon deshalb ohne nennenswerte Wirkung, weil sie sich nach Möglichkeit vom politischen Leben fernhielten, so daß Plutarch nicht ohne Vorwurf bemerken konnte, es seien aus Epikurs Schule keine Tyrannenmör der hervorgegangen. Und was etwa von Philodemos im 1. Jahrhundert v. Chr. über tyrannisches Leben, Königtum und Tyrannis oder zum Ruhme des Tyran nenmordes gesagt wird, läßt kein aus der Lehre des Meisters entwickeltes eigenes Urteil erkennen, wie andererseits die Tatsache, daß gelegentlich Epikureer tyran nisähnliche Stellungen einnahmen, nichts über eine positivere Haltung der Schule zur Tyrannis aussagt. Grundsätzlich, unbedingt und leidenschaftlich war dagegen der Widerstand gegen die Tyrannis bei den Anhängern der Stoa, was sich namentlich im Rom der ausgehenden Republik und der Kaiserzeit erwies. Ihr Tyrannenbild unter schied sich von den allgemeinen Vorstellungen fast nur durch seine größere Prä gnanz und entsprach demjenigen der Kyniker auch in der Forderung, daß wahr hafter König nur der Weise sein könne. Noch stärker aber als von jenen wurde von ihnen am Tyrannen das Fehlen der Selbstbeherrschung und der Widerspruch zur natürlichen Ordnung getadelt. Seneca, unser Hauptzeuge für die Einstellung der Stoiker zur Tyrannis, hebt diese beiden Momente eindrucksvoll hervor. Während er in seinen philosophischen Schriften den Tyrannen allgemein als Sklaven seiner Leidenschaften, Räuber und reißendes Tier charakterisiert, zeigt er in seinen Tra gödien an einzelnen Gestalten die radikale Unnatur der Tyrannenpersönlichkeit auf. Der «verächtliche Tyrann», von dem schon der Stoiker Chrysippos gespro chen hatte, dieser gefürchtete und fürchtende, hassende und schließlich sich selbst verhaßte Unhold, der sich nicht ändern kann und daher immer neue Schandtaten begeht, steht in krassem Gegensatz wie zur naturgemäßen so auch zur rechten
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staatlichen Ordnung, die den Stoikern weit mehr als den Kynikern am Herzen liegt. Er ist die Pest der Freiheit, Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit. Mit ihm gibt es keine Gemeinschaft, und wenn Seneca den Tyrannenmord auch nicht preist, sondern nur dazu mahnt, einen Bedrohten dem Zorn des Tyrannen zu entziehen, so galt doch im allgemeinen den Anhängern der Stoa, wie nicht nur M. Brutus an den Iden des März bewies, die Beseitigung eines Tyrannen als rühmenswerte Tat. Tyrann aber ist für den Stoiker im Einklang mit der allgemeinen Auffassung jeder arge, willkürliche, despotische Herrscher, der weder von eigener Gnade noch von der Liebe seiner Untertanen etwas wissen will. Auch ein König kann Tyrann sein. Denn der Unterschied liegt nicht in Stellung oder Titel, sondern im Verhal ten, so daß selbst Dionysios 1. manchen Königen vorzuziehen ist. Die einmütige Ablehnung und Verdammung der Tyrannis durch alle Philoso phenschulen und der ihr zugrunde liegende unversöhnliche Gegensatz von geistig sittlicher Bindung zu hemmungsloser Macht- und Genußsucht hat seit dem 4. J ahr hundert den Philosophen als unerschrockenen Zeugen der Wahrheit und des Rechtes zum Gegenspieler des Tyrannen werden lassen. Von einem Fürsten, der sich be mühte, ein echter König zu sein, konnte der Stoiker Chrysippos fordern, daß er mit Philosophen verkehre, auf den Tyrannen jedoch, wie man ihn in hellenistischer Zeit sah, war eine geistige Einwirkung kaum denkbar, mochten auch manche der zahl reichen Schriften «über das Königtum» sich an tyrannische Monarchen wenden und Seneca sich um die Erziehung Neros zur dementia bemühen. Von Besserung oder Bekehrung eines Tyrannen durch einen Philosophen berichten nicht einmal Legenden ; höchstens in der imaginären Sphäre rhetorischer Deklamationen konnte dergleichen vorkommen. Was von angeblichen Bemühungen solcher Art in den Jahrhunderten nach Alexander erzählt wurde, betraf etwa den - natürlich erfolglosen - Rat zur Niederlegung der Tyrannis, den Pythagoras oder ein Zenon dem Phalaris gegeben haben sollte. Im Falle jenes Zenon wäre der Ratgeber sogar gemartert worden. Hier kommt die herrschende Vorstellung vom Verhältnis des wahren Philosophen zum Tyrannen zur Geltung, daß er nämlich allen Drohungen des Gewalthabers zum Trotz bei seiner überzeugung und seiner Gegnerschaft beharrt und heroisch den Martertod erleidet. Wir sind dafür nicht auf allgemeine Andeutungen angewiesen, wie sie Cicero und Horaz gelegentlich geben, sondern besitzen eine Reihe eindrucksvoller, wenn auch meist legendärer Geschichten, die diesem Thema gewidmet sind, etwa die Er zählungen vom Verhalten des durch König Lysimachos zum Kreuzestod verurteil ten Kyrenaikers Theodoros oder von der Standhaftigkeit des Eleazar und seiner sie ben Brüder gegenüber Antiochos IV. Die stärkste Wirkung jedoch haben bis in die Spätantike die Schilderungen vom Märtyrertum des Zenon von Elea und des Demokriteers Anaxarchos von Abdera ausgeübt. Zenon, so heißt es, habe den
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Tyrannen seiner Heimatstadt stürzen wollen, sei aber ergriffen worden und habe nun als Mitwisser des Komplotts Freunde des Tyrannen genannt. Diesen selbst hätte er, indem er vorgab, ihm Wichtiges mitteilen zu wollen, ins Ohr gebissen, bis er niedergestochen wurde. Verbreiteter jedoch war die Version, daß Zenon, von dem Tyrannen nach Mitschuldigen gefragt, ihm geantwortet habe: «Ja, Du selbst, der Fluch des Staates !» Nachdem er sodann seiner Verwunderung über die Feigheit der Umstehenden Ausdruck gegeben hätte, die weiter dem Tyrannen dienten, habe er sich die Zunge abgebissen und sie dem Gewalthaber ins Gesicht gespien, worauf dieser von den erregten Bürgern alsbald gesteinigt worden sei. Für Anaxarchos ist Gegenspieler der in Tyrannenfarben gemalte kyprische Stadtkönig Nikokreon von Salamis, den der Philosoph im Hoflager Alexanders des Großen beleidigt hatte. Dafür ließ ihn, als er später nach Kypros verschlagen wurde, der Fürst, wie man erzählte, in einem Mörser zerstampfen. «Zerstampfe nur, zerstampfe die Körperhülle des Anaxarchos, den Anaxarchos zerstampfst Du nicht ! » soll der Gepeinigte dem Nikokreon zugerufen und, ehe ihm die Zunge ausgeschnitten werden konnte, sie selbst abgebissen und dem König ins Gesicht gespien haben. Dieses Motiv, das ebenso im Falle des Zenon begegnet, findet sich in der Erzählung von der Hetäre Leaina in die Peisistratidenzeit projiziert, es scheint auch sonst in Geschichten von gescheiterten Anschlägen auf Tyrannen be liebt gewesen zu sein. Bei Anaxarchos jedoch handelt es sich gar nicht um Aufbe gehren gegen Tyrannis, sondern um das Erleiden einer selbstverschuldeten, freilich ungewöhnlich grausamen Rache. Trotzdem und obwohl die Trennung von Körper und Persönlichkeit eher einem Kyniker als einem Demokriteer angestanden hätte, konnte das Schicksal des Mannes als das eines Philosophen erscheinen, der einem rabiaten Tyrannen heroisch begegnet war. Zenon sollte immerhin die Beseiti gung einer Tyrannis versucht haben, doch hatten sich darum mancherorts auch Nichtphilosophen bemüht. Aber die Tyrannenfeindschaft der gebildeten Schichten in hellenistischer Zeit verlangte offenbar nach berühmten Philosophen als Märty rern, unbekümmert darum, ob diese wirklich um ihrer philosophischen überzeu gung willen, von der in keinem der beiden beispielhaften Fälle die Rede ist, ihr Leben durch einen Tyrannen eingebüßt hatten oder auch nur eingebüßt haben sollten. Selbst die echten stoischen Märtyrer aus Neros Zeit und sogar die christ lichen Blutzeugen vermochten jene legendären Vorbilder von stolzer Selbstbe hauptung vor Tyrannengewalt nicht zu verdrängen. Der unbedingte Gegensatz von Philosoph und Tyrann, wie man ihn mit Recht schon in der Spannung zwischen Platon und dem älteren, vor allem aber dem jüngeren Dionysios gegeben sah, brachte es mit sich, daß dem Tyrannen, dem Unterdrücker der freien Meinungsäußerung, Furcht gerade vor den geistig nicht zu knechtenden Philosophen beigelegt wurde. In der Kaiserzeit schien Domi-
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tians Verbannung der Philosophen aus Rom, von der die Tyrannenhasser Dion Chrysostomos und Epiktet betroffen wurden, dafür symptomatisch, doch schrieb man mit mehr oder minder Recht auch einstigen griechischen Tyrannen den Wunsch nach Beseitigung dieser unbequemen Männer zu. Ja, die Philosophen feindschaft gehörte zum allgemeinen Tyrannenbild. Eben deshalb konnten Gegner der Philosophenschulen mit unverhohlener Genugtuung darauf hinweisen, daß aus diesen Kreisen Tyrannen hervorgegangen seien. Bereits in der zweiten Hälfte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts verfaßte Hermippos eine Schrift über dieses Thema, das freilich in seiner Zeit kaum noch aktuell war, so daß er seine Beispiele im wesentlichen aus dem 4. Jahrhundert nehmen mußte. In der mit Alexander anhebenden Epoche gelangte der von Hermippos genannte Timolaos von Kyzikos gar nicht an die Macht, und von dem späten Akademiker Diodoros von Adramyttion oder von Duris, der Schüler des Theophrastos gewesen war, bleibt es fraglich, ob sie sich jemals ernsthaft zu bestimmten staatsethischen Lehren be kannt hatten. Epikureer wie Idomeneus von Lampsakos, Lysias von Tarsos, Ari stion von Athen dürften sich ohnehin nicht gehemmt gefühlt haben. Und wenn während des : L Jahrhunderts v. Chr. im Geist der Akademie gebildete Männer, etwa in Tarsos, eine leitende, nur von ihren Gegnern als Tyrannis bezeichnete Stellung einnahmen, dann widersprach das selbst den Lehren Platons nicht. Was schließlich die Kyniker und Stoiker betrifft, so hat offenbar keiner den Geist seiner Schule derart verraten, daß er für sich nach der Tyrannis gestrebt hätte. Es war schon schlimm genug, daß Seneca, sosehr er sich um Neros Bildung bemühte, als «Tyrannenlehrer» erschien. 4. R H ET O R I K
Die ungemeine Bedeutung der Rhetorik für das geistige Leben der hellenistischen Epoche und der ihr folgenden Jahrhunderte hat es mit sich gebracht, daß zur Ver breitung und Verwurzelung des griechischen Tyrannenbildes rhetorische Schriften, Deklamationen und Übungen mehr beigetragen haben als irgendeine andere Lite raturgattung. Es war freilich auch in der epischen und dramatischen Poesie wie in den meistgelesenen Werken der Historiographie, gerade wenn es um Cha rakterisierung und Brandmarkung von Tyrannen ging, das rhetorische Element meist derart im Spiel, daß manchmal die Grenze zu reinen rhetorischen Deklama tionen kaum noch zu ziehen ist. Ähnlich steht es mit den popularphilosophischen Traktaten, während umgekehrt das spezifisch rhetorische Schrifttum häufig und wiederum besonders bei Themen, welche Tyrannen oder Tyrannis betreffen, Bei spiele aus Geschichte oder Dichtung und Gedanken berühmter Philosophen ver wendet. Im Rahmen unseres Anliegens erhebt sich die Frage, ob die rhetorischen
Philosophisch gebildete Tyrannen. Rhetorik
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Schriften Wesentliches oder auch Neues zum Tyrannenbild und zur geistigen Auseinandersetzung mit der Tyrannis beigetragen haben, wobei freilich von vornherein in Rechnung gestellt werden muß, daß das Neue nach Lage der Dinge mehr in der Art der Darbietung zu suchen ist als in den dargebotenen Erscheinun gen und ihrer Beurteilung. Was die großen epideiktischen Reden betrifft, so waren sie bereits in den vor ausgehenden Partien dieses Kapitels, im besonderen bei Erörterung der Gegen überstellung von idealem König und typischem Tyrannen, zu erwähnen. Allen voran diejenigen des Dion Chrysostomos, der nicht nur jene Konfrontierung so wohl begrifflich wie im allegorischen Bilde mit großer Kunst vorgenommen, son dern auch den unglücklichen Seelenzustand des Tyrannen eindrucksvoll geschildert hat. Spätere Rhetoren, etwa Aelius Aristides, Themistios, Synesios, haben in ihren Reden oder Schriften über das Königtum, soweit wir sehen, nichts gebracht, was Tyrannen oder Tyrannis besser charakterisierte oder der Betrachtung einen neuen Aspekt eröffnete. Derartiges findet sich jedoch in Schriften des Lukianos von Sa mosata. Eine von ihnen, «Tyrannenmörder» (tyrannoktonos) überschrieben, unter scheidet sich zwar nicht von den üblichen rhetorischen Deklamationen, über die später zu sprechen sein wird, drei andere aber zeigen eine höchst originelle Kon zeption. Im ersten Stück, das den Titel «Überfahrt oder Tyrann» trägt, wird geschil dert, wie ein getöteter Tyrann mit dem bezeichnenden Namen Megapenthes (Jam merreich) , nachdem er vor der Fahrt über den Totenfluß vergeblich auszureißen versucht hat, durch Bestechung Klotho bewegen will, ihn für kurze Zeit ins Dies seits zurückkehren zu lassen, wo er noch einen Feind besiegen, sich ein Denkmal errichten oder wenigstens doch sehen möchte, wie es jetzt in seinem Hause steht. Klotho verweigert ihm, der sich auch als Toter noch anmaßend benimmt, die Erfüllung seines Wunsches und verkündet ihm, daß sein Sohn bald von einem neuen Herrscher beseitigt werden, seine Tochter Beischläferin des neuen Tyrannen sein und seine Witwe von einem Sklaven geehelicht werden würde. Die ihm gesetzten Statuen und Stelen mit Ehreninschriften werde man umstoßen. Mega penthes erfährt ferner, daß er, der nur Schmeichler um sich hatte, von einem dieser falschen Freunde umgebracht worden sei. Auch sonst zeigt der Dialog mit Klotho, dessen sprühenden Geist und funkelnden Witz allein das griechische Original vermitteln kann, zahlreiche Züge des üblichen Tyrannenbildes. Dasselbe gilt von den Äußerungen des Schuhflickers Mikyllos, der zu Lebzeiten den Tyrannen für glücklich, ja fast für einen Gott hielt, und von der Rede, mit der nach der Über fahrt zum Hades ein gewisser Kyniskos, will sagen Kyniker, der wegen ausfallen der Reden von Megapenthes gekreuzigt worden war, ihn vor dem Totenrichter Rhadamantys verklagt. Alle Gewalttaten und Scheußlichkeiten des Tyrannen, seine Massenmorde, um sich zu bereichern, seine Schändungen von Frauen - für
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letztere werden Lampe und Bett als Zeugen herbeigerufen - kommen zur Sprache, angefangen mit der Gewinnung der Alleinherrschaft mitteist einer aus Verbre chern bestehenden Leibwache. Als Strafe empfiehlt Kyniskos, wie ähnlich schon der Dichter Persius, seelische Qual, das Versagen nämlich des Trinkens aus Lethe und damit ein dauerndes Sicherinnernmüssen an die begangenen Verbrechen. Geht es in «Überfahrt oder Tyrann» um ein bissiges Verhöhnen des Tyrannen, dessen Bild zwar sehr kraß, aber doch mit den üblichen Farben gemalt ist, so bieten zwei Schriften des Lukian mit dem Titel «Phalaris» etwas wirklich Neues, die Selbstverteidigung nämlich eines der berüchtigtsten Tyrannen der griechischen Welt. Sie wird von seinen Gesandten in Delphoi vorgetragen, wohin der Gewalt haber seinen berühmten ehernen Stier als Weihgeschenk sendet. Dieser Rede, die den Inhalt der ersten Schrift bildet, folgt in der zweiten die Antwort eines Del phers, der die Worte des Tyrannen für vernünftig erklärt, die Kunde von seinen Schandtaten, auf die ein anderer Delpher hingewiesen hatte, als bloßes Gerücht bezeichnet und die Annahme des Stieres als Weihgeschenk befürwortet. Hier will der Autor offenbar vor allem den Utilitarismus Delphois geißeln, das einst in der Tat von Tyrannen wie Kypselos, Kleisthenes, Gelon, Hieron und anderen sizili schen Machthabern Weihgaben angenommen hatte. Wichtiger für unser Thema ist die erste Schrift, denn sie bietet immerhin manches, womit sich sogar eine radi kale Tyrannis verteidigen ließ, und zeigt, was sonst nur in Xenophons «Hieron» bis zu einern gewissen Grade zu finden ist, wie ein Tyrann sich selbst und seine Herr schaft ansehen konnte, wo nicht gar ansehen mußte. Der Inhalt der Apologie ist wert, in Kürze wiedergegeben zu werden. Einst ein harmloser Bürger, ist Phalaris durch eine politische Faktion ehren werter Leute dazu gebracht worden, die Tyrannis zu ergreifen. Seine Regierung war sogar anfangs, als zu ihrer Sicherung Härte nötig sein konnte, milde und gut. Während vorher eine schlechte Verwaltung bestanden hatte, legte er eine Wasser leitung, andere Bauten und eine Stadtbefestigung an, sorgte auch für die öffent lichen Einkünfte, für Erziehung und Altersversorgung, für Spiele, Spenden und Speisungen. Zwar unterhielt er eine Leibwache, doch gestattete er ihr keine Gewalttaten. Nur ungern führte er die Alleinherrschaft und dachte daher dar an abzudanken, aber ein Aufstand seiner Gegner mit auswärtiger Hilfe, vor dem ihn ApolIon im Traum gewarnt hatte, nötigte ihn zu bleiben. Daß er die Auf ständischen bestrafte, war berechtigt, zumal da die Strafen auf Grund eines ordent lichen Gerichtsverfahrens ausgesprochen wurden. Wenn er dann wegen weiterer Umtriebe auf seine Sicherheit bedacht sein und Strafen verhängen mußte, so er regte das ganz zu Unrecht Empörung. Aber das Volk fragt ja nicht, ob ein Tyrann gut oder schlecht ist, sondern haßt alle Tyrannen, wiewohl es unter ihnen gute und weise gegeben hat. Sind schon in jedem Staate Strafen nötig, so kann ein Tyrann,
Rhetorik. Lukian. Fingierte Briefe
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der nur durch Gewalt sich behauptet und überall auf Feindschaft stößt, bloß mit Härte die Opposition niederhalten, auch wenn er an sich es nicht möchte. Ist doch aus freiern Willen niemand grausam, und für ihn, Phalaris, ist das Strafen sogar schrecklicher als für den Betroffenen. Ehe daß er einen Unschuldigen verurteilt, will er lieber selbst sterben. Sogar einigen m i t Recht Verurteilten hat er die Strafe erlassen. Am Hafen sind Aufpasser postiert, gewiß, aber doch nur, damit Fremde ehrenvoll empfangen werden, wie denn erlauchte Geister, etwa Pythago ras, ihn besuchen und seiner Regierung Anerkennung zollen. Was aber den berüchtigten Stier betrifft, 50 hat sein Verfertiger Perilaos, indern er das plastische Werk als Marterinstrument konstruierte, Phalaris' Absichten gräßlich verkannt. Deshalb ließ ihn dieser durch Anwendung des Apparates bestrafen, allerdings vor dem Tode doch noch herausnehmen. Jetzt wird der Stier, der von vornherein als Weihgeschenk für den Pythischen Gott bestimmt war, diesem dargebracht. Er soll in Delphoi zugleich auch als Denkmal des Phalaris stehen und seiner Art, Grau samkeiten zu bestrafen. Die Gesandten bekräftigen ihrerseits die Worte ihres Herrn und betonen, daß Phalaris falsch beurteilt wurde. Das Ganze mochte den meisten Lesern als paradox und unernst erscheinen, konnte aber doch nachdenklichen Naturen in einer Zeit, da das römische Kaisertum mehr und mehr zur absolutistischen Monarchie wurde, vor Augen führen, welche Problematik ein unbeschränktes Herrscherturn auch für den Herrschenden selbst barg. Insofern erinnert das von Lukian entworfene Selbstporträt des Phalaris nicht nur, wie schon bemerkt, an die Rolle Hierons in Xenophons Schrift, sondern auch an das Wort Jasons von Pherai, daß ein Tyrann viel Unrechtes tun müsse, um einiges Gute tun zu können. Manche hellenistische Könige empfanden ähnlich. So soll Ptolemaios Philadelphos gesagt haben, das schlimmste Übel bei der Tyrannis sei der Zwang, um des Nutzens willen Leute, die kein Unrecht getan hätten, zu töten. Im übrigen hat Lukian, indern er aus der Überlieferung über griechische Tyrannen die positiven Maßnahmen, die von dem einen oder anderen berichtet wurden, herauszog und zu einern Bild zusammenfügte, der herrschenden Vorstel lung, daß ein Tyrann nur Schlechtes wirke, widersprochen. Bleibt es jedoch bei ihm absichtlich unklar, ob und wie weit er es mit seiner Schrift ernst meint, 50 ist den in der Spätantike, also in der Zeit kaiserlicher Autokratie verfaßten Phalaris Briefen der Ernst ihrer apologetischen Tendenz nicht abzusprechen. Die einzelnen Punkte der Selbstverteidigung, die sich in diesen Briefen finden, decken sich großenteils mit den von Lukian vorgebrachten, etwa wenn die Bestra fung von Gegnern mit dem Hinweis auf zahlreiche Anschläge gerechtfertigt oder betont wird, daß erst nach mehrmaliger Verzeihung Strafen verhängt worden seien und überhaupt gerecht verfahren wäre, was sogar der Dichter Epicharmos anerkannt habe. Auch hinsichtlich des Stieres ist die Argumentation ähnlich. Zu-
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dem kann der Tyrann zahlreiche Beispiele seiner Großmut und Milde anführen und auf viele Geschenke und Wohltaten verweisen. Selbst Freundschaft entgegen bringend, sieht sich Phalaris immer wieder enttäuscht, auch von dem Dichter Ste sichoros, um den er sich ernsthaft bemüht hat, obwohl er ihn als politischen Geg ner kennt. Hier spielt zudem sein Wunsch nach Bildung mit, der ihn sich auch an Pythagoras wenden läßt, wie denn der Tyrann in den Briefen überhaupt nicht nur als ein geistig aufgeschlossener, sondern sogar religiös gestimmter und von ethi schen Erwägungen geleiteter Mensch erscheint, der über die Tyrannis und seine eigene Stellung als Tyrann ernsthaft reflektiert. Schwer leidet er unter seinem schlechten Ruf. Nur widerwillig ist er Tyrann, fühlt sich als solcher unglücklich und würde lieber Untertan als Herrscher sein. Aber die Tyrannis niederzulegen, wozu ihm unter anderen Epicharmos rät, kann er sich nicht entschließen; Tyrann zu sein ist nun einmal sein Schicksal, dem er sich fügen muß. Die Tragik eines Tyrannen kommt in diesen Briefen, die psychologisch in die Seele eines geistig hochstehenden Gewalth ab ers hineinleuchten, nachdem jahrhundertelang davon nicht die Rede gewesen War, am Ende des Altertums noch einmal zum Ausdruck. Andere apokryphe Brie fsammlungen bieten demgegenüber, weil sie am ty pischen Tyrannenbilde festhalten, für unser Thema nichts Neues. Das gilt sowohl von den unter Diogenes' Namen gehenden Schreiben, auf die bereits in anderem Zu sammenhange hinzuweis en war, wie auf die dem Platonschüler Chion zugewiese nen Briefe, die wohl aus dem ersten Jahrhundert der Kaiserzeit stammen. Von den siebzehn Stücken nehmen nur die letzten sechs auf Tyrannis und zwar auf die des Klearchos von Herakleia B ezug . Sie enthalten jedoch nichts Wesentliches, was nicht bereits bei Schilderung der Tyrannenherrschaft von Herakleia oder in den Ausfüh rungen über das Verhältnis der Philosophen zu Tyrannen und Tyrannis erwähnt worden wäre. Noch weniger b ringen die in der Kaiserzeit sehr beliebten und von den Rhetoren eifrig benu tzten Sammlungen von Beispielen (Paradeigm ata) etwas Neues, sei es daß in ihnen nach bestimmten Kategorien historische oder für histo risch gehaltene Szenen, Vorgänge oder Maßnahmen zusammengestellt sind, wie es etwa durch Valerius Maximus oder Polyaen geschah, sei es daß es sich um eine Aneinanderreihung VOn - ausschließlich absprechenden - Äußerungen über Ty rannis handelt, wofür in der Spätzeit Stobaios in dem «Tadel der Tyrannis» über schriebenen Kapitel seine r Exzerpte ein gutes Beispiel bietet. Wenden wir uns schließlich den rhetorischen Übungen und Deklamationen zu, so ist zunächst zu bemerken, daß Tyrann und Tyrannenmord im Unterricht eine große Rolle gespielt haben. Bezeugt ist dies zwar nur für die römische Kaiserzeit, doch spricht alles dafür, daß dem auch schon in den vorausgehenden Jahrhunder ten seit den Tagen des Aischines und des Anaximenes von Lampsakos so war. Die Situationen und Rechtsverh äl misse, auf die Bezug genommen wird, sind meist
B eispielsammlungen. Rhetorische Deklamationen
in Anlehnung an Nachrichten über griechische Tyrannen erfunden und spiegeln das Milieu der griechischen Polis wider. Historische Namen werden jedoch im all gemeinen nicht genannt. Dies wäre nach dem Zeugnis des Quintilian gefährlich gewesen, während Redeübungen über «einen Tyrannen» oder «einen Tyrannen mörder» sozusagen im luftleeren Raume spielten und trotz den etwa in ihnen enthaltenen Anspielungen auf Erscheinungen der Gegenwart für ungefährlich gal ten, es wohl auch in der Tat waren. Denn für die Verbannung des Rhetors Carinas Secundus durch Kaiser Gaius und die Hinrichtung des «Sophisten» Maternus unter Domitian, die einzigen derartigen Fälle, die wir kennen, mögen irgendwelche be sondere Gründe maßgebend gewesen sein. Jedenfalls hat sich die «Tyrannen Deklamation» sogar in der Residenz des Kaisers, in Rom, ungestört entfalten können. Nach der Theorie der Rhetorik gehörten sowohl die Reden gegen einen Tyrannen wie diejenigen für einen Tyrannenmörder zum gemeinen (koinos) Topos, für den die übersteigerte Rede (logos auxetikos) kennzeichnend war. Dem entsprechend soll hier der Redner, wie noch im 6. Jahrhundert n. Chr. der Rhetor Chorikios ausführt, die Schlechtigkeit des Tyrannen stark hervorheben, um dadurch den Tyrannenmord zu schmücken und die Menge zu überzeugen. Die von einer Tyrannis Betroffenen wollen nämlich nicht nur Anklagen hören, die den Tatsachen entsprechen, sondern auch Erlogenes. Verdrehung des wahren Sachverhaltes sowie Erfindungen gehören mithin zu Deklamationen über Tyrann und Tyrannen mord. Unter den rhetorischen Vorübungen (progymnasmata) finden sich freilidl nur sehr wenige, welche dem koinos topos gegen den Tyrannen und für den Tyran nenmörder entsprechen; die Masse der Deklamationen, auch der lateinischen, sind «controversiae», d. h. sie behandeln Streitfälle, wie sie bei einer drohenden oder Wirklichkeit gewordenen Tyrannis und beim mehr oder minder gewaltsamen Tod eines Tyrannen sich ergeben konnten. Spuren derartiger rhetorischer Auseinan dersetzungen sind bereits in Ciceros Zeit zu erkennen, doch geben uns erst der ältere Seneca, Ps.-Quintilian, Calpurnius Flaccus und spätere griechische Rhetoren eine Vorstellung, wie von den Lehrern der Rhetorik und natürlich auch von ihren Schülern das Thema «Tyrannis» behandelt wurde. Was die von ihnen erörterten Streitfälle betrifft, für die zunächst eine Reihe von Beispielen gegeben werden soll, so stehen sie im allgemeinen entweder mit dem Streben nach der Tyrannis oder mit ihrem Sturz in Verbindung. Im ersten Falle geht es etwa darum, daß ein Verbannter, der, um heimkehren zu dürfen, einen reichen Bürger des Strebens nach Tyrannis bezichtigt hat, bei seiner Rückkehr er mordet wird, worauf der Reiche sich einer Anklage wegen geplanter Tyrannis gegenübersieht. Oder ein Vatermörder behauptet, der Tote habe nach der Tyran nis gestrebt, doch kann er überführt werden, daß er selbst derartige Absichten hatte. Sehr viel zahlreicher und mannigfacher jedoch sind die Streitfälle, die an
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einen Tyrannenmord anknüpfen. In erster Linie geht es da um die Frage der Be lohnung. Wenn beispielsweise der Attentäter nur den Sohn des Tyrannen getötet, der Vater aber daraufhin aus Kummer Selbstmord begangen hat, verdient der Attentäter dann die Belohnung eines Tyrannenmörders? Eine weitere Frage : Steht die Belohnung dem zu, der einen anderen zu der Tat gedungen hat, oder dem Gedungenen? Und soll sie ein Mann erhalten, der den Gewalthaber im Wahnsinn umgebracht hat, oder gar ein Rhetor, der den Tyrannen zur Abdankung überre dete? Wer von zwei Ärzten, deren einer dem Tyrannen ein Gift, der andere ein nur scheinbares Gegengift verabreicht hat, kann die Belohnung beanspruchen? Besonderes Interesse erregten begreiflicherweise Situationen, bei denen zwei Gesetze gegeneinander standen. Schon Cicero nennt einen solchen Fall im Hin blick auf die Ermordung des Alexandros von Pherai durch seine Gattin Thebe : während nach einem Gesetz dem mit den Ehren eines Olympia-Siegers bedachten Tyrannenmörder jeder Wunsch von den Behörden erfüllt werden muß, sind nach einem anderen Gesetz die fünf nächsten Verwandten des beseitigten Tyrannen zu töten. Zu ihnen würde Alexandros' Sohn gehören, den aber dessen Mutter, die Mörderin ihres Gatten, Thebe, sich erbittet. Oder wie ist zu entscheiden, wenn eine Frau zwar einen Tyrannen getötet, aber vorher mit ihm Ehebruch getrieben hat? Verdient sie Strafe als Ehebrecherin oder Belohnung als Tyrannenmörderin ? Ein anderes Beispiel : Nur Männer dürfen im Gymnasion durch Aufstellung ihrer Standbilder geehrt werden. Tyrannenmörder erhalten diese Auszeichnung nach Gesetz. Was aber geschieht, wenn eine Frau den Tyrannen ermordet hat? Manche Fälle berühren das Sakralrecht : Wer vom Blitz erschlagen wird, soll an Ort und Stelle bestattet, ein Tyrann aber nicht in der Heimat begraben werden. Nun wird ein Tyrann daheim vom Blitz getroffen. Natürlich wird auch die Frage erörtert, ob die Asylie in Heiligtümern für einen flüchtigen Tyrannen gilt. Politisch-staats rechtliche Probleme erheben sich etwa, wenn ein Tyrann auf die Zusicherung hin, daß ihm seine Tyrannis nicht zum Vorwurf gemacht werden solle, abgedankt hat und sich nun um ein Amt bewerben will, oder wenn bestritten wird, daß Rechtsge schäfte eines einstigen Tyrannen auch nach seinem Tode noch gültig seien. Häufig handelt es sich aber auch um rein privatrechtliche Streitigkeiten, die mit einer Tyrannis oder einem Tyrannensturz verknüpft sind, etwa Schadenersatzforde rung für ein niedergebranntes Privathaus, in dessen Flammen der Tyrann umge kommen ist, Klage wegen Geldes, das von privater Seite für Ermordung des Tyrannen versprochen worden war, oder wegen des Erbes, das ein Vater seinem Sohn für Tyrannenmord zugesagt, als dieser ihn aber nicht ausführte, entzogen und dem Tyrannenmörder, wer es auch sei, ausgesetzt hatte, worauf der enterbte Sohn dann doch den Tyrannen tötete. Weniger konstruiert ist es, wenn auf Rückgabe einer Geldsumme, die er für die Zeit der Tyrannis bei einem armen
Rhetorik: Fingierte Rechtsfälle. Historisches Milieu
Manne deponiert hatte, von einem reichen Bürger geklagt wird. Ausgetiftelt da gegen wirkt der Fall einer Frau, die ihren Mann des Undanks bezichtigt, weil er sie, die ihn durch ihre Standhaftigkeit auf der Folter gerettet hat, als er mit Recht eines Attentatsplanes verdächtig war, wegen Unfruchtbarkeit verstößt, nachdem er den Tyrannen schließlich doch hat töten können. Lassen schon die Voraussetzungen einiger dieser Streitfälle an Situationen den ken, wie sie sich in der Tradition über griechische Tyrannen finden, so gilt das vollends von dem geschilderten allgemeinen Milieu, das im wesentlichen das der hellenischen Polis ist. Dort war nicht nur die Anklage wegen Strebens nach Ty rannis häufig gewesen, es hatten auch Reichtum und ein hohes militärisches Amt als Basis für die Gewinnung der Alleinherrschaft eine Rolle gespielt, und Waffen funde in einem Privathaus waren als belastend angesehen worden. Alle diese Momente erscheinen in den Deklamationen. Desgleichen die für Polykrates und andere Tyrannen bezeugte Ausnutzung eines großen Festes zu einem Staatsstreich, die Besetzung der Burg, der Unterhalt einer Leibwache, von der ausgiebigen Schil derung der Freveltaten ganz zu schweigen. Auch hier ist kaum etwas frei erfunden, denn sowohl dafür, daß ein Tyrann von einer anderen Stadt einen schönen Kna ben oder ein schönes Mädchen fordert oder daß eine andere Polis die bedrohte Jugend der von einem Tyrannen vergewaltigten Stadt aufnimmt, scheint es an historischen oder mindestens als historisch geltenden Beispielen nicht gefehlt zu haben. Und was den Frevel an Frauen angeht, etwa daß sie Sklaven preisgegeben oder bei wirklichen und vermuteten Anschlägen ihnen nahestehender Männer auf der Folter befragt werden, so konnte die überlieferung über Dionysios 1., Klear chos, Chairon und schon die Peisistratiden zur Ausmalung derartiger Szenen anregen. Daß ein Vater seine vergewaltigte Tochter tötet, um ihr die Schande zu ersparen, wird zwar nicht von einem Griechen, sondern von dem Römer Verginius berichtet, doch könnte anstelle des Vergewaltigers Appius Claudius ebensogut ein griechischer Tyrann stehen. Von Großmut des Gewalthabers ist in den De klamationen so gut wie gar nicht die Rede, höchstens daß er im Rufe der Milde stehen möchte und daß ein Tyrann sich selbst zum Opfer bringt, weil das Aufhö ren einer Seuche in der Stadt von einem Orakelspruch an seine Beseitigung ge knüpft wird. Das Erste ist gewiß vorgekommen, das Zweite in der Geschichte der griechischen Tyrannen von uns nicht nachzuweisen, während ein anderes Motiv, daß nämlich ein Tyrann Leichen liebkost, wohl an eine der über Perian dros verbreiteten Schauergeschichten, vielleicht aber auch an Erzählungen über Neros Verhalten nach dem Tod der Poppaea Sabina anknüpft. Vergebliche Proteste gegen Tyrannis und Bemühungen, durch Hinweis auf die ihm im Hades drohenden Strafen oder gar durch deren Darstellung in einem Ge mälde den Tyrannen zum Verzicht auf die Herrschaft zu bewegen, dürften eher in
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legendären Berichten über die Haltung von Philosophen als etwa in Timoleons vergeblichem Einwirken auf seinen Bruder und hinsichtlich der Hadesstrafen, in den von Philosophen und Dichtern gebotenen Schilderungen ihr Vorbild gehabt haben. Für die Abdankung gegen Straffreiheit aber konnten verschiedene histo rische Tyrannen, beispielsweise Aristomachos (II) , Lydiadas, Iseas, als Muster die nen, nicht allerdings dafür, daß ein Rhetor einen Gewalthaber zum Verzicht überredete oder daß ein Tyrann nach seinem Rücktritt offen Sehnsucht nach Er neuerung seiner Herrschaft zeigte. Dagegen war das Problem, ob ein einstiger Tyrann ein hohes politisches Amt bekleiden könne, im Falle des Aristomachos (Il) und des Lydiadas wirklich akut geworden. Was den Tyrannenmord betrifft, der Anlaß oder Voraussetzung vieler Dekla mationen bildet, so liegt im allgemeinen die an Gesetzen griechischer Stadtstaaten orientierte Vorstellung zugrunde, daß Tötung des Tyrannen vom Gemeinwesen gefordert sei. Auch die Frage, ob die Asylie heiliger Stätten für einen flüchtigen Tyrannen gelte, war in geschichtlichen Situationen wie der der Kyloneer, des Pythagoras von Ephesos oder Aristotimos von Elis vorgegeben. Desgleichen gab es historische Beispiele oder literarische Anhaltspunkte dafür, daß ein Sohn seinen Vater wegen Attentatsplänen gegen einen Tyrannen bei diesem anzeigte oder daß ein Vater seinen nach Tyrannis strebenden, wo nicht gar schon zur Herrschaft gelangten Sohn tötete. Dasselbe gilt für Liebesknaben oder Ehefrauen von Tyran nen als deren Mörder und für die Beseitigung eines Gewalthabers durch Gift, während die Verkleidung des männlichen Attentäters als Frau nur in der recht suspekten Tradition über einen Tyrannen auf Kephallenia und in der mythischen Geschichte vom Tyrannen Tartaros erscheint. Von Liebesknaben aber waren an geblich Periandros von Ambrakia und Hipparinos von Syrakus getötet worden, von ihren Ehefrauen Alexandros von Pherai, Nikokrates von Kyrene und Aristo dernos von Kyme. Und durch Gift sollte, wie manche behaupteten, nicht nur Alexander der Große, sondern auch Agathokles beseitigt worden sein. Daß ein Tyrannenmörder staatliche Belohnung erhielt, war für alle Rhetoren selbstver ständlich und entsprach, wie das große Gesetz von Ilion zeigt, der Wirklichkeit; auch die Aufstellung seiner Statue ist nicht nur für Harmodios und Aristogeiton inschriftlich bezeugt. Ob freilich dem erfolgreichen Attentäter jeder Wunsch erfüllt werden mußte, wie gelegentlich in den Deklamationen angenommen wird, darf man um so mehr bezweifeln, als das Verdienst des Mörders nach Lage der Dinge unterschiedlich war. Quintilian wollte deshalb die Belohnungen abgestuft sehen, je nachdem, ob ein Jüngling oder ein Greis, ein Mann oder eine Frau, ein Fremder oder ein Nahestehender die Tat vollbracht hatte. Ferner, so meinte er, sei zu be rücksichtigen, ob der Mord in einem an Tyrannis gewöhnten Gemeinwesen oder in einem Freistaat geschah, ob auf der Burg oder bloß in einem Hause, ob Schwert
Rhetorische Deklamationen: Historisches Milieu
oder Gift angewandt wurde, ob zur Zeit der Tat Krieg oder Frieden herrschte, ob der Gewalthaber in Begriff war die Herrschaft niederzulegen oder neue Frevel plante. Schließlich sei auch das Maß der Gefahr und der Schwierigkeiten, denen sich der Attentäter gegenübersah, zu würdigen. Wie weit derartige Differenzie rungen in Antityrannen-Gesetzen einzelner griechischer Poleis tatsächlich enthal ten waren, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Aufs Ganze gesehen bieten die Deklamationen keine nennenswerte Bereicherung oder gar Korrektur des von den Griechen der klassischen Zeit geschaffenen und in den folgenden Jahrhunderten weitergegebenen Tyrannenbildes. Ihre Bedeutung liegt vornehmlich darin, daß sie in Anknüpfung sowohl an die, wenn auch häufig legendäre Tradition über bekannte Tyrannen wie an die von Dichtern und Philo sophen ausgebildete Typologie dieses Bild lebendig erhalten und durch seine Übersteigerung besonders einprägsam gemacht haben. Auch hat die große Rolle, welche Tyrann und Tyrannenmord als Themen im Schulunterricht der Rhetorik spielten, ohne Zweifel erheblich dazu beigetragen, Tyrannenfeindschaft als Element der Bildung zu festigen und die Schüler anzuregen, daß sie Situationen ausmalten und Rechtsfälle erörterten, wie sie etwa unter einer Tyrannis oder bei Tyrannen mord eintreten konnten. Das rhetorische Sduifttum aber kann für sich nicht nur in Anspruch nehmen, in epideiktischen Reden durch die wirkungsvolle Konfrontie rung von wahrem König und echtem Tyrannen an der Ausbildung einer Herrscher ideologie wesentlich beteiligt gewesen zu sein, sondern auch mit der Selbstvertei digung des Tyrannen ein zwar nicht ganz neues, aber bisher kaum berührtes, ge schweige denn gepflegtes Motiv in der Tyrannenliteratur zur Geltung gebracht zu haben. Ein abschließendes Kapitel über die Funktion der griechischen Tyrannis in helle nistischer Zeit erübrigt sich, weil von einer historischen Funktion kaum noch zu sprechen ist. Von der geschichtlichen Rolle einzelner Tyrannenherrschaften aber war im allgemeinen schon bei deren Darstellung die Rede. So kann es hier mit einigen knappen Worten sein Bewenden haben. Antike Philosophen und Historiker haben, wie mehrfach zu erwähnen war, der Tyrannis einen bestimmten Platz im Kreislauf der Verfassungen angewiesen. Für die Jahrhunderte nach Alexander, in denen die großen Monarchien und später Roms Ausgreifen das Schicksal der griechischen Poleis bestimmen, trifft diese rein innenpolitisch orientierte Fixierung nicht mehr zu. Wie die städtischen Gemein wesen stehen auch die Stadtherren, wo es solche gibt, im Schatten oder gar in Abhängigkeit jener Mächte, selbst wenn sie den Gegensätzen zwischen ihnen für kürzere oder längere Zeit eine gewisse Selbständigkeit verdanken. Aufkommen und Sturz von Tyrannen waren in allen Teilen der hellenischen oder hellenisierten
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Welt häufig oder sogar meist außenpolitisch bedingt. Das gilt selbst für Aga thokles, den einzigen der größeren Tyrannen, der sich mit seiner Herrschaft den großen Monarchien ebenbürtig fühlen durfte, gilt erst recht für Hieron 11. und voll ends für die Stadtherren in Griechenland und den asiatischen Gebieten. Die La bilität und Kurzlebigkeit, die letztlich allen Tyrannenherrschaften eignet, mußte unter diesen Umständen noch größer sein als in anderen Epochen. Ihr usurpiertes Regiment dauerhaft zu festigen, es in eine erbliche Monarchie zu überführen und eine Königsdynastie zu begründen, hat weder Agathokles noch Hieron 11. noch Dionysios von Herakleia vermocht, ob sie gleich den Königstitel annahmen. Von den Fürsten am Kimmerischen Bosporus abgesehen, die zugleich Könige bar barischer Stämme waren, ist es nur Philetairos von Pergamon und seinen Nach folgern gelungen, die zwischen den großen Mächten der Zeit sich mit außerordent lichem Geschick zu behaupten wußten. Bei den allermeisten Tyrannen oder tyran nenähnlichen Erscheinungen jedoch handelt es sich um Tagesgrößen, die das Schicksal ihrer Stadt oder auch eines größeren Bezirkes nur vorübergehend be stimmten, ohne tiefere Spuren zu hinterlassen. Es waren Männer sehr verschiedener Art : Demagogen und Häupter vornehmer Hetairien, Condottieren, königliche Feld herren und Gouverneure, Territorialherren, Räuberhäuptlinge und Hohe Priester großer Heiligtümer, Griechen und Halbgriechen, welche die Herrschaft über eine Stadt an sich rissen. Ob und wieweit sie Tyrannen im politisch-staatsrechtlichen Sinne waren, ist häufig nicht festzustellen ; oft trifft die von antiken Autoren ge brauchte Bezeichnung «Tyrann» bestenfalls in jenem moralischen Sinne zu, der dem Worte in hellenistischer Zeit vorzüglich innewohnte. Deshalb eignete es sich zur Diskreditierung politischer Gegner, wie denn Persönlichkeiten, die auf Grund ihres Reichtums und Ansehns praktisch die Geschicke einer Polis leiteten, gern als Ty rannen bezeichnet wurden, obwohl sie es weder im politischen noch im morali schen Sinne waren. Den eigentlichen Tyrannen, soweit es solche noch gab, hat im allgemeinen Rom, als es seine Macht über die griechische Welt ausdehnte, das En de bereitet. Die Senatsaristokratie war im Grunde tyrannenfeindlich, die Anti tyrannen-Parole, wie sie gegen Nabis von Sparta oder Hieronymos von Syrakus ausgegeben wurde, also nicht nur Zweckpropaganda. Wenn in den Wirren der Bürgerkriege hier und dort noch einmal griechische Tyrannen in Erscheinung tre ten konnten, indem etwa Cassius oder Antonius derartige Kreaturen, von denen sie sich Unterstützung erhofften, begünstigten oder gar an die Macht brachten, so war dies nur möglich, weil mit dem alten Senatsregiment auch dessen politische Maximen in die Brüche gegangen waren. Wie stark dann das Bild des griechischen Tyrannen, den es im Bereich des die gesamte Mittelmeerwelt umfassenden Impe rium Romanum nicht mehr gab, in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Kaisertum eine Rolle gespielt hat, war wenigstens anzudeuten. Näher darauf ein-
Historische Funktion der Tyrannis in hellenistischer Zeit
zugehen hieße eine Geschichte der politischen und ideellen Opposition gegen die Monarchie in den Jahrhunderten seit Caesar geben wollen. Das aber läge ebenso wie ein Verfolgen der Tyrannis als Begriff und Herrschaftsform von der Spätantike bis in die neueste Zeit außerhalb dessen, was dieses Buch bieten sollte, eine Mono graphie der Tyrannis bei den Griechen.