ISBN 3-518-12357-2
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Jacques Derrida Hans-Georg Gadamer Der ununterbrochene Dialog Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Martin Gessmann
Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer lernten sich in den frühen 80er Jahren kennen, und seit dieser Zeit entspann sich eine kontroverse Auseinandersetzung über die Hermeneutik, die Kunst der Interpretation, insbesondere über die Endlichkeit unseres Verstehens. Als Gadamer starb, hielt Derrida im Februar 2003 die Festrede zur Gedenkfeier der Universität Heidelberg. Mit einer eindringlichen Celanlektüre führt Derrida vor, wie das Gespräch mit Gadamer über seine letzte Unterbrechung hinaus am Ende zu einem »ununterbrochenen Dialog« werden könnte. Dem Band beigefügt sind Kommentare Gadamers zu Celans Gedichtfolge Atemkristall sowie Materialien aus der Zeit der ersten Begegnung. In Derridas Reflexion über den Abschied und das Abschiednehmen kommt es hier zu einer letzten, vielleicht entscheidenden Annäherung. Jacques Derrida, geb. 1930, ist Professor für Philosophie an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Hans-Georg Gadamer (19°0-2002) war Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg.
Suhrkamp
Inhalt Jacques Derrida Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht 7 Jacques Derrida Guter Wille zur Macht (I) Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer 51 Hans-Georg Gadamer Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedichtfolge >Atemkristall< 55 Nachwort von Martin Gessmann 97 Textnachweise
edi tion suhrkamp 23 57 Erste Auflage 2004 © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany ISBN 3-518-12357-2
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Jacques Derrida Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei U nendlichkeiten, das Gedicht Kann ich hier vor Ihnen meine Bewunderung für HansGeorg Gadamer überhaupt angemessen und wahrheitsgetreu wiedergeben? Sie ist vor so langer Zeit aus Respekt und Zuneigung zu ihm entstanden, und in sie mischt sich dunkel eine uralte Melancholie. Diese Melancholie hat, so würde ich sagen, nicht nur historische Gründe. Denn selbst wenn es ein solches Ereignis gäbe, an dem man sie festmachen könnte, so bliebe es noch schwer zu entziffern, und die Art und Weise, wie es in ihr widerhallt, wäre immer noch einzigartig, intim, fast privat und geheim, noch zurückhaltend. Dort, wo sie anhebt, zielt sie nicht immer ins Epizentrum jener Erschütterungen, die meine Generation mehr aus ihren Wirkungen denn aus ihren Ursachen, verspätet, indirekt und vermittelt wahrgenommen hat. Ihr großer Zeitzeuge ist Gadamer, er ist ihr Philosoph. Das gilt nicht nur für Deutschland. Jedesmal, wenn wir miteinander gesprochen haben, übrigens immer auf französisch, mehr als einmal hier in Heidelberg, oft auch in Paris oder in Italien, hatte ich bei allem, was er mir in herzlicher Freundschaft anvertraut hat - einer Freundschaft, durch die ich mich geehrt, mehr noch gerührt und bestärkt fühlen durfte -, den Eindruck, ein Jahrhundert deutschen Denkens, deutscher Philosophie und Politik besser zu verstehen. Und dies gilt wiederum nicht nur für deutsches Denken, deutsche Philosophie und Politik. Der Tod hat diese Melancholie sicherlich verändert, durch ihn lastet sie unendlich schwerer. Der Tod hat sie 7
besiegelt. Für immer. Es fällt mir aber dennoch schwer zu unterscheiden, unter diesem starr gewordenen, versteinerten Siegel, in dieser schwer zu lesenden, aber auch irgendwie gesegneten Unterschrift, inwiefern sie auf den Tod des Freundes zurückgeht oder ihm schon so langevorangegangen ist. Schon bei unserer ersten Begegnung in Paris I9 8I muß mich diese Melancholie, eine andere damals und doch dieselbe, befallen haben. Unsere Diskussion konnte wohl nur mit einer merkwürdigen Unterbrechung beginnen, die nicht etwa ein Mißverständnis war, sondern eine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unentlichiedenen. Und eher die Geduld einer unbestimmten Erwartung, einer Epoche, die den Atem anhält, das Urteil zurückhält und sich die Schlußfolgerung aufbehält. Da stand ich, mit offenem Mund, sprachlos. Ich sprach kaum mit ihm, und was ich damals sagte, richtete sich nur indirekt an ihn. Und doch war ich mir sicher, daß wir von nun an auf eine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen würden. Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eine Vorahnung: Was Gadamer wahrscheinlich einen »inneren Dialog« genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden, manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder indirekt. Eine Bestätigung fand dies in den Folgejahren dadurch, daß, diesmal allerdings wortreich und sehr gelehrt, eine ganze Reihe von Philosophen auf der ganzen Welt, in Europa, besonders aber in den Vereinigten Staaten, den oft auch fruchtbaren Versuch gemacht haben, ihrerseits diesen Austausch zu übernehmen, der ja noch rein virtuell und zurückgehalten war, ihn dadurch erst richtig herzustellen, zu verlängern oder seinen merkwürdigen Bruch zu deuten.
1. Wenn ich hier von einem Dialog spreche, verwende ich ein Wort, das meinem Sprachgebrauch zugegebenermaßen fremd bleiben wird, und zwar aus tausenderlei Gründen, 8
guten und schlechten, deren nähere Erläuterung ich Ihnen hier erspare. Dieses Wort bleibt mir fremd wie eine Fremdsprache, deren Gebrauch ein besorgtes und umsichtiges Übersetzen erforderte. Wenn es dann darum geht, genau zu sagen, was »innerer Dialog« heißt, bin ich froh, daß ich Gadamer schon in mir habe sprechen lassen. Ich übernehme von ihm, und zwar wortwörtlich, was er kurz nach unserer ersten Begegnung I98 5 gesagt hat, zum Schluß seines Textes Destruktion und Dekonstruktion: »Vollends das Gespräch, das wir in unserem eigenen Denken weiterführen und das sich vielleicht in unseren Tagen um neue große Partner aus einem sich planetarisch erweiternden Menschheitserbe bereichert, sollte überall seinen Partner suchen - und insbesondere wenn er ein ganz anderer ist. Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines Gespräches, nicht an seinem Ziele.« 1 (HervorhebungJ. D.)
Was macht diese Begegnung heute noch so unheimlich, nachdem sie in den Augen vieler geradezu mißlungen war, sich aus meiner Sicht aber eben dadurch als glückliche Fügung, wenn nicht gar als Erfolg erweisen sollte? Ihr Scheitern geriet so erfolgreich, daß sie eine lebendige und provozierende Spur hinterließ, der eine größere Zukunft beschieden sein sollte als einem Dialog voll Harmonie und Einverständnis. Diese Erfahrung nenne ich unheimlich, und zwar auf deutsch. Im Französischen habe ich keine Entsprechung, die dieses Gefühl mit einem Wort beschreiben könnte. Im Laufe dieser einmaligen, und damit unersetzlichen Begegnung schlich sich eine einzigartige Fremdheit ein und verschmolz mit dieser innigen und verstörenden Nähe, die manchmal beunruhigend, beinahe gespenstisch war. Dieses unübersetzbare deutsche Wort, unheimlich, brauche ich noch einmal jetzt, in dem Augenblick, da ich hier vor Ihnen auf französisch spreche und Sie auf deutsch mitleI
Gesammelte Werke, Band II, Tübingen 1986, S. 361-372, hier: S. 37 2.
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sen können, um unsere gemeinsame Sensibilität für die . Grenzen der Übersetzung zu schärfen. Damit möchte ich auch daran erinnern, wie Gadamer selbst das diagnosti':' ziert hat, was viele unserer Freunde ein wenig überstürzt als so etwas wie ein U rmißverständnis gedeutet haben. Er meinte, die Hürden der Übersetzung seien einer der wesentlichen Gründe für jene Unterbrechung gewesen, die doch überraschend kam, damals, r981. Sieben Jahre später, es muß kurz nach unserer zweiten öffentlichen Debatte gewesen sein, diskutierten wir hier in Heidelberg zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe und Reiner Wiehl über Heideggers politisches Engagement. Damals, gleich am Anfang von Dekonstruktion und Hermeneutik, sah q-adamer in den Sprachgrenzen den Ort, an dem uns die Ubersetzung herausfordert und stets die Gefahr des Mißverständnisses droht: »Das Gespräch zwischen selbständigen Fortführern Heideggerscher Anstöße, das meine Pariser Begegnung mit Derrida vor einigenJahren sein wollte, hatte es mit besonderen Erschwerungen zu tun. Da ist vor allem die Sprachbarriere. Sie wird immer dann groß, wenn Denken oder Dichten Traditionsformen zu verlassen strebt und aus der eigenen Muttersprache neue Weisungen herauszuhören trachtet.«2
Gadamer spricht also lieber von »Denken oder Dichten« als von Wissenschaft und Philosophie. Dies ist kein Zufall, und daran gälte es heute anzuknüpfen. In einem Aufsatz mit dem Titel »Die Grenzen der Sprache« (I984), der dem soeben zitierten von I988 vorausging und also noch näher an unserem ersten Treffen (r98r) liegt, betonte er noch einmal ausdrücklich, daß die Frage der Übersetzung eng mit der dichterischen Erfahrung verbunden ist. Das Gedicht ist nicht nur das beste Beispiel dafür, daß etwas unübersetzbar ist, es ist der eigenste, am wenigsten uneigene Ort der Herausforderung für eine jede Übersetzung. Das 2
Gesammelte Werke, Band X, Tübingen 1995, S. 138-147, hier: S. 138.
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Gedicht zeigt wahrscheinlich den einzigen Ort an, an dem sich Sprache einzig erfahren läßt, nämlich in ihren idiomatischen Besonderheiten, die einerseits für immer der Übersetzung widerstehen und deshalb andererseits eine Übersetzung einfordern, der zugemutet wird, das Unmögliche zu leisten, das Unmögliche in einem unerhörten Ereignis möglich zu machen. Gadamer schreibt in »Die Grenzen der Sprache«: »Für uns alle aber gilt das [gemeint ist das »Phänomen der Fremdsprache«], wo es sich um Übersetzung handelt. [U nd in einer Fußnote verweist er auf seinen Aufsatz» Lesen istwie Übersetzen«.3] Da ist Poesie, das lyrische Gedicht, die große Instanz für die Erfahrung der Eigenheit und der Fremdheit von Sprache.«4 Ich nehme also einmal an, daß sich das Ganze der Poesie stückweise und schlicht und einfach aus dem ergibt, was wir Kunst oder die schönen Künste nennen, und erinnere auch daran, was Gadamer mehr als einmal, ganz besonders in seiner Selbstdarstellung,S zu diesem Thema sagt. Er unterstreicht die wesentliche Rolle dessen, was er in seiner philosophischen Hermeneutik die »Erfahrung der Kunst« nennt, gegenüber allen anderen Verstehenskünsten, die ihr als Ausgangspunkt dienen. Vergessen wir nicht: Wahrheit und Methode beginnt mit einem Kapitel über die »Erfahrung der Kunst«, und damit schafft sich Gadamer den Raum für eine »Erfahrung des Kunstwerks«, die »jeden subjektiven Horizont der Auslegung, den des Künstlers wie den des Aufnehmenden, grundsätzlich immer übersteigt«.6 In diesem Horizont der Subjektivität steht das Kunstwerk dem Subjekt nie einfach gegenüber wie ein Objekt. Es gehört zu seinem Werkcharakter, das Subjekt zu affizieren und es zu verändern, angefangen bei dem, der 3 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 279- 28 5. 4 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 35°-361, S. 360. 5 Gesammelte Werke, Band II, Tübingen 1986, S. 479-508. 6 A. a. 0., S. 437-448, hier: S. 441. II
unterzeichnet. Gadamer schlägt vor, die zuvor angenom- . mene Ordnung durch eine paradoxe Formel umzukehren: »Das >Subjekt< der Erfahrung der Kunst, das was bleibt und beharrt, ist nicht die Subjektivität dessen, der sie erfährt. Sondern das Kunstwerk selbst.
Diese souveräne Autorität des Werkes, die beispielsweise das Gedicht zum erteilten Befehl und zum Diktum eines Diktats macht, ist aber auch die Aufforderung zur verantwortlichen Antwort und zum Gespräch. Sie erkennen hier den Titel eines Werkes wieder, das Gadamer 1990 veröffentlichte: Gedicht und Gespräch. 8 Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, ohne Anmaßung von einem Dialog zwischen mir und Gadamer zu sprechen. Sollte ich aber doch Anspruch darauf erheben dürfen, wie gering er auch sein mag, so würde ich ein weiteres Mal darauf bestehen, daß dieser Dialog zunächst ein innerer und unheimlicher war. Das Geheimnis, das dieser Unheimlichkeit auch hier und jetzt zugrunde liegt, ergibt sich gerade daraus, daß dieser innere Dialog wohl jene Tradition am Leben, lebendig und glücklich erhalten hat, die ihn äußerlich aufzuheben schien - besonders in der Öffentlichkeit. Dieses Gespräch, davon gehe ich einmal aus, hat tief im Inneren die Erinnerung an jenes Mißverständnis mit einer bemerkenswerten Beständigkeit bewahrt, ohne sich je nach außen zu verschließen. Es hat den verborgenen Sinn jener Unterbrechung ununterbrochen kultiviert und gerettet, verschwiegen oder auch nicht - für mich meistens innerlich und nach außen hin stumm. Man spricht oft und ein bißchen leichtfertig von einem inneren Monolog. Indes geht ihm ein innerer Dialog voraus und macht ihn erst möglich. Er leitet und führt ihn, indem er ihn aufspaltet und bereichert. Mein innerer Dialog mit Gadamer, mit Gadamer selbst, mit dem lebenden, 7 Gesammelte Werke, Band I, Tübingen 1986, S. 108. 8 Frankfurt am Main 1990. 12
noch immer lebenden Gadamer, wenn ich so sagen darf, sollte seit unserem ersten Treffen in Paris nie unterbrochen werden. Wahrscheinlich beruhte diese Melancholie, wie immer bei einer Freundschaft (zumindest empfinde ich es jedesmal so), auf einer traurigen und erschütternden Gewißheit: Eines Tages wird der Tod uns trennen. Das ist das schicksalhafte und unabwendbare Gesetz: Von zwei Freunden wird der eine den anderen sterben sehen. Und so virtuell dieser Dialog auch sein mag, er wird durch eine letzte Unterbrechung doch für immer versehrt bleiben. Unvergleichlich ist diese Trennung zwischen Leben und Tod, sie drückt dem Gespräch ein Siegel auf, das von nun an das Denken vor ein erstes Rätsel stellen wird, das wir zu entziffern versuchen, unendlich. Der Dialog geht wahrscheinlich weiter, seine Spur setzt sich im Überlebenden fort. Jener glaubt den anderen in sich zu bewahren, wie er es schon zu seinen Lebzeiten tat; künftig wird er ihn in sich sprechen lassen. Vielleicht gelingt ihm dies besser denn je - eine erschreckende Annahme. Doch das Überleben trägt in sich die Spur eines unauslöschlichen Einschnitts (aus). Die Unterbrechung vervielfacht sich, eine Unterbrechung affiziert die andere, (ist) eine Unterbrechung in der Spiegelung, unheimlicher denn je. Aber warum muß man eigentlich soviel Wert auf diese Unterbrechung legen? Und was ist es in meiner Erinnerung, das mein Gedenken heute so nachhaltig verstört? Eh bien, es liegt wohl an all dem, was gesagt wurde, geschah oder sich ereignete seit jener letzten von drei Fragen, die ich Gadamer 1981 in Paris zu stellen wagte. Diese Frage bedeutete sowohl die Herausforderung, ja vielleicht gar die Bestätigung des Mißverständnisses, eine scheinbare Unterbrechung des Dialogs, wie auch andererseits den Beginn eines inneren Dialogs in jedem von uns beiden, eines virtuell unendlichen und quasi-kontinuierlichen Dialogs. Tatsächlich, es war so, ich forderte eine gewisse Unterbre-
chung geradezu heraus. Aber weit davon entfernt, damit den Dialog zum Scheitern zu verurteilen, konnte diese Unterbrechung ebenso die Voraussetzung für Verstehen und Einvernehmen werden. Erlauben Sie mir ausnahmsweise, diese Frage in Erinnerung zu rufen. Sie war die dritte und letzte aus einer Reihe von Fragen zum guten Willen im Streben nach Konsens sowie zur schwierigen Eingliederung einer psychoanalytischen Hermeneutik in eine allgemeine Hermeneutik: »Dritte Frage: Auch diese geht auf die Axiomatik des guten Willens. Mögen nun psychoanalytische Hintergedanken mit im Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage berechtigt, was es mit dieser axiomatischen Bedingung des Interpretationsdiskurses auf sich hat, mit dem, was Professor Gadamer »Verstehen«, »verstehen des anderen«, »sich miteinander verstehen« nennt. Ob man nun von der Verständigung oder vom Mißverständnis (Schleiermacher) ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedingung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein (wie es gestern abend hieß), nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung?«9
Die melancholische Gewißheit, von der ich hier rede, beginnt also wie immer bereits zu Lebzeiten der Freunde. Nicht nur durch eine Unterbrechung, sondern durch ein Wort der Unterbrechung. Ein cogito des Adieu, dieses endgültigen Grußes, zeichnet den Atem selbst des Dialoges, eines Dialoges in der Welt oder eines innersten Dialoges. Die Trauer wartet nicht mehr. Seit dieser ersten Begegnung kommt diese Unterbrechung dem Tod zuvor, sie geht ihm voran und hüllt einen jeden in die Trauer einer unerbittlichen zukünftigen Vergangenheit. Einer von u'ns beiden wird alleine zurückgeblieben sein, wir wußten es beide im voraus. Und immer schon. Einer von uns beiden wird von Anfang an dazu verurteilt gewesen sein, ganz alleine, in sich, sowohl den Dialog, den er über die Unter9 Forget, Philippe (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 58.
brechung hinweg fortsetzen muß, als auch die Erinnerung an die erste Unterbrechung weiterzutragen. Und, so werde ich sagen, ohne es mir mit einer Übertreibung leicht zu machen, die ganze Welt des anderen. Die Welt nach dem Ende der Welt. Denn der Tod ist, jedesmal, und jedesmal einzigartig, jedesmal unwiederbringlich, jedesmal unendlich, nichts weniger als ein Ende der Welt. Nicht nur ein Ende unter anderen, das Ende einer Person oder einer Sache in der Welt, das Ende eines Lebens oder eines Lebewesens. Der Tod bereitet nicht nur jemandem in der Welt ein Ende, auch nicht nur einer Welt unter anderen; vielmehr zeigt er jedesmal, der Rechenkunst zum Trotz, das absolute Ende jener einen und selben Welt, desjenigen, was ein jeder wie eine einzige und selbe Welt eröffnet; er zeigt das Ende der einzigartigen Welt, das Ende der Gesamtheit dessen, was der Ursprung der Welt für ein solches einzigartiges Lebewesen ist (sei es nun ein Mensch oder nicht) oder als solcher erscheinen kann. Der Überlebende bleibt also allein. Jenseits der Welt des anderen ist er auch auf gewisse Weise jenseits oder diesseits der Welt selbst. In der Welt außerhalb der Welt und der Welt beraubt. Er fühlt sich zumindest allein verantwortlich, dazu bestimmt, sowohl den anderen als auch dessen Welt weiterzutragen, den verschwundenen anderen und die verschwundene Welt, verantwortlich und weltlos, weltbodenlos, künftig in einer weltlosen Welt, als wäre er erdenlos jenseits des Weltendes.
11. Eine erste Möglichkeit wäre es, wahrscheinlich nicht die einzige, den Klang eines Celanverses auf uns wirken zu lassen, diesseits oder jenseits überprüfbarer Deutungen: Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.
Es ist der letzte Vers eines Gedichts aus der Sammlung Atemwende,lofestgehalten wie eine Sentenz, gleich einem Seufzer oder einem Urteils spruch. Celan hatte mir kurz vor seinem Tode ein Exemplar dieses Bandes geschenkt, wir waren für einige Jahre Kollegen an der Ecole Normale Superieure. Auch dies ein Bruch, auch dies eine Unterbrechung. Wenn ich hier seine Stimme zu Gehör bringe, wenn ich sie jetzt in mir höre, so zunächst deshalb, weil ich Gadamers Bewunderung für diesen anderen Freund teile, der Paul Celan uns war. Wie Gadamer habe auch ich oft versucht, Paul Celan zu lesen, nachts, und mit ihm zu denken. Mit ihm, ihm entgegen. Wenn es mir jetzt noch einmal darum geht, mich dem Gedicht zu nähern, geschieht dies im Versuch, mich an Gadamer zu wenden, an ihn selbst, in mir, außer mir, oder dies zumindest zu simulieren, um mit ihm zu sprechen. Mit meiner Lektüre würde ich ihm heute gerne eine Ehre erweisen. Doch wird sie auch eine besorgte Deutung sein, zitternd und durchzittert, vielleicht sogar etwas ganz anderes als eine Deutung. Zumindest verfolgt sie einen Weg, der den seinen kreuzen könnte. GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG mit dem sich hinaus- und hinwegwühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:
der verkieselten Stirn eines Widders brenn ich dies Bild ein, zwischen die H ärner, darin, im Gesang der Windungen, das Mark der geronnenen Herzmeere schwillt. 10
16
Gesammelte Werke, Band II (Gedichte S·97·
2),
Frankfurt am Main
2000,
Wogegen rennt er nicht an? Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Wir werden dieses Gedicht erneut lesen. Wir werden versuchen, ihm zuzuhören und auf verantwortliche Weise auf das zu antworten, was Gadamer oft den Anspruch des Werkes nennt, den Anspruch, den es an uns richtet, die andauernde Aufforderung des Gedichts an uns, ihm Rede und Antwort zu stehen, die hartnäckige, aber immer berechtigte Erinnerung an sein Anrecht, seine Rechte geltend zu machen. Aber warum dieser Vorgriff? Und warum habe ich den letzten Vers zuerst zitiert, allein und noch vor allen anderen, und ihn damit wahrscheinlich gewaltsam und künstlich isoliert: Die Welt ist fort, ich muß dich tragen? Wahrscheinlich, um ihm ein Gewicht beizumessen, dessen Bedeutung [portee] ich im folgenden zu wiegen versuchen werde, um ihre Schwere abzuwägen, sie zu ertragen, wenn nicht gar, um sie zu denken. Was heißt wiegen? Und was heißt abwägen? Denken, das bedeutet auch, im Lateinischen wie im Französischen: abwiegen, abwägen, ausbalancieren, vergleichen, untersuchen. Hierzu, um zu denken und zu wiegen, muß man also tragen (vielleicht Celans tragen), in sich tragen und auf sich tragen. Nehmen wir einmal an, wir könnten alles auf die etymologische Karte setzen, was ich niemals tun würde, so scheint es ganz so, als hätten wir im Französischen nicht das Glück jener Nähe von Denken und Danken. Wir haben Schwierigkeiten, Fragen der Art zu übersetzen, wie sie Heidegger in Was heißt Denken? stellt: »Zum Gedachten und seinen Gedanken, zum »Gedanc« gehört der Dank. Doch vielleicht sind diese Anklänge des Wortes »Denken« an Gedächtnis und Dank nur äußerlich und künstlich ausge17
dacht. [...] Ist das Denken ein Danken? Was meint hier Danken? Oder beruht der Dank im Denken?«!!
Wenn wir auch nicht dieses glückliche Zusammenspiel oder Einverständnis zwischen Denken und Danken haben, wobei allerdings der Dank immer in der Gefahr stünde, Ersatz im Tausch mit dem Denken zu sein, so haben wir doch in unseren romanischen Sprachen jene Freundschaft zwischen Denken und Wiegen (pensare), zwischen dem Gedanken und der Schwere. Zwischen Denken und Tragen. So auch beim Wort examen. Das Gewicht eines Gedankens ruft nach und benennt sich immer nach einem Examen, und Sie wissen, daß Examen im Lateinischen den Zeiger einer Waage bezeichnet, der man die Richtigkeit und vielleicht Gerechtigkeit eines Urteils darüber anvertraut, was man ihr zu wägen aufträgt. Mit dem anfänglichen Zitat und der Wiederholung des letzten Verses, Die Welt ist fort, ich muß dich tragen, wollte ich auch, bis zu einem gewissen Punkt zumindest und so weit es irgend geht, Gadamer treu bleiben und ihn sogar nachahmen, mit einer Geste, die er in seinem Buch Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedichtfolge >Atemkristall
II
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interpretierenden Gedichtes liegt: wühl ich mir den I versteinerten Segen. »Denn darin«, so schreibt er, »liegt offenbar der Kern dieses Kurzgedichts.« Wir stehen also heute hier, zwischen zwei Atemzügen oder zwei Inspirationen, Atemwende und Atemkristall. Unter den von Gadamer kommentierten Gedichten befindet sich beispielsweise folgendes: WEGE IM SCHATTEN-GEBRÄCH
deiner Hand. Aus der Vier-Finger-Furche wühl ich mir den versteinerten Segen. Dieses Gedicht spricht möglicherweise vom Glück eines Segens, eines versteinerten Segens, so versteinert wie das Siegel, das mich gerade schon faszinierte, eines Segens, in dessen Zeichen ich diesen Moment gerne festschreiben würde. Es wird wahrscheinlich von derselben Hand geschrieben, mit denselben Fingern, wie so viele andere Segnungen Celans. Zum Beispiel Benedicta: »Ge-I segnet seist du, von weit her, von I jenseits meiner I erloschenen Finger. «13 Sie haben es sicher bemerkt: Das Wühlen des anderen Gedichts aus Atemwende (mit dem sich I hinaus- und hinweg-I wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm) scheint ein Echo zu sein auf jenes »Wühlen« aus dem vorliegenden Gedicht der Sammlung Atemkristall (Wühl ich mir den I versteinerten Segen). Meint Wühlen nicht dasselbe unruhige Aufwühlen, beide Male nämlich die Bewegung eines subversiven und suchenden, neugierigen und ungeduldigen Dranges nach Wissen? Gadamer verweist mehr als einmal nachdrücklich 13 Gesammelte Werke, Band I (Gedichte I), Frankfurt am Main 2000, S.249 f .
auf dieses Wort. Der Segen ist nicht gegeben, er wird gesucht, er scheint der Hand entwunden. Er übt einen fragenden Druck aus, er sucht eine Hand zu öffnen, die sich selbst und ihren Sinn verschließt. Eine Hand würde so die Botschaft des Segens noch verborgen halten. Die Segenshand gibt damit etwas zu lesen, aber sie fordert auch auf zu lesen, was sie der Lektüre vorenthält. Zugleich gibt sie und entzieht sie den Sinn der Botschaft. Sie hält den Segen zurück. Als sei ein im voraus erworbener Segen, ein Segen, mit dem man rechnen kann, ein überprüfbarer, berechenbarer, entscheidbarer Segen kein Segen mehr. Muß ein Segen nicht immer unwahrscheinlich bleiben? Dieses Gedicht stellt uns also vor ein erstes Deutungsproblem. Gadamer stellt folgende Hypothese auf: »Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteinerungen gegenwärtig ist. Nun sagt das Gedicht: Dieser Segen der segnenden Hand wird mit der wühlenden, verzweifelten Inbrunst eines Bedürftigen gesucht.«14
Er wagt also einen kühnen Schritt. Er schlägt vor, in dieser Vision eine umstürzende oder umstürzlerische Lektüreszene zu sehen. Was das Gedicht uns zu lesen gibt, wäre auch die Szenerie der Lektüre, die Provokation, die zur Lektüre dessen aufruft, was das Gedicht selbst zu lesen gibt: »Damit geschieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand zu der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hoffende Botschaft verborgen ist.«15
Der Segen des Gedichts: Dieser doppelte Genitiv benennt wohl die Gabe eines Gedichts, das sowohl den anderen segnet als auch sich vom anderen, dem Adressaten oder Leser, segnen läßt. Aber diese Wendung zum anderen hin schließt diese selbstreferentielle Reflexion nicht aus: Es ist immer möglich zu sagen, das Gedicht spreche von sich 14 A. a. 0., Gesammelte Werke, Band XI, S. 405. 15 Ebd. 20
selbst, von der Szene des Schreibens, des Unterschreibens und von der Lektüre, die es eröffnet. Diese spiegelhafte und autotelische Reflexion bleibt nicht in sich verschlossen; sie ist gleichzeitig und unwiderruflich ein dem anderen gewährter Segen, eine gegebene Hand, zugleich geöffnet und geschlossen. Was ist die Hand? Diese Hand hier, die Hand dieses Gedichts? Wie soll man sich hier in einem Bild gleichzeitig die Öffnung und das Schließen vorstellen? Vom ersten Satz an hatte Gadamer angekündigt, ich wiederhole es noch einmal, daß er »nach dem hermeneutischen Prinzip« mit dem Schlußvers beginnen würde, auf dem der Akzent liegt: wühl ich mir den / versteinerten Segen, jenem Schlußvers, in dem sich ihm zufolge ganz offenbar »der Kern dieses Kurzgedichts« findet. Nehmen wir einmal vorläufig und fraglos hin, daß dies das einschlägige hermeneutische Prinzip ist und daß es eine solche Evidenz gibt. Unterstellen wir, daß der Schlußvers den Sinn des ganzen Gedichts trägt. Doch im Verfolgen dieser beiden Axiome gesteht Gadamer sehr schnell ein, und zwar ausdrücklich, daß er sich in seiner Deutung mit mehr als einer Unterbrechung konfrontiert sieht. Sie muß auch eine Reihe von Fragen in der Schwebe lassen, in Form von Unterbrechungen beim Entziffern des Sinns. Die ersten Unterbrechungen folgen zunächst Falten, die auch Furchen der Lektüre sind. Gadamer schreibt: »Was mit dem >Schatten-Gebräch< gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Wenn die Hand sich etwas krümmt und die Falten Schatten werfen, dann werden in dem >Gebräch< der Hand, das heißt in dem Geflecht von Brechungen und Faltungen, die Brüche als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die Sprache des Schicksals oder des Wesens heraus. Die >Vier-FingerFurche< nun ist die durchgehende Querfalte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Daumen in einer Einheit zusammenfaßt.«16 16 Ebd. 21
Gadamer beschreibt zunächst, so scheint es, eine Art mehrfacher, aber ganz innerlicher Unterbrechung, eine solche, die sich im Innern der Hand gleichzeitig zur Lektüre anbietet und sich dieser verweigert: »Im Geflecht von Brechungen und Faltungen [werden] die Brüche als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die Sprache des Schicksals oder des Wesens.« Diese Bruchlinien verorten sich bereits in einem Text, der sich aufspannt und hergibt. Der Text ist hier eine segnende Hand, die jedoch ebensogut Gefahr läuft, sich entlang ihrer internen Grenzen zu verweigern, zu entziehen, zu verschwinden. Ohne diese Gefahr, ohne diese Unwahrscheinlichkeit, ohne diese Unmöglichkeit der Beweisführung, die unendlich verbleiben muß und nicht durch eine Sicherheit gesättigt oder abgeschlossen werden darf, gäbe es keine Lektüre, keine Gabe, keinen Segen. Später geschieht die Unterbrechung am Rande, sie durchzieht diesmal nicht mehr das Innere des Textes. Sie umschließt ihn. Eine externe Grenze zeichnet eine in der Schwebe lassende Unterbrechung. Nachdem Gadamer eine Reihe von Lesarten skizziert und riskante Fragen aufgeworfen hat, besonders hinsichtlich des »Ich« - das »Ich« des Dichters oder das des Lesers, der nach einem Segen, nach einer gesegneten Lektüre sucht -, läßt er eine Reihe von Fragen unentschieden, unentscheidbar, auf der Schwelle. Weit davon entfernt, die deutende Lektüre abzuschließen, eröffnen und befreien sie ihre eigentliche Erfahrung. Diesmal wird es um das »Du« nicht weniger als um das »Ich« gehen. Es sind alles Aussagen, die, mit einem Fragezeichen versehen, die Möglichkeit der Segnung und die Zukunft der Interpretation an eine Unterbrechung binden, die nachdenklich macht und die Dinge in der Schwebe hält. Damit der feste Entschluß darin deutlich wird, das U nentscheid bare wirklich unentschieden zu lassen, möchte ich nun, wenn Sie erlauben, den gesamten Absatz zitieren. Er schließt ohne Schlußfolgerung. Hier wird dem Gedicht 22
selbst - und nicht etwa dem Dichter oder dem Leser - das Recht zuerkannt, im Unentschiedenen zu bleiben. »Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segenshand, die nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand des verborgenen Gottes zu sehen, dessen Segensfülle unkenntlich wurde und uns nur noch wie in Versteinerungen überkommen ist, ob diese nun das erstarrte Zeremoniell der Religionen oder die erstarrte Glaubenskraft der Menschen sein mägen. Aber wieder wird es so sein, daß das Gedicht darüber nichts entscheidet, wer hier »Du« ist. Seine alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der in >deiner< Hand - wessen Hand es auch sei - nach Segen sucht. Was er findet, ist >versteinerter< Segen. Ist das noch Segen? Ein letztes an Segen? Aus deiner Hand?«'7
Ich will Ihnen nun anvertrauen, was ich, zu Recht oder zu Unrecht, im Nachklang dieser letzten Fragen weiterhin und unbedingt lebendig halten will. Mehr noch als die Unentschiedenheit an sich bewundere ich Gadamers ausgesprochenen Respekt gegenüber einer solchen U nentschiedenheit. Sie scheint zwar die Entzifferung der Lektüre zu unterbrechen oder aufzuheben, sichert jedoch tatsächlich deren Zukunft. Die Unentschiedenheit hält die Aufmerksamkeit immerzu in Atem, d. h. am Leben, wach und wachsam, bereit zu neuem Engagement auf ganz anderen Wegen, bereit, jenes andere Wort mit gespitztem Ohr und genauem Hinhören kommen zu lassen, im Atem des anderen Wortes und des Wortes des anderen gehalten - selbst dort, wo es noch unverständlich, unhörbar und unübersetzbar scheinen mag. Die Unterbrechung ist unentschieden, sie unentscheidet [indecideJ. Sie haucht der Frage ihren Atem ein, der nicht etwa lähmend wirkt, sondern sie in Bewegung bringt. Die Unterbrechung setzt sogar eine unendliche Bewegung frei. In Wahrheit und Methode kann Gadamer nicht umhin, den »endlosen Charakter des Dialoges« zu unterstreichen. In »Die Grenzen der Sprache« 17 Ebd., S. 405f.
f.
spricht er an mindestens zwei Stellen vom »unendlichen Prozeß«. Dieser charakterisiert einerseits das Gespräch im allgemeinen, so daß es »vom hermeneutischen Standpunkt aus [... ] kein Gespräch gibt, das zu Ende ist~ bevor es zu einem wirklichen Einverständnis geführt hat«.18 Wenn es stimmt, daß kein Dialog in Wahrheit jemals abgeschlossen ist, so liegt das daran, daß ein »wirkliches Einverständnis, ein ganz vollständiges Einverständnis zwischen zwei Menschen, dem Wesen der Individualität widerspricht«.19 Hierin erkennt Gadamer das Zeichen der Endlichkeit selbst. Ich würde sagen, daß die unterbrechende Endlichkeit eben dies ist, was den unendlichen Prozeß hervorruft. Eine Seite später wird andererseits der »unendliche Prozeß« als Charakteristikum des unabschließbaren Dialogs eines Übersetzers mit sich selbst genannt. Was meines Erachtens weiterhin lebendig bleiben sollte in diesen letzten Fragen Gadamers über das, was im Gedicht unentschieden gelassen wurde, ist die einzigartige und wahrscheinlich beabsichtigte Art und Weise, in der Gadamers Rhetorik die Sache wendet. Es handelt sich dabei in Wahrheit um etwas anderes als eine rhetorische Wendung. Über das Rhetorische einer Trope hinausgehend, sagt Gadamer wortwörtlich, daß das Gedicht selbst nichts entscheiden werde. Das Gedicht ist hier durchaus schon das Subjekt, von dem gerade die Rede war. Wenn es überhaupt eine Initiative behält, die scheinbar souverän ist, unvorhersehbar, unübersetzbar, fast unleserlich, dann liegt das auch daran, daß eine verlassene Spur zurückbleibt, die plötzlich unabhängig wird von dem, was der Unterzeichner bewußt und eigentlich sagen wollte, eine Spur, die zwar von einem Bezugspunkt zum nächsten irrt, dies aber nach einer geheimen Regel - und die dazu bestimmt ist, in einem »unendlichen Prozeß« die Entzifferungen eines jeden künftigen Lesers zu überleben. Wenn 18 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 359. 19 Ebd.
es so ist, daß das Gedicht wie eine jede Spur auf diese Art und Weise schicksalhaft verlassen und von seinem Ursprung und Ende abgeschnitten ist, dann macht es diese doppelte Unterbrechung nicht nur zu jenem unglücklichen Waisenkind, als das in Platons Phaidros die Schrift bezeichnet wird. Dieses Verlassensein, das anscheinend dem Gedicht den Vater raubt, es von ihm emanzipiert und trennt, von einem Vater, der die Berechnung der Unberechenbarkeit einer unterbrochenen Abstammung aussetzt; diese unmittelbare Unlesbarkeit ist dann auch die Quelle, die es dem Gedicht erlaubt, einen Segen zu erteilen (vielleicht,. nur vielleicht), zu geben, zu denken zu geben, seine Tragweite abzuschätzen, zu lesen zu geben, zu sprechen (vielleicht, nur vielleicht). Vom Herzen seiner Einsamkeit aus vermag das Gedicht selbst - und über sich selbst - stets durch seine unmittelbare Unlesbarkeit hindurch zu sprechen. Und zwar hier auf durchsichtige, dort auf eine mit esoterischen Tropen durchsetzte Weise, die eine Einweihung und eine Technik des Lesens erfordern. Diese Selbstreferentialität bleibt stets ein Anspruch an den anderen, und sei es an den unzugänglichen anderen in uns. Sie hebt den Bezug auf das Nicht-Aneigenbare keineswegs auf. Selbst dort, wo das Gedicht von der U nlesbarkeit, seiner eigenen Unlesbarkeit spricht, behauptet es gleichzeitig die Unlesbarkeit der Welt. Ein anderes Gedicht Celans 2G beginnt so: UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt. 20
UNLESBARKEIT dieser Welt. Alles doppelt
Die starken Uhren Geben der Spaltstunde recht, heiser. Du, in dein Tiefstes geklemmt, entsteigst dir für immer.
aus: Schneepart (1971), in: Gesammelte Werke, Band II. (Gedichte 2), S·33 8.
Und wenig später zögert man beim Versuch, das »Du« zu identifizieren, das das Gedicht aufruft: irgend jemand, mancher, das Gedicht selbst, der Dichter, der Leser, die Abgrundtiefe dieser oder jener für immer verschlüsselten Einzigartigkeit, jeder andere, Gott, Du und ich (Du, in dein Tiefstes geklemmt . .. ).
UI.
Werden wir auch nur in der Lage sein, die Abfolge oder Stellvertretung der bestimmten Artikel (männlichen, weiblichen oder neutralen Geschlechts) richtig zu lesen, werden wir die Kraft haben, sie zu übersetzen, im Versuch einer Antwort, in der Übernahme einer Verantwortung; besonders auch jene Folge der persönlichen Fürwörter (ich, er, dich), die als Pronomen genausogut für Lebendiges wie für Totes stehen können, für Tiere, Menschen oder Götter, und auf kunstvolle Weise das Gedicht skandieren, das folgendermaßen schließt:
ganze Sinn des Gedichts in seiner Last zu tragen aufgegeben, das, wie man dann gleich weiter vermutet, überhaupt nur da ist, um vorab auf ihn hinzuweisen oder ihn zu illustrieren. Der letzte Vers ist jedoch vom Rest des Gedichts gesondert und getrennt durch die abgründige Dauer eines weißen Verstummens, vergleichbar einem aus den Fugen geratenen Aphorismus, einer Sentenz oder einem Urteil aus ferner Zeit. Er folgt auf eine spürbare, überlange Unterbrechung, bei der man versucht ist, sie mit virtuellen Diskursen, Bedeutungen oder endlosen Meditationen aufzufüllen, wenn nicht gar zu überfüllen. GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG mit dem sich hinaus- und hinwegwühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:
der verkieselten Stirn eines Widders brenn ich dies Bild ein, zwischen die Hörner, darin, im Gesang der Windungen, das Mark der geronnenen Herzmeere schwillt.
Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Ich lese das Gedicht ein weiteres Mal, eigentlich müßte man es endlos tun. Ich hebe dabei diesmal die persönlichen Fürwörter hervor, als ob ich unterstellen wollte, der Anspruch dieses Gedichts erstreckte sich auch auf Gadamers Celan-Buch: Wer bin Ich und wer bist Du? Ich tue dies nicht ganz unbefangen, als ob ich mir erlauben würde, darin ein Postskriptum einfließen zu lassen. Fast wie auf einem Wachtposten wacht über jeder Strophe, unübersehbar und unüberhörbar - es wird Ihnen nicht entgehen ein je anderes Fürwort: sich, ich, er bei jeder der drei Strophen, ich und dich beim letzten Vers. Dieser sagt etwas aus über die Tragweite (tragen), die wir uns versuchsweise denken wollen. Man könnte beinahe meinen, ihm sei der
Wogegen rennt er nicht an? Die Welt ist fort, ich muß d ich tragen. Was Sie hier zu hören bekommen, sind bestenfalls Hilfe21 rufe, bei aller Verwegenheit des folgenden Abenteuers. 21
Jene begannen wahrscheinlich während eines diesem Gedicht gewidmeten Seminars vor einigen Monaten in New York (New York University). Avital Ronell und Werner Hamacher waren dort meine Gesprächspartner. Ihnen sei hier gedankt.
Ich bin mir hier über gar nichts sicher, und wenn ich mir auch sicher bin, daß überhaupt niemand hier das Recht hat, sich irgendeiner Sache sicher zu sein, werde ich dies nicht ausnutzen. Zu glauben, es gebe eine verläßliche Lesart, wäre bereits die erste Dummheit oder der schlimmste Verrat. Das Gedicht bleibt für mich der Ort einer einzigartigen Erfahrung. Das Berechenbare und das Unberechenbare verbünden sich dabei nicht nur in der Sprache eines anderen, sondern in der Fremdsprache eines anderen, ' der mir die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit zum Gegenzeichnen gibt (was für ein zweifelhaftes Geschenk): Das Unlesbare steht dem Lesbaren nicht mehr entgegen. Indem es unlesbar bleibt, scheidet es unendliche Lektüremöglichkeiten aus und verheimlicht sie, im selben Corpus. Als ich auf das Gedicht gestoßen bin, habe ich mich in meiner Faszination, das gestehe ich als möglichen Fehler ein, sogleich auf den letzten Vers gestürzt. Gierig habe ich mir damals eine Vielzahl von Bedeutungen zu eigen gemacht, mit Hilfe welcher Hypothesen, sage ich Ihnen später noch, als wären es Aufführungen, Inszenierungen, mögliche Welten, als wären es Anschreiben, bei denen mit ich und du alle möglichen Menschen und alle möglichen Dinge belegt werden konnten, angefangen beim Dichter, dem Gedicht oder ihrem Adressaten, in der Literaturgeschichte oder im Leben, zwischen der Welt des Gedichts und der Welt des Lebens, sogar noch über jene Welt hinaus, die fort ist. Ich versuchte also zunächst, den letzten Vers ins Französische zu übersetzen. Sein grammatisches Präsens enthält mehr als nur eine Zeit: Die Welt ist f~rt: Die Welt ist schon fort, die Welt hat uns verlassen, die Welt ist nicht mehr, die Welt ist fern, die Welt ist verloren, die Welt ist aus den Augen, die Welt ist außer Sichtweite, die Welt ist fortgegangen, der Welt Adieu, die Welt ist verstorben etc. Aber welche Welt, was ist die Welt? Und, früher oder später: Was ist diese Welt hier? In ihrer ganzen Reich-
weite alles unvermeidliche Fragen. Natürlich werde ich noch einmal auf jene ersten Schritte zurückkommen, auf jenes Ich muß dich tragen, das scheinbar leichter zu übersetzen, aber ebenso schwer zu deuten ist. Ich werde jetzt nicht vor Ihnen verschiedene Verfahren theoretischen oder methodologischen Vorgehens entfalten, ich habe. dies an anderer Stelle versucht, hier fehlt mir die Zeit dazu. Ich werde also nicht, zumindest nicht direkt, von jener unüberschreitbaren und doch stets schon mißbräuchlich überschrittenen Grenze sprechen zwischen einerseits formalen Herangehensweisen, die natürlich unerläßlich sind, aber selbst schon thematisch und polythemathisch erscheinen, und - wie es sich für jede Hermeneutik gehört - der Entfaltung expliziter wie impliziter Sinngehalte aufmerksam nachgehen, auf semantische Zweideutigkeiten aufmerksam machen, auf Überbestimmungen, auf die Rhetorik, auf das, was der Autor bewußt sagen will, wie auf alle idiomatischen Ressourcen des Dichters und seiner Sprache etc; und andererseits einer disseminalen Lese- und Schreibpraxis [lecture-ecriture], die zwar versucht, all dies mitzubedenken, ihm Rechnung zu tragen, seine N otwendigkeit anzuerken~en, sich aber auch noch auf einen Rest oder irreduziblen Uberschuß erstreckt. Das Überschießende jenes Restes entzieht sich schlechthin jeder Zusammenstellung in einer Hermeneutik. Jene Hermeneutik wird vielmehr erst durch diesen Überschuß notwendig, sie wird durch ihn erst möglich, wie er hier unter anderem auch die Spur des dichterischen Werks möglich macht, ihre Preisgabe oder ihr Überleben, über die Frage hinaus, wer der Unterzeichner oder jeweilige Leser ist. Ohne diesen Rest gäbe es nicht einmal den Anspruch, die Weisung, den Ruf, die Provokation, die in jedem Gedicht singende oder singen lassende Provokation, in jenem, was man mit Celan als Singbarer Rest bezeichnen könnte, gemäß einem Titel oder Anfang eines anderen Gedichts der Atemwende . ~
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Zwar dürfen wir keine Mühe scheuen in unserem Versuch, den bestimmbaren Sinn jenes Gedichtes herauszufinden, das folgendermaßen schließt und unterzeichnet ist: Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Aber nehmen wir einmal an, wir könnten tatsächlich verstehen und ausmachen, was Celan sagen wollte, von welchem datierbaren Ereignis in der Welt oder in seinem Leben er Zeugnis ablegt, wem er das Gedicht widmet oder an wen es adressiert ist, wer das Ich, das er und das dich im ganzen Gedicht und, davon möglicherweise verschieden, wer es im jeweiligen Vers ist. Und selbst dann würden wir nicht die Spur jenes Restes ausschöpfen, das Übrigbleiben selbst dieses Restes, der uns, für uns das Gedicht zugleich lesbar und unlesbar macht. Wer ist übrigens dieses »wir«? Wo ist sein Ort, von dem Moment an, da es zwar aufgerufen ist, aber doch schweigt oder zumindest niemals als solches vorkommt im Gedicht, das ausschließlich und durchgängig nur Ich, du, er beim Namen nennt. Sein Schibboleth setzt sich uns aus und entzieht sich uns, es erwartet uns, wir erwarten uns noch selbst eben dort, wo Niemand/ zeugt für den/ Zeugen. 22 Am Rande eines Abgrundes, nach dem Weiß einer vielleicht unendlich dauernden Pause, steht der letzte Seufzer, das Aushauchen des Gedichts Die Welt ist fort, ich muß dich tragen, als ein Vers, der allem Anschein nach aus den Fugen geraten ist. Er erscheint aber auch wiederum von Celan eingebunden in und verbunden mit dem Werk, das seiner Form nach für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Für sich genommen hätte dieser Vers auch an anderer Stelle stehen können, wobei er auch dort seine Sinnressourcen nicht verloren und zu neuen Lesarten Anlaß gegeben hätte. Zwar ist der Atem dieses Seufzers in der Atemwende Träge~ des Gedichts (Gadamer würde vielleicht sagen, vielleicht ein wenig übereilt, das Subjekt des Gedichts); 22 Gesammelte Werke, Band II (Gedichte 2), S. 72.
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doch wird er, in seiner eigentlichen Tragweite und der Musik in dem, was er mit sich trägt, ebenso getragen, ertragen, ja gar eingeflüstert von dem, was ihm vorangeht, ihn erst ankündigt und hervorbringt. Um nun aber mit dem sichersten und einfachsten anzufangen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß die formale Gliederung in dreizehn und einen Vers erstaunlich kunstvoll erscheint. Ich hebe nur vier Hauptzüge in der orchestralen Architektur ihrer Komposition hervor: I. Grammatikalisch gesehen, wird jedes ihrer Verben im Präsens konjugiert. Alles läuft so ab, als ob die Rede niemals die Präsenz eines Präsens verließe, auch wenn dieser grammatikalische Anschein jene sehr ungleichartigen Zeitlichkeiten verbirgt, die er tatsächlich ins Werk setzt. Ich werde gleich noch darauf zurückkommen. 2. Zwischen diesen Präsensformen skandiert die Zeichensetzung in vier Phasen das Gedicht auf eine deutlich sichtbare Weise und mit sichtlichen Unterschieden bei ihrer Anordnung: a) Doppelpunkt nach der ersten Strophe (wobei die zweite dann als deren Erklärung oder Übersetzung erscheint, nach einer Art implizitem »das heißt«); b) ein Punkt nach der zweiten Strophe; er bringt eine Darstellung zum Abschluß; c) ein Fragezeichen nach der dritten, dreizeiligen Strophe: es ist die einzige Frage im Gedicht; d) ein Endpunkt, dann endlich, nach der Sentenz, dem Spruch des Anspruchs, der Sentenz, dem Urteil, der letzten Berufung, dem Sagen oder dem Diktum, ja sogar dem Verdikt des Gedichts, das dem veridictum ähnlich ist, der Wahrheit der Dichtung. 3. Wenn wir nach dem grammatikalischen Tempus der Verben und der Zeichensetzung nun den Wechsel der Personen und der persönlichen Fürwörter analysieren, so stellen wir fest, daß zwischen dem »sich« am Anfang und dem »dich« am Ende »er« dem »ich« nachfolgt (brenn ich ... Wo- / gegen / rennt er nicht?), in einer Windung fragend 31
verneinender Art. Diese fragend verneinende Wendung [tournureJ prägt dem ganzen Gedicht eine Verdrehung [torsionJ ein, ich würde sogar sagen eine krampfhafte Qual [tourmentJ, die vorab schon ihr schmerzliches Zeichen in der Unterschrift des letzten Verses hinterläßt. 4. Zuletzt: Ob man die grammatikalischen Präsensformen gemäß der Zeit ihrer Aussage oder hinsichtlich der Zeit ihres tatsächlichen Aussagens im Gedicht analysiertalle verweisen sie nicht nur auf verschiedene Formen der Gegenwart, sondern auch jedesmal, und jede von ihnen für sich, auf radikal verschiedenartige Zeitlichkeiten, auf inkommensurable Zeitordnungen oder chronologische Zeitfolgen, die füreinander anachronistisch bleiben und ohne gemeinsamen Nenner. Und folglich unübersetzbar. Unverhältnismäßig. Unübersetzbar ineinander, ohne Analogie. Anders gewendet: Man kann allenfalls versuchen, das eine in das andere zu übersetzen. Das macht das Gedicht wohl selbst; es schreibt, es unterschreibt und schreibt vor. Es ereignet sich, indem es sich so übersetzt - indem es bis zur Atemlosigkeit jenen »unendlichen Prozeß« der Übersetzung ablaufen läßt, von dem, wenn ich dies noch auf französisch sagen darf, taut Ci, l'heure die Rede war. Was ereignet sich zwischen den vier entbundenen und verbundenen Zeitlichkeiten, gemäß ihrer ent-verbundenen Schreib art [ecriture des-aj ointeeJ? A. Am Anfang steht ohne Zeitwort stumm und schweigend ein Bild (Bild oder Gemälde):
der verkieselten Stirn eines Widders brenn ich· dies Bild ein, zwischen die H ärner, darin, im Gesang der Windungen, das Mark der geronnenen Herzmeere schwillt. N ach dem Bild, vor dem Hintergrund des Bildes, aber auch um die Handlung, für die es gleichsam die Theaterkulisse bildet, zu beschreiben oder zu erklären, erscheint nach dem Doppelpunkt eine Handlung wie die Dauer einer Erzählsequenz. c. Nach dem Gemälde und der Handlung, nach der Kulisse und einer Art performativer Erzählung steht alles still angesichts einer negativen Frage, markiert durch ein Fragezeichen:
Wogegen rennt er nicht an? D. Zum Schluß erscheint das Präsens der Verantwortlichkeit, es simuliert zumindest eine indirekte Antwort auf die negative und besorgte Frage, zwischen Erschrecken und Bewunderung vor dem so unheimlich erscheinenden: die Sentenz zwischen der Pflicht und dem Versprechen, den anderen zu tragen, dich zu tragen, die Wahrheit des Verdikts am Rande des Endes der Welt:
GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG
mit dem sich hinaus- und hinwegwühlenden Schwarzgestirn-Schwarm: B. Darauf folgt eine Handlung: das performative Präsens einer ersten Person:
Die Welt ist fort, ich muß d ich tragen. Man könnte mit der Analyse der formalen Gliederung fortfahren, und um ein Beispiel unter vielen anderen herauszugreifen, sich dem nähern, was man ein In-Schwingung-Bringen des Silbenspiels [syllabaireJ nennen könnte. Die Buchstaben sind gemurmelt, gehaucht, ausgehaucht, 33
r seufzend oder pfeifend: zwischen den sc h - zwischen sc h w a und sc h w i - (5 c h warzgestirn 5 c h warm ... zwis c h en ... sc h willt), die Ws (W ölbung, weg, w ühlenden, Welt), und auf noch bestimmtere Weise, die W i s (W i dders, Windungen, schw i llt). Diese Formanalyse kann man weit treiben. Und man muß das auch. Sie scheint dabei aber nicht sehr gewagt. Sie gehört noch in das Reich der berechenbaren Sicherheiten und entscheidbaren Evidenzen. Ganz anders jedoch liegen die Dinge bereits im Falle einer hermeneutischen Antwort auf den Anspruch des Gedichts oder im inneren Dialog des Lesers oder Gegen-Zeichners. Diese Antwort wie auch deren Verantwortlichkeit kann unendlich und ununterbrochen weiterverfolgt werden, sie geht von einem Sinn zum anderen, von Wahrheit zu Wahrheit, ohne ein anderes berechenbares Gesetz als jenes, das der Buchstabe und die formale Gliederung des Gedichts ihr zuweisen. Aber obwohl sie unter demselben Gesetz steht, ihm auf ewig unterworfen ist und ihm genauso verantwortlich bleibt, macht und erleidet jene Erfahrung, die ich eine disseminale nenne, durch das Moment der Hermeneutik selbst, direkt an der Hermeneutik, die Prüfung einer Unterbrechung, einer Zäsur oder einer Verkürzung, einer leichten Verletzung. Was so offensteht, gehört nicht mehr der Ebene des Sinns an, auch nicht der Ebene der Phänomene oder der Wahrheit, sondern macht jene erst möglich in ihrem Übrigbleiben, es zeichnet in das Gedicht den Hiat einer Wunde ein, deren Lippen sich niemals schließen oder zusammenkommen. Jene Lippen formen sich um einen sprechenden Mund herum, der, selbst wenn er schweigt, noch den anderen ohne Vorbedingung anruft, und dies in der Sprache einer Gastfreundschaft, die nicht einmal mehr zur Entscheidung steht. Eben weil diese Lippen selbst an ihrem Ende niemals mehr zueinander kommen, weil sich die Verbindung der so Verbundenen nicht mehr in einem erfüllbaren Kontext absichern läßt, bleibt der Vorgang 34
zwar immer unendlich, aber diesmal auf eine diskontinuierliche Weise. Das heißt, auf eine andere Weise endlich und unendlich. Hier, alleingelassen in der Weltferne, kann es geschehen, daß das Gedicht winkt oder segnet, den 'l.nderen trägt, ich will sagen »dich«, wie man gleichermaßen Trauer trägt und ein Kind austrägt, von der Empfängnis über die Schwangerschaft bis zum Auf-die-Welt-Kommen. In der Schwangerschaft. Das Gedicht ist das »dich« und das »ich«, das sich an »dich« wendet, aber auch jeder andere.
IV. Versuchen wir nun dem hermeneutischen Anspruch an sich gerecht zu werden, soweit es überhaupt nur möglich ist, dabei aber auch jener einzigartigen Andersheit [alterite], die ihn selbst über sich selbst hinausträgt, in sich jenseits seiner selbst. Gehen wir, befangen wie wir sind, die Konstellation dieses Gedichts an, das auch das Gedicht einer gewissen Konstellation ist, der Konfiguration der Sterne im Himmel, über der Erde, ja sogar jenseits der Welt. Wenn auch diese Konstellation niemals so zustande kommt, so scheint sie doch verheißen zu sein oder zumindest sich von der ersten Strophe an, die ich oben als Bild bezeichnet habe, anzukündigen. Leuchtend, strahlend, funkelnd, weißglühend belebt sich die Wölbung des Himmelsbogens (Große glühende Wölbung) mit animalischem Leben. Der gestirnte Schwarm schwarzer Sterne reißt den Schwung des Gedichts in eine getriebene, treibende, überstürzte Bewegung einer wahrlich planetarischen Irrfahrt. Der griechische Name hinterläßt hier seine Spur, eine Irrfahrt mit planetarischer Bestimmung. JtAav~'tYJ~ bedeutet »umherirrend«, »nomadenhaft«, was man manchmal richtigerweise von umherirrenden Tieren sagt. JtAavYJ'tLx.6~ bedeutet unstet, aufgewühlt, stürmisch, unvorhersehbar, unregelmäßig; JtAavo~ sagt man von einem Irrlauf, aber 35
auch von der Abschweifung in Rede und Schrift, also auch im Gedicht. Liegt es allein am Schwarm der Sterne, daß jene Konstellation beseelt, sogar animalisch erscheint? N ein, denn schon bald tritt im Gedicht ein Widder in Erscheinung: als Opfertier, Holzramme, kriegerischer Rammbock, der im Sturm auf Burgen, Tore und Mauern bricht (Mauerbrecher). Widder ist auch noch der Name eines Tierkreiszeichens (21. März). Der zodiakos (von zodion, einer Verkleinerungsform von zoon, das Lebewesen) zeigt sowohl Stunde als auch Datum an (je nachdem, wo der Lichtschein auf der Ellipsenbahn erscheint). Die Konjunktion der Sterne bei einer Geburt zeigt das Horoskop. Wie der Name schon sagt, macht die H oroskopie sichtbar, was die Stunde geschlagen hat im Schicksal einer menschlichen Existenz. So wird aus der Himmelswölbung vor unseren Augen eine Kalenderskala, deren Bild als Hintergrund des Gedichts figuriert. Es ist die elliptische Verkürzung einer unabschließbaren Meditation über das, was Heidegger die Datierbarkeit genannt hat. Alle geheimen Zeitpunkte Qahrestage wie auch einzigartige und kryptische Ereignisse, die wiederkehren, wie Geburt, Tod etc.) kann man in diesem Kalender immer suchen, finden oder auch niemals finden, auf einem Weg, den ich in Schibboleth. Für Paul Celan 23 erforscht habe. Wir können gar nicht, was wir hier müßten, nämlich das Gedicht im Echoraum des gesamten Celanschen Werks anhören, durch das hindurch, was er als Erbe übernimmt, indem er es wieder neu erfindet, in jedem seiner Themen, Tropen, ja sogar in seinen Vokabeln, die manchmal für ihre Prägung und Verbindung auf die Einzigartigkeit eines Gedichts angewiesen sind. Man könnte dies sogar noch auf das Silbenspiel ausweiten. Ich beschränke mich auf eines unter so vielen anderen möglichen Beispielen: Der Tierkreisbogen erinnert hier an eine ganze Reihe weiterer Horoskop-Konstellatio23 2. Auflage (übersetzt von Wolfgang Sebastian Baur), Wien 1996. Zur "Datierbarkeit« insbesondere bei Heidegger vgl. S. 33.
nen oder kündigt sie an. So beginnt in der Niemandsrose das Gedicht UND MIT DEM BUCH AUS TARUSSA (nach dem Marina Zwetajewa entlehnten Motto: »Alle Dichter sind Juden«) mit den Versen Vom / Sternbild des Hundes. Diesmal ist der Stern hell (vom/ Hellstern darin .. . ). Vielleicht ist es ein gelber Stern (mein gelber Fleck, mein blinder Fleck, mein Judenfleck, heißt es in einem anderen Gedicht Celans).24 Das Ghetto ist nicht fern. Nach einer Anspielung auf die drei Gürtelsterne Orions ruft Celan noch die Himmelskarte auf. In HÜTTENFENSTER ist davon die Rede, wie der Mensch als Dichter wohnen würde, wenn alle Dichter Juden wären: [...] ... geht zu Ghetto und Eden, pflückt das Sternbild zusammen, das er, der Mensch, zum Wohnen braucht, hier, unter Menschen, [... ] Auf den Doppelpunkt folgt die längste Strophe mit sechs Versen, in der man meinen könnte, es werde nun eine Handlung vor dem Hintergrund oder besser hinter dem Hintergrund jener Himmelswölbung erzählt, in der es von animalischem Leben nur so wimmelt. Es erforderte Stunden und Jahre, um ihre Vielstimmigkeit zu entziffern. Man müßte, unter manch anderem, sowohl die Bibel als auch den Celanschen Textkorpus von Anfang bis Ende durchzitieren. Die verkieselte Stirn eines Widders erinnert zunächst an die schwarze Konstellation (Stirn, Schwarzgestirn ) der Himmelswölbung, aber auch an das Motiv der 24 EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE GESUNGEN ZU PARIS EMPRES PONTOISE VON PAUL CELAN AUS CZERNOWITZ BEI SADAGORA
aus: Die Niemandsrose, in: Gesammelte Werke I (Gedichte r), S. 229. Macula, der Name des Flecks (das Gelbe am Grunde des Auges) behält sehr wohl jene Konnotation eines Zeichens, das das Unbefleckte befleckt, besudelt oder anklagt, wie eine Ursünde des Sehens.
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Versteinerung, von dem wir gerade schon ein Beispiel hatten (versteinerter Segen) und dessen verblüffende Wiederkehr im Werk Celans sich verfolgen ließe. Was ist das aber für ein Bild, das »ich« in die Stirn jenes rätselhaften Widders präge (rätselhaft, denn es kann ja auch eine Widder-Sphinx sein, deren Botschaft noch zu entziffern ist; diese Bedeutung hat Widder ja auch), das ich einschreibe und zwischen die Hörner einbrenne (brenn ich dies Bild ein)? Natürlich kann diese Inschrift immer auch eine Gestalt oder eine Form (Bild) des Gedichts selbst sein, das sich auto-deiktisch und performativ selbst hervorbringt, indem es seine Unterschrift oder sein versiegeltes Geheimnis, sein Siegel in gewisser Weise zur Sprache bringt. Die Anspielung auf den Gesang, noch mehr auf die Wendungen und Drehungen der Tropen oder Strophen (im Gesang der Windungen) kann nicht umhin, auch etwas über das Gedicht im allgemeinen, und auf einzigartige Weise über das vorliegende Gedicht zu sagen. Es stimmt schon: Es gibt keine in sich geschlossene Autotelie in dieser Hypothese; wir sollten das nie vergessen, uns aber jetzt nicht zu lange damit aufhalten. Eingerahmt von jenem Leben, animalisch wie kein anderes, es war gerade mehrfach schon davon die Rede, und dem Tod oder der Trauer, die den letzten Vers heimsuchen (Die Welt ist fort, ich muß dich tragen), erinnern der Widder, seine Hörner und sein Brandmal wahrscheinlich an einen bestimmten Augenblick in einer Opferszene des Alten Testaments und lassen sie vor unseren Augen wieder aufleben. Sie ist mehr als ein Brandopfer (holocauste). Ersatz des Widders. Brandmal. Fesselung Isaaks (Genesis XXII). Na~h dem Abraham zum zweiten Mal gesagt hatte »Hier bin ich«, und der von Gott geschickte Engel das zum Töten erhobene Messer Abrahams in der Luft angehalten hatte, wendet sich dieser um und sieht, wie sich ein Widder mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat. Er opfert ihn als Brandopfer an Stelle seines Sohnes. Gott verspricht 38
daraufhin, ihn zu segnen und seine Nachkommenschaft so zahlreich zu machen wie die Sterne am Himmel, vielleicht auch wie jene der ersten Strophe. Sie können auch fürchterliche gelbe Sterne werden, sogar noch im Gedicht. Und wiederum ist es ein Widder, neben einem jungen Stier, der von Moses, und zwar auf Befehl Gottes nach dem Tod der beiden Söhne Aarons, als Brandopfer geopfert wird, in einer überwältigenden Sühneszene, in der für die Unreinheiten, Missetaten und Sünden Israels Buße getan wird (Levitikus XVI). Ein Widder wurde oft auch zu anderen Anlässen geopfert (Friedensangebote, Sühne, Bitte um Vergebung etc.). Entsprechend viele in Stein gemeißelte Darstellungen sind uns überliefert. Man sieht dort so oft die Hörner des Widders gleichsam in sich eingerollt, vielleicht auf der verkieselten Stirn des Tieres (der verkieselten Stirn eines Widders). In der gesamten Kultur des Alten Testaments werden die Hörner des Widders zu jenem Instrument, dessen Musik einen Atemhauch verlängert und die Stimme trägt. In dem, was einem Gesang ähnelt, der wie ein Satz interpunktiert ist, erhebt sich der Ruf des Schofar gen Himmel und erinnert an die Brandopfer, er hallt nach im Gedächtnis aller Juden der Welt. Dieser Gesang herzzerreißender Freude ist untrennbar von der sichtbaren Form, die ihm einen Durchgang sichert: von den seltsamen Spiralen, Kreisen und Umkreisen, Drehungen oder Verdrehungen des Horn-Körpers. Im Gesang der Windungen spielt vielleicht auf diese Wendung des Atems, ich wage nicht zu sagen Atemwende an. Am ersten Tag des Kalenders, am jüdischen Neujahrstag, wird jener bekannteste Ritus wiederholt, der allerdings nicht der einzige ist, zu dem man in allen Synagogen der Welt die Erzählung von der Fesselung Isaaks liest (Genesis XXII). Das Schofar kündigt auch das Ende des Yom Kippur an. Alle Juden der Welt verbinden damit seitdem Sündenbekenntnis, Sühne und Vergebung, die erbeten, gewährt oder verweigert wird. Gegenüber anderen oder sich selbst. 39
Zwischen zwei Schicksals daten, zwischen dem Neujahrstag und dem Tag der Großen Vergebung, kann Gottes Schrift, von einer Stunde zur anderen, die einen im Buch des Lebens tragen, und die anderen nicht. Jeder Jude fühlt sich dann an der Grenze zu allem, an der Grenze des Ganzen, zwischen Leben und Tod, wie zwischen Wiedergeburt und Ende, zwischen der Welt und dem Ende der Welt, das heißt der Trauer tragenden Vernichtung des anderen oder seiner selbst. Was geschieht nach der Interpunktion dieser zweiten Strophe? Diese schließt also mit dem ersten Punkt dieses Gedichts ab, nach dieser Handlung oder dieser Dramaturgie eines Opfervollzugs. Er ist der ersten Person eines Dichters auferlegt, der in ein und demselben Gestus sein Bild einprägt und brennt (brenn ich dies Bild). Auf diesen ersten Punkt folgt die Frage, das einzige Fragezeichen des Gedichts: Wo- / gegen / rennt er nicht an? Wenn die Alliteration an die Brutalität des Opfers erinnert (das Mark der geronnenen Herzmeere schwillt), kann das Anrennen und Anstürmen des Widders ebensogut die Bewegung des Tiers beschreiben als auch jene des Holzbalkens, sogar des Baumstamms. Ihr Lauf, ihr Vorstoß, ihr Ansturm bringt sie dazu, sich Kopf voraus zu überstürzen, um anzugreifen oder sich zu verteidigen, um den Schutz des Gegners zu erschüttern. Es ist Krieg, und der Widder, der Widder aus Fleisch oder aus Holz, der Widder auf Erden oder im Himmel, stürzt sich ins Rennen. Er rennt, um den Gegner einzurennen. Es ist ein Anrennen, eine charge (In- / to what / does he not charge? um die scharfsinnige Übersetzung von Michael Hamburger zu zitieren). Diese charge die Zweideutigkeit zwischen den Sprachen eröffnet hier mehr als eine Möglichkeit -, ist sie nicht auch eine Anklage oder ein zu zahlender Preis (charge im Englischen), also die Begleichung einer Schuld oder das Sühnen einer Sünde? Belädt nicht der Widder seinen Gegner, sei es ein
Opfernder oder eine Mauer, mit allen Verbrechen? Denn die Frage ist, wir merkten es bereits an, in negativer Frageform gehalten: Wogegen rennt er nicht an? Was greift er nicht an? Er kann es tun, um anzugreifen oder sich zu rächen, er kann den Krieg erklären oder auf das Opfer antworten, indem er dagegen protestiert. Der Ausbruch seines aufgebrachten Unverständnisses würde nichts und niemanden auf der Welt verschonen. Niemand auf der Welt ist unschuldig, nicht einmal die Welt selbst. Man stellt sich den Zorn jenes Widders vor, des Widders Abrahams und Aarons, die unendliche Auflehnung des Widders aller Brandopfer. Aber auch, in übertragenem Sinne, die gewaltsame Rebellion aller Sündenböcke, aller Stellvertreter. Warum ich? Die Widrigkeiten, die Widersacher wären überall. Die Stirne seines Protestes ließe den Widder gegen das Opfer selbst anrennen, gegen die Menschen und gegen Gott. Er würde ihrer gemeinsamen Welt endlich ein Ende setzen wollen. Der Widder würde gegen alles und jeden anrennen, in alle Richtungen, als wäre er blind vor Schmerz. Der Rhythmus dieser Strophe, Wo- / gegen/ rennt er nicht an?, skandiert treffend die ruckartige Bewegung dieser Stöße. Wenn man sich daran erinnert, daß Aaron zusätzlich zu dem Widder auch einige junge Stiere opferte, so denkt man an das letzte Sich-Aufbäumen des Tieres vor seiner Tötung. Der Torero ähnelt auch einem Opferpriester. Soviel hier Hypothese ist, soviel bleibt natürlich unentschieden. Dies bleibt für immer das eigentliche Element der Lektüre, ihr »unendlicher Prozeß«: Die Zäsur, der Hiat, die Ellipse sind alles Unterbrechungen, die zugleich öffnen und schließen. Sie halten den Zugang zum Gedicht für immer auf der Schwelle zu seinen Krypten (eine unter ihnen, nur eine, würde sich auf eine einzigartige und geheime, ganz andere Erfahrung beziehen, deren Konstellation nur dem Zeugnis des Dichters oder einiger weniger zugänglich ist). Die Unterbrechungen eröffnen so, auf dis41
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seminale und nicht zu erfüllende Weise, unvorhersehbare Konstellationen, so viele weitere Sterne, von denen manche vielleicht noch jener Nachkommenschaft ähneln mögen, von der Jahwe zu Abraham, nach der Unterbrechung des Opfers, sagt, daß er sie so zahlreich wie Sterne machen wird: Die Preisgabe der hinterlassenen Spur ist auch die Gabe des Gedichts an alle Leser und Gegen-Zeichner die, immer noch unter seinem Gesetz, jenem der Spur am Werk, der Spur als Werk, mitreißen werden oder sich mitreißen lassen zu einer ganz anderen Lektüre oder GegenLektüre. Diese wird auch manchmal, von einer Sprache zur anderen, in der abgründigen Gefahr der Übersetzung, eine inkommensurable Schrift sein. Was so für die Verse gilt, die wir soeben zitiert haben, muß das nicht auch a fortiori für den letztenVers gelten? Die Welt ist fort, ich muß dich tragen: Dies ist die Sentenz, der Celan zugebilligt hat (was für eine Entscheidung, und von woher wurde sie ihm diktiert?), wie einer vielleicht eschatologischen Unterschrift, das letzte Wort zu sprechen. In der Tat können wir sie unsererseits nur aussprechen nach einer deutlich markierten Unterbrechung. Der längsten des Gedichts. Wir müssen lange Zeit die Zeit unseres Atems anhalten, wieder Atem schöpfen, das tiefe Atmen eines ganz anderen Atems (es ist wie eine andere Wende, eine Revolution, eine Umkehrung des Atems, Atemwende), um zu seufzen oder um das Leben auszuhauchen: Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Vielleicht ist sie dort - man wird es aber nie wissen, und niemand hat die Macht, darüber zu entscheiden - die mögliche Antwort auf die Frage Wogegen rennt er nicht an? Die Sentenz ist ganz allein. Sie hält sich, stützt sich, sie begibt sich alleine auf eine Linie. Zwischen zwei Abgründen. Isoliert wie eine Insel, für sich stehend wie ein Aphorismus, sagt sie wohl etwas Wesentliches über die absolute Einsamkeit. Wenn die Welt nicht mehr ist, wenn sie im Begriff ist, nicht mehr hier, sondern dort zu sein, wenn sie
nicht mehr nah ist, wenn sie nicht mehr da ist, sondern fort, wenn sie nicht einmal mehr da ist, sondern fort in weiter Ferne, vielleicht unendlich unerreichbar, dann muß ich dich tragen, dich ganz allein, dich allein in mir oder auf mir allein. Es sei denn, man kehrte in einer Drehung um die Achse des ich muß die Satz- oder Verbordnung (von sein und tragen) und die Abfolge des wenn-dann um: Wenn (dort wo) es Notwendigkeit oder Verpflichtung dir gegenüber gibt, wenn (dort wo) ich dich, ich dich, tragen muß, dann neigt die Welt wohl zum Verschwinden, sie ist nicht mehr da oder dort, die Welt ist fort. Sobald ich verpflichtet bin, in dem Moment, da ich dir verpflichtet bin, in dem ich muß, in dem ich dir schulde, mir gegenüber schulde, dich zu tragen, sobald ich zu dir spreche und für dich oder vor dir verantwortlich bin, kann eigentlich keine Welt mehr dasein. Keine Welt kann uns mehr stützen, uns als Vermittlung, Boden, Erde, Fundament oder Alibi dienen. Vielleicht gibt es nur noch die abgründige Höhe eines Himmels. Ich bin allein auf der Welt, dort wo es keine Welt mehr gibt. Oder gar: Ich bin allein auf der Welt, sobald ich dir verpflichtet bin, sobald du von mir abhängst, sobald ich, unter vier Augen, von Angesicht zu Angesicht, ohne einen Dritten, Vermittler oder Schlichter, ohne auf Erden oder in der Welt einen eigenen Platz zu haben, die Verantwortung trage und übernehmen muß. Eine Verantwortung, der ich entsprechen muß, vor dir und für dich. Ich bin allein mit dir, allein nur für dich allein, wir sind allein: Diese Erklärung ist auch ein Engagement. Alle Protagonisten des Gedichts sind seine virtuellen Unterzeichner oder Gegen-Zeichner, ob sie genannt werden oder nicht: ich, er, du, der Widder, Abraham, Isaak, Aaron, die unendliche Nachkommenschaft ihrer Stammfolge, Gott I_ selbst. Ein jeder von ihnen wendet sich, wenn die Welt fort ist, an die absolute Einzigartigkeit des anderen. Alle Protagonisten hören, wie sie beim Namen gerufen werden, 43
und also auch der Leser oder Adressat des Gedichts, ich ~~lbst, wir selbst hier, sobald das Gedicht uns als einziger Uberlebender anvertraut ist und wir nun an der Reihe sind, es zu tragen, es um jeden Preis retten zu müssen, und sei es auch jenseits der Welt. Auch das Gedicht spricht zwar noch von sich selbst, jedoch ohne Autotelie und Selbstgefälligkeit. Im Gegenteil: Wir hören, wie es sich der Obhut des anderen anvertraut, sich unserer Obhut anvertraut und sich insgeheim in die Trag- und Reichweite [portee] des anderen begibt. Das Gedicht tragen heißt sich in seine Trag- und Reichweite begeben, es in jene des anderen bringen, es dem anderen zu tragen geben.
v. Ich möchte Ihre Geduld nicht strapazieren. Um mich nicht ganz unerträglich zu machen, beeile ich mich meinerseits, wenigstens zum Anschein eines Schlusses zu kommen, indem ich auf einer virtuellen Landkarte fünf Pflichtstationen eines potentiell unendlichen Parcours markiere - Gadamer hätte von einem »unendlichen Prozeß« gesprochen. Zwei dieser Punkte würden uns für immer bei dem Wort tragen aufhalten, drei weitere bei dem Wort Welt. 1. Zunächst tragen. Was bedeutet dieses Verb und das, was man hier zu tun hat, zum Beispiel, wenn man dieses Gedicht unterzeichnet? Niemand wird mit voller Gewißheit entscheiden können, an wen sich die Schlußsentenz richtet, als ein Gruß oder eine Zueignungsstrophe an den anderen. Dich kann einerseits ein Lebewesen bezeichnen: ein menschliches oder nicht menschliches, anwesendes oder nicht anwesendes, den Dichter eingeschlossen, an den sich das Gedicht seinerseits in einer Anrede auch wieder zurückwenden könnte, ganz allgemein auch den Leser und j eden Adressaten dieser Spur. Es kann auch ein Lebe44
wesen gemeint sein, das erst noch kommt. Das ich muß muß sich notwendig der Zukunft zuwenden. Es orientiert sich im Denken, wie Kant sagen würde, es orientiert sich auf den Orient dessen hin, was kommt, was noch im Kommen ist, was im Himmel aufsteigt und aufgeht. Über die Erde hinaus. Tragen sagt man geläufig auch von der Erfahrung, ein noch ungeborenes Kind zu tragen. Zwischen Mutter und Kind, eines im anderen und das eine für das andere, in diesem einzigartigen Paar von Einzelgängern, in der geteilten Einsamkeit zwischen einem und zwei Körpern verschwindet die Welt, sie ist in der Ferne, sie bleibt gewiss.ermaßen ein ausgeschlossenes Drittes. Für die Mutter, die ihr Kind trägt, gilt: Die Welt ist fort. 2. Wenn jedoch andererseits Tragen die Sprache der Geburt spricht, wenn es sich an ein anwesendes oder noch kommendes Lebewesen wenden muß, kann es sich doch auch an ein Totes wenden, an das Überlebende oder an deren Gespenster, und dies in einer Erfahrung, die darin besteht, den anderen in sich zu tragen, wie man Trauer trägt - und Melancholie erträgt. 3. Von nun an tauschen diese zwei möglichen Bedeutungen von tragen ihre verschiedenen Möglichkeiten mit drei Gedanken der Welt aus, oder zumindest mit drei Denkwelten von Welt, drei Weisen der Welt, fort zu sein, fort eher als da, fort in der Ferne, aufgehoben, neutralisiert oder abwesend und vernichtet. Die Welt ist fort: Dies kann als eine wesentliche Wahrheit immerwährend gelten, es kann sich aber auch nur ein einziges Mal ereignen, auf einzigartige Weise, in einer Geschichte, und dieses Vorkommnis wäre dann wie ein Ereignis in einer Erzählung jemandem zugeeignet und anvertraut worden. Das Präsens des Gedichts (Die Welt ist fort) erlaubt es nicht, zwischen diesen beiden Hypothesen zu entscheiden. Genauso kann die Welt die Totalität der Seienden oder »alle anderen«, »alle Welt« bezeichnen, die Welt der Menschen oder die Welt der Lebewesen. 45
Ich muß hier, zumindest aus algebraischer Sparsamkeit, drei große Eigennamen nennen, deren Diskurs durch die Zueignungsstrophe des Gedichts zugleich bestätigt und bestritten, und in einem paradoxen Sinne des Wortes gegen-gezeichnet würde. An erster Stelle steht der Name Freud: zugleich wegen unserer gerade gemachten Anspielung an Trauer oder Melancholie und auch um unsere Analyse, sei sie auch unabschließbar, der Ordnung des Bewußtseins, der Selbstpräsenz und des Ich, also jeder Egologie zu entziehen. Nach Freud besteht die Trauer darin, den anderen in sich zu tragen. Es gibt keine Welt mehr, es ist das Weltende für den anderen bei seinem Tode, und ich nehme dieses Ende der Welt in mich auf, ich muß den anderen und seine Welt, die Welt in mir tragen: Introjektion, Verinnerlichung der Erinnerung, Idealisierung. Die Melancholie würde das Scheitern und die Pathologie dieser Trauer aufnehmen. Doch wenn ich den anderen in mir tragen muß (darin besteht Ethik), um ihm treu zu sein, um seine einzigartige Alterität zu respektieren, dann muß sich noch eine gewisse Melancholie gegen die übliche Trauer auflehnen. Sie darf sich niemals mit der idealisierenden Introjektion abfinden. Sie muß aufbegehren gegen das, was Freud mit einer gelassenen Sicherheit über sie sagt, als wolle er die Norm der Normalität bestätigen. Die »Norm« ist gar nichts anderes als das gute Gewissen eines Gedächtnisschwunds. Sie erlaubt uns zu vergessen, daß wir, wenn wir den anderen in uns bewahren, ihn wie uns bewahren, wir ihn dann bereits vergessen. Das Vergessen beginnt hier. Also bedarf es der Melancholie. An diesem Ort diktiert das Leiden einer gewissen Pathologie das Gesetz und das Gedicht, das dem anderen gewidmet ist. 4· Dieser Rückzug der Welt, diese Entfernung, in der sich die Welt zurückzieht bis zur Möglichkeit ihrer Vernichtung, ist das nicht die notwendigste, die folgerichtigste, aber auch die verrückteste Erfahrung einer transzendentalen Phänomenologie? Erklärt uns nicht Husserl in
dem berühmten Paragraphen 49 aus den Ideen I in einer Beweisführung, wie sie strenger nicht sein kann, daß es der Zugang zum absoluten Ich-Bewußtsein im reinsten phänomenologischen Sinne erfordert, die Existenz der transzendenten Welt in einer radikalen Epoche aufzuheben? Die Hypothese einer Weltvernichtung würde die Sphäre der reinen phänomenologischen und egologischen Erfahrung in ihrem Eigenrecht und -sinn nicht bedrohen. Im Gegenteil würde sie vielmehr erst einen Zugang zu ihr eröffnen, sie würde ihn erst in seiner phänomenologischen Reinheit zu denken geben. Die Zueignungsstrophe unseres Gedichts wiederholt unbeugsam diese phänomenologische Radikalisierung. Sie treibt jene Erfahrung einer möglichen Weltvernichtung und das, was von ihr noch übrigbleibt oder sie noch überlebt, das heißt ihre Bedeutung für »mich«, für ein reines Ego, an ihre Grenze. Doch am eschatologischen Rand dieser äußersten Grenze trifft er auf das, was auch für die Husserlsche Phänomenologie schon die beunruhigendste Prüfung war, für das nämlich, was Husserl sein »Prinzip der Prinzipien« nennt. In dieser absoluten Einsamkeit des reinen Ego, wenn sich die Welt zurückgezogen hat, wenn die Welt [. . .] fort ist, ist das alter ego, das sich im Ego konstituiert, in einer ursprünglichen und rein phänomenologischen Anschauung nicht mehr zugänglich. Husserl muß dies in seinen Cartesianischen Meditationen eingestehen. Das alter ego ist nur per analogiam, durch eine Appräsentation konstituiert, indirekt, in mir, der ich es dann dorthin trage, wo es keine transzendente Welt mehr gibt. Ich muß es also tragen, dich tragen, dorthin wo die Welt sich entzieht, dort liegt meine Verantwortung. Aber ich kann den anderen nicht mehr tragen, auch dich nicht, wenn tragen bedeutet, den anderen in sich selbst, in die Anschauung seines eigenen egologischen Bewußtseins einzuschließen. Es geht darum, zu tragen, ohne sich anzueignen. Tragen heißt nicht mehr »mit sich bringen« [comporterJ, einschließen, in sich be47
greifen, sondern sich zur unendlichen Unaneigenbarkeit des anderen hinzubegeben, in Richtung auf seine absolute Transzendenz in meinem Inneren selbst, das heißt in mir außer mir. Und ich bin nur, kann nur, darf nur sein, ausgehend von dieser seltsamen, aus den Fugen geratenen Tragweite des unendlich anderen in mir. Ich muß den anderen tragen und dich tragen, der andere muß mich tragen (denn dich kann mich oder den unterzeichnenden Dichter bezeichnen, an den sich die Rede ihrerseits wiederum zurückwendet), ebendort, wo die Welt nicht mehr zwischen uns oder unter unseren Füßen ist, um uns Vermittlungswege zu sichern oder Grundlagen zu festigen. Ich bin allein mit dem anderen, allein ganz sein und für ihn, allein für dich und ganz dein: ohne Welt. Diese Unmittelbarkeit des Abgrunds verpflichtet mich gegenüber dem anderen, überall dort, wo das »ich muß« - ich muß dich tragen ewig den Sieg über das »ich bin«, das sum und das cogito davonträgt. Bevor ich bin, trage ich, bevor ich ich bin, trage ich den anderen. Ich trage dich und muß es, ich bin es dir schuldig. Ich bleibe in der Schuld [devant], verschuldet [en dette] und in deiner Schuld [devant a toi] vor dir [devant toi], ich muß mich in deiner Tragweite halten, doch ich muß auch deine Tragweite sein. Immer einzigartig und unersetzbar, bleiben diese Gesetze oder diese Weisungen unübersetzbar: vom einen zum anderen, von den einen zu den anderen und von einer Sprache in die andere, und doch sind sie deshalb nicht weniger universell. Ich muß das Unübersetzbare in einer weiteren Wendung übersetzen, überführen, übertragen, selbst dort, wo es, einmal übersetzt, unübersetzbar bleibt. Das ist das gewaltsame Opfer eines Über-Übergangs: Übertragen:: übersetzen. 5. Dieses Gedicht sagt die Welt, den Ursprung und die Geschichte der Welt, die Archäologie und Eschatologie des Welt-Konzeptes, sogar die Empfängnis [conception] der Welt. Es sagt, wie die Welt gezeugt [con~u] wurde, wie sie geboren wird, und sogleich nicht mehr ist, wie sie sich
entfernt, und uns verläßt, wie sich ihr Ende ankündigt. Der andere Eigenname,·den ich hier nennen muß, ist der Name eines Menschen, mit dem Gadamers innerer Dialog, wie ich glaube, immer und ununterbrochen verbunden war, gleich jenem Celans, vor und nach der Zäsur von Todtnauberg: Heidegger, der Denker des I n-der-Welt-seins, hat nicht nur, und mehr als einmal, eine unumgängliche Meditation über die - christliche oder nicht-christliche Genealogie des Kosmos- und Welt-Konzeptes oder ihrer regulativen Idee im Kantischen Sinne vorgebracht. Er hat nicht nur vom Welten der Welt oder von ihrer Planetarisierung gesprochen. Er hat auch die Ent-fernung zu bedenken gegeben, die das Nahe entfernt und ent-entfernt. Dies mit Blick auf das Vokabular, das sich um tragen herum zusammenfindet (Übertragung, Auftrag und Austrag), das in Identität und Differenz,25 und nicht weit weg von einer Anspielung auf jene Ent-fernung, die noch im Herholen etwas entfernt und ent-entfernt, jenes Zwischen benennt: Worin Überkommnis und Ankunft zueinander gehalten, auseinander-zueinander getragen sind. Die Differenz von Sein und Seiendem ist als der Unter-schied von Überkommnis und Ankunft der entbergend-bergende Austrag beider. [ .. .] Unterwegs zu dieser denken wir den Austrag von Überkommnis und Ankunft. Vor allem hat Heidegger versucht, zwischen dem zu unterscheiden, was weltlos, was weltarm und was weltbildend ist. Ich kann hier nur noch auf diese Reihe von Begriffen eingehen. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von drei» Thesen «, die Heidegger übrigens kurz nach Sein und Zeit in einem Seminar von 1929-3026 über die Welt, die Endlichkeit und die Einsamkeit vorstellt, und zwar folgendermaßen: der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend. 25 pfullingen 1957, S. 62f. 26 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit, (Gesamtausgabe Band 29/30), Frankfurt am Main 1983, S. 273ff.
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Aus Gründen, die ich hier nicht ausführen kann, scheint mir allerdings nichts problematischer als diese Thesen. Doch was geschähe, wenn in unserem Gedicht das Fortsein der Welt im Moment seines Ereignisses keiner dieser Thesen oder Kategorien entspräche? Wenn es von einem ganz anderen Ort aus über sie hinausginge? Wenn es alles andere wäre als weltlos, weltarm oder weltbildend? Müßte man dann nicht den Gedanken der Welt selbst von diesem Fortsein aus denken, und dieses wiederum ausgehend von dem, was es heißt, I eh muß dieh tragen? Das ist eine der Fragen, die ich hilferufend Gadamer gerne im Laufe eines unabschließbaren Gesprächs gestellt hätte. Um uns im Denken zu orientieren, um uns in dieser gefährlichen Aufgabe zu helfen, hätte ich zunächst daran erinnert, wie sehr wir den anderen brauchen und wie sehr wir ihn noch brauchen werden, wie sehr wir ihn tragen müssen und von ihm getragen werden müssen, dort wo er in uns spricht, noch bevor wir sprechen. Vielleicht hätte ich, aus all diesen Gründen, mit einem Hölderlin-Zitat beginnen sollen: Denn keiner trägt das Leben allein (Die Titanen). Aus dem Französischen von Martin Gessmann, Christine Ott und Fe/ix Wies/er
Jacques Derrida Guter Wille zur Macht (I) Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer
Gestern abend, beim Vortrag und der anschließenden Diskussion,l habe ich mich gefragt, ob es hier etwas anderes geben würde als Auseinandersetzungen, deren Zustandekommen unwahrscheinlich sein dürfte, Gegenfragen und uneinlösbaren Sachbezug (um einige Formulierungen wieder aufzunehmen, die wir gehört haben). Ich frage mich das immer noch. Versammelt sind wir hier um Professor Gadamer. An ihn möchte ich mich daher zunächst wenden und ihm die Ehre erweisen, ihm einige Fragen zu stellen. Die erste Frage geht auf das, was er uns gestern abend über den guten Willen gesagt hat, den Appell an den guten Willen und die absolute Verbindlichkeit im Bestreben nach Verständigung. Wie könnte man nicht versucht sein, die machtvolle Evidenz dieses Axioms zu unterschreiben? Ist es doch nicht bloß eine ethische Forderung, sondern es steht am Anfang aller für eine Sprechergemeinschaft geltenden Ethik, ja, es regelt sogar noch das Auftreten von Streit und Mißverständnis. Das Axiom bringt den guten Willen mit der »Würde« im Sinne Kants in ZusammenI
Die Einlassung von Jacques Derrida, die wir hier nach ihrer Bandaufnahme transkribieren, nimmt selbstredend auf den Vortrag Bezug, den Professor Gadamer am 25. April 198 I in Paris gehalten hat. Für die vorliegende Veröffentlichung wurde derselbe umgearbeitet und stark erweitert. Dabei wurden selbstverständlich Akzente verlagert. So war z. B. die Problematik des guten Willens, die von Jacques Derrida fast ausschließlich zum Thema des ersten Teils seiner Einlassung gemacht wurde, in der Vortragsfassung etwas ausführlicher ausgefallen, als es hier in der Druckfassung der Fall ist. Dessen Funktion als mitkonstituierende Voraussetzung des Verstehens bei Gadamer ist aber auch hier, wie der Leser selbst festgestellt haben wird, völlig erhalten geblieben. (Anm. d. Hg.)
hang - und auf solche Weise mit dem, was in einem moralischen Wesen über jedem Marktwert, jedem auszuhandelnden Preis und jedem hypothetischen Imperativ steht. Es wäre demnach etwas Unbedingtes und stünde wohl auch jenseits jeglicher Bewertung überhaupt, jenseits aller Werte, wenn anders Werte eine Skala und Vergleichung voraussetzen. Meine erste Frage wäre also folgende: Setzt dieses unbedingte Axiom nicht gleichwohl voraus, daß der Wille die Form dieser Unbedingtheit, ihr absoluter Rückhalt und in letzter Instanz ihre Bestimmung bleibt? Und was ist Wille, wenn es, wie Kant sagt, nichts unbedingt Gutes außer dem guten Willen gibt? Würde diese Bestimmung - als letzte Instanz - nicht dem Seienden angehören, was Heidegger mit vollem Recht die Bestimmung des Seins des Seienden als Wille oder wollende Subjektivität nennt? Gehört nicht eine solche Redeweise - bis in ihre Notwendigkeit hinein - einer vergangenen Epoche an, nämlich jener der Metaphysik des Willens? Zweite Frage, immer noch in bezug auf den Vortrag von gestern abend: Was macht man mit dem guten Willen als Voraussetzung von Verständigung, die auch noch im Streit gilt, wenn eine psychoanalytische in eine allgemeine Hermeneutik integriert werden soll? Genau das aber hat Professor Gadamer gestern abend vorgeschlagen. Was bedeutet der gute Wille in einer Psychoanalyse? Oder auch nur in einem Diskurs, der mit dergleichen wie Psychoanalyse rechnet? Wird da, wie Professor Gadamer offensichtlich der Ansicht ist, eine einfache Ausweitung des interpretatorischen Zusammenhangs genügen? Wird nicht vielmehr im Gegenteil, wie ich eher sagen würde, ein Bruch notwendig sein oder eine allgemeine N eustrukturierung des Kontextes bis zum Kontextbegriff selber? Dabei beziehe ich mich auf überhaupt keine spezifische psychoanalytische Doktrin, sondern nur auf eine Frage, die durch die Möglichkeit der Psychoanalyse ge(kenn)zeichnet ist, auf
eine psychoanalytisch interessierte Interpretation. Eine solche Interpretation stünde doch vielleicht der Interpretation im Stile Nietzsches näher als jener anderen hermeneutischen Tradition von Schleiermacher bis zu Gadamer - mit all den inneren Differenzierungen, die man in ihr feststellen mag (wie das ja gestern abend der Fall war). Hinsichtlich dieses Kontextes hat uns Professor Gadamer mehrmals gesagt, er sei der Lebenszusammenhang (so lautete sein Ausdruck) im lebendigen Dialog, in der lebendigen Erfahrung des lebendigen Miteinanderredens. Dies war gestern abend einer der entscheidenden Punkte und der in. meiner Sicht besonders problematische in allem, was wir über kontextbezogene Kohärenz hörten - systematische oder auch nichtsystematische Kohärenz -, muß doch nicht jede Kohärenz die Form des Systems haben. Für mich ganz besonders problematisch in allem, was uns über die Definition des literarischen, poetischen oder ironischen Textes gesagt wurde. Ich erinnere auch an die letzte Frage, die einDiskussionsteilnehmer aufwarf. Es ging da um die Geschlossenheit eines Corpus. Was ist in dieser Hinsicht Zusammenhang und was ist eigentlich streng genommen die Erweiterung eines Zusammenhangs? Kontinuierlich fortschreitende Ausweitung? Oder nicht eher diskontinuierliche Umstrukturierung? Dritte Frage: Auch diese geht auf die Axiomatik des guten Willens. Mögen nun psychoanalytische Hintergedanken mit im Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage berechtigt, was es mit dieser axiomatischen Bedingung des Interpretationsdiskurses auf sich hat, mit dem, was Professor Gadamer »verstehen«, »verstehen des anderen«, »sich miteinander verstehen« nennt. Ob man nun von der Verständigung oder vom Mißverständnis (Schleiermacher) ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedingung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein (wie es gestern abend 53
hieß), nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung? Schließlich hat sich Professor Gadamer mit Nachdruck auf jene »Erfahrung« berufen, »die wir alle kennen«, auf eine Beschreibung von Erfahrung, die nicht selber eine Metaphysik sein soll. Oft hat sich nun Metaphysik (und womöglich sogar in allen Fällen) als Beschreibung der Erfahrung, nämlich als eine Selbstdarstellung, vorgestellt. Ich bin nun meinerseits auch nicht sicher, ob wir eben diese Erfahrung überhaupt machen, die Professor Gadamer meint, nämlich, daß im Dialog »Einvernehmen« oder erfolgs bestätigende Zustimmung zustande kommt. Kommt im Netz dieser Fragen und Bemerkungen, die ich hier ihrer elliptischen und improvisierten Form überlasse, nicht doch ein anderes Denken von »Text« in den Blick? Aus dem Französischen von Friedrich A. Kittler
Hans-Georg Gadamer Wer bin Ich, und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedicht/alge >Atemkristall< Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen Goethe
In seinen späteren Gedichtbänden nähert sich Paul Celan mehr und mehr der atemlosen Stille des Verstummens im kryptisch gewordenen Wort. Im folgenden soll eine Gedichtfolge aus dem Gedichtband Atemwende betrachtet werden, die zuerst 1965 unter dem Titel Atemkristall in einer bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde. Jedes der Gedichte hat seinen Ort in einer Folge, und es wächst dem einzelnen Gedicht von da aus gewiß etwas an Bestimmtheit zu - aber die ganze Folge dieser Gedichte ist hermetisch verschlüsselt. Wovon ist die Rede? Wer redet? Gleichwohl ist jedes Gedicht dieser Folge ein Gebilde von eindeutiger Bestimmtheit, zwar nicht durchsichtig und von unmittelbar sprechender Klarheit, aber doch nicht so, daß etwa alles verhüllt bliebe oder Beliebiges zu bedeuten vermöchte. Das ist die Erfahrung des Lesens, die sich dem geduldigen Leser ergibt. Gewiß darf es kein eiliger Leser sein, der hermetische Lyrik verstehen und entschlüsseln will. Aber es muß keineswegs ein gelehrter oder besonders belehrter Leser sein - es muß ein Leser sein, der immer wieder zu hören versucht. Die besonderen Belehrungen, die ein Dichter über seine verschlüsselten Schöpfungen zu geben vermag - auch Paul Celan sagte man nach, daß solches Verlangen gelegentlich an ihn gerichtet wurde und daß er es freundlich zu befriedigen suchte -, haben stets etwas Mißliches. Bedarf es der Auskunft über das, was ein Dichter sich bei seinem Gedicht gedacht hat? Es kommt doch wohl allein darauf an, 55
., was ein Gedicht wirklich sagt - und nicht, was sein Verfasser meinte und vielleicht nicht zu sagen verstand. Gewiß kann der Wink des Verfassers, der auf den unverwandelten Zustand des >Stoffes< weist, auch bei einem in sich vollendeten Gedicht von Nutzen sein und vor Fehlversuchen des Verstehens bewahren. Aber es bleibt eine gefährliche Hilfe. Wenn der Dichter seine privaten und okkasionellen Motive mitteilt, verschiebt er im Grunde das, was sich als dichterisches Gebilde ausbalanciert hat, nach der Seite des Privaten und Kontingenten - das jedenfalls nicht dasteht. Sicherlich ist man gegenüber hermetisch verschlüsselten Gedichten mit der Aufgabe der Deutung oft in großer Verlegenheit. Aber auch wenn man in die Irre geht, in wiederholendem Verweilen bei einem Gedicht wird man seines eigenen Vers agens doch immer wieder inne, und wenn das Verständnis im Ungewissen oder im U ngefähren bleibt, ist es doch immer noch das Gedicht, das im Ungefähren und im Ungewissen zu einem spricht, und nicht ein Einzelner in der Privatheit seiner Erlebnisse oder Empfindungen. Ein Gedicht, das sich verweigert und weitergehende Klarheit nicht gewährt, scheint mir immer noch bedeutungsvoller als eine Klarheit, die einem durch die bloße Versicherung zuwachsen kann, die ein Dichter über das, was er meinte, abgibt. So ist es offenkundig sehr im Ungewissen, wer in diesen Gedichten Celans Ich und Du sind, und doch soll man nicht den Dichter fragen. Ist es Liebeslyrik? Ist es religiöse Lyrik? Ist es das Zwiegespräch der Seele mit sich selbst? Der Dichter weiß das nicht. Eher schon mag man s.ich durch die Methoden der vergleichenden Literaturforschung, insbesondere durch die Heranziehung von gattungsmäßig Verwandtem, Aufklärung versprechen - aber man wird sie doch nur unter Bedingungen finden: nur dann, wenn kein sachfremdes Gattungsschema benutzt wird und wenn wirklich Vergleichbares verglichen wird. Um dessen sicher zu sein, bedarf es aber gewiß nicht nur
der Beherrschung der Methoden der Literaturforschung. Das gegebene Gebilde muß in der Polyvalenz seiner Struktur darüber entscheiden, welche von den Subsumtionsmöglichkeiten, die sich im Vergleichen bieten, angemessen ist und ob sie eine - in sich begrenzte - Aufschlußkraft gewährt. So erwarte ich für die Gedichte Paul Celans im Grunde nicht viel von einer gattungstheoretischen Zurüstung für die hier gestellte Frage, wer hier Ich ist und wer Du. Alles Verstehen setzt die Antwort auf diese Frage - oder besser: eine dieser Fragestellung überlegene vorgängige Einsicht - schon voraus. Wer. ein lyrisches Gedicht liest, versteht in gewissem Sinne schon immer, wer hier Ich ist. Nicht in dem trivialen Sinne allein, daß er weiß, daß immer nur der Dichter spricht und keine von ihm eingeführte sprechende Person. Er weiß vielmehr darüber hinaus, was das Dichter-Ich eigentlich ist. Denn das »ich«, das in einem lyrischen Gedicht gesagt wird, läßt sich nicht mit Ausschließlichkeit auf das Ich des Dichters beziehen, das ein anderes wäre als das des ichsagenden Lesers. Selbst wenn der Dichter sich »in Gestalten wiegt« und sich ausdrücklich von der Menge scheidet, die »gleich verhöhnet«, ist es, als ob er gar nicht mehr sich selbst meinte, sondern den Leser in seine IchGestalt selbst hineinzöge und von der Menge ebenso schiede, wie er sich selbst geschieden weiß. Und gar hier bei Celan, wo ganz unvermittelt, schattenhaft-unbestimmt und in beständig wechselnder Weise »ich«, »du«, »wir« gesagt wird. Dies Ich ist nicht nur der Dichter, sondern viel eher »jener Einzelne«, wie ihn Kierkegaard genannt hat, der ein jeder von uns ist. Enthält diese Überlegung nun eine Antwort auf die Frage, wer hier Du ist, der in fast allen Gedichten dieses Zyklus ebenso unvermittelt und unbestimmt angeredet wird, wie der Redende Ich ist? Du ist der Angeredete schlechthin. Das ist die allgemeine semantische Funktion von »ich« und «du«, und man wird sich fragen müssen, 57
wie die Sinnbewegung der dichterischen Rede diese Funktion ausfüllt. Ist die Frage sinnvoll, wer dieses Du ist? Etwa in dem Sinne: Ist es ein mir naher Mensch? Mein Nächster? Oder gar der Allernächste und Allerfernste: Gott? Das ist nicht auszumachen. Es ist deshalb nicht auszumachen, wer jenes Du ist, weil es nicht ausgemacht ist. Die Anrede zielt, aber sie hat keinen Gegenstand - es sei denn den, der sich der Anrede stellt, indem er antwortet. Auch bei dem christlichen Liebesgebot ist es ja nicht ausgemacht, wieweit der Nächste Gott ist oder Gott der Nächste. Das Du ist so sehr und so wenig ein bestimmtes anderes Ich, wie das Ich ein bestimmtes Ich ist. Damit ist nicht etwa gemeint, daß in der Gedichtfolge, die hier »ich« und »du« sagt, der Unterschied zwischen dem Ich, das spricht, und dem Du, das angeredet wird, sich verwischte, und auch nicht, daß das Ich nicht eine gewisse Bestimmtheit im Fortgang der Gedichtfolge erhielte. So ist zum Beispiel von vierzig Lebensbäumen die Rede und damit auf das Alter des Ich angespielt. Aber entscheidend bleibt, daß auch dann noch in die Stelle des Dichter-Ichs jedes Leser-Ich willig eintritt und sich mitgemeint weiß und daß sich von da aus jeweils das Du mit Bestimmtheit ausfüllt. In der ganzen Folge scheint nur eine Ausnahme zu bestehen, und das ist in jenen vier Versen, die der Dichter in Klammern gesetzt hat und die auch metrisch durch ihre fast epische Diktion herausfallen. Sie scheinen deswegen wie beiläufig gegeben, weil sie sich nicht, wie die anderen alle, allbereit verallgemeinern. - So bleibt alles offen, wenn wir jetzt erprobend an die Gedichte der Celanschen Folge herantreten. Wir wissen nicht vorher und nicht aus einem distanzierten Überblick oder Voraus blick, was »ich« oder »du« hier meint und ob es das Ich des Dichters ist, der sich selbst meint, oder das eines jeden von uns. Wir haben es zu lernen.
Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten: sooft ich Schulter an Schulter mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer, schrie sein jüngstes Blatt. Das ist wie ein Proömium der ganzen Folge. Es ist ein schwieriger Text, der seltsam unvermittelt beginnt. Das Gedicht ist von einem scharfen Kontrast beherrscht. Schnee, das Gleichmachende, Kältende, aber auch Stillende, wird hier nicht nur hingenommen, sondern begrüßt. Denn der Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, war offenbar in der Überfülle seines Treibens, Knospens und Sich-Entfaltens kaum zu ertragen. Gewiß ist es kein wirklicher Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, so wenig das angeredete Du etwa den Winter meint oder wirklichen Schnee anbietet. Offenbar war es eine Zeit der Überfülle, der gegenüber die karge Armut des Winters wie eine Wohltat wirkt. Der Sprechende schritt Schulter an Schulter mit dem unermüdlich treibenden Maulbeerbaum durch den Sommer. Der Maulbeerbaum ist ohne Zweifel hier der Inbegriff treibender Energie und immer neuen üppigen Herausbildens neuer Triebe, ein Symbol unstillbaren Lebensdurstes. Denn anders als anderes Gesträuch treibt er nicht nur im Frühjahr frische Blätter, sondern den ganzen Sommer hindurch. Es scheint mir nicht richtig, an die ältere metaphorische Tradition der Barockpoesie zu denken. Zugegeben, daß Paul Celan auch ein Poeta doctus war - noch mehr war er ein Mann von ganz erstaunlicher Naturkenntnis. Heidegger hat mir erzählt, daß Celan im Schwarzwald hoch oben über Pflanzen und Tiere besser Bescheid wußte als er selber. Auch hier muß man in erster Näherung so konkret wie möglich verstehen. Dabei gilt es freilich, die Sprachbewußtheit des Dichters richtig einzuschätzen, der Worte 59
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nicht nur in ihrem klaren Gegenstandsbezug nimmt, sondern beständig mit dem spielt, was in den Worten an Bedeutungen und Nebenbedeutungen anklingt. So fragt es sich hier, ob der Dichter etwa mit dem Wortbestand »Maul« auf die Maulhelden des Wortes anspielt, deren Geschrei er nicht mehr erträgt. Selbst wenn das so ist, bleibt aber die Forderung präziser Kohärenz als erste bestehen und muß zunächst erfüllt werden. Der Pflanzenname »Maulbeerbaum« ist ganz geläufig, und wenn man dem dichterischen Zusammenhang folgt, in dem der Name auftritt, so ist es dort ganz eindeutig, daß das Gedicht nicht auf die Maulbeere oder das Maul verweist, sondern auf das frischgelbe Grün, das an Maulbeerbäumen unermüdlich den ganzen Sommer über sprießt. Von da muß auch jede weitere Transposition ihre Sinnrichtung empfangen. Und wir werden sehen, daß diese weitere Transposition des Gesagten am Ende in die Sphäre des Schweigens oder des sparsamsten Redens weist. Aber offenkundig wird hier durch die Parallele mit dem Maulbeerbaum überhaupt nicht auf die Maulbeere, sondern auf die sprießende Ü ppigkeit des Laubwerks gewiesen. So wird der Doppelsinn von »Maul« nicht durch den Kontext getragen, sondern es ist der Schrei des Blattes, auf den sich die Sinnbewegung gründet. Das steht scharf akzentuiert als das letzte Wort des Gedichtes im Text. Es ist also das Blatt und nicht die Beere, was die Transposition in das eigentlich Gesagte trägt. In einer Ebene der Übertöne mag man dann von dem Schrei auf den Wortbestandteil »Maul« zurückgewiesen werden und diesen mit Rede zusammenbringen: Es gibt ja den Maulhelden. Und das könnte in unserem Zu:.. sammenhang alles eitle und leere Reden und Dichten anklingen lassen. Das ändert aber nichts daran, daß das Wort »Maul« als selbständige Sinneinheit überhaupt nicht auftritt, sondern nur als einleitende Bedeutung von »Maulbeerbaum«. Die Beere des Maules statt der Blume des Mundes, das scheint mir nicht der Weg, von der ersten 60
Ebene des Sagens in die Transpositionsbewegung des Besagens überzuleiten, in die ein solches vielschichtiges Gedicht versetzt. Um so mehr ist nun zu fragen, was das ist, was das Gedicht >besagt<, das heißt, worauf der Sinnvollzug des Wortlauts hinauswill. Achten wir auf einzelnes. »Schulter an Schulter«: Mit dem Maulbeerbaum Schulter an Schulter schreiten heißt offenbar nicht hinter ihm zurückbleiben und so wenig, wie er es mit seinem Wachsen tut, je einhalten - und das wäre hier: einkehren bei sich selbst. Ferner muß man jedenfalls beachten, daß es »sooft« heißt. In dieser Betonung wiederholten Weges liegt, daß sich die Hoffnung des immer aufs neue aufbrechenden Wanderers nie erfüllt, auch nur ein einziges Mal still und stumm vom Maulbeerbaum des Lebens begleitet zu werden. Immer war neues Treiben, das wie der durstige Schrei des Säuglings fordert und nicht zur Ruhe kommen läßt. Fragen wir weiter, wer mit dem ersten »Du« angeredet ist. Wohl nichts Bestimmteres als das andere oder der andere, das nach diesem Sommer des ruhelosen Schreitens einen empfangen soll. Da immer wieder ein neuer Schrei des Lebensdurstes das Ich begleitete, ist ihm im Kontrast der Schnee willkommen, dies Einförmige, in dem keinerlei Verlockung und Reiz mehr ist. Gerade das aber soll eine Bewirtung sein, das heißt das Willkommengeheißene. Wer will das festlegen, was da zwischen Verlangen und Verzicht zwischen Sommer und Winter, Leben und Tod, Schrei und Stille, Wort und Schweigen spielt? Was in diesen Versen steht, ist Bereitschaft, dies andere anzunehmen, was immer es sei. So scheint es mir durchaus möglich, solche Bereitschaft am Ende geradezu als Todesbereitschaft zu lesen, das heißt als die Annahme des letzten, äußersten Gegensatzes zu allzuviel Leben. Es ist ja unzweifelhaft, daß das Todesthema bei Celan stets, auch in diesem Zyklus, gegenwärtig ist. Gleichwohl gilt es, sich der besonderen Kontextbestimmtheit zu erinnern, die diesem Gedicht 61
als Proömium eines Zyklus zukommt, der >Atemkristall< heißt. Das weist einen auf die Sphäre des Atmens und damit auf das von ihm geformte Sprach geschehen. So fragen wir erneut: Was heißt hier »Schnee«? Ist es die Erfahrung des Dichtens, auf die hier angespielt wird? Ist es vielleicht gar das Wort des Gedichtes selbst, das sich hier aussagt, sofern es in seiner Diskretion die winterliche Stille gewährt, die wie eine Gabe dargeboten wird? Oder meint es uns alle und ist dann jenes Stummsein nach zu vielen Worten, das wir alle kennen und das uns allen als eine wahre Wohltat erscheinen kann? Die Frage ist nicht zu beantworten. Das Unterscheiden hier zwischen Ich und Du, zwischen dem Ich des Dichters und uns allen, die sein Gedicht erreicht, mißlingt. Das Gedicht sagt es dem Dichter so gut wie uns allen, daß die Stille willkommen ist. Es ist dieselbe Stille, die bei der Wende des Atems, diesem leisesten Wiederbeginn des Atemschöpfens, zu hören ist. Denn dies vor allem ist Atemwende, die sinnliche Erfahrung des lautlosen, reglosen Augenblicks zwischen Einund Ausatmen. Ich will nicht leugnen, daß Celan diesen Moment des wendenden Atems, den Augenblick, da der Atem umkehrt, nicht nur mit dem reglosen Ansichhalten verknüpft, sondern die leise Hoffnung mitklingen läßt, die mit aller Umkehr verbunden ist. So sagt er in der Meridian-Rede: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.« Aber schwerlich wird man deshalb die diese Folge beherrschende Bedeutung des »leisen« Atems abschwächen dürfen. Dies Gedicht ist ein wahres Proömium, das wie in einer musikalischen Komposition mit dem ersten Ton die Tonlage für das Ganze angibt. Die Gedichte dieser Folge sind in der Tat so leise und fast unmerklich wie die Atemwende. Sie geben von einer letzten Lebensbeklemmung Zeugnis und stellen zugleich auch immer aufs neue ihre Lösung dar - oder besser: nicht ihre Lösung, aber ihr Aufsteigen zur festen Sprachgestalt. Man hört sie so, wie man die tiefe Winterstille hört, die alles einhüllt. Ein Lei-
sestes fällt im Kristall aus, ein Kleinstes, Leichtestes und zugleich Genauestes: das wahre Wort. Von Ungeträumtem geätzt, wirft das schlaflos durchwanderte Brotland den Lebensberg auf. Aus seiner Krume knetest du neu unsere Namen, die ich, ein deinem gleichendes .Aug an jedem der Finger, abtaste nach einer Stelle, durch die ich mich zu dir heranwachen kann, die helle Hungerkerze im Mund. Ein Maulwurf ist tätig. Man sollte dies als durch primäre semantische Gegebenheit Evozierte nicht abstreiten. »Aufwerfen« ist eindeutig. Daß das Subjekt dieses »Aufwerfens« das »Brotland« ist, kann nicht beirren, sondern nur die erste Transposition einleiten - von dem Maulwurf auf die blinde Lebensbewegung hin, die wie eine schlaflose Wanderung erscheint, die durch das »Brotland« geht. Das evoziert Brotarbeit und Broterwerb und alles, was mit dieser Lebenshypothek impliziert ist. Nun sagt das Gedicht: Was das rastlos wühlende Wesen treibt, das wir Leben nennen, ist ungeträumter Traum. Es ist also ein Versäumtes oder ein Verwehrtes, das durch seine beständige Schärfe immer weitertreibt: es »ätzt«. Ätzende Säure, die von dem ausgeht, das durch seine Verweigerung versehrt, ist eine der Leitmetaphern des Zyklus, den wir betrachten, und wohl des Menschenschicksals, wie es der Dichter sieht. Was durchwandert wird, ist das Brotland, das einen zwar satt zu machen verspricht, aber das Wandern
r~ führt nirgends hin. Dies Wandern und Wühlen ge~chieht »schlaflos«, d. h., es gibt keine Einkehr in Schlaf und Traum, u~d so. wird der Hügel mehr und mehr aufgeworfen. Er wIrd em ganzer Lebensberg. Aber hier klingt das so, als ob das Leben unter seinem immer lastenderen Gewicht begra~en wird. Es zieht seine Spur, so wie der Maulwurf seme Gänge durch sein Aufwerfen der Hügel erkennen läßt.
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In der !at, der »Lebensberg« sind wir, mit dem Ganzen unserer sIch auft~rmenden Erfahrung. Das zeigt die Fortsetzung: »Aus semer Krume knetest du neu unsere Na~en«. Mö~lich, daß ~ier bestimmte biblische oder jüdIsch-mystIsche AnspIelungen darin stecken. Aber auch we~n. man sie nicht kennt, sondern nur die Verse der GeneSIS 1m Ohr hat und si.e zugl~ich hinter sich läßt, gewinnt der Celansche Vers emen Smn. Wenn es die schwere Fracht des Lebens ist, woraus unsere Namen neu geknetet werden, so muß es doch wohl das Ganze unserer Welterfahrun~ sei~, was sich aus diesem Erfahrungsstoff aufbaut. Das heI0t h~er »unsere Namen«. Der Name ist ja das, was u,ns anf~nghch gegeb~n wird und das wir noch gar nicht smd. ~IeI?and kann m der Namensgebung wissen, was der sem wIrd, den er so tauft. So ist es mit allen Namen. Sie al~e w~rden erst im Laufe des Lebens das, was sie sind: So ':,Ie wlr.werden, was wir sind, wird auch erst, was die Welt fur uns 1St. Das besagt,. da~ die ».Namen« beständig neu geknetet werden, oder SIe smd mmdestens in einer fortdauernden ~or~ung begriffen. Von wem, wird nicht gesagt. Aber es 1St em Du. Die Alliteration von »neu« und »Na~en« ~chließt die zweite Vershälfte so zusammen, daß auf d~,e MItte de,r Akzent eines leichten Hiats fällt, der in der na~hsten Zelle nachwirkt. Da vereinzelt sich das allen Gem~m,same - unsere »Namen« - plötzlich zu einem Ich: »dIe Ich ... « Mit dem Ich plötzlich erst gewinnt die Bewegung des Lebens ihr~ eigentliche heimliche Richtung, sofern das Ich gegen dIe beständig wachsende Verdeckung 64
r anstrebt und Durchlaß ins Freie sucht. Nicht erstickt unter dem wachsenden Lebenshügel oder Lebensberg, der hier aufgeworfen wird, ist das Ich immer noch tätig und auf der Suche - nach Sehen und Helle, wenn auch blind wie der Maulwurf. Nur das Nächste kann »ich« wahrnehmen mit tastender Hand. Aber immerhin ist es Wahrnehmen: Unser blindes Auge ist »deinem« gleichend. Vielleicht spielt der Dichter hier auf die Maulwurfshand an, diese eigentümlich geformten hellen Flächen der Grabehand des Maulwurfs, mit der er seine Gänge gräbt, die ihn im Dunkeln weiterführen bis hin zu dem Hellen des Ausgangs. In jedem Falle besteht' die Spannung zwischen dem Graben im Dunkeln und dem Streben nach dem Licht. Der Weg im Dunkeln ist aber nicht nur der Weg, der ins Helle führt, sondern ist selbst ein Weg der Helle, selbst ein Hellsein. Man beachte, wie sich in der vorletzten Zeile »die helle« durch das Fürsichstehen dieses Attributs förmlich ausbreitet. Es ist eine besondere Helle. Denn es ist die Tätigkeit des Ich, das hier am Werke ist, und sie ist nichts als Wachen (»heranwachen«). Wachen aber nimmt den Verzicht auf Schlaf und Traum auf, von dem eingangs die Rede war, und ebenso ist in »Hungerkerze« Hungern gemeint, d. h. das Verschmähen des sättigenden Brotes, das den Lebensberg beschwert, So ist dies Beharren auf der Helle und dem Drang nach Helle wie eine Leistung des Fastens. Das Schlußbild von der »Hungerkerze im Mund« legt das durch ein bestimmtes religiöses Ritual aus, und damit wird das Du, das Gesuchte, als kultisch Verehrtes gekennzeichnet. Wie, mir Tschizewskij erzählt hat, gibt es auf dem Balkan emen Brauch der Hungerkerze, der das fromme Fasten vor allen sichtbar macht (an der Kirchentür) - eine Art Gebets- und Bittfasten, das die Eltern, die auf die Rückkehr des Sohnes hoffen, auf sich nehmen. Analog ist es ein »Fasten«, das hier das Streben nach der Helle begleitet. Aber das Besondere dieses Fastens ist offenbar, daß das ins Helle Stre65
bende die Hungerkerze im Munde hält. Das soll d~ch wohl heißen, daß es sich nicht um Fasten handelt, sondern daß das Ich sich all die reichlich sättigenden Worte verbietet, mit denen man sich im Leben abfindet - um selber für das wahre, erleuchtete Wort fähig zu werden. So wird das Ritual sprechend für eine Glaubensleistung ganz anderer Art. Es gibt offenbar kein Ritual der Hungerkerze im Mund! Mit dieser paradoxen Verbindung bricht das Gedicht vielmehr den evozierten Fastenbrauch um. Es ist ein anderes Fasten, und das, wofür es geschieht, ist auch ein anderes. Wie mir Milojcic erzählt, kennt er den Brauch der Hungerkerze anders: Wenn jemand verarmt war und ihm seine frühere gesellschaftliche Stellung verbot, betteln zu gehen, legte er sich verhüllt mit der Hungerkerze an die Kürchentür, um ungesehen und ohne zu sehen Gaben zu empfangen. Danach wäre es nicht freiwilliges Fasten, sondern die Not des Hungerns selber, was durch die Kerze angezeigt wird. In jedem Fall heißt es »im Mund« - es geht um das wahre Wort, nach dem ich hungere oder das ich herbeihungere. Das kann man, meine ich, auch ohne folkloristische Information erraten, wenn man nur über die Spannung zwischen ritueller Hungerkerze und dem »im Mund« nachdenkt. Spielt die Hungerkerze wie alle Kerzen obendrein darauf an, daß unserem hungernden Streben in die Helle eine Frist gesetzt ist? Vielleicht. Jedenfalls aber: Man läßt nicht ab, nach der Helle zu streben, indem man die »Namen« abtastet. Die Bev.;egung des Gedichts ist deutlich eine zweigeteilte: Die eine Bewegung vollführen alle, indem ungeträumte Träume sie treiben und eine immer längere Lebensspur zeichnen und einen immer schwerer lastenden Berg aufwerfen. Die andere Bewegung ist die unterirdische des Ich, das wie ein blinder Maulwurf ins Helle drängt. Man denkt an Jacob Burckhardt: »Der Geist ist ein Wühler.« Folgen wir der Transpositionsbewegung, in die wir gerieten, noch einmal: Wer ist hier das Du, das die Namen 66
neu knetet, das ein wahrhaft sehendes Auge besitzt, das wahrhafte Sättigung und Erhellungverspricht? Wen meint »ich« und wen »du«? Der Übergang zum Ich ist plötzlich und stark akzentuiert. Es hebt sich aus dem allen gemeinsamen Geschick heraus. Der Lebensberg aller wird beständig aufgeworfen, und aus ihm bildet sich Sinn und Sinnlosigkeit eines jeden Lebens. So werden unser aller »N amen« geknetet. Aber es sind nicht alle, es ist das eine Ich, das hier »ich« meint, das diese Namen abtastet. Das Tun des Dichters klingt an, der es mit den Namen, mit allen Namen, versucht. Es bestätigt sich also: »Name« meint nicht nur die Namen der Menschen. Es meint sicherlich den ga~zen Berg der Worte, es meint die Sprache, die über alle Erfahrung des Lebens gelagert ist wie eine deckende Last. Sie ist es, die »abgetastet«, d. h. auf ihre Durchlässigkeit geprüft wird, ob sie nicht doch irgendwo den Durchbruch ins Helle gewährt. Mir scheint, es ist die Entbehrung und die Auszeichnung des Dichters, was hier beschrieben wird. Aber ist es nur die des Dichters? In die Rillen der Himmelsmünze im Türspalt preßt du das Wort, dem ich entrollte, als ich mit bebenden Fäusten das Dach über uns abtrug, Schiefer um Schiefer, Silbe um Silbe, dem KupferSchimmer der Bettelschale dort oben zulieb. Das sind bittere Zeilen. In den Ausgaben liest man statt »Himmelsmünze« »Himmelssäure«. Dies wird zu berichtigen sein. Aber die Frage bleibt, wie die Lesart der Ausgaben zu verstehen war. Denn ohne Zweifel hat man es in
gewissem Umfang verstehen können. 1 Dafür spricht nicht nur das Verhalten des Dichters als solches, der - nach Berichten - beim Bemerken des Druckfehlers höchst gleichmütig blieb. Die Sinnkohärenz des Ganzen ist im ganzen stark genug, damit Einzelteile austauschbar sein können. Das hat seinerzeit schon Walter Benjamin unter dem Begriff »das Gedichtete« beschrieben. Wäre es nicht so, dann wäre alle Auslegung, die mit unsicheren Vermutungen arbeiten muß, ohne Wert. Wir erörtern die beiden Lesarten nebeneinander, um eine jede von beiden im Ganzen des Gedichtes zu orten. Zwischen der ätzenden Schärfe der Himmelssäure, von der wir offenbar durch eine niemals sich öffnende Tür geschieden sind und die für uns gewiß unerträglich wäre, und der kupfernen Bettelschale »dort oben« spannt sich der Bogen eines einzigen Satzes. Eine Theologie des sich verweigernden Himmels liegt zugrunde. Doch die Tür ist undicht. Die Himmelssäure, gegen die wir durch die Tür abgedichtet sind, hat Rillen in den Türspalt geätzt, und so kommt etwas hindurch. Was hindurchkommt, ist das Wort. Offenbar wird die Metapher der ätzenden Säure deshalb vom Himmel gesagt, weil er sich verweigert. Als der sich verweigernde hat er seine verzehrende Schärfe und doch sucht man jeden Tropfen dessen, was da zu uns gelangt - eben »das Wort«. Doch nun hat man zur Kenntnis zu nehmen, daß es im Text nicht »Himmelssäure« sondern »Himmelsmünze« heißt. Damit ist die Bildvorstellung eine gänzlich andere. Der Genitiv »der Himmelsmünze« ist auf »Rillen« natürlich nicht mehr kausativ bezogen, sondern als ein subjektiver Genitiv zu verstehen: die Münze hat Rillen. Wenn man fragt, wie kommt die Münze in den Türspalt? - so hat man keine Antwort. Genug, daß sie darin steckt. Man stellt sich vor, daß sie dazu dienen sollte, die Tür zu öffnen, aber I
Vgl. dazu unten, S. 435.
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diese öffnet sich nicht, gibt keinen wirklichen Eintritt. Statt dessen dringt durch die Tür etwas heraus. Nun ist es offenbar so, daß die Rillen der Münze die Tür undicht machen. Worauf es anzukommen scheint, das ist, daß nicht die Münze selbst als legitime Einlaßgebühr für den Himmel (oder als Ausgangs- und Durchlaßgebühr aus dem Himmel?) die kleine Durchlässigkeit schafft, sondern etwas, das an ihr ist und das zwar auf ein blankes, neugeprägtes Geldstück weist, aber nichts mit seinem Münzwert zu tun hat. Das ist recht dunkel. Handelt es sich um ein raffiniertes Symbol für Gnade? Jedenfalls hatte der Versuch, die Einlaßgebühr zu entrichten, keinen Erfolg. Was aus diesem sich verweigernden Himmel allein bei uns ist, ist »das Wort«. Ist das so gemeint? So lutherisch? Gewiß ist freilich, daß die Himmelsmünze der Bettelschale »dort oben« entspricht. Beides hat auf ein unerreichbar Jenseitiges Bezug. In der Bettelschale werden Münzen gesammelt (Himmelsmünzen ? Münzen für den Himmel?) - und zu diesem ärmlichen Schatz scheint der hinzustreben, der seine Bestimmung aus dem »Wort« herleitet, dem einzigen, das aus dem ganzen Reichtum des Himmels bei uns ist. In der Tat, es sind bittere Zeilen, welche der beiden Lesarten man auch zugrunde legt. Das jedenfalls steht fest, daß nichts aus jenem Himmel verlautet als das, was »du«wieder dieses unbekannte Du - durch die Undichte der versperrenden Tür preßt. Es ist keine strömende Heilsbotschaft, sondern ein mühsam erpreßtes Wort, und obendrein scheint es wie eine seltsam verkehrte Mühe. Denn offenbar sind nicht wir es, die sich mühen, da hineinzukommen oder da herauszukommen, sondern »das Wort« soll offenbar heraus. So will es das Du. Meint das, daß wir gegen die Wahrheit versperrt sind und die Wahrheit uns gar nicht verweigert wird? Halten wir sozusagen die Tür zu oder finden den Schlüssel nicht, weil wir an die Gültigkeit unserer Münze glauben? Ich stelle alle diese Fragen in
dem Bewußtsein, daß jedenfalls die Theologie des Deus' absconditus anklingt. Eine weitere Schwierigkeit: Wenn das Wort heraus und da ist, bin »ich« es, der ihm »entrollte«. Wer - ich? Bin ich aus dem Wort? Bin ich das Wort, wie alle Kreatur ein Schöpferwort ist? Ist es das Wort, aus dem ich komme, zu dem ich nun und immerzu zurückstrebe ? Das gäbe auch bei der äußersten Gottesferne Sinn. Denn unter dem Dach der Sprache leben wir alle. Vielleicht gilt auch von uns allen, daß ein jeder von uns das Dach, das uns allen gemeinsamen Schutz gewährt, weil es den Durchlaß und Ausblick nimmt, gleichwohl abtragen möchte, um nach oben, ins Freie zu blicken. Vor allen anderen ist es gewiß der Dichter, der hier von sich sagt, was vielleicht für uns alle gilt. Die Decke der Worte ist wie ein Dach über uns. Sie sichern das Vertraute. Indem sie aber uns ganz mit Vertrautheit umschließen, verhindern sie jeden Ausblick in das U nvertraute. Der Dichter - oder wir alle? - sucht Silbe um Silbe, das heißt mühsam und unermüdlich, abzutragen, was verdeckt. Offenbar entspricht dieses Abtragen »Silbe um Silbe« dem, was im vorigen Gedicht als das Abtasten der Namen und das Heranwachen begegnete. Hier wie dort scheint eine verzweifelte Anstrengung dessen, der ins Helle, nach oben strebt, beschrieben. Aber gelangt man je zum Ziele? Die Antwort des Gedichtes ist niederschmetternd. Was hier durch die Arbeit der bebenden Fäuste allenfalls erreicht wurde, wäre in Wahrheit nichts als die kupferne Bettelschale mit ihrem jenseitigen Schimmer. Daß eine ganz gewöhnliche Bettelschale auf einer Pariser Straße den Dichter inspiriert hat, wie mir Bollack erzählt hat, ändert nichts daran, daß hier von einer »Bettelschale dort oben« die Rede ist und damit eine bestimmte Transposition von uns verlangt wird. Das Gedicht versetzt die Bettelschale in den Zusammenhang von Heiligkeit und Heilsverlangen. Freilich, mit welcher Tönung? Der Erwartung? Kaum. Eher so: Wir reichen
nicht weiter mit unserer Vorstellung von Heil als noch gerade an die Bettelschale, in der die Opfergaben gesammelt werden - im Kirchenraum das profanste aller Geräte. Oder auch: Wir reichen nur bis an die dürftige Mildtätigkeit einer »Sammlung«, in der weder Wärme noch Liebe ist. Jedenfalls ist es nicht einmal etwas von wahrhaft Heiligem, das auf mich wartet, wenn ich das schützende Dach abzutragen suche. Es ist kaum der Abglanz des Heiligen. Oder ist es überhaupt nichts Heiliges, sondern etwas, das vielleicht wie Heiliges, aber in falschem Schimmer glänzt? Jedenfalls ist der verzweifelt sich Anstrengende voll von Bitterkeit und sich der Enttäuschung bewußt, die auf ihn wartet. Doch lassen wir einmal alle Theologie beiseite und prüfen die einzelnen Wendungen. Was heißt es, daß ich dem Wort entrollte? Bei der Wendung »entrollte« und im Abtragen »Silbe um Silbe« denkt man zunächst an die Tätigkeit des Entrollens einer Schriftrolle und des Entzifferns eines Urtextes, wie er etwa das dichterische Wort sein könnte. Hier ist aber das Wort »entrollte« intransitiv gebraucht. »Ich entrollte« dem von oben durchsickernden Wort, diesem geringsten Tropfen einer jenseitigen himmlischen Substanz. Das klingt paradox. Nicht »ich« bin es, der Silbe um Silbe das Wort - wie eine Schriftrolle - entrollte, sondern »das Wort« ist es, dem ich selber entrollte. Es ist offenbar so, daß der Dichter selber aus dem Wort kommt und daß seine ganze Anstrengung darauf geht, dies Wort wieder zu erreichen, aus dem er kommt und das er als das Seine weiß. Kein Zweifel, daß dies atemlos verzweifelte Suchen nach dem Wort über all den Silben und Wörtern dem gilt, was »das Wort« - das wahre Wort - ist: das Wort, in dem der, der das Wort sucht, selber darin ist. Das scheint in der Tat so, daß es der Dichter ist, der hier von sich »ich« sagt und der ganz im Wort lebt. Die Aufgabe des Dichters besteht eben darin, daß er nach dem wahren Wort, das nicht das übliche schützende Dach aller
Tage ist, sondern das von jenseits her ist, wie nach seiner' wahren Heimat strebt und deshalb Silbe um Silbe das Gefüge der alltäglichen Worte <1.btragen muß. Er muß gegen die verbrauchte, gewöhnliche, verdeckende und alles einebnende Funktion der Sprache ankämpfen, um den Blick in den Schimmer dort oben freizulegen. Das ist Dichtung. Aber es ist noch etwas anderes darin. Es heißt ja, der Dichter entrollte dem Wort, als er in seinem Dichten, Wort um Wort, nach seiner Herkunft aus dem wahren Wort aufschaut, und kann doch von dem Heiligen nie mehr gewahren als seinen profansten, ärmlichsten Schimmer - vielleicht sogar: seinen falschen, durch das Betteln entstellten Glanz. Damit gewinnt das Entrollen eine noch andere, negative Tönung. Mit dem Abtragen des Daches, dem Suchen der rechten Worte (»als ich abtrug«) kehrt er nicht heim, sondern verliert sich der Dichter gerade. Er »entrollte« dem Wort, das er eigentlich ist, wird hoffnungslos von ihm geschieden und ist vergeblich - »mit bebenden Fäusten« - bemüht, zu ihm zurückzugelangen. »Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben« (G. Eich). Und wieder fragt man sich: Ist es wirklich nur der Dichter, dem dies widerfährt, daß das eigentliche Wort unerreichbar bleibt, obwohl es sein eigenstes ist? Oder ist es vielmehr unser aller Erfahrung, von dem eigentlichen Wort und seiner Wahrheit geschieden zu sein, gerade dadurch, daß man Worte macht und daß man »mit bebenden Fäusten« auf etwas hin tätig ist, das man haben möchte, das nicht erreichbar ist - und das am Ende gar nicht einmal so ist, daß es die Mühe lohnt? In den Flüssen nördlich der Zukunft werf ich das Netz aus, das du zögernd beschwerst mit von Steinen geschriebenen Schatten.
Man muß das Gedicht in seinem Zeilenbruch nicht nur genau lesen, man muß es so auch hören. Celans meist sehr kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr genau. Bei breiter strömenden Versen, wie etwa den Duineser Elegien, die ohnehin viel technischen Zeilenbruch, insbesondere in den der Erstauflage folgenden Drucken, nicht vermeiden konnten, sind nur sehr deutliche Verszäsuren von so siegelhafter Prägnanz wie die Schlußzeilen dieser Gedichte Celans. In unserem Falle ist der Schlußvers ein einziges Wort: »Schatten« - ein Wort, das so schwer sich senkt wie das, was es bedeutet. Indessen, es ist ein Schluß, und wie jeder Schluß rückt er die Maße des Ganzen fest. Auch der evozierten Bedeutung nach: »Schatten fallen« heißt immer auch: Sie werden geworfen. Wo Schatten fallen und verdunkeln, ist immer auch Licht mit da und das Lichte, und wirklich, es wird hell in diesem Gedicht. Was es evoziert, ist Klarheit und Kälte eisnahen Gewässers. Die Sonne durchscheint das Wasser bis auf den Grund. Die Steine, die das Netz beschweren, sind es, die die Schatten werfen. Das ist alles höchst sinnlich und konkret: Ein Fischer wirft das Netz aus, und ein anderer hilft ihm dabei, indem er das Netz beschwert. Wer ist Ich? Und wer ist Du? Das Ich ist ein Fischer, der das Netz auswirft. Auswerfen des Netzes ist eine Handlung reiner Erwartung. Wer das Netz ausgeworfen hat, hat alles getan, was er tun konnte, und muß warten, ob etwas sich fängt. Es wird nicht gesagt, wann diese Handlung vollzogen wird. Es ist eine Art gnomischer Gegenwart, d. h., es geschieht immer wieder. Das wird durch das pluralische »in den Flüssen« unterstrichen, das nicht wie das nahe liegende »Gewässern« eine unbestimmte Ortsangabe bedeutet, sondern sehr bestimmte Plätze, die man aufsucht, weil sie Fang verheißen. Diese Plätze liegen alle »nördlich der Zukunft«, d. h. noch weiter draußen, außerhalb der gewohnten Wege und Fahrten, dort, wo keiner sonst fischt. Es ist 73
offenbar eine Aussage über das Ich, nämlich, daß es ein Ich' solcher besonderer Erwartung ist. Es erwartet das Zukünftige dort, wo keine Erwartung der Erfahrung hinreicht. Aber ist nicht jedes Ich ein Ich solcher Erwartung? Ist nicht in jedem Ich etwas, das in eine Zukunft ausgreift, die hinausliegt über das, womit man zukünftig rechnen kann? Das Ich, das so anders ist als die anderen, ist gerade das Ich eines jeden. Nun beruht der kunstvoll gespannte Bogen dieses Gedichtes, das ein einziger schlichter Satz ist, darauf, daß das Ich nicht alleine ist und nicht allein den Fischfang durchführen kann. Es bedarf des Du. Betont steht das »du« am Ende der zweiten Zeile, wie angehalten, wie eine unbestimmte Frage, die sich erst durch den Fortgang des dritten Verses - oder besser: der zweiten Hälfte des Gedichts - mit ihrem Sinn erfüllt. Hier wird ein Tun sehr genau beschrieben. »Zögernd beschwerst« meint nicht ein inneres Zögern der Unentschiedenheit oder des Zweifels, das das Du, wer es auch sei, die Zuversicht des fischenden Ich nicht ganz teilen läßt. Es wäre völlig mißverstanden, wenn man in das »zögernd« diesen Sinn legen würde. Was beschrieben wird, ist vielmehr das Beschweren des Netzes. Wer das Netz beschwert, darf nicht zuviel tun und nicht zuwenig; nicht zuviel, damit das Netz nicht ab sinkt, und nicht zuwenig, damit es nicht obenhin treibt. Das Netz muß, wieder Fischer sagt, »stehen«. Von hier bestimmt sich das Zögernde des Beschwerens. Wer das Netz beschwert, der muß vorsichtig Stein auf Stein hinzutun wie auf eine Waagschale, in der man das Gewicht von etwas wägt. Denn es kommt darauf an, den richtigen Augenblick des Gleichgewichts zu treffen. Wer das beim Beschweren des Netzes tut, hilft, daß der Fang überhaupt möglich wird. Die sinnliche Konkretion des Vorgangs ist aber kunstvoll ins Imaginäre und Spirituelle gehoben. Schon die erste Zeile nötigte durch die sinnlich uneinlösbare Fügung »nördlich der Zukunft«, die Aussage in ihrer Allgemein74
heit zu verstehen. Die gleiche Funktion übt in der zweiten Hälfte die nicht minder uneinlösbare Fügung einer Beschwerung mit Schatten aus, und gar »mit von Steinen geschriebenen Schatten«. Wie dort der Mensch als das Wesen der Erwartung in der sinnlichen Gebärde des Fischers sichtbar wurde, so bestimmt sich hier, was Erwartung ist und möglich macht, näher. Denn offenbar sind hier zwei Handlungen in ihrem Zusammenspiel gezeigt: das Auswerfen und das Beschweren des Netzes. Zwischen ihnen ist eine geheime Spannung, und doch sind sie das einheitliche Tun, das allein Fang verheißt. Gerade der geheime Gegen~atz zwischen Werfen und Beschweren ist es, auf den es ankommt. Man würde mißverstehen, wenn man die Beschwerung als eine Hemmung des reinen Wurfs in die Zukunft verstünde, als eine Trübung der reinen Erwartung durch die beschwerende Einsicht in das, was nach unten zieht. Der Sinn der Spannung ist vielmehr, daß nur durch sie die Leere des Erwartens und die Eitelkeit des Hoffens Bestimmtheit von Zukunft gewinnt. Die kühne Metapher der »geschriebenen Schatten« läßt nicht nur das Imaginäre und Spirituelle der ganzen Handlung hervortreten, sondern bezeugt so etwas wie Sinn. Was »geschrieben« ist, läßt sich entziffern. Es bedeutet etwas und ist nicht einfach der dumpfe Widerstand des Schweren. Soll man übertragen: Wie der Akt des Fischers nur aussichtsreich ist durch Zusammenspiel von Wurf und Beschwerung, so ist auch alle Zukünftigkeit, in die das menschliche Leben hineinlebt, keine bloße unbestimmte Offenheit für das Kommende, sondern bestimmt sich durch das, was war und wie es aufbewahrt ist wie in einem von Erfahrungen und Enttäuschungen geschriebenen Buch. Aber wer ist dieses Du? Es klingt fast, als wisse da einer, wieviel er dem Ich aufladen kann, wieviel das hoffende Herz des Menschen erträgt, ohne daß es die Hoffnung sinken läßt. Ein unbestimmtes Du, das vielleicht in dem Du des Nächsten, vielleicht in dem Du des Fernsten seine 75
Konkretion findet, oder gar in dem Du, das ich mir selbst bin, wenn ich meiner eigenen Zuversichtlichkeit die Grenzen des Wirklichen fühlbar mache - in jedem Fall ist das Zusammenspiel von Ich und Du, das den Fang verheißt, das, was in diesen Versen eigentlich präsent ist und dem Ich seine Wirklichkeit verleiht. Was ist es aber nun, was da Fang heißen soll? Der flutende Austausch zwischen dem Dichter und Ich erlaubt, es in einem besonderen wie in einem allgemeineren Sinne zu verstehen - oder besser: im besonderen den allgemeinen Sinn zu erkennen. Der Fang, der glücken soll, mag das Gedicht selbst sein. Der Dichter mag sich selbst darin meinen, daß er das Netz dort auswirft, wo Klarheit und Unberührtheit die Gewässer der Sprache ungetrübt findet und ihn erwarten läßt, daß das über alles Herkömmliche Hinausgehende seiner Kühnheit ihm einen Fang gewährt. Daß der Dichter sich selbst meint, wenn er in dieser Weise sich als ein fischendes Ich darstellt, läßt sich auch durch den Zusammenhang stützen - nicht nur den großen weltliterarischen Zusammenhang, der den dichterischen Fund gern aus dunkler Tiefe - eines Brunnens oder eines Sees hervorholen läßt. Man denke an die bekannten Gedichte Stefan Georges Der Spiegel und Das Wort. Auch der besondere Zusammenhang der vorliegenden Gedichtfolge läßt das wahre Gedicht, das kein »Meingedicht« ,kein täuschender Schwur der Angeblichkeit ist, gegenüber dem eitlen Worttreiben, in dem die Sprache hin- und her gezerrt wird, zur Abhebung kommen. So ist es durchaus berechtigt, auch in unserem Gedicht das ganze Geschehen vom Dichter und seiner Erwartung des Wortes, das ihm gelingt, her zu verstehen. Und doch ist das, was hier beschrieben wird, so, daß es weit über das Besondere des Dichters hinausgeht. Und das nicht nur hier. Es ist eine der großen Grundmetaphern der gesamten Neuzeit, daß das Tun des Dichters wie ein Exempel des Menschseins selber ist. Das Wort, das dem Dichter gelingt und dem er Bestand
verleiht, ist nicht sein spezielles artistisches Gelingen, sondern ein Inbegriff menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt, der dem Leser erlaubt, das Ich zu sein, das der Dichter ist. In unseren Versen sind Ich und Du in einer geheimen Solidarität des Gelingens beschrieben, die nicht nur die des Dichters und seines Genius oder Gottes ist. Da ist nicht ein beschwerendes Wesen, Mensch oder Gott, das da Wortschatten auflädt, die die Freiheit beengen. In diesem Gedicht, das ein eigenes Gelingen dichterischer Existenz meinen mag, kommt in Wahrheit zur Aussage, wer Ich ist, indem deutlich wird, wer Du ist. Wenn des Dichters Verse uns dieses Zueinander präsent machen, dann rückt ein jeder von uns in eben den Bezug ein, den der Dichter als den seinen aussagt. Wer bin ich und wer bist du? Das ist eine Frage, auf die das Gedicht seine eigene Antwort dadurch gibt, daß es die Frage offenhält. O. Pöggeler schlägt vor, das »nördlich der Zukunft« als eine Todeslandschaft zu verstehen, da von dem »ungreifbaren Abgrund« des Todes her jede auf uns zukommende Zukunft schon überholt sei - eine Radikalisierung der menschlichen Grunderfahrung, die es nötig machen würde, das Du als den Todesgedanken zu verstehen, der allem Dasein sein Gewicht gibt. Es ist wahr, daß so »nördlich der Zukunft« präziser verstanden würde: dort, wo keine Zukunft mehr ist - und das hieße: auch keine Erwartung. Und dennoch: Fischzug. Es lohnt, darüber nachzudenken. Ist es das Einverständnis mit dem Tode, das neuen Fang verheißt? Vor dein spätes Gesicht Alleingängerisch zwischen auch mich verwandelnden Nächten, kam etwas zu stehn, das schon einmal bei uns war, unberührt von Gedanken. 77
Dies Gedicht erschien mir lange besonders schwierig.' Denn bei aller Eindeutigkeit seiner Aussage läßt es einen besonders weiten Raum für die Ausfüllung. Ist es ein Liebesgedicht? Oder spricht es von Mensch und Gott? Sind es Liebesnächte oder die Nächte des Einsamen, die »mich« verwandelt haben? Es liegt, wie bei sehr kurzzeiligen Gedichten oft, gerade durch die Kürze und Knappheit seines Baues ein besonders starkes Gewicht auf der letzten Verszeile. »Berührt von Gedanken« - das ist fast wie ein epigrammatisches Siegel. Von hier muß im Grunde das Ganze wie von seiner Verdichtung her begriffen werden. Die spannungsvolle Trennung »un-berührt von Gedanken« stellt das Berührtsein von Gedanken für sich. Aber in welchem Sinne? Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen: als eine positive und durch die Zeilentrennung verstärkte Aussage über die Unberührtheit dessen, was da »vor dein Gesicht« trat - daß es nämlich nichts ausdrücklich Gewußtes und Gedachtes ist. Oder aber es ist eine Aussage darüber, daß das, was »schon einmal bei uns war«, nun anders, nämlich »berührt von Gedanken«, also verwandelt ist. Es hieße also gerade nicht: nach wie vor unberührt. Nun ist die Aussage des Gedichtes durchweg von der Spannung zwischen »nach« und »vor« beherrscht. Es ist von einem »späten« Gesicht die Rede, das ein »früher« heraufruft; es ist von einem »schon einmal« die Rede und ausdrücklich von »verwandelnden« Nächten. So muß auch in dem »unberührt«, das nicht umsonst Zeilentrennung in sich austrägt, die Spannung zwischen Einst und Jetzt liegen. Die Frage geht bis in die letzten Eigenheiten von Rhythmik, Versbau und Sinnfügung. Es handelt sich um eine Frage letzter Sinnkohärenz - und die scheint mir für die von mir vorgeschlagene Deutung zu sprechen, daß eine neue Bewußtheit eingetreten ist. Denn jenes »etwas«, das da zu stehen kommt, bliebe allzusehr in der Unbestimmtheit, wenn über es überhaupt nichts ausgesagt würde.
Wenn dagegen der Sinn ist, daß die Unberührtheit von Gedanken durch den Gedanken zerstört wird, dann versteht man immerhin, daß »etwas« eingetreten ist, nämlich bei aller Unbestimmtheit eine neue, Alleinsein einschließende Bewußtheit. Wachsende Bewußtheit, Abstand, Alleinsein: das ist nicht die enttäuschte Feststellung eines verlorenen Zugangs - wie eine Entfremdung es wäre -, sondern es findet hier gegenseitige Anerkennung statt: »auch mich« - also auch dich - »verwandelnd« heißen die Nächte. Der Abstand, der jetzt bewußt wird, war an sich immer da, als das, was man Diskretion nennt/ bis zu jener »unendlichen Diskretion«, mit der Rilke sein Verhältnis zu Gott beschreibt. Aber das ist nun die eigentliche Erfahrung, die aus diesen Versen spricht: Inzwischen ist es anders geworden. Was von Gedanken unberührt war, ist nicht länger so, und das ein für allemal. Eben die Endgültigkeit dessen, was nun eingetreten ist, spricht aus der epigrammatischen Schlußzeile »berührt von Gedanken«. Hier scheint die Frage besonders dringlich, wer Ich ist und wer Du. Aber auch hier ist nicht so zu fragen. Das einzige, worauf es ankommt, ist, daß zwischen dem Ich, das hier spricht, und dem Du, das es anspricht, die Geschichte einer innigen Beziehung heraufgerufen wird, deren Beginn länger zurückliegt. Darauf deutet das Beiwort »spät«, das dem Gesicht zugesprochen wird, und weiter klingt es so, als ob dies Gesicht inzwischen in sich zurückging und sich stärker in sich verschlossen hat. Denn es heißt »alleingängerisch«, und das meint nicht einfach allein-gehend, sondern ein bewußt gewähltes und festgehaltenes Alleinsein. Wieder ist es die Worttrennung, welche die Spannung dieses Alleinseins verleiblicht. Sie läßt beides anklingen, das Alleinsein und den Willen dazu. Das bestätigt sich von der anderen Seite durch »mein« Eingeständnis, daß auch 2 Zu diesem Begriff und seiner Rolle für das Verständnis moderner Lyrik vgl. >Verstummen die Dichter?<, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 9, Tübingen I993, s. 362ff.
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ich verwandelt bin. Was da »vor dein spätes Gesicht« tritt, ist aber ausdrücklich nicht als etwas Fremdes anzusehen, das früher nicht da war. Es war ja schon einmal »bei uns«. Was inzwischen anders geworden ist, hebt die Vertrautheit der gegenseitigen Bindung durchaus nicht auf. Es ist nicht etwas Fremdes. Man soll nicht fragen, was das ist. Offenbar weiß der Sprechende es selber nicht zu benennen. Es ist »nichts«. Was das Gedicht darüber hergibt, liegt einzig in der Wendung »un-berührt von Gedanken«. Das besagt, daß man sich inzwischen Gedanken macht und daß gerade dadurch »etwas zu stehn« gekommen ist. Man achte darauf, daß es nicht heißt: etwas trat dazwischen. Es ist überhaupt keine besondere Begebenheit gemeint, die alles veränderte, sondern eher der Niederschlag der Zeit selbst, der nicht etwa etwas N eues enthüllt, sondern das, was an sich schon bekannt ist, weil es »schon einmal bei uns war«, nun für sich stehen läßt. Es heißt »bei uns« - und nicht: zwischen uns. Was da zum Bewußtsein kommt, ist vielleicht nichts anderes als Alleinsein in wechselseitiger Vertrautheit. So scheint es kaum nötig zu wissen, wer Ich und wer Du ist. Denn das, wovon die Rede ist, geschieht beiden. Ich und Du sind beide Verwandelte, sich Verwandelnde. Es ist die Zeit, die ihnen geschieht. Ob nun dieses Du das Gesicht des Nächsten trägt oder das ganz andere des Göttlichen - die Aussage ist, daß bei aller Vertrautheit zwischen beiden ihnen mehr und mehr der Abstand bewußt wird, der zwischen ihnen bleibt. In jenen Nächten, das heißt in der Nähe und Innigkeit des Beisammen, die alles andere auszulöschen und alles Trennende aufzulösen vermag, gerade da verwandelte sich etwas und kam etwas zu stehen. Ist das überhaupt etwas Trennendes? Es trat »vor dein Gesicht«. Gewiß liegt darin auch, daß ich keinen so unmittelbaren Zugang mehr zu dir habe, aber doch auch, daß ich nicht von dir getrennt bin. Es war ja schon vorher »bei uns«. Eher scheint es, als würde in einem neuen Wis80
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sen der Abstand bejaht, der immer war, der Abstand zum verborgenen Gott oder die Ferne des Allernächsten.
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Die Schwermutsschnellen hindurch am blanken Wundenspiegel vorbei: da werden die vierzig entrindeten Lebensbäume geflößt.
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Einzige GegenSchwimmerin, du zählst sie, berührst sie alle. Es geht um die Erfahrung der Zeit. An einem Punkte wird es handgreiflich, worauf das Gedicht anspielt. Jemand denkt an die vierzig Jahre, die er alt ist. Man wird sagen: der Dichter. Gewiß, und doch ist in dem, was der Dichter hier von sich selbst sagt, ein Allgemeines da, ein so sehr allen Gemeinsames, daß diese besonderen vierzig Jahre nicht die des Dichters allein sind. In dem ganzen Gedicht wird überhaupt nicht »ich« gesagt, so sehr ist im Sprechen des lyrischen Wortes das Ich da, das wir alle sind. Dieses Ich, das wir alle sind, denkt an seine vierzig Jahre, das heiß t an alles, was an ihm, und an alles, woran es selbst vorübergekommen ist: Zeiten der Schwermut, Stromschnellen, die nicht so sehr durch ihr Dasein als durch die Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit ihres Auftretens Gefahr sind. Die Gefährlichkeit dessen, was so plötzlich über einen kommt, ist in dem einzigen Wort »Schwermutsschnellen« beschworen - aber auch, daß das Ich durch alle Anfechtungen hindurchkam. Jetzt geht es durch ruhigeres Wasser, an dem spiegelnden See vorbei, der im Kontrast zu den Stromschnellen eine so unbewegte Wasserfläche ist, daß sich alles in ihm spiegeln kann. So ist in ihm Wissen und Eingedenken. Was sich in ihm spiegelt, sind die sichtbaren 8r
Spuren sichtbarer Verl~tzungen, Wunden, deren ~as d~~ hinrauschende Leben sIch schmerzhaft bewußt wIrd. SIe vor allem sind es, die in der Lebensbilanz auftreten. Und doch ist die eigentliche Bewegung des Gedichtes, daß das Leben weitergeht, vorbei an den jähen Verdüsterungen wie an der Klarsicht offener Leiden. Die Lebensbäume der Jahre, die da dahintreiben, heißen ihrerseits »entrindet«. Das kann heißen: Es liegt der Kern bloß (für den sich Erinnernden?), dergestalt, daß alles Unwesentliche abgestreift ist. Vielleicht auch: Das eigentliche Lebendige ist nicht mehr dabei. Die Entrindung läßt den Säftestrom des Lebens nicht mehr steigen und sinken. Was da ist, ist nur ein verholztes Gehäuse. In jedem Falle: sie werden geflößt. Die Kraft der Wasser trägt sie dahin, talabwärts. Diesem Strom des Vergehens schwimmt jemand entgegen, für den, als die »einzige Gegenschwimmerin«, all diese Unterschiede von jähen Verdüsterungen und spiegelnder Klarheit der Wunden und all das, was sie an Leben einschließen, überhaupt nicht zu existieren scheinen. Diese Gegenschwimmerin wird als Du angeredet, bewundernd, besiegelnd. Die letzte Verszeile »alle« macht das Allumfassende dieser Gegenbewegung deutlich. Die Gegenschwimmerin zählt alle und berührt alle diese Bäume des Lebens. Das Gleichmaß und die unbeirrbare Genauigkeit, die hier am Werke sind, machen es eindeutig, scheint mir, daß die Gegenschwimmerin die vergehende Zeit selber ist. Kein menschliches Erinnern oder Gedächtnis oder gar die mitgehende Sorge eines anderen vermöchte so beständig und unverrückt und untrennbar vom ersten Jahre an dabeizusein. Plato lehrt uns: Die Zeit ist die Zahl, das bewegte Außereinander. Die Gegenschwimmerin hier ist freilich mehr als nur ein Maß, an dem sich die Bewegung mißt. Sie tut etwas, indem sie selber der Stromversetzung des Vergehens widersteht. Dadurch allein ist sie wie ein festes Maß, mit dem sich alles zusammenfassen und messen läßt
und von dem aus sie sich zählend all des Vorüberfließenden vergewissert, wie mit berührender Hand. Nichts wird dabei weggelassen, alles gehört dazu, auch all die >ungezählten< Leiden, die hinter sich zu lassen und zu vergessen leben heißt. Das Gezählte ist also die ganze Summe der durchlebten Zeit. Nun lehrt uns Aristoteles: Irgendwie ist mit der Zeit die Seele da. Das »Gegen«, das sich nicht mitreißen läßt und nicht davon abläßt, dabeizusein und alles zU:2ählen, ist also nicht so sehr die Zeit selber wie das stehende und widerstehende Selbst, das Ich, das, worin die Zeit ist. In ihm erst faßt sich, wie Augustin gezeigt hat, die Lebensgeschichte zu einem Ganzen zusammen. In ihm erst ist Zeit da. Es ist etwas Rätselhaftes mit der Selbigkeit des Ich. Es lebt, weil es vergißt - aber es lebt auch nur als Ich, weil alle seine Tage »für es« gezählt werden und gezählt sind, die unvergeßlichen. Daß nichts, was ich war, ausgelassen ist, macht das Wesen der Zeit aus. Aber gewiß ist es nicht das wirkliche Bewußtsein des Vierzigjährigen oder irgendeines, der zurückblickt, derart alles zu umfassen. Gerade dieser Unterschied der alles zählenden Zeit und des Lebensbewußtseins des Ich wird diesem vielmehr zur Erfahrung. Der Vierzigjährige wird an solchem Gleichmaß der Zeit und am Gleichmut dieses Bewußtseins, das die Zeit selber denkt, seiner wie eines höheren Selbst bewußt. Die Zahlen, im Bund mit der Bilder Verhängnis und GegenVerhängnis. Der drübergestülpte Schädel, an dessen schlafloser Schläfe ein irrlichternder Hammer all das im Welt takt besingt.
Auch hier geht es um das Erleben der Zeit. »Die Zahlen<; nimmt das Zählen der Zeit auf. Die Zeit erscheint hier als Verhängnis, denn sie steht »im Bund mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis«. »Der Bilder Verhängnis« meint offenbar das, was hinter dem Schädel wach ist, das unvermeidliche Verhängnis des Bewußtseins, in dem immer etwas sich abbildet. Es kann nicht fehlen, daß da etwas ist - nicht ein Gerufenes, nicht ein Gewünschtes. Die Zahlen, das heißt dieses Ablaufen der Augenblicke, sind nicht für sich. Sie sind »im Bund«, d. h. schließen immer zugleich ein, daß als Gegebenheiten der inneren Erfahrung Bilder da sind. Diese Bilder nun, die so mit den Zahlen und der Zeit unlösbar mitgehen, sind nicht nur wie die Zeit» Verhängnis«, d.h. notwendiges, unabänderliches Geschehen, sie haben die Funktion eines »Gegenverhängnisses«. Das will sagen, daß sie zugleich gegen die Zahlen stehen, gegen das Einerlei der Folge, das unaufhörlich wie ein Hammer pocht. Doch diese Bilder sind auch selber Verhängnis. Als Verhängnis der Bilder erlangt indes das Wort »Verhängnis« einen neuen Gegensinn, nämlich, daß es etwas verhängt, so daß das Verhängte nicht mehr in seiner eigentlichen Gestalt offen liegt und unverhüllt sichtbar ist. Indem das Gegenverhängnis der Bilder beides zugleich ist, nicht nur Verhängtes, sondern auch Verhängendes, gewinnt auch das Verhängnis selber etwas von dem Doppelsinn, verhängt und zugleich verhängend zu sein. Das, wogegen die Bilder das Verhängende und Verhängte sind, sind die Zahlen, die Zeit, das unabänderliche Vergehen. Es ist - als im Bunde mit den Bildern - nicht nur ein unaufhörliches Pochen der Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegenwart liegt und den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, der bunte Teppich der Bilder. Die Zeit ist der innere Sinn, in dem sich die Sukzession der Vorstellungen findet. Das hatte schon Kant und im Ansatz schon Aristoteles gelehrt. Man versteht das Be-
fremdliche, daß diese Unendlichkeit der Folge und der Bilder wie unter einem Helm eingeschlossen ist. Es ist der Schädel, an dessen Wand der Äußerlichkeit sich diese innere Unendlichkeit im Hammerschlag des Zeitpulses manifestiert. Nun heißt es aber »im Welttakt besingt«: Daß der Taktschlag des Zeithammers Welttakt ist, ist klar - er umfaßt alles. Was heißt es aber, daß der pochende Hammer diese ganze innere Folge» besingt«? Aus solchem Takt des unaufhaltsamen Vorbei wird doch wahrlich keine Musik. Die kühne Metapher »besingt« bildet einen Endvers und hat dadurch einen starken Nachdruck, die Emphase des Paradoxon, das sich selbst setzt und entgegensetzt. Nun meint »besingt« auf alle Fälle: nicht entgegenstehen, sondern preisen und in der Preisung gegenwärtig machen. Was bedeutet das? Wieso ist der »irrlichternde Hammer«, das Aufzucken des Bewußtseins, das dem Strom von Zeit und Bild nur folgt und mit ihm geht, zugleich das, was zu ihm ja sagt, ihn ganz zum meinigen macht - als jenes »Ich denke«, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können? Oder ist es gerade die Monotonie dieses Hammerschlages der Vergänglichkeit, die in einem bitteren Oxymoron »singen« genannt ist? Doch die semantische Gegebenheit scheint mir eindeutig: Im großen Takt der Zeit, die wieder Pulsschlag ist, ist das Aufleuchten des Bewußtseins wie ein Gegenverhängnis. Es sind Bilder, deren Wechselgehalt das Einerlei des Vergehens in unaufhörlicher Folge irrlichternd belebt. Wie nahe hier - wie überhaupt bei Celan ein Wortspiel lauert, zeigt in der zweiten Strophe die Wendung »schlaflose Schläfe«. Wie alle Wortspiele verkörpert auch dieses einen Gedankenbruch - oder besser: eine verborgene Harmonie, die, wie Heraklit wußte, stärker ist als eine offene.) In der Tat ist es das Rätsel des Bewußtseins 3 Zur Tragweite dieses Heraklitischen Grundsatzes nicht nur für das Celan-Verständnis, sondern der modernen Kunst im allgemeinen siehe ,Im Schatten des Nihilismus<, in: Gadamer, a.a.O., S. 379ff.
selbst, wie dies Ineins von Schlaf und Schlaflosigkeit, diese Schlaflosigkeit im Schlaf, sein kann. Wenn man sich seiner selbst bewußt ist, ist man wach. Aber der, der sich da seiner selbst bewußt wird, ist stets wie ein aus dem Schlaf Erweckter. So sicher sind wir unserer Selbigkeit im Selbstbewußtsein, daß seine Wachheit auch seinen Schlaf, sein Dämmern und Vergessen, fraglos umfaßt. Nun ist der Hammer, der an die Schläfe pocht, im Einerlei des unerbittlichen Weitergehens der Zeit, Gesang - oder wie Gesang? - In jedem Falle meint das etwas, was da zustande und zum Stehen kommt. Das ist die eigentliche Aussage. Indem der Hammer nicht nur den Welttaktschlägt, sondern im Takt all das, was in der ganzen Greifbarkeit der Bilder auftaucht, besingt, wird das Einerlei aufgehoben. Die wechselnden Bilder treten in ein bleibendes Sein, das dem Vergehen ins Tonlose widersteht und in dem Zustimmung geschieht. Wege im Schatten-Gebräch deiner Hand. Aus der Vier-Finger-Furche wühl ich mir den versteinerten Segen. N ach hermeneutischem Grundsatz beginne ich mit der betonten Schlußzeile. Denn darin liegt offenbar der Kern dieses Kurzgedichtes. Es spricht von »versteinertem Segen«. Segen wird nicht mehr offen und strömend erteilt. Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so sehr entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteinerung gegenwärtig ist. Nun sagt das Gedicht: Dieser Segen der segnenden Hand wird mit der wühlenden, verzweifelnden Inbrunst eines Bedürftigen gesucht. Damit geschieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand zu der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hof86
fende Botschaft verborgen ist. Was mit dem »SchattenGebräch« gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Wenn die Hand sich etwas krümmt und die Falten Schatten werfen, dann werden in dem »Gebräch« der Hand, das heißt in dem Geflecht von Brechungen und Faltungen, die Brüche als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die Sprache des Schicksals oder des Wesens heraus. Die» Vi er-Finger-Furche« nun ist die durchgehende Querfalte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Daumen in einer Einheit zusammenfaßt. Wie ist das alles seltsam! Das Ich, wer auch immer es sei, der Dichter oder wir, sucht den fernen und ungreifbar gewordenen Segen aus der Segenshand herauszu»wühlen«. Das geschieht aber nicht in einem kundig vertrauten Entziffern geheimnisvoller Linienspiele. Die Situation des Handlesers, die hier deutlich heraufbeschworen ist, bildet in Wahrheit und alles in allem eine Kontrastsituation. Man gestehe es sich ein: Handlesen, wo es im Ernst und nicht zum reinen Scherz geschieht, behält eine merkwürdige Berührungskraft. Die Unenthüllbarkeit der Zukunft erfüllt jede Aussage über solche Zeichen mit einem lockenden Geheimnis. Aber hier ist es alles ganz anders. Die Inbrunst und die verzweifelte Not des Suchenden ist so groß, daß er nicht etwa im kundigen Deuten über der Rätselschrift der Hand und der Zukunft halb scherzhaft und halb ernsthaft verweilt - im Gewirr der Handlinien sucht er wie ein Verdurstender nur die größte, tiefste, in Wahrheit geheimnislose Furche allein, in deren Schatten nichts geschrieben ist. Aber seine Not ist so groß, daß er selbst noch aus dieser nichts mehr spendenden Handfurche so etwas wie Segen erfleht. Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segenshand, die nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand des verborgenen Gottes zu sehen, dessen Segensfülle unkenntlich wurde und uns nur noch wie in Versteinerungen überkommen ist, ob diese nun das erstarrte Zeremoniell
der Religionen oder die erstarrte Glaubenskraft der Menschen sein mögen. Aber wieder wird es so sein, daß das Gedicht darüber nicht entscheidet, wer hier Du ist. Seine alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der in »deiner Hand« - wessen Hand es auch sei - nach Segen sucht. Was er findet, ist »versteinerter« Segen. Ist das noch Segen? Ein Letztes an Segen? Aus deiner Hand? Dein vom Wachen stößiger Traum. Mit der zwölfmal schraubenförmig in sein Horn gekerbten Wortspur. Der letzte Stoß, den er führt. Die in der senkrechten, schmalen Tagschlucht nach oben stakende Fähre: sie setzt Wundgelesenes über. Das Gedicht ist streng gebaut. Zwei Strophen, die erste und die dritte, werden je von einer Kurzstrophe gefolgt, die jeweils eine Art Folgerung zieht. So zerfällt das Gedicht in zwei Hälften. Es sind durchaus verschiedene Bildsphären, die in ihnen heraufgerufen werden. Aber sie betreffen ein Gemeinsames: Schlaf und Traum sowie d.as Erwachen. Offenbar sind es auch rhythmisch zwei sehr verschiedene Vorgänge, die hier zusammengebunden sind. Auf der einen Seite das Drängen des Traumes, der wie ein Bock stößt, und auf der anderen Seite die mühsam nach oben stakende Fähre. Indessen zielt beides, wenn auch ganz verschieden gesehen, auf das gleiche. 88
Das ist ein Ausgangspunkt für die Frage, wie das Ganze zu verstehen ist. Man muß es vom einzelnen her versuchen. Der Traum ist »stößig« geworden wie ein Ziegenbock. Dadurch gelangt etwas von dem Dunkel an den Tag. Nun muß man beachten, daß es nicht etwa ein beim nahenden Erwachen stößig werdender Traum ist, wie wir das sonst aus dem Traumerleben Schlafender kennen. Er wird im Gegenteil vom Wachen stößig. Es ist also ein allzu langer Vorgang des Wachens, der schließlich den Traum so stößig werden läßt, daß am Ende etwas nach oben übersetzt, »übergesetzt« wird. Das steht jedenfalls fest, daß das Gedicht nicht etwa den wirklichen Traum im Schlaf meint, und das wird vollends deutlich und eindeutig durch das Reizwort im letzten Verse: »Wundgelesenes«. Daraus geht hervor, daß es die Welt der Worte und des Lesens ist, in der sich der Traum regt. Es entspricht dem, daß dieser stößige Bock ein Horn hat, auf dem sich, wie man das von manchen Widderarten kennt, gekerbte Windungen zur Spitze hinziehen, und daß diese gekerbte Spur »Wortspur« heißt. So wird deutlich, daß es sich um die lange anstehende, sich lange vorbereitende Geburt des Wortes handelt, die in dem Gedicht beschrieben wird. Das Horn windet sich in zwölf Windungen bis in die Spitze hinauf, mit der der Bock den letzten Stoß führt. Die Zwölfzahl deutet auf ein rundes Ganzes von Zeit, zwölf Monate, ein volles Jahr, jedenfalls eine lange Zeit. Mit anderen Worten: Schon lange hält das Wachen den Traum nieder, und immer wieder führt der Traum, der sich regt, seine Stöße~ Es ist also wie ein langes »Heranwachen«, um einen Ausdruck des Gedichts »Von Ungeträumtem« zu verwenden. Offenbar will das Gedicht sagen, daß ein Gedicht nicht ein plötzlicher Einfall ist, sondern lange Arbeit der Vorbereitung verlangt. Aber die tatsächliche Arbeit an dem Gedicht, die im zweiten Gleichnis als eine langsam und mühevoll stakende Fähre erscheint, ist gleichwohl nicht die eigentliche Aussage desselben. Die eigentliche Aussage ist vielmehr,
daß es »Wundgelesenes« ist, das so nach oben kommt. »Wundgelesenes«, Wundgelaufenes - das meint ein von allzulanger Wanderschaft des Lesens Wundgewordenes. Oder ist» Wundgelesenes« von noch tieferer Zweideutig-keit und meint nicht nur den Schmerz des Lesens, des zu vielen, des sinnlosen Lesens, sondern ebenso vielleicht den Schmerz und die »Wunde des Gelesenen«, das heißt des schmerzhaft Erfahrenen überhaupt, das auch »gelesen« heißen kann: zusammengelesen, wie durch eine Ährenlese des Leides? In jedem Fall ist das, was ins Wort »übergesetzt« worden, ins Wort übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dunkel des Unbewußten mit Hilfe des Traumes durch eine Art Arbeit des Traumes gewonnene Text. Muß man noch einzelnes erläutern? Die Bildsphären sind von höchster Kraft anschaulicher Selbstauslegung: die Stöße des Bocks, die schließlich - mit dem letzten Stoß - die Wachwelt durchstoßen und den Traum erwecken. Welch eine Vertauschung von Traum und Wachen! Und dann diese tiefe »Tagschlucht«: Wie in eine senkrechte schmale Schlucht das Tageslicht einfällt, so arbeitet sich wie an einer Leiter des Lichts das im Dunkeln Gesammelte, »Wundgelesene« ans Licht hinauf - auch dies nicht auf einen Schlag, sowenig wie der Bock auf einen Stoß den Traum aufweckt. Aber am Ende erweckt er den Traum, am Ende langt das aus dem Dunkel ans Licht Übergesetzte an - das ist das Gedicht.
Das Recht des Lesers Wenn man die literaturwissenschaftliche und literaturkritische Resonanz auf das Werk von Paul Celan, wie sie mittlerweile vorliegt, mustert, empfindet der Liebhaber Celanscher Verse vielfach eine gewisse Enttäuschung. Was da von Kennern und Kundigen über dieselben gesagt
wird, oft mit viel Subtilität, manchmal mit wirklicher Penetrationskraft, macht doch alles, gewollt oder ungewollt, die Voraussetzung, man verstünde die Verse und urteile aufgrund dieses Verständnisses, etwa wenn man das beklemmende Scheitern des Dichters im kryptisch werdenden Wort oder sein jähes Verstummen feststellt. Für das Verständnis des noch nicht verstummten Wortes dagegen scheint mir bisher zu wenig getan. Für den Celan-Leser bleibt eine der dringendsten Aufgaben noch weitgehend unerfüllt. Wessen er bedarf, ist nicht eine kritische Beurteilung, die feststellt, daß man nicht mehr versteht, sondern dort anzusetzen, wo man zum Verständnis vorzudringen vermag, und dann zu sagen, wie man versteht. In guten alten Zeiten nannte man das ganz schlicht >Realinterpretation<. Man sollte deren Recht und Möglichkeit nicht leichtfertig preisgeben, am allerwenigsten bei einem so traditionsbewußten Dichter, wie Celan war. Es geht dabei nicht darum, die Eindeutigkeit des vom Dichter Gemeinten zu ermitteln. Das schon gar nicht. Auch nicht darum geht es, die Eindeutigkeit des »Sinnes« festzulegen, den die Verse aussprechen. Eher schon geht es um den Sinn des Vieldeutigen und Unbestimmten, den das Gedicht aufgerührt hat und der kein Freiraum der Willkür und des Beliebens des Lesers ist, sondern der Gegenstand der hermeneutischen Anstrengung, die diese Verse verlangen. Wer die Schwierigkeit dieser Aufgabenstellung kennt, weiß, daß es sich nicht darum handeln kann, alle Konnotationen namhaft zu machen, die das »Verständnis« dichterischer Gebilde anklingen läßt, sondern darum, die SinnEinheit, die einem solchen Text als einer sprachlichen Einheit zukommt, so weit sichtbar zu machen, daß die sich an ihn anschließenden unüberschaubaren Konnotationen ihrem Sinn-Halt finden. Das ist bei einem Dichter, der die Verfremdung natiirlichen Sprechens so hochgezüchtet hat wie Celan, stets voller Risiken und bedarf der kritischen Kontrolle. Einem Versuch, in dem gewiß viele Irrtümer 91
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I stecken werden, der aber als Aufgabe durch nichts abge- ' löst oder ersetzt werden kann, ist dieser Kommentar gewidmet. 4 Daß gerade die Folge Atemkristall, die ehedem gesondert veröffentlicht worden ist und den Band Atemwende einleitet, hier behandelt wird, hat zunächst keinen anderen Grund, als daß ich diese Gedichte einigermaßen verstanden zu haben glaube. Es ist aber ein alter hermeneutischer Grundsatz, daß man bei der Interpretation von schwierigen Texten dort einsetzen muß, wo man ein erstes, halbwegs sicheres Verständnis besitzt. Ob die Folge >Atemkristall<, wie mir scheinen will, obendrein einen Höhepunkt der Celanschen Kunst darstellt und es insofern mehr als zufällig ist, daß ich diese Gedichte gerade noch zu verstehen glaube, weil sie mir weniger als manche seiner späteren Gedichte ins Unentzifferbare versinken, mag dahingestellt bleiben. Ich bin mir bewußt, daß die Welt Paul Celans von der Überlieferungswelt, in der ich selber - wie die meisten seiner Leser - aufgewachsen bin, weit abliegende Ursprünge besitzt. Mir fehlt originale Kennerschaft der jüdischen Mystik, der Chassidim (die auch Celan wohl nur aus Buber kannte), und vor allem der östlich-jüdischen Volksbräuche, die für Celan den selbstverständlichen Grund bildeten, aus dem heraus er sprach. Mir fehlt auch die erstaunlich detaillierte Naturkenntnis des Dichters, und oft wäre man für Belehrung in der einen oder anderen Richtung im Grunde dankbar. Aber solche Belehrung hätte auch ihr Bedenkliches. Man geriete in eine gewisse Gefahrenzone: es könnte geschehen, daß man Kenntnisse aufböte, die der Dichter vielleicht selber nicht besaß. Celan 4 Die vorangehenden Bemerkungen bez~.ehen sich auf die Beiträge in dem Sammelband von Dietlind Meinecke (Uber Paul Celan. Frankfurt 1970, erw. Aufl. 1973). Die reiche spätere Forschung bringt gewiß viel Wissenswertes, aber muß sich doch dem Maßstab unterwerfen, den ein Leser hat, der die Sinn-Einheit dieser Gedichte sucht, die er liest.
hat gelegentlich vor solchem Wissenseifer gewarnt. Selbst wo uns Kenntnisse oder gar vom Dichter selber stammende Informationen helfen - noch die Legitimität solcher Hilfe entscheidet sich am Ende an der Dichtung selbst. Die Hilfe kann »falsch« sein - und sie ist »falsch«, wenn die Dichtung sie nicht voll einlöst. Eine gewisse Einübung verlangt freilich jeder Dichter, und so ist auch hier die »Sprache« des Dichters aus dem Kontext seines Werkes nicht abgelöst. Vielleicht werden uns die erhaltenen Vorstufen der Celanschen Gedichte weitere Hilfe bringen - selbst diese wäre aber keine eindeutige, wie das Beispiel Hölderlins uns gelehrt hat. Alles in allem scheint mir der Grundsatz gesund, Dichtung nicht als gelehrtes Kryptogramm für Gelehrte anzusehen, sondern als für die Angehörigen einer durch Sprachgemeinschaft gemeinsamen Welt bestimmt, in der der Dichter ebenso zu Hause ist wie sein Hörer oder Leser. Wenn es dem Dichter gelungen ist und wo es ihm gelungen ist, sprachliche Gebilde zu gestalten, die in sich stehen, sollte es dem dichterischen Ohr möglich sein, das Gültige auch unabhängig von solchem Einzelwissen und jenseits von ihm zu einiger Klarheit zu erheben und damit der Präzision nahezukommen, die das offene Geheimnis dieser kryptischen Poesie ist. Freilich, das Verfahren, ein Gedicht zu verstehen, verläuft nicht auf einer einzigen Ebene. Zwar ist es zunächst nur eine einzige Ebene, in der es vorliegt: die der Worte. Die Worte verstehen ist daher das allererste. Ohnehin ist jeder der betreffenden Sprache Unkundige ausgeschlossen, und da die Worte eines Gedichts die Einheit einer Rede, eines Atems, einer Stimme sind, sind es auch durchaus nicht nur die einzelnen Wörter, deren Bedeutung man verstehen muß. Vielmehr legt sich die genaue Bedeutung eines Wortes erst durch die Einheit einer Sinnfigur fest, die die Rede bildet. Das kann eine noch so dunkle, spannungsvolle, rissige, zersprungene und brüchige Einheit sein, die die Sinnfigur dichterischer Rede besitzt - die 93
Polyvalenz der Wörter legt sich im Vollzug des Redesin-' nes fest und läßt die eine Bedeutung sich ausschwingen, andere nur mitschwingen. Darin ist Eindeutigkeit, die allem Sprechen mit Notwendigkeit eignet, auch dem der poesie pure. Das sollte selbstverständlich sein, und es scheint mir durchaus irrig, zu leugnen, daß nicht jedes Wort erst einmal in der genauen Konkretion seiner Bedeutung in der Rede erfaßt werden muß und daß diese allererste Ebene des Verstehens nicht übersprungen werden darf. Das gilt vollends für Paul Celan, bei dem das einzelne Wort sehr konkret und präzise gesagt ist. Man kann gar nicht genau genug erwägen und ermitteln, was die Rede »zunächst« sagt, wenn sich auch die eigentliche Präzision des Gesagtseins, die die Rede ein Gedicht sein läßt, auf dieser ersten Ebene der Wörter, ihrer Bedeutungs- und Benennungsfunktion und der Redeeinheit, die sie bilden, nicht erfüllt. In Wahrheit kann man sich in ihr gar nicht halten. Denn immer schon sind verschiedene Ebenen ineinandergeschoben. Das macht die Aufgabe des Verstehens so schwer. Aber was heißt hier überhaupt »verstehen«? Es gibt sehr verschiedene Formen von »Verstehen«, die sich in einer gewissen Unabhängigkeit voneinander zu vollziehen vermögen. Doch ist schon in der älteren hermeneutischen Theorie die Verflechtung der verschiedenen Interpretationsarten miteinander immer betont worden, auch wenn man, wie insbesondere F. A. Boeckh in seiner Methodenlehre der Interpretation, sich bemüht, die verschiedenen Interpretationsmethoden scharf voneinander getrennt zu halten. Das gilt insbesondere von der älteren Lehre von dem vierfachen Schriftsinn, daß sie nur eine Beschreibung der Dimensionen des Verstehens ist. Was ist bei Celan »sensus allegoricus«? Bekanntlich hat Celan nichts davon wissen wollen, daß es bei ihm Metaphern gebe, und wenn man Metaphern als Redeteile und Redemittel versteht, die sich aus dem eigentlich Gesagten herausheben bzw. in es 94
eingliedern, so versteht man diese Abwehr recht wohl. Wo alles Metapher ist, ist nichts Metapher. Wo der schlichte und genaue Wortlauf das, wovon da die Rede ist, nicht als ein »Positives« im Hegelschen Sinne, als eine vorgegebene Welt von Sinn und Form »meint«, sondern im einen das andere, im Gesagten gar nicht es und im »Nicht es« gleichwohl nichts anderes »meint«, sind nicht nur verschiedene Ebenen des Sagens unterschieden, sondern gerade auch in ihrer Verschiedenheit in eins gebunden. Da gibt es keine Allegorien. Alles ist es selbst. Das dichterische Wort ist in dem Sinne »es selbst«, daß nichts anderes, Vorgegebenes, da ist, an dem es sich mißt und doch gibt es kein Wort, das nicht außer ihm selbstund das heißt: außer seiner vielschichtigen Bedeutung und dem mit dieser Bedeutung in ihren verschiedenen Ebenen Benannten - nicht auch noch sein eigenes Gesagtsein wäre. Das aber heißt, daß es Antwort ist. Antwort schließt Fragen ein und schließt Fragen ab, d. h. aber, das Gesagte ist nicht aus sich selbst allein, auch wenn nichts sonst vorzeigbar ist als seine Sprachwirklichkeit. Das ändert nichts an dem unbegreiflich Verbindlichen eines Gedichts, daß es in sich selbst steht, daß keines seiner Worte in der Weise für etwas steht, für das etwa auch ein anderes Wort stehen könnte. »Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen« (G. Eich). Doch impliziert die Einzigkeit des Wie seines Gesagtseins immer noch etwas anderes. Auch das Gedicht hat - wie jedes Wort des Gesprächs den Charakter des Gegenwortes, das mithören läßt, was gerade nicht gesagt wird, was aber als Sinnerwartung vorausgesetzt ist, ja durch das Gedicht geweckt wird - vielleicht nur, um als Erwartung gebrochen zu werden. Das scheint insbesondere für heutige Lyrik wie die Celans zu beachten. Das ist nicht Barocklyrik, die ihre Aussagen innerhalb eines einheitlichen Bezugsrahmens hält und mythologisch-ikonographisch-semantisch eine gemein95
same Vörgegebenheit besitzt. Celans Wortentscheidunge~ waren in sich ein Geflecht sprachlicher Konnotationen, dessen verborgene Syntax von nirgends anderswoher erlernbar ist als aus den Gedichten selbst. Das schreibt der Interpretation ihren Weg vor: Man wird nicht vom Text auf eine in ihrer Kohärenz vertraute Sinnwelt verwiesen. Sinnfragmente sind wie ineinandergekeilt, man kann nicht den Weg der Transposition von einer Ebene schlichten Gemeintseins zu einer zweiten Ebene des eigentlich Gesagtseins gehen - das eigentlich Gesagte ist vielmehr auf eine schwer beschreibbare Weise noch immer dasselbe, das die Rede meinte. Was im Verstehen geschieht, ist nicht so sehr eine Transposition als die beständige Aktualisierung der Transponierbarkeit, d. h. die Aufhebung aller ~>Positi:~tät« j~ner ersten Ebene, die man dadurch gerade 1m posItIVen Smne »aufhebt« und erhält. Das ist für die Celan-Interpretation - und nicht nur für sie - ganz entscheidend. Denn von da aus bestimmt sich der so überaus umstrittene Stellenwert der Informationen die nicht aus dem Gedicht selbst stammen, sondern au~ Mitteilungen des Dichters und seiner Freunde gewonnen we:-den und den »biographischen« Anlaß, das biographIsch lokalisierte Motiv, die konkrete und bestimmte Situation eines Gedichts betreffen. Man weiß, nicht zuletzt aus Celans eigenem Munde in der Büchner-Preis-Rede,. daß es für Celan gerade auch gegenüber dem Kunstbegriff Mallarmes und seiner Nachfolger charakteristisch ist daß ~eine Dichtung und Art Wortschöpfung und Wortfindung 1St, die jeweils wie ein Bekenntnis aus einer genauen Lebenssituation aufsteigt. Diese ist freilich nicht in ~llen ihren Einzelbestimmtheiten aus dem Gedichttext allein faßbar. Man nehme ein Gedicht wie Blume, das inzwischen durch eine Arbeit von Rolf Bücher in seinen Textstufen überschaut werden kann.
Martin Gessmann Nachwort Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht, ist Jacques Derridas »Adieu« an Hans-Georg Gadamer. Die Festrede zur Gedenkfeier an den Heidelberger Philosophen wurde am 15. Februar 2003 in der Aula der Neuen Universität in Heidelberg gehalten. .Derridas Heidelberger Rede fügt sich in eine lange ReIhe von Abschiedsreden, die er im Laufe der vergangenen 20 Jahre verfaßt hat, und sie steht an deren vorläufigem Ende. Die Tode von Roland Barthes waren Derridas erste. Trauerarb,eit, auch in Deutschland berühmt geworden 1St das Adzeu an Emmanuel Levinas, andere illustre Namen. kommen hinzu: Michel Foucault, Fran~ois Lyotard, Gilles Deleuze, zuletzt Maurice Blanchot. Wenn er es überhaupt wagen wollte, all jenen Abschiedsreden eine »Einführung« voranzustellen dann schreibt Derrida im Vorwort einer jüngst erschienene~ Sammlung dieser Beiträge, müßte es der Essay über den ununterbrochenen Dialog sein. Auch dieser ist in seinem Ursprung zwar eine Abschiedsrede, aber Derrida will damit zugleich offenbar mehr - über die Trauer über einen Freu"?-d hinaus ein Nachdenken beginnen über die philosophIschen Schwierigkeiten des Abschiednehmens selbst. Eine dieser Schwierigkeiten, wenn nicht sogar die wichtigste, besteht für Derrida in dem Anspruch, am Ende eines Lebens von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit jene: Existenz angemessen Zeugnis abzulegen. Nicht wellIger sollte man demnach von einer echten Trauerrede ~rwarten dürfen, als daß sie sagt, wer dieser Mensch im Innersten seines Wesens wirklich gewesen ist. Hier beginnt aber das Problem, denn zuerst einmal muß man sich sicher 97
sein können, daß man den anderen tatsächlich kennt und' weiß, wer er in Wahrheit ist. Man muß es erst so weit bringen, den anderen im emphatischen Sinne verstehen zu können, mit all seinen Besonderheiten und höchst individuellen Eigenarten. Um eine Antwort auf die Frage, inwiefern dies überhaupt möglich ist, wie weit das Verständnis des Gegenüber bestenfalls zu dessen Wesen vordringen kann, darüber haben Hans-G~org Gadamer und J acques Derrida Jahrzehnte miteinander gerungen. Jetzt erscheint der ununterbrochene Dialog als eine letztmögliche Antwort darauf, eine finale Annäherung, die nicht ohne ein gewisses Paradox besteht. Schon in der Rede vom ununterbrochenen Dialog selbst wird dies deutlich: denn nur wo der Dissens über das Verstehen als solcher verständig kultiviert wird, hat das gegenseitige Einvernehmen als ausgezeichnete Form philosophischer Freundschaft eine Chance.
Der ununterbrochene Dialog Dieser begann für Gadamer schon weit früher als für Derrida. Dessen »Ousia et gramme« hat Gadamer bereits in den frühen 60er Jahren gelesen. Derridas Gadamerlektüre setzt dagegen erst sehr viel später ein, wobei man im Auge behalten muß, daß Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode erst 1976 (und auch nur in einer stark gekürzten Fassung) ins Französische übersetzt wurde. Im selben Jahr sollte es zu einem Zusammentreffen in Italien kommen, die Einladung ging von Gadamer aus, aus dem Treffen wurde allerdings nichts. Was Derrida in seiner Rede als die erste »Unterbrechung« in seinem Verhältnis zu Gadamer anspricht, datiert auf das Jahr 1981, in dem es am Pariser Goethe-Institut um Fragen von »Text und Interpretation« gehen sollte. Thema waren schon hier die Grenzen unseres Verstehens, vor allem mit Blick auf die
Möglichkeiten, den Besonderheiten von Autor und Text in der Auslegung gerecht zu werden. Im Hintergrund der Debatte steht die Gemeinsamkeit eines von beiden geteilten Heideggererbes. Heidegger hatte in den 20er und 30er Jahren ganz grundsätzlich die Philosophie gegen die moderne Wissenschaft und Technik in Stellung gebracht, insofern diese es schon mit ihrem speziellen Vokabular dem Menschen schwerrnachen, das spezifisch Menschliche im Umgang mit sich und der Welt richtig zu beschreiben. Der »Verdinglichung« und »Vernutzung« alles Humanen ausgehend von der Wissenschaftssprache sollte <;lie Philosophie entgegentreten mit der Forderung nach einer Besinnung auf tieferliegende und noch sinntragende Schichten unserer sprachlichen Ressourcen. Dieser Spur ins Grundsätzliche folgend hat Gadamer auf die Notwendigkeit eines besonderen Umgangs mit der Sprache geschlossen, den man zu einer eigenständigen Verstehensform ausbauen müsse. Daraus ließe sich dann eine methodische Grundlage für all jene Geisteswissenschaften gewinnen, die sich dem Druck des modernen Szientismus nicht beugen wollten. Im Anschluß an Schleiermacher und Dilthey nennt er diese »methodische« Form des Verstehens »Hermeneutik«. Derrida bietet komplementär dazu ein Verfahren an, wie die Selbstsicherheit der verdinglichenden Wissenschaftssprache noch im Zuge ihrer Entstehung in Frage gestellt werden könnte. Dem Systemdenken wird hier nicht wie bei Gadamer eine Alternative geboten, es wird vielmehr anarchisch unterwandert. Die entsprechende Methodenanweisung nennt Derrida »Dekonstruktion« in Anlehnung und Fortschreibung der Heideggerschen »Destruktion von Metaphysik«. Wollte Heidegger noch mit seiner Philosophie auf ein sicheres Sinn-Fundament in der Sprache stoßen, nutzt Derrida jene Wiederentdeckung sprachlicher Tiefendimensionen vor allem zu Zwecken der Verunsicherung. Geht es doch der »Dekonstruktion« 99
letztlich darum, die Bodenlosigkeit all unseres Verstehens in der prinzipiellen Zwei- oder Vieldeutigkeit der Zeichen vor Augen zu führen. In Paris wurde nun ausgelotet, inwiefern beide Verstehens-Konzepte noch einmal einander angenähert werden könnten. Das Problem zeichnet sich dabei an der Stelle ab, an der die gemeinsame Opposition gegen das Systemdenken der exakten Wissenschaften zwar weiter vorausgesetzt ist, dafür aber innerhalb der Hermeneutik erneut ein Dissens um die nötige Systemhygiene droht. In Derridas Augen entsteht der Verdacht, Gadamer gehe möglicherweise mit seiner Skepsis gegenüber möglichen Sinnvermutungen im Felde der Geisteswissenschaften nicht weit genug. Das zeige sich in letzter Instanz an der Frage, wieweit sich ein Text und dessen Autor hermeneutisch schließlich doch auf eine bestimmte Aussage festlegen lassen müssen. Derrida wirft Gadamer konkret vor, den Autor als den »Anderen« immer noch als eine feste Größe ins Auslegungsgeschehen einzubeziehen, anstatt, gemäß den Maximen der Dekonstruktion, auch noch diesen in seiner Identität mitsamt dem Gehalt seiner Aussage radikal in Frage zu stellen. Hier beginnt nun im eigentlichen Sinne der »ununterbrochene Dialog« mit einer Replik Gadamers, der sich angesichts des Vorwurfs, seine Hermeneutik sei schließlich noch eine Art Sinnfeststellungsverfahren, deutlich mißverstanden fühlt. Denn so, wie er das hermeneutische Wechselspiel zwischen» Text und Interpretation«, zwischen Autor und Ausleger konzipiert, bestehe von Anfang nicht die geringste Gefahr, daß es zu vorschnellen Festlegungen über Sinn und Bedeutung von Textaussagen kommen könne. Gadamer hilft dabei, daß er die Textarbeit des Interpreten immer schon nach dem Vorbild eines Zwiegesprächs verstanden hat, wobei für ihn natürlich der sokratische Dialog das philosophische Muster dazu abgibt. Und ein solches Gespräch lebt ja in der Tat von 100
einer Grundevidenz: Hat man sich erst einmal von persönlichen Eitelkeiten verabschiedet und diskutiert nur um der Sache willen, ist es bereits dem Gesprächsverlauf überlassen, einen von selbst und ganz all eine weg von einer jeden voreiligen Fixierung auf bestimmte Vorverständnisse zu führen. Kein Gesprächspartner findet sich mehr, sollte er ehrlich zu sich sein, am Ende einer echten Kontroverse genau an dem Punkt wieder, von dem er am Anfang einmal ausgegangen war. Der jeweilige Horizont der Betrachtung, sagt Gadamer, hat sich dann im lebendigen Austausch divergierender Ansichten wechselseitig geöffnet, und sein Gespr~chsideal sieht zum Schluß sogar ein gemeinsam vertieftes Verständnis der diskutierten Angelegenheit vor. Eine derart glückliche Konvergenz wesentlicher Hinsichten heißt im hermeneutischen Vokabular eine »Horizontverschmelzung«. Der Gadamersche Verweis auf hermeneutische Gesprächstugenden reicht in Derridas Augen allerdings nicht aus. Er hakt dabei an dem Punkt ein, an dem Gadamer mit der »Horizontverschmelzung« einen letzten Ruhepunkt im Gespräch vorsieht. Eine solche Harmonie der Hinsichten sei letzten Endes immer von der Philosophie erzwungen, sie sei ein Oktroi eines quasi-metaphysischen »Willens zur Verständigung«. Anstatt den anderen zu dekonstruieren, werde er vielmehr gemäß diesem Willen zur Einigung erst hervorgebracht, er ist dessen Konstrukt. Derrida kann hier seinerseits auf eine Grundevidenz verweisen. Denn bleibt nicht auch noch im »besten« hermeneutischen Gespräch, trotz aller Einigung, aller Beteuerung des Einverständnisses in der Sache und sogar größtmöglicher Annäherung im Grundsätzlichen, dennoch am Ende ein möglicher Zweifel: ob es nicht doch wieder nur wir selbst sind, die unsere eigenen Ansichten in die Äußerungen des anderen hineinlegen oder hineinprojizieren; ob also der andere es tatsächlich so gemeint hat, wie wir meinen, daß er es gemeint haben müßte; und ob er 101
deshalb nicht, und zwar um seiner selbst willen, in einer' letzten Instanz ganz anders- verstanden werden wollte, als wir dies mit unserer Aneignung des anderen ständig tun? Man darf deshalb nicht glauben, schließt Derrida aus alldem, das hermeneutische Gespräch würde dem phil~sophischen Anliegen allein schon aus seiner Eigenlogik heraus gerecht. Vielmehr gelte es, an einem jeden Anhaltspunkt des Gesprächs von neuem allem Verdrängten, Unterdrückten, Marginalisierten, kurz allem Nicht-Verstandenen in allem hermeneutischen Verstehen nachzuspüren und es aufzudecken. Dies nennt er eine »disseminale« Lektürepraxis, weil sie jede Interpretation nur als den »Keim« neuer Interpretationen nimmt, in denen zugleich immer auch neues Nicht-Verstehen ans Licht gebracht wird, dessen Auslegung wiederum neue, mehr und mehr wuchernde Interpretationen nach sich zieht. Gadamer nahm die Herausforderung an, wie manche meinen, mit beinahe jugendlichem Eifer: »Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines Gespräches, nicht am Ende.« Die kommenden zehn Jahre sollten in der Tat dazu bestimmt sein, Vorwürfe wie Vorurteile auszuräumen. Gadamer bestand ganz zu Recht darauf, daß auch seine Hermeneutik keineswegs im Verstehen einen Abschluß suche. Auch die beste Interpretation berge ganz natürlich einen Keim für weitergehende Deutungen, und an keinem Punkt des Prozes~es .läßt sich endgültig feststellen, was eigentlich gemeInt 1st. So verlaufen in der Tat die» Wirkungsgeschichten«, von denen Gadamer immer schon ausgeht: Jeder Interpret meint vielleicht zwar, seinen Gegenstand oder sein Gegenüber endgültig verstanden zu haben. Mit nur ein wenig historischem Abstand zeigt sich aber dann schon wieder, daß eine jede solche Sicherheit verfrüht sein muß und immer neue Deutungen für sich ein Besser-Verstehen beanspruchen und gegenüber den Vorgängern einklagen. Die Beruhigung selbst bei einer HorizontverI02
schmelzung ist immer nur vorläufig, denn Horizonte haben es an sich, ihre Grenzen je nach Standpunkt in der Geschichte zu bewegen und zu verschieben. So bleibt auch hermeneutisch gesprochen der endgültige Sinn einer Sache bei jeder Deutung immer noch ausstehend. Nur in der Unendlichkeit des Deutungsprozesses ließe sich der gesuchte Sinn zur Erfüllung bringen. Auch Derrida nahm die Herausforderung an, wenn auch zuerst mehr aus der Ferne. Es brauchte noch mehrere Treffen, in Heidelberg, auf Capri, und nach zehn Jahren ein weiteres Mal in Paris, bis es zu einer wirklichen Annäherung kam. Persönlich wie philosophisch. Derrida schickte von nun an Gadamer seine Publikationen mit herzlicher Widmung. Gadamer fand dagegen »Aspekte von Derridas Begriffsbildung« in seiner eigenen Hermeneutik wieder. Unterschiede blieben aber auch jetzt, von beiden Seiten. Das Angebot der Hermeneutik, auch noch in der gelungenen Deutung mit einem Entzug des endgültigen Sinns zu rechnen, geht der Dekonstruktion naturgemäß nicht weit genug. Zwar kommt es in der Tat dadurch nicht mehr zu einem Abschluß im Verstehen. Derrida geht aber davon aus, daß selbst dann noch ein Rest an Unverstandenem bliebe, wenn man den unabschließbaren Wirkungsgeschichten bis an ihr virtuelles Ende folgen könnte. Selbst wenn alle Verstehensmöglichkeiten vollkommen erschöpft wären, bliebe noch dasselbe Unbehagen, das sich schon bei jedem einzelnen Einverständnis gemeldet hatte: daß man das Wesentliche immer noch nicht oder noch gar nicht erfaßt habe. Hinzu käme nur die unendliche Wiederholung jener Erfahrung, über die als solche freilich dadurch nicht hinauszukommen wäre. Ausschlaggebend dafür ist Derridas Intuition, daß am Ende das ganze Dialogverfahren und das hermeneutische Gespräch sich als unzureichend erweisen könnten. Wenn die Hermeneutik richtigerweise davon ausgehe, daß sich in jedem Deutungsakt immer noch etwas der verstehenden AneigI03
nung entziehe, so sei diese Einsicht entsprechend zu radi- ' kalisieren. Die Zugangsweis,e .4er Hermeneutik insgesamt sei in Frage zu stellen. Dem »entfaltende(n) Bezug« stellt Derrida so erst einmal den» Bruch des Bezuges« entgegen, dem Gesprächsangebot die Gesprächsverweigerung. Aus dekonstruktiver Sicht ist dies nichts weniger als konsequent gedacht. Denn es hieße schon, sich auf die Wahrheitsansprüche der Hermeneutik einzulassen, würde man das Gespräch mit ihr beginnen von einer Position aus, die sich von vornherein skeptisch zeigt, was den philosophischen Ertrag eines solchen Gesprächs angeht. Gadamer hatte ja nicht umsonst auf die Unhintergehbarkeit des Gesprächs verwiesen - noch um den Dissens zu formulieren, bräuchte es ein vorangehendes Einverständnis. Im »Bruch des Bezuges« wird dies freilich unterlaufen, auch wenn ein solcher Bruch seinerseits wiederum erst einer Deutung bedarf, um als solcher richtig verstanden zu werden. Im Rückblick Derridas jedenfalls scheint es beinahe unumgänglich, daß ein echter »entfaltender Bezug« zwischen dem Doyen der Dekonstruktion und dem Erfinder der philosophischen Hermeneutik nur durch das anfängliche Ausschlagen eines Gesprächsangebotes begründet werden konnte. Oder, anders gesagt, als ein Dialog, der nur über den Bruch hinaus »ununterbrochen« werden konnte.
Zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht Was den Dialog zwischen Derrida und Gadamer über alle Brüche hinaus tatsächlich »ununterbrochen« machen konnte, ist, wie Derrida gleich eingangs bemerkt, die philosophische Aufmerksamkeit beider für das Gedicht, die große Lyrik. Auch hier ist wieder der gemeinsame Heideggerbezug vorauszusetzen, Derrida spielt darauf in Gadamers Wendung von »Denken oder Dichten« an. Der späte Heidegger sah in der Formel einer Verbindung von »Dichten und Denken« die letzte Möglichkeit der Philo1°4
sophie, über das rein negative Verfahren einer »Destruktion von Metaphysik« hinauszukommen und überhaupt noch »positive« Einsichten zu formulieren. Durch die moderne metaphysische Wissenschaftssprache wird uns der Weltzugang verstellt, und das philosophische Verfahren zielt darauf, diese Vers teIlungen abzubauen und möglichst die verschütteten Zugänge wieder freizuräumen. Das Dichten dagegen ist allererst in der Lage, uns in dieser Situation wieder einen Weltzugang zu eröffnen, uns Welt zu erschließen. Dichten im Sinne großer Dichtung muß nämlich nicht von Vers teIlungen befreit werden, weil Dichtung selbst keine Lehre ist. Sie erklärt die Welt nicht und kann auch selbst nicht erklärt werden. Und doch gilt gemeinhin als ausgemacht, daß im Gedicht nichts weniger als eine ganze Welt aufscheint, daß die lyrische Sprache in ganz besonderer Weise in der Lage ist, als »weltbildend« verstanden zu werden. Sie kann den Sinn der Welt und ihre Erfahrung zwar nicht wissenschaftlich erklären, dafür aber künstlerisch »evozieren«. An diese Grunderfahrung knüpfen Gadamer und Derrida gleichermaßen an, wie zuvor auch schon der späte Heidegger. Anders als die Philologie interessiert sie allerdings im Aufscheinen einer Welt nicht die Welt, die da aufscheint, was es von ihr alles zu sagen und zu explizieren gibt, sondern vielmehr der schiere Umstand des Aufscheinens von Welt, das Erscheinen der Welt in der Sprache oder die Sprache als der Ort ihrer Erscheinung. Nicht das Was des Ausgesagten, sondern das Wie des Aussagens ist entscheidend, oder anders gewendet: Daß überhaupt Welt zugänglich ist, und zwar sprachlich zugänglich ist, ist die philosophische Botschaft des Gedichts. Lyrik sagt dies nicht wie die Wissenschaften, sie zeigt es aber. Sie zeigt nichts anderes als die ganze sprachliche Färbung und Tönung von Welt, so sie uns überhaupt zugänglich ist. Was damit an »positiver« Einsicht für die Philosophie gewonnen ist, müßte man so formulieren: Wenn sich auch Philosophie unwiderruflich davon verab1°5
schieden muß, selbst einen bestimmten Sinn der Welt fest- ' zustellen und wissenschaftlich zu definieren, so bleibt durch die Verbindung von D{cllten und Denken immerhin noch so viel an Aussage bestehen, daß uns überhaupt noch ein Sinn der Welt zugänglich ist, daß nicht nichts ist, sondern vielmehr etwas, noch ganz unabhängig davon, was dieses dann bedeutet - wenn es nur gelingt, große Dichtung richtig auszulegen. Paul Celan suchte das Gespräch mit Philosophen, und Philosophen suchten das Gespräch mit ihm. Martin Buber und Gershorn Sholem, Martin Heidegger und Theodor W Adorno, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida gehörten zu seinen Gesprächspartnern und Freunden, und nicht zuletzt Hans-Georg Gadamer. Die philosophische Kontroverse um sein Werk beginnt mit Adornos Einspruch, eine Lyrik nach Auschwitz sei ':l:ndenkbar. Celans Todesfuge gerät in den Verdacht einer Asthetisierung des Grauens, einer Verharmlosung des Holocaust, einer Beschwichtigungsliteratur. Dahinter steht freilich auch ein grundsätzlicher Disput um das Wesen der Lyrik, der am Beispiel Celans zwischen der Phänomenologie und der Frankfurter Schule aufbricht. Für Heidegger wie dann später auch noch für Gadamer ist das, was sich im Celanschen Gedicht zeigt, immer noch die sprachliche Erscheinung von Welt, wie geschunden, versehrt und rätselhaft diese Welt auch sein mag, wie brüchig und gebrochen auch das Wort sein muß, in der diese Welt zur Erscheinung kommt, und wie irrlichternd, schillernd und zuletzt unverständlich die Erscheinung selbst der Welt in der Sprache sich zeigt; für Adorno dagegen ist all eine schon wieder die ästhetische Erscheinung einer solchen Welt nichts mehr als ein bunter Schleier, der über die wahre Abgründigkeit der Welt gelegt wird. Was in Celans Lyrik zur Sprache kommt, ist an sich so unfaßlich, so unsäglich und unbegreiflich in seiner bodenlosen Absurdität, daß es keine lyrische Behandlung erträgt. Schon die dichterische 106
Darstellung jener maßlosen Sinnlosigkeit rechnet nur ungenügend mit der Radikalität eines Sinnentzugs, der über jede sprachliche Erscheinungsform hinausgeht. Geboten und angemessen ist hier alleine noch das lyrische Schweigen, oder noch entschiedener das Schweigen der Lyrik. Am Beispiel Celans wird damit auch noch die letzte phänomenologische Möglichkeit in Frage gestellt, wie im Gedicht noch ein Sinn von Welt zugänglich werden könnte. Denn selbst noch das Entschwinden des Welt sinns aus der Sprache wäre jetzt nicht mehr in der Sprache darstellbar. »Zwischen« diesen beiden »Unendlichkeiten«, einer Erscheinung eines unendlichen Sinnentzugs und eines unendlichen Sinnentzugs der Erscheinung, einer Darstellung der Verbergung und einer Verbergung der Darstellung, plaziert Derrida seine Celanlektüre. Es geht darum, jenen unterbrochenen Dialog zwischen zwei U nendlichkeiten am Ende zumindest ununterbrochen zu machen, was für Derrida methodisch jetzt das Spuren ziehen eines einzigartigen Mittelwegs verlangt. Auf der einen Seite steht der »entfaltende Bezug« der Hermeneutik, auf der anderen Seite deren vollkommener Abbruch im »Bruch des Bezugs«, angesichts eines Entzugs der Welt im Gedicht, gemäß dem Celanschen Dichterwort »die Welt ist fort«. Derridas Ansatz ist es nun, noch die Verschwiegenheit des Gedichts und seiner hermetischen Weltabgeschlossenheit selbst hermeneutisch zum Sprechen zu bringen, so paradox dies klingt, also eine Auslegung dessen zu wagen, was sich jeder Auslegung grundsätzlich entzieht. Dies gelingt durch eine entscheidende U minterpretation. Das, was sich bisher als verborgener Rätselsinn der Welt selbst noch dem Gedicht entziehen sollte, was sich also noch hinter allem Dichterwort unendlich verbirgt, wird für Derrida in einem »linguistic turn« selbst zum Teil des Gedichts. Es findet sich dort wieder, wo das Dichterwort selbst verstummt, wo sich noch im Gedicht selbst ein Schweigen auftut, in dem die Sprache versagt. Sinnbildlich ist dies in 1°7
dem Celangedicht GROSSE GLÜHENDE WÖLBUNG an der Stelle zu finden, wo zwischen der letzten Strophe und dem Schlußvers ein »blanc silence« einsetzt, ein weißes Schweigen, das aus mehreren Zeilenabständen im Text besteht. Jene Leerzeilen gehören aber für Derrida jetzt selbst zum Text, sie sind nichts anderes als die Vertextung jenes Sinnentzuges, von dem zuvor die Meinung war, daß er sich der Sprache absolut entzieht. Dieser erscheint nun selbst als eine Schrift, eine Rätselschrift von der Art, als ob das weiße Schweigen auf dem Papier geradezu mit Buchstaben übersät wäre, die nur alle mit weißer Tinte geschrieben sind. Und genaugenommen ist dieses weiße Schweigen nicht nur dort, wo es dichterisch in Szene gesetzt ist durch den Rahmen einer großen Auslassung. Treibt man die Deutung weiter, findet es sich vielmehr zwischen allen Strophen, allen Versen und Worten, selbst noch zwischen allen Silben und Buchstaben, wie Derridas Analyse des »syllabaire« des Textes es nahelegt. Derrida will »Gadamer treu bleiben oder ihn sogar nachahmen«, »bis zu einem gewissen Punkt und soweit es irgend geht«. Die Auslegung unterscheidet sich allerdings von der üblichen Text-Hermeneutik in einem wesentlichen Punkt. Die Aneignung jenes »Unheimlichen«, das sich im Text als dessen innere Verschwiegenheit auftut, kann nur noch schwer nach dem Muster einer Deutung und deren sukzessiver Verbesserung gedacht werden. Das Sinnangebot, das der Interpret jener unendlich verschlüsselten Rätselschrift macht, wird nicht mehr wenigstens zum Teil bestätigt, so daß dann ein Rest bleibt, den es in einem »entfaltenden Bezug« anschließend zu klären gelte. Das Angebot wird vielmehr vom unheimlich gewordenen Text vollkommen ausgeschlagen, insofern es hier gar keine Antwort seitens des Textes gibt, keinerlei Evidenz, ob das Gemeinte auch nur ein Stück weit getroffen ist. Es folgt aber eben wegen der Textgestalt jenes Sinnentzuges nicht wiederum der bloße Abbruch aller Deutungsbemü108
hungen, ein »Bruch des Bezuges«, im Gegenteil: Die dekonstruktive Lehre aus der Antwortverweigerung des Textes besteht vielmehr darin, andere, viel weitergehende und außergewöhnliche Deutungen vorzuschlagen. Jene verbessern die Lage des Interpreten zwar nicht, sie machen wiederum nur das Schweigen des Textes noch rätselhafter, noch undurchdringlicher, und im Überbieten aller Sinnangebote zugleich unendlich tiefsinnig. Hiermit beginnt sich die Spirale zu drehen, denn eine weiter gesteigerte Sinnvermutung hat nur wiederum eine gesteigerte Auslegungsanstrengung zur Folge. Wahrhaft gesteigert wird so zum Schluß nicht die Annäherung der Deutung an die Sache, sondern vielmehr nur die Wut des Interpreten, mit immer neuen Vorschlägen jenes Unheimliche endgültig einzuholen, das sich mit jedem Deutungsschritt nur um so konsequenter entzieht. Das Moment der Bestätigung, daß die Deutung auf dem richtigen Wege ist, kippt damit zugleich von der Evidenz einer jeden Deutung zur Evidenz des Versagens einer jeden Deutung. Dort, in dem Augenblick, in dem klar wird, daß auch diese Auslegung das Gemeinte vielleicht vollkommen verfehlt, zeigt sich allein noch das, was sich der Deutung immer wieder entzieht. In der Unterbrechung der Deutung, in ihrem Umschlag, im Moment ihres Versagens leuchtet die Vermutung auf, hier habe das Unheimliche im Text tatsächlich seine paradoxe Entfaltung. So kommt es schließlich auch zu der methodischen U mwidmung des »entfaltenden Bezugs« der Hermeneutik über einen »Bruch des Bezugs« zu einem »Bezug als Bruch«. Denn nur hier ist die Deutung wahrhaft auf ihre »Sache« gerichtet, wo sie diese verfehlt, denn die Sache ist gar nichts anderes mehr als der Entzug selbst einer unheimlich gewordenen Welt. Dort, an dieser methodischen wie auch inhaltlichen Grenze, wo sich die Welt in ihrem äußersten Erscheinen nur darstellen läßt, indem sie sich unserer Deutung mehr
r und mehr entzieht, beginnt in Wahrheit erst Derridas Meditation über philosophische Melancholie und Abschied. Sie kreist beständig um die Frage nach dem Schwinden der Welt, und mit Celans Schlußvers des Gedichts GROS SE GLÜHENDE WÖLBUNG auch darum, was dann ist, wenn schließlich »die Welt fort« ist. Hier ginge es darum, auch noch die letzte Grenze des Gedichts zu überschreiten in Richtung eines einzigartigen und unwiederbringlichen Entzuges der Welt und des anderen, eines Ereignisses, das philosophisch vollkommen undenkbar bleibt, da es sich im Denken wie im Dichten nie mehr einholen läßt. Der »ununterbrochene Dialog« mit Gadamer erscheint in diesem Zusammenhang als jenes vorläufige Oszillieren zwischen der Erscheinungsseite und der Entzugsseite der Welt selbst, die in einem schon unmöglich gewordenen Gespräch am Ende doch zueinandergefunden haben. Hölderlins Sentenz: »Denn keiner trägt die Welt allein« ist hier ein angemessenes Schlußwort.
Textnachweise: J acques Derrida, Le dialogue ininterrompu: entre deux in/inis, le poeme. Festrede zur akademischen Gedenkfeier zu Ehren von Hans-Georg Gadamer am 15. Februar 2003 in der Neuen Aula der Universität Heidelberg. Jacques Derrida, »Guter Wille zur Macht (I)«, in: Ph. Forget (Hg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 56-58. Hans-Georg Gadamer, Wer bin ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedicht/olge >Atemkristall<, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, Tübingen 1993, S. 3 83-4 06; 412-4 14; 427-431.