Dialog der Texte -Iamburger Kolloquium zur Intertextualität Herausgegeben von WolfSchmid und Wolf-Dieter Stempel
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SONDERRAND 11
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WIENER SLAWISTISCHER ALMANACH SONDERBAND 11 (LITERARISCHE REIHE, HERAUSGEGEBEN VON A, HANSEN-LÖVE) Wien 1983
Dieser Band wurde durch eine Subvention der Universität Hamburg unterstützt
Titelgraphik: Jacques Gaffarel, "L'alphabet celeste", 1637
DRUCK Offsetschnelldruck Anton Riegelnik A-1080 Wien, Piaristengasse 19 Zu beziehen über: Wiener Slawistischer Almanach Institut für Slawistik der Universität Wien, A-1010 Wien, Liebiggasse 5
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I N H ALT
Vorwort Karlheinz STIERLE, Werk und Intertextualität Dietrich SCHWANITZ, Intertextualität und Äquivalenzfunktionalismus. Vorschläge zu einer vergleichenden Analytik von Geschichten Charles GRIVEL, Serien textueller Perzeption. Eine Skizze Wolf-Dieter STEMPEL, Intertextualität und Rezeption Hans Ulrich GUMBRECHT, Intertextualität und Herbst / Herbst und neuzeitliche Rezeption des Mittelalters Wolf SCHMID, Sinnpotentiale der diegetischen Allusion. Aleksandr Puskins Posthalternovelle und ihre Prätexte Ulrich BUSCH, Gogol's "Mantel" - Eine verkehrte Erzählung. Schriftsteller, Autor, Erzähler in· intra-und intertextueller Beziehung Rainer GRUBEL, Die Geburt des Textes aus dem Tod der Texte. Strukturen und Funktionen der Intertextualität in Dostoevskijs Roman "Die Brüder Karamazov" im Lichte seines Mottos Igor P. SMIRNOV, Das zitierte Zitat Aage A. HAN·SEN-LÖVE, Intermediali tä t und Intertextuali tät. Probleme der Korrelation von Wort-und Bildkunst Am Beispiel der russischen Moderne
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27 53 85 111 141
189
205 273
291
Vladimir KARBUSICKY, Intertextualität in der Musik
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Hinweise zu den Autoren
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VORWORT
Dem Begriff "Intertextualität" ist es, seit er in die Welt gesetzt wurde, nicht viel anders ergangen als ähnlich attraktiven Termini: in einem besonderen theoretischen Argumentationszusammenhang konzipiert, hat er sich in
d~r
Folgezeit in einer Weise ver-
allgemeinert, daß es mittlerweile schwerfällt, sich anhand der heutigen Verwendungsweisen seiner begrifflichen Identität zu vervewissern, ja in manchen Fällen selbst den Gewinn noch zu erkennen, der sich mit ihm verbinden sollte. Auch die Prägung des Ausdrucks durch Julia Kristeva hatte bereits eine Erweiterung der begrifflichen Ursprungs lage vollzogen. Bachtins Dialogizitätsbegriff war im Ansatz durchaus synchronisch bestimmt, und selbst da, wo des weiteren dann zeitlich vorausliegende Texte als Dialogpartner angesehen wurden, waren sie es letztlich unter der Bedingung ihrer 'Präsenz' bzw. ihrer wahrnehmbaren Vergegenwärtigung. Freilich konnte diese Maßgabe dann dort an Bedeutung einbüßen, wo, wie etwa bei der Einzeltextanalyse, sich ein urwüchsiges literaturgeschichtliches Filiationsinteresse behauptete. Andererseits führte
das Aufgreifen von
einzelnen Formen historischer Bezugnahme (z.B. der Anspielung) wie überhaupt der Fortgang der systematischen Reflexion zu einer Erweiterung des Problemfeldes, das in seinen Abmessungen noch insgesamt wenig gesichert erscheint. Was also ist die Intertextualität, was kann, was soll sie vernünftigerweise sein? Diese Fragen bildeten die Ausgangsmotivation für ein Kolloquium über Intertextualität, das vom 3.-5. Juni 1982 in Hamburg stattfand. Es konnte freilich nicht erwartet werden, daß sie von den einzelnen Beiträgen in voller Breite aufgenommen wurden, zumal außer in theoretischen Erörterungen Intertextualität auch in Textinterpretationen
sowie in neuen, bislang
noch wenig behandelten Fragestellungen erkundet werden sollte. Noch viel weniger .konnte es auf einen Konsens im Grundsätzlichen ankommen; der interdisziplinäre Charakter der Veranstaltung brachte im Verein mit den unterschiedlichen Positionen der Gesprächsteilnehmer Diversität und Auseinandersetzung. Leider
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konnte der ursprüngliche Plan, die mündliche Diskussion in ihren wesentlichen Punkteri festzuhalten, nicht verwirklicht werden, doch ist zu hoffen, daß die mannigfachen Reibungsflächen der hier versammelten Beiträge zu weiterer, dem "Phänomen" Intertextualität insgesamt förderlicher Diskussion anregen.
Die Herausgeber
Karlheinz STIERLE
WERK UND INTERTEXTUALITÄT*
I. Jeder Text situiert sich in einem schon vorhandenen Universum der Texte, ob er dies beabsichtigt oder nicht. Die Konzeption eines Textes finden heißt, eine Leerstelle im System der
Te~te
finden oder vielmehr in einer vorgängigen Konstella-
tion von Texten. Diese kann weiter oder enger gedacht sein: weiter etwa als Konstellation einer Literatur oder einer Gattung, enger als Konstellation eines Gesamtwerks, oder als thematische Konfiguration, als Serie und schließlich als Fortsetzung oder Bearbeitung, sei es eines fremden oder eines eigenen Werks. Die Konstellation kann aber auch etwa die Variantenkonstellation eines zugrunde liegenden Mythos sein im Sinne der Mythentheorie von C. Levi-Strauss 1 oder eine Diskurskonstellation im Sinne 2 Foucaults . Der Konstellation entspringt die Möglichkeit des Textes, die der Text selbst einlöst, über- oder unterbietet. Indem aber die Leerstelle in der Konstellation der Texte besetzt wird, die Möglichkeit des Textes zu ihrer Realisierung kommt, verändert die Konstellation sich selbst. und erzeugt damit neue Leerstellen. Da also das Universum der Texte sich unablässig erweitert, ist auch der Ort des Textes in ihm nicht statisch. Der Text ist Moment einer Bewegung, die über ihn hinausdrängt, und damit zugleich Moment einer sich beständig wandelnden Konfiguration. Kein Text setzt am Punkt Null an. So sind auch die Texte, die den
Ur~prung
einer Gattung begründen, zunächst doch, und sei
es in prekärer Weise, auf eine schon vorgängige Gattung zurückbezogen, ehe sie im Nachhinein in eine Konfiguration eintreten, die ihre generische Potentialität ans Licht bringt. Die Konfiguration der Texte, der sich der Text verdankt, ist aber nicht
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8 -
identisch mit der Konfiguration, in die der Text fUr seinen Leser eintritt. Beide Konfigurationen streben immer weiter auseinander, je größer die Distanz zwischen dem ersten Leser und dem aktuellen Leser geworden ist, je mehr Texte sich zwischen den gegebenen Text und seinen Rezipienten schieben. So ist die Intertextualität des Textes eine unendlich vielfältige Bestimmtheit und Bezogenheit. Ihre Erfassung ist eine unendliche Aufgabe, die zwar theoretisch postulierbar ,~ct.l
sind~ Elemen-
tarer als der in sich selbst zurUcklaufende, aus sich selbst herausgehende Text ist die sprachliche Interaktion 'des Gesprächs, bei dem die Beteiligten in wechselnden Rollen als Sprecher und Hörer agieren ,und so eine kontinuierliche Sprachbewegung hervorbringen, die indes von der Identität des Textes gewöhnlich weit entfernt ist. Nur im idealen Fall des gelungenen Gesprächs geht aus dem Hin und Her der Rede ein gemeinsamer Text hervor, dem im Hinblick auf seinen wechselnden Ursprung dennoch so etwas wie eine abgehobene Identität zukommt. Erst wenn die Rollen von Sprecher und Hörer asymmetrisch verteilt sind, kann der Text sich als ein in sich selbst ruhender Zusammenhang und Aufbau entfalten. Dann aber geht die Dialogizität in den Text selbst ein und bestimmt sein inneres Verhältnis. Nur der Text, der in sich selbst dialogisch ist, der das ursprüngliche Modell des Gesprächs in sich hineingezogen und damit zugleich das Prinzip de'r Intertextualität in sich aufgenommen hat, ist Text im eigentlichen
Sinne~
Die 'Selbstversorgtheit' des Textes projiziert zu-
gleich das Prinzip der Loslösung von der Unmittelbarkeit der Si5 tuation durch die Mittelbarkeit des 'selbstversorgten' satzes auf die höhere Einheit, die die Abfolge der Sätze in einer freilich nicht mehr formal gesicherten Ordnung organisiert. Dies gilt aber insbesondere für jene Texte, die wir kraft ihrer Selbstbezüglichkeit und inneren Verweisungsdichte im eigentlichen Sinne als Werke bezeichnen.
Das~Werk
erfUllt die Bestimmung des Texts
zur Schrift, indem es so angelegt ist, daß es sich erst in wiederholten Lektüren eines Lesers wie in wiederholten LektUren einer Folge von Lesern erschließt.
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Wenn das Werk sich bestimmt aus seiner Selbstbezüglichkeit, es andererseits aber seinen Ort hat in einer Kontiguration der Texte, wie ist dann das Verhältnis von werk immanenter Intertextualität des Kontexts und werküberschreitender Intertextualität der Textkonstellation zu denken?
11.
Es scheint zunächst notwendig, die beiden Perspektiven produktionsästhetischer
u~d
rezeptionsästhetischer Intertextualität
voneinander zu scheiden. Es gibt eine produktionsästhetische Intertextualität elementarer Art, die allein darin besteht, daß ein Text eine Leerstelle in einer Textkonstellation finden muß. Die Besetzung dieser Leerstelle aber verlangt, daß der Text selbst in sich gesättigt ist und sich als Text aus der Abhängigkeit seiner Vorgegebenheiten emanzipiert. Andererseits kann der Prozeß der Textkonstitution selbst als ein Prozeß der produktiven Intertextualität aufgefaßt werden, sofern der Text aus einer Folge von Verbesserungen, Erweiterungen, Umstellungen etc., d.h. .. d·~e rezepaus einer Varietät von 'Fassungen , hervorge h t 6 . Fur
tionsästhetische Perspektive der Intertextualität stellt sich nun aber die Frage, ob jede produktionsästhetische Intertextualität auch eine rezeptionsästhetische sein muß. Ein Beispiel kann diese Frage verdeutlichen. Valerys Gedicht Le cimetiere
marin ist, wie sich klar nachweisen läßt, eine Replik auf das Kapitel Mittags in Nietzsches A~so sprach Zarathustra~ Doch hat das Gedicht seine eigene Wirkungsgeschichte gehabt,
ohne ,daß die-
ser Zusammenhang deutlich gewesen wäre. Der Nachweis, daß Valerys Gedicht so etwas wie eine neue Variante von Nietzsches 'Mittagsmythos' ist, scheint für ~i~ poetische Wirkung des Gedichts nicht von entscheidender Bedeutung, wenngleich er in produktionsästhetischer Perspektive durchaus von Interesse sein dürfte. Wenn die Einsicht in diesen Zusammenhang also rezeptionsästhetisch gesehen keinesfalls unerläßlich ist, so kann die Kenntnis der produktionsästhetischen intertextuellen Beziehung doch in die Erfahrung des Gedichts eingebracht werden, und zwar sowohl im Sinne einer Erklärungsrelation wie auch als ästhetisch wirksame Hintergrundgegebenheit, die den Text selbst in seiner Ei-
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genheit als eine konkrete Differenz heraushebt. Das Beispiel zeigt, daß die bloße Feststellung einer intertextuellen Beziehung noch nicht ausreicht, um jene Besonderheit zu bestimmen, die sie
ä~thetisch
charakterisiert. Wenn
aber das Werk in produktionsästhetischen intertextuellen Bezügen stehen kann, die der Aktualisierung durch den Leser nicht bedürfen, obwohl sie für eine Steigerung seiner Wahrnehmung nutzbar gemacht werden können, so gibt es andererseits intertextuelle Relationen der. Rezeption, die durch keine produktionsästhetische Relation abgedeckt sind. Prinzipiell ist jedes Werk mit jedem korrelierbar. In jedem Fall ist das Ergebnis solcher Korrelation ein Bewußtsein konkreter Differenz, das die pure Faktizität des je einzelnen Werks aufhebt und perspektiviert. Jede Korrelation solcher Art ist ein vom Interpreten in Gang gesetztes Experiment, das das Bewußtsein des Werks steigert 8 . Die konkrete Differenz der experimentierend gesetzten intertextuellen Relation schafft ein Reflexionsmedium, in dem das Werk als dieses zu s~in E~genes
gesteigertem Bewußtsein kommen,
freigeben kann. Experimente solcher Art sind geeig-
net, Stereotypen der Wahrnehmung aufzubrechen und das Werk in ungewohnte Beleuchtungen zu stellen. Wenn es also prinzipiell möglich ist, daß erst die Auslegung die intertextuelle Relation setzt
oder aber der einfache
Zufall vorgängiger Lektüren, so wird die privilegierte, in den Blick genommene intertextuelle Relation doch gewöhnlich dadurch gelenkt, daß der Text selbst eine oder mehrere intertextuelle Relationen anzeigt. Der Text selbst hat die Möglichkeit, ein Reflexionsmedium zu setzen, in dem er sich als eine differenzierende Distanznahme zu einem oder mehreren Texten präsentiert und diese Distanznahme. in die Konkretheit des Werks einschreibt. Es gibt elitäre literarische Kulturen, wie jene der griechischen und römischen Antike, des Mittelalters und der Renaissance, wo mit der Einlösung von werkspezifischen Differenzen gerechnet wird und wo das neue Werk einen ganzen Kanon literarischer BezUge notwendigerweise ins Spiel bringt. Jeder Text ruft in solchen ausdifferenzierten literarischen Kommunikationssystemen eine ganze ins Spiel zu bringende literarische Tradition auf und gibt
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11 -
ihr durch die produktive Differenz gleichsam neue Gegenwärtigkeit~ Aus der Dichte der Bezüge aber erwächst eine Bildsprache,
die nicht mehr einzelnen Texten zuweisbar ist, sondern an der alle teilhaben. Es gibt die diffuse Intertextualität der Topoi, die immer schon über die eine konkrete, in den Blick zu bringende intertextu.elle Relation hinausreicht und diese ihrerseits in ein reiches. Netz intertextueller Bezüge einbringt. Eine
solc~
literarische Kultur setzt einen literarischen Kanon voraus, der allen gemeinsam ist,
d~e
an dieser Kultur teilhaben. Auch in
der modernen Literatur gibt es eine große Zahl von Werken, denen die Verweisung auf andere We~ke wesentlich ist. Hier findet sich aber auch eine neue Art von Verweisung, für die Plenzdorfs Die
neuen Leiden des jungen W. ein erhellendes Beispiel ist. Plenzdorfs ,Brzählung vermittelt zwei Werke, die in keiner literarischen Konfiguration stehen: Goethes Werther und Salingers The
Catoher in the Rye. Daß diese beiden Werke überhaupt in ein Verhältnis zueinander treten, ist das Er'gebnis von Plenzdorfs Erzählung, die somit selbst zu einem Ort der Intertextualität wird, gleichsam als
~elais
zwischen zwei Werken.Plenzdorfs Erzählung,
indem sie sich zugleich auf Goethes Werther und Salingers The
Catoher in the Rye bezieht, schafft sich ihr eigenes Bezugsfeld als Spielraum eines literarischen Experiments. So wenig wie in der Literatur des Mittelalters oder der Renaissance geht es hier aber bei der Evokation literarischer Folien um die bloße Differenz in der Kongruenz. Die Differenz ist eine notwendige, aber keine zureichende Begründung für das literarische Spiel der Intertextualität. Dieses
bedarf immer auch einer in der Sache lie-
genden B.egründung, wenn sein Aufwand an ver langter Aufmerksamkeit nicht ins Leere einfaches
Beispi~l
e~nes
bloßen Bildungsspiels laufen soll. Ein
kann dies noch verdeutlichen. Es gibt ein li-
terarisches Spiel, das als Marcel Prousts Fragebogen bekannt ist. In der Wochenbeilage einer deutschen Tageszeitung ist dieser Fragebogen ein regelmäßiger, fester Bestandteil. Die. Befragten sind einem. Frageschema konfrontiert, das, wie sie wissen, schon vielen anderen vorgelegt worden ist
und das von ihnen eine origi-
nelle Antwort erwartet. So ist die Marki~rung eirier Differenz
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eine der wesentlichen Regeln dieses Spiels. Aber über diese Differenz hinaus und durch sie hat der Befragte zugleich die Chance, in prägnanten Formulierungen die Summe eines gelebten Lebens zu präsentieren. Indem das Werk sich selbst in eine intertextuelle Relation einrückt oder aber versuchsweise zum Moment einer intertextuellen Relation gemacht wird, scheint es sein Zentrum ZU verlieren und in eine bewegliche
Iden~~tät
einzutreten, die erst aus der
intertextuellen Relation selbst hervorgeht. Die Kateqorie der Intertextuali tät ist eine Kategor ie der
Pez~nJ::t:ierung
ynd der
Offenheit. J. Kristeva, die den Begriff in die literaturwissenschaftliehe Diskussion eingeführt hat 9 , sah in ihm die Chance, die Vorstellung von der Identität des Werks sowie von seiner Zurückführbarkeit auf die personale Identität eines Autors wie schließlich auch die Auffassung von der referentiellen Determiniertheit des Werks als literarische Mythen des bürgerlichen Bewußtseins zu entlarven. Während es der Rezeptionsästhetik in einer ersten Phase ihrer Entwicklung zunächst darum ging, das Werk in der Gebrochenheit seiner geschichtlich bedingten Rezeptions- und Aktualisierungsweisen zur Darstellung zu bringen, erblickte J. Kristeva in der Kategorie der Intertextualität die Möglichkeit, das im Rezeptionsakt aufgeworfene Problem der Intersubjektivität, wie es von Sartre zuerst formuliert worden war, grundsätzlich zu eliminieren. Die AUffassung der Tel QuelGruppe von der Subjektlosigkeit der literarischen Produktion erhielt durch das Theorem
de~
Intertextualität ein neues Funda-
ment. Doch wird zu prüfen sein, ob nicht die Kategorie der so verstandenen Intertextualität selbst einer neuen literaturwissenschaftlichen Mythenbildung entspringt.
111.
Was Kristeva mit scheinbarer texttheoretischer Stringenz als Intertextualität bezeichnet, ist in Wirklichkeit ein komplexer Zusammenhang von Relationen, der der systematischen Durchdringung.und Differenzierung bedarf, wenn der Bezug zwischen
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Texten im Spielraum seiner Möglichkeiten erfaßt werden soll. Im folgenden soll versucht werden, eine solche Differenzierung zu skizzieren, und zwar primär mit Bezug auf Aspekte der Intertextualität von Dichtung und Literatur. Während Kristeva, ausgehend von einer vermeintlich 'materialistischen' Literaturbetrachtung, die Kategorie der Intertextualität als eine einfache Relation auffaßt, soll im folgenden die Notwendigkeit verdeutlicht werden, zwischen semiotischer, phänomenologischer, hermeneutischer
r
und pragmatischer Perspektive bei der Bezugnahme der Werke auf andere Werke zu unterscheiden. Die Stimme des Textes ist begleitet vom Rauschen der Intertextualität. In jedem Wort ist das Rauschen seiner Bedeutungen und Verweisungen vernehmbar. Jeder Satz, jede Satzbewegung löst Erinnerungen, Verweisungen aus, und bei entsprechender Richtung der Aufmerksamkeit kann das Rauschen der Intertextualität die Stimme des Textes übertönen. Aber wie ist es, wenn die Intertextualität selbst Stimme wird, vernehmbar herausgehoben aus dem Rauschen der unbestimmten Verweisungen? Erst hier kann ja in einem prägnanten Sinne von Intertextualität die Rede sein. Der Ausdruck "Intertextualität" bezeichnet ein Verhältnis, das zwischen einen Text und seinen Bezugstext gesetzt ist. Die Setzung dieses Verhältnisses ist semiotisch eine Verweisung oder beim bloß experimentierenden Bezug die Fiktion einer Verweisung. In dieser Verweisung selbst liegt aber schon eine prinzipielle Asymmetrie, die die Rede von der Intertextualität der Werke problematisch macht. Gegeben ist ein Text in seiner konkreten Artikulation. Dieser verweist durch partielle Rekurrenz zumindest auf einer der Ebenen seiner Konstitution auf einen oder mehrere andere Texte, die nicht selbst gegeben, sondern abwesend sind. Eine solche Verweisung kann übrigens durchaus auch allein von der Gleichgestaltigkeit eines Rhythmus ihren Ausgang nehmen. So gibt es Gelegenheitsgedichte Mörikes, wo der Pfarrer, der sich in die Welt des Dichtens flüchtet,- unbewußt? -
in den Duktus
protestantischer Kirchenlieder verfälltl~ Eine Relation, bei der Gegebenes auf Abwesendes verweist, ist in allgemeinster Hinsicht eine semiotische Relation. In diesem Sinne ist die Intertextualitätsrelation eine komplexe semiotische Relation insofern, als in ihr ein sprachlich organisierter
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Zeichenzusammenhang auf einen anderen sprachlich organisierten Zeichenzusammenhang verweist, aber so, daß diese Verweisung selbst nicht sprachlicher Art ist. Doch sind in dieser Relation beide Zeichenzusammenhänge nicht gleichwertig. Einer von beiden ist artikuliert, denotativ gegeben, der andere unartikuliert, konnotativ. Der denotierte Text ist in der intertextuellen Relation die Basis des konnotierten Texts. Diese Differenz aber ist gerade bei Werken der Dichtung und Literatur, die auf ästhetische Erfahrung angelegt sind, von grundsätzlicher Bedeutung. Denn sie bezeichnet zugleich eine Differenz der phänomenologisch erfaßbaren Gegebenheitsweisen, von der die ästhetische Erfahrung selbst wesentlich bestimmt ist. Erst wenn die semiotische Relation der Intertextualität als phänomenologische Relation in den Blick kommt, kann die Erfahrung der öffnung des Werks auf andere Werke wirklich erfaßt werden. Phänomenologisch ist das semiotische Verhältnis von Denotation und Konnotation ein Verhältnis von Thema und Horizont. Das Werk schafft sich einen Horizont, vor dem es sich in seiner Besonderheit darstellt. Soll dieser Horizont aber ein erfahrbarer, ästhetisch gegenwärtiger Horizont sein, nicht nur ein gewußter Horizont, so bedarf es nicht nur der Verweisung selbst, sondern ihrer ästhetischen Vergegenwärtigung. Werke sind nicht unendlich bedeutungsoffen. Es sind Äquivalente von Aufmerksamkeitsleistungen. Im Gegensatz zur unendlichen Komplexität und Offenheit des alltäglichen Lebens ist das Werk eine Ausgrenzung, bei der sich für den Leser Entlastung der Aufmerksamkeit vom 'quer Einschießenden~1 mit Steigerung der Aufmerksamkeit verbindet. Es ist eine subtile Einsicht Lessings, daß der menschliche Geist, gerade weil er von beschränktem Fassungsvermögen ist, der ästhetischen Erfahrung eines Ganzen nur unter der Bedingung einer form- und gattungskonstitutiven Reduktion teilhaftig werden kann. Das Werk setzt die Priorität seiner Werkidentität über seine Offenheit und Unbestimmtheit. So läßt es sich als ein bestimmtes Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit
beschreibe~~Das
Werk selbst ist das Zentrum ei-
nes Sinns, der über es hinausreicht. Es konstituiert ein Sinnfeld, dessen
Mitte~punkt
es zugleich ist. Alles,was in diesem
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Feld erscheint, ist auf die Mitte zentriert, die das Werk selbst setzt. Eben deshalb kann auch die 'Intertextualität' das Werk nicht dezentrieren. Das dezentrierte, fremden Texten anheimgefallene Werk müßte seine ästhetische Identität verlieren. Die intertextuelle Gegebenheit ist nicht nur die Funktion eines semiotisch abgerufenen vorwissens, das der Rezipient ins Spiel zu bringen hat. Der Text vielmehr spielt den Bezugstext herein, und zwar in einer Artikuliertheit, Reliefhaftigkeit, die das Ganze des intertextuellen Bezugstexts nicht einfach als Wissen voraussetzt, sondern es im Medium seiner konkreten Aufgerufenheit erscheinen läßt. Die Weise, wie ein Text eines anderen Texts inne ist, bestimmt seine ästhetische Gegenwärtigkeit. Besonders deutlich kann dies werden, wenn man vergleichend das Medium des Bildes heranzieht. Gerade bei der 'intervisuellen' Relation eines Bildes zu einem anderen zeigt sich klar die Differenz der Gegebenheitsweisen. Das zitierte Bild muß im zitierenden Bild 'aufgehoben' sein, wenn dieses in seiner eigenen Logik nicht zerstört werden soll. In der Kunst solcher Aufhebung besteht so zum Beispiel der ästhetische Reiz der 'Kopien' des Zeichners und Radierers Horst Janssen. Doch ist die intertextuelle Relation
~ls
Aufbau von semio-
tischer und phänomenologischer Relation noch nicht zureichend erfaßt. Sie erscheint in einer dritten Hinsicht als
hermeneuti~
sehe oder pragmatische Relation. Die Weise, wie ein Text einen Text vergegenwärtigt, sagt zugleich etwas darüber aus, wie der Text sich zu dem Text verhält, den er heraufruft. Die 'Intertextualität' ist keine bedeutungs leere und intentionslose Verweisung. Das hermeneutische oder pragmatische Verhältnis eines ~extes
zu einem Text mag das der Applikation sein oder der Uber-
bietung, der Aufbietung einer Autorität, der ironischen Distanznahme, der Erweiterung, der Korrektur oder der Ausschöpfung eines Spielraums, der durch den vorgängigen Text oder durch eine Folge vorgängiger Texte gesetzt ist. Wenn bei poetischen und literarischen Werken der phänomenologische Aspekt offen sein muß auf einen hermeneutischen oder auch pragmatischen, so gilt dies mehr noch für argumentierende Texte. Texte, literarische wie nichtliterarische, stehen zueinander nicht nur in einem Verhältnis der semiotischen Differenz, sondern, auf der Grundlage einer
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semiotischen Differenz, in einem SachbezugJ
der als dieser das
Verhältnis der Texte zueinander überschreitet und damit auch die intertextuelle zu einer anderen als intertextuellen Relation macht. Dies ist von M. Heidegger in seinem Buch Kant und das Problem der Metaphysik (1929) mit Eindringlichkeit verdeutlicht wor-
den. Heideggers Buch ist nicht nur mit Kants Kritik der Urteilskraft durch eine große Dichte expliziter intertextueller Bezüge verknüpft, es reflektiert zugleich darüber, was in diesem Bezug sachlich geschieht. Heidegger fragt, was es heißt, ein Grundproblem zu wiederholen, das in einem philosophischen Text dargelegt ist. Indem der Interpret die Frage zurückgewinnt, auf die der Text eine Antwort war, wird dieser auf seine Voraussetzung hin überschritten. Die Wiederholung des 'Grundproblems' führt zurück in einen sachlichen Grund, von dem aus der Text dann selbst überschritten werden kann. Damit ist der Boden gewonnen für einen neuen Text, der zum vorausgehenden nicht nur in einer intertextuellen Relation steht, sondern durch diesen hindu~ch
auf einen sachlichen Grund geführt wurde, der beiden Tex-
ten gemeinsam ist •. Jede Interpretation überschreitet das Interpretierte, indem sie es aus einem Sachbezug heraus zu verstehen sucht. Damit aber ist die Interpretation auch notwendig selbst in die Sache verstrickt, von der der interpretierte Text handelt 13 • Montaignes Diktum Nous ne faisons que nous entregloser hat in dieser Bewegung von Frage und Antwort seine sachliche Begründung 14 . Die hermeneutische Relation ist nie allein eine Relation zwischen Tex.ten, sondern immer auch ein Sachbezug, den die Texte sich zu eigen machen. Die bisherigen Uberlegungen erweisen den Ausdruck 'Intertextualität' als problematisch. Denn die Intertextualität selbst ist nur ein Moment einer komplexeren Beziehung, die über die bloße Textgestalt hinausreicht. Für diese ist die Gegebenheitsweise ebenso von Belang wie die, den Text überschreitende, Bezo15 genheit auf eine sache . Diese Bezogenheit aber bedeutet nicht eine Dezentrierung des Textes, sondern vielmehr seine Situierung. Die 'intertextuelle' Relation ist Moment der Identität des Textes selbst und gewinnt nur im Hinblick auf diese ihre spezifische Bedeu· tung. Im Text, im Werk ereignet sich die neue Erfahrung als Reorganisation eines vorgängigen Wissens, das erst durch diese neue Ge-
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stalt seine Prägnanz und seine innere Kohärenz erhält. Das Werk ist nie eine bloße Maximierung von Referenzen auf andere Werke, sondern immer ein Vollzug unter Formbedingungen, die die Aufmerk16 samkeit auf eine je ins Werk gesetzte Relevanzfigur konzenirieren. Der Text als Werk spielt durch die Verfahren der partiellen Konvergenz ein anderes Werk herein, macht es gegenwärtig durch die Weise des Hereinspielens und gibt ihm so eine spezifische Konturiertheit, die es von sich selbst aus noch nicht hat. Erst so wird aber die intertextuelle Relation prägnant, doch hört sie eben damit zugleich auf, eine dezentrierende intertextuelle Relation zu sein. Der hereingespielte Text ist
darüber hinaus auch gar nicht als Text hereingespielt, sondern als Erinnerung an die Lektüre eines Textes, das heißt als angeeigneter, umgesetzter, in Sinn oder Imagination überführter Text. Der Text als Werk hat seine eigene Autorität in der Bestimmtheit seiner Form. Solche Autorität schließt aber Liberalität der Applikationsmöglichkeiten, der Auslegbarkeiten, FortfUhrbarkeiten und Bezugnahmen nicht aus. Beide betreffen ganz verschiedene
Aspekt~
des Werks, die yoneinander geschieden wer-
den müssen. M. Bachtin, der mit seiner Theorie der Dialogizität, auf der J. Kristeva fußt, sich der Autorität des "monologischen Worts" widersetzte 17 , sah nicht, daß die Autorität der Form, die die Identität des Werks bestimmt, nicht notwendig eine autoritäre, ideologische Vereinseitigung seiner 'Aussage' zur Folge haben muß. Die Liberalität der Sinndimensionen gerade des ästhetischen Texts erweist, daß Autorität und Liberalität des Werks keine sich ausschließenden, sondern komplementäre Momente sinJ8. Dialogisch in einem genaueren Sinne kann der Bezug zwischen Texten nicht heißen. Jeder Text macht den hereingeholten Text zum Moment seiner eigenen Bewegung. Dialog setzt die Autonomie der Aktanten des Dialogs voraus. Gerade diese aber erscheint in der intertextuellen Relation aufgehoben.
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IV. Zumindest im Ansatz sollen abschließend jene Formen der Bezogenheit zwischen Texten betrachtet werden, bei denen am ehesten von Intertextualität im eigentlichen Sinne gesprochen werden könnte. In erster Linie ist dies der Fall bei der Ubersetzung. Die Ubersetzung ist eine Form des 'fremdbestimmten Textes' 19. Sie hält einen abwesenden Text gegenwärtig, und zwar nicht im Sinne einer vorauszusetzenden Kopräsenz, sondern so, daß die Ubersetzung in der fremden Sprache die Funktion des Originals übernimmt. Die Ubersetzung
~vertritt'
den Text einer fremden Spra-
che in der eigenen Sprache. Die Ubersetzung 'ist' gleichsam der fremde Text unter den Bedingungen der eigenen Sprache. So muß die
Ubers~tzung
auch statt seiner einen Bezug zur außer-
sprachlichen Wirklichkeit oder zu einem Äquivalent der Wirklichkeit haben. Dennoch ist der übersetzte Text selbst nicht Abbild einer Sachlage, sondern das Abbild des Abbilds. Die Stellvertretungsrelation kann aber auch zu einer Relation der Kopräsenz gemacht werden, wenn die Ubersetzung auf ihre Zuverlässigkeit überprüft werden soll oder wenn im Vergleich eine Einsicht in die je spezifische Sprachbedingtheit von Ubersetzung und Original gewonnen und die Ubersetzung in ihrer zweifachen Bedingtheit durch den vorgegebenen Text wie durch die Struktur der eigenen Sprache erfaßt werden soll. Die Ubersetzung konnotiert nicht nur den fremden Text, sondern sie ist gleichsam seine Aufführung im fremden Medium. So ist die Artikuliertheit des fremden zugrunde liegenden Textes auch nicht nur horizonthaft vorausgesetzt, sondern dem neuen Text eingeprägt. Die Ubersetzung ist eine Form der eindeutigen, artikulierten Intertextualität. Zwischen beiden Texten gibt es kein offenes, dezentrierendes Hin und Her, ihr Abhängigkeitsverhältnis ist eindeutig gerichtet. Ebenso wie bei der freien Intertextualität ist auch bei der Ubersetzung der Rückgang auf einen Sachbezug die Bedingung dafür, daß überhaupt der Ubergang von Sprache zu Sprache möglich wird. Nicht ein gleichsam subjektloses, selbsttätiges Spiel zwischen Texten ist
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diese ausgeprägteste Form der Intertextualität, sondern ein sachbezogenes Wiederholen einer Sprachhandlung im neuen Medium, wobei der ursprüngliche Text als ein gleichsam in einer Metasprache kodiertes Ensemble von Realisierungsanweisungen aufgefaßt werden kann. Die Ubersetzung ist schließlich kein autonomer Bezug zwischen Texten,. sondern eine Rede, die unter der Bedingung einer vorgängigen verstehenden, sinnentwerfenden Lektüre steht. Wenn in der Ubersetzung der Zieltext sich dem Ausgangstext überantwortet, der Ausgangstext zur Regel für die Konstitution des Zieltexts wird, so ist beim Zitat das Verhältnis beider Texte umgekehrt. Dort wird der primäre Text auf ein Fragment reduziert, und dieses wird in den neuen Kontext eines Werks so integriert, daß es eine neue Funktion übernimmt. Das Zitat steht in einer Spannung, die der Text sich in unterschiedlicher Weise nutzbar zu machen vermag. Es verweist metonymisch auf den ~ontext,
dem es entspringt, aber es. erweist zugleich seine über
den Kontext hinausreichende Potentialität, indem es in den Funktionszusammenhang des neuen Texts eingeht, sich diesem zugleich unterwirft und entzieht, einen fremden Text in den Blick bringt und doch auch in d\esem nicht aufgeht. Es hängt jeweils vom Kontext des neuen Textes ab, inwieweit der ursprüngliche Kontext vom Leser abgerufen oder inwieweit er von ihm. gerade ausgeblendet werden muß. Als Sonderfall des Zitats bedarf auch die Anspielung der Erwähnung. Auch sie ist eine Form des kulturellen Wissens, die nicht einen vorausgesetzten Text wirklich ins Spiel bringt, sondern nur
di~
Erinnerung an ihn. Inder intertextuellen Rela-
tion der Anspielung erweist sich die Geistesgegenwart des Anspielenden, der in einem
sei~e
Verfügung über ein literarisches
Wissen unter Beweis stellt wie seine Fähigkeit, es fruchtbar anzuwenden und in eine prägnante Relation zu dem Sachzusammenhang zu bringen, aus dem die gegenwärtige Rede hervorgeht. Parodie und Travestie sind auf Texte - gewöhnlich solche von hohem aktuellem Prestige in einer literarischen Öffentlichkeit - in-der Weise bezogen, daß sie den Text zu dominieren suchen, indem sie sich ihm zum Schein unterwerfen. Die Parodie 'übersetzt' nicht in eine andere Sprache, sondern in einen anderen Wirklichkeitsbereich und läßt so den Sprachgestus eines
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Werks in der Wiederholung zur leeren Attitüde werden, oder sie legt das Leere einer Attitüde durch solche Transposition frei. Durch diese Operation wird der Bezugstext gleichsam ßlit sich ~~lbs±
entzweit. Gewöhnlich aber, und besonders bei literari-
schen Werken von Bedeutung, mißlingt der Versuch, das Werk selbst auf diese Weise zu dezentrieren. Die Dezentrierung, die die Parodie bewirkt, bleibt ein flüchtiger Moment der Entlastung vom Anspruch des Werks, der diesen Anspruch indes nicht selbst außer Kraft setzen kann. So bleibt die Parodie ein peripherer, parasitärer Text, der den Schein erweckt, er könne das Werk dezentrieren, auf das er sich bezieht, und der doch in Wirklichkeit selbst ein
dezentrierter Text ist. Gerade hier zeigt
sich, wie in der intertextuellen öffnung das Werk selbst sich in seiner Eigenständigkeit behauptet und durch den intertextuellen Bezug noch gesteigert wird. oder aber wie es aus mangelnder Kraft der inneren Kohärenz sich an die Schwerkraft des fremden Werks verliert 20 . In anderer Weise sind Kommentar, Interpretation und Kritik ihrem Bezugstext zugewandt. Der Kommentar bemächtigt sich gleichsam der Leerstellen des kommentierten Textes und macht das Implizite, seine unausgesprochenen Mitgegebenheiten, zum Thema der Explikation. Dies gilt besonders für jene Repertoires eines von Autor und Leser geteilten Wissens oder einer von ihnen geteilten Erfahrung, die sich in dem Maße als eine selbstverständliche Voraussetzung der Kommunikation verlieren, wie Autor und Leser anderen historischen Welten des Wissens und der Erfahrung zugehören. Der Kommentar ist entweder der Sache zugewandt, die als eine stille Voraussetzung hinter dem Zeichen liegt, oder a~er
dem Zeichen selbst und ihrem Gebrauch. In jedem Fall aber
ist das Verhältnis von Kommentar und Text nicht das eines freien Spiels der Differenzen, sondern einer sachbezogenen und sich der Sache, dem kommentierten Text selbst, unterwerfenden Intertextualität. Die Interpretation verhält sich zu ihrem Bezugstext als ein Metatext, der die Prämissen des Texts ebenso ans Licht hebt wie die unausdrücklichen Handlungsaspekte seines Vollzugs. Die Interpretation
~rklärt'
den Sinn einer sprachlichen Handlung,
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indem sie die Sinnschemata entwirft, unter denen d~e sprachliche Handlung erst die Durchsichtigkeit ihres Sinns gewinnt. Insofern ist die Interpretation gleichsam eine reflexive Potenzierung des Bezugstextes selbst. Dagegen steht die Kritik in einem offeneren Feld. Sie ist Prüfung der Textgestalt und deren größtmögliche Sicherung, sie ist Prüfung des Sachgehalts, der im Text seine sprachliche vergegenständlichung findet, und sie ist schließlich Prüfung der ästhetischen Momente des Werks, entweder im Hinblick auf das Verhältnis des Werks zu seinen Prämissen oder im Hinblick auf diese selbst. Auch die Kritik als eigener Text steht zu ihrem Bezugstext nicht in einer intertextuellen Relation der bloßen Differenz, sondern in einer Beziehung, die klar benennbaren Sachinteressen
entspringt.
Die große Vielfalt möglicher Bezüge, unter denen Texte zu Texten in ein Verhältnis treten können, wird durch den Begriff der Intertextualität nicht erhellt, sondern eher verdunkelt 21 . Wird das Feld der Relationen zwischen Texten aber systematisch erschlossen, so erweist sich, daß der 'Intertextualität' keinesfalls jene Kraft zukommt, um derentwillen J. Kristeva das Konzept eingeführt hatte: die Kraft nämlich, die Identität der Werke zu dezentrieren, die Werke zum Moment eines subjektlosen Prozesses der sich ausspielenden textuelien Differenz zu machen. Der Mythos der Intertextualität hält, dies wäre als Resümee aus unserer Betrachtung zu ziehen, einer systematischen Betrachtung nicht stand. Daß aber das Konzept der Intertextualität, wenn es von einer textideologischen zu einer deskriptiven, auf das je einzelne Verhältnis bezogenen
Ka~egorie
gemacht wird, für das
Verständnis einer noch zu wenig beachteten kommunikativen Dimension der Werke fruchtbar ist, steht dennoch außer Frage.
A N'M E R K U N GEN
Die folgenden Bemerkungen wollen auf einige im Begriff der Intertextualität selbst liegende Probleme aufmerksam machen, ohne daß es möglich wäre, dabei in detailliertere Auseinandersetzungen zu vorliegenden Positionen einzutreten. Auf das für meine Argumentation zentrale Problem der Werkidentität werde ich,genauer in einem Beitrag zu Bd. 3 des von W. Oelmüller herausgegebenen Kolloquium Kunst und Philosophie eingehen ("Ästhetisches Absolutum und historische Relativität"). 1.
Vg1. C. L~VI-STRAUSS 1955 und ders. 1962, sowie H. BLUMENBERG 1979 und Verf. 1971:455-472.
2.
Vgl. bes. M. FOUCAULT 1971.
3.
Vgl. Verf. 1981a:537-545.
4.
Vgl. Verf. 1984.
5.
Uber die Loslösung des 'selbstversorgten' Satzes aus der Unmittelbarkeit der Situation vgl. K. BUHLER 1934:366 ff.
6.
Vgl. K. MAURER (mit Wolf und Herta Schmid) 1968:404-415. K. Maurers Plaidoyer für eine Theorie der Autorvariante ist zugleich ein Plaidoyer für eine eigene Form der intertextuellen Lektüre.
7.
Vgl. Verf. 1981:311-321.
8.
Vgl. hierzu (1972) .
9.
Vgl. bes. J. KRISTEVA 1969, S.146 (in: "Le mot, 1e dialogue et le roman"): " ... tout texte se construit comme mosaique de citations, tout texte est absorption et transformation d'un autre texte. A 1a place de la notion d'intersubjectivite s'installe cel1e d'intertextualite, et le langage poetique se lit, au moins, comme double." und S. 255 (in: "Poesie et negativite"): "Le signifie poetique renvoie ~ des signifies discursifs autres, de sorte que dans l'enonce poetique p1usieurs autres discours sont lisibles. 11 se cree, ainsi, autour du signifie poetique, un espace textue1 multiple dont les elements sont susceptib1es d'etre appliques dans le texte poetique concret. Nous appel1erons cet espace intertextuel. Pris dans l'intertextualite, l'~nonce poetique est un sous-ensemble d' un ensenble plus grand qui est l' espace des textes appliques dans notre ensemble."
die grundlegenden Betrachtungen W. BENJAMINs
10.
Vgl. etwa das Gedicht "Im Garten", das den Rhythmus von "Nun ruhen alle Wälder" wachruft, oder "In "der Frühe" mit dem Rhythmus von "Wie schön leuchtet der Morgenstern".
11.
Vgl.G.E. LESSING 1954:358 f.
-
23 -
12.
Vgl. Verf. 1983.
13.
Dies ist besonders von H.G. GADAMER (1966:249) in· Fortführung von Heidegger herausgestellt worden.
1.4.
MONTAIGNE (1950:1199): "11 y a plus affaire d interpreter les interpretations qu'd interpreter les choses, et plus de livres sur les livres que sur autre subject: nousne faisons que nous entregloser."
15.
Daß die intertextuelle Relation immer zugleich eine hermeneutische Relation ist, zeigt besonders deutlich die gerade erschienene Untersuchung von R. WARNING (1982). Die Differenz der aufeinander bezogenen Texte wird erst sprechend durch ihre Auslegung,und das heißt zugleich, indem die Intertextualität überschritten wird. Auch die Arbeit von R. LACHMANN (1984) zeigt, bei aller methodischer Differenz zu der Arbeit von Warning, daß die intertextuelle Betrachtung notwendig in Auslegung übergehen muß, die das nicht ausklammern kann, was den Texten in der intertextuellen Relation als das gemeinsame Dritte vorausliegt.
16. Zu diesem Begriff vgl. Verf. 1975:371 .. 17. M. BACHTIN 1979. Zu Bachtins Theorie des dialogischen Worts vgl. T. TODOROV 1981. 18. So syheint mir o. MARQUARDS PI~idoyer für eine zwanglose, offene, vielsinnige Hermeneutik (vgl. bes. 1981:581-589) die spezifisch'ästhetische, also unideologische Bestimmtheit und Autorität des poetischen Werks zu sehr zur quantite negligeable zu machen. 19. Ich übernehme diese treffende Bezeichnung von K. MAURER (1976:233-257~ Maurer bestimmt neben der Ubersetzung in erster Linie noch Parodie, Pastiche, Travestie und Palinodie als Formen des fremdbestimmten Textes und ordnet sie der "größeren Gruppe sekundärer Genera" (S. 256) zu, zu der in einem weiteren Sinn auch die Formen der Satire und schließlich der Textbearbeitung ("Uberarbeitung, Dramatisierung, Verfilmung usw.", S. 257) gehören. 20. Extremfall dessen wäre das Plagiat, das sich an die Stelle des plagiierten Textes setzt und das, wenn es als solches aufgedeckt wird, jede eigene Geltung verliert. 21. Doch scheinen mir die Versuche, das Feld der Intertextualität durch Subkategorisierungen systematisch zu erschließen, auch nur bedingt hilfreich. Am weitesten ist bisher wohl G. GENETTE (1982) in diese Richtung gegangen, der mit einer etwas ironisch gefärbten Lust am begrifflichen Differenzierungsspiel zwischen intertextualite, paratextualite, metatextualite, hypotextualite und arahitextualite unterscheidet und alle diese Textualitäten unter dem Begriff der transtextualite zusammenfaßt. Freilich ist dieser Begriff
-
24 -
so vieldeutig und mißverständlich, daß er sich kaum eignet, den der Intertextualität abzulösen. Problematisch ist indes auch die Metaphorik des Palimpsests, die Genette zur Charakterisierung der ~litt~rature au second degr~~ einführt. Palimpsest meint von der Sache her den beziehungslos, durch den bloßen Zufall des gemeinsamen Datenträgers hergestellten textuelien Zusammenhang. Der Begriff verfehlt so das Besondere der intertextuellen Verweisung in anderer Richtung ebenso wie der Begriff des Dialogs. Die Relation zwischen Texten ist weder die des Palimpsests noch jene des Dialogs. Was Genette hier in die Irre geführt haben dürfte, wird an einem früheren Aufsatz von ihm über das Palimpsest bei Proust deutlich. In "Proust palimpseste" aus der Aufsatzsammlung Figures (GENETTE 1966) wird der Proustsche Text der Recherche als Abbild einer Konfiguration zwischen erinnerndem und erinnertem Ich begriffen und die in die Sprache eingehende Schichtung des Gedächtnisses zu Recht mit dem Bild des Palimpsests bezeichnet, das schon von BAUDELAIRE (1961:451) für die Arbeit des Gedächtnisses verwendet worden war: "Qu'est-ce que le cerveau humain, sinon un palimpseste immense et naturei?" Für Baudelaire ist es die Identität des Bewußtseins selbst, die zwischen seinen verschiedenen Erinnerungsspuren eine Harmonie herstellt. Wenn hier das Bild noch einen wesentlichen Zusammenhang erfaßt, so ist es für die motivierte Beziehung von Text zu Text nicht mehr tragfähig.
L I T E RAT U R
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26 -
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Dietrich SCHWANITZ
INTERTEXTUALITÄT UND ÄQUIVALENZFUNKTIONALISMUS Vorschläge zu einer vergleichenden Analytik von Geschichten
Die Crux der wissenschaftlich angeleiteten Literaturkritik ist das Problem der Beliebigkeit der Interpretation, das die Literaturwissenschaft insgesamt in Legitimationsnöte bringt. Die Literaturtheorie ist weitgehend auf diese Legitimationsnöte fixiert und versucht, das Problem durch Anleihen bei der Gesellschaftstheorie, durch Rückgriffe auf einen älteren emphatischen Begriff der Bedeutung als unmittelbare Präsenz des Seins oder durch Appelle beherrschbar zu machen. Sie ist darin überfordert. Die folgenden Ausführungen versuchen umgekehrt, das Problem der Beliebigkeit für die Analyse von Geschichten produktiv zu machen. Wir wollen uns dadurch von der Versuchung frei halten, schon zu früh die hohe interne Relationierbarkeit der Elemente eines Werkes durch den selektiven Bezug auf ein aus welchen Gründen auch immer privilegiertes Thema arbiträr zu begrenzen. Vielmehr sollen solange wie möglich alle Relationierungen im Spiel gehalten werden. Die damit gegebenen Möglichkeiten des Bedeutens sollen dann nicht etwa gegeneinander abgewogen, hierarchisiert oder gar addiert werden. Vielmehr soll die Relation dieser Möglichkeiten als kategoriale Logik der Geschichten und ihrer Beziehung untereinander rekonstruiert werden. Um dieses Verfahren kontrollierbar zu halten, konzentrieren wir die Untersuchung dieser Relationierungen auf bestimmte strategisch wichtige Stellen wie die begriffliche Fassung der personalen Einheit und Veränderung, die Beziehung zwischen den Geschlechtern, die wichtigsten institutionellen Bindungen und das Phänomen des Todes und der Zeit. Das hat zugleich den Sinn, Anschlußstellen für die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Semantik verschiedener Epochen bereitzuhalten, aus denen die Geschichten stammen. Dies Verfahren wendet sich auch gegen die Hintergrundannahmen traditioneller Interpretationspraxis in der Anglistik.
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Die Vermutung, daß sie sich zu einem Teil mit den Intentionen decken, die mit dem Konzept der Intertextualität verbunden werden, bedarf der Bestätigung durch dessen eigentliche Vertreter. Sie zielen dabei auf den im Bereich der Intertextualität von Kristeva im Anschluß an Bakhtin prominent gemachten Begriff des Dialogs zwischen Texten, auf den die vorgelegten Analysen von Geschichten einmünden. Die sich daran anschliessenden theoretischen Vorschläge sind zwar tentativ, .aber doch Ergebnisse eingehenderer Untersuchungen als der hier vorgelegten (Schwanitz 1981a.:265-282;1981b.:335-355; 1982a.:14-33; 1982b.:37-60) . Es gibt eine Fabel, die in der englischen Terminologie als die Geschichte des
monst~ous
~ansom~
des ungeheuerlichen
Lösegelds, bekannt geworden ist: Ein Mann wird wegen eines Mordes zum Tode verurteilt, und die Frau des Mannes bittet den Richter um Gnade für ihn; dieser verspricht, ihren Mann
frei~
zulassen, wenn sie sich ihm hingibt, doch nachdem das geschehen ist, bricht der Richter sein Versprechen und läßt den Mann doch hinrichten. Die betrogene Frau wendet sich an den Regenten; dieser verurteilt den schlechten Richter zuerst, die Frau zu heiraten, um ihre Ehre wiederherzustellen, und läßt ihn dann ebenfalls hinrichten. Eine der Rezeptionslinien der Geschichte verläuft von Giraldo Cinthlos Hecdtommithi und einer dramatischen Bearbeitung desselben Autors über George Whetstones Drama and
Cassand~a
Measu~e
P~omos
zu Shakespeares sogenannter Problemkomödie
fo~ Measu~e~
die wiederum die Vorlage für Brechts
Die Rundköpfe und die spitzköpfe bildet.
An der Literatur zu der Geschichte ist nun besonders auffällig, daß kaum jemand an dem Verfahren des Herrschers Anstoß zu nehmen scheint, obwohl es doch nach heutigem Verständnis . höchst anstößig ist: Wenn der Richter den Mörder zu Recht zum 'Tode verurteilt hatte, kann er später nur wegen der Erpressung der Frau, nicht aber für den Bruch seines Versprechens verurteilt werden, wie moralisch anstößig dies auch sein mag. Im Gegenteil: Durch diesen Bruch erweist er sich als unbestechlicher Richter. Die Hinrichtung des Mörders ist einwandfrei.
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Daß die Geschichte hier zu anderen Ergebnissen kommt und dabei sogar die Kritiker überzeugt, muß an einer anderen Logik der Verbuchung liegen. -In der Tat zeigt sich bei näherer Analyse eine Art doppelte Buchführung. Es beginnt mit der Gleichung des Richters: Das Leben des Mannes ist so viel wert wie die Hingabe der Frau. Diese Äquivalenz wird von der Geschichte selbst und dem Herrscher akzeptiert und zur Grundlage der weiteren Verrechnung gemacht. Da die Frau die Äquivalenz für das Leben des Mannes bezahlt hat, muß der Mann nun nicht mehr zahlen. Daß der Richter ihn dennoch hinrichtet, stellt eine Mißachtung der von ihm selbst hergestellten Äquivalenz dar. Das wird ihm nun doppelt übel angerechnet: Aus der Perspektive der Hinrichtung war die Unzucht mit der Ehefrau illegitim, und aus der Perspektive von deren Hingabe die Hinrichtung. Durch den Wechsel der Perspektive wird eine Optik erzeugt, nach der der Richter dem Ehepaar doppelt, und zwar der Frau und dem Mann, Unrecht getan hat. Dies aber ist eine optische Täuschung, weil er in der Gesamtbilanz entweder nur der Frau oder nur dem Mann Unrecht getan hat. Ist es deshalb falsch, wenn der Richter bei seiner Sühne nach dem Urteilsspruch des Herrschers insgesamt das Äquivalent dessen aufbringen muß, was das Ehepaar scheinbar insgesamt be~ahlt
hat? Keineswegs. Aber für diese Begründung kann man eine
andere Rechnung aufmachen: Da das Ehepaar das Verbrechen des Mannes doppelt bezahlt hat, muß nun auch der Richter doppelt bezahlen. Es ist die Äquivalenz des Unrechts, die der Rechnung zugrunde liegt. Doch diese Äquivalenz münzt sich verschieden aus: Der Ehemann begeht einen Mord, dafür ,zahlt er selbst mit seinem Leben und seine Frau mit ihrer Ehre. Dann begeht der Richter ein Verbrechen, aber eben nur an der Ehre der Frau., Dafür bezahlt er doppelt: durch die Heirat als Wiederherstellung der Ehre und durch seinen Tod. Dieser Doppelung liegt wieder die ursprüngliche Äquivalenz zwischen der Ehre der Frau und dem Tod des Mannes zugrunde, die dadurch bestätigt wird. Zugleich aber wird durch diese Kombination von Äquivalenz und Doppelung die Suggestion erweckt, der Richter zahle sozusagen in separaten Äquivalenzen für die Ehre der Frau und den Tod
-
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des Mannes. Mit anderen Worten: Die separaten Äquivalenzen und die Äquivalenz der Verdoppelung lassen sich gar nicht auseinanderhalten. Und dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß der Richter die Nachfolge des Ehemanns sowohl im Leben wie im Tod antritt: Zunächst heiratet er die Witwe und dann steigt er aufs Schafott. Die optische Gleichsetzung des Schuldkontos des Richters mit dem, was das Ehepaar insgesamt bezahlt, führt aber zu einem eigenartigen Ergebnis: Sie projiziert die Differenz zwischen Frau und Mann bei dem Ehepaar auf einen Menschen, für den sie zur Alternative zwischen Leben und Tod wird: Die Wiedergutmachung gegenüber der Frau ist Leben, die gegenüber dem Mann heißt Tod. Dies muß nicht nur für den Betroffenen, sondern kann auch für die Witwe ein Widerspruch sein. Die Bear-,. beitungen haben bei diesem Widerspruch eingesetzt. An dieser Stelle aber zeigt sich, daß man es bereits im
frühen Stadium der Analyse mit einer Unzahl von Transformationen, Doppelungen, Substitutionen, Differenzierungen und Äquivalenzen zu tun bekommt, die sich wechselseitig aufsturen. So arbeitet die Geschichte mit den Differenzierungen Tod/Leben und Mann/Frau, behandelt die Aufhebung dieser Differenzierung aber wieder differenziert. So gibt es jeweils eine legitime und eine illegitime Art, die Differenzierung aufzuheben: Bei der Differenz Mann/Frau gibt es die Ehe und den unehelichen Sex, für die Differenz Tod/Leben gelten Hinrichtung/Mord entsprechend, was sich durch folgendes Schema veranschaulichen läßt: Mann/Frau legitim
Ehe
illegitim
Sex
Tod/Leben Hinrichtung Mord
Da in allen vier Feldern bereits jeweils zwei Personen miteinander verknüpft sind, werden über Querbindungen bereits so viele Kombinationen, Haftungsverhältnisse und Substitutionen möglich, daß sie über Respezifikationen eingeschränkt werden müssen. Dies geschieht durch Rückprojektion auf die Ursprungsdifferenzierung. So wird die Tod/Leben-Differenzierung durch
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die Mann/Frau-Differenzierung so respezifiziert, daß nur Männer ermordet oder hingerichtet werden. Dadurch wird es möglich, ein symmetrisches Äquivalent für die Tatsache zu schaffen, daß beim illegitimen Sex nur die Frauen ihre Ehre verlieren, nicht aber die Männer. Erst dann kann zwischen Tod und Verlust der Ehre ein Äquivalent hergestellt werden. Solche Respezifikationen setzen aber zugleich neue Äquivalenzen in Gang wie die zwischen einem Ehepaar, bei dem sie lebt und er stirbt, und der zeitlichen Sukzession bei einer Person, die erst lebt und ßann stirbt. Mit solchen Äquivalenzen ist man dann in kategoriale Tiefenschichten vorgestoßen, auf denen sich die Frage stellt, ob nicht ein Ehepaar ebenso ein Fleisch ist wie eine Person, die erst lebt und dann tot ist, bzw. ob nicht umgekehrt die zeitliche Sukzession des Lebens und Sterbens eine Person ebenso sehr in zwei zerlegt wie das Ehepaar aus zwei Personen besteht. Wenn Haftung und Temporalität jeweils durch die Projektion einer auf zwei Personen und umgekehrt ausgedrückt werden, kann das Spiel der Differenzierungen und Substitutionen für die kategoriale Begründung fundamentaler gesellschaftlicher Ordnungs strukturen benutzt werden, und hier scheinen Querbindungen zwischen mehreren Personen temporalen Sukzessionen bei einer Person funktional äquivalent zu sein. All das legt zunächst einmal nahe, daß man bei der Analyse von Geschichten solche suggestiven Kompaktheiten und Raffungen wie die Einheit von Personen oder Themen in Relationen auflöst und diese als Modell rekonstruiert. Eine der Möglichkeiten, dies zu tun, besteht darin, zwischen einem Feld von Positionen und den Figuren zu differenzieren. Das Modell ist dann eine Repräsentation der Struktur, die allerdings nicht mehr einem einzigen Text zugesprochen wird, sondern der Isomorphie verschiedener Texte. Damit gewinnt man eine komparatistische Methode, die nicht mehr .Einzelelemente, sondern Relationen miteinander vergleicht. Das macht es möglich, im Oberflächentext
Unve~gleichliches
miteinander vergleichbar zu ma-
chen. Im folgenden sollen nun mehrere .der damit verbundenen Möglichkeiten und Perspektiven, die zum Teil auf mehreren
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Ebenen liegen und in verschiedenen Zusammenhängen stehen, kurz entworfen werden. Dabei dient uns unser Text wieder als Ausgangspunkt für den Vergleich nach zwei Richtungen. In der Bearbeitung durch Cinthio wird die Linie der Substitutionen geändert. Aus dem Ehepaar werden Bruder und Schwester, und der Bruder ist nicht mehr ein Mörder, sondern ein Jungfrauenschänder . \'lenn dann der Richter für das Leben des Bruders die Unschuld der Schwester fordert, ist die Äquivalenz von der Beziehung zur Frau auf das Verbrechen selbst verlagert worden. Der Richter tritt nicht mehr die Nachfolge des Mannes bei der Frau an, sondern begeht dasselbe Verbrechen, das dieser gegenüber einer anderen Frau begeht. Den Widerspruch, daß die Jungfrau zur Wiedergutmachung einen Mann erhält, der ihr zugleich wieder genommen wird, löst Cinthio nun durch eine neue Variante:Nach der Verehelichung mit dem Richter bittet die Schwester des vom Richter verurteilten Bruders in derselben Weise um das Leben des neuen Hannes wie sie vorher bei ihm selbst um das Leben des Bruders gebeten hatte. Das verteilt wiederum die Äquivalenzen und Kontraste neu: Der Richter tritt darin die Nachfolge des Hingerichteten an, daß er in der gleichen Situation Gegenstand de9 Gnadengesuchs ist wie der Bruder vor ihm, als er selbst der Adressat war. Hierbei ist sein Ersatz der Herrscher - bei Cinthio Kaiser Maximilian -, der nun im Gegensatz zum Richter Gnade walten läßt. Er kann das dann in der dramatischen Bearbeitung Cinthios um so besser, als sich herausstellt, daß ein milder Wachhauptmann statt des Bruders einen anderen Verbrecher hat hinrichten lassen. In diesen neuen Reihen von Äquivalenzen und Substitutionen fällt der Richter mit der Verurteilung eines Verbrechens, das er selbst begeht,
~ein
eigenes Todesurteil, und seine Begnadigung
wird später durch die Entdeckung gerechtfertigt, daß der Ver'urteilte doch nicht hingerichtet wurde. Diese Tendenz verstärkt Shakespeare in Measure for
Measure~
indem er die Substitution des Verurteilten durch einen Verbrecher durch eine weitere Substitution ergänzt. Diese Substitution ist unter Anglisten als sogenannter bed-trick bekannt. Es handelt sich dabei um die Vertauschung zweier Frauen
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bei einem nächtlichen, schweigsamen Schäferstündchen mit einem Mann. Uber diesen bed-trick wird nun die Geschichte des Richters mit einer anderen Geschichte verkoppelt,
di~
von Shake-
speare ebenfalls in einer sogenannten Problemkomödie, und zwar 'in All's Well That Ends Well bearbeitet wurde. Sie kommt im
Decamerone als die Geschichte der Giletta von Narbonne vor und wird von Shakespeare nach Roussillon und Florenz verlegt: Die junge Helena, Tochter eines Arztes, wächst bei der Gräfin von Roussillon auf und liebt deren Sohn Bertram über die Standesschranken hinweg. Als sie den König von Frankreich von einer bösartigen Krankheit heilt, erhält sie auf ihre Bitten Bertram zUm Mann. Bertram aber flieht nach Florenz, nachdem er Helena bedeutet hat, daß er sie erst dann als Frau anerkennen würde, wenn sie von ihm seinen Familienring und ein Kind empfangen habe. In Florenz verliebt sich Bertram in eine Jungfrau, die nicht umsonst Diana heißt. Inzwischen ist Helena ihm heimlich nach Floreni gefolgt, gewinnt das Vertrauen der keuschen Diana und ihr Einverständnis zur Anwendung des bed-trick: Diana reizt Bertram so, daß er ihr als Gegenleistung für ihre Hingabe die Ehe für den Zeitpunkt verspricht, zu dem er frei sein wird; als Pfand hierfür läßt sich Diana den Ring der Roussillons geben. Zum schweigsamen Stelldichein erscheint aber statt Dianens Helena und empfängt von Bertram ein Kind. Die Differenzierung, um die es bei dieser Version des bedtrick geht, ist die zwischen Jungfrau und Ehefrau. Dabei handelt es sich um eine temporale Staffelung: Jungfrau ist die Frau vor der Hochzeit, Ehefrau danach. Doch hat diese Differenzierung zwei Ebenen, über die sich wiederum vier Relationen herstellen lassen: Es gibt eine Ebene der Natur und eine der gesellschaftlichen Legitimierung. Projiziert auf die Zeitstruktur 'ergibt sich dadurch die Möglichkeit, daß sowohl dem Vorher als auch dem Nachher eine Ebene fehlt. Diese Ebenen ergänzen sich. Die Jungfrau Diana repräsentiert dann die Lust ohne Legitimität vor der Hochzeit und Helena die Legitimität ohne Lust. Im bed-trick werden die Aspekte getauscht: Diana schenkt Helena die Lust, und diese schenkt Diana die Legitimität. Dies wird in einem höchst interessanten 5. Akt, der mit
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der Enthüllung der Vorgänge all diese und noch mehr Differenzierungen durchspielt, vom König im Dank an Diana deutlich ausgedrückt: For I can guess that by thy honest aid Thou kept'st a wife herself, thyself a maid (V,3, 322-323) Derselbe bed-triak wird nun in Measure tor Measure dazu benutzt, die Jungfrau Isabella, deren Jungfräulichkeit übrigens noch durch den Status einer Novizin betont wird, vor dem gierigen Richter zu retten (Shakespeare 1968).1 Dafür führt Shakespeare eine dem Richter bereits früher anverlobte Ehefrau - Mariana - ein, die dieser lediglich unter dem Vorwand einer nicht einwandfreien Reputation, in Wirklichkeit aber wegen mangelnder Mitgift als Frau nicht anerkannt hatte. Sie wird nun beim Stelldichein gegen Isabella eingetauscht, .deren Jungfräulichkeit erhalten bleibt und die ihrerseits Mariana zu ihrem Recht verhilft. Der 5. Akt von Measure tor Measure ist daher genau so strukturiert wie der von All's Well That Ends Well.
B~ide Sind·Ubung~n
in kategorialen Grunddifferenzie-
rungen. Und in beiden Stücken wird die jeweilige Defizienz der Frauen mit dem Tod gleichgesetzt. In Measure tor Measure be-
de~tet der Verlust der Jungfräulichkeit fUr Isabella den Tod,2 und in All's Well führt die Nichtanerkennung Helenas dazu, daß sie (scheinbar) stirbt, was vom König im 5. Akt dem Ehe3 Diese Tode sind ein Reflex der
mann selbst angelastet wird.
Umdrehung der Zeit. In der regulären Abfolge ersetzt die Ehefrau die Jungfrau, aber sowohl Bertram als auch Angelo (in Measure tor Measure) wollen die Ehefrau durch die Jungfrau ersetzen~
Dies tötet sowohl die Ehefrau (Helena) als auch die
Jungfrau (Isabella) . Der bed-triak dreht diese Verdrehung wieder um. Nachts gehen beide Männer in die Kammer und .suchen eine Jungfrau, aber sie finden eine legitime Ehefrau. Dies ist aber der normale Prozeß einer (traditionellen) Hochzeitsnacht. Das heißt, der bed-triak ist das reguläre Legitimationsverfahren der Hochzeit, und das in der Shakespeare-Kritik oft als unwahrscheinlich beklagte Verfahren des Frauentausches zeigt sich in der Analyse als das übliche, mit dem jeder Ehemann (einschließlich der verheirateten Kritiker) getäuscht wird.
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Bei der gegenseitigen Rettung von Jungfrau und Ehefrau durch den bed-trick erzählt nun Measure for Measure die Geschichte der Jungfrau, die die Ehefrau als Retterin gewinnt, und Att's Wett That Ends Wett die Geschichte der Ehefrau, die die Jungfrau als Retterin'gewinnt. Beide Geschichten greifen wie Anteile eines Puzzles ineinander.
E~ne
Anzahl von Puzzle-
stücken haben beide Geschichten gemeinsam. Formuliert man das um und spricht nicht mehr von zwei Geschichten, sondern von Teilen eines einzigen größeren Puzzles, dann sind die beiden Dramen nur die Ergebnisse verschieden angesetzter Schnitte in diesem Puzzle. Att's Wett That Ends Wett schneidet die Geschichte der Jungfrau und die Bedrohung ihrer Ehre von ihren Motivationen ab; ganz umgekehrt verfährt Measure for
Measure~
das die Geschichte der Ehefrau nicht weiterverfolgt. Doch sind beide Geschichten nichts als Teilstücke einer endlosen Geschichte, in der man an bestimmten Stellen die Einschnitte eines Anfangs und eines Endes setzt und,die Verzweigungen verschieden begrenzt. Die endlose Geschichte ist aber eine der endlosen Transformationen von Grunddifferenzierungen Mann/Frau, Vergangenheit/Zukunft, Leben/Tod, Ehefrau/Jungfrau, Mord/Hinrichtung etc.
Die Art der Transformation entscheidet darüber,
an welcher Stelle die Schnitte in der Geschichte gemacht werden. Dies ist eine Frage der Zuschreibung der Verantwortung an die Personen der Geschichte. In Measure for Measure fängt die Geschichte mit dem Richter an, in AU's WeH mit der.Ehefrau; doch in beiden Geschichten greifen beide Anfänge auf weitere Motive - wie man in der traditionellen Literaturwissenschaft bisher sagt - über. Att's Wett beginnt mit der Heilung eines Königs durch die Jungfrau, der ihr zur Belohnung einen Mann gibt, Measure for Measure beginnt mit der Delegation der Herrschaft eines Herzogs an einen Richter. Die Transformationen wären in diese Richtung fortsetzbar, werden aber dann an verschiedenen Stellen abgeschnitten. Nun beruht ein großer Teil des
Plausibilität~gehalts
beim Konzept Intertextualität
offenbar auf der Vorstellung des im Anschluß an Bakhtin übernommenen Prinzips des Dialogs zwischen Texten, ohne daß klar wäre, wie metaphorisch dies gemeint ,ist. Eine gute Methode,
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dies zu testen, ist es immer, den Begriff wörtlich zu nehmen. FUr die Zwecke unseres Gedankenspiels ist dann die Beziehung unserer Texte theoretisch transformierbar in einen Streit zwischen der Jungfrau u~d der Ehefrau darUber, welche Geschichte die wichtigere ist und wer in ihrer gemeinsamen Geschichte mehr geleistet und gelitten hat. Die Differenz zwischen Meas-
ure for Measure und All's Well entspräche der Differenz zwischen den beiden Geschichten, die etwa die sich streitenden Partner eines Ehepaars Uber den Konflikt in ihrer Ehe vor dem Psychotherapeuten erzählen wUrden. In der Interaktionsforschung beobachtet man seit langem das Phänomen kreisförmiger, .endloser Konfliktverläufe, in denen etwa ein Ehemann erzählt, er habe sich zurUckgezogen, weil seine Frau ständig nörgelt, während die Frau berichtet, sie beklage sich nur, weil ihr Mann sich von ihr zurUckzieht. Beide Ehepartner machen in der ·Kette RUckzugjSchimpfenjRUckzugjSchimpfen/RUckzugjSchimpfen etc. verschiedene Schnitte und beginnen von da an zu rechnen. Sie erzählen dann jeweils verschiedene gegeneinander verschobene Geschichten mit den gleichen Elementen. Es ist dies ein Konflikttypus zwischen verschiedenen Zuschreibungen, wie er heute durch die Diskussion Uber die RUstungsschraube wieder ins Blickfeld gerät. In der konstruktivistischen Interaktionstheorie haben Watzlawick, Beavin und Jackson (1972:47 f.) für dieses Phänomen in Anknüpfung an Whorf (1956:207-219) den Begriff der Interpunktion eingefUhrt. Damit ist die Gliederung von Kommunikationsketten in Segmente gemeint. So kann man etwa bei unserem Beispiel des Ehepaares die Kommunikationskette numerieren: RUckzug 2Nörgeln 3Rückzug 4Nörgeln 1_ _-,:;>~ :> :> ~
5RUckz~
~
6Nörgeln 7
>
t e c.
Hierbei legt die Frau die Schnitte so, daß sie die Segmente 1 - 2 - 3; 4 - 5 - 6 etc. erhält, während er seinen Rückzug als Reaktion auf ihr Nörgeln interpunktiert und. dabei die Segmente 2 - 3 - 4; 5 - 6 - 7 erhält. Der theoretische Gewinn der Anwendung dieses Begriffs scheint in seiner Präzisionslage zu bestehen: Einerseits ist
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er präzise genug, um im Umkreis der Intertextualitätstheorie \
den Begriff der Dialogizität auf seine Tragfähigkeit zu testen, andererseits ist er noch unbestimmt genug, um Anschlüssefür andere Begriffe offen zu halten. So ist es denkbar, daß sich auch andere Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Geschichten als Formen der Interpunktion fassen lassen. Um dies näher zu erläutern, soll nun kurz das Verhältnis der beiden vorherigen Geschichten zu einer dritten untersucht werden, wobei diese Beziehung nicht mehr nur über das Ineinandergreifen der Geschichten, sondern über die gleiche Struktur der Grundposi-' tionen auf der Basis der Differenzierung von Positionen und Figuren rekonstruiert wird. Dabei handelt es sich um eine im Oberflächentext völlig andere Geschichte, nämlich Kleists Novelle Michael
Kohlhaas~
von der kürzlich eine Analyse auf
der Basis der Psychologie Lacans vorgelegt wurde, der man bis auf die Schlußfolgerungen durchaus folgen kann (GalIas 1981). Die Geschichte ist bekannt: Dem brandenburgischen Roßhändler Kohlhaas, verheiratet mit Frau Lisbeth und Vater von fünf Kindern, nimmt der Junker Tronka unter dem' Vorwand eines fehlenden Passes zwei Pferde weg und richtet sie durch Uberarbeitung zugrunde. Der anschließende Prozeß des Kohlhaas gegen den Junker beim Kurfürsten von Sachsen wird durch dessen Verwandte niedergeschlagen, und ein Bittgang seiner Frau zum Kurfürsten von Brandenburg endet in deren Tod, da sie versehentlich im Gedränge durch eine Wache verletzt wird. Hier wird zunächst der Paß durch die Pferde und diese durch die Frau substituiert. Danach verlagert sich die Geschichte. auf eine höhere Ebene. Kohlhaas begibt sich auf das Niveau des Junkers, hebt einen Haufen Volks aus, überzieht den Junker mit Fehde, verjagt ihn, zündet Wittenberg, wo sich der Junker versteckt hält,
m~hrere
Male an, ja, läßt.sich sogar wie ein Kaiser das
Schwert Gottes nennen. Seine eigentlichen Widersacher werden nun die Landesfürsten, zumal der Kurfürst von Sachsen ..Oie nächste Wendung wird dadurch eingeleitet, daß Luther Kohlhaas überredet, gegen freies Geleit sich in einem fairen Prozeß zu verantworten. Der Kurfürst bricht dieses Versprechen und erreicht, als er Kohlhaas nach Brandenburg ausliefern muß,
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seine Verurteilung beim Reichsgericht in Wien. Doch dann erfolgt die nächste Wende durch den Nachtrag einer Episode, die am Anfang der Geschichte passiert ist. Unmittelbar nach dem Tod seiner Frau Lisbeth wird Kohlhaas auf dem Markt von Jüterbog Zeuge, wie eine alte Zigeunerin den beiden Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen die Zukunft voraussagt. Während sie für den Brandenburger nur Gutes parat hat, schreibt sie, als ob es aus Schonung wäre, die Weissagung für den Kurfürsten von Sachsen auf einen Zettel, verschließt ihn in einer Kapsel und übergibt ihn dann dem in der Menge stehenden Kohlhaas mit der Bemerkung, er werde ihm einst das Leben retten, worauf Kohlhaas in der Menge verschwindet. Erst nach der Verurteilung durch das Reichsgericht und der Auslieferung nach Brandenburg erkennt der Kurfürst von Sachsen in Kohlhaas den Besitzer des Zettels wieder und dam-it den, der Gewalt'über seine Zukunft hat. Mit allen Mitteln versucht er, die Hinrichtung zu verhindern bzw. des Zettels habhaft zu werden. Doch Kohlhaas vereitelt dies, obwohl ihm seine Rettung in Aussicht gestellt wird, indem er auf dem Schafott den Zettel entfaltet, liest, aufißt und, während der zuschauende Kurfürst in Krämpfen zu Boden fällt, sein Haupt auf den Block legt. Sämtliche Substitutionen hier durchzuspielen, würde zu viel Raum einnehmen. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß die in den beiden vorherigen Geschichten gefundenen Positionen sich in Abwandlungen in MichaeL KohLhaas wiederfinden: ,Es gibt die Frau, den Mann, den Verurteilten und den Richter. Diese Positionen werden mehrfach besetzt. Interessant ist, wie das im Falle der Frau geschieht: Zwar gibt es keinen
bed-trick~
doch die alte Zigeunerin,
die Kohlhaas die Macht über den Kurfürsten von Sachsen verleiht, ist so deutlich als Reinkarnation von Kohlhaas' Frau 4 Wir haben
Lisbeth angelegt, daß es völlig unübersehbar ist.
hier also ebenfalls eine Substitution der Frauen: und es gibt ebenfalls den Mann, der zum Verbrecher wird und den Richter, der den Mann verurteilt"
nur um zu erkennen, daß dieser Mann
seine eigene Zukunft verkörpert. Der Unterschied zu den
vor~
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herigen Geschichten ist einer der Interpunktion. Steht bei dem Motiv des monstrous ranBom das Verbrechen des Mannes am Anfang, das dem Richter die Macht über die Frau verschafft, so steht bei Michael Kohlhaas die Gier des Junkers Tronka nach den Pferden, für die später die Frau eingesetzt wird, am Anfang, die Kohlhaas zum Verbrecher macht. Im ersten Fall reagiert der Richter auf das Verbrechen des Mannes mit dem Griff nach der Frau, im zweiten reagiert der Mann auf den Griff nach den Pferden, für die später die Frau einsteht, mit einem Verbrechen. Ist bei dem schlechten Richter die Ehre der Frau das Äquivalent für das Verbrechen des Mannes und seinen Tod, so ist bei Michael Kohlhaas das Verbrechen des Mannes das Äquivalent für den Tod der Frau, so daß eine Verurteilung des Kohlhaas als unbillig erscheint. Dann laufen die Geschichten eine kurze Strecke parallel: In der Geschichte des schlechten Richters gewinnt die geschändete Frau Macht über den Richter, der sie heiraten muß, um als Verurteilter dem Mann in den Tod zu folgen, bei Kleist taucht eine zweite verwandelte 'und alte Frau auf, an die die Zukunft des Kurfürsten gebunden ist. Diese Bindung verleiht ihr eine Macht vor der Hinrichtung des Mannes, so daß nun wieder anders
~nterpunktiert
werden kann:
Nicht erst die erfolgte Hinrichtung gibt der Frau die Macht und verurteilt den Richter, sondern die Frau delegiert ihre Macht vor der Hinrichtung an den Mann, dessen Hinrichtung nun der Richter vergeblich aufzuhalten sucht. Mit seinem Tod wird (tann wieder wie in der ersten Geschichte die Zukunft des Richters begraben, mit dem Unterschied, daß bei Kleist der Verurteilte diese Entscheidung selbst fällt und nicht der
Richter~
Die Beziehung ließe sich weiter in die Differenzierungen und Substitutionen verfolgen, wobei weitere Unterschiede auf der Basis einer isomorphen Struktur zutage kämen. Diese Isomorphie scheint sich zu bestätigen, wenn man entdeckt, daß die Geschichten sich tatsächlich in einer späteren Bearbeitung berühren. Wie erwähnt, hat Brecht nach einer Bearbeitung von Shakespeares
Measure for Measure das Stück zum Ausgangspunkt für sein Drama Die Rundköpfe und die Spitzköpfe genommen. Brecht geht es in dem Stück ebenfalls um die Substitution von Differenzierungen,
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und zwar will er nachweisen, daß
~ein Ch~rakter
Iberin, der
für Hitler steht und die Stelle des Richters Angelo bei Shakespeare einnimmt, die Differenzierung zwischen arm und reich durch die zwischen Ariern und Juden, genannt Tschuch und Tschich, ersetzt, von denen die einen runde, die anderen spitze Köpfe haben. 5 Diese Substitution ist dem wahren Machthaber, der - wie bei Shakespeare - seine Macht für eine gewisse Frist an Iberin delegiert, sehr gelegen, da sie die revoltierenden Armen in Rund- und Spitzköpfe teilt und uneins macht. Mittelpunkt des Stückes, in dessen Hintergrund der Aufstand der
Pächte~
niedergeschlagen wird, ist - wie bei Shakespeare -
ein Prozeß, in dem der reiche Tschiche Guzman (bei Shakespeare Claudio) angeklagt wird, die arme tschuchische Pächterstochter Nanna (bei Shakespeare Julia) verführt zu haben. Die Frage bleibt eine Zeitlang unentschieden, ob er angeklagt wird, weil er Tschiche ist oder weil er seinen Reichtum ausgenutzt hat. Wie bei Shakespeare hat Guzman eine keusche Schwester Isabella, die im Begriff steht, ins Kloster einzutreten, in dem sie wegen des eingebrachten Vermögens, das sie vor der Requisition in Sicherheit bringt, hochwillkommen ist. Ihr wird nahegelegt, sich dem KZ-Kommandanten Zarazante hinzugeben, um ihren Bruder zu retten. Hier weicht Brecht also von der Vorlage ab und teilt den Richter in zwei Figuren: den Richter und den Erpresser. Da aber'bei Brecht immer die Armen für die Reichen, und seien es auch Tschichen, bezahlen müssen, wird für dieses Rettungsunternehmen Nanna engagiert, die sich inzwischen sowieso ihr Brot über die käufliche Liebe verdient. Der bed-trick substituiert hier ~lso riicht die Jungfrau durch die Ehefrau, sondern durch die Uber
Hure~
~ie
Motivation, durch die Nanna zur Hure wurde,
weicht Brecht nun noch weiter von der Vorlage ab und führt für Nanna einen bei Shakespeare nicht vorhandenen Vater ein, der bei dem reichen tschichischen Guzman, der seine Tochter verführt, ein armer tschuchischer Pächter ist. Und da er, um die Pacht zu bezahlen, die Pferde des Herrn Guzman braucht, überläßt er diesem als Gegenleistung für die Benutzung der Pferde die Tochter. Wie bei Kleist werden hier also Frau und
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Pferde gleichgesetzt, wobei die Pferde wieder fUr das wirtschaftliche Uberleben des Pächters stehen. Nach kurzer Zeit jedoch muß der Pächter die Pferde zurückgeben und neigt deshalb dazu, sich den aufständischen Pächtern anzuschließen. Doch als Iberin die Macht übernimmt und dem Guzman als Tschiehen den Prozeß macht, hofft der Pächter auf eine individuelle Lösung, sagt sich von den Aufständischen los, holt sich, ohne das Ende des Prozesses abzuwarten, die Gäule auf eigene Faust und wird als Volksheld gefeiert. Der Name dieses Pächters ist - da Brecht iberische Namen gebraucht - Callas (Kohlhaas). Er ist in der 'neuen Interpretation Brechts der unrevolutionäre individualistische Rebell Kohlhaas, dessen Namen er trägt. Im Unterschied zu Kleist beginnt nun Brecht ein neues Spiel der Substitutionen, indem er diesen Kohlhaas in das Stück Shakespeares einsetzt. In Measure for Measure wird der Verurteilte Claudio durch das Eingreifen des Herzogs zunächst durch einen betrunkenen, bereits verurteilten Verbrecher namens Barnadine, dann durch einen bereits Verstorbenen ersetzt. Die Stelle Barnadines muß bei Brecht Callas einnehmen. Man überredet ihn, daß ein Pachtherr niemals gehängt, sondern im letzten Moment begnadigt würde, Guzman aber für diese Strapaze zu nervös
sei~
deswegen solle Callas gegen zwei Jahre Pacht-
erlaß, was wiederum den Pferden entspricht, für ihn zum Schafott gehen. Als der Regent dann wie bei Shakespeare am Ende des Stückes dem Richter die Macht und dem Verurteilten die Kapuze abnimmt, weil es falsch ist, einen Pachtherren hinzurichten, kommt unter ihr der Pächter Callas zum Vorschein. Durch die Kombination beider Geschichten in Brechts Die
Rundköpfe und die Spitzköpfe lassen sich beide Interpunktionen verbinden und die Transformationsreihen ineinander verlängern. Die Gäule des Ca lIas stehen für seine Möglichkeit zu überleben, für die Gäule steht die Ehre der Tochter, und dafür steht der Tod des Guzman. Hierfür wird einerseits die Jungfräulichkeit der Schwester eingesetzt, die wiederum durch die Pächterstochter ersetzt wird, und andererseits der Kopf des Callas, der diesen Dienst für zwei Jahre Pachterlaß leistet.
~n
der
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Interpunktion Brechts zahlen schließlich die Pächter für die Pachtherren, und die Differenz zwischen Tschichen und Tschuchen erweist sich als irrelevant. Wir wissen, daß dies ein histo6 rischer Irrtum war. Uns ist nicht klar, ob der Brechtforschung Brechts Anleihen bei Kleists MiahaeZ KohZhaas für Die Rundkßpfe und die Spitzk8pfe bekannt sind. Wir haben keine Hinweise dafür gefun-
den, und in den kritischen Werkausgaben findet sich Kleist bei den Quellennachweisen nicht. Aber wie immer dem sei, es bestätigt die hier entwickelte Untersuchungsperspektive, wenn man damit unabhängig von positivistischer Einfluß- und Quellenforschung solche Entdeckungen machen kann. Ich habe nun auf der Basis der Differenzierung zwischen Positionen und Figuren verschiedene weitere Geschichten untersucht. Dabei interessierte mich besonders ein Feld von Positionen, in dem wie in der ursprünglichen Geschichte des Richters institutionelle Querbindungen und temporale Differenzierungen über das Prinzip der Mehrfachverwendung der gleichen Differenzierung aufeinander projiziert wurden. Das Modell hierfür bot die bekannte Geschichte der Witwe von Ephesus aus Petronius' Satyriaon,
in der eine Witwe, die ihrem Mann nach-
sterben will, yon einem Soldaten zur Liebe und zum Leben überredet wird, der seinerseits die Leiche eines verurteilten Verbrechers' bei Strafe seines Lebens zu bewachen hat. Als er dann nach dem Diebstahl der Leiche, für die er haftet, in Antizipation der Strafe sich umbringen will, ersetzt die Witwe die Leiche des Verbrechers durch die ihres Gatten, der so nach seinem Tod zum Verbrecher definiert wird und dadurch dem Soldaten das Leben rettet. Dabei tauschen in den beiden Schemata Ehe (= Institution und Verbindung zwischen zwei Personen)
und Zeit
(Nacheinander bei einer Person) Soldat und Leiche des Ehemanns die Plätze:. Der Soldat nimmt die Stelle des Ehemanns bei der Witwe ein, der Ehemann die Stelle des Soldaten am Kreuz. Transformiert man auf dieser Basis die vier in zwei Personen und bezieht sie auf die vier Positionen, dann nimmt der Ehemann dem Soldaten seinen Tod am Kreuz ab, und der Soldat imitiert das Leben des Ehemanns mit der Witwe.
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Von da aus erwies sich die Geschichte als der Formel der christlichen Erlösung isomorph: Christus nimmt dem sündigen Menschen seinen Tod in Schuld und Sünde durch seinen eigenen Kreuzestod ab und schenkt ihm das ewige Leben (die Witwe) , wenn dieser sein Leben als imitatio Christi gestaltet und die Witwe (sein Kreuz) auf sich nimmt'. Die verschiedenen Interpunktionen lassen sich dann durch verschiedene Zuschreibungen erklären, bei denen etwa dem Ehemann nachträglich zugefügt ,wird, was Christus freiwillig anbietet. Diese Zuschreibungen potenzieren die Möglichkeiten der Variation und Relationierung innerhalb des gleichen Positionsfeldes als eines regulativen Sinnschemas. Und so läßt sich etwa aus der Figuration des Opfers als gegenläufige Interpunktion die Figur der Rache entwickeln, was die Witwe von Ephesus zu einer Geschichte wie Hamtet erweitert, in der der ersetzte ,Ehemann gegen den Tausch protestiert und als Geist wieder aufsteht und wandelt, um Rache zu fordern. Die Konjugation von mehr als einem Dutzend Geschichten
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mit 2 bis 3 mal soviel Varianten legte dabei Nerschiedene Schlüsse nahe: Herkömmliche Interpretationen verfahren gegenüber der Unzahl von Relationierungen, Differenzierungen und Substitutionen reduktiv durch eine selektive Projektion einiger Differenzierungen auf ein privilegiertes Thema. Die GrUnde für diese Privilegierung bleiben meist unreflektiert. Interpretationen unterscheiden sich dabei nicht prinzipiell von anderen Interpunktionen, da sie mit Raffungsverfahren und willkürlichen Schnitten arbeiten, die letztlich ähnlich funktionieren wie die Uberdetermination der Wahrnehmung, die in einem Wolkengebilde oder Tapetenmuster Gestalten erkennt. Die Beziehung zwischen Interpunktionen ist dabei ebenfalls
durch~
aus analog der Wahrnehmung, die im gleichen Bild entweder nur die eine oder die andere Figur, aber nie beide zugleich sehen kann wie in dem folgenden Beispiel eines berühmten Vexierbildes:
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Die Interpunktion hängt ab von Einstellung, die darüber entscheidet, ob man die Figur
als drei in einer Spitze zusammenlaufende Linien oder die perspektivische Ecke eines Würfels sieht. Beide sind in derselben Weise Lesarten wie die Interpretationen einer Kommunikation durch ein sich streitendes Ehepaar. Wenn das stimmt, kann Literaturwissenschaft sinnvoll nur als komparatistisches Verfahren entwickelt werden, das sich den background a88umptions ~er Interpretation entzieht, von denen die wohl wichtigste die Vorstellung der Präsenz der Bedeutung ist, der man nahe zu kommen habe. Hier wäre an die Kritik Derridas am Logozentrismus anzuknüpfen. Bedeutung wäre als Prinzip der Limitationalität aufzugeben und demgegenüber als differance der Interpunktionen zu fassen. Dies wird möglich, wenn man Kompaktheiten in Relationierungen auflöst und damit das, was an der Oberfläche unvergleichbar scheint, vergleichbar macht. Man vermehrt dabei sozusagen das, was vergleichbar ist. Diese komparatistische Technik kommt den Intentionen dessen entgegen, was man auf der Ebene soziologischer Theorie Äguivalenzfunktionalismus nennt. Im Umkreis dieses
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Konzepts wird uno actu die Theorie der Gesellschaft mit der Komparatistik begründet, indem die Gesichtspunkte der Vergleichbarkeit umgebaut werden: Das, was kulturübergreifend konsistent bleibt, sind nicht Institutionen; was konsistent bleibt, sind die gesellschaftlichen Probleme~· Was in jeder Ge~ellschaft neu zutage tritt, sind die Lösungen dieser Probleme. (Goldschmidt 1966:31, zit. nach Service 1977:32) Das fUhrt zu einer Vergleichstechnik, die die Vergleichshorizonte über Substitutionen von Funktionen mit Bezug auf das gleiche Problem findet und darüber z. B. zwei so verschiedene Mechanismen der Angstbewältigung wie Religion und Wohlfahrtsstaat vergleichbar macht, da sie unter gewissen
Voraussetz~n
gen wechselseitig substituierbar sind. Mir scheint, daß beide komparatistische Verfahren aneinander anschließbar sind und dies auf mehreren Ebenen. Zum ersten ergibt sich bei einer fortlaufenden Variation der Interpunktionen die Notwendigkeit, auch irgendwo Schnitte zu machen und den Vorgang zu arretieren. Nur müßte man dies begründen. Hier enthält der
Äquivalenzf~nktionalismus
Theorieangebote, die
die Kovarianz von Gesellschaftsstruktur und Semantik betreffen (Luhmann 1981). Von hier aus wären Interpretationen als semantische Problemlösungen rekonstruierbar. Die Probleme, die man möglicherweise durch die Gesellschaftsanalyse findet, müßten sich allerdings auch auf der Ebene der Texte identifizieren lassen. Mir scheint dies möglich durch den Vergleich von Interpunktionen. Wenn das stimmt, sind mehrere Interpunktionen der gleichen Geschichte so zu rekonstruieren, daß die eine selektiv an die andere anbindet und sie sozusagen als Reizstoff benutzt, um die eigene Lösung auf ihrer Basis anzubieten. Um - notgedrungen in aller Kürze - ein Beispiel zu nennen: Shakespeares Hamlet ist durchaus lesbar als Interpunktion des 4-Positionen~Feldes: Ephesus~
Statt der Opferung in der witwe von
in der der Vorgänger dem Nachfolger seinen Tod ab-
nimmt, fordert der Vorgänger dessen Tod. Die imitatio erfolgt im Tode, während. im Leben das Nachleben des Vorgängers, verkörpert durch den Geist und den Sohn, den NaChfolger ersetzt.
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Der Grund dafür wird durch den Blick auf die legitime Nachfolge des Sohnes deutlich: Diese verteilt sich auf die zwei Aspekte Macht und Liebe. In der Liebe (zu seiner Mutter) darf er nicht Nachfolger des Vaters werden (hierfür gibt es den Ersatz Ophelia), in der Macht darf er sein Nachfolger werden, und der Vater schenkt ihm hier seinen Tod. Onkel Claudius als Nachfolger aber zerstört
d~ese
Differenzierung und vermischt das, was
Hamlet darf (seinem Vater im Amte nachfolgen) mit dem, was er nicht darf (seine Mutter heiraten). Eben weil er diese Mischung vornehmen
darf~
darf er nicht Nachfolger werden, und deshalb
muß er getötet werden. Diese Interpunktion läßt die Kategorien in einer traditionellen Gesellschaft erkennen, die ihre temporalen Differenzierungen dem Verwandtschaftssystem aufladen, mit dem sie stehen oder fallen. Nebenbei bietet sie auch eine Erklärung für das ödipale Verbot, das den Freudianern von ·Jones ab so viel Freude gemacht hat: Der Grund, aus dem Hamlet die Wünsche unterdrücken muß, die er seinen Onkel realisieren sieht, ist die traditionelle Struktur der Zeit. Uber diese Grundstruktur aber legt Shakespeare eine moderne Reflexionspsychologie, ,die das Zögern als Form der Zeitdehnung bereits über die Kontinuität der eigenen Subjektivität absichert und damit ganz neue Diskurse begründet, die durch Selbstreferenz, Subjektivität, kontinuierliche Zeit- und Möglichkeitsspielräume neuer Art gekennzeichnet sind. Diese hier nur andeutbare Konstruktion kehrt aber mittels eines Perspektivenwechsels die Tendenz der Hamlet-Interpretations-Industrie um, bei deren Durchsicht Morris Weitz weder Präferenzkriterien noch Fortschritte entdecken konnte (1964): Hamlet ist nicht mehr derjenige, bei dem man sich fragt, warum er zögert, sondern der erste Mensch der Literatur, der warten kann. Die darin enthaltene Problematik läßt sich durch Anschluß an eine im Zusammenhang des Äquivalenzfunktionalismus entwickelte Theorie generalisierter Kommunikationsmedien generalisieren. Der Problembezug für diese Theoriebestandteile ist im Anschluß an Parsons von Niklas Luhmann herausgearbeitet worden: Es ist die Frage, wie in einer komplexer geworde7 nenfunktionalen Gesellschaft, die einen. Uberschuß an
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reqlisierbaren
Möglichke~ten
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und auch möglichen Kommunikatio-
nen produziert, noch sichergestellt werden kann, daß Kommunikationen auch gelingen in dem Sinn, daß die Mitteilung von A auch von B zur Voraussetzung seines weiteren Erlebens und Han'delns gemacht werden kann (1975:170-203). Mit anderen Worten: Wie ist die doppelte Kontingenz, daß entweder A oder B oder beide ablehnen können und das wissen, wieder reduzierbar? Hier finden verschiedene Gesellschaften verschiedene Lösungen: In archaischen Gesellschaften ist die Kommunikation noch an die direkte
face-to~face-interaction
gebunden, so daß die Annahme
der Kommunikation noch durch Einsatz von intrinsic persuaders wie Prestige, Rhetorik und direktes Moralisieren motiviert werden kann. Im übrigen aber, und das ist hier entscheidend, geht Luhmann davon aus, daß die evolutionären Variablen Selektion, Variation und Stabilisierung in archaischen Gesellschaften noch nicht differenziert waren und weitgehend von der Sprache selbst getragen wurden. Hier ließen sich theorietechnisch die Ergebnisse Jakobsons und Lewi-Strauss' anschließen und ihr wichtigstes Prinzip umformulitJren: In archaischen Gesellschaften reduziert die Sprache den Uberschuß an Möglichkeiten von Kombinationen durch die Projektion der paradigmatischeri, also der Achse der Selektion, auf die syntagmatische Achse. Dadurch kommt es zu Mehrfachverwendungen der gleichen Differenzierung auf den verschiedensten Ebenen und einem homogenen, hautnahen Weltbild, eben dem Mythos. Dadurch, daß· Sprache über ihre eigenen Reduktionsmechanismen sich selbst einschränkte, wurde sie kongruent mit dem Sein selbst. In funktionalen Gesellschaften wird der Möglichkeitsüberschuß der Sprache freigegeben, um einen größeren Selektionsspielraum für eine möglichkeitsreiche und -bedürftige Gesellschaft bereitzustellen. Das verschärft aber das Problem der Ubertragung kommunikativer Selektion: Schon die Schrift löst als Zweitcodierung die Sprache von der Interaktion, und dann ist nicht mehr sichergestellt,' daß der Grenzposten auch ausführt, was der Minister schreibt. Für dieses Problem schafft nun laut Luhmann die Gesellschaft bestimmte generalisierte Kommunikationsmedien, deren take-off-Bedingungen in bestimmten
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Sonderproblemen früher Gesellschaften liegen: Vicarious Zearn-
ing, Differenzierung kognitiver und kontrafaktischer Normen, die Erwartbarkeit von Erwartungen, die Sicherstellung des Stillhaltens anderer beim Zugriff auf knappe Güter und die Ausgrenzung der öffentlichkeit von einem intimen Nahbereich. Die so generierten Medien sind Wissenschaft, Recht/Politik, Geld und Liebe. Ihr Spezifikum ist, daß sie unter der Voraussetzung einer binären Codierung (wahr/unwahr; gerecht/ungerecht; Soll/Haben; Du und kein anderer) lange, heterogene Situationen, Personen, Sachbeziehungen und Zeitpunkte übergreifende Kommunikationsketten herstellen, wobei dann das Motiv zur Annahme der Selektion bereits im Code selbst liegt: Wer wissen will, was wahr ist, muß die Wissenschaft ,fragen, und wer reich werden will, kann das Geld kaum vermeiden, wer Recht haben will, darf es sich nicht selbst suchen, und wer lieben will, kann nicht mehrere gleichzeitig lieben wollen. Die Codes schreiben vor, was etwa rechts- oder wahrheitsfähig ist, indem sie es auf ihre binären Oppositionen beziehen. Sie gewinnen aber dadurch ein hohes Maß an Unabhängigkeit von konkreten Kontexten, weil sie alles vom Code Erfaßte vergleichs fähig machen; Geld ist nicht nur, wie Marx es will, Tauschäquivalent, sondern temporale Verrechnungseinheit: Man kann damit den Kursus in Selbsterfahrung, auf den man verzichtet, mit dem Auto vergleichen, das man nun deswegen reparieren kann. Die Codes erhöhen sozusagen die Möglichkeiten für funktionale Äquivalenz und damit für Substituierbarkeit. Dies gelingt ihnen, weil sie lange Handlungs- und Erlebnisketten aufbauen, in denen Selektivität trotz ihrer hohen Unwahrscheinlichkeit erfolgreich übertragen und akzeptiert wird. Diese Reduktionsleistung gibt die Sprach~ frei, verändert aber auch zugleich die gesellschaftliche Semantik. Sollte es zutreffen, daß sich etwa in Geschichten wie Harntet die traditionelle Technik der Reduktion (durch Mehrfachverwendung von Differenzierungen und funktionaler Äquivalenz verschiedener Dimensionen wie Sozial- und Zeitdimension) mit der neuen codespezifischen Semantik träfe und daß sich die beiden entsprechenden Diskurse selektiv
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auseinander anreichern würden, hätte' die Intertextualität eine Anschlußstelle an die Gesellschaftstheorie gefunden, die zu theoretischen Konsequenzen führen würde: Zunächst würde darüber klar werden, daß die Versuche, Interpunktionen durch Arretierung der textuelien Dynamik auf .~edeutung festzulegen, möglicherweise einem Code angehören, der selbst gerade durch ältere Textschichten konterkariert wird. Mit anderen Worten: Der Diskurs, in dem Interpretationen gemacht werden, könnte'dem widersprechen, der sich in den Texten selbst findet. Andererseits würde das, was gegenüber der Bedeutung - etwa in der Shakespeare-Forschung - als imagery abgestoßen wird, nun faßbar werden als über funktionale Äquivalente generierte gesellschaftliche Ordnungsleistungen. Auf jeden Fall ließe sich die Konfrontation von archaischen mit modernen Textschichten über die Konfrontation der Theorien von Levi-Strauss und Luhmann besser fassen. Diese Möglichkeiten sind noch nicht abgeklärt. Doch gehen die hier vorgetragenen Uberlegu~gen davon aus, daß es ein Fehler sein kann, zu früh zu präzis zu werden (Feyerabend 1976: 351 L).
A N M E R K U N GEN
1.Shakespeare thematisiert mit dieser Verschärfung - die in der Shakespeare-Literatur meistens Verlegenheit auslöst eine Paradoxie des Mythos der Jungfräulichkeit in der Spannung zwischen Religion und Liebe: Angelo ist ein asketischer Heiliger, der als Richter gerade deswegen die Unzucht von Isabellas Bruder Claudio streng ahndet. Ein Heiliger ist aber nur durch Heilige in Versuchung zu führen: deshalb verfällt er Isabella, der Novizin, als diese für ihren Bruder bittet. Sein Verbrechen entstammt einer paradoxalen Liebe zum Guten. Vgl. Measure for Measure 11,2, 180-186: Ocunning enemy, that, to catch a saint, With saints dost bait thy hook! Most 'dangerous Is that temptation that doth goad us on To sin in loving virtue. Never could the strumpet, With all her double vigour, art and nature, Once stir my temperi but this virtuous maid Subdues me quite.
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2. Hierfür werden sowohl theologische Argumente ins Feld geführt als auch eine sehr eindrucksvolle Bilderwelt beschworen. Vgl. etwa 11,4, 100-109: ISAB. That is, were I under the terms of death, Th' impression of keen whips I'd wear as rubies, And strip myself to death as to a bed That longing have been sick for, ere I'd yield My body up to shame. ANG. Then must your brother die. ISAB. And 'twere the cheaper way; Better it were a brother died at once Than that a sister, by redeeming hirn, Should die for ever. 3.Vgl. AZZ's WeZZ That Ends WeZZ, V,3, 151-152: I amafeard the life of Helen, lady, Was foully snatch'd. 4'. Sie sieht aus wie Lisbeth, hat das gleiche Muttermal, bewegt sich genau 50, erinnert Kohlhaas an seine Frau, wird wie Odysseus von Kohlhaas' altem Hund erkannt, liebt Kohlhaas' Kinder und heißt Lisbeth. Daß dieser Bezug in der traditio~ nellen KLEISTkritik eine geringe Rolle gespielt hat, liegt dar an , daß man. mit ihm nichts anzufangen wußte. Dies wird dann bei GALLAS anders.
5. Für intertextuell Interessierte mag angemerkt sein, daß er diese Fassung der Differenz zwischen Ariern und Juden aus SWIFTs GuZZiver's TraveZs übernommen hat, wo ein Krieg darüber ausbricht, ob man die Eier an der spitzen oder runden Stelle aufschlägt. 6. Die tiefenstrukturelle Verwandtschaft zwischen den Geschichten aber zeigte sich in einer Aufführung von Measure for Measure durch den Theatre Workshop des Englischen Seminars der Universität Hamburg, bei der SHAKESPEARE gerade mit den von KLEIST motivierten Änderungen BRECHTs versetzt wurde, ohne daß diese Änderung irgend jemand aufzufallen schien.
7. George CHAPMAN, The Widow's Tears; Christopher FRY, A Phoenix Too Frequent; SHAKESPEARE, Measure for Measure, AZZ's WeZZ That Ends WeZZ, The Winter's TaZe, Much Ado About Nothing, The Merchant of Venice, HamZet; KLEIST, MichaeZ KohZhaas; BRECHT, Die Rundköpfe und die spitzköpfe; T. WILLIAMS, The Rose Tattoo; Raymond CHANDLER, KiZZer in the Rain, The Big SZeep; Ernest HEMINGWAY, The Short Happy Life of Francis Macomber u.a.
L I T E RAT U R FEYERABEND, Paul, 1976. Wider den Methodenzwang, Frankfurt/M. GALLAS, Helga,1981. Das Textbegehren des Michael Kohlhaas. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur, Reinbek. GOLDSCHMIDT, Walter, 1966. Comparative Formalism, Berkeley, Los Angeles. LUHMANN, Niklas, 1975a. Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: ders., Soziologische Aufklärung 11, Opladen, S. 170-192. 1975b. Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie. In: ders., Soziologische Aufklärung 11, Opladen, S. 193-203. 1981. Gesellschaftsstruktur und Semantik, 2 Bde., Frankfurt/Mo SCHWANITZ, Dietrich, 1981a. Die Welt ist aus den Fugen, aber das Leben geht weiter: Hamlet oder die Witwe von Ephesus. In: GRM, Neue Folge 31, Gießen, S. 265-282. 1981 b. Möglichkeiten systemtheoretischer Literaturanalyse: Eine Demonstration anhand von Shakespeares Merchant of Venice. In: Anglistentag 1980. Vorträge und Protokolle, Gießen, S. 335-355. 1982a. Der Vorgänger und der Nachfolger: Versuch einer literarischen Vaterschaftsbestimmung. In: V. Bischoff/ C. Uhlig (Hrsg.), Amerikanische Literatur als Weltliteratur. Festschrift für Rudolf Haas, Berlin, S. 14-33. 1982b. Die undurchschaute Lösungstechnik des Detektivs. Zehn Thesen zum Abstraktionsstil und zur Temporalstruktur des Kriminalromans. In: arcadia Band 17,Berlin/New York, S. 37-60. SERVICE, Elman R., 1977. Ursprung des Status und der Zivilisation. Der Prozeß der kulturellen Evolution, Frankfurt/M. SHAKESPEARE, William, 1968. The Complete Works. The. Alexander Edition, London/Glasgow. WATZLAWICK, P./ J.H. Beavin/D.D. Jackson, 1972. Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart/Wien. WEITZ, Morris, 1964. Hamlet and the Philosophy of Literary Criticism, Chicago/London. WHORF, B.L., 1956. Sciences and Linguistics. In: J.B. Carroll (Hrsg.), Language, Thought, and Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf, New York, S. 207-219.
Charles GRIVEL
SERIEN TEXTUELLER PERZEPTION Eine Skizze La perception vraie~ c'est l'interruption (M.Serres) . 1.
I n t e r tex t u a I i t ä t
("Bivokalität", "Dialogizität",
"Polylogismus", gleichgültig, welchen Terminus man wählt) ist gewiß eine Tatsache. Eine Anzahl von Veröffentlichungen hat sich in letzter Zeit damit beschäftigt, diese Tatsache und die Gültigkeit und Tragfähigkeit dieses Begriffes zu bestätigen. Es sei hier nur an die jüngsten Arbeiten von Michael Riffaterre, Gerard Genette und Tzvetan Todorov, an das Kolloquium von Konstanz (Juli 1980) über Dialogizität, an die Tagung der Arbeitsgruppe "Approches semiotiques de l'intertexte" im Rahmen des zweiten internationalen Kongresses für Semiotik (Wien,Juli 1979, geleitet von H.-G.Ruprecht und mir selbst) erinnert; ganz zu schweigen von der heutigen Beliebtheit des Themas "Bachtin", insbesondere in Deutschland. Zusammenfassend gebe ich hier ein Inventar der Hauptthesen der erwähnten Forschungen; es soll die nötige Grundlage eines minimalen Konsenses bei der Diskussion darstellen: a. Der Text versteht sich als ein
Puz z 1 e, bzw. Pqzzlesystem
von textuellen Elementen, die der "Außen-Text" bestimmt: Jedes Stück (der textuellen Konstruktion) ist an sich autonom, doch ist es nichts weiter als der Zwischenraum der benachbarten Stücke: das Werk entsteht aus dem 'Außentext' (Barthes 1975:98). b. Der Text versteht sich als eine generalisierte
K
0
pie
von
vorangegangenen Texten: Die literarische Praxis ist nicht Ausdruck oder Widerspiegelung; sie ist eine Praxis der Nachahmung, des unendlichen Kopierens L~.~Z Schreiben bedeutet, an einem unermeßlichenIntertext teilzunehmen, d.h. seine eigene Sprache, seine eigene sprachliche Produktion in das Unendliche der Sprache
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selbst zu setzen L~.~~ Irnmernin wählt der Autor seine 'Kombinationen' aus. Er 'kombiniert' aber Zitate, von denen er die Anführungszeichen entfernt (Barthes 1974: 14,15,19). c. Verstehen heißt nichts K
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n tex t
ander~s
als In-Beziehung-Setzen, den
wechseln, einen alten in einen neuen Kontext um-
deuten: L~.~7 Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten und die Umdeutung im neuen Kontext (in meinem, im gegenwärtigen, im zukünftigen) L~.~7. Der Text lebt nur, indem er sich mit einem anderen Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt dieses Kontaktes von Texten 'erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen läßt (Bachtin 1979:352, 353).
d. Text soll als
K r e u z u n g (Ubereinkunft, Ubereinstirnmung)
von Texten verstanden werden: Es ist ratsam, sich Texte als ein Sich-Kreuzen (Geflecht) von mehreren Diskursen vorzustellen (Dubois 1978: 119). e. Text soll als
Wie d e r h o l u n g
von Texten verstanden
werden: Was soll geschrieben werden, das nicht schon vorher gesagt worden ist? Bücher wiederholen sich untereinander unbegrenzt L:.~~ Lesen heißt nichts anderes, als den Text essen, kauen, wiederkäuen (Marin 1980:355, 358). (1m gleichen Sinne äußert sich Quintilian, zitiert von Compagnon 197~:10; Compagnon 1979:32). f. Sprache ist
Vor a u s - S e t z u n g:
Die Sprache (bildet) einen Prä-Text, von dem der Text sich negativ abgrenzt L:.~~ Der literarische Text trägt seine Bedeutung in bezug auf das, was er voraussetzt (Riffaterre 1979a:282,,285). ' Der Intertext ist demnach nicht Gegenstand eines (gezielten, bewußten) Zitats; er ist ein vorausgesetzter Gegenstand (Riffaterre 1980: 9). Und weiter: Das Voraus-Setzen eines Intertextes ist die ausreichende Bedinqung der Lektüre (Riffaterre 1900:18; cf. in dem gleichen Sinn Riffaterre 1900:10). - ' Intertextualität ist [also] Wahrnehmung von Beziehungen zwischen Werk und anderen Werken, die diesem vorangegangen oder gefolgt sind (Riffaterre 1930:4). Mit anderen Worten, Lesen wird begriffen als Praxis der dialekti-
-
55 -
Referential~tät:
schen
Um einen Intertext zu bilden, genügt es, daß der Leser zwei oder mehrere Texte not ...,endigerweise zusammenfügt (zusammenstellt, miteinander verbindet) (Riffaterre 1979b:129,131~132). Diese skizzierten Thesen sollten für uns alle als akzeptabel und grundlegend gelten: dies ist'zumindest meine Voraussetzung.
2.
Der eingeführte Begriff "Intertextualität" hat jedoch ganz offensichtlich gewisse Unzulänglichkeiten: Er deckt massiv und monolithisch ganz 'verschiedene
textuelle Beziehungen ab, er bezeichnet
bwz. er sollte äußerst differenzierte Phänomene von (literarischen) Werken -ja sogar des Lesens bestimmter (literarischer) Gegenständegleichzeitig bezeichnen. Das ist sicher zuviel verlangt. Es ist jetzt an der Zeit, daß wir an Alternativen denken, daß wir unsere Terminologie verbessern und verfeinern. In der Tat ist das textuelle tu'elle Qua 1 i t ä t
N i v e a u
sowie die tex-
(P r ä g n a n z) der in Beziehung gesetz-
ten Elemente verschiedenartig. Dazu kommt, daß "Intertextualität" m a r k i e r t e
sowie
u n m a r k i e r t e
Textteile um-
faßt. (NB. Der"Intertext" wird als ein "Sagen-Wollen" zu oft noch als ei.nebewußte Absicht des Autors bzw. des Lesers interpretiert: "Man kann von 'intertextuellem Formator' sprechen, nur insofern seine Sinnfunktion (Semiosis) aus der Benützung, die der Sprecher davon macht, entsteht" [Ruprecht 1981:11].) Der· u n b e w u ß t e e h a r a k t e r soll meines Erachtens als grundlegende Komponente des Phänomens "Intertextualität" und als wichtige, je entscheidende Instanz dieses Phänomens begriffen werden. Wenn dies richtig ist, ist das Maß des Implizit-Seins der Elemente mit im Spiel. Das Konzept der "Intertextualität" soll im folgenden unter zwei wichtigen Aspekten ausgearbeitet werden: a. durch die Bestimmung des Niveaus ihres Eintretens (T h e r i e
des
0-
I m p l i z i e r t e n)i
b. durch die Bestimmung der Einschränkung ihres Tätigskeitsfeldes (T h e
0
r i e
der
S e r i e n
t
~
x tue 1 1 e r
P e r-
-
56 -
z e p t ion).
3.
"Intertextualität" deckt eine ganze Skala von möglichen virtuellen, ge~enseitigen Beziehungen zwischen Texten bzw. Textteilen ab; diese Beziehungen vollziehen sich aufgrund bestimmter Zusam("Vergleiche") d u r c h den L e s e r, b e -
menst~llungen
w u ß t o d e r u n b e w u ß t, im Text selbst; Zusammenstellungen und Vergleiche sind
i m pli z i t
oder
m a r k i e r t
(absichtlich abgest~mpelt); die Abstempelung (die Markierung) qer virtuellen gegenseitigen Beziehungen zwischen Texten offenbart automatisch eine (parodistische, polemische usw.) Absicht des Autors oder wird alS solche interpretiert; diese Abstempelung kann verstanden werden als eine run g
U b erd e t e r m i nie -
des Textes, bzw. seiner Lektüre.
NB. "Il!Ipli~it" bedeutet nicht notwendigerweise "unbewußt", wohl aber clnfach "unmarkiert als absichtlich untergeordneter Teil". Innerhalb wie außerhalb der Literatur wird, um verständlich zu sein, nicht alles, was zu sagen ist, unbedingt ausgedrückt. Und das ist wohl ein GlUck!
4.
I m p l i z i t s e i n, I m p l i z i e r e n
stehen am Anfang
jeglichen intertextuellen Prozesses. Das beinhaltet, daß ein s e k und ä r e r Text (ein Text der Nachfolge) notwendigerweise p r i m ä r e Texte (vorangegangene Texte) festhält, zurückbehält, mit sich trägt, mit sich nimmt und daß er solche sozusagen notwendigerweise hervorruft, um verstanden oder begriffen werden zu können (um eine Bedeutung zu bekommen). (Aus ökonomischen Gründen weist der Text nicht all sein vorausgesetztes Wissen aus - die Elemente werden, wie wir bereits gesagt haben, nur begrenzt markiert.) "Implizit" wird also definiert als alles (ich werde diese Aussage gleich stark einschränken), der
u n beg r e n z t e n
was
ein
Tex t a u s
M ass e
des
G e s e h r i e-
-
57 -
ben e n (des kulturell Vorhandenen) unmarkiert b e h ä 1 t, u man
sei n
e i gen e s
zur ü c k -
Z i e 1
zug e -
1 a n gen. Selbstverständlich ist das Zurückbehaltene, Implizierte im Text verschiedenartig und vielseitig: dazu rechnet man z.B. sowohl elementare linguistische Einheiten als auch Verhaltensmuster, Sinn und Bedeutung der Wörter sowie Kategorien der natürlichen Logik. Ich schlage vor, die intertextuelle Dimension des Textes teils - zum größten Teil
auf
dem
N i v e a u
des I m p l i z i t e n, teils auf dem Niveau des Expliziten zu plazieren. Also lautet meine These: d i e
B e z i e h u n gen
T e x t e
u n t e r e i n a n d e r
n i c h t
0
a u f s e s
P r i m ä r, n i c h t d e r e x p 1 i z i t e n
der
s p i e 1 e n s i c h b 1 i g a t 0 r i s c h E ben e d e s D i s k u r-
a b. Vor allen Dingen nicht für den Leser, der nicht
al-
les realisiert, was er zu lesen bekommt (Lesen ist keine philologische und keine hermeneutische Arbeit!); der Leser "erkennt" Merkmale "wieder", ohne diese namentlich zu "erkennen"; er vergleicht "spontan" das Neue mit dem Anerkannten usw.; d a s L e sen
ist
ein
p r akt i z i e r t e r
I n t e r-
t e x t. Es trägt zum Verständnis dieses vielfältigen Phänomens bei, wenn man sich darüber im klaren ist.
5. Lesen ist Bearbeitung (Verarbeitung) des Impliziten im Text. Von Text zu Text verbindet der Leser
z u 1 ä s s i g e, l e g i t i -
m e (annäherungsweise!, schätzungsweise!) v o r g ä n g i g e Ein h e i t e n. Er berücksichtigt dabei die allgemeinen Einschränkungen des Textes (des Werkes, der Gattung
usw.): der
Text besitzt für seine Elemente eine Akzeptabilitätsschwelle. Einerseits mündet die gesamte Bibliothek (die gesamte schriftliche Produktion) in den Text; andererseits "kehrt" der gegenwärtige Text zur vorhergehenden Bibliothek "zurück": er ist auch ein Auszug oder ein Präparat davon. L e s e n i s t G e d ä c h t n i s s p i e 1, L e s e n ist
I n s-G e d ä c h t n i s-R u f e n, L e s e n
ist
E r-
- 58 -
i .n n .e r u n g : dieser Mechanismus läßt sich besonders gut im Rahmen einer Theorie der Intertextualität erklären: "Alle Bilder, die mir einfallen, kreuzen sich", sagt M.Le Bot (Quinzaine Litte~ai~e
Nr. 350:19). Mit anderen Worten, die Lektüre als
Kenntnisnahme der Welt und der Werke A n wen dun g
des
d i e s eWe 1 t
(a u f
ist nichts anderes als die
G e d ä c h t n iss e sau f d i e s eWe r k e); es ist das Auf-
treten einer zügellosen Intertextualität. Bachtin (1979:357) schreibt dazu: In jedem Moment der Entwicklung des Dialogs liegen gewaltige, unbegrenzte Massen vergessenen Sinns beschlossen, doch in bestimmten Momenten der weiteren Entwicklung des Dialogs werden sie je nach seinem Gang von neuem in Erinnerung gebracht und leben (im neuen Kontext) in erneuerter Gestalt. Es gibt nichts absolut Totes: Jeder Sinn wird - in der 'großen Zeit' - seinen Tag der Auferstehung haben. Oder wie
Riffaterr~(1979a:262)
sagt:
Kaum haben wir gelesen, schon taucht der Eindruck des 'deja-vu' auf. Der Intertext ist das Ganze von Texten, die man mit dem Text, dei zu lesen ist, in Verbindung setzen kann; das Ganze von Texten, das man in seinem Gedächtnis bei der Lektüre vorfindet. Der Intertext bildet also ein unbegrenztes Textkorpus. Man kann grundsätzlich wohl seinen Anfang andeuten: es ist der Text, der die memoriellen Assoziationen hervorruft, sobald man zu lesen beginnt. Es ist dagegen deutlich, daß man sein Ende nicht anzugeben vermag. Diese Assoziationen sind mehr oder weniger verbreitet, mehr oder weniger reich, je nach der Stufe, die der Leser erreicht hat. Diese Assoziationen verlängern sich und entwickeln sich, je nach dem Fortschritt dieser Kultur oder gar je nach der Anzahl der Lektüren, die wir von diesem gegebenen Text machen (Cf. noch Riffaterre 1980:5). In diesem Sinne stellt der Intertext den notwendigen und ökonomischen Prozeß des Implizierens dar, der bei jedem Schreiben abläuft: die intertextualisierten Elemente beziehen sich notwendigerweise aufeinander, u m ver s t e h bar
z u
ver s t ä n d 1 ich
und
s e i n. In dieser Hinsicht bedeutet
der Intertext auf dem Niveau des Impliziten die nötige Begrenzung der potentiell
unendlichen Konnotationen, die die Sprache
im Text beinhaltet oder hervorruft. Es ist die Möglichkeit, den Gegenstand der aktuellen Rede (relativ) einzuschränken, ihn abzugrenzen. In dem Maße, wie der Intertext Text(e) als Grenze des
- 59 -
aktuellen Diskurses eintreten läßt, handelt es sich um einen Mechanismus des
Ver s c h w e i gen s, der
Ans p i e -
1 u n gi dieser Mechanismus bildet ein Mehr gegenüber der unend-
lichen, bedeutungslosen Weitschweifigkeit der Sprache. Vorausgesetzt, daß jede Int.erpretation, Deutung oder Lektüre in einer Welt, wo Uberfluß an Sinn, Wörtern oder Texten Gesetz ist, aleatorisch oder ungewiß bleibt (wir kennen die Heilige Schrift schon lang nicht mehr als die einzige Schrift!), hält der Intertext den Geist bzw. das Gedächtnis des Lesers fest, um ein
m ö g 1 ich e s
erzeugen.
Ver s t ä n d n i s
des Werkes zu
(Man vergleicht oder kombiniert nicht alles mit allem,
um eine bestimmte Deutung zu produzieren!) NB.Der Intertext belebt selbstverständlich die aktue~l~~ Äußerungen im Rahmen der Erinnerung; er ist also prinzipiell "offen" (oder,· mit einem Wort von Barthes, pluriel); dieser Aspekt wird auch, erwartungsgemäß, von Julia Kristeva bevorzugt. Diese "Befreiung" der Lektüre bezüglich der natürlichen Beschränkungen des aktuellen Textes sollte uns jedoch nicht täuschen: die besagte "Offenheit" ist zuerst - und vielleicht hauptsächlich - eine Auswahl i n n e r h a l b des gesamten Feldes der Konnotationen, die das Unendliche der Sprache bilden. Lesen übertrifft den Text in einem bestimmten Sinn, sucht aber
g lei c h z e i t
subsumieren,
i g
Mittel, um seine
Auss~gen
zu
aufzuheben und zu reduzieren. Wenn meine Analyse
richtig ist, entspricht der Intertext Text im Kommunikationsprozeß mit
~er
Notwendigkeit, den
h i n r e i e h end e n
Zwängen zu versehen: Es gibt eine obligatorische Intertextualität L:.~~ Diese Intertextualität funktioniert auch noch, WQnn der Leser unfähig ist, ihre Merkmale oder Spuren wiederzufinden (Riffaterre 1980:5, 6). Lesen, "intertextualisieren", sich von Text zu Text fortbewegen, bedeutet also aus dem erzwungenen Impliziten "schöpfen". NB. Dies scheint mir besonders für "moderne" Texte zu gelten, die innovativ zu sei,n behaupten: je weniger sie "erkennbar" sind, um so mehr ist der Leser versucht, alles zu unternehmen, um das (Wieder-)Erkennen des Textes zu erzwingen! Dies läßt sich' folgendermaßen erklären: "Im Gegensatz zum täglichen Gebrauch, bei dem Wörter als durch Tatsachen verifiziert gelten, in dem sie für den Leser durch Begriffe - die scheinbar außerhalb der Sprache existieren - garantiert zu sein scheinen, ist dertextuelle Diskurs nur verifizierbar, indem er auf andere Wörter (Themen,
- 60 -
Zitate, kurz: den Intertext) rekurriert"
(Riffaterre
1979b:
144) •
6. Ich schlage vor, das Problem der Intertextualität als
das
P r o b lern
von
Tex t e n
der
Ver s t ä n d 1 i c h k e i t
übe r hau p t
z u
s t e l 1 e n. Die Frage
lautet nicht mehr; wie Texte untereinander harmonisch oder dissonant - "Dialog" bleibt eine Kategorie der Harmonisierung bzw. Disharmonisierung und sollte deshalb vermieden werden - verbunden sind, sondern: Wie vollzieht sich
d~s
Verstehen, das Begrei-
fen vo~ Texten durch den Leser? Es schei~t m~r, daß die Behandlung dieser zweiten Frage geignet wäre, die erste zu beantworten. NB.Das parallele, analoge Problem lautet: Wie vollzieht sich das Komponieren von Texten durch den Autor? ("Schreiben benötigt zumindest zwei Texte", sagt Marcellin Pleynet.) Auf Grund der vorigen Uberlegungen kann nun meine These folgendermaßen formuliert werden: Das n e s
Tex t e s
T r e t end e s
wir d
Ver s t e h e n
d u r c h 'd a s
e i -
I n-A k t i
0
n-
I n t e r t e x t e s - auf dem Niveau der
Produktion und dem der Rezeption - in Gang gesetzt; es handelt sich dabei um eine Selektion der
p a s s e n den, ben ö -
t i g t e n u n d e r z w u n gen e n fühl,
Verbindungen; das Ge-
einen Text zu "verstehen", ist auch das Gefühl der Angemes-
senheit der getroffenen Selektion.
(Dieses Gefühl hat sogar die
Aufgabe, diese "Angemessenheit" zu beweisen: sobald sich die aus dem gegenwärtigen Text gezogene Bedeutung - auf Grund der begrenzten Anzahl der in Beziehung gesetzten Sequenzen von Wörtern (von Texten), die diese Bedeutung ergeben - als verbindbar und als leicht anschließbar erweist, stellt sie
mich zufrieden.
Es ist durchaus möglich, daß der Leser ungeduldig "zu schnell" versteht und vermeidet, die Spuren des Intertextes bis zum Ziel zu verfolgen, um zu seinem eigenen Vergnügen zu kommen.Die Objek' tivität - die Objektbezogenheit - dieses Vergnügens 'ist fraglich; sie besteht aber.) NB. Die "glückliche Angemessenhei t" ,um die es geht, bildet einen Rahmen für den Akt des Lesens: aufgedeckte Ähnlichkeiten und
-
61 -
Differenzen zwischen dem Text, den ich lese, und denjenigen aus der Bibliothek, die ich kenne (im GedMchtnis gespeichert habe), e r k I ä r e n mir den ersten. Es gibt also k e i n e rs c h ö P f end e s, k e i n u n i v e r s e I I e s V e rB t ä n d n i sei n e s Tex t e s (außer für Gott, außerhalb der Geschichte, außerhalb jeglicher Biographie): der Bezug . zum Intertext leitet die Lektüre; er bestimmt aber auch ihre grundsätzliche Relativität.
Unsere bisherige Analyse beschreibt den Intartext als ein begrenztes, semantisches, zum Verstehen .benötigtes Feld; er ist das (größtenteils) implizite Mittel, sich für ein bestimmtes semantisches Teilsystem des Textes zu entscheiden - und dies zur Zufriedenheit. Um weitere Faktoren dieser komplizierten Maschinerie vorführen zu können, ist es notwendig, auf unseren Begriff des Impliziten kurz zurückzukommen. In der Tat betrifft einerseits nicht alles, was im Text impliziert wird, den Intertext; andererseits gilt auch
nich~
alles als implizit, was im Text intertex-
tualisiert wird. Cf. dazu Catherine Kerbrat-Orecchioni 1982, passim; diese Autorin unterscheidet sorgfältig zwischen verschiedenen Klassen des Impliziten im linguistischen Sinn und im textuelien Zusammenhang. Diese Differenzierung lenkt, wie sich gut zeigen läßt, das ganze Verfahren des Interpretierens. Ich begnüge mich hier mit einem Hinweis auf ihre Ausführungen. Dies alles läßt eine wichtige Eigenschaft oder welche
~rage
noch unberührt: welche
Kor r e k t h e i t
oder
we~che
Uber-
einstimmungsquote besitzt eine intertextuelle Verbindung? Was bestimmt die
a d ä q u.a t
e
Beziehung zwischen Texten unter-
einander, so daß der zuletzt gelesene "verstanden" -und "gut" verstanden wird? Der Begriff des "Invarianten" (des Unveränderlichen) - vorgeschlagen durch Michael Riffaterre - scheint mir in dieser Hinsicht unzureichend und unbrauchbar. Ich zitiere: Es .ist also notwendig und ausreichend, um einen bestimmten Intertext wahrnehmen zu können, daß die geforderten Texte ein unveränderliches Element ( invariant) offenkundig machen (oder aufdecken); daß diese Aktualisierung dem Leser auf Grund formeller und semantischer Konstanten (ungeachtet
- 62 -
der stilistischen Variationen, der durch Gattung geprägten Differenzen usw. der Texte untereinander) auferlegt ,ist" (Riffaterre 1979b:132). Derselbe Autor schreibt noch: Die Perzeption von vergleichbaren Elementen im Lexikon, von Elementen, die als Variationen (variantes) eines einzig Unveränderlichen (invariant) auftauchen, führt zum Aufdecken der Bedeutung (signifianee) (Riffaterre 1979a: 162 ; cf. auch Riffaterre 1980:5). Wie
aber dieses Invariante zustandekommt und
als solches bestimmt, wie
wer
dieses
wir seine Unterscheidungsmerkmale
erkennen, bleibt völlig offen. Es bleibt nun zu bestimmen, was im Bereich des textuellen Impliziten - mittels anderer Texte - zur "angemessenen" Lektüre (Interpretation) z w i n g t
bzw. z w i n g e n
k ö n n t e.
Mit anderen Worten, welche obligatorische "Intertextualitätsquote" - welche Prägnanz an Intertextualität - auf Grund welcher Anzahl von welchen Texten, auf Grund welcher thematischen Inhalte, welcher Sorte eine "g e 1 u n gen e" Lösung des Verstehens hervorbringt
bzw. hervorbringen könnte.
8. Um die Sachlage abzuklären, schlage ich vor, den Begriff "e r a n e e s" (beZiefs,
e-
das, was man weiß oder glaubt; Inhalte ei-
ner angepaßten Meinung) einzuführen (cf.Grivel 1978, 1979, 1980, 1981). Creance
bezeichnet den semantischen, vorausgesetzten,
impliziten Teil jeglicher Äußerung. Oder: das begrenzte Präsupponierte des allgemeinen Sinnes, das indirekt - im Prinzip ohne Markierung - durch Worte des Textes "automatisch" hervorgerufen wird und dessen die Lektüre, um den Text zu "verstehen" bzw. zu "genießen", dringend bedarf. Creanees liegen dem Text zugrunde; dieser "funktioniert" ausschließlich im Hinblick auf ereanees. "Literatur ist nichts anderes als eine gezielte konservative oder kontraversive Problematisierung von Maximen (Präzepten, Topoi)", sagte H.R. Jauß im ersten Romanistischen Kolloquium über Balzac (Bielefeld, 1978). Man muß hinzufügen, daß nicht-literarische wie literarische Texte ereanees
(doxische Maximen) in ihrer Tiefe
- 63 -
not wen d i g e r W e i s e
voraussetzen. Hinsichtlich des
doxischen Inhalts ist die relative Problematisierung - selbst wenn es sich um Literatur handelt - deutlich sekundär.
(Cf. dazu
die Reflexionen von Ruth ArnOssy und Elisheva Rosen 1982: 126, 140,
über das "Klischee" als obligatorisches Element des Ver-
stehens in der literarischen Kommunikation.) Wenn die Definition annehmbar ist und wenn die creances den wirklichen
d
0
xis c h e n
BaI 1 a s t (im neutralen Sinn)
des Textes, sowohl beim Schreiben als beim Lesen, tatsächlich darstellen, muß doch zugegeben werden, daß - auf der semantischen Ebene, auf der wir uns befinden, - die creances ein t
i s c h
une n d 1 i c h e s
S i n n f eId
p r a k bilden.
se impliziten Mikroelemente des Verstehens sind potentiell zählbar und nicht alle besitzen dieselbe hierarchische Cf. Grivel "1979, wo 6 doxische
(Dieun~
Prägnanz~
Paradigmen aus dem gesamten In-
ventar der etwa 600, auf denen der Text basiert, ausführlich und mit großem Aufwand (!) präsentiert werden.) Nun würde ich sagen, daß der Leser auf Grund bestimmter z u sät z 1 ich e r
Me c h a n i s m e n
(die wir global
"Intertext" oder "Intertextualität" nennen) der unendlichen Menge der hervorgerufenen doxischen Äußerungen entgegenzuarbeiten bzw. sie zu vermindern weiß. Der Intertext tritt ein, um eine (starke) Red u k t i o n
des doxischen Feldes zu gewährleisten.
Er bezeichnet dann - u n t e r
Vor a u s s e t z u n g
e
A n wes e n h e i t
der
c r
s chI i e ß 1 ich
auf
der e n
tischen
a n c e
8
und
der
aus-
B a s i s - den seman-
S e l e k t i o n s m e c h a n i s mus, den das
Verstehen des einzelnen Textes dringend benötigt. Der Intertext funktioniert in dieser Hinsicht als Reduktionsprinzip des Textinhalts gegenüber seiner "Literalität" (oder bloßen Form).
9.
In der Weiterführung meiner Argumentation soll nun die Wichtigkeit des Folgenden unterstrichen werden. Lektüre ist Applikation der (inter-, intra-textuellen) Äußerungen untereinander; die. creances
(d.h. mit einem Wort, die Doxa) werden durch Vergleiche
- 64 -
von Text zu Text hervorgebracht, der Leser schätzt den doxischen Sinn jeglicher Äußerung auf Grund vorangegangener Erfahrungen ein, er geht das ganze Sinnfeld durch, das seine Erfahrung (seine Bibliothek) ihm zuweist; diese Erfahrung verankert in ihm ihrerseits
das
Kor r e s p
0
G e f ü h 1
ein e r
K e t t e
von
n den zen - das Gefühl eines Intertextes.
(Dieses Gefühl ist prinzipiell aleatorisch, wenig oder gar nicht zu verallgemeinern; es entzieht sich grundsätzlich zumindest dem direkten Ausdruck: dies ist für .jeden Empirismus ein Stein des Anstoßes. ) Dies alles ändert nichts an der Tatsache, daß das allgemeine Prinzip einer intertextuellen Reduktion des semantischen Feldes unzureichend ist; der Intertext
filtrier~gewiß
die Äußerun-
gen des Textes hinsichtlich ihrer doxischen impliziten Komponenten,
d~r
F i 1 t e r, den er zur Verfügung stellt, bleibt aber
viel zu grob.
10.
In diesem Zusammenhang schlage ich vor, den Begriff von S e r i e n (seriesJ einzuführen. Während der Leser die semantische Ebene des Textes und darüber hinaus die Verflechtung der doxischen
creances, die kontinuierlich durch die Sukzession des Textes hervorgerufen werden, durchstreift, nimmt er also bestimmte
t h e-
m a t i s c h e S t r ä n 9 e (fi~iere8J samt ihrer Bewertung auf, bestimmte analogische B ü n d e i von Motiven. Diese seriellen "Stränge" intertextueller Art liefern ihm ein willkommenes Supplement für eine weitere Einschränkung des semantischen Inhalts; die Ketten des doxischen Paradigmas werden
s e r i e n-
w e i s e filtriert. Die "Serie" besitzt nämlich - nach Deleuze - die interessante formelle Eigenschaft, e i n 9 ren z t e s
und
g 1 e ich z e i t i g
u n beg r e n z t e s
M
0
b e-
dellvon
Intertextualität darzustellen: Die Serie verwirklicht eine Synthese der Homogenität L:.~7. In den Serien besitzt jedes Element gerade den Sinn, den es durch seine Position zu den anderen Elementen erhält; diese Position hängt aber von der absoluten Position jeglichen
- 65 -
Elementes gegenüber einer X-Instanz ab (als Un-Sinn determiniert und als solcher unerkennbar), die ständig durch die Serien hindurchgeht. Der Sinn wird tatsächlich e r z e u g t durch diese ständige Bewegung, als ein Sinn, der dem Signifikant, aber auch dem Signifie zukommt (Deleuze 1973:96). Dieser Begriff von Serie läßt sich zweifellos mit dem verbesserten Konzept von Intertextualität verbinden, das Riffaterre (1981: 30) neuerdings vorschlägt: Es handelt sich um ein Phänomen, das die Lektüre des Textes orientiert, das ihre Interpretation eventuell vorschreibt, ganz anders als es im Falle einer linearen Lektüre geschieht L:.~~ Der Intertext bezeichnet den Perzeptionsmodus, wodurch' der Leser bewußt mit der Tatsache vertraut wird, daß im literarischen Werk Worte nicht in Hinblick auf Fakten oder Begriffe, sondern in Hinblick auf komplexe, schon verbalisierte Repräsentationen Bedeutung tragen können. Serien
k a n a I i s i e r e n (ohne zu blockieren), r e-
duz i e r e n (ohne zu bar b i I
eliminieren~
was an der Lektüre
ist und bleibt; sie erzeugen eine ausreichende
nt
ä t
den k-
P r o b a-
der Bedeutung (bzw. der Interpretation). Diese re-
lativ begrenzten Folgen von Elementen bilden ein relativ unbegrenztes System: offen, aber nicht unbestimmt, geschlossen, aber nicht unbeweglich, ist dieses System also für die sie run g
S y m b o l i-
besonders geeignet. Dies wird im folgenden - wie
ich hoffe - sichtbar.
11.
Wir müssen die folgenden Sorten von Intertext unterscheiden: a. AbI e i t u n gen (derivations) : ein Text entsteht aus einem bzw. mehreren anderen Texten, die seine "Quelle(n)" darstellen; (renvois~
rappels): ein Text weist auf einen die~"zitiert" werden; c. V a r i a t i o n e n (variantes~ variances): ein Text modub. Ver w e i s e
bzw. mehrere andere Texte hin,
liert ein Element aus einem beliebigen, begrenzten Intertext (a,b
oder c).
(Cf. dazu J.Paris 1975:114-115. Der Autor er-
läutert, wie auf Grund einer "ursprünglichen Differenz" unendliche Variationen generiert werden.)
- 66 -
d. S e r i e n (sel'ies): ein Text fügt sich in eine "natürliche" Sukzession von Texten ein; diese Reihenfolge bedeutet eine bestimmte "Verwandtschaft"; das thematische "Motiv" bildet eine solche "Verwandtschaft"; jede Lektüre bildet aber auch - unter bestimmten Voraussetzungen - einen solchen Abschluß. Die "Serie" ist ein
ale a tor i s c her
Begriff: eine gewisse An-
zahl zufällig ausgewählter Texte kann bei der Lektüre für einen einzelnen Leser eine feste Folge konstituieren (cf.J.Dubois 1978:120 f.J. Eine "Serie" formt die endliche Anzahl von Texten, auf die ich zu rekurrieren habe, wenn ich überhaupt zum Verständ,nis des Textes zu gelangen wünsche.
(Die Serie deckt sich eini-
germaßen mit der Folge der sogenannten "Interpretanten" von Pierce, cf.Compagnon 1979: 60-64.) Dieser,Ansicht nach stimmt also der Intertext mit dem Ergebnis der Tätigkeit der Lektüre überein. Diese Lektüre folgt selbst,verständlich den im Text vorgesehenen Zwängen, bleibt aber bis zu einem gewissen Grad autonom und ist von dem Subjekt abhängig, das sie vollzieht. Es handelt sich um ein In-Beziehung-Setzen von ähnlichen, naheliegenden Texten, um einen nicht systematischen Vergleich von dem Text, der zu lesen ist, mit seinem kulturellen Kontext, kurz: um den Aufbau des Horizonts,den sein Verstehen benötigt. Der Umfang der annähernden Wiedererkennung eines gegebenen Textes in seinem Kontext (Horizont) bestimmt seine "Leibhtigkeit" ("Lesbarkeit"). Wir haben es eher mit dem Verfahren der
I n t e r tex t u a I i sie run g
als mit
einem objektiv vorgegebenen Intertext, der als Quelle funktionierte, zu tun. Man muß schließlich berücksichtigen, daß der Autor im Akt des Schreibens seinerseits derselben Tendenz unterworfen ist: er intertextualisiert, sein Werk entsteht teilweise aus geliehenen,abgenützten,
(wieder)bearbeiteten Elementen, es wird
von anderen "a b g e zog e n U
,
seine scheinbare "Autonomie" ent-
steht aus mehr oder weniger vollständigen und bewußten Kunstgriffen. S c h r'e i b e n S y s t e m s stern
von
ist
von Wörtern:
B e z ü gen
von
rn a n t i s c h e
der
Auf bau
Ver w e i s e n so
wird
vor n her ein
T i e 'f e
i n
ein e s
ein e m
von
S y -
diesen
S i n nun d
g e w ä h r 1 e i s t e t. '
s e-
- 67 -
NB 1. Die 4 Modelle der Intertextualität stellen - für die Schrift, für d{e Lektüre - u n t e r s c h i e d 1 i ch e Ein s c h r ä n k u n gen dar; diese Einschränkungen besitzen auch eine variable Intensität; sie können sich gegenseitig verstärken ("Serien" innerhalb eines Variationssystems dirigieren die Lektüre stärker als "Serien" außerhalb eines solchen Systems usw.). NB 2. Das intertextualisierte (variierte, serielle) Element kann entweder "formell" (Dialogismus Bachtins ) oder " inhaltlich" . (Thematismus Bachelards) determiniert sein. ND 3. Die Prägnanz des Intertextes hängt mit dem impliziten Verweise zusammen.
G rad
der
NB 4. Jeder "Thematismus" ("Archetypismus") bildet einen Intertext. Man wird jedoch von Intertext nur in dem Falle sprechen, wo die "Verweise" b e i m Ver s t e h e n 0 b 1 i g a t 0r i s c h erzeugt werden. Hans-Georg Ruprecht (1981:6 f.) unterscheidet zurecht zwischen Gemeinschaft der semantischen Strukturen und Intertextualität. Die "thematische Verwandtschaft" von Texten, von der Jean Starobinski (in Rousseau. Baudetaire. Huysmans.Les pains d'~picesJ te. g4teau et Z'immonde tartine, Kolloquium "Dialogizität~ Konstanz, Juli 1980) spricht, bildet noch keine sp~zifische Se~ie; die ~itierten Texte verweisen nicht obligatorisch aufeinander; obwohl sie eine symbolische Dimension zu er~ichen scheinen, bleibt ihre Folge arbiträr und entsteht aus der Beliebigkeit einer hermeneutischen Lektüre.
12. Diese vorher ausgeführten Uberlegungen können noch anders
for~
muliert werden. Ein vorgegebener Text ist Vorbedingung meiner Lektüre, - des Werkes, das ich zu
entziffe~n
habe, - der Ge-
schichte, die ich zu genießen habe, - der Lehre, die. ich daraus zu ziehen versuche, - des Verhaltens, das ich
d~raus
ableite.
Dies ist eine Tatsache. Das ganze Problem liegt dann selbstverständlich bei der Bestimmung dieses vorausgesetzten Textes, bei der Bestimmung seiner Grenzen, seines Status. Beziehungen unter den Texten gibt es ja, aber che Beziehungen und m ä ß i g k e i t
g e m ä ß
bis
w
0
hin
reichen sol-
w e I c h e r G e s e t z-
entstehen diese, das ist die Frage.
Problem 1: Ist es in der Tat möglich lind nötig, einen deutlichen punktuellen "Ursprung" (eine "Quelle") für den jetzigen Text festzusetzen? (Cf. dazu.meinen Beitrag zum Kolloquium "L'Origine", Paris, Juni 1982). Wenn ich mich nicht irre, treffen sich die philologische und die psychoanalytische Erklärung mindestens in
- 68 -
einem Punkt: die
"Va~iationen"
einer unbekannten Geschichte (ei-
.nes unbekannten Textes) eröffnen auch die Möglichkeit, zu diesem "primitiven" Manuskript (zu dieser "Urszene") zu gelangen.
(Cf.
u.a. Daniel Poirion 1981: 114.) Problem 2: Ist es in der Tat möglich und nötig, das gesamte Verfahren der Intertextualität auf das Modell des "D i a l o g s" und
~er
"H y b r i d i s i e r u n g" von eigener und fremder
Sprache zu reduzieren? (Cf. dazu Bachtin 1979: 45, 172, 246, 251;
Compagnon 1979:
68~)
Problem 3: Ist es in der Tat möglich und nötig, das, was Julia Kristeva "Dialogismus" oder "p a r a g r a m m a t i s mus" nennt, zum spezifischen und exklusiven Merkmal von Texten der Modernität zu erheben? (Cf. dazu Kristeva 1974: 338.) Problem 4: Ist es in der Tat - ganz im selben Sinn - möglich und nötig, was Jacques Derrida als "Disseminierung" kennzeichnet, als das motorische Prinzip der Textualität und der Verbindung zwischen Texten untereinander dem gesamten Prozeß der ecriture zu unterstellen? Der vorgeschlagene Begriff "Serien" sollte uns helfen, diesen angedeuteten theoretischen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen.
13.
Ich beabsichtige also, das Pr9blem des Verstehens von Texten (und dessen objektive Analyse) ins Auge zu fassen - wenn möglich näherungsweise zu lösen -
als das Problem
s i v en R e·d u k t i o n I m pli z i t e n als
S e r i e
z u
i m v
s u k z e s-
d e s (gewissermaßen unendlichen)
Tex t, d i e 0
der
der
I I z i ehe n
I n t e r tex t
e r l a u b t.
Bevor ich einige Elemente einer möglichen Beweisführung sammle, ist es nötig, einige methodologische
Aspekte zu klären:
a. Ziel dieser Arbeit ist die theoretische Beschreibung gegeb~nen
Phänomens (des
Intertexte~,
der Intertextualisierung);
zu diesem Zweck soll - in elementarer Weise mu~iert
werden. Diese "Lektüre" wird
~ines
- eine Lektüre si-
n ich t
verwirklicht;
man wird sich mit einer Skizze ihrer sukzessiven Etappen begnügen
- 69 -
mUssen. 'b. Der Ausgangspunkt einer solchen Erfahrung sollte selbstverständlich vollkommen arbiträr sein. Das folgende Verfahren ist jedoch zur leichteren Handhabung gewählt worden: es gilt, einen als "schwierig" bewerteten Text X (einen "Basistext") zu entziffern; man kommt zu dem Schluß, daß die hauptsächliche Schwierigkeit bei der Lektüre aus der I s o I entsteht.
i e run g
dieses Textes
(Ich verweise auf die ßeschreibung, die ich von die-
sem Tatbestand gebe, in: Jarry: Ausbruoh des Inneren [Grivel 1982J:) D~s Lesen des Stückes X - mit dem wir uns noch beschäftigen werden - hängt vollständig von der Ästhetik des Buches
ab, worin es seinen Platz hat._ eines
s e r i e I I e n
Es folgt dann die Ausarbeitung
I n ~~e r t e x t e s, de~ für den
zeitgenössischen Leser - eventuell auch für den heutigen Leser gelten soll. Dieser begrenzte Intertext liegt weder auf dem linguistischen
noch auf dem setnantischen Niveau i er wird nicht als
eine Anhäufung von oreanoes konzipiert; er funktioniert nicht als ein purer Geg~nstand der Literaturgeschichte (Teil einer Gattung oder Unterteil eines Werkes). Es ist vielmehr sam e
s y m bol i s ehe
9 e m e i n-
die
A b s i e h t d e r obligatori-
schen Benützung eines gegebenen Motivs: der P h
0
n
0
g r a p h.
(Warum nicht?! Es ist ein "Beispiel". Ich werde es zeigen. Ich werde auch zeigen, daß es mehr als ein reines "Beispiel" ist!). Danach wird eine Reihe von Texten untersucht - besser gesagt: sollte untersucht werden! -,'die meines Erachtens die symbolische Phonographie des Basistextes der w eis e
erklären
X
v e r g l e i e h e n -.
bzw. ihm Sinn und Bedeutung geben.
Schließlich wird das Fazit dieser experimentellen Lektüre für die Theorie des Intertextes gezogen. Falls es eines zu ziehen gibt!
NB. Ich verschweige hier nicht, daß die Reihe von Texten (aus verschiedenartigen Gattungen und Epochen) durch mich (den Leser) aufgestellt worden ist. Diese Texte sind meine "lesbaren" Texte (s. Compagnon 1979:35): der Basistext v e r a n l a ß t ihre Lektüre, um selbst - und vielleicht umgekehrt - verständlich zu werden. Die vorgeführte Analyse wird dadurch noch nicht arbiträr: sie bietet eine Wahl, aleatorisch wie jede Wahl. Es werden auch nicht von außen her fremde Lektüren dem Basistext zugeschrieben: dieser Text v e r I a n g t gebieterisch diese - oder andere Analoga, als die s y m b o l i s e h e B e d e u t u n g eines Wissens, von dem e r a u s geh t, das er s e i n e r-
- 70 -
sei t s
nochmals und aufs Neue deutet.
14. Die Serie von Texten, mit denen ich zu "experimentieren" habe, umfaßt - nebst einem Basistext - eine Reihe von Werken, die das ist meine Hypothese t ion i e ren,
mit ein a n der
mit ein a n der
wer den - und dies
f u n k-
v e r s t a n den
n o t wen d i g e r w e i s e
bis zu
einem gewissen Grad: der "Zwang" kennzeichnet die "Serie". Die Serie umfaßt die folgenden Werke: a. "B a s i s t e x t": Alfred Jarry, Phonographe. In:Lea Minutes
desable memorial~ 1894. (Oeuvres completes I, Bibliotheque de la Pleiade, 1973:185-187); b."B e g I e i.t t e x t eH: Nadar, Quand J'etais photographe, s.d., 252; Charles Cros, Procede d'enregistrement e~ de reproduction des
phenomenes pergus par l'ouie. Et: Note au
suJe~
du phonographe
de M.Edison. In: Oeuvres completes~ Bibliothequede la Pleiade 1970:579-582; Villiers de l'Isle-Adam, L'Eve future, 1886; Maurice Renard, La Mort et le cl la
coquillage~
1907. In: L'Invitation
peur~
1970:67-72; Michel Leiris, Persephone~ gorge coupee. In: La Regle du Jeu. c. "I n f 0 r m a t i o n e n": F.M.Feldhaus, Die Technik der Vorzeit~
der ge.schichtlichen zeit und der
Naturvölker~
1966 (2.
Auflage) ;
Larousse en co~leur, 3 volumes, 1966. Die Serie besitzt einen zeitlichen Ausgangspunkt: die Erfindung des Phonographen - durch Edison und Charles Cros - im Jahr 1877 (dieser späte Zeitpunkt ist eine Erleichterung - wenn auch nur scheinbar! - für den Forscher). Sie besitzt auch einen Endpunkt: die materielle Umformung (ja selbst die Abschaffung!) dieses Apparates (der Phonograph ist ein nichtssagender
große~metalli
scher Kasten geworden, und die seltsamen alten Modelle, die uns damals in Erstaunen versetzt haben, sind wie banale "Antiquitäten" in Schaufenstern ausgestellt) und damit den Verlust an Symboli-
-
/1
-
aierungskraft. Oie Serie umfaßt ein Bündel von
verw~ndten
Texten, deren je-
der gegenüber den anderen eine Variation desselben Themas bildet (es gibt keine "erste" Variation des phonographischen Themas) . Mein Ziel ist dann zu zeigen, wie - auf der Basis dieses näherungsweise begrenzten Bündels von Texten z i t e
Ä n i g m a
das
durch (hauptsächlich) literarische Repräsentationen j
en
i m p 1 i-
dieses scheinbar geheimnislosen Apparates e r fun -
wird, was er bedeuten will und wie er im intertextuellen
Rahmen, in dem meine Lektüre sich bewegt, funktioniert. Ich werde also, von
Vari~tion
1 ich e n
- sonst unverständlichen - Sinn gelangen, den die
zu Variation, z u
all
dem
m ö g -
komplette Serie dem Basistext zuschreibt. Man wird von einer dia g r a m m a t i s ehe n
S t r u k t u r
der seriellen
Texte sprechen, in bezug auf denjenigen Text, der sie ins Gedächtnis
r u f t: dieser Text projiziert einen idealen, nie iden-
tifizierbaren Sinn in die Serie (s.Compagnon 1979:79). Es gibt ein
Fan t a s m a - eine "Anregung"
(Compagnon 1979:24)
- von
und in der Serie,; _~a,s (und die) ich suche, durchlaufe, das (die) mich betrifft: Le sens est toujours un effet produit dans les series par Z'instanae qui Zes paraourt (Deleuze 1973:109).
Und nach Foucault (1967: 11, 27): Oas Imaginäre konstituiert sich nicht gegen das Reale~um es zu verneinen oder zu kompensieren; e s s i t u i e r t s i c h z w i s c h e n d e n Z e i e h e n, von B u c h z u B u c h, i n dem Z w i s c h e n r a u m d e r Wie d e r h o l u n g u n d Kom m e n t a r e (Hervorh.Ch.Gr.), es wird erzeugt und bildet sich zwischen den Texten. Es ist ein Phänomen der "Bibliothek" 1..-:.:../. (Das Fantasma) ist nichts weiter als überlieferte Dokumentation.
15.
Es sind immer in allem, was man weiß oder tut,a priori vorhanden: .
'
wir wollen das nicht verschweigen. Genauso beim Lesen. Damit die von mir vorgeschlagene Simulation einer Lektüre einige Aussicht
-
72 -
hat, angemessen zu sein und Jarrys
Text gerecht zu werden, wäre
es nötig, über das ganze Bündel von Informationen - das kulturelle Wissen - zu verfügen, das der damalige Leser besessen hat. Dies ist eine schwierige Aufgabe, und man muß die Schwierigkeiten aller Art erkennen - den Umfang der Arbeit zuerst! -, die die Aufdekkung dieses Grundwissens mit sich bringt (s. Vf., $avoir sooial In: Litterature, 43,Decembre 1981). Ich
et savoir Zitteraire.
schlage vor, dieses Hindernis
einfach mit Hilfe des Lexikons zu
umgehen: das Lexikon versammelt - insbesondere für uns, mit unserem zeitlichen Abstand -, was der Leser weiß, wissen kann und muß, um den Text zu verstehen. Ich schlage also die herkömmliche Enzyklopädie Larousse auf und das Speziallexikon von Feldhaus. Es handelt sich in der Tat darum, sich übe r ein e s
F
0
r m
A p par a t e s
und
Fun k t i o n i e r e n
(des Phonographen) au degre zero
zu informieren, worauf die literarische Tätigkeit mit ihren noch zu verdeutlichenden eigenen Zielen - dies ist meine Hypothese einsetzt: C'est Edison, en 1877,~ qui a construit le premierphonographe, eomprenant un recepteur, un enregistreur et un'reproducteur. Le recepteur est une sorte ,de Cornet aeoustique ferme par un diaphragme metallique qarni d'une pointe d'ivoire qui vibre lorsqu'on parle devant l'appareil. L'enregistreur se compose d'un cylindre anime d'un mouvement helicoldal, et reeouvert d'un mancho~ de eire sur lequel s'appuie la pointe. Le reproducteur est analogue au recepteur; il eomporte un pavillon troneonique et un diaphragme, dont la pointe suit la ralnure formeepar l'enregistreur sur la eire et reproduit les vibrations enregistrees. 2 (Larousse) Diese
schlichte~
"technische", ganz auf das Erklären des Mecha-
nismus und der maschinellen Funktionen der Maschinenteile orientierte Beschreibung bietet das, was ich des
s y m b'
0
den
N u 1 1 P unk t
1 i s c h enG e b rau c h e s
n e n n e n
m ö c h t e. Nichts in dieser Beschreibung lädt zum Abschweifen ein: der Apparat wird dargestellt in einer Sprache, die seinen Umrissen getreu folgt. Der Verfasser hebt die mechanische (praktische, industrielle) Intentionalität hervor; sein Text s c h ö P f t
s'i c h i n
d i e s e'r
e r -
Her s t e l l u n g s-
a r b e i t. Das Lexikon reduziert die Maschine zu einem
f u n k-
t i o n e 1 1 e n Verfahren; es entpersonalisiert ihre Wirkung;
-
73 -
~s ignoriert - soweit ~ie nicht materiell sind - die Bed~ngungen
Lh'res In-Bewegung-'Setzens. Es verdrängt - wie immer - die tiefen ~Unsche,
~nd
die gewiß zur Erfindung des Gegenstandes ge fUhrt haben, sprachlich~
gibt bloß die
~ines
Äquivalenz
Gerippes wieder.
Es ist aber für uns offensichtlich, daß der Phonograph auf 2ine gewisse
0 b ses s ion
aus einem hartnäckigen ] e. n
n ach
~
her n
L
end e r e n e
dem
u·n d
v
0
zurUckzufUhren 1st, entstanden
Ver 1 a n gen: dem a u gen b 1 i c k 1 1 1 s t ä n d i gen
E r i n n e r u n gen
Ver 1 a n-
e h e n, s i-
~
Auf b e w a h-
a n
die
v e r g a n-
Z e i t, und im besonderen das Aufbewahren, wenn nicht
les Anderen selbst (eines sterblichen, zum Verschwinden verur-
teilten Wesens), so zumindest doch
sei n e r
sie her e n
S p u r e n. Folglich wird mit dem Phonographen s t ä n d i g e
-
0
der
i n tim s t e
s pie gel u n gei n e r
Per s
0
die
v
0
1 1-
W i d e r-
n
erreicht. Die Er-
findung dieser Maschine stattet uns mit einem verbesserten, vollkommeneren Gedächtnis aus, mit einem Gedächtnis, das materiell "denkt", das heißt, das fähig ist, das Subjekt im Raum als substantielle Spuren zu konkretisieren, s e i n und
sei n
S i
mu
1 ac rum
G e s p e n s t
zu verwirklichen und über
dieses zu verfügen. Jenes Verlangen kennt man
- natürlich -
schon sehr lange Zeit und die Erfindung des Apparates scheint die Antwort auf eine seit jeher vorhandene Erwartung zu sein. Die folgenden Zeugnisse - zitiert bei Feldhaus
~
sollen zum Beweis
dafür ·dienen: Giovanni Battista Porta, 1589: "Ich habe den Gedanken erwogen, Worte, die unterwegs gesprochen werden, in Bleiröhren aufzubewahren, so daß die Worte herausschallen, wenn der Deckel geöffnet wird" (Magia naturalis J Buch 16, Kap.12). J.J.Becher (Närrische Weissheit J
1682, Nr.18, S.27) spricht
von dem NUrnberger Optiker F.Gründel, der ein Concept vor hat etliche Worte als ein Echo durch eine Spiral-Linie in eine Flasche zu verschließen daß man sie wol eine Stunde lang über Land tragen könne und wann man sie eröffne die Worte erst gehöret werden. Ob·er aber dieses Concept zum Effect gebracht ist mir unwissend. Nun behaupte ich, daß schon der Nullpunkt des kommerzialisierten Apparates (gleich nach seinem Erscheinen, in Frankreich
- 74 -
zumindest) und
de~
diskursiven
wir sie auch gelesen haben i n t e n s i v e n w
0
r f e n
w
des Motivs - wie ein e r
L i t e r a r i s i e r u n g u n t e r-
r den
0
Besch~e~bung
u n mit tel bar
i s t : die vorgelegte intertextuelle
Serie beweist es hinlänglich und der "Basistext" - der Text von Jarry - stellt die radikalste Bearbeitung dar. Der Phonograph ist t i
Vi
sow
0
h 1
M a s chi n e
als
a u c h
M
0-
ein Motiy das die Aufgabe hat, der Maschine bei ihrer un-
bewußten Aufgabe Hilfe zu leisten. Und diese wiederum hat die Aufgabe, das Verlangen bei ihrem Benutzer - bei uns also - zu animieren, zu provozieren und zu nähren.
16.
Der Phonograph ist eine Maschine, die Gesang und Stimme empfängt, aufnimmt, konserviert und wieder zum Leben erweckt. Eine Wundermaschine, eine Glücksmaschine: die im Gedächtnis
Sub-
ve~grabene
~
stanz kann wieder zum Vorschein kommen, sie erscheint wieder und verewigt sich beim Zuhören - und zwar gewaltsam (wie sollte ich auch entkommen, vor den Lauten fliehen, die aus dem Körper
de~
Maschine mechanisch und so eindringlich entstehen?) . Folglich ist es
angeb~acht,
sich zu fragen, wie der
Appa~at
vom
Publikum verstanden und empfunden wird, wie das kollektive Gedächtnis der
G~sellschaft
ihn
dar s tel I t
(repräsentiert),
welches kulturelle Spektrum, welche konnotierten Werte er besitzt. DenQ die Texte. wachsen auf diesem Boden, mit diesem Vorgegebenen. Nadar - der Photograph, der Fanatiker des visuellen Abdrucks - führt uns auf die Spur und beschreibt in seinem Kommentar zu dieser Erfindung in seinen Memoiren die
C h a n c e, die
dieser Apparat für das Imaginäre darstellt (Quand j'etais photographe, 5.252): Wir werden eines Tages sagen können - schreibt er daß wir den großen Augenblick erlebt haben, (cette) heure extraordinaire ou le phonographe allait faire passer de l'imaginaire au reel le fantastique chapitre de Rabelais, - ceuillant et couchant synoptiquemept et synacoustiquement sur le papier, sans besoin de degel, toutes les paroies surprises au vol et figees dans l'air par la
-
75 -
congEüation. Der besagte Apparat manifestiert - paradoxerweise, da er ja den Klang der Worte auf seinen Membranen
festh~lt
-
daß der Sinh
in Bewegung ist: er setzt die Sprache frei, indem er sie ablöst von ihrem
Tr~ger:
der graphischen Substanz (la lettre). Von nun
an können Signifikate unmittelbar 'in das Ged~chtnis gelangen. DaMobilit~t
mit ist endlich die wahre
der Bedeutungen erreicht: das
ganze "ozeanische" Szenarium unseres Basistextes stützt dieses Faktum. Wie man vermuten kann, hat die hier durch Nadar angedeutete rabelaisianische Szene eine lange Tradition: das Motiv ist zumindest schon bei Homer zu finden - wenn auch getarnt -, wo wie man weiß - Odysseus sich am Hauptmast seines Schiffes festbinden läßt, um den fatalen und wundervollen Gesang der Sirenen ohne Gefahr hören zu können (der Mannschaft werden einfach die Ohren mit Wachs zugestopft). Vor dem Gesang der Sirenen sollst du dich hüten! 'Die Frage aber, die der Mythos unausge'sprochen aufwirft, ist zu wissen, warum denn dieser Gesang ist, was es mit der mit der fatalen
S c h ö n h e i t
Ver I
0
t,öd 1 i c h
eines Gesanges, was es
c k u n g, die er erzeugt, auf sich
hat. Diese gravierenden, tief im Motiv verwurzelten Fragen, von denen die Texte der ganzen Serie offensichtlich zehren, können an der Beschreibung des sogenannten
"Paleographe~"
Ch. Cros (Oeuvres completes 1970: 579-582)
(sie) von
erläutert werden.
Dieser Apparat, der ebenfalls der Reproduktion der menschlichen Stimme dient, wird uns von seinem Erfinder vorgestellt in einer wissenschaftlichen Beschreibung, die sich des gleichen metaphorischen Feldes bedient: dem des Körpers (sein Hauptbestandteil beispielsweise ist ein 'Zeigefinger'). Das heißt, die Maschine wird als Analogon der (deiktischen/phallischen) Geste und der 'Umarmung' empfunden - genau wie bei Jarry am anderen Ende der Serie. Doch dies ist nur ein Aspekt. Einerseits leistet die Maschine offensichtlich einer fixen Idee Vorschub - Charles Cros suchte beharrlich nach einer Möglichkeit, Farben zu reproduzieren, und in einem berühmt gewordenen Text (Cf.La Science ,de
L'amour. In:Ibid.,S.223-234) erleben wir ihn bei dem Versuch ei-
-
76 -
ner Aufzeichnung der Liebesintensität -, andererseits ist sie Ausdruck eines Scheiterns (dem Erfinder gelingt es nicht, sie zu verwirklichen, Edison kommt ihm zuvor, wie gesagt;
die Liebende,
die er für sein Experiment ausersehen hatte, durchschaut seine Pläne und macht sich über ihn lustig, usw.). Es hat den Anschein, als würde der Apparat sich gleichsam schuldig fühlen gegenüber dem Wissen, dem Gedächtnis und der Objektivität, die er schafft (in dieser kulturellen Ära zumindest). Als würde er sich einem Verbot widersetzen: du sollst nicht zurückblicken, wird Orpheus eingeschärft - was er wiederfindet, indem er zurückblickt, wird vom Tod ereilt. Jarry macht umgekehrt die Wiederbelebung der Sirene von der schmerzlichen Erstarrung des 'Geliebten' abhängig. Umgekehrt, weil sie es ist, die singt. Der Schmerz jedoch ist der gleiche. Man wird ohne Zweifel bemerken, daß die wichtigste Wirkung der 'modernen Erfindung auf den Mythos die Auf nah m e
m e c h a n i s ehe
darstellt. Aufnehmen gibt die Möglichkeit, was
schon einmal erklungen
ist~
noch einmal zu wiederholen - und zu
hören; es hat die Fähigkeit, die Vergangenheit nochmals ins Ohr zurückzuholen, die Erinnerung an begrabene Worte ad libitum wieder auferstehen zu lassen. Das phonographierte Lied, die phonographische Stimme ist also die E r i n n e run g üb~r
Wie d e r a u f nah m e
s e I b s t.
der
Wiederbelebung und ein Sieg
das Tabu, das die toten Dinge zu berühren untersagt. Villiers' Text in dieser Serie führt uns meines Erachtens
schon entscheidend weiter in die Widersprüche des Verlangens ein, die den Apparat von jeher bestimmten. Wie man weiß, stellt Eve future Edison selbst ("Phonograph's papa"!) utopisch dar, indem
der nach dem Absoluten strebende Erfinder die Unvollkommenheit seines schon mirakulösen Apparates zu beseitigen versucht. Es wäre Zeit, sagt er, - unerwartete und notwendige Verbesserung ihn
das
t e, d a s
U n wie d e r h o l b a r e, d a s U n aus s p r e c h bar e
Une r h ö r-
s e I b s t, die in-
nerliche Stimme, die Stimme des (Unter)Bewußtseins
ausdrüc~en
zu
lassen. Die scharfsinnigen Uberlegungen Villiers' in bezug auf die Aufnahme bedeuten, a) daß heutzutage nichts mehr wert ist, aufgenommen zu werden·
(die Erfindung kommt zu spät in eine schon
längst degradierte Welt), b) daß die Wirklichkeit des aufgenomme-
- .77 -
nen Geräusches von den Ohren des Zuhörers abhängig ist. Hier liegt das ganze Problem: das innerste Empfinden der Geräusche der Vergangenheit, dem gegenüber die leider analytisch gewordenen Ohren der Zeitgenossen abgestumpft sind, belebt der Apparat lediglich als tote Töne. Der Erfolg der Erfindung geht mit der Vergewaltigung der Identität des·Zuhörers in eins. Die absolute phonographische Waffe, die Villiers ironischerweise konzipiert, verwirklicht dann auch eine einem
a n gern e s s e n e
a n gern e s s e n e n
sen e n
Körper für einen
Aufnahme in a n gerne s-
Zuhörer: die Vollkommenheit eines weiblichen Roboters
(Eve) liefert den Text (d.h. das vollständige Korpus der bestmöglichen Antworten) : Voici les deux phonographes d'or, inclines en angle vers le centre de la poitrine, et qui sont les deux poumons d'Hadaly. Ils se passent l'un l'autre les feuilles metalliques de ses causeries harmonieuses - et je devrais dire c e I e s t e s, - un peu comme les presses d'imprimerie se passent les feuilles tirer. Un seul ruban d'etain peut contenir sept heures de ses paroles. Celles-ci sont imaginees par les plus grands poetes et les romanciers les plus profonds de ce siecle, genies auxquels je me suis adresse, et qui m'ont livre, au poids du diamant, ces merveilles a jamais inedites. C'est pourquoi je dis que Hadaly remplace une intelligence par l'Intelligence.
a
a
Der in diese Eva verliebte Mann liefert
das bestmögliche
Ver~
langen nach dem Zuhören ... Lehre: die Aufnahme wirkt nicht enttäuschend nur in dem Maße, wie sie sich der Inspiration ihres Zuhörers anzupassen weiß. Ich identifiziere mich mit diesem anderen Ich, der ich bin und mich selbst sprechen läßt.
(Eine Kata-
strophe schließt die Idylle dieses Märchens abt) Die wunderbare Aufnahme drückt die Unmöglichkeit der Aufnahme selbst aus - weil, was zu hören wäre, gedacht ;lst
als
was nicht gehört werden kann und muß, als was weder zum Wort noch zur Musik geworden ist und wird. Dasselbe Paradoxon findet sich auch zentral in einem anderen Text der Serie, in La Mort et Ze
aoquiZZage von Maurice Renard. Wir haben es hier mit der sukzessiven Darstellung zweier Hörvorgänge zu tun: ein melancholischer Musiker vernimmt über einen Phonographen die ('lebende') Stimme seiner verstorbenen Freunde und kommt schließlich - nachdem er seine Aufmerksamkeit dem zu-
-
78 -
wendet, "ce que dit la bouche d'une conque" (sic)3 - verzweifelnd zu der Einsicht, daß es ihm unmöglich sein wird, das Wahrgenommene in eine musikalische Notation zu übertragen. Was gibt der Phonograph wieder (auch in diesem Text wird er als "graphophone" bezeichnet)? Die stimme aus dem Grab. Was gibt die Muschel wieder "avec les levres roses de 5a valve"? Die Agonie der Molluske, die sie geschaffen hat. Was macht die Musik? Es gelingt ihr nicht, dies - das Verlangen, das Sexuelle - auszudrücken: N. m'arracha la conque miraculeuse, et courut au p~ano. Longtemps il essaya de noter 1 a d i v i n e c 1 a m e u r s e x u e I l e (Hervorh.Ch.Gr.). A deux heures du matin, il y renon~a. La chambre etait jonchee de feuillets noircis et dechires. - Tu vois, tu vois, - me dit-il, - je ne peux meme pas transeire 1e choeur sous la dictee! ... 11 regagna son fauteuil, ecoutant, malgre tous mes efforts, le prean venimeux. Vers quatre heures, il se mit trembler. Je le suppliai de se reposer. ,lI secoua la tete, et parut se peneher au-dessus du gouffre invisible. A cinq heures et demi, i1 tomba, le front sur le marbre du foyer, - mort. Le coquillage se brisa en mille parcelles.
a
Das
poison melodique
4 hat sein Werk getan . Wie heißt die Per-
son, die durch die Stimme zugrunde geht?_"Nerval": der Dichter 5 Der Gesang geht her-
mit der Grotte, der Mann mit den Sirenen
vor aus der Begegnung der Geschlechter. Es ist der Gesang der Substanz. Der t e n
G e san g
I den t Sexu~lität,
i t ä t
der und
e i gen e n
d ami t
e r r e i e h-
des Todest
Gewalt, Identität sind die drei aufgespürten
Dimensionen des Apparates - des Motivs - und der Texte. Ein letztes Zeugnis dafür findet sich in mehreren Sequenzen 6 des Werkes von' Michel Leiris, wo der Autor die Bedeutungen eines Apparates zurückverfolgt, den er "graphophone" nennt: ein Instrument des Vaters - es steht im 'Salon'-"das der mechanischen Reproduktion von Tönen dient, das von dem Kind (und dem Autor)
je-
doch (kontrapunktisch zu einem chirurgischen Eingriff an der Kehle) als Exzeß und als Vergewaltigung empfunden wird. Das heißt, es handelt sich um eine Aggression: ein Ausschaben, dessen Zweck es war, parasitäre Appendizes zu beseitigen (die im Körper des Subjekts, genauer: in seiner Kehle angesiedelt waren - das Kind mußte sich einer Mandeloperation unterziehen), und d.h. eine 'Rettung' des Eigenen, die sich jedoch gerade als eine Beschädigung herausstellt. Der dargestellte Apparat verweist ~uf das
-
79 -
Zerbrechen der Einheit des Subjekts: die Operation sollte ihm 'das Andere nehmen und ihm dadurch seine Stimme zurückgeben, doch als es den
Behandl~ngensraum
des Chirurgen wieder verläßt, ist
es stumm. Von diesem Augenblick an läßt es der Apparat das Bewußtsein erleiden, daß der erwähnte Eingriff (durch das Skalpell, aber ebenso durch das Horn - Leiris' Stierkampf kommt hier mit ins Spiel) sein Ich kennzeichnet: d a s A n d e r e i s t e b e n j e n e z w e i d e u t i g e, 1 i e b e n d e, a ng r e i f e n d e M a c h t, a u s d e r m e i n e S t i mm e h e r v o r g e h t. Wir sind nun beim angekündigten Höhepunkt der Serie
ange~
kommen: dem Gedicht von Jarry. Alles, was bis jetzt angeführt worden ist, macht deutlich, welche Elemente er überbieten wird: das Paradoxon der Aufnahme und des Zuhörens
~
der zur Erinnerung ge-
wordenen Identität, die ich vom Anderen besitze
-, findet sich
praktisch abgeleitet von der oder assimiliert an die gegebene Form, die der Wiedergabeapparat in seiner Entwicklung konkret angenommen hat. Dieser Apparat ist weiblich (seine Form macht dies deutlich) , der Hörer ist männlich (die Walzen, die er auflegt, sind Indiz dafür); was gehalten wird, ist ebenso
Ges~hlechtsorgan
wie Hörorgan (unten und oben, dies sind die beiden dem Hören zugewiesenen Orte). Man sieht, in welchem Sinn hier davon gesprochen wird, daß der Gesang das Subjekt erreicht: durch die Wunde, die es (in seiner Besonderheit) erlitten hat, aus der es (als Subjekt) hervorgeht. Ich zitiere nun einige Fragmente aus dem Prosagedicht von Jarry
Phonogra~he,
die diese Bedeutung, wie angekündigt auf
dem Niveau der Metaphorik, bekräftigen können: La sirene minerale tient son bie~-a!me par la tete, comme un page d'acier serre une robe L .. ~/.Elle plaque ses mains estropiees d'un geste brusque sur la droite et la gauche de la tete de son amant passager, et elle ne le blesse point, la vieille amoureuse, ni ses griffes ne l'ecorchent L:.~7 son doigt unique L:.~7 greffe son erection cordee aux tragus de l'ecofiteur ~Et les deux noires sangsues pendent aux oreilles de l'ecöuteur L:.~7. ~a ~andibule s'abaisse et se releve comme une touche ~/. Le chant des vieilles sirenes quela cristallisation paralyse, eclate et s'embrase comme un peu de poudre au contact des deux charbons de cornue qui brulent de notes lumineuses les
L...
L..
-
80 -
tympans de l'ecouteur. L'inanime froid se rechauffe et redevient mobile au contact de la chaude cervelle, a travers les oreilles percees de clous. Voici que les paroies se degelent par les air~ d~ la mer boreale L:.~~ Leve-toi, aeai§se-toi, mandibule L•. ~~ Chantez, stalactites de cuivre L•. ~~ Chantez -toujours, pour que celui qui vous ecoute ne se detourne pas L-: •~7. Wie man sieht, nimmt das Gedicht den phonographischen Gegenstand wörtlich und begnügt sich (in den zitierten Passagen) damit, den met a p h
0
r i s c h
k
0
n not i e r t e n
I n haI t
aufzurollen. Diesen Inhalt kennen wir jetzt gut, die Serie hat uns darüber Gewißheit verschafft: es liegt im Gesetz der Maschine - der Maschinerie! -, daß sie die Form des Körpers annimmt; es liegt in diesem Gesetz, daß ihre Bewegung der Begattung assimiliert wird, daß das Lied, das sie von sich gibt, sowohl zur Klage als auch zum Gebrüll hin ausschlägt; es liegt im Gesetz des verliebten Maschinen-Tiers, daß sie sich ihren Mann wie
~ine
Beute,
zum Zweck der Befriedigung und des Kauens unterwirft; es liegt auch im Gesetz der Frau, daß sie durch den Mund den Tod des Geliebten verursacht: die Stimme bedeutet Gewinn und sogleich Verlust der Identität, sobald sie mir ins Ohr wiederkehrt 7 . Der Phonograph ist also, man sieht wie, ein (literarischer) Glücksapparat. Der Phonograph repräsentiert das unwandelbare Gedächtnis, dessen man sich nach Belieben bedienen kann - über die Stimme, die
mi~
seine Elemente (gewaltsam) einprägt: der Andere
ist Ausdruck meiner Person - indem er mir Gewalt antut 8 . Er stellt die Werkzeuge der Leidenschaft dar, wie sie im Gedächtniskörper entsteht. Alles ist außen, alles ist innen: es geht um ein 'Erwecken'
(die Liebe geht im Apparat der Organe aus dem Austausch
der männlichen und weiblichen Körperfunktionen - coit inverse hervor). Es sind drei im Spiel mit zwei Geschlechtern. Die Identität wird durch zeichen 9 geschaffen, die eine restaurierte Stimme denotiert. Unter Zwang der 'Frau' Stimme, die seine Vollendung
'singt' der 'Mann', doch seine
bedeutet, ist auch sein Tod. Der
Phonograph ist ein Mechanismus. Das Schreiben läßt die automatische Stimme der Körper zum Vorschein kommen. Der Dritte im Bunde ist der Zuschauer: er ist die Ursache des Gesangs, den sie aus dem Liebenden hervor lockt , er verschmilzt mit diesem Gesang beim Hören. Aber er löst sich auch wieder von ihm: er setzt den Mecha-
-
nismus in Gang - oder auch ne
81 -
n~cht.
D~es
~st
ein Faktum - und
e~
Wahrhe~t, 10 aus der man die Konsequenzen ziehen können muß.
17. Das Verständnis eines Textes vollzieht sich annäherungsweise durch Annäherung an die Symbolik, die
er beinhaltet (oder die
ihn nährt); diese Symbolik ist nur wahrnehmbar in dem Maße, wie der Text (hier:der Basistext) nicht der einzige ist, der sie (1 i t e r a r i s ehe) S y m b o l i k
aufzeigt: e i n e set z t
ein e
S e r i e
von
Tex t e n
vor aus,
man sieht wie. Butor schreibt: ES gibt kein individuelles Werk. Das Werk eines Individuums ist eine Art Knoten, der inmitten eines kulturellen Gewebes entsteht, in das es nicht versenkt ist, sondern aus dem ~1J a u f t a u c h t. Von Anfang an ist das Individuum ein Moment dieses .kul turellen Gewebes. Deshalb ist jedes Werk auch ein kollektives Werk (L'Arc, NO 39, 1969:2). Es wird hier gewiß nicht behauptet, daß das Durchgehen der gesamten Reihenfolge der sog. "Begleittexte" die b lei b 1 ich e
u n a u s-
Bedingung eines geeigneten Verständnisses,
einer geeigneten Kenntnisnahme des "Basistextes" sei. Ein a 1 1g e m ein e s
zer s t
r e u t e s
W iss e n
über das
symbolische Verlangen, zu dem der Phonograph seiner Benutzer veranlaßt, könnte vielleicht genügen. Heutzutage sind wir aber nicht mehr im Desitz dieses Wissens: eros, Villiers, Jarry, Renard, Leiris sind für uns die glaubwürdigen Zeugen dieses Verlangens. Der
Inte~text
stellt auch für den postumen Leser eine nützliche,
drastische Reduktion des Sinnes dar: dadurch kann selbst er diesen Sinn erfassen. Dies ist wohl seine Chance.
A N M E R K U N GEN 1. Feldhaus gibt an, daß Charles Cros am 30.April 1877 die Idee des Phonographen bei der Pariser Akademie als Patent anmeldete, daß Edison das englische Patent am 30.7.1877 und das amerikanische am 24.12.1877 bekam, daß die erste Beschreibung des Apparates in der Scientific Review von 22.12.1877 erschien, daß
-
82 -
später (im Jahr 1886) Tainter eine Variante des Apparates als "graphophone" vorschlug und daß Berliner das erste "Grammophon" (im Jahr 1887) baute. 2. Man kann Exemplare dieses Apparates' unter den Nummern 18.732 und 20.435 2 im Conservatoire des Arts et Metiers von Paris bewundern. Das gängige Modell existierte mit oder ohne Trichter. Es ist vielleicht wichtig zu wissen, 1) daß die unter der Membran fixierte Abtastnadel (ongLet) sehr klein ist (und kugelförmig endet, um die Wachsschicht zu schonen), 2) daß der Zuhörer sich entweder zweier Hörrohre, mit gerundeten Krallen an ihren Enden, bedienen kann, die er sich in die Ohren steckt, oder auch eines Trichters, 3) daß diese Trichter bei manchen Modellen durchsichtig und aus Glas sind. 3. Anspielung auf Hugos Gedicht "Ce que dit La Bouche d'ombre". 4. Das Motiv des tödlichen Chanson ist durch einen anderen Meister dieses Genres, Gaston Leroux, wieder aufgenommen worden. 5. S. unter anderen Analogien, das berühmte EL Desdichado von Gerard de Nerval ("J'ai r'v~ dans La Grotte ou nage La Sirine
... ") .
6. Peraephone, gorge coupee. In: La RegLe du jeu und anderswo in: L'Age d'homme. Ich folge hier bis zu einem gewissen Grad der Interpretation, dieD. Hollier und J. Mehlmann (In: Why are we in America? Critique 391, decembre 1979) für diese Episoden vorschlagen. 7. Uber die verlorene stimme als negatives Element der Identität, s. Vf., La Perte de La voix. In: Traverses, 20, 1980. 8. Es ist auffallend, daß der Phonograph von Edison mit dem berühmten castigateur orthomatique - oder "Peitschmaschine" -, von der Jarry selbst berichtet, in Verbindung gebracht 'wird, und zwar wird er in diesem Fall auch erwartungsgemäß mit Gewalt bedient (s. La ChandeLLe verte, 1969, S.169 ff.). 9. S. ibid., S.232 ff., wo "Schnabel" mit Trichter (paviLLon) verbunden und das Geschrei des Phonographen und das Seufzen des Todeskampfes (des Schwans) zusammengeführt wird. (" Die Klage ist ein Krachen aus Stahl", schreibt noch Jarry, ibid., S.639, ganz und gar auf derselben metaphorischen Linie) . 10. "Vermutlich singt die Wahrheit selbst"
(ibid., S.303).
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Wolf-Dieter STEMPEL
INTERTEXTUALITÄT UND REZEPTION
Der Gesang Weylas von Mörike beginnt mit den Versen: Du bist Orplid, mein Land! Das ferne leuchtet; vorn Meere dampfet dein besonnter Strand den Nebel, so der Götter Wange feuchtet. Wer ist Weyla, wer ist Orplid? Wie in solchen Fällen üblich, darf man als Interpret unterstellen, daß die Leserschaft Ende der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, für die dieses Gedicht geschrieben wurde, Bescheid wußte und die Anspielung auf das Werk, in dem Weyla und Orplid zu bedeutungsvollen Erscheinungen ausgeformt wurden, in das Verständnis des Gedichtes in der einen oder anderen Weise einbrachte. Der Leser von heute jedoch, dem, wie so vieles, auch dieses Wissen abhanden gekommen ist, kann infolgedessen aus dem Gedichtzusammenhang heraus nur vermuten, daß Weyla eine vielleicht mythische Person wohl weiblichen Geschlechts und Orplid ein mythischer Landname ist - eine, wie man befürchten möchte, recht kümmerliche, womöglich gar zu falscher Interpretation führende Annahme. Wer jedenfalls nicht weiß, wer Harnlet ist und insbesondere das Shakespeare-Drama samt dem "To be or not to be"-Monolog nicht kennt, der kann, hat Carmela Perri gezeigt, die entsprechende Zeile in T.S. Eliots Gedicht The Love Song of J.
Alfred Prufrock: I am not Prince Hamlet nor was meant to be nicht viel anders lesen als "I am not, nor was meant to be, some royal personage"
(Perri 1978:296). Er verfehlt damit das
Verständnis der Stelle (und weitere entsprechende Anspielungen
.
'
in diesem Text), und mag ihm dies Unvermögen im Falle des Namens Harnlet noch selbst bewußt werden, so muß ihm der "to be"Bezug bereits als Anspielungsakt schlechthin verborgen bleiben.
-
86 -
Genug des Spiels. Es ist ja, was das Mörike-Gedicht angeht, weithin bekannt, daß Weyla und Orplid
al~
Eigennamen
Erfindungen des Dichters sind. Aber ist nun wenigstens dieses Wissen für das Verständnis des Gedichts ausschlaggebend, so also,' daß eine entsprechende Unkenntnis wiederum zu einer abwegigen oder jedenfalls in irgendeiner Weise
I
unvollkommen.en I
Version führte? Wieviele Eigennamen begegnen uns in Gedichten, von denen wir nichts Genaues wissen! Unter Umständen erfahren wir erst durch gelehrte Untersuchungen, was es mit ihnen auf sich hat oder auch nur, was es mit ihnen auf sich haben könnte, und doch haben die fraglichen Gedichte uns angesprochen, bewegt, glauben wir etwas von ihnen erfaßt zu haben, sind womöglich gar imstande, unser yerständnis am Text selbst auszuweisen. Orplid - welch faszinierender, "leuchtender" Name, schon durch die Lautgestalt und den fremden Wortakzent suggestiv in ein Nicht-Hier entrückt und dennoch, als mythißcher Ort, in emphatischer Zuwendung gleichsam als Besitz des lyrischen Ich (-Jetzt-Hier) beschworen ... Doch verzichten wir auf den Versuch nachzuzeichnen, was so viele Lesergenerationen an diesem Text gefesselt hat. Daß Mörike (und seinem Freund Amadeus Bauer) bei der Erfindung von Orplid, wie er angedeutet hat, "ein außerhalb der bekannten Welt gelegener Boden" vorschwebte, "eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk ( .•. ) gewohnt haben soll", deren Lage "man sich in dem Stillen Ozean zwischen Neu-Seeland und Süd-Amerika (dachte),,1 - das ist, wie Zeugnisse und Informationen solcher Art allgemein, aufschlußreich in einem historischen, äußerlichen Sinne, trägt aber zum ästhetischen Verständnis des Gedichts kaum etwas Wesentliches bei. Ja, es ist sogar nicht einmal auszuschließen, daß solche Biographica (hier also etwa die geographische Verdinglichung) die Unmittelbarkeit des ästhetischen Eindrucks und den Prozeß der Leserkonkretisation zu beeinträchtigen vermögen 2 . Lassen wir den Hamlet-Fall oder was man sonst noch an abschreckenden Beispielen der Verkennung intertextueller Bezugnahmen zitieren mag, vorerst außer Betracht. Das Problem der Rezeption, das hier in den Blick gerückt werden soll,
-
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scheint auf der Hand zu liegen. Freilich, es scheint nur so. Denn soweit sich die Intertextualitätsforschung heute noch überschauen läßt, wird sie von der Frage beherrscht, in welcher Weise, in welchen Prozessen der "Dialog" mit oder auch nur der Bezug zu einschlägigen Texten aufgenommen und verarbeitet wird. Auch unabhängig von der durchaus kontrovers diskutierten Frage, wie in jedem Falle zu erkennen sei, was an Bezug set zungen zu Vortexten in dem betreffenden Werk ,angeiegt .
,···.'1··;1
ist, bleibt in der Regel unbedacht, ob bzw. in welcher
~veise
die jeweils erforschte Intertextualität für den Leser erheblich ist - falls nicht einfach unterstellt wird, daß die Leserschaft zur Entstehungszeit des Werks die intertextuellen Bezüge ohne weiteres genau erkennen und auch nachvollzieheri konnte. Der wissenschaftliche Interpret also als Vermittler von Zusammenhängen, der dem blind gewordenen Objektleser das volle oder überhaupt richtige Verständnis des literarischen Werks erst ermöglicht? Für den Interpreten eine zweifellos dankbare Aufgabe voller beruflicher Motivation. Doch zumindest in diesem Punkt wird der Abstand nicht sogleich sichtbar, der das Geschäft der neueren
~extarchäologie
von der Ein-
flußforschung alten stils trennt. In der Regel, wenn auch keineswegs einhellig, wird seit Julia Kristeva eine solche Unterstellung, falls sie überhaupt erwogen wird, glatt zurückgewiesen, und es besteht ja auch kein Zweifel darüber, daß hier entsprechende Leistungsnachweise geltend gemacht werden können. Sie haben freilich unterschiedliche Bedeutung und Reichweite. Läßt man einmal die rein literaturtheoretische Reflexion beiseite, die, wo immer sie anschließt, nur noch da
intere~siert,
wo sie über die Feststellung der prinzi-
piellen intertextuellen Gebundenheit jedes literarischen Textes hinausgelangt, so sind die Beiträge sicherlich förderlich, die sich der Formenvielfalt intertextueller Bezugsetzungen annehmen bzw. einzelne Typen davon genauer unter3 suchen (z.B. die Anspielung , einschlägige Textgat4 tungen wie Parodie, Pastiche u.ä. ). Besonders willkommen sind Einzelanalysen, die die Integration der berufenen, implizierten oder in irgendeiner Weise anzunehmenden intertextu-
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ellen Referenzen in den Bedeutungsaufbau des fraglichen Werks anstreben und damit gerade das zu leisten sich vornehmen, was die Einflußforschung älteren Zuschnitts in der Regel entweder schuldig geblieben ist oder nur unzureichend vollzogen hat (auf zwei einschlägige Beiträge, von Rainer Warning und Wolf Schmid, werde ich unten näher eingehen). Aber auch, was zunächst als Vollendung der Intertextualitätsanalyse erscheinen mag, ihre Verlängerung eben in die Beschreibung und Deutung des fraglichen Textes, läßt die alte Frage grundsätzlich bestehen, welche Bedeutung oder welches Interesse solche Unternehmungen denn nun eigentlich für die Rezeption haben. Es kann ja keineswegs allgemein davon ausgegangen werden, daß die jeweils ermittelten intertextuellen Referenzen auch der qualitativen Wahrnehmung auf der Objektebene zugänglich sind, genauer gesagt: zugänglich zu machen sind. Bevor dies nicht bedacht wird, scheint es mir jedenfalls verfrüht, Leserkonkretisationen, die an den neu gewonnenen Ergebnissen der intertextuellen Erforschung des betreffenden Textes vorbeigehen, von vornherein in das Abseits "ahistorischer, voluntaristischer" Sinnzugriffe zu befördern (Schmid 1981: 127). Man müßte dann unter Umständen, wenn Intertextualität nicht allein auf ein in jedem Fall identifizierbares, weil explizit ausgewiesenes Signal zu beziehen ist, grundsätzlich die Ungewißheit jedes Textverständnisses in Kauf nehmen, nicht zuletzt schon deshalb, weil ja auch die Anzahl und der Umfang der Bezugsetzungen keinesfalls immer verläßlich anzugeben ist. Diese Art von Ungewißheit gilt grundsätzlich für die Interpretationsergebnisse, die auf der Ebene der wissenschaftlichen Betrachtung erbracht werden, hat aber in der Leserkonkretisation keinen Ort. Mit großer Bestimmtheit ist in letzter Zeit Michel Riffaterre der Intertextualitätsproblematik zu Leibe gerückt, und er ist. der einzige (soviel ich sehen kann), der die Uberlegenheit des neuen Ansatzes gegenüber Quellenkritik und Einflußforschung mit dem Argument des Lesers begründet hat. Nicht die Tatsache der Filiation entscheide über die Relevanz von Ähnlichkeiten zwischen zwei Werken, sondern die Beziehung,
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die der Leser selbst herstellt (Riffaterre 1979a: 31, 1981: 4f.), und zwar aufgrund der Tatsache, daß sich ihm bei der Lektüre eines Textes, bezogen auf dessen 'Norm', Ungereimtheiten ("Anomalien", "Agrammatikalitäten" im weitesten Sinne) aufdrängen und einen "intertextuellen Mechanismus" auslösen dergestalt, daß' der Leser den Ursprungsort dieser Elemente aufsucht und aus der Differenz die "signifiance" des vor ihm liegenden Textes gewinnt. Die vom Leser vorgenommene Bezugsetzung geschieht dabei, wie Riffaterre betont, keineswegs willkürlich; sie bestimmt sich vielmehr nach strukturellen Mustern (zu denen die verbundenen Texte jeweils Varianten darstellen) bzw. über die Vermittlung eines "Interpretanten"
(im Peirceschen
Sinne), der den voraus liegenden Text als "Objekt" des aktuellen erschließt (1979b: 133f., 1979c: 498, 1980: 9f.). Man erkennt unschwer, daß Riffaterre hier im Gefolge seiner Theorie des stilistischen Stimulus argumentiert (vgl. Riffaterre 1973), ohne jedoch die besondere Problematik zu gewärtigen, die sich mit der Ubertragung der Stimulus-Theorie auf die historische Achse einstellt: ~ährend in Riffaterres Ansatz einer "strukturalen Stilistik" die Instanz eines "archilecteur" noch auf der systematischen Ebene der Textwahrnehmung verortet war, soll der hier angesprochene Leser die festgestellten intratextuellen Anomalien
e x t r a-textuell,
d.h. unter Bezug auf vorausliegende Texte auf- und einlösen ein Ansinnen, das nur dem professionellen Betrachter gelten kann. Selbst wenn es tatsächlich in der "competence linguistique du Franc;ais moyen" beschlossen liegt, unter Rückgriff auf ein La Fontaine-Zitat einer Laforgue-Stelle eine humorvolle signifiance zuzuerkennen (Riffaterre 179c: 498), so ist ein solcher Weg grundsätzlich sicher weniger leicht für den Amateurleser gangbar, als dies Riffaterre anzunehmen scheint, und schon gar nicht wird man sich der Vorstellung anschließen wollen, der Leser gewärtige, aufgrund erspürter "Agrammatikalitäten", sogar dort intertextuelle Referenzen (im Sinne eines "Postulats"), wo ihm die Quelle selbst nicht bekannt ist (1980: 6)5. Riffaterres Intertextualitätsanschauung ist jedenfalls, von hier aus gesehen, nicht wesentlich verschieden
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von der anderer Forscher, die intertextuelle Transposition auf der Produktions seite untersuchen, unterstreicht jedoch deren Einseitigkeit noch dadurch, daß die gehegte Erwartung, es möchten Rezeptionsprozesse auf der Objektebene behandelt werden, durch die verabsolutierte historische Perspektive praktisch unerfüllt bleibt. Gewiß wirft die den Vortexten abgewonnene signifiance für das Verständnis der transformierten Elemente auch auf der Kommunikationsebene etwas ab: Ironie, Humor u.ä. begleiten in Beispielen Riffaterres (die meist nur kleinere Textsteilen betreffen) die neugeformten "Varianten". Aber es überrascht andererseits nicht, daß das Prinzip "la
textualit~
a pour fondement
l'intertextualit~"
(Rif-
faterre 1979b: 128) gelegentlich zu recht absonderlichen Fragestellungen ~Uhrt6.
* Wenn, wie dies bisher geschehen ist, zwischen Amateurleser und wissenschaftlichem Betrachter unterschieden wird, so sind nun zunächst einige Voraussetzungen zu nennen, die im Falle des Amateurlesers hier in Anspruch genommen werden. Natürlich kann es dabei nicht darum gehen, Lektürenovizen oder solche, die sich zufällig in für sie unwegsames "literarisches Gelände verirrt haben, in diesem Zusammenhang zur Geltung bringen zu wollen. Aus Gründen, die ohne weiteres einsichtig sind, kann der Leser, der hier angesprochen wird, nur ein solcher sein, der bereits zu der kleinen Gruppe derer gehört, die sich im Umgang mit anspruchsvolleren Literaturwerken sowohl ästhetische Sensibilität ausgebildet, wie auch so etwas wie literarische Bildung erworben haben. Deren Ausmaß ist hier natürlich nicht exakt festzulegen, aber sie enthält zumindest Vorstellungen (wie vage diese auch sein mögen) über wichtige literarische Epochen und einige ihrer repräsentativen Werke, sowie, daran anschließend, Kenntnisse und allgemeine Einsichten hinsichtlich historischer Entwicklungsprozesse von Literatur. Natürlich sind damit Voraussetzungen bedeutet, die in erster Linie für die Gegenwart gelten, und es ist unbestritten, daß in früheren Epochen die Literaturkenntnis des an-
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apruchsvollen publikums
(b2w. lange Zeit des Lesepublikums
Uberhaupt) umfassender und genauer war als heute, namentlich was die Vertrautheit mit der literarischen Tradition anging, und diesen Unterschied nehmen ja auch, wie gesagt, jene Forscher in Anspruch, die die von ihnen herausgearbeiteten Intertextualitätsrelevanzen in Texten vergangener Epochen der Aufmerksamkeit der zeitgenössiscnen Leser unterstellen. Man könnte nun in der Tat zunächst daran denken,
hi~torische
Un-
terschiede bezüglich der einschlägigen Lesevoraussetzungen in der Weise
einzuf~ngen,
daß diese als historisch variable
Bezugsgröße den jeweiligen Produktionsmustern anspruchsvoller Literatur zugeordnet erscheinen, intertextuelle Praxis somit gleichsam 'synchronisiert' vorzustellen wäre. Dies würde also bedeuten, daß innerhalb eines kulturellen Modells wie etwa dem der imitatio verbindlicher historischer Muster die Praxis literarischen Schaffens auch eine entsprechende Rezeptionstätigkeit in Gang setzte. Da es dazu keines ausdrücklichen Hinweises im Text bedarf, wäre einem modernen Leser aufgegeben, den Zugang zur Rezeption, eines solchen Textes an dem kulturellen Modell zu orientieren, um die U.U. konstitutiven intertextuellen Dimensionen ausmessen zu können. Damit ist nun freilich nicht viel erreicht, ja u.U. gar nichts. Es spricht in der Tat wenig dafür, daß die besagte Synchronisierung selbst im Falle des imitatio-Modells tatsächlich in der Weise zu denken ist, daß der zeitgenössische Leser zur Gewinnung einer "lecture
compl~te"
(Riffaterre 1979b:
138) qie erfaßbaren Rückbezüge, die ja ganz unterschiedliches Gewicht haben, allesamt durchrealisierte (vorausgesetzt selbstverständlich, daß es sich dabei um einen genuin ästhetischen Rezeptionsakt und nicht etwa um ein Abklappern des Werks nach 'Stellen' handelte); und wenn man auch im allgemeinen davon auszugehen hat, daß Autoren ihre Werke nicht vollkommen an den zur fraglichen Zeit unterstellbaren Leserkompetenzen vorbeikonzipieren, so ist doch damit noch, nichts ausgesagt über die Art, wie intertextuelle Investitionen im
liter~rischen
Werk
vom Objektleser aufgenommen und verarbeite,t werden. Man wird deshalb zunächst ruhig einmal fragen dürfen, ob eine solche Verarbeitung überhaupt erforderlich, ja, wie weit sie letztlich
- 92 -
überhaupt grundsätzlich möglich erscheint. Sollten hier entsprechende Einschränkungen plausibel gemacht werden können, könnte dies auf nichts mehr, aber auch nichts weniger als eine Legitimation der Lektüre des Amateurlesers (der den oben angedeuteten Bestimmungen entspricht) hinauslaufen, eine Legitimation oder auch, genauer gesagt, Emanzipation, gegenüber dem Beitrag des geschulten Interpreten und zwar auf theoretischer Ebene, denn nur hier kann überhaupt eine Fragestellung dieser Art zunächst angesiedelt werden. Selbst wenn ein solches Ergebnis vernünftigerweise nicht direkt anvisiert werden kann, scheint Anlaß genug zu bestehen, die unterschiedlichen
Wahr-
nehmungs- und Verständniskompetenzen einmal kritisch gegeneinander zu halten. Die Gesichtspunkte, die im folgenden zur Sprache kommen, sind, wie nicht anders zu erwarten, diskussionszerfurcht und in ihrer Geltung sicherlich umstritten. So hat der kursorische Argumentationsgang, der hier verfolgt wird, mehr skizzenhaften Charakter gemäß dem Ziel dieser Bemerkungen, das mehr in der Anregung zu kritischer Besinnung als im 'Positiven' liegt. Der erste Punkt, der geltend gemacht werden soll, betcifft die Autonomie des literarischen Kunstwerks. Sie ist zunächst mit dem Ereignischarakter zu begründen, der dem Werk als individuellem Ergebnis eines künstlerischen Schaffensaktes zukommt. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß alle Außenbezüge dieser Eigenständigkeit einverleibt werden, nicht aber diese von den Bezugsetzungen abhängig gemacht oder durch sie entscheidend eingeschränkt wird. Literarische Werke, die un. selbständig indem Sinne sind, daß sie gleichsam nur im Rück-
~bezug auf andere vorausliegende bestehen bzw. in diesem Bezug aufgehen, sind ein Widerspruch in sich. Wo wie in der Parodie oder in den meisten Formen des Pastiche die Bezogenheit auf Referenztexte thematisch ist, wird gerade sie zum eigenständigen textrepräsentativen ästhetischen Ereignis gestaltet. Wo aber eine solche Gestaltung verfehlt wird oder ausbleibt 7 , gerät ein Werk dieser Art an den Rand seiner ästhetischen (u.U. auch juristischen) Existenzberechtigung. Man wird sich über diesen Punkt leicht verständigen können, gehen doch auch neuere Intertextualitätsanalysen nicht so weit, dem untersuchten
-
93 -
Werk Eigenständigkeit erst aufgrund der neu nachgewiesenen Transpositionsprozesse zuzuerkennen; auch die Arbeiten zur literarischen Anspielung stellen im allgemeinen in Rechnung, daß entsprechende "marker" eine "wörtliche Bedeutung" innerhalb der möglichen Welt ihres Standorttextes haben (Perri 1978: 300; ähnlich Jenny 1976: 266, der von "Alternativen" spricht), und zwar selbst dann,
~enn,
wie bei Perri, als
Bedingung für den Anspielungsakt bereits die Möglichkeit des Nachvollzugs postuliert wird (1978: 300). Nicht anders befindet Genette, obwohl bei der von ihm zugrunde gelegten "Hypertextualität" gerade der Rückbezug auf den "Hypotext" das wesentliche Moment ist (Genette 1982: 450). Was hier zugestanden wird, ist nun alles andere als eine Art Notbehelf für minderbemittelte Leser, die aufgrund mangelnder literaturgeschichtlicher Einzelkenntnisse mit dem Werk selbst vorlieb nehmen, mit ihm schlecht und rech:t auskommen müssen: es ist die Zentralität des Kunstwerks selbst, von der aus .gesehen Intertextualität nicht mehr als ein untergeordneter Charakter zugebilligt werden kann. Die Eigenständigkeit des literarischen Werks als Ergebnis eines künstlerischen Schaffensaktes hat ihre Entsprechung im 'aktuellen' Charakter der Rezeption. Wahrnehmung und Konkretisation des Werkobjekts sind Tätigkeiten, die im Gestaltcharakter des Werks und seiner Prägnanz ihren Quellpunkt haben und in elementarer Weise an die Erfüllung im hic et nunc des ästhetischen Erlebnisses gebunden sind. Das zeigt de auch
dort~
sic~
gera-
wo das Besondere des Textes nicht etwa, histo-
risch gesehen, in der Verwendung neuer ästhetischer Mittel und Verfahren, der Behandlung neuer Thematiken usw. liegt, sondern sich im wesentlichen darstellt als Moment der Realisierung dessen, was dem Leser von seinen Lektüreerfahrungen und -kenntnissen her· im Grunde bekannt ist. Ob es sich um epigonale oder ganz allgemein gängige Muster handelt, die dem fraglichen Werk zugrunde liegen, in jedem Fall verleiht bereits deren versinnlichende Manifestation einem solchen Text Ereignis- und Gestaltcharakter und zwar nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Manifestationsergebnisse eines komplexen Musters,
- 94 mag dieses durch einen prominenten Einzeltext oder die Gattung begründet worden sein, notwendigerweise voneinander unterscheiden. Mit anderen Worten:
'positive '. Leserkonkretisationen sind
in diesem'Falle grundsätzlich ebenso möglich wie unter der Voraussetzung substantieller Innovation, ja vielleicht sogar in der Leserpraxis der häufigere Fall. Denn wenn
es auch sein mag,
daß die Werke der literarischen Vergangenheit, die auch noch zu späterer Zeit das Interesse von Amateurlesern zu binden vermögen, meist solche sind, die in der Entwicklung der Literatur einen besonderen Platz einnehmen, so gründet doch gerade die Fähigkeit, sich ihnen zu öffnen, weniger in der Notwendigkeit, die,se evolutiv bestimmte historische Ausgezeichnetheit als Qualität in die Rezeption einzubringen, als gerade umgekehrt in der Möglichkeit der ereignishaften Aktualisierung eines historischen Musters aus der historischen Distanz heraus. Damit ist schon angedeutet, was ohnehin keine besondere Erläuterung notwendig macht. Man darf gewiß, ja muß in einem ganz spezifischen Sinne in Bezug auf den aktuellen Kommunikationsakt von 'Immanenz' sprechen, aber es ist klar, daß sie dabei, wie allgemein die Autonomie, ob diese den Gestaltungsprozeß betrifft oder die Rezeptionstätigkeit, an die jweiligen historischen Voraussetzungen gebunden ist. Deren Gewärtigung ist in einern allgemeinen Sinn, aber insbesondere im Hinblick auf die Rezeption historischer Texte, als Bedingung der Möglichkeit anzusehen, Eigenständigkeit und Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Wahrnehmung und Aufnahme zu erfahren, und insofern mußte auch die Lesercharakteristik, die oben angesetzt wurde, diesem Moment Rechnung tragen. Konkreter gesprochen besagt dies, daß ohne Kenntnis der enger und weiter ge faßten gattungsspezifischen, durch prominente Texte repräsentierten Bedingungssituation ein adäquater Zugang zum literarischen Werk kaum gefunden werden kann. Eine in diesem Sinne geleistete historische Projektion ist nun sicherlich als primärer intertextueller Kristallisationspunkt der Rezeption zu verstehen (die Uberlegungen von Laurent Jenny nehmen davon ihren Ausgang, 1976: 257f.), und es erscheint daher verhältnismäßig problemlos, auf einer ersten Stufe die Frage der
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95 -
Intertextualitätsrelevanz der Rezeption ,gerad; dahingehend zu bestimmen, daß der Leser sich grundsätzlich mit der Reali, sierung dessen bescheiden kann, was dem betreffenden Werk als Existenzminimum an genereller und generischer Intertextualität zu eigen ist, ohne dabei eine zureichende, im techpischen Sinne
I
glückliche I Konkretisation zu verfehlen.
Nun ist allerdings zu sehen,. daß dadurch der Begriff der Intertextualität selbst in Frage gestellt würde, und zwar nicht nur, weil er dann nur noch wenig gemein hätte mit dem gängigen (insgesamt gesehen freilich ziemlich diffusen) Verständnis, sondern weil unter die historischen Voraussetzungen, die es bei der Rezeption eines Textes zu gewärtigen gilt, ja nicht nur Texte bzw. Gattungstraditionen fallen, sondern ebenso Bestände historisch-kulturellen Wissens. Wenn nun aber schon in der Intertextualitätsforschung eine entsprechende Unterscheidung nicht unkontrovers aufrechterhalten wird und diese in den Untersuchungen zur literarischen Anspielung vollends ihren Sinn verliert (vgl. Perri 1978: 305), mag sie erst recht hier preisgegeben werden. Es ist ja auch in vielen Fällen, z.B. bei der Verarbeitung mythischer Motive, gar nicht zu entscheiden, ob diese überhaupt zu einem bestimmten Referenztext in Bezug zu setzen ist, denn solche Motive haben sich vielfach von ihren Ursprungs texten gelöst und sind Bestandteile des kulturellen Wissens geworden. Ja, es ist überhaupt davon auszugehen, daß unsere Erfahrungen mit einzelnen sprachlichen Kunstwerken, ob sie sich mehr auf dort geformte Inhalte oder auf formale Eigenheiten (z.B. stilistischer Art) oder auf beides zusammen beziehen, die Tendenz haben, sich in der Verarbeitung und Bewahrung zu verallgemeinern. Diese Tendenz gilt grundsätzlich natürlich auch für die Verarbeitung von Erlebnissen des Einmaligen im alltäglichen Lebensbereich, doch findet sie in den Begegnungen mit Literatur erheblich vielfältigere und prägnantere Ansatzpunkte und erreicht zudem durch kollektive Vereinnahmung Ablagerungen von größerer Beständigkeit und Verfügbarkeit. Vorzüglich das, was man Zitatenschatz nennt, die paradigmatischen Handlungs- und Geschehnisweisen, die meist nach ihrem exemplarischen Protagonisten benannt werden (Sisyphus, Narziß, Hans im Glück), aber auch Titelhelden, die metony-
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misch berühmte literarische Einzelwerke vertreten (Don Quijote, Hamlet, Faust), bedeutsame Regionen (Arkadien, Inferno), um nur weniges zu nennen, sind Bestandteile des kulturellen Wissens geworden, doch es muß eine solche fast emblematische Repräsentation keineswegs die Endstufe des fraglichen Entwicklungsprozesses sein. Das, was sich an literarischen und natürlich allgemein kulturellen Kenntnissen in einem kollektiven Wissen bewahrt, ist u.U., bei entsprechendem Ausmaß und höherer Qualität der Leserkultur, reicher und differenzierter, hat oft nur, z.B. als repräsentative Szene aus Drama oder Roman, den Status mittlerer Exemplarität erreicht - es soll hier auf die vielfältigen Abstufungen und ihre Maßgaben nicht ankommen. Das materielle Verständigungspotential auf seiten des Lesers, auf das der Autor setzen kann, ist somit gewiß größer als es zunächst erscheinen mag. Es gilt gleichwohl zu bedenken, daß die in den genannten Repräsentationen niedergelegten Verallgemeinerungen im Rezeptionsakt zwar verlebendigt, aber meist nur in dem Maße rückgängig gemacht, d.h. re-individualisiert und aufgefüllt werden können, wie der fragliche Text dazu
Hilfeste~lung
oder gar die erforderlichen Informationen
gibt. Dies ist zumindest gerade dann erforderlich, wenn die kollektiven Repräsentationen nicht mehr allgemein die immer wieder in der einen oder anderen Weise erneuerten Eigenleistungen der Leserschaft darstellen, sondern als solche Kurs haben und weitergereicht werden. Aber das Ausbleiben einer solchen Explizierung im Text bedeutet noch nicht unbedingt auch eine Schädigung oder Schmälerung der Konkretisationsmöglichkeiten. Man denke nur an Nervals Sonett EZ Desdichado: "Aus literarischer Anspielung und Selbstzitat scheint es zusammengesetzt"S, und doch ist die Fülle der Bezüge zu Scott, zum Amadis-Roman, zu Homer und Vergil, zum Neuplatonismus usw. insgesamt
we~iger
auf ihre spezifizierten Erträge hin abzulei-
sten. Sie sind vielmehr vorwiegend als atmosphärische Evokationen wirksam und im Zusammenhang des Aufbaus einer "mythischen Innenwelt" in die selbstrnächtige Konstellation des Sonetts eingelagert. Wenn somit einerseits die Transposition eines Referenztextes vom Amateurleser im eiQzelnen kaum ver-
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97 -
folgt werden kann, er sich aber auch nicht zur Erlangung eines 'Schlüssel'-Erlebnisses zur Begleitlektüre texte anhalten lassen wird, wenn
ents"~rechender Vor-
~ndererseits
aber auch viel-
fach kaum Notwendigkeit zu bestehen scheint, die intertextuelle Differenz
au~zumessen,
dann wird man einen Schritt weiter-
gehen u~d fragen wollen, ob denn die Forderung einer "lecture relationnelle" Schmid 1981)
(Genette 1982:
4~O;
stärker ausgeführt bei
der kontrastiven Präsenthaltung eines Vortextes
in allen seinen Einzelheiten im Rahmen einer sich auf der Objektebene vollziehenden Rezeption überhaupt billigerweise erhoben werden kann. Denn 'es genügt ja dann wohl kaum eine bloße Präsenthaltung, um die vollzogene Neugestaltung unmittelbar erlebbar zu machen - es sei denn, daß sie einsinnig auf kornische Reflexivität hinausläuft; aber Parodien und verwandte Reflexgattungen sind eher als ein besonderer Fall zu betrachten, nicht zuletzt auch deswegen, weil der
Referenztex~
im Verar-
beitungstext materiell vielfach präsent ist, seine Transformation (z.B. als ironische Pseudoidentifikation) also gleichsam sichtbar vorgeführt wird. Wo aber die Umgestaltung erst in der Konfrontation der beiden Texte gesucht, ermittelt und sinnvoll gemacht werden muß, da stellt sich die Frage, wie denn eine solche Zweidimensionalität des Konkretisationsprozesses mit der grundsätzlichen Eindimensionalität der'participant ' Perspektive wohl zusammenpassen soll. Natürlich weiß man, .daß diese letztere Perspektive ja keineswegs Sensibilität gegenüber dem Historischen ausschließt; in den genannten generischen Faktoren des Textverständnisses liegt ja begründet, daß von einern zeitgenössischen publikum Innovationen als solche erfahren werden. Aber damit ist weder gesagt, daß diese in jedem Fall nur in interpretatorischer Ausmessung des entsprechenden Abstandes zu Vortexten und nicht durch eine. im Werk selbst angelegte Plausibilisierungsstrategie bewältigt werden können, noch ist von vornherein ausgemacht, daß die historische Kontrastierung in ihrem Ergebnis in jedem Fall dem Leser mehr als nur ein Aha-Erlebnis verschaffte, d.h. auch ästhetisch für ihn interessant wäre. Alles scheint vielmehr darauf hinzudeuten, daß die Realisierung der 'vertikalen' Dimension, dort
jedenfall~
wo sie in den Differenzierungen eines bestimm-
- 98 -
ten Vortextes begrilndet wird, eine wesentlich auf der Metaebene sich vollziehende 'observer'-Operation
dar~stellt,
was aber
bedeutet, daß der Amateurleser, der, kundig angeleitet oder wie immer veranlaßt, diese Operation verfolgt, aus dem Prozeß der ästhetischen Kommunikation mit dem Werk grundsätzlich heraustritt. Man hat die "dunkle" Lyrik Mallarmes vielfach durch den Nachweis bzw. die Analyse dessen zu erhellen gesucht, was er selbst als "la fusion de quelque redite comptee" bezeichnete und als Bestandteil "mehr oder weniger fast jeden Buches" erachtete (zit. bei Jenny 1976: 257). Wo die Untersuchung der Integration bestimmter Vortextelemente umsichtig geführt wird, ist gegen sie gewiß nichts einzuwenden, nur muß man klar sehen, daß ihr theoretisch keine andere Reichweite zukommt als ähnlich gelagerten Arbeiten, die leichter verständlichen Texten anderer Autoren gelten. Denn selbst dort, wo es gelingen sollte, eine rezeptionsästhetische Relevanz des jeweiligen Transpositionsprozesses nahezulegen, kann diese Operation gleichwohl schwerlich die Erhellung ersetzen, die aus 'der Struktur des Gesamttextes selbst gewonnen werden muß. Ich habe mit Bedacht vermieden, im vorliegenden Zusammenhang von vornherein auszuschließen, was nach den vorangegangenen Erörterungen zumindest problematisch erscheinen muß: die Umsetzung eines intertextuellen Transformationsprozesses in eine ästhetisch erfahrbare Wirkungsqualität. Es wird vielfach die Ansicht vertreten, daß, wenn auch der Nichtvollzug der Referenzdimension das Werk nicht in seinem Bestand und seiner Bestimmung beeinträchtigt, die Einholung doch gewiß eine Bereicherung des Textverständnisses bewirkte, und dafür scheint ja auch zunächst einmal, abseits von den theoretischen Uberlegungen, die uns vorher beschäftigt haben, viel zu spre9 chen . So mag es in unserem Zusammenhang von Interesse sein, wenigstens auf ein Beispiel kurz einzugehen, in dem eine Vertiefung des Verständnisses ilber den Aufruf intertextueller Bezüge herausgearbeitet wird. Rainer Warning hat ,vor kurzem Baudelaires A une passante aus dem Zyklus der Tableaux parisiens ~n
die Tradition der stilnovistisch-petrarkistischen Sonette
gestellt und von dieser Bezogenheit aus, die dem Baudelaireschen Sonett bis hin zu lexik,alischen Ubereinstimmungen bei
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der Personenbeschreibung eingeschrieben sei, eine einsinnig auf das
Transitor~sche
der modernen Großstadtbegegnung abhe-
bende Deutung als unvollkommen hingestellt. Er zeigt vielmehr, wie die Rückprojektion des gestalteten Erlebnisses au:f-,auratische Referenztexte der Bezogenheit des modernen "fug!tifUauf das "~ternel" seiner antikischen Darstellung korresp~n diert und wie dadurch das ekstatische Erlebnis selbst als Konstruktion des Poetischen im Baudelaireschen Sinne erfahrbar wird. Warnings Untersuchung ist hier im einzelnen nicht nachzuzeichnen7 der knappe Hinweis kann jedoch genügen, um die Reichweite der neu eingebrachten intertextuellen Referenz zu ermessen, die hier in ihrem ästhetischen Ertrag sichtbar gemacht wird und deren Gewärtigung von Warning folgerichtig nunmehr dem Leser abverlangt wird. In der Tat scheint in diesem Fall, unbeschadet des Umstandes, daß bislang, d.h. bis Warning, wohl kaum jemand die Referenz bemerkt hat, deren 'Realisierung' für den Leser möglich, freilich unter besonderen Bedingungen, die den oben angestellten Uberlegungen gerade nicht zu widersprechen scheinen. Nicht um die Bezogenheit auf die differenzierte Individualität eines Einzeltextes (also Dantes oder Petrarcas) geht es im vorliegenden Fall, sondern um die Einbringung einer der Modellsituationen einer sich über mehrere Jahrhunderte hinziehenden lyrischen Tradition, um ein Stück "generischer" Intertextualität also, das vielleicht im literarischen bzw. kulturellen Voraussetzungspotential des zeitgenössischen Publikums nicht mehr breit vertreten war und gerade darum nicht einfach abgerufen, sondern nur in thematisierender Pointierung eigens zu instrumentieren war. Die zweidimensionale Dispersion des Leseaktes (s.o.) ist also gar nicht gefordert, da der Text die 'vertikale' Dimension aufgrund ihrer generischen Gestalt zu integrieren vermag. Es wird gleichwohl hier eine Konsequenz sichtbar, die sich mit dem Nachvollzug einer Expertenanalyse dieses Anspruchs zu verbinden scheint: Ist er auch grundsätzlich möglich, so bleibt er doch, möchte man meinen, ebenso hypothetisch wie in einem grundsätzlichen Sinn die historische Konstruktion, der er sich verdankt. Zumindest im vorliegenden Fall ist dieser Umstand
-' 100 -
jedoch nicht dilemmatisch. Es geht nämlich hier (wenn ich das richtig beurteile) gar nicht um zwei sich ausschließende Deutungen, sondern- und dies mag letztlich gerade auch eine der Bedingungen der Integration der intertextuellen Referenz gewesen sein -
um eine spezielle Pointierung eines Verständnis-
ses, das vor Warnings Beitrag im Text in allgemeiner (und gew~ß
diskreter) Form angelegt war: die im Baudelaireschen Sinne
"antikische" Perspektivierung von "Modernität", die in der stilnovistischen Tradition einen konkreten Anhaltspunkt gewinnt und dadurch wirkungsvoller wird. Nicht Ungewißheit bezüglich der Wahl zwischen zwei Deutungsalternativen beschwert somit eigentlich den Leser, läßt sich doch die Differenz im Sinne eines dynamischen Konkretisationsmoments nutzen, wie es gerade oft durch Lyrik erzeugt wird. Ich bin etwas ausführlicher auf die letzte Fragestellung eingegangen, weil hier die bislang zugrunde gelegte Unterscheidung von Objektrezeption und Beobachtung bzw. Beschreibung an einen'kritischen Punkt geführt wird, an dem sie sich letztlich zu bewähren hat. Auf eine umfassende Diskussion des 'Bereicherungsarguments', die nur im Zusammenhang mit Einzelinterpretationen sinnvoll erscheint, muß hier verzichtet werden. Stattdessen will ich versuchen, die bisher angestellten Uberlegungen zusammenzufassen und zu ergänzen. Die hier
vorgeno~~ene
Problematisierupg des Intertextuali-
tätsbegriffs gründet im wesentlichen auf der Unterscheidung von Interpret und Leser, die ihrerseits den Rückgriff auf weitere kategorielle Differenzierungen wie Textproduktion/-rezeption und historische/systematische Perspektive veranlaßt. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang feststellt, daß mit Ausnahme der Dichotomie von Produktion und Rezeption die fraglichen Unterscheidungen in der Literaturwissenschaft eine geringere Rolle gespielt haben als in vergleichbaren Disziplinen. Da sie die Frage der jeweiligen Betrachtungsweise des Gegenstandes und damit auch das Geschäft des Literaturwissenschaftlers betreffen, erscheinen sie als geeignete. Instrumente zur Klärung von Problemen, die in perspektivenloser Behandlung Gefahr laufen, sich ins Beliebige auszugrenzen.
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Es ist im vorliegenden Zusammenhang darauf verzichtet worden, den Gebrauch des Terminus Intertextualität selbst
defini~
'torisch abzugrenzen. Diesem Mangel, der letztlich die Forschungssituation widerspiegelt, war nicht abzuhelfen, und er hat trotz einiger Sepzifizierungen sicherlich hie und da ge-
I
stört. Aber für die gewählte Fragestellung konnte es zunächst genügen, Intertextualität
global.~it
dem Tatbestand zu verbin-
den, daß Autoren literarische Werke früherer Texte oder Ausschnitte davon in besonderer Auf- oder Verarbeitung zur Geltung bringen. Denn die Frage der perspektive ist auf einer Ebene zu diskutieren, auf der Intertextualität als solche letztlich eine untergeordnete Rolle spielt. In der Tat geht es im Grunde um das Verhältnis von Interpreten- und Leserverständnis ganz allgemein, das nie besonderes Interesse gefunden zu haben scheint und zwar w.ohl, weil es gar nicht als Fragestellung gesehen wurde. Es ist ja auch auf den
~rsten
Blick so abwegig nicht, wenn es überhaupt um
Rezeptionsfragen geht, den Leser nur im Experten vollkommen ausgebildet zu sehen, demgegenüber der Laienleser eine quantite negligeable oder aber ein literatursoziologisch interessantes Kuriosum darstellt. Die Linguistik ist da früher auf einschlägige Probleme gestoßen, insofern ihre Adepten nicht nur Sprache beschreiben, sondern auch selbst produzieren, was, wenn es sich dabei um die gleiche Sprache handelt, zu Schwierigkeiten bei der Analyse führt. Nun hat auch der Literaturwissenschaftler bei der Textinterpretation eine vergleichbare Doppelrolle: Ohne ästhetische Wahrnehmung auf der Objektebene ist eine Beschreibung, die der Grundbestimmung des literarischen Kunstwerks gerecht werden will, im Prinzip nicht zu leisten, wie bewußt immer dem Interpreten diese Phasen des Perspektivenwechsels sein mögen, sind sie doch nur Ausgangpunkt für Analysen, die weit hinter sich lassen; was der Amateurleser selbst zu erkennen vermag. Man wird, was diesen letzten Punkt betrifft, freilich genauer hinsehen müssen.
~ol~nge
es sich um ästhetische Wahr-
nehmung auf der Objektebene handelt, ist der Unterschied von Lieb~aber
und Fachmann fraglos in der Weise zu bestimmen,
daß letzterer aufgrund geübter und geschärfter Beobachtung
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der Wahrnehmung eine wesentlich größere Anzahl von Daten zuführt und somit zu reicherer Analyse kommt. Die Konsequenz ist jedoch allein entscheidend: theoretisch gibt es kein ernsthaftes Hindernis dafür, daß der Leser diese weiterreichende, in der Beschreibung faßbar gemachte Wahrnehmungsanalyse (die Frage ihrer technischen Vermittelbarkeit sei hier ausgeklammert) nachvollzieht und sich zu eigen macht, denn der Unterschied, der dadurch ausgeglichen wird, ist letztlich nur gradueller Natur. Damit soll nicht geleugnet werden, daß es Fälle gibt, in denen eine .'positive' d.h. ästhetisches Interesse erregende \vahrnehmung durch den geübten Interpreten überhaupt erst in Gang gebracht werden kann. Es ist aber andererseits, davon abgesehen, eine Hilfestellung zur Erhöhung von Wahrnehmungsdaten nicht zwingende Notwendigkeit, soweit der Leser eigenständig zu einern befriedigendßn Konkretisationsergebnis gelangt. Ja (und das hat ~ervenka sicherlich richtig gesehen), in einern bestimmten Sinn wird dieses Ergebnis des Arnateurlesers r~icher sein als das des Interpreten lO : Wo es, hermeneutisch gesprochen, um das 'Applikationsfinish' der Konkretisation, die Bezugsetzung also zur eigenen Lebenssituation geht, kann der Interpret als Beobachter, wenn überhaupt, nur unvollkommen mithalten. Natürlich werden hier sehr komplexe Dinge etwas rasch abgetan, aber es kann vorläufig wohl daran festgehalten werden, daß auf der Ebene der ästhetischen Rezeption die Analyseleistung des Interpreten in dem Maße dem Leser zugute kommen kann, wie sie zur Uberführung des Textes in ein ästhetisches Objekt beiträgt. Die Situation ist vollkommen verändert, sobald die Untersuchung nicht mehr die ästhetische Rezeption im Auge hat, sondern sich in der Weise verselbständigt, daß sie Fragestellungen verfolgt, die allein im Metabereich der fachwissenschaftlichen Forschung angesiedelt sind, also z.B. solche, die der Entstehung bzw. im engeren Sinne dem Gestaltungsprozeß eines literarischen Werks gelten. Die Möglichkeit einer direkten Vermittlung der dabei erzielten Ergebnisse an eine ästhetisch gerichtete Rezeption erscheint, wie schon gesagt, grundsätzlich ausgescplossen. Wo andererseits, besonders im Zusammenhang' mit historisch weiter entfernten Werken, histori-
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sehe Voraussetzungen allgemeiner Art, in Gestalt z.B. der vorausliegenden Gattungssituation, rekonstruiert werden, kön'nen solche Arbeiten dazu beitragen, daß heutige Rezeption nicht den Einseitigkeiten eines allein an irgendwelche gegenwärtige Voraussetzungen gebundenen unmittelbaren Zugriffs anheimgegeben wird. So gesehen wird man sich frqgen dürfen, ob und, wenn ja, wie die so hoch im Kurs stehende (freilich hie und da schon ausgewechselte) Bezeichnung "Intertextualität" überhaupt noch zu rechtfertigen ist. Im zuletzt genannten Fall wird sie als Terminus letztlich hinfällig, insofern es bei den betreffenden Voraussetzungen nicht um Einzeltexte geht; wo aber, wie im ersten Fall, Bezüge auf einzelne individuelle Vortexte analysiert werden, scheint der
Beg r i
f f
zunächst nichts
erkennbar anderes auszudrücken, als was traditionellerweise Gegenstand literaturhistorischer Forschung ist. Was den letzten Punkt anlangt, auf den es hier allein ankommt, so war eingangs bereits auf neuere anspruchsvolle Bemühungen der Intertextualitätsforschung verwiesen worden, und man könnte in der Tat daran denken, diesen Terminus, rein theoretische Beiträge hier
ausklammernd, auf Analysen wie die von Wolf Schmid zu
beziehen, der vornehmlich in Puskins Posthalternovelle die Bezogenheit auf Vortexte als differenzierte Autorstrategien darstelltli. Das Besondere an Schmids Beitrag kann in zwei Momenten erblickt werden: einmal in dem objektiven Umstand, daß diese Bezogenheit durch den ganzen Puskin-Text hindurch vorgewiesen wird, sodann in der Qualität ihrer minutiösen und ingeniösen Erschließung. Aber es erscheint; hält man sich an den zweiten Punkt,.doch zweifelhaft, ob gerade das qualitativ Besondere eine nun enger definierte Kauegorie Intertextualität begründen kann, denn auch dieser Ansatz bleibt grundsätzlich der produktionsästhetischen Perspektive verhaftet, und' Schmids Versicherung, daß der zeitgenössische hochselektive Adressatenkreis auch die feinsten Subtexte und Anspielungen verstanden habe (1981: 127f.), bedeutet keineswegs, daß die betreffenden Leser die Verarbeitungsleistungen Puskins im ästhetischen Wahrnehmungsakt relationeil vergegenwärtigt hät-
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ten (davon bleibt selbstverständlich unberührt, daß die Differenz der Posthalternovelle zum zeitgenössisch etablierten Gattungsmodell, auf generischer Stufe also, erfahren werden konnte).,Wenn dem aber so ist, ist auch der erste Punkt, der hervorgehoben wurde, zu relativieren. Etwas anders verhält es sich mit Warnings Untersuchung, weil hier tatsächlich, freilich gestützt auf eine generische, wenn auch sehr differenzierte Referenz, Intertextualität ästhetisch für den Leser erfahrbar gemacht wird. Aber es hat nicht den Anschein, als ob vergleichbare Fälle, die also nicht eigentlich Textgattungen mit konstitutiver Rückbezüglichkeit zuzurechnen sind, sich in großer Zahl erheben werden lassen. Hacht man somit, wie dies hier nahegelegt wird, die Eigenständigkeit des Begriffs Intertextualität vorn Rezeptionskriterium abhängig, bzw. läßt man Intertextualität nur dort gelten, wo sie dem Adressaten ästhetisch vermittelbar ist, so wird damit im Grunde hicht viel mehr ausgesagt, als was in manchen Ansätzen schon in der einen oder anderen Weise angelegt erscheint. Geht man hinter die Einführung des Terminus durch Julia Kristeva zurück auf die Dialogizitätsthese Bachtins, so finden sich gerade in seinen Anschauungen vom "dialogischen", "zweistimmigen" und "mehrstimmigen" Wort, von der je spezifischen Kontextprägung des Sprachmaterials, der Pluralität sprachlicher Welten usw. in Verbindung mit den Vorstellungen zum Roman Anhaltspunkte genug, die darauf hinweisen, daß ein solcher Dialog erst als inszenierter, innerhalb eines Werks also, ereignishafte Evidenz gewinnt. Auch wenn Bachtins RabeLais wesentlich auf der Karnevalisierungsthese beruht, so
ist der Roman doch auch bei ihm in einern allgemeineren Sinn ein markantes Beispiel dafür, wie durch den Zusammenspann heterogener sprachlicher und kultureller Kodes Generizität, die andererseits Bestand und Verständnis von Texten sichert, in thematisierender Verfremdung aufgebrochen werden kann, wie eine dadurch bewirkte evokatorische Dispersion eine Pluralität von Instanzen zu fragwürdigem Aufschein bringt, ein packenderes Schauspiel ~lso veranstaltet wird, als es je durch eine sich im historischen
~acheinander
erzeugt werden könnte.
vollziehende Dialogizität
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Gewiß ist auch in diesem Fall das ausschlagende Moment nicht der Einzeltextbezug, sondern die Zurschaustellung von generischen Komplexen, die der Leser leicht erkennen und deren Verformung er ja nachvollziehen konnte. Diese Höglichkeit ist sicher grundsätzlich dort eingeschränkt, wo \'Jerkeauf bestimmte Vortexte repräsentativ bezogen bleiben; aber
selbs~
bei Pa-
rodie und Pastiche u.ä. ist zu bedenken, daß nicht nur die Basistexte meist einen hohen Bekanntheitsgrad aufweisen, stärker also im kollektiven kulturellen Wissen verankert sind, sondern mit der Transformation in der Regel auch etwas Generelleres getrOffen wird als nur ein Einzeltext (z.B. Gattungen oder Gattungskomponenten, Autorenstile, institutionalisierte Diskurse u.ä.). Nur dort, wo, wie im russischen SyIDbolismus, l2 , in
in der "Kultur-Giossolalie" der russischen Akmeisten Texten T.S. Eliots oder wo noch
in~er
durch die Montage von
Zitaten aus eigener wie fremder Literatur dem Verständnis Voraussetzungen eines sehr exklusiven Anspruchsgrades gesetzt scheinen, treten ernstere Probleme auf. Uber das Verhältnis der jeweils intertextuell
spezifizierten Projektions leistungen
zu den Möglichkeiten der Konkretisation kann ohne nähere Betrachtung einschlägiger Texte nicht befunden werden. Aber solange Dichtung nicht zum kabbalistischen Ritus oder zum Rätselspiel degeneriert ist, kann man auf eine Art Kompensationsprinzip setzen: Je esoterischer oder auch privater die !nhaltliche Gestaltung, desto reicher die Möglichkeiten einer gleichsam ins Freie gesetzten Konkretisation, zuma'l dann, wenn diese von hochsemantisierten und im Zusammenspann sich gegenseitig potenzierenden Kompositionselementen, den Zitaten also, ihren Ausgang nimmt. Sieht man von den zuletzt genannten Sonderfällen ab, so kann man wohl grundsätzlich davon ausgehen, daß IntertextuaIität, wo sie als zentrales Ereignis inszeniert wird, in der einen oder anderen
W~ise
über generelle und generische Ele-
mente bzw. Verfahren bedeutet wird, deren Allgemeinheitsgrad sich von Fall zu Fall, meist im Hinblick auf das ins Auge gefaßte Publikum, gewiß unterschiedlich bemißt, aber gleichwohl die Bedingung zu sein scheint, daß Intertextualität dem Leser überhaupt positiverfahrbar werden kann. Aber auch in ganz
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anderem Zusammenhang wird die hier herausgestellte Bedeutung des Rezeptionskriteriums greifbar. Es wurde schon gesagt, daß Intertextualitätsanalysen meist den Hinweis enthalten, daß das zeitgenössische Publikum die rekonstruierten Verarbeitungen sicher auf seine Weise erkannt hätte. Was ist aber der Sinn einer solchen Bemerkung, wenn nicht der, im historischen Leser bzw. in dessen Rezeption die eigentliche Bestätigung, gewissermaßen den Schlußstein der Rekonstruktion intertextueller Transpositionen zu verankern. In der Tat bleibt, wo eine solche Ratifizierung nicht erwogen oder nicht bedacht wird, das Ergebnis der Analyse nicht anders wie jede historische Rekonstruktion hypothetisch und darum an 'Meta'-Qualitäten wie Konsistenz, Schlüssigkeit u.ä. gebunden. Aber auch wo letztere erreicht werden, ist die theoretische Offenheit eines literarischen Werks nach hinten nicht schon ein ilir allemal bewältigt. Man kann natlirlich als Interpret, zumaldann, wenn die Frage der Relevanz der Vortexte weniger Aufwand erfordert, das Geschäft lockerer betreiben und sich selbst als 'Uber-Leser' einsetzen, verhältnismäßig unbekümmer.t. VOl} solchen Fra- . gen "bricolage", "jeu" und "plaisir de l'hypertexte" veranstalten (Genette 1982: 452) und den eigenen Leser am Genuß dieser schönen Beschäftigung teilhaben lassen. Es ist jedoch alles andere als Verbissenheit, demgegenüber an der Eigenständigkeit des Objektlesers festhalten zu wollen. Sie ist in einem allgemeinen Sinn, auch da, wo Anleitung im Rezeptionsvollzug in Anspruch genommen wird, schlechthin nicht hintergehbar, und das gilt ·selbst dann, wenn sie durch historischen Kommentar und Einweisung überhaupt erst 'operabel' gemacht wird. Die Eigenständigkeit kann sich unter Umständen sehr weit behaupten; es erscheint mir jedenfalls, um dies abschließend noch einmal zu bedenken zu geben, keineswegs von vornherein ausgemacht, daß zum Beispiel die Aufnahme spezifischer Anspielungen und Verweise auf einer generischen Stufe, auf der sie als geringer konturierte Evokationen erfahrbar werden, grundsätzlich eine mindere, ja auch weniger adäquate Konkretisationsleistung bedeutet. Man kann sich, gewiß, von der ganzen Leserproblematik absetzen, wie es ja langer historischer Praxis entspricht. Aber wo es um das Textverständnis geht, kann neben
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den sonstigen wissenschaftlichen Fragestellungen die originäre Bestimmung des literarischen Kunstwerks nicht vernachlässigt werden - allein schon deswegen nicht, weil der Interpret hier selbst zumindest zeitweise gehalten ist, die Perspektive des Lesers zu teilen.
A N M E R K U N GEN 1.
Diese Information legt Mörike zwar dem Schauspieler Larkens im Malep Nolten in den Mund, der dort als Autor eines Intermezzos "Der letzte König von Orplid" figuriert und sein vornehmes Publikum über die Entstehunq seines Stückes unterrichtet; sie darf jedoch durchaus biographisch verstanden werden (Text nach der Ausg. von Herbert Meyer, E.M., Wepke und Bpiefe, 3. Band: Malep Nolten, Stuttgart 1967, S. 95 f.).
2.
Eine Interpretation, die versucht, das biographische Faktum ästhetisch fruchtbar zu machen (also etwa als Geste mythischer Findung des lyrischen Ichs oder wie immer zu deuten), soll damit keineswegs ausgeschlossen sein.
3.
Vgl. dazu BEN-PORAT 1976 und insbesondere die weiterführende Untersuchung von PERRI 1978.
4.
Vgl. dazu neuerdings umfassend GENETTE 1982.
5.
So sagt denn auch Laurent JENNY, der die Intertextualitätsproblematik auf etwas simple Weise mit. dem Lektürevorgang zusammenbringt ("Chaque reference intertextuelle est le li eu d'une alternative: ou bien poursuivre la lecture en ne voyant la qu'un fragment comme un autre ( ... ) ou bien retourner vers le texte-origine en operant une sorte d'anamn~se intellectuelle"), daß sich diese Alternative nur dem Kritiker ("analyste") offenbare (JENNY 1976: 266).
6.
So etwa, wenn RIFFATERRE nach einer Erklärung sucht, warum ln einern längeren Lautreamont-Zitat im Vergleich zu "seinem Intertext" so viel "exc~s dans la satire" 'anzutreffen sei (er denkt dabei unter anderem an die "Aggressivität" des Autors und an den "Pessimismus des Themas", 1979b: 142). Es ist im übrigen verwunderlich, daß RIFFATERRE gerade dort Möglichkeiten eines nicht spezifisch inter textuell orientierten Leserverständnisses zuläßt, wo es ihm um die Illustrierung eines literaturgeschichtlichen Ansatze~ geht (1979a: 91 ff.).
7.
Ich denke hier an Pastiches, die in der bloßen Nachahmung einer Autoren-Schreibart über den Rang einer bloßen Varietenummer kaum hinauskommen. Sie sind in dieser absoluten veräußerlichten Form freilich selten in selbständiger Veröffentlichung anzutreffen. Ausführlich zum Pastiche jetzt GENETTE 1982.
- 108 8.
Vgl. dazu die Interpretation bei STIERLE 1967: 109 ff.
9.
Vgl. z.B. SCHMID 1981 (bes. S. 127), GENETTE 1982: 45l. GENETTE bezieht den "Gewinn" auf jeden "hypertexte", der als solcher wahrgenommen wird. Da jedoch die Kategorie des 'hypertexte' ausgesprochene Reflexgattungen umfaßt, ist der Gewinn hier kaum mehr als das Komplement eines angemessenen Verständnisses.
10. Wie andererseits natürlich die Interpretenanalyse reichere funktionale Möglichkeiten entdeckt. Vgl. tervenka 1978: 37ff. 11. Vgl. SCHMID 1981, sowie seine daran anschließende Vorlage in diesem Ban~. 12. Vgl. dazu neuerdings die eingehende Untersuchung von Renate LACHMANN (im Druck).
L I T E RAT U R BEN-PORAT, Ziva, 1976. The Poetics of Literary Allusion. In: PTL Bd. 1:1, s. 105-128. tERVENKA, Miroslav, 1978. Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks, hg. von F. Boldt und W.-D. stempel, München. GLNETTE, Gerard, 1982. Palimpsestes. La litterature au second degre, Paris. JENNY'oLaurent, 1976. La strategie de la forme. - In: Poetique n 27, S. 257-281. LACHMANlJ, Renate (im Druck). Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma dialogisierter Lyrik.- In: Poetik und Hermeneutik XI. PERRI, Carmela, 1978. On Al1uding. - In: Poetics Bd. 7: 3,S. 289-307. RIFFATERRE, Michael, 1973. Kriterien für die Stilanalyse. In: M.R., Strukturale Stilistik, München, S. 29-59. 1979a. La production du texte, Paris. 1979b. Semiotique intertextuelle: L'Interpretant. - In: Rhetoriques, Semiotiques, Revue d'Esthetique n° 1/2, S. 128-146. 1979c. La syllepse intertextuel1e.-In:Poetique n° 40, s. 496-50l. 1980. La trace de l'intertexte.-In:La Pensee fran~aise (oct.), S. 4-18. 1981, L'intertexte inconnu.~In: Litterature Bd. 41-44, S. 4-7.
-
109 -
,SCHMID, Wolf, 1981. Intertextualität und Komposition in Puskins Novellen Der Schuß und Der Posthalter. - In: Poetica Bd. 13: 1 j 2, S. 82 -13 2 . STIERLE, Karlheinz, 1967. Dunkelheit und Form in Gerard de Nervals 'Chim~res', Mlinchen. WARNING, Rainer, 1982. Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire. - In: W. Oelmliller (Hrsg.), Kolloquium Kunst und Philosophie, Bd. 2: Ästhetischer Schein, .PaderbornjMlinchenjWienjZürich, S. 168-207.
Hans Ulrich GUMBRECHT
INTERTEXTUALITÄT UND HERBST / HERBST UND NEUZEITLICHE REZEPTION DES MITTELAL TERS
xv.
1. Die Cancioneros des Perspektive
Jahrhunderts unter dialektischer
Cancioneros sind Sammlungen von Texten, die metrische For-
men haben und - für gewöhnlich - in dem der Kompilation vorausgehenden Jahrhundert geschrieben wurden; sie entstanden - vor allem - während des
xv.
Jahrhunderts in den iberischen König-
reichen Arag6n, Kastilien und Portugal und sind bis zum letzten Viertel des
xv.
Jahrhunderts meist in handgeschriebenenCodices,
seither überwiegend in gedruckten Versionen überliefert; viele Cancioneros
präsentieren die integrierten Einzeltexte in Text-
gruppen, denen verschiedene Konstitutionsprinzipien zugrunde liegen können. Der Begriff der t ä t"
"1 n t e r t e x t u a I i -
thematisiert also in Bezug auf diese Gattung
B e z i e h u n gen Ein z e I tex t kor p u s
z w i
e n,
prä sen t
s c h e n
w e Ich e s i n d .
S e r i
i m
e n
die von
G e sam t-
Es geht hier - wenig-
stens primär - weder um die Fremdbestirnrntheit textueller Gestalten durch jeweils andere Texte, noch um die Beziehung mit solchen anderen Texten, welche den Rezipienten nicht in Kopräsenz vorlagen. Die Hispanistik hat sich bis heute mit den Cancioneros unter drei Perspektiven befaßt. Es gibt
e r s t e n seine
Fülle jener - im Geist des Positivismus erarbeiteten - paläographischen und buchgeschichtlichen Bestandsaufnahmen, auf welche eine pragmatisch orientierte Literaturgeschichte mit Gewinn zurückgreifen kann.
Z w e i t e n s
haben sich literaturge-
schichtliche Gesamtdarstellungen ihrer Verpflichtung zur Erwähnung und kurzen Charakterisierung der Gatturig "Cancionero" meist
- 112 -
dadurch entledigt, daß sie konstatierten, was allein vor dem Hintergrund eiher (trivialisierten) romantischen Ästhetik gesagt werden kann: der ihnen zugrunde liegende Gestus der Kompilation sei die Konkretisation einer epigonalen Attitude. Wo schließlich
d r i t t e n s
der "Kunst der Interpretation"
ergebene Literaturwissenschaftler sich mit den Cancioneros befaßt haben, waren sie geneigt" Einzeltexte auszugliedern, wobei ihre Wahl naturgemäß auf (gattungs-)atypische Beispiele fiel, weil sich nur solchen Paradigmen das Verdienst der Originalität andichten ließ. DieoGattung "Cancionero", so läßt sich zusammenfassen, bleibt so lange ein sperriger Gegenstand, wie das (literar-) h i s t o r i s ehe
I n t e res s e
für sie gekoppelt ist mit der Verpflichtung, ihre übe r äst h e t i s ehe Qua 1 i t ä t z e i t 1 ich e zu erweisen. Aber welche Gattungen nähmen sich nicht sperrig aus, wo immer dieses Junktim ernst genommen wird? In Paul z~mthors Buch Le ma;que et la lumidre (1978) steckt ein Fragepotential für eine Aktualisierunq dieses literarhistorischen Gegenstands. Zumthor konstatiert übrigens einleitend, daß er die Grands Rhetoriqueurs und die cancioneros für Parallelphänomene hält, so daß die Berechtigung einer Applikation jener Perspektive, die er für die Analyse der Texte der Grands Rhetoriqueurs ausgearbeitet hat, auf die cancioneros
gesichert ist. Was die Grands Rhetoriqueurs geschrieben haben, steht - ebenso wie die Texte der cancioneros - einerseits in eindeutiger form- und motivgeschichtlicher Abhängigkeit von (hoch-)mittelalterlichen Vorgaben; andererseits werden diese Vorgaben durch die Grands Rhetoriqueurs und in den Cancioneros so weit aus ihren primär-pragmatischen Kontexten entfernt, daß sich diese Beobachtung zusammen mit dem Auftauchen ganz anders gestalteter metrischer Texte in der Epoche der Grands Rhetoriqueurs und der cancioneros zu der These ummünzen läßt, sie mar-
kierten
geradezu emblematisch -
den
"H ~ r b s t"
den
"H e r b s t"
his tor i s ehe n f
0
1 gen d e
1 i t e rar -
und End e
das
auf
des
Mit t e l a l t e r s. Wir wollen Zumthors Perspektive in zwei prägnante Fragerichtungen ausdifferenzieren, zwischen deren Beantwortungschancen - wie sich noch erweisen wird - ein dialektischer Zusammen-
-
hang besteht. Der
113 -
e r s t e n
dieser beiden Frageperspek-
tiven liegt ein dominant text- und kommunikationstheoretisches Interesse zugrunde: läßt sich - vorerst auf der Ebene einer eher "unverbindlichen" Typologie - ein Zusammenhang zwischen der spätmittelalterlichen Hofkultur, die vor allem Huizinga mit dem Namen "Herbst des Mittelalters"
(1941)-.bezeichnet, als pragmatischen
Kontext und jener besonderen Form von Intertextualität plausibel machen, den die Cancioneros verkörpern? Um unser Anliegen - mit anderen Worten - zu verdeutlichen: es- geht hier um eine Ausdifferenzierung des - vagen - Intertextualitätsbegriffs auf textpragmatischer Grundlage. In die
z w e i
t e
Frage hingegen
geht ein dominant literarhistorisches Interesse ein, das nicht auf Spanien und nicht auf die Cancioneros begrenzt ist: ermöglicht eine differenzierte Erfassung jenes Typs von Intertextualität, der die cancioneros charakterisiert, Aufschluß darüber, welchen mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen - welchen Interessen und Einstellungen - die Reaktualisierung und Hypostasierung der eigenen kulturellen Vorwelt im "Herbst des Mittelalters" zuzuschreiben ist? Wir können spezifizieren: Bezugspunkt unserer zweiten Frage ist ein Problem literaturwissenschaftlicher Historiographie, die etwa darüber zu reflektieren hat, ob sie - wie Huizinga - den Kontext der "Mittelalter-Rezeption" im Westeuropa des XIV. und XV. Jahrhunderts (spät-)mittelalterlich ansehen will oder hier
n 0 c hals b e r
e i
t
s
die neuzeitliche Rezeptionsgeschichte mittelalterlicher Literatur einsetzen läßt. Um
Mißverständnis~en
vorzubeugen: die Gegen-
stände der Literaturgeschichte "selbst" werden uns - so lange angestrengt und gebannt wir auch auf sie blicken mögen - keine Lösungen nahelegen. 2. Einzeltexte. / Textkonfigurationen / cancionero Der Cancionero de Baena ist um 1450 am Hof Juans 11., also in den letzten Jahren der Regierungszeit dieses Königs, von dem 1 konvertierten Juden Juan Alfonso de Baena zusammengestellt worden ; der Kompilator nennt sich selbst im Prolog Schreiber und Diener des sehr hohen und sehr edlen Königs von Kastilien, don Juan , (4) und betont seine jüdische Herkunft, wohl weil sie in Kastilien
-
bis gegen Ende des allen kulturellen
xv.
114 -
Jahrhunderts als ein Ehrentitel in
Handlungsb~reichen angesehen war. Doch auf
diese Angaben zur Pragmatik des Corpus werden wir erst im nächsten Abschnitt unserer Skizze näher eingehen, um sie als Voraussetzung für eine Beantwortung der beiden Leitfragen zu nutzen. Vorerst wollen wir die in den Cancionero de Baena aufgenommenen Einzeltexte und die Modi ihrer Konfiguration unter die Lupe n~hmen. Wenn man feststellen kann, daß diese Einzeltexte
~
mit Ausnahme des bukolischen Szenariums -
a I I e
Themenbereiche abdecken, die in der kastilischen Kultur (und nicht allein der kastilischen Kultur christlicher provenienz) bis zur Mitte des XV. Jahrhunderts gegenwärtig waren, dann mag das auf eine Möglichkeit zur historiographischen Strukturierung spätmittelalterlicher Literatur verweisen, die wir an anderer Stelle vorgeschlagen haben (Gumbrecht 1980: 95-144). Zahlreiche Texte des XIV. und XV. jahrhunderts umschließen eine ähnliche thematische Fülle, und deren Verhältnis zu anderen- auch gesellschaftlich institutionalisierten - Sinnsystemen läßt sich als g a t ion
r ein
r e kur s i v e
beschreiben: in solchen Texten können
N e a I I e
Sinnelemente erscheinen, welche für jegliche anderen Sinnsysteme der gleichen Epoche charakteristisch waren, ohne daß irgendwelche Inhalte ausgeblendet werden, die zu irgendwelchen anderen Sinnsystemen gehörten. Solche Texte (oder Bilder oder Feste: wir hatten die rein rekursive Negation mit Bachtins Konzept der "Karnevalskultur" in Zusammenhang gebracht) können einerseits als
K r i
5
e h s y m p tom e
gesehen
werden, als Folge der Selektionsschwäche sozialer (Sinn-) Systeme und Institutionen aus dem frühen und hohen Mittelalter in einer gewandelten Umwelt. Andererseits ist das durch rein rekursive Negation entstehende Sinn-Chaos (etwa der-"Karnevalstexte") oft 1 i
a u c h
n o t wen d i g e
sog a r A n t
t ä t
s g e s chi c h t
I ich
C h a r a k t e r i s t i k ums
z e i
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Vor s t u f e ,
i z i p a t ion
des
w ich t
der
i g s t e n Neu -
F r ü h e n
die von den überkommenen sozialen
j a
m e n t a -
~ystemen
und
-
115 -
Institutionen nicht mehr gebändigte Sinnfülle bedarf des Subjekts als einer flexiblen Instanz der Selektion und der Sinngebung. Paradebeispiel in diesem Zusammenhang war der Libro de buen amor
(aus der Mitte des XIV.
J~hrhunderts),
w6 das Er-
zähler-Ich (das zugleich Protagonisten-Ich ist) als Integrationspunkt heterogener Sinnhorizonte·fungiert (Gumbrecht 1980: 131134) . Der Fall des cancionero de Baena ist komplizierter. Nicht nur weil solche Spannungen zwischen einzelnen Sinnvorgaben und dem Konvergenzpunkt ihrer Selektion in Kastilien um 1450 kaum mehr an der Tagesordnung waren (auch wenn weite Bereiche der Erfahrungsbildung und des HandeIns erst in den folgenden Jahrzehnten vom Subjekt-zentrierten Stil der Sinnkonstitution durchsetzt werden sollten). Erstaunlich ist vor allem, daß die Einzeltexte des
Cancionero de Baena in kleinen Text-Gruppen kon-
figuriert sind, statt ihren Ort in einer übergreifenden Gesamtstruktur zu finden. Wir wollen aus den vier ersten dieser TextKonfigurationen
Tex t - K
0
n f i gur a t ion s -
Typ e n induzieren, wobei wir uns die - nicht selten zu kurzen Kommentaren expandierten - Uberschriften der Einzeltexte zunutze machen, um die je spezifischen Isotopie-Ebenen einzelner Konfigurationen zu erkennen. Die den
e r s t e n
ein e m
v i e r
Ein z e 1 tex t e
wer-
Autor zugeschrieben, dem Troubadour ~aQla~,
der in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts gelebt haben soll (und viel später
~u
einem der
Lieblings~Protagonisten
spanischen Romantiker avancierte); es handelt sich in Fällen um che
der
all e n
canti gas in galizisch-portugiesischer Sprache, wel-
all e
die Situation des Liebesleids (trabajo) evozieren.
Solche Monotonie wird gebrochen durch die Uberschrift des dritten Einzeltexts.(sie weist darauf hin, daß er nicht nur als Invektive gegen die - grausame - Liebe, sondern auch - allegorisch, so ist zu ergänzen , - als Anspielung auf den MaQlas zeitgenössischen kastilischen König Pedro el Cruel gelesen werden kann) und ebenso durch die Uberschriften des vierten und fünften Einzeltexts (sie lenken die Aufmerksamkeit auf die gebotene Perfektion in der Einhaltung des Metrums und des Reimschemas) . Die Homogenität dieser Textgruppe beruht auf der Zu schreibung aller Einzeltexte auf
ein e n
Autor, dessen Name wohl schon im
xv.
Jahrhundert
-
116 -
untrennbar mit dem Szenarium der hochmittelalterlichen hö'! .....
fischen Liebe assoziiert war.
All das ermöglicht die - für
den "Herbst des Mittelalters" so typische - spielerische Vergegenwärtigung der Vergangenheit, ohne daß - wie wir gesehen haben -direkte Bezugnahmen auf Persönlichkeiten der Gegenwart und .eineFaszination durch die Virtuosität der Sprachbeherrschung ausgeschlossen wären. Die
z w e i t e
Tex t g r u p p e
umfaßt (je nach
Perspektive) fünf (oder:sechs) Einzeltexte. Auch sie werden ein e m
Autor aus dem XIV. Jahrhundert zugeschrieben, dem
Ar~idyano
de Toro. Die Situationen, in denen das fiktionale Ich
erscheint, sind
h i n g e gen
v i e l f ä 1 t i g . Wie bei
dem ihm zeitgenössischen Ma~las finden sich auch beim Ar~idyano de Toro zunächst vier cantigas. Die vierte cantiga soll, so ihre Uberschrift, kurz vor dem Tod des Autors entstanden sein. Schließlich folgt - nach dem Abgesang zur vierten cantiga, welche als eigenständiger Text abgegrenzt wird - ein an Villon erinnerndes fiktionales Testament, das in dem neuen und komplexen Metrum des arte mayor gestaltet ist. Bei diesem zweiten Text-Konfigurations-
Typ ,fällt auf, daß die geordnete Pluralität in Ansätze einer Biographie-Strukur münden kann. Im Kontext dieser rudimentären Biographie-Struktur entfaltet das Wort "arcidyano", das als Bezeichnung für eine berufliche Rolle und einen gesellschaftlichen Rang Teil des Autoren-Namens ist, ein Potential an Konnotationsmöglichkeiten, das seinerseits gewiß bei vielen Rezipienten noch durchdi.e Assoziation mit dem Autoren-Namen "Arcipreste de Hita" intensiviert wurde, welchen man mit dem auch noch hundert Jahre naah seiner Entstehung durchaus populären Libro de buen amor verband. Sechs Einzeltexte konstituieren die g r u p p e.. ein
d r i
t
t
e
Text-·
Wiederum taucht in allen Einzeltext-Uberschriften
Autoren-Name auf: Don Pero Veles de Guevara. Der Konfi-
gurations-Typ, auf den diese z w i s c h·e n
Text~Gruppe
schließen läßt, liegt
den beiden bisher aufgezeigten Konfigurations-
Typen. Denn einmal produzieren all diese Texte (wie der erste Konfigurations-Typ)
ein
Situations-Muster: das in den Text
eingeschriebene Ich wendet sich an eine textimmanente Adressaten-
Rolle, welche (mit Ausnahme des fünften Textes, der in der Attitude einer Hinwendung zu Gott konstituiert ist) von einem Namen mit (grammatikalisch) weiblichem Geschlecht besetzt wird. In den beiden einleitenden Mariengesängen handelt es sich um die Gottesmutter, dann um Juana, die Königin von Navarra, im vierten Text (unter allegorischer Perspektive) um die Stadt Sevilla, aus der das Ich vertrieben wird, schließl'ich um eine Dame am Hof des Infanten Fernando, die "sehr alt" war, so daß es keinen Mann im ganzen Königreich gab, der sich mit ihr verheiraten wollte, weil sie so häßlich und alt und arm war, obwohl sie aus sehr edlem Geschlecht stammte. (699) Auf der anderen Seite wird das rekurrente Situations-Muster von dem Sprecher-Ich und seinen weiblichen Adressaten, wie bereits zu sehen war,
g a n z
v e r s c h i e den
b e set z t
Gebet, Frauenlob, allegorische Klage, contemptus mundi, Trost. Durch die hier stets zu Kommentaren erweiterten Uberschriften reicht der dritte Konfigurations-Typ mit seinen Einzeltexten an das fUi eine Biographie charakteristische Niveau semantischer Differenzierung und Sequenzierung heran, ohne daß sich die Einzeltexte auch nur in Ansätzen in
ein e r
Identitäts-Figur ver-
einigen ließen. Hier (wie bei der zweiten Text-Gruppe) gewinnt man den Eindruck, daß die Faszination durch biographische Partikular ität in einem (latenten) Verhältnis wechselseitiger Exklusion zu dem Interesse an textueller Variation und Perfektion steht: denn nur in der Uberschrift zum ersten Text der dritten Gruppe wird darauf verwiesen, daß eine cantiga "wohl eingerichtet" sei - und dies trotz der Verwendung hochkomplizierter metrischer Schemata vom dritten bis zum sechsten Einzeltext. Tex t - G r u p p e v, i e r t e n Autoren zugeschriee i v e r s c h i e den e n ben: dem Diego Martines de Medyna, dem Fray Lope de Monte, einem Die acht Texte der
werden
d r
frayle. Gemeinsam konstituieren die cantigas
e
preguntas
e
desires
dieser Serie - nicht trotz, sondern durch die Pluralittit dei Autoren -
ein e
Situation: die Situation der theoloqischen
Disputation. Die Disputation ist ein vierter (und im Gesamt-Corpus sehr häufiger) Text-Konfigurations-Typ des Cancionero de Baena. In der vierten Text-Gruppe, wo er zum ersten ,Mal erscheint, geht es in Fragen und Antworten um das Theologem der "Unbefleckten Empfängnis", das (wohl über die semantische Isotopie-BrUcke "nicht vollzogener Liebe") in ihren beiden letzten Einzeltexten zum Problem
-
118 -
der Folgen jenes "platonismus" hinUbergespielt wird, zu dem die Regeln höfischer Liebe verpflichten. So "faszinierend" ("fasinado" taucht im sechsten Einzeltext der vierten Gruppe
auf) diese Fragen für Autoren und Rezipienten des
xv.
Jahr-
hunderts gewesen sein mögen - es fällt auf, daß die UberschriftKommentare nicht nur die Herkunft und die (Ordens-) Zugehörigkeit der Fragenden und Antwortenden spezifizieren, denen die Texte zugeschrieben werden; vielmehr finden sich ausgerechnet im Rahmen der Disputationssituationen häufige Hinweise auf sprachliche Versiertheit und auf den gesellschaftlichen Syrnbolwert dieser Kompetenz: Diego Martines von Medyna ... der ein ehrsamer Mann war und sehr intelligent und sehr gebildet: sowohl in den Schriftkünsten und allen Wissenschaften, als auch in seinem Stil und seiner Konversation bei Hof und inder Gesellschaft. (701) Auch wenn es vor allem die Geschlossenheit der einzelnen Text -
G r u p p e n
im Cancionero de Baena ist, die il1s
Auge fällt, läßt sich doch auch die Frage positiv beantworten, ob es eine Kohärenz
z w i s c h e n
diesen Gruppen
gibt. Allerdings kann man kein Grundprinzip der gruppenübergreifenden Kohärenz benennen,
sondern sich an den von Wittgen-
stein geprägten Begriff der "Familien-Verwandtschaft" erinnern, wenn man beobachtet, daß zwischen den letzten Einzeltexten einer jeweiligen Textgruppe und den ersten Einzeltexten der ihr folgenden Textgruppe meist Isotopie-Brücken bestehen, ohne daß diese stets auf derselben Phänomen-Ebene lägen. Alle .vier Texte der ersten Gruppe sind in
gali~isch-portugiesischer
cantigas
Sprache - und das trifft ebenso
auf die ersten vier Texte der zweiten Gruppe zu; die - auch in der zweiten Textgruppe dominierende Form der cantiga bildet noch einmal die Brücke hin zur dritten Text-Gruppe, die mit zwei cantigas zu Ehren der Gottesmutter einsetzt (obwohl sich zwischen dem letzten Text der vorausgehenden Gruppe, dem fiktionalen Testament, und dem ersten Text der ihr folgenden Gruppe keine Isotopie ausmachen läßt). Hingegen läßt sich vermuten, daß sich zwischen dem letztem Text der dritten Gruppe, dem Trost an die unverheiratete Dame, und dem Thema der ersten Texte der vierten Gruppe, der Unbefleckten Empfängnis, zumal für mittelalterliche Leser, eine
i
n -
-
haI t
I ich e
K
0
119 -
n tin u i t ä t
entdecken ließ.
Die Konsistenz zwischen der vierten und der fünften TextGruppe liegt darin, daß in der vierten Textgruppe einer der drei Disputanten
Die g
0
M art i
n
e
s
d
e
war, während alle Texte der fünften Gruppe
M e dyn a Gon~alo
M art i
n e s
d e M e d y n a zugeschrie-
ben werden. An dieser Stelle muß betont werden, daß solche gruppeninternen und gruppenexternen Konsistenzen von Kompilatoren des
Cancionero de Baena gestiftet wurden. Das mag - mit
Abstrichen - sogar für die Assoziationen zwischen Einzeltexten und Autorennamen gelten (es wäre beispielweise interessant zu untersuchen, ob sich der bis heute in Spanien lebendige Mythos vom LieDes leid des Troubadours Ma91as überhaupt je aus anderen Vorgaben speisen konnte als aus der Verbindung des Namens mit vier cantigas rekurrenten Inhalts im Cancionero de Baena). Die Intertextualitätsstruktur der verschiedenen Konfigurations-Typen ist mit größter Wahrscheinlichkeit Ergebnis einer Dewußt vollzogenen Sinnbildungsleistung. Allerdings wissen wir nicht, ob die uns vorliegende Struktur des Cancionero de Baena tatsächlich die von Juan Alfonso de Baena eingerichtete ist. Denn die Textliste am Ende des ältesten erhaltenen Codex (nach 1462) stimmt nicht mit der dort aufzufindenden (und von uns hier teilweise beschriebenen) Konfiguration von Einzeltexten übereln ( vgl. Blecua 1974-1979: 229-266). Es ist deshalb denkbar', daß wir nur dieses Verzeichnis, nicht aber die KompilationsStruktur, die uns überliefert ist, dem Hofschreiber Juans 11 verdanken. In keinem Fall jedoch ist die von den modernen Ausgaben wiedergegebene Struktur das Ergebnis
z u f ä 1
1 i ger
i n t e n -
die r t e
Reihung. Als eine (von wem immer)
Struktur aDer ist sie Symptom für den Gebrauch
der Cancioneros um die Mitte des XV. Jahrhunderts - ganz unabhängig von der besonderen Identität des Kompilators. 3. Der Codex im festlichen
Allta~
des Hofes
Wie kann die "Gebrauchssituation"
(Kuhn 1980: 1-18)
des am Hof JuansII von Kastilien entstandenen Cancionero .de
Baena ausgesehen haben? Vor dem Hintergrund der heute
-
120 -
üblichen Rezeptionsgewohnheiten wird unser Befund zur cancionero-Struktur zunächst keine
einschläg~ge
Funktions-
hypothese suggerieren, sondern nur Ratlosigkeit hinterla~sen.
Denn einerseits sind die Beziehunqen zwischen den
Einzeltexten komplexer als wir das - etwa - von Anthologien gewohnt
sind; andererseits ist die Sequenz der Einzeltexte
doch weit davon entfernt, sich zu einer narrativen Handlungsstruktur oder zu thematischer Einheit zusammenzuschließen. Wir wollen unsere - ungewöhnlich schwierige - funktionsgeschichtliche Frage einer Lösung näherbringen (und um mehr 'kann 'es in dieser hSkizze h nicht gehen!), indem wir uns a u f d e n
d a s
V e r h ä I t n i s t e x t i m m a n e n t e n
d e m
v 0 n
z w i s c h e n
u n d n a h e g e 1 e g t e n R e z e p t i 0 n s v e r h a 1 t e n konzentrieren. Hier erd e n
R 0 I I e n
T e x t e n
möglicht eine Text-Gruppe am Ende des Cancionero de Baena Aufschluß, deren Einzeltexte, so die Uberschrifts-Kommentare, allesamt zur Geburt Juans 11. im Jahr 1405 geschrieben wurden. Wir präsentieren zunächst den Wortlaut der UberschriftsKommentare: . Diese Rede machte und richtete ein: Herr Francisco Imperial, gebürtig aus Genua, der, wie man weiß, in der edlen Stadt Sevilla war und weilte; eben diese Rede machte er zur Geburt unseres Herrn, des Königs don Juan, als er in der Stadt Toro geboren wurde, im Jahr 1405, und sie ist begründet in schöner und subtiler Erfindung und in geschliffenen Schreibweisen. (413) Diese Rede machte der Meister Bruder Diego von Valencia vom Orden des Heiligen Franziskus als Antwort auf diese andere und obige Rede, die der besagte Herr Francisco zur Geburt des Königs, unseres Herrn, machte; eben diese Rede schrieb der besagte Meister auf dieselben Konsonanten wie der andere erstgenannte, und an einigen Stellen ahmte er ihn nach. (434) Diese Rede machte Bartolome Garcla von Cordoba, der jetzt Bruder im Kloster Freydeval in Burgos ist, als der König, unser Herr, in der Stadt Toro geboren wurde; über diese Eede freute sich der Herr König don Enrique, sein Vater, sehr. (449) Diese Rede machte er, als der König, unser Herr, in der Stadt Toro geboren wurde; diese Rede ist gut gemacht und gut abgezirkelt nach der Kunstart, in der sie begründet ist. (451)
- 121 -
Diese Rede machte don Moses, Chirurg des Königs don Enrigue, als der König, unser Herr, in der Stadt Toro geboren wurde. (453) Die Einheit dieser Text-Gruppe ist eine pragmatische: es handelt sich um fünf Glückwunsch-Gedichte zur Geburt des späteren Königs Juan 11. Das Verhältnis der ersten beiden Einzeltexte evoziert die Situation des Dichtungsspiels oder des Dichterwettbewerbs, denn der zweite Text wird als eine "Antwort" auf den ersten eingeführt, die stellenweise in Nachahmung übergehen soll. Konvergenzpunkt der Texte (3) bis (5) ist nicht die Situation des Dichtungsspiels, sondern die Beziehung von König Enrigue 111., dem Kindvater, zu den Autoren. Eine Lektüre der fünf Texte bestätigt, was jeder Literaturhistoriker sofort vermuten wird: diese Text-Gruppe aus dem Cancionero de Baena ist in ihren
(rekurrenten) semantischen
Strukturen hinreichend unspezifisch, um nicht nur alljährlich zur Feier des Geburtstages von Juan 11., sondern zu jeder Feier anläßlich einer Geburt oder eines Geburtstages am Hof verwendet worden zu sein. Diesen Einzelbefund kann man zu der folgenden - vorerst noch ungesicherten - These verallgemeinern:
die Text-Konfigurationen des Cancionero de
Baena sind weder universal verwendbar noch auf einmalige Er-
eignisse bezogen, vielmehr fügen sie sich in jeweils bestimmte
S i t u a t ion s typ end e s
Hof e s e i n
und können die solche Situationstypen konstituierenden t e r akt ion e n
I n -
s t r u k t u r i e ren .
Zwar beginnt der desir des Francisco Ynperial zum Geburtstag Juans 11. mit einer durchaus R e f e ren z
s p e z i fis ehe n
auf vergangene Wirklichkeit: die Schreie
der gebärenden Mutter werden in englischer Sprache in den Text
'eingefügt, weil die Mutter des Königs, Katilina von
Lancaster, Engländerin war ("Mod hed god hep") - aber die daran anschließende (und von Diego de
Valen~ia
wieder
aUfQenommene) allegorische Traumerzählung, in der die Planeten aus der astrologischen Konstellation des Jahres 1404 auftreten, um dem Neugeborenen eine große Zukunft zu verheißen, der
bietet
j e dem
H ö f 1 i n g
G e bur t s tag s f eie r
bei
j e -
eine situations-
- 122 -
typische Rolle an, die natürlich im jeweiligen
Einzelfal~'
variiert und spezifiziert werden kann. Wir wollen unsere These vom Bezug der Text-Gruppen des Cancionero de Baena auf höfische Situationstypen noch um
einen Schritt weiterführen. Juan 11. ist in die spanische Geschichte vor allem wegen seiner Hörigkeit gegenüber dem Favoriten Alvaro de Luna eingegangen, die seit dem
xv.
Jahrhundert
immer wieder gleichsam "psychopathalogische" Erklärungsversuche provoziert hat. Das bedeutet im Hinblick auf unsere Frage, daß die Reden des "Planeten Mond"
(=luna)
einen Horizont ambivalen-
ter Konnotationen immer dann eröffneten, wenn diese Text-Gruppe tatsächlich zur Feier des Geburtstages von Juan 11. aktualisiert wurde. Wir zitieren die einschlägigen Passagen im desir von Francisco Ynperial und in jenem von Diego de Valen~ia: In guter Gesundheit soll er leben, sagte der Mond, und sein Aussehen soll bei allen Gezeiten ausgeglichen sein; er soll nie in irgendeinen Sturm und nie in ein Verderben kommen. Die Luft seiner Gezeit soll gemächlich herankommen und gerade die Winde; Brote und Weinreben, Kräuter und Obstbäume sollen Uberflüsse haben, soviel in mir sind. Liebende Rosen und alle Blumen, Fische und Vögel und alles Wild sollen in allen Nuancen vollkommen sein. Seine Gezeit möge davon genug haben; und damit er noch fröhlicher leben kann, soll er Jäger aller Vögel sein, ein großer Jäger in unwegsamem Gebiet und ein großer Wildjäger, und ich gebe ihm meine Pfeile und meinen Bogen zum Geschenk. Und ich befehle, daß die Winde sanft seien, und daß es Uberfluß im ganzen Meer gebe; all seine Flotten, großen Schiffe und kleinen Schiffe sollen immer Wind im Rücken haben; und um sein Leben noch schöner zu machen (ihn noch mehr zu trösten), sollen ihm seine Söhne und Töchter in Gesundheit leben, außerdem sollen ihm Enkel und Enkelinnen dienen und alle seinem Befehl gehorchen. (427 f.) Der Mon d soll in diesem Kampf den Schiedsspruch sprechen und Uber den Infanten nach seiner Lebensart urteilen; er sagt: "Han soll ihm ein Bett und eine sehr königliche Wiege bereiten und ihm die besten Ammen geben und außerdem Freuden und Trost; man soll ihm Lieder und königliche Gesänge singen; mit solchen Freuden soll das Kin d aufwachsen; man soll ihm sogleich einen scharfen Blick geben. Feen sollen ihm von süßer Liebe singen und ihm immer besondere Genüsse bereiten; er soll immer nach der Art der Blumen blühen, die nie auf der grünen Wiese verfallen; wenn der starke Diener (="cryado"~ sc. der König) nach diesem Bild gerät, dann geziemt es dem guten Jäger ( sc. Gott, Alvaro de Luna?),. jenen Vogel, der am besten brütet (="criar") und am besten fliegt, in Ehren und Rang zu halten ... (444 f.)
-
Was
123 -
t e x t - i m man e n t
nicht mehr als
höchst konventionelle Enkomiastik ist, kann
e r
S i t u a t ion
i
ein -
n
der Geburtstags-Huldigung für
Juan II.zu einer Art des spottes geraten, gegen den sich der Beglückwünschte und Verspottete
nich~
.wehren kann, ohne
seine Hörigkeit durch eigenes Handeln gänzlich offenbar zu machen.
(Alvaro de) Luna sorqt' dafür - so darf man
diese Passagen verstehen -, daß sich der König kein Vergnügen versagen muß, daß es ihm deshalb aber auch nicht in den Sinn kommt, seine ererbte Rolle als Zentrum und Symbol der politischen Macht auszufüllen.
(Alvaro de) Luna bettet den
Neugeborenen (den König) in eine "königliche Wiege". Aber sollte diese vom Text ermöglichte Ambivalenz nicht einfach Symptom für Lizenzen in einer Ausnahmesituation, der Situation des höfischen Spiels nämlich, sein? So stellt es der Kompilator Juan Alfonso de Baena im ersten seiner beiden Prologe dar. Wer Anachronismen mag, wird die Formulierung akzeptieren, daß er dem König seinen cancionero als Medium zur Kom p e ,n s a t i o n
eines harten Alltags, als Hobby,
als "Ausgleichssport" anbietet: Und außerdem wird Seine sehr ehrfurchtgebietende und königliche Majestät durch die angenehmen und anmutigen und besonderen Dinge, die in ihm ( sc~ dem.Cancionero) geschrieben und enthalten sind, Ruhe und Entspannung von den Mühen und Anstrengungen und Sorgen haben, und er wird vergessen und entfernen und von sich werfen alle Traurigkeit und allen Kummer und alle Gedanken und Besorgnisse des Geistes, wie sie den Fürsten ihre zahlreichen und schwierigen königlichen Aufgaben oft verursachen und einbringen. (4 f.) Gerade solche - im XV. Jahrhundert alles andere als originellen - Funktionszuschreibungen für Hofliteratur haben es den Literaturhistorikern so leicht gemacht, "höfische Literatur" - vermein~lich problemlos - mit "Literatur" im Sinne unserer eigenen Epoche zu identifizieren. Wo diese Einschätzung nicht gärizlich fehlgehen soll, da muß es zu der "Spielsituation" tatsächlich einen "Alltag" gegeben haben,
von.de~
das Spiel
entlasten konnte. Was nun Juan 11. und seinen Sohn Enrique IV. angeht, so lassen uns die von zeitgenössischen Geschichtsschreibern verfaßten Biographien (denen man, wie wir an anderer Stel-
-
le
124 -
gezeigt haben [Gumbrecht 1983], zumindest in dem hier
relevanten Problemzusammenhang trauen darf) zweifeln, e s
übe r hau p t
" S pie I
a m
Hof"
ein
Jen sei t s
0
b
zum
g a b , ob nicht der gesamte
Interaktionsraum "Hof" von permanenten Spielen ausgefüllt war, außerhalb derer die Favoriten der Könige und ihre Komplicen - nur nicht die Könige und ihre Mitspieler selbst die von ihren legitimen Trägern nie ergriffene Macht benutzten. Fernan Pe~ez de Guzman, einer der Historiographen, auf die wir uns beziehen, stellt das poetologische Spezialistenwissen, den Geschmack, die Begeisterung des Königs für Ritterspiele einerseits und andererseits seine radikale Abstinenz von der Politik in einen so markanten Kontrast, daß wir unsere Frage als beantwortet ansehen können: Und weil sein Wesen eiqenartig und wunderbar war, ist es nötig, dessen Darstellung noch fortzusetzen: denn es verhielt sich so, daß er ein Mann war, der weise und klug sprach und die Menschen so gut kannte, daß er wußte, wer besser und genauer und anmutiger sprach. Es gefiel ihm, die klugen und anmutigen Hänner zu hören, und er merkte sich wohl, was er von ihnen hörte; er konnte Latein sprechen und verstehen; er las sehr gut; die Bücher und Geschichten gefielen ihm sehr, er hörte sehr gerne gereimte Reden und erkannte ihre Schwächen; es machte ihm große Freude, fröhliche und wohlformulierte Worte zu hören, und er verstand es sogar gut, sie selbst zu sagen. Er ging gerne auf die Jagd und .verstand die ganze dazu gehörende Kunst. Er kannte die Kunst der Musik, er sang und spielte gut, und auch das Turnier und das Lanzenspiel beherrschte er wohl ... trotz all der qenannten Begabungen aber wollte er nie auch nur eine Stunde von der Regierung seines Königreiches hören oder sich mit ihr beschäftigen, obwohl es in seiner Zeit in Kastilien soviel Aufruhr, soviel Unruhe und Unglück und Gefahren gab, wie es sie seit zweihundert Jahren in der Zeit keines Königs gegeben hatte - und das war seinem Königtum sehr abträglich. 2 Was Perez de Guzman, den man - soweit das im Hinblick auf die spanische Kulturgeschichte legitim ist - einen "Humanisten" nennen kann, freilich am meisten verwunderte und was zugleich unsere sozialhistorische These vom kastilischen Hof als "Spielwelt ohne Jenseits" am eindruckvollsten
b~legt,
ist die Beob-
achtung, daß der Exempelgehalt der vom König so gerne gelesenen Geschichten keinerlei Wirkung in seinem Handeln und verhalten zeitigte:
-
125 -
Und obwohl er in jenen Geschichten, die er las, das Unglück und den Schaden sah, welche den Königen und ihren Königreichen aus der Vernachlässigung und der Lossagung (sc. von ihren Pflichten) erwuchsen, und obwohl ihm auch von vielen Glaubensmännern und Rittern gesagt wurde, daß sein Königtum und sein Königreich dadurch in großer Gefahr waren, daß er sich nicht auf die Regierung seines Königreiches verstehen wollte, und daß sein Ruhm dadurch geschmälert wurde, und - was wichtiger war - daß sein Gewi~sen sehr belastet war und daß er einst Gott sehr genaue Rechenschaft würde ablegen müssen über das Leid, das seinen Untertanen durch das Ungenügen seiner Regierunq entstand (und dies umso mehr, als ihm Gott Intelligenz und Hirn gegeben hatte, um sich auf all das zu verstehen); trotz alledem und obwohl er sah, wie wenig man ihm Gehorsam hielt, und wie wenig Ehrerbietung man ihm entgegenbrachte, und wie wenig man seine Anweisungen und Befehle berücksichtigte, trotz alledem wollte er nie auch nur einen Tag sein Antlitz in diese Richtung kehren und seinen Geist damit bemühen, sein Haus und die Regierung seines Königreiches zu ordnen; vielmehr überließ er all diese Aufgaben dem Condestable (sc. Alvaro de Luna), dem er so sehr und in so einzigartiger Weise vertraute, daß es denen, die es nicht miterlebten, unglaublich erschien, denen aber, die es mit3 erlebten, ein wundersames und eigenartiges Werk ... Wenn der Hof Juans 11.
(und, wie wir belegen könnten,
der Hof Enriques IV.) eine vom Alltag der Machtausübung abgegrenzte Spielwelt war, dann können wir uns nicht nur vorstellen, welch~ Arten von Situationen durch den Gebrauch des Cancioneros konstituiert wurden, vielmehr eröffnet sich uns
,dann darüber hinaus die Ahnung, daß die Cancioneros,
C
0
d i ces
der
in denen die spätmittelalterliche Buchkunst der
spanischen Königreiche kulminierte, als "Kultgegenstände" diese geschlossene Spielwelt metonymisch repräsentierten. Nach solcher Repräsentation in
ein e m
Gegenstand mochte
ein Bedürfnis bestehen, weil die (spät-)mittelalterlichen Höfe - nicht nur in Kastilien - im Hinblick auf ihr Personal durchaus
heterogene Interaktionsräume waren: hier versammel-
ten sich Angehörige der verschiedenen Stände und der verschiedensten Gruppen. Die Einheit - oder die Abgeschlossenheit - der Höfe konstituierte sich darin, daß alle ihre Mitglieder in je verschiedenen Beziehungen zum König al's' dem offiziellen Zentrum und dem legitimen Repräsentanten
-
126 -
der Macht standen. Wo aber der Hof als Machtzentrum entleert war, da scharte, so vermuten wir, der König in der Rolle des Umaitre de plaisir u die Höflinge um sich; ihre Rollen im Spiel des Hofes waren ähnlich differenziert und abgestuft wie andernorts ihre Beziehungen zur Macht. Mit dieser Hypothese gewinnen wir eine neue Perspektive zum Verständnis der Schlußpassage aus dem ersten Prolog des Cancionero de Baena, welche hervorhebt, daß Angehörige verschiedener gesellschaftlicher Gruppen am Hof den Codex in je verschiedener Weise benutzen konnten: Und an diesem genannten Buch wird sich auch noch sein Sohn, der sehr ruhmreiche und sehr anmutige und sehr großzügige Prinz don Enrique, freuen und Genuß finden, und schließlich werden sich überhaupt qn diesem genannten Buch all die großen Herren seiner Königreiche und Herrschaften freuen, so wie die Prälaten, Infanten, Herzöge, Grafen, Marschälle, Doktoren, Heerführer, Admiräle, Meister, Priore, Ritter und Knappen und all die anderen Adligen und Edelmänner,ihre Jungritter und Diener und die Beamten des königlichen Hauses, die ~s gerne sehen und hören und lesen und verstehen mögen. (5) Trotz der überraschenden Eindeutigkeit, welche solche Formulierungen nun gewinnen, - unsere Rekonstruktion der Kommunikationssituation des Cancionero de Baena impliziert nie h t
die Vermutung, daß die Höflinge (und ihre Zeit-
genossen außerhalb des Hofes) diese Situation und ihre gesellschaftlichen Funktionen verstanden hätten. In einer brillanten Abhandlung zur historischen Spezifik von Intertextualitäts-Phänomenen im Spätmittelalter hat Daniel Poirion deutlich gemacht, daß Texte aus dem "Herbst des Mittelalters" beständig Referenzen zu einer außertextuellen - vermeintlichen - "Wirklichkeit" herstellten, welche die moderne Geschichtswissenschaft ohne Mühe als fiktionale (Spiel-)Welten entlarven kann: A mes yeux l'intertextualite est la trace d'une culture dans l'ecriture, que je vois etre, au Moyen Age, une reecriture. Culture laterale, definissant un code linguistique et de~ references ~ la vie, culture profonde, constituant la memoire qui s'inscrit dans legrimoire des textes. (1981:117) Aus der "Innenperspektive des Hofes" formuliert: wenn Juan 11. und die Höflinge, die um ihn versammelt lebten, - etwa - aus
-
127 -
der von den Cancioneros konstituierten Spielwelt heraustraten, dann mochten sie sich in einer "wirklichen Welt" wähnen; diese - vermeintlich - "wirkliche Welt" war jedoch - nun aus der "Außenperspektive des Hofes" formuliert - eine tex tue 1 1 e
S p i e 1 w e 1 t.
a u ß e r
~
Uns mutet diese außer-
textuelle Spielwelt durchaus heter0gen an. Denn in ihr waren - wie schon unsere Analyse der ersten Einzeltexte und TextGruppen aus dem Cancionero de Baena gezeigt hat - die Sphäre des Rittertu~sl die Sphäre des humanistischen Wissens und humanistischer Text-Kennerschaft, die Sphäre (theologischen) Intellektualismus miteinander verwoben. Die 'wechselseitige historische Ungleichzeitigkeit und pragmatische Distanz zwischen diesen Sphären waren, das zeigt uns der zweite Prolog zum Cancionero de Baena, unter der Prämisse aufgehoben, daß die Rolle des Ritters, des humanistischen Dichtungsspezialisten, des Intellektuellen als ein R 0 1 1 e n h 0 r i z 0 n t
kom p 1 e x e r
die gesellschaftliche Distink-
tion des Königs und seines Hofes ausmachten. Es hätte wenig Sinn zu fragen, ob der König und seine Höflinge sich mit solchen Rollen "identifizierten". Denn so wenig es für sie einen Alltag jen sei t s des höfischen Spiels gab, so wenig, werden sie - gleichsam
"d i e s s e i t s
der Rollen" -
über eine Subjektivität verfügt haben, welcher einzelne Rollen näher oder ferner hätten stehen können. Das Leben bewegte sich zwischen
v e r s c h' i e den e n
diese verschiedenen Rollen waren Teile
Rollen, aber all 'e i n e s
Spiels.
Der zweite Prolog zum cancionero de Baena beginnt mit einem Text, der - im streng philologischen Sinn - wörtlich aus dem Prolog zu der zweihundert Jahre zuvor entstandenen Cronica general Alfons' des Weisen von Kastilien übernom-
men ist. Sobald dieses "Zitat" in der Sprache und mit den Argumenten des
xv.
Jahrhunderts weitergesponnen wird, konsta-
tiert der theoriebeflissene Literaturhistoriker ein "Intertextualitäts-Phänomen". "Textimmanent" tut er dies gewiß zu recht; aber literaturhistorisch kommt es gerade darauf an zu' verstehen, daß für die Benutzer des cancionero de Baena hier keine Hiate der textuellen Konsistenz und kein' "Sprung" in eine andere Welt erfahrbar waren.
-
128 -
Im Rückgriff auf die cr6nica dei Uaiconero de Juan II hat Francisco Rico (1965:519 ff.) ein Hoffest geschildert, "das im Früh;ahr 1428 in Valladolid stattfand: dort trafen sich die Infanten von Aragon und Kastilien. Wir glauben, daß es im Hinblick auf die subjektive Erfahrung dieses Festes durch seine Protagonisten nicht angemessen wäre, von "symbolischer Uberhöhung" oder "Sublimierung" politischei Rivalitäten zu sprechen. Spielerische Prachtentfaltung war s e I b s" t Vollzugsform von Politik: Am Montag, dem 24. Mai, turnierten der Prinz don Juan und weitere fünf Ritter. "Und es brachte der König von Navarra dreizehn Pagen mit sich, alle mit fein gearbeiteten Krägen aus Silber und mit scharlachroten Mützen", während der Prinz von Kastilien einen Spieß auf der Schulter trug und ein Horn auf dem Rücken; und seine zehn Ritter, "die alle mit grünen Brustpanzern und ihren edlen Federbüschen geschmückt waren", trugen Jagdspieße und Jagdhörner: das war ein sehr passender Aufzug, denn ein Löwe und ein Bär fUhrten "mit vielen Jägern und bellenden Hunden" diese Gruppe an. Don Enrique kreuzte zweimal die Lanzen und beim zweiten Mal "kam er "bloß mit seinem Pferd und ohne Horn und mit "einem sehr prächtigen golddurchwirkten Rock; in Gold gestickt waren Jagd-Hochsitze und Spruchbänder mit Buchstaben, die bedeuteten: 'Non es'''. Der König von Navarra lud zu einem Abendessen in einem verschwenderisch geschmUckten Saal; später, während man tanzte, "traten zwei Possenreißer ein, die ~anch Säcklein mit GoldstUcken auf der Schulter hatten und lärmten und sagten: 'Das zu rauben hat uns der König von Navarra befohlen!'" Als das Fest zu Ende war, zogen sich alle zurUck, um zu schlafen "in bestimmten Kammern, die der Köniq von Navarra nahe bei jenem Saal zu schmücken befohlen hatte, in dem sie gespeist und getanzt hatten". Um seine Base zu ehren, veranstaltete don Juan 11. am Sonntag, dem 6. Juni, ein Turnier im königlichen Harnisch. Auf der Plaza Mayor ließ er eines von jenen Zelten aufstellen, die man 'Berberfalke' nannte, "mit zehn oder acht Schichten sehr reichen golddurchwirkten Tuchs, und auf der einen Seite hing ein farbiges Chestertuch, auf der anderen Seite des Gerüsts sehr reiche TUcher aus Frankreich". Der König von Kastilien kam als Gottvater gekleidet und nach ihm "zwölf Ritter als die zw.ölf Apostel", welche Diademe mit Schriftbändern trugen, auf denen der Name und das Martyrium jenes Apostels geschrieben stand, den ein jeder darstellte. "Und die Decke eines jeden Pferdes war aus Scharlach und reich bestickt, und es waren Schriftbänder darauf, die sagten: Dieb. Dadurch konnte man den ganzen Aufzug wohl verstehen". Denn diesem SO heiligen Schwadron stellte sich der Infant
-
129 -
don Enrique entgegen, "mit zwölf hintereinander reitenden Rittern, von denen sechs auf ihren Visieren Feuerflammen, sechs aber Eisenstäbe hatten, die wie ein Maulbeerbaum geschmiedet waren", und später zog er die Kleidung sogar noch um, "man erkannte ihn gar nicht wieder", er trug karminfarbenen Samt an seinem Visier, der golddurchwirkt war, und sein Ärmel war mit Hermelin geschmückt, allein drei Pagen folgten ihm mit marderfellgeschmückten Dolchen": er.~reuzte dreimal die Lanzen, "sie befreiten ihn, und er zog sich zurück". Mehr Bewunderung wird gewiß der König von Navarra geweckt haben, der sich "auf einem Felsen" zeigte, "auf dem er mit seinem Pferd stand, und oben auf dem Felsen war ein Mann mit einer Standarte und fünfzig Ritter, alle in Kriegsharnisch, welche den Felsen bewachten: fünfundzwanzig vorne und fünfundzwanzig hinten; und außerhalb des Felsens war Fußvolk, das Donnerschläge erschallen ließ". So zogen sie zweimal um den. Platz. Das Turnier dauerte an, bis sich Sterne am Himmel zeigten. Der Cancionero de Baena ist ein Medium
~
unter anderen -
zur Konstitution einer Spielwelt am Hof. Die Konfigurationen von Einzeltexten zu Text-Gruppen und die Beziehungen zwischen aufeinanderfolgenden Text-Gruppen, jene beiden Strukturebenen also, welche die Besonderheit dieses Corpus als Intertextualitäts-Phänomen ausmachen, lassen sich durch den intendierten Bezug auf Situations-Typen (und nicht: auf einmalige Situationen) sowie durch die Vermutung erklären, daß die Spielwelt des Hofes eine nach außen abgeschlossene, aber in sich heterogene Sphäre war. Wir unterstellen, daß diese Rekonstruktion von Beziehungen zwischen der Spielwelt des Hofes und einer besonderen Form von Intertex.tualität einen für die Kultur im "Herbst des Mittelalters" paradiqmatischen Fali betrifft. Kann man nun die Sphären des Rittertums und der höfischen Liebe innerhalb der Enklave einer komp1exen Spielwelt als s P ä t mit tel alt e r I ich ansehen, oder macht es mehr Sinn, mit ihr die
neu z e i t I i c h e R e z e p t ion s g e s chi c h t e mit tel alt e r I ich e r L i t e rat u r beginnen zu lassen?
-
130 -
4. Buch, Lesen und Subjektivität Der cancionero de Llavia
4 ist zwischen 1486 und 1489
in Zaragoza erschienen. So wenig Aufmerksamkeit ihm die Literarhistoriker bis heute gewidmet haben, so bedeutend ist doch sein kulturhistorischer Rang als eines der ersten gedruckten Bücher auf der iberischen Halbinsel - das übrigens der jungen spanischen Druckkunst das hervorragendste Zeugnis ausstellt. In einem kurzen Prolog wendet sich Ramon de Llavia, der Verleger und Herausgeber, an die Gattin des (aus einer jüdischen Familie stammenden) Regenten des K~nigreiches Arag6n: Es ist durchaus nichts Neues, oh hochberühmte und tugendreiche Dame, daß diejenigen, die weder etwas übersetzt haben, noch etwas Neues erfunden haben, so wie die Ubersetzer, die ein Proömium zu dem sChreiben, was sie übersetzt haben, obwohl der Autor selbst schon eines geschrieben hat, daß diejenigen also, die bloß eine verborgene Schrift ans Licht gebracht haben, eine kurze Rede ihrer selbst an den Beginn des Buches stellen. Dies sage ich, da es mir angebracht schien, in einem winzigen Prolog zu erwähn~n, daß ich vor allem dadurch Euer Gnaden dienen und vielen von Nutzen sein wollte, daß ich auf eigene Kosten das vorliegende Werk in vielen Bänden verbreitet habe, - ich halte dies für angebracht, obwohl keiner der hier enthaltenen Texte meiner ist. Denn es ist wohl ein ehrsames und gutes Bestreben, daß ich wünsche, all diejenigen, die dieses Buch lesen, möchten wissen, wie sehr ich mich dabei bemüht habe, aus vielen katholischen Werken in Strophenform die glänzendsten und vollkommensten auszuwählen; und dennoch erhoffe ich mir den größten Ruhm davon, daß ich eine in unserem Königreich so hochbedeutende Persönlichkeit ausgewählt habe, um diesem Werk Würde und Anerkennung zu verleihen: denn, weil Euer Gnaden in allen Tugenden, welche die Frauen zieren, so vollkommen ist, wird man mich für einen Mann mit großer Urteilskraft ansehen, und ich verbleibe, indem ich Euer Gnaden die Hände küsse. (1) Bei allem Respekt vor dem illokutionären Rang der "Bescheidenl;1eitstopoi", was hier im Vergleich zum Prolog des Alfonso de Baena, der nicht müde wurde, die Kompetenz herauszustreichen, mit der er bei der Kompilation seines cancionero zu Werke gegangen war, zuerst ins Auge sticht, ist des geringe Prestige, welches Ram6n de Llavia mit. sei-
-
131 -
ner Herausgeber- und Kompilatoren-Rolle verbindet. Eher aus dem wirtschaftlichen Risiko, das er mit der ersten Auflage seines gedruckten Cancionero eingegangen ist, als aus der Selektion und Zusammenstellung von Einzeltexten leitet er für sich die Berechtigung ab, einen Prolog zu verfassen. Dennoch erfährt man, daß seine Text-Selektion, so sehr er sie auch der Leistung der Text-Autoren unterordnet, anders als bei Juan Alfonso de Baena, zu einer thematischen Isotopie des Cancionero geführt hat. Denn es ist wohl ein ehrsames und gutes Bestreben, daß ich wünsche, all diejenigen, die dieses Buch lesen, möchten wissen, wie sehr ich mich dabei bemüht habe, aus vielen katholischen Werken in Strophenform die glänzendsten und vollkommensten auszuwählen ... (1) Wenn man sich an Jacques Derrida erinnert, so möchte man behaupten, daß in den Jahrzehnten zwischen dem Cancionero de Baena und dem Cancionero de Llavia Plato!)
(und nicht schon bei
jene Tradition der Verdrängung von "'criture"
einsetzt, die dann kontinuierlich in unsere Gegenwart führt (Derrida 1967:293-341). Denn der Verleger-Kompilator zieht sich gleichsam aus der von ihm zu verantwortenden Textgestalt zurück und trägt so zu der Illusion einer "direkten Kommunikation" zwischen den n e n
A u tor e n
z eIn e n
ein z e 1
und den (wohl auch)
L e s ern
ein -
bei, weil er vermutet, daß
diese Leser an einer Belehrung im Glauben - und das heißt: an einer Vorgabe zur moralischen Gestaltung des Lebens interessiert sind. Die in einem metonymischen Verhältnis zur intendierten Leserschaft stehende Rolle der Frau des Regenten von Aragon, an die er sich wendet, ist ganz gewiß nicht mehr die Rolle einer Teilnehmerin im
höf~schen
Spiel mit Texten. Die auf den Prolog des Cancionero de Llavia folgende Tabla del presente libro weist im Vergleich zum Cancionero
de Baena zwei signifikante Differenzen auf.
Erst e n s
ist es hier nicht möglich, aus Einzeltexten Text-Gruppen zu bilden (das einzige - und nicht einmal konsequent durchgehaltene - Strukturierungsprinzip liegt in der Reihung verschiedener Texte mit jeweils gleichen Autoren, von
-
132 -
denen bezeichnenderweise keiner aus einem vergangenen Jahrhundert stammt).
Z w e i t e n s
sind die Uberschrifts-
Kommentare reininhaltsbezogen - von der Eleganz der Sprache oder der Observanz und Variation metrischer Schemata ist nicht die Rede; die Texte werden meist durch Allerweltsprädikate wie "obra" oder als Sprachhandlunqen ("confessi6n",
"regimiento
de principe" etc.) bezeichnet, im Blick auf ihre Form ailenfalls einmal als "coplas". Die religiösen Inhalte, um die es in der Tabla - anstelle der Formen - geht, sind nun stets auf das Verhalten und Handeln bestimmter
G r u p p e n
von
Menschen bezogen. Auffallend viele Texte richten sich an "tugendhafte Damen" und evozieren das Leben, .die Leiden, die Tugenden der Gottesmutter; neben Fürstenspiegeln und einer Version des so beliebten Dialog-Typs zwischen "Mönch und Ritter" stehen mehrere Kataloge von "Kardinaltugenden" und "Todsünden". Man gewinnt den Eindruck, daß trotz - oder gerade wegen - solcher Welt-Bezogenheit der contemptus mundi einheitsstiftender Sinnhorizönt des cancionero de Llavia ist. Die unter mentalitätsgeschichtlicher Perspektive für das XV. Jahrhundert charakteristische Problematik der subjektiven
A n e i gnu n g u n d
R e a I i sie -
run g a b s t r akt e r H a n d I u n 9 s
0
r e I i g i öse r bildet den r i e n t i e r u n 9 e ri
pragmatischen Rahmen dieses Corpus. Aber wir können in unserer Spezifizierung und unserem mittlerweile gewiß deutlich gewordenen Bestreben, Sub j e k t i v i t ä t des als intendierten Rezeptionsmodus des L e sen s Cancionero d~ Llavia herauszustellen, noch einen Schritt weiter gehen. Der vierte Einzeltext (Fernan Perez de Guzman,
der Autor der oben zitierten Biographie hat ihn geschrieben!) stellt dieses Horizont-Problem religiöser Praxis, das Problem der Werkgerechtigkeit, in das thematische Zentrum: ~egen jene, ~i~ sagen, daß Gott auf dieser Welt nicht Gutes mit Gutem vergelte und nicht Schlechtes mit Schlechtem (207).
Fernan Perez de Guzman ist bestrebt, das sei am Rande gesagt, dieses Theologem zu "retten". Schwerer wiegt die Beobachtung, daß dieselbe Problematik auch in verschiedenen (von uns hicht erwähnten) Text-Gruppen des cancionero de Baena traktiert wird.
-
133 -
Dennoch: wenn man die verschiedenen Strukturen der Kompilation in den beiden von uns analysierten Cancioneros berücksichtigt, dann wird klar, was die - in der Hispanistik übliche - Analyse von Einzeltexten nicht erfassen kann: identische semantische Gestalten nehmen in verschiedenen pragmatischen und strukturßllen Kontexten je verschiedene Funktionen an. Die Diskussion über "Werkgerechtigkeit" konstituiert. im
Cancionero de Baena die
R
0
I I e
des theologisch
geschulten Intellektuellen, welche die Teilnehmer des höfischen Spiels beziehen können; im Cancionero de Llavia will sie die Leser zu einer
R e f I e x ion
über
ihr eigenes Handeln bewegen (und spricht deshalb diese Leser notwendig als
Handlungs-Subjekt~
an). In Binen solchen
Kontext hat Ramon de Llavia - fast möchte man sagen: "natürlich" - die berühmten su padre
Coplas por la muerte de
von Jorge Manrique eingebettet. Diesen Text
sehen wir nicht nur deshalb als in einem prägnanten mentalitätsgeschichtlichen Sinn
neu z e i t I i c h
an, weil seine letzten Strophen die Auflehnung des "sterbenden Vaters" gegen seinen " von Gott beschlossenen Tod" in Gottergebenheit und in die Zuversicht münden lassen, (nicht "wegen eigener Verdienste, sondern kraft göttlicher Gnade allein") Vergebung zu erlangen; neu~ zeitlich ist auch die in die Coplas eingezeichnete Leserrolle. Hier erzählt der "Sohn"
(das "Ich" des Textes
deckt sich mit dem Autor des Textes), wie er in der Sterbestunde seines Vaters
mit
dem Vater litt und
wie die Gottergebenheit des sterbenden Vaters auch für
ihn
zu einem Trost wurde. Die am Anfang des
Textes stehenden (mit prägnanten Referenzen zur Zeitgeschichte erfüllten) Reflexionen über die
E~telkeit
des
menschlichen Selbstbewußtseins können so als Ergebnis eines
E r fa h r u n 9 s P r
0
z e· s s e s
werden, den das Ich am Totenbett des vaters,
gesehen s 'i c h
i d e n t i f id e m S t e ·r b e n d e n I d e n t i f i i n z i e r e n d, vollzog und den k a t i 0 n "I c h" d e s T e x t e s d e m m i t
m i t
-
-
mit
n ach z u v
134 -
0
I I z i ehe n
der Leser ein-
geladen wird. Literaturhistorische Thesen über funktionsgeschichtlichen Wandel und pragmatische Differenzen von Gattungen und Einzeltexten - so unsere These zu den differenten Rezeptionsformen, welche der Cancionero de Baena einerseits und der Cancionero de Llavia andererseits voraussetzen bedürfen zu ihrer Validierung nicht unbedingt der Bestätigung durch Quellen, aus denen hervorgeht, daß sie bereits von Zeitgenossen als einschneidende Veränderungen erfahren wurden. Dennoch ist es interessant, daß der Marques de Santillana, einer der berühmtesten "Humanisten" des XV. Jahrhunderts in Kastilien, Neffe von Fernan Perez de Guzman und Adressat eines der Texte seines Onkels im Cancionero de Llavia, in seinem berühmten poetologischen
und "litera~urhistorischen" Traktat (Carta al ~ondestable de Portugal) einen Bruch in der "literarischen Evolution" konstatiert und diesen mittels zweier Autoren illustriert, die beide im cancionero de Baena vertreten sind: Und deshalb, aber auch weil seine Werke überall bekannt und verbreitet sind. gehen wir zu Herrn Francisco Imperial über, den ich nicht einen Spruchdichter oder Troubadour, sondern einen Poeten nennen würde; denn, wenn einer hier im Westen den Preis jenes triumphalen Lorbeerkranzes verdiente, dann war Sr es - so sehr man auch alle anderen würdigen mag. Man könnte nun einwenden, daß kein textueller Befund gegen die Annahme spricht, auch der Kompilator und die Benutzer des cancionero de Baena hätten die Differenz von de9idor otrovador einerseits und poeta andererseits erfahren und sich für poetas gehalten. Zur Verteidigung unserer These von der
Differen~
der von beiden cancioneros
präsupponierten Kommunikationsrollen läßt sich eine weitere Textstelle der carta des Marques de Santillana anführen, .in der das Konzept der "poesia" mit dem Anspruch auf ethische Belehrung verknüpft wird:
-
135 -
Und was ist Poesie (die wir in unserer Volkssprache 'gaya s~iencia' nennen) anderes als ein Artefakt aus nützlichen Dingen, die unter einer sehr schönen Decke verdeckt oder verhüllt, zusammengestellt, ausgezeichnet und eingerichtet sind durch genaues Zählen, Wägen und Bemessen? Und gewiß, oh tugendreicher Herr, irren diejenigen, die denken oder sagen wollen, daß diese Dinge aus Nichtigem· oder Sündigem bestehen oder dahin streben: denn so wie die fruchtbaren Gärten zu allen Jahreszeiten die ihnen entsprechenden Früchte im Überfluß haben, so nutzen die wohlgeborenen und gelehrten Menschen, denen diese oben erwähnten Wissenschaften eingegeben sind, diese je ihrem Alter entsprechend.(30) Wenn man Fernando del Pulgar, neben Fernan
~erez
de
Guzman, dem zweiten großen Historiographen im Kastilien des XV. Jahrhunderts, trauen darf, dann ist das Insistieren des Marques de Santillana auf dem prodesse der Dichtung mehr als der Rekurs auf einen antiken Topos. Denn die Bewunderung, mit der Fernando del Pulgar im Blick auf den Marques de Santillana feststellt, wie sehr sein Handeln im Alltag den ethischen Intentionen seines Werks entsprochen habe, ist so groß wie das Staunen von Perez' de Guzman über den umgekehrten Fall, nämlich Juan 11., den auch die größte Belesenheit nicht zu einem Bewußtsein von seinen Pflichten als König hatte führen können: Er machte genauso auch andere Traktate in metrischer Sprache und in Prosa (die sehr lehrsam waren), um Tugenden hervorzurufen und Laster zurückzuhalten: und mit solchem Tun verbrachte er den größten Teil der Zeit in seiner Zurückgezogenheit. Er war sehr bekannt und hochberühmt in vielen Königreichen außerhalb Spaniens, aber die Wertschätzung, die er unter den Weisen genoß, übertraf bei weitem seine Bekanntheit bei den vielen. Und weil wir oft sehen, wie das Verhalten der Menschen ihrem ÄUßerenentspricht, wie dunkle Neigungen diejenigen besitzen, die kein gutes Äußeres haben, können wir ohne Zweifel glauben, daß dieser Ritter Gott sehr dankbar sein mußte, weil er ihn mit einem so ebenmäßigen Äußeren ausgestattet hatte, daß er leicht jede Form der Tugend annehmen und ohne große Mühe jggliche Versuchung zur Sünde zurückhalten konnte. Wir müssen nun festhalten, daß die Inhaltsform des cancionero de Llavia, von der ausgehend wir eine Hypo-
these zur Wandlung der gattungstypischen Rezeptionsform
-
136 -
von Cancioneros entwickelt haben, ein Ausnahmefall ist. Die meisten cancioneros des späten
xv.
und frühen XVI.
Jahrhunderts - allen voran der Cancionero General von Hernando de Castillo, der 1511 in Valencia erschien und 1517, 1520, 1527, 1555 neu aufgelegt wurde
- hatten
zwar Buch-Form, präsentierten jedoch - darin eher dem Cancionero de Baena als dem cancionero de Llavia ähnlich -
Text-Gruppen je verschiedenen Inhalts. Dieser Befund hat es verhindert, daß, ausgehend von Beobachtungen zur Kompilations-Struktur, literarhistorische Fragen nach dem Funktionswandel der Gattung gestellt wurden. Wir vermuten jedoch, daß die inhaltliche Vielfalt eines Cancionero General nicht wie beim Cancionero de Baena durch den Bezug auf Situationstypen in einer geschlossenen Spielwelt bedingt ist. Ganz anders als dem Hofschreiber Juan Alfonso de Baena mußte es Hernando de
Casti~lo
m ö g I ich s t
und seinem Verleger darum gehen,
v i eIe
R e z i'p i e n t e n
pot e n t i e I I e
und Käufer anzusprechen. Wenn man
diesem Ziel am ehesten (erfolgreich, wie die Serien der Auflagen zeigt) mit thematischer Vielfalt genügen konnte, so ist doch keinesfalls ausgeschlossen, daß die Einzeltexte der späten Cancioneros von einzelnen Lesern in der Einstellung bewußter Subjektivität rezipiert wurden, in affektiver Identifikation mit Rollen des Liebesspiels, in Sorge um das Seelenheil, mit der Frage, wie man durch den Ruhm seiner Handlungen eine neue, "diesseitige Unsterblichkeit" erlangen konnte. 5. Intertextualität und Rezeptionsformen der Epochenschwelle Es gibt einen Typ von
I nt e r tex t u a I i t ä t
,
das zeigte unsere Analyse des Cancionero de Baena, welcher sich in der Konfiguration von Einzeltexten zu Text-Gruppen relativ geringer Prägnanz und in der Verknüpfung aufeinanderfolgender Text-Gruppen durch jeweils verschiedene Äquivalenz-Phänomene vollzieht. Für diese spezifische Intertextualitäts-Struktur hat der moderne Leser so leicht keine passende Rezeptionsform zuhanden: sie ist nämlich wir wiederholen - stärker (und vor, allem: anders) determiniert
-
137 -
als etwa die Struktur einer Gedichte-Anthologie im
xx.
Jahrhundert (welche allerdings der Struktur des Cancionero de Llavia durchaus nähersteht)
und schwächer determiniert
als - etwa - die Struktur realistischer Romane aus dem XIX. Jahrhundert, welche - wie Cancioneros - verschiedene Wissensbereiche, verschiedene Stilarten und verschiedene Leserrollen ohne den "qemeinsamen Nenner" textimmanenter Isotopie-Ebenen eingehen können. Hätten die surrealistischen Texte des frühen
xx.
Jahr-
hunderts in pragmatischer Hinsicht je den Programmen und Manifesten ihrer Autoren genügt, dann wäre es wohl legitim, die von ihnen einzuspielende Rezeptionsform zur Veranschaulichuni der
G e b rau c h s s i t u a t ion
früher
Cancioneros heranzuziehen. Die Texte der Surrealisten sollten
ja nicht Medium für die Vermittlung einer "Aussage" der Autoren an ihre Leser sein und ihre eigene Gestalt im Schatten dieser Funktion ausblenden. Wie der Cancionero de Baena waren surrealistische Texte dazu bestimmt, bei ihren Rezipienten ein produktives Spiel mit der Sprache zu stimulieren. Während freilich der Qöchste Ehrgeiz surrealistischer Programme in der Problematisierung verdinglichter Sinnstrukturen des Alltags lag, scheinen die frühen Cancioneros an den Höfen gerade die Verdinglichung einer höfischen Spielwelt zur "Spielwelt ohne Jenseits" befördert, die Relativierung der Spielwelt aus der Perspektive des außerhöfischen und außertextuellen Alltags aber systematisch versperrt zu haben. In einer Hinsicht macht es nun gewiß Sinn, die Präsenz "typisch mittelalterlicher" Motive und Textstrukturen in den Cancioneros des frühen XV. Jahrhunderts als
t ion s f
0
r m
R e z e p -
"mittelalterlicher Literatur" anzusehen:
die Funktion, welche sie hier übernehmen, beruht auf der Qualität ihrer
Dis t a n z
zum Alltag ihrer Gegenwart.
Dennoch scheint es uns literarhistorisch fruchtbarer, solche Präsenz des Mittelalters im XV. Jahrhundert als ein Phänomen der
"G l e i c h z e i t i g k e i·t
U n 9 1 e i e h z e i t i gen"
des
zu beleuchten. Als Teil
einer Spielwelt ohne Jenseits, um die sich die Höfe konstituierten, trugen "literarische Formen und Inhalte
-d e s
-
Mit t e l a l t e r s alter~typische
138 -
und von ihnen evozierte Mittel-
Rezeptionsformen zur Entleerung dieser in
den mittelalterlichen Traditionen entstandenen Machtzentren bei und wurden so zu einer Voraussetzung für jenen durchaus ne u z e i wenige
t
1 i
ch e n
Umgang mit Macht, welcher schon
Jahrzehnte später die Herrschaft der Katholischen
Könige charakterisieren sollte. Nur wenn die gedruckten Cancioneros des späten XV. und frühen XVI. Jahrhunderts Mittelalter-typische Inhalte und Formen aufgenommen hätten (was aber nicht der Fall gewesen zu sein scheint), könnte man im volleri Sinn des Konzepts von einer "neuzeitlichen Rezeption mittelalterlicher Literatur" reden. Diese Feststellung impliziert den Vorschlag, eine -
je verschieden konfigurierte, aber doch nie
mehr aufzuhebende - Verschiebung zwischen Texten und Rezeptionsdispositionen als den roten Faden einer Pragmatik der neuzeitlichen Rezeption mittelalterlicher Literatur
aufzuneh~en.7
A N M E R K U N GEN
1.
Unseren Ubersetzungen von Texten aus dem cancionero de Baena liegt die Ausgabe von Jose Maria AZACETA, 1966. - In: Clasicos Hispanicos, Bd. X, zugrunde; im folgenden wird am Ende von Ubersetzungen aus dem Cancionero de Baena jeweils in Klammern auf die entsprechende Seitenzahl in dieser Edition verwiesen. - Anlaß zur Substitution der alt span i s c h e n Originalzitate durch Ubersetzungen gab der S 1 a w ist i s c h e Almanach als Veröffentlichungskontext. Selbstverständlich haben wir nicht übersehen, daß die deutsche ProsaWiedergabe eine Reihe von ecriture-Phänomenen der in metrischer Form artikulierten Originale ausblenden mußte; sie mögen,für manche mittelalterlichen Rezipienten einen nur schwer zu übersetzenden Stellenwert gehabt haben - sind jedoch in unserer (vorläufigen) Analyse ohnehin nicht berücksichtigt worden.
2.
J. DOMINGUEZ BORDANA (Hrsg.)" 1965. Fernan Perez de Guzman, Generaciones y semblanzas.- In: Clasicos Castellanos, Bd. 61, S. 118 f.
3.
Id., S. 120.
- 139 -
4. R. BENITEZ CLAROS (Hrsg.), 1945. cancionero de Llavia. In: Sociedad de Bibliofilos Espanoles, Bd. 16. 5. A. CORTINA (Hrsg.), 41968 . Car ta al Condes tabl e de Portugal. In: Id., Es Marques de Santillana. Obras. Madrid, S. 39. 6. J. DOMINGUEZ BORDANA (Hrsg.), 1969. Fernando deI Pulgar, Claros Varones de Castilla. - In: Clasicos Castellanos, Bd . 49, S. 45 f. 7. Die vorliegende Problemskizze greift auf Ergebnisse eines hispanistischen Hauptseminars zurück, das ich im WS 81/82 an der Ruhr-Universität Bochum gehalten habe. Sie profitiert darüber hinaus von Diskussionen mit Claudia Krülls und Gisela Smolka-Koerdt über einschlägige Dissertationsprojekte und von Gesprächen über die Darstellung der spanischen "Lyrik" des Spätmittelalters in dem von Walter Mettmann herausgegebenen Band IX des "Grundrisses der Romanischen Literaturen des Mittelalters".
L I T E RAT U R BLECUA, Alberto, 1974-1979. "Perdiose un quaderno •.. ": Sobre los Cancioneros de Baena. - In: Anuario de Estudios Medievales, Bd. 9, S. 229-266. DERRIDA, Jacques, 1967. Freud et la scene de l'ecriture. In: Id., L'ecriture et la difference, Paris, S. 293341 . GUMBRECHT, Hans Ulrich, 1972. Literarische Technik und Schichten der Bedeutung im Libro de Buen Amor. - In: Id. (Hrsg.), Juan Ruiz Arcipreste de Hita. Libro de Buen Amor. (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters, Bd. 10), München. 1983
Menschliches Handeln und göttliche Kosmologie: Geschichte als Exempel. - In: Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 9, Heidelberg.
HUIZINGA, Johan, 9'965. Herbst des Mittelalters, Stuttgart. KUHN, Hugo, 1980. Aspekt des 13. Jahrhunderts. - In: Id., Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, Tübingen,S. 19-65. POIRION, Daniel, 1981. Ecriture et re-ecriture au Moyen Age. In: Litterature, Bd.41, S. 109-118. RIeo, Francisco, 1965. Unas coplas de Jorge Manrique y las Fiestas de Valladolid en 1428. - In: Anua~io de Estudios Medievales, Bd. 2, S. 515-524. WITTGENSTEIN, Ludwig, 1971. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main. ZUMTHOR, Paul, 1978. Le masque et la lumiere. La poetique des grands rhetoriqueurs, Paris.
-
Wolf SCHMID
SINNPOTENTIALE DER DIEGETISCHEN ALLUSION Aleksandr Puikins
Posthalternove~le
und ihre Prätexte
1. BEGRIFFS INHALTE , TYPEN UND STRUKTUREN DER INTERTEXTUALITÄT Subsumiert man unter "Intertextualität" alle Phänomene, die sich aus dem Bezug eines literarischen Textes zu anderen Texten, zu Gattungen und zu literarischen tangues ergeben, dann verliert der Begriff jegliche Bezeichnungskraft und Operationalität. Er löst sich auf in den wohlbekannten Konzepten von der Relationalität, der Kode- und Kontextabhängigkeit semiotis'cher Fakten überhaupt. Auch wenn man den Begriff reserviert für Beziehungen zwischen einzelnen Texten (den literarischen parates), deckt er noch ein überaus breites Spektrum von relationalen Operationen: Zitat, Paraphrase, Nacherzählung, intermediale Transposition (z.B. Verfilmung eines Romans), Einfluß, Nachdichtung, Pastiche, Plagiat, Stilisierung, Parodie, Travestie, Reminiszenz, Anspielung u. dgl. Eine erste sinnvolle Restriktion des in der gegenwärtigen Diskussion zumeist mit sehr weiten Extensionen gebrauchten Begriffs enthält die Definition Laurent Jennys (1976). Jenny schlägt vor, "Intertextualität" einzugrenzen auf die "presence d'un texte dans un autre" (262) und von dieser - so können wir formulieren - simultanen Präsenz zweier Texte in einern einzigen nur dann zu sprechen, wenn "on est en mesure de reperer dans un texte des elements structures anterieurement a lui, au-dela du lexeme, ce la s'entend, mais quel que soit leur niveau de structuration"
(262). Diese Bedingung scheidet aus der Intertextuali-
tät alle jene Relationen aus, die - wie z.B. die einfache Anspielung oder die Reminiszenz - auf einern "emprun't d' une unite
-
142 -
textuelle abstraite des son contexte et inseree teIle quelle dans un' nouveau syntagme textuel, a titre d 'element paradigmatique"
(262) beruhen. Die auf den ersten Blick leicht erfüll-
bare Bedingung, die Jenny für das Vorliegen von Intertextualität stellt, impliziert freilich - das zeigen Jennys Beispiele -, daß sich das fremde Element nicht widerstandslos in den neuen Kontext einordnet und an die neue Umgebung assimiliert, sondern den fremden Kontext, aus dem es stammt und dessen Strukturierung es in Erinnerung ruft, metonymisch, als pars pro toto evoziert. Intertextualität liegt danach also nur dann vor, wenn das fremde Element "rapports de texte tures"
a
texte en tant qu'ensembles struc-
(263) etabliert.
Unter den immer noch zahlreichen Typen der Intertextualität~ die Jennys Intension zuläßt, interessiert uns hier jene Relation, die Bachtin (1929) mit der Metapher der "dialogischen Beziehung"
(dial,ogiceskoe otnosenie) umschrieben hat. Die in Bachtins "Metalinguistik" entworfene "Dialogizität"
(dial,ogicnost') , von der
sich die aktuelle Intertextualitäts-Diskussion so nachhaltig inspirieren ließ (man denke nur an die Genese der - freilich nicht mehr ganz bachtinsehen - intertextualite bei Kristeva 1967), meinte ein genuin semantisches Phänomen: den "Kampf" der "Bedeutungspositionen" (smyal,ovye poziaii), die von den in eine "dialogische Beziehung" tretenden "Worten"
(d.i. Texten) konnotiert
werden. Wenn wir uns hier mit den Manifestationen der Intertextualität nur insoweit beschäftigen, als sie sich als "dialogische Beziehungen" darstellen, zielen wir auf Intertextualität nicht einfach als Relation von strukturierten
Tex t e n,
sondern - Jennys Restriktion weiter verengend - auf Intertextualität als Relation der in den simultan vergegenwärtigten Texten ausgedrückten t ion e n
und
B e d e u t u n gen,
S i n n p o s i-
I deo l o g i e n.
Das "zweistinunige Wort"
(dvugol,osoe sl,ovo) , das sich als
"Dialog" zwischen Textbedeutungen entfalten läßt 1 und dessen Sinn sich deshalb durch die simultane Präsenz zweier miteinander konkurrierender Sinnpositionen konstituiert, stellt vor allem drei Probleme: 1. Wie kommt der Bezug eines Textsinnes auf einen fremden Textsinn zustande? 2. Welche besonderen Rezeptionshaltungen initiiert er? 3. Zu welchen übersummativen, ganzheit-
-
143 -
lichen semantischen Gestalten kann erführen? Diese Fragen konnten der traditionellen Einflußforschung und Motivgeschichte gar nicht in den Blick kommen, betrachtete sie doch die intertextuellen Phänomene ausschließlich aus der Perspektive des zeitlich ersten Textes, der als aktiver Motivspender für spätere, passiv rezipierende Texte erschien. Unser point of view ist dagegen der spätere Text, und was früher auf die. Begriffe des Einflusses, der Kontinuität und des Erbes gebracht wurde, zeigt sich in der gegenläufigen Perspektivierung als virtuelle Sinnkomponente des eigenständigen, aktiven, nicht mehr nur als positiver oder negativer Reflex, sondern aus eigener Gesetzlichkeit entstandenen, auf seine 'VorLäufer' zurückverweisenden und deren Sinnpotentiale als Elemente der eigenen Konstruktion ausnutzenden späteren Textes. Für eine Arbeitsdefinition sei nun vorgeschlagen, von einer intertextuellen Relation im Sinne der Bachtinsehen
'Dia~ogizi
tät' nur dann zu sprechen, wenn die Beziehung des späteren Textes (T) zum früheren oder fremden Text, dem
Prä-Text (PT),
als ein vom Autor intendiertes semantisches Faktum im Bedeutungsaufbau von T identifizierbar ist.
(Der Begriff 'Prätext' umfaßt,
ohne der intertextuellen Relation schon eine bestimmte Qualität zuzusprechen, fremde Texte in allen möglichen Verwendungen, ist also der in Hinsicht auf die Inhalte der Relation indifferente Oberbegriff für solche Begriffe wie 'Referenztext', 'Subtext', 'Prototext',
'Genotext',
'Quell~ntext',
Diese Definition, die mit der
'Objekttext' u.ä.)
objektivierbarenAutorinten~
tion operiert, schließt aus den intertextuellen Fakten eines Werks sowohl jene Relationen aus, die sich aus der Projektion dieses Werks auf ein jüngeres Werk herstellen, als auch jene, die durch das Unterschieben älterer, aber nicht als Folie intendierter Werke zustandekommen. (Beide Ausschlüsse
ver~tehen
sich
nicht ganz von selbst. Man denke nur an die Text- und Textbedeutungsphilosophie der französischen Intertextualisten, insbesondere an ihr Konzept bzw .. Postulat einer pratique signifiante mit der bekannten Apotheose des offenen Sinns. Man kann ein literarischesWerk natürlich auf alle möglichen fremden Werke projizieren, auch auf solche, die dem Autor als Folie gar nicht vor- ,
-
144 -
gelegen haben können, nur sind die dabei zu gewinnenden Sinnpotentiale, wie interessant sie auch sein mögen, grundsätzlich da sie nicht intendiert sind - keine Faktoren des Bedeutungsaufbaus des gegebenen Werks.) Während die beiden genannten Restriktionen im Grunde für jegliche Intertextualität gelten, scheidet die Bedingung, daß die Relation von T zu PT als intendiertes semantisches Faktum ~on
T objektivierbar wird, den semantischen Typus der Intertex-
tualität, d.h. jenen Typus, der mit dem 'Dialog' der Texte auch I n t e r sem a n t i z i t ä t, den 'Dialog' der
Tex t-
b e.d e u t u n gen, impliziert, von allen übrigen, nicht-semantischen Typen. Man mag hier fragen, ob denn überhaupt intertextuelle Relationen denkbar seien, die nicht zugleich intersemantisc~e gehen~
sind und als solche in den Bedeutungsaufbau von T ein-
Impliziert die gegebene Definition von Intertextualität
nicht notwendig die Semantisierung der Textrelation in T? Daß dem nicht so ist, zeigt etwa ein Blick auf die Typologie der Zi~olkovskij
tation, die A.K. ~olkovskij
(1976:72-78) vorgeschlagen hat.
unterscheidet vier Typen des Verhältnisses zwi-
scheri "eigeriem Text (T 2 )" und "fremdem Text (Tl)". Von ihnen erfüllt lediglich der TY~ 111 unsere Bedingung der semantischen Intertextualität: Die offene und bewußte Zitierung aus Tl bildet eine integrale Komponente der Struktur von T 2 . Auf der Ebene der Kompetenz erscheint T2 oft als Variation zu dem Thema von Tl' d.h. ~n T 2 erhält die für beide Texte gemeinsame Komponente T eom eine Interpretation (vyvod) , die von jener, die sie in Tl hatte, verschieden ist; diese Konfrontation (sopostavLenie) der beiden Interpretationen von T eom und die Ersetzung der alten durch eine neue gehen selbst auch in die Interpretation (d.h. in das Verständnis) von T 2 ein. (74) In den übrigen Typen kommt es nicht zu der für die Intersemantizität konstitutiven "inhaltlichen Konfrontation von T 2 und Tl"
(soderzateL 'noe sopostavLenie T 2 s Tl)
(73). Entweder (Typ I)
ist eine in der Werkgenese nachweisbare Beziehung von T2 zu Tl in T2 "nicht sichtbar" (in diesem Fall läge freilich nicht einmal Intertextualität im weiteren Sinne vor), oder (Typ 11) die Zitierung hat lediglich die Aufgabe, "T2 in der künstlerischen
-
145 -
Tradition zu 'verankern', indern sie ihm einen Hintergrund, eine StUtze, eine Perspektive gibt" (73), oder (Typ IV) die divergierenden Interpretationen eines äquivalenten Elements treten in T2 nicht in eine unmittelbare Beziehung zueinander. Intertextualität als Intersemantizität manifestiert sich in jenem relationalen Verfahren, das in den letzten Jahren als 1 i t e rar i s ehe
All u s ion
beschrieben worden ist.
Deren intersemantischen Charakter deutet bereits die frühe Definition Konrad G6rskis (1962:7 f.) an: in der literarischen Allusion "bedient sich das gegebene Werk des Gehalts ei~es andern Werks als eines Mittels für den Ausdruck eines, eigenen In-
','
halts":
Przez aluzj~ literackq b~dziemy [ ..• ] rozumiec aluzyjne nawiqzanie do tekstu innego dziela literackiego, dzi~ki czemu dany utw6r posluguje si~ w wi~kszyrn lub mniejszym stopniu zawartosci q drugiego utworu jako sposobem wyrazenia wlasnej tresci. (7 f.) Die
d
0
p p e 1 t e
Allusio~,un~erstreicht
R e f e ren z
der literarischen
in seiner ausführlichen Besprechung von
Gian Biagio Contes Buch Memoria dei poeti e sistema letterario (Conte 1974) Anthony L. Johnson (1976): die alludierenden Signifikanten verweisen nicht nur auf ihre 'normalen' Signifikate, sondern beziehen sich zugleich auf einen literarischen Referenten ("the literary system of the poet alluded to, the target area being the physical substance af the wordsrecalled, together with the special effects of sense still embedded in the words reutilized", 579; vgl. ebd. das Schema der zweifachen Signifikation) . Der wichtigste Beitrag zur literarischen A~lusion ist die 'luzide Arbeit von Ziva Ben-Porat (1976)~ Ben-Parat ~efiniert das Verfahren ("device for the simultaneous activation of two te~ts",
107), beschreibt seine Struktur ("The activation is
achieved through the manipulation of a special signal: a sign [simple or complex] in a given text characterized by an additional larger 'referent'. [ ... ] The simultaneous activation of the two texts thus connected results in the formation of inter-
-
146 -
textual patterns whose nature cannot be predetermined", 108), analysiert den Prozeß der Aktualisierung (1. "recognition of a marker in a given sign", 2. "identificatibn of the evoked text", 3. "modification ofthe initial local interpretation of the signal [of literary allusion] (=sign containing a marker)", 4. "activation of the evoked text as a whole, in an attempt to form maximum intertextual patterns") und gibt schließlich (117) eine brauchbare Typologie nach dem Kriterium der Relation zwi,sehen "AT = alluding text" und "RT = referent-text" (1. AT und RT sind "initially unrelated": ihre fiktiven Welten haben mit Ausnahme des die Allusion initiierenden "marker" keine gemeinsamen Elemente, 2. AT und RT sind "initially related": ihre fiktiven Welten haben "many major elements" gemeinsam, 2a. AT und RT sind "initially relat€\d" durch Similarität ["metaphorical literary allusion"], 2b. AT und RT sind "initially related" durch Kontiguität [" me tonymical literary allusion"]). Auf der Grundlage von Johnsons und vor allem Ben-Porats Strukturheschreibung gibt Carmela Perri (1978) eine zusanunen~assende'Arbeitsdefinition:
Allusion in literature is a manner of signifying in which some kind of marker (simple or complex, overt or covert) not only signifies un-allusively, within the imagined possible world of the alluding text, but through echo also denotes a source text and specifies some discrete, recoverable property(ies) belonging to the intension of this source text (or specifies its own property[ies] in the case of self-echo); the property(ies) evoked modifies the alluding text, and possibly activates further, larger inter- and intratextual patterns of properties with consequent further modification of the alluding text. (295) Die so
definierte literarische Allusion ist natürlich nicht
mehr identisch mit dem,
wa~ w~~
unter einer einfachen Anspielung
verstehen. Als das k~rdinale Verfahren der Intersemantizitä~ ist sie vielmehr der Oberbegriff für Stilisierung, ParQdie,
~~rsi
flage, Travestie und dergleichen. Heuristisch wenig ergiebig scheint es freilich, nach der möglichen
S i n n i n t e n t ion
eine Typologie der literarischen Allusion zu erstellen, etwa zwischen ironischen, humoristischen, parodistischen, travestierenden, persiflierenden Subtypen zu unterscheiden. Denn erstens lassen
-
147 -
sich solche Qualitäten bekanntlich nicht eindeutig voneinander abgrenzen (der heterogene und unterschiedlich stark spezifizierte Inhalt der Intentionsbegriffe führt außerdem zu Extensionen unterschiedlicher Ordnung) ~ und zweit~ns ist es gerade die Natur der literarischen Allusion, Relationen herzustellen, ohne zugleich deren Sinnintention" explizit zu konkretisieren. Die Aktualisierung des semantischen Potentials, das die Korrelation von Textbedeutungen bereithält, ist ja erst vom Rezipienten zu leisten, und ihre Resultate können so komplexer Art sein, daß jede typologische Festlegung auf eine Sinnintention die Finalwirkung der literarischen Allusion reduzieren würde. Sinnvoller, weil leichter operationalisierbar und deshalb heuristisch ergiebiger als eine Klassifizierung, die sich an der Sinnintention orientiert, sind Typologien, die auf objektivierbaren, nicht schon eine Geisamtinterpretation voraussetzenden, f
0
r mal e n
Merkmalen beruhen. Zu erwähnen wären hier die
bereits existierenden Typologien 1. nach der Form des "allusion marker"
(vgl. Perri 1978:
303-305, wo - in den Begriffen der Beschreibung sprachlichfTlr Referenz - zwischen "proper naming", "definite descriptions" und "paraphrase" unterschieden wird), 2. nach der Form der Integration des Allusionssignals in T "(vgl. die ProbZemes d'eneadrement bei Jenny 1976:267271) , 3. nach der Form der Repräsentation von PT in T (vgl. die
Figures de Z'intertextuaZite: "paronomase", "ellipse", "amplification", "hyperbole", "interversions", " c hangement du niveau de sens" bei Jenny 1976:275-278) und insbesondere die von Ben-Porat vorgeschlagene Typologie, näinlich 4. nach der tropischen Relation von T und PT (bei Similarität zwischen T und PT liegt "metaphorical literary allusion", bei Kontiguität "metonymical literary allusion" vor) .
-
148 -
2. DIE DIEGETISCHE ALLUSION Sinnvoll scheint allerdings auch eine Differenzierung der literarischen Allusion nach der
Sub s t a n z . der in T und
PT korrespondierenden Komponenten. Die für die Etablierung der Intersemantizität erforderliche Korrespondenz zwischen T und PT kann sich ja auf unterschiedliche Werkschichten beziehen. Als Substanzen, in denen sich die Intertextualität manifestieren kann, seien hier genannt: 1. das diegetische Material, d.h. die denotierte Geschichte (Diegesis) bzw. ihre Konstituenten (Situationen, Protagonisten, Handlungen), 2. die die Erzählung konstituierenden narrativen Verfahren wie Linearisierung, Umstellung, Raffung, Dehnung (und darin impliziert: Perspektivierung) der Segmente aus der Geschichte 2 bzw. die Verfahren der lyrischen Komposition, 3. die Qualitäten der verbalen Präsentation (phonetische, metrische, rhythmische, lexikalische, syntaktische Ordnungen) . Von den entsprechenden Typen' der n a r r a t i, v-k l e n
0
1
d i e g e t i s e h e n,
m pos i t ion e i l e n
und
v e r b: a-
Allusion (die natürlich auch in Kombinationen auftreten
können), interessiert uns hier nur die erste. Sie läßt sich dad~rch defi~ieren, daß zwischen T und PT eine
s ehe
Ä q u i val e n z
d i e g e t i-
(d.i. eine Similarität und/oder -
auf dem Hintergrund der Identität mindestens eines diegetischen Merkmals - eine Opposition der in T und' PT erzählten Geschichten) besteht oder - besser - suggeriert wird. Dabei braucht die interdiegetische Relation keineswegs von einem diegetischen "mar. ker" indiziert zu werden. Das in T identifizierbare Allusionssignal kann durchaus von narrativ-kompositioneller oder verbaler Substanz sein. Diegetische Allusion liegt überall dort vor, wo die Äquivalenz zwischen "marke~"
(in T) und "marked" (in PT) ,
gleichgültig in welcher Werkschicht diese auftreten, im Prozeß
-
149 -
der Aktualisierung der Intertextualität eine Äquivalenz zwischen den in T und PT erzählten Geschichten aufdeckt.
(Bekanntlich
verläuft die Aktualisierung der Intertextualität schubweise, in sukzessiven, immer weitere Substanzen erfassenden trial and error-Operationen: die
Entdeckun~
einer einzelnen, auf den er-
sten Blick vielleicht ganz partiell, für das Ganze irrelevant erscheinenden Äquivalenz zieht das tentative Korrelieren
weit~
rer und im Werkaufbau höher situierter Teilstrukturen nach sich, mit positivem oder negativem Befund hinsichtlich der Äquivalenz.) Von einer diegetischen Allusion wollen wir - entgegen dem geläufigen Gebrauch von "Anspielung" - auch dann sprechen, wenn die Interdiegetizität, d.h. die intertextuelle Korrelation der Geschichten, nicht von einem einzelnen, isolierten Motiv, einem mehr oder weniger versteckten 'Wink des Autors'
(einem diegeti-
schen Detail, einer bestimmten narrativ-kompositionellen Technik oder einem Charakteristikum der sprachlautlichen Schicht) indiziert wird, sondern erst nach abgeschlossener Lektüre von T (und nur bei vollständiger Kenntnis von PT) identifiziert werden kann. Der
"~arker",
den Ben-Porat als Indikator
de~
lite-
rarischen Allusion fordert, wird dann mit der ganzen in T erzählten Geschichte identisch. Natürlich bedarf es in solchen Fällen, wo der berühmte Wink des Autors fehlt, besonders markanter diegetischer Ubereinstimmungen zwischen T und PT, wenn
e~ne
interdiegetische Beziehung als tatsächlich intendiert identifizierbar sein soll. Aber es scheint nicht notwendig, zwischen einer diegetischen Allusion 'mit Wink'
("marker"
=
diegetisches,
narrativ-kompositionelles oder verbales Detail) und 'ohne Wink' ("marker"
~
ganze Diegesis)
k a t ego r i a 1
zu unterschei-
den. Ist unter funktionalen Gesichtspunkten die Ausgrenzung eines besonderen diegetischen Typus überhaupt gerechtfertigt und bringt sie einen heuristischen Gewinn, wenn doch jegliche literarische Allusion - wie unterstellt wurde - zumindest tendenziell Intersemantizität impliziert? Gewiß, die Finalfunktion der. diegetischen Allusion mag durchaus dieselbe sein wie die der nicht-diegetischen Typen; in beiden Fällen zielt die Allusion
-
150 -
letztlich auf die Korrelierung der von den jeweils äquivalenten Substanzen metonymischkonnotierten Kon-Texte, deren Inhalte, Sinnpositionen und Ideologien. Aber es kommt nicht nur auf die Finalwirkung an. Auch die Wirkungen, die unter resultativem Aspekt lediglich als Durchgangsstadien erscheinen, haben in der Literatur - wo es bekanntlich weniger auf ein Sinnresultat als auf das Bedeutungsgeschehen selbst ankommt - ihren Eigenwert. Und die primären Wirkungen der diegetischen Allusion sind durchaus anderer Art als die der nicht-diegetischen. Während in dieser die vor-diegetischen Ebenen (die phonetischen, prosodischen, lexikalischen, syntaktischen, semantischen oder kompositionellen Motive) unmittelbar, die diegetische Ebene sozusagen überspringend, den ganzen Text und seinen Sinn konnotieren, bringt jene zunächst einmal die erzählten Geschichten zur Geltung und hält sich bei ihnen recht lange auf. Ja, gegenüber der Fokussierung der Diegesis und der diegetischen Differenzen zwischen T und PT kann die Finalwirkung, die Konfrontation der Textkonnotate, durchaus von untergeordneter Bedeutung sein. Außerdem macht es für die intersemantische Sinnkonstitution einen nicht geringen Unterschied, ob die Textäquivalenz von diegetischen oder vor-diegetischen
Substanz~n
getragen wird.
Dieser Unterschied fällt zusammen mit dem Unterschied zwischen den gattungsspezifischen Formen der Sinnkonstitution. In der Lyrik wird die Intertextualität fast ausschließlich und in der episch-vers sprachlichen Dichtung hauptsächlich durch nicht-diegetische Allusionen gebildet. Dies bestätigen die intertextualistischen Forschungen von Gian Biagio Conte zu Catull, Virgil, Ovid und Lucan (Conte 1974). Nicht zufällig mißt Conte gerade den nicht-diegetischen, vor-thematischen Allusionen besonderes Gewicht bei. Ja, er zeigt an einer Reihe von Beispielen aus der antiken Versdichtung, daß im "Gedächtnis der Dichter" phonische und rhythmische Muster eine unabhängige Existenz führen können, als Konnotatoren "formaler Bedeutungen" (vgl. Johnson 1976:580). In vielen der von Conte analysierten Allusionen nimnlt der spätere Dichter formale Muster eines Vorgängers ohne jede Rücksicht auf die mit diesen Mustern in PT verbundenen thematischen Inhalte auf, so daß es zu semantischen Katachresen
-
151 -
kommt. Gleichwohl kann die nicht-diegetische Allusion Intersernantizität implizieren, insofern nämlich die formalen Muster in T die Sinnintentionen von PT assoziativ vergegenwärtigen. Für die nicht-diegetische Allusion liefert die Lyrik der russischen Avantgarde (besonders-die Dichtung Anna Achmatovas, Osip Mandel'stams und der übrigen Akmeisten), in der die Intertextualität eine außergewöhnlich große Rolle spielt, überaus reiches Material. Nicht von ungefähr hat sich die russische Subtext-Forschung gerade auf die Lyrik der Avantgarde konzentriert (vgl. Taranovsky 1967, Ronen 1973, ~olkovskij 1976, Levinton/Timencik 1978, Rusinko 1979, Lachmann 1980). Auch wo sich in der russischen Avantgardelyrik die Allusion thematischer Einheiten bedient - etwa durch lexikalische oder semantische Äquivalenz -, erreichen diese nur selten die Größenordnung diegetischer Sequenzen. In der Prosaerzählung spielt dagegen die diegetische Allusion die führende Rolle. Aleksandr Puskins Erzählungen, von denen wir im Analyseteil eine näher betrachten wollen, sind dafür das beste Beispiel. Seine Allusionen sind sehr oft nur durch unscheinbare Details fundiert, gleichwohl intendieren sie jeweils die Vergegenwärtigung der gesamten in PT erzählten Geschichte. Es liegt auf der Hand, daß die Struktur der intersemantischen
Sinnpotentia~e
wesentlich von der Struktur der in die In-
tertextualität eingehenden Textbedeutungen geprägt ist. Diese Textbedeutungen haben aber in der Versdichtung, insbesondere in der Lyrik, einen anderen Charakter als in der Erzählprosa, wo sie eben auf diegetischen Formen und Substanzen konnotativ aufbauen, sich in diegetischem Material verwirklichen und infolgedessen nur in den Kategorien einer erzählten Geschichte artikulierbar werden. Deshalb hat die typologische Differenzierung zwischen diegetischer und nicht-diegetischer Allusion durchaus eine funktionale Berechtigung. Wir wollen nun in aller Kürze und Vorläufigkeit, eher als heuristische Vorgabe denn als endgültige Strukturbeschreibung, ein Phasenmodell der für die diegetische AlIUsion charakteristischen Aktualisierung skizzieren. Dabei werden sich andere und
-
152 -
anders strukturierte Phasen als im oben referierten Vier-StufenModell von Ben-Porat ergeben:
1.
Phase: Entdeckung der diegetischen Äquivalenz zwischen T und PT
Die Äquivalenz kann - etwa durch einen Vergleich - e x p I iz i e r t oder durch ein besonders profiliertes Allusionssignal i n d i z i e r t sein. Als Allusionssignal können fungieren: ein mehr oder weniger direktes, kohärent reproduzie~tes oder anagrammatisch verborgenes Zitat aus PT auf einer der werk immanenten Kommunikationsebenen vo~ T oder auch im Titel von T oder in einem T vorangestellten Motto , der Name eines protagonisten, ein markantes' Handlungsdetail, aber auch kompositionelle Figuren oder wie bereits angedeutet - vor-diegetische Elemente wie, lexikalische Motive, syntaktische Muster, rhythmische Gestalten, vokalische oder konsonantische Instrumentierung u.dgl. Die diegetische Äquivalenz braucht indes nicht expliziert oder indiziert zu sein, sie kann auch erst im Rekurs auf die dem Autor bekannten Prätexte, auf das in der Tradition gespeicherte Geschichten-Paradigma identifizierbar werden. Ob eine diegetische Äquivalenz tatsächlich intendiert is~, wird dann erst nach Vollzug der folgenden Phasen festzustellen sein, wenn ihre Sinngebungsmöglichkeiten durchgespieltsind. 2. Phase: Tentatives Korrelieren der in T und PT erzählten Geschichten hinsichtlich der Ubereinstimmungen und Divergenzen ihrer Situationen, Aktanten und Handlungsfunktionen, 3. Phase: Aktualisierung der materiellen, stofflichen Similarität (= Fokussierung des materiell Ähnlichen im materiell'Ungleiehen) und der materiellen Opposition (= Fokussierung des materiell Ungleichen im materiell Ähnlichen), 4.
P~ase:
Aktualisierung der funktionalen Äquivalenzen in den
materiellen Similaritäten und Oppositionen, 5. Phase: Projektion der T-Elemente und ihres vor-intertextuellen Oberflächensinnes auf die funktional und/oder materiell äquivalenten PT-Elemente und ihren kontextuellen Sinn, 6. Phase: Aktualisierung der interdiegetischen Sinnpotentiale, die sich in der Projektion des vor-intertextuellen Oberflächensinnes der T-Elemente auf den kontextuellen Sinn der korrespondierenden PT-Elemente herstellen, 7. Phase: Aktualisierung des gesamten intersemantischen Sinnpotentials, das aus der Projektion des interdiegetischen Sinnes von T auf den durch die PT-Elemente evozierten Sinn von PT resultiert.
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153 -
3. INTERTEXTUALITÄT BEI PU~KIN Ein großer Meister der diegetischen Allusion war Aleksandr Puskin. Schon in seiner verssprachlichen Epik hatten sowohl die extrafiktionale Anspielung (d.i. der Bezug auf reale Ereignisse, Persönlichkeiten und Fakten, die nicht in der dargestellten fiktiven Welt situierbar sind) als auch die im eigentlichen Sinne intertextuelle Vergegenwärtigung fremder fiktiver Welten eine Uberaus große Bedeutung für die Sinnkonstitution. Der Intertextualismus konnte sein Bedeutungsziel natlirlich nur in einer geschlossenen literarischen Kommunikationssituation erreichen. Die Kunst der Alluiion setzt flir die Erfüllung ihrer Sinnintentionen bekanntlich eine homogen gebildete und alle werktranszendenten BezUge sensibel erfassende Leserschaft voraus. Tatsächlich wandte sich Puskin an einen sozio-kulturell homogenen Kreis hochbelesener Adressaten, die mit ihm die Kenntnis der intendierten Realien und Texte teilten und denen auch die verborgensten Anspielungen nicht entgingen . .Auch wo Puskin auf Mythos und Dichtung der Antike oder Werke der französischen, englischen, italienischen und deutschen Literatur anspielte, konnte er sich des Verständnisses seines Publikums gewiß sein. Französisch war die Kultur-, Brief- und Salonsprache seiner Zeit, und die Werke anderer Literaturen waren entweder ins Russische übersetzt oder lagen in französischen ProsaParaphrasen vor. Dazu muß man wissen, daß antike und westeuropäische Literatur von den gebildeten Zeitgenossen in aller Regel liber - meist mediokre - französische Ubersetzungen rezipiert wurde. Puskin, dessen Englischkenntnisse sehr begrenzt waren wie seine mißlungenen Versuche einer Ubersetzung 'aus Byron und Wordsworth (ins Französische!) belegen -, las sogar Shakespeare und Sterne, Richardson, Scott und Byron, auf die er so oft re4 kurrierte, in französischen versionen . Der Gallozentrismus der russischen Kultur im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und die frankophone Kanalisierung und Kodierung der interkulturellen Rezeption trugen erheblich zu jener Gleichartfgkeit literarischen Wissens bei, auf die einmal angewiesen ist.
intertextualistisch~s
Dichten nun
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Mit zunehmendem Abstand von der Schaffenszeit des Dichters und mit wachsender sozio-kultureller Differenzierung des Leserpublikums schwand natürlicherweise die von Puskin vorausgesetzte Allusionskompetenz. Heute bedürfen wir für eine werkadäquate Dechiffrierung ausführlicher Kommentare. Deren prominentester, aus der Feder Vladimir Nabokovs (1 1964 , 2 1975 , Bde 11 und 111), entfaltet auf annähernd tausend Seiten (zu dem etwa 170 S. umfassenden Eugen Onegin) eine wahre Enzyklopädie
realienkundl~
ehen und motivgeschichtlichen Wissens. An diesem hochgelehrten, superprofessionellen Werk zeigt sich der Glanz, aber auch das Elend der traditionellen Motivgeschichte. Nabokov, der sich nicht ganz zu Recht lustig macht über die " s imilarity chasers, source hunters, relentless pursuers of parallel passages" (Nabokov 1975, 11:235), kann zu vielen Wortmotiven und diegetischen Details eine schier unendliche Reihe von Parallelen aus der russischen, französischen, englischen und deutschen Literatur anführen. In der überbordenden Fülle der Referenzen wird indes nicht geschieden zwischen jenen Motiven, die fester Bestandteil der Gattung waren oder nur in sehr allgemeinen Merkmalen mit Puskins Versroman in Verbindung zu bringen sind, und jenen, bei denen hohe Äquivalenz bei spezifischem Inhalt auf ein echtes intertextuelles Faktum schließen lassen. Die gefundenen Bezüge werden also nicht auf ihre Intentionalität befragt. In kritischer Betrachtung erweisen sich denn auch viele von ihnen als gattungs- und epochengebundene Ubereinstimmungen und Parallelen, nicht aber als eigentlich (im Sinne unserer Definition) intertextuelle Bezugnahmen. Aus der Vernachlässigung der Intentionalität folgt notwendig ein zweiter Mangel: der Verzicht auf eine funktionale, insbesondere semantische Auswertung der - vermeintlichen oder tatsächlich intendierten - Allusionen. Puskins Kunst der Intertextualität erreichte ihren
Höhe~
punkt in seinem ersten abgeschlossenen Prosawerk, dem Novellenzyklus Die Erzähtungen Betkins (Povesti pokojnogo Ivana Petro-
vica Betkina, 1830). Hier stehen nicht mehr Anspielungen auf historische Ereignisse, reale Persönlichkeiten, kulturelle Fakten oder Details fremder Werke im Vordergrund, sondern die echte diegetische Allusion, die auf interdiegetischer Äquivalenz be-
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155 -
ruht oder diese enthüllt. Die ErzähZungen Bel4ins entwerfen ganze Paradigmen von Prätexten. Ja, die
G~sGhichten
scheinen dermaßen von fremden Texten
zu leben, daß mancher zeitgenössische Kritiker in ihnen nur die Wiederholung und Kombination bekannter "Anekdoten" zu sehen vermochte und die Eigenständigkeit d~s Zyklus und die Originalität seines Autors bezweifelte. Auf der anderen Seite bemängelte man die vermeintliche Substanzlosigkeit, Ideenarmut der Erzählungen und wertete sie als z\,/ar "unterhaltsame" (zanimateZ'nye) , aber: seichte
"Mä~chen
und
Histörchen~ ,(~kazki
i
pobasenki, so Vissa-
rion Belinskij, 1953-1959; 1:139 f.), die man lese, wie man ein Konfekt esse, mit Genuß, aber ohne Denkanstrengung,nach der Lektüre bleibe im Gedächtnis außer Abenteuern nichts zurück (Fad-
d~j Bulgarin 1831).5 Tatsächlich~beruht auch dieses Fehlurteil auf einem richtigen Eindruck: in den Erzählungen sind alle weltanschaulichen und psychischen Beweggründe, die das Handeln der Personen leiten, systematisch ausgespart. Ein Vergleich der Autorvarianten zeigt sogar, daß Puskin für die Druckfassung die Be's'chrei~ung ,psychischer Vorgänge, die das oft rätselhafte Ver-
halten der Protagonisten erklärt hätte" durch dynamisch-diegetische Motive ersetzt hat. Es blieb nur ein nacktes Gerüst äußerer Handlungen. Nicht von ungefähr beklagte Tolstoj im Jahr 1853, als er in der Literatur seiner Zeit die Dominanz der "Einzelheiten des Gefühls" über die "Ereignisse" pries, die 'Nacktheit' der Puskinschen Prosa ("noBecTH nywKHHa
rOJlbI
KaK-To.", Tolstoj
1936-1964, XLVI:188). Im hohen Alter, in den Jahren 1908 und 19'10, erklärte er die Erzählungen Belkins dagegen zum Besten aus Puskins dichterischem Schaffen, lobte insbesondere ihre "Einfachheit" (prostota) und "Gedrängtheit" (szatost') und sprach ihnen damit jene Qualitäten zu, die ihr Autor in den zwanziger Jahren der jungen russischen Prosa als Stilideale verordnet hatte. 6 Tolstojs Revision seiner früheren Urteile ist charakteristisch für die Evolution in der Rezeption der Erzählungen Bel-
kins und symptomatisch für die Eigenart der Puskinschen "Ein"" fachheit". In den - an der Oberfläche - einfachen Geschichten entdeckte man ein reiches 'Sinnpotential. Im Lichte ganz unter-
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156 -
schiedlicher hermeneutischer Entwürfe zeigten sich die Erzählungen als gehaltvolle, tiefe Modellierungen menschlicher Existenz. Woher aber stammt die Bedeutungsenergie der nackten, ohne jede ideologische oder psychologische Motivierungpräsentierten Geschichten? Die Novellen erhalten ihre Sinnpotenz, so lautet unsere
heuri~tische
Hypothese, aus der Äquivalenz ihrer Motive
sowohl mit anderen Motiven desselben Textes als auch mit Motiven fremder Texte aus der literarischen Tradition. Die zentralen Motive der Handlung sind somit darstellbar als Glieder eines z w eid i m e n s ion ale n
P a r a d i g m a s. Dessen
horizontale Dimension wird von dem im Textsyntagma realisierten i n t r a-textuellen Paradigma gebildet. Es faßt Motive zusammen, die durch inhaltliche, formale und/oder positionelle Äquivalenz verklammert sind. Das vertikale, in absentia existierende i n t e r-textuelle Paradigma vereinigt Motive und ganze Geschichten, die mit den Novellen bzw. ihren Sequenzen durch diegetische Äquivalenz verbunden sind. i n t e rtextuelles Paradigma diegetisch 'äquivalenter Geschichten'
i n t e r-textuelles Paradigma Motive
diegetisc~Uivalenter
/ T -~
inhaltliche Similarität/Opposition schafft (primäre) diegetische Äquivalenz
~
, . formale·und pos~tionelle Äquivalenz suggeriert (sekundäre) diegetische Äquivalenz
SCHEMA DES ZWEIDIMENSIONALEN PARADIGMAS
i n t r atextuelles, im Textsyntagma realisiertes Paradigma diegetisch äquivalenter M t' 0 lve
-
Die
~rojektion
157 -
der intra- und inter-textuellen Äquivalente
auf das entsprechende Motiv von T führt zu einer
Umhierarchi~
sierung von: dessen Strukturelementen und dynamisi~rt seine Sinnfunktion. Die Betrachtung der" Textmotive als Glieder zweidimensionaler Paradigmen und die Aktualisierung der sich in der intraund inter-textuellen Relationierung bildenden Sinnpotenzen zeitigen oft höchst überraschende Ergebnisse. Projiziert auf das intra- und inter-textuelle Paradigma, erweisen sich Motive, denen man nur geringe Sinnrelevanz zuerkennen möchte, als durch und durch gesättigt mit Sinn, und andererseits
entwick~ln
Motive,
denen ein eindeutiger Sinn zuzukommen scheint, eine Bedeutungsdynamik, die ihre ursprüngliche semantische Disposition sogar ins Gegenteil verkehren kann. In relationistischer Rezeption, die den sich anbietenden Sinn einzelner Teile der Diegesis von T in eine zweifache Relation setzt
~
~inerseits
zu den Bedeu-
tungsmöglichkeiten anderer Teile derselben Diegesis, andererseits zu den in der literarischen Tradition verfestigten Deutungen äquivalenter diegetischer Sequenzen -, erhalten die 'nackten' Geschichten jenen komplexen und unerwarteten Sinn, 7
der die'EpzähZungen BeZkins auszeichnet.
In der folgenden Analyse beschränken wir uns auf die i n t e r-textuelle Äquivalenz der Geschichten. Am PosthaZtep
(Stanaionnyj smotpiteZ'), jener Novelle des Zyklus, in der die Interdiegetizität im Sinn von T die größten Verschiebungen bewirkt, wollen wir einige der zahlreichen diegetischen Allusionen betrachten. Dabei geht es weniger um eine substantielle B als um die
Beschreibung der interdiegetischen Äquivalenzen Analyse ihrer Sinnfunktion.
4. DIE POSTHALTERNOVELLE UND IHRE PRÄTEXTE Im PosthaZtep erzählt ein sentimentaler Reisender von
dre~
Begegnungen auf einer russischen Poststation. Bei seinem ersten Besuch macht er die Bekanntschaft mit Samson Vyrin, dem Titelhelden, einem biederen, rüstigen Witwer, und mit Dunja, seinem liebreizend-koketten Töchterchen, das einerseits - wie ihr Vater
,- 158 -
limit der Miene zufriedenen Selbstgefühls"
(" C BHP;OM P;OBOJIbHOrO
caMoJIw6HH"; 98/13)9 hervorhebt - "so gescheit ist, so flink, ganz die selige Mutter" BCH B
nOKOnHH~Y
("p;a TaKaH pa3YMHaH, TaKaH npoBopHaH,
MaTb"; 98/13), das andererseits - wovon der Er-
zähler selbst zu berichten weiß - "ohne Schüchternheit wie ein Mädchen, das sich in der Welt umgeschaut hat"
("6e30 BCHKOn po-
60CTH, KaK p;eBYWKa, BHp;eBwaH cBeT"; 99/15) mit den Reisenden umzugehen versteht,
ja sich von dem durchreisenden Erzähler im
Hausflur küssen läßt (Dunja, Kurzform von Avdot'ja, geht zurück auf neutestamentlich griechisch EuöoHLa 'Wohlwollen',
'Wohlge-
fallen'!) . Nach einigen Jahren führen die Umstände den Erzähler zu der Station zurück. Ihr Aufseher ist auffällig gealtert, er lebt allein in dem nun verwahrlosten Haus. Aufgeheitert durch einige Glas Punsch, erzählt er die traurige Geschichte von Dunjas Unglück, eine Geschichte, die den Erzähler - wie er selbst unterstreicht -
"damals tief ergriff und rührte" ("B TO BpeMH CHJIbHO
MeHH 3aHHJIa H TpOHYJIa"; 100/19). Ein junger, schöner Offizier (Minskij), auf den Dunja dieselbe besänftigende Wirkung ausübte wie auf andere ob des Ausbleibens der Pferde ungehaltene, ihm, dem Vater, mit Schlägen drohende Reisende, hat sich unter Vortäuschung einer plötzlichen Erkranku~g einige Tage von Dunja liebevoll pflegen lassen und die Tochter dann nach Petersburg entführt. Kaum von der Krankheit genesen, die ihn nach dem Schrecken niederwarf, hat sich der Alte zu Fuß auf den Weg in die Stadt.gemacht, aber alle Versuche, sein "verirrtes Schäf9hen"
("3a6JIY.QWaH OBe'lKa"; 103/27) heimzuführen, sind geschei-
tert. Minskij hat ihn zweimal vor die Tür gesetzt. Vyrin lebt jetzt das dritte Jahr allein und hat von Dunja nie mehr etwas gehört. Man weiß ja, wie es geht in der großen Welt: "[ .•. ] He ee rrepBYW, He ee nOCJIep;HWW CMaHHJI npoe3*Hfi noBeca, a TaM nop;ep*aJI, p;a H 6POCHJI. MHoro HX B neTep6ypre, MOJIOp;eHbKHX P;YP, cerop;HH B aTJIaCe p;a 6apxaTe, a 3aBTpa, nOrJIHp;HWb, MeTYT YJIHlJ,Y BMecTe c rOJIbW Ka6aIJ,I(OW. KaI( noP;YMaeWb nopow, 'lTO H .uYHH, Mo*eT 6b1Tb, TYT *e nponap;aeT, TaK nOHeBOJIe corpeWHWb, p;a no*eJIaeWb en MOrHJIb1 ~ .. " (105) "[ ... ] Sie ist nicht die erste und nicht die letzte, die ein durchreisender Nichtsnutz erst verführt, dann ausgehalten und schließlich verlassen hat. Viele gibt es von
-
159 -
ihnen in Petersburg, den dummen Dingern, heute gehen sie in Atlas und Samt, aber morgen siehst du sie zusammen mit dem Abschaum aus den Kneipen die Straße fegen. Und denkst du dann mitunter, daß auch Dunja vielleicht gerade eben zugrundegeht, dann versündigst du d-ich unwillkürlich und wünschst ihr das Grab ... " (35) Bei dem dritten Besuch ist die Station aufgehoben. Der Erzähler erfährt von der dicken Bierbrauersfrau, die jetzt das Haus mit ihrem Mann bewohnt, daß sich Vyrin zu Tode getrunken hat. Ein zerlumpter
rotha~riger,
einäugiger Junge zeigt dem Rei-
senden Vyrins Grab auf dem verwahrlosten Friedhof. Im Sommer sei eine wunderschöne Dame vorbeigekommen, berichtet er auf des Erzählers Befragen, in einem Wagen mit sechs Pferden, sie sei von drei kleinen Herrchen, einer Amme und einem schwarzen Mops begleitet gewesen. Auf die Nachricht, daß der Posthalter gestorben sei, sei sie in Tränen ausgebrochen, habe am Grab gebetet und sei wieder weggefahren. Wie dem Vater so erschien auch den zeitgenössischen Kritikern und vielen späteren Interpreten Dunjas Geschichte als Wiederholung des beweinenswerten Schicksals der armen Lisas, Masas und Marfas, die -nach dem Muster von Nikolaj Karamzins Armer Lisa
(Bednaja Liza, 1792) von einem Vertreter höherer Stände verführt und ins Unglück gestürzt - die sentimentalistische Massenliteratur im ersten Drittel d~s 19. Jahrhunderts bevölkerten. Das konventionelle. Schema, dem Vyrin in seiner (falschen) Antizipation von Dunjas Elend folgte, hielt auch viele Rezipienten so sehr· in seinem Bann, daß sie gar nicht auf die entscheidende Abweichung in Puskins Kontrafa~tur aufmerksam wurden: Dunjas Glück und Vyrins (scheinbar) tragischen Irrtum. Wo man die Divergenz zwischen Puskins Realisierung und dem Paradigma der Prätexte erkannte, tendierte man allzu oft zu einer soziologistischen Konkretisierung unter sentimental-philanthropischem Vorzeichen. Es ist geradezu ein Topos der PuskinForschung geworden, Vyrins untergang mit sozialer Unterdrückung zu erklären. Noch jüngste sowjetische Interpretationen deuten Vyrin als das "Opfer der ungerechten sozialen Verhältnisse" (so Stepanov 1961:9, ähnlich Stepanov 1962:69, Gukasova 1973:178, 189, 191, Bel'kind 1974:126, Michajlova 1976:80, Poddubnaja
-
160 -
1979:17 f., und viele andere). Zahlreiche sentimentale Verfilmungen haben diese Deutungen kanonisiert, und im sowjetischen Literaturunterricht gilt der Posthalter nach wie vor als der klassische Prototyp der in der russischen Literatur paradigmatisch gewordenen sozialen Novelle vom grausam unterdrückten 'kleinen Beamten', als Beginn der den Realismus prägenden Literatur der sozialen Anklage. Projiziert man den Posthalter nun aber auf jene Prätexte, die der Text durch einzelne Allusionssignale oder durch die,gesamte Diegesis vergegenwärtigt, deren Hintergrund er somit zur adäquaten Dechiffrierung erfordert, und aktualisiert man neben offensichtlichen Similaritäten auch die Oppositionen, ~ich
~so __ ~r~~ist
der petrifizierte Oberflächensinn als Ergebnis einer vom
Autor inszenierten Irreführung. Die ganzheitliche, auch die oppo~itive
Äquivalenz
erf~ssende
Relationierung von T und der
'
in ihn eingeschriebenen PTe führt die von der Oberfläche suggerierte soziale Motivierung ad absurdum und läßt einen von Pus~
kin intendierten gegenläufigen Tiefensinn extrapolieren.
4.1. Karamzins Arme Lisa Betrachten wir nun zunächst einmal jenen PT, den die sentimentalistische Haltung des Erzählers, zahlreiche karamzinistisehe Wort- und Wertungsmotive, insbesondere die mehrfach gebrauchte Benennung arme Dunja
10
,
und das zentrale diegetische
Motiv der (vermeintlichen) Verführung eines einfachen Mädchens durch einen Vertreter höherer Stände indizieren, Karamzins Arme Lisa.
Karamzins sentlmentaler Narrator, das Sprachrohr des Autors, erzählt, seinen Bericht immer wieder mit emotionalen Exklamationen, tränenseligen Lamentationen und warnenden Apostrophen an seine HeIdin unterbrechend, die Geschichte des armen Bauernmädchens Lisa, das von dem Adeligen Erast umworben, verführt und dann um einer reichen Witwe willen verlassen, sich im Dorfteich ertränkt, wohlgemerkt aus Schmerz über den Liebesverrat und nicht etwa, weil sie ein Kind erwartete! Die durch die Allusions-
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161 -
signale unterstrichene Similarität läßt uns die "arme Dunja" zunächst mit der, "armen Lisa" identifizieren. Vyrin wird zum Äquivalent von Lisas Mutter,
di~"aus
Entsetzen über das schreck-
liche Ende der Tochter für immer die Augen schließt. Und Minskij fällt der Part des leichtfertigen, wankelmütigen aristokratischen Verführers zu. Diese m a t e r i e I I e
Oberflächen-Korrespondenz zwi-
schen den Figuren in T und PT, an die sich die traditionelle Rezeption gehalten hat, wird freilich von einer verborgenen fun k t i o n a l e n
Äquivalenz
k
0
n t e r d e t e r m i-
n i e r t. Puskin übernimmt nämlich von Karamzin eine Sequenz mit Lisa und Erast als Aktanten (es geht um ihr Abschiedsgespräch in Erastens Haus)11, zerlegt sie in zwei Teile, stellt (~
diese um und überträgt die Handlungsrollen auf Vyrin und Minskij
(~Erast).
Lisa)
Die neue Zuordnung bestätigt zwar Mins-
kij (zunächst!) als Pendant zu Erast, weist Lisas Rolle aber Vyrin zu. Wenn Puskin das Karamzinsche Abschiedsgespräch der Liebenden durch die zweimalige Konfrontation des Vaters mit dem Entführer ersetzt, profiliert er die Männer als Rivalen in der Werbung um Dunja.lhre Rivalität wird zudem von
i n t r a-diegeti-
schen Äquivalenzen unterstrichen. Vyrin wiederholt die drei zentralen Handlungen Minskijs: 1.)Minskij kommt zum Posthalter, 2. stellt sich, Dunjas ansichtig geworden, krank und 3.
ent~
führt sie nach Petersburg. Dem entspricht folgende Handlungstriade: 1. Vyrin erkrankt ernstlich, als er nach Dunjas Verschwinden Minskijs Täuschung durchschaut hat, und legt sich wie der Erzähler nicht versäumt zu betonen -
"sogleich in'das-
selbe Bett, in dem die Nacht vorher der junge Betrüger gelegen hatte" nOAoA 2~
("TYT
~e
o6MaH~HK";
cner B TY caMYro rrOCTenb, rAe HaKaHYHe 102/27)
ne~an
MO-
(Äquivalenz mit Minskijs Handlung 2),
Vyrin begibt sich nach seiner Genesung nach Petersburg, zu
Minskij (Äquivalenz mit Minskijs Handlung 1), 3. er
beabsich~
tigt, wie der gute Hirte des Neuen Testaments, sein "verirrtes Schäfchen" heimzuführen, das ihm der "Wolf" Minskij g'eraubt hat (die Absicht zu dieser Handlung, die selbst nicht ausgeführt wird, korrespondiert mit Minskijs Handlung 3). Zum ersten Mal
-
162 -
begegnen wir dem für Puskin charakteristischen Verfahren, durch intra- und inter-textuelle diegetische Äquivalenz die an der Textoberfläche ausgesparte Psychologie zu konkretisieren. Die unbewußte Imitation des verhaßten, aber wohl auch bewunderten Verführers weist Vyrin als Eifersüchtigen aus. Vyrin übernimmt in der zerlegten, verschobenen, umgestellten und auf andere Aktanten bezogenen Sequenz den Part, den bei Karamzin Lisa spielte. Die .neue' Äquivalenz (Vyrin
~
Lisa) wird
durch ein Signal bestätigt. Bei seiner Wiedergabe von Vyrins Erzählung über das Zusammentreffen in Dunjas Petersburger Wohnung, wo Vyrin Zeuge der Liebe zwischen seiner Tochter und ihrem Entführer wird, fällt der Erzähler aus seiner perspektivischen Rolle. In Karamzinscher Manier ruft er aus: "Armer Aufseher! Noch nie war ihm seine Tochter so schön erschienen"
("EeAH~A
CMOTpH'renb! HHI(orAa A0tIb ero He Ka3anacb eMY cTonb npeKpacHolO"; 104/33-35). Ohne daß er sich dessen bewußt wird, signalisiert er damit: nicht Dunja"sondern Vyrin ist der tragische Die neue Figurenäquivalenz (Vyrin
~
H~ld.
Lisa) initiiert wei-
tere, tentative Korrelierungen. Diese zeitigen neue Konkretisationen der Diegesis von T, denn sie fordern dazu auf, die von Puskin unbestimmt gelassenen Handlungsmotivierungen, die man zunächst nach konventionellen Mustern zu konkretisieren versucht ist, unter neuen, den Oberflächensinn der Diegesis v e r t i e r e n den
i n-
Vorzeichen zu bestimmen. In der Iner-
tia konventioneller Lektüre, die sich an den materiellen Similaritäten zwischen dem Posthalter und der Armen Lisa orientiert, wird man die bei Puskin offen gelassene Ursache für
?~nUnter
gang des Vaters - analog zu den inneren Motiven von ,Lisas Mutter bei Karamzin - mit dem Kummer über das vermeintliche künftige Elend der Tochter identifizieren. Sobald aber die neue, funktionale Figurenäquivalenz (Vyrin
~
Lisa) erkannt ist, gibt
die weitere Projektion von T auf PT dem Kummer des Vaters einen ganz unerwarteten Inhalt. Lisas letzte Gedanken vor dem Gang in den Teich sind: "Er [Erast], er hat mich weggejagt? Er liebt eine andere? Ich bin
v~rloren!"
("OH, OH
B~rHan
MeHR? OH nlO5HT
APyrylO? 51 norH5na!"; Karamzin 1966:52). Die Äquivalenz von Vyrin und Lisa suggeriert, daß Vyrins Ftucht in den Trunk
ä~nli-
-
163 -
ehen Gefühlen entspringt. Wie Lisas Gang ins Wasser ist sein Griff zur Flasche - im wörtlichen und übertragenen Sinn des - über-f I U s s i g e
Kalaue~s r~t.
Konsequenz aus dem Liebesver-
Sein Untergang resultiert aus der eigensüchtig
beßitzer~
greifenden Liebe zur Tochter und aus der Eifersucht auf den jungen, reichen Rivalen. Die funktionale Äquivalenz zwischen Vyrin und Lisa zieht die Destruktion der materiellen Korrespondenzen auch zwischen den übrigen Figuren von T
u~~ PT nach sich und begründet -
gleichsam in einern Bäumchen-wechsel-dich-Spiel - eine ganz neue inter-textuelle Konfiguration
a I I e r
Protagonisten.
Wenn Vyrin funktional nicht Lisas Mutter, sondern Lisa selbst entspricht, wessen funktionalen Part spielt.dann Dunja? An die Stelle ihres materiellen Pendants Lisa tritt als funktionales Äquivalent Erast. Dunja und Erast haben gemeinsam, daß sie den Partner tauschen. Erast tauscht die junge, aber arme Lisa
(die er weiterhin liebt) gegen die alte, aber reiche
Witwe. Dunja tauscht den alten
und
jungen
(Während Karamzin seinen Helden
und
reichen Minskij.
armen Vater gegen den
also vor die Alternative zwischen Jugend und Reichtum stellt, konzediert Puskin seiner HeIdin, nach der Maxime zu entscheiden
Lieber reich und in der Liebe glUcklich als arm und unglUcklich!) Die funktionale Entsprechung Dunja
~
Erast wirft schließ-
lich die Frage nach dem funktionalen Pendant des aus der Korr~spondenz mit Erast entlassenen Minskij auf. Der junge, reiche
Offizier wird funktional äquivalent mit der
alte~,
Beide sind Nutznießer des Tausches von Dunja bzw.
re~chen Eras~,
Witwe.
aber
auch - das suggeriert das Karussell der inter-textuellen Korrespondenzen - Objekte (wenn nicht gar Opfer) der finanziellen Berechnung ihrer Partner. Wir erhalten folgende inter-textuelle Konfiguration (die Reihenfolge markiert die diegetische Hierarchie der Figuren;
=
materielle Äquivalenz,
funktionale Äquivalenz) :
Karamzins Arme Lisa 1. Lisa (jung, arm)
2. Erast 3. Mutter
Puskins Posthalter
~~:
,.....
4. Witwe (alt, reich)
...
Vyrin (alt, arm)
Minskij (jung, reich)
3. Dunja
-
164 -
Natürlich werden die materiellen Äquivalenzen durch die funktionalen nicht völlig verdrängt. Sie sind zumindest als de-' struiertein der Antithese dialektisch aufgehoben. Dunja ist weiterhin
a u c h
als Äquivalent Lisas wahrnehmbar, wie Vyrin
und Minskij als Entsprechungen zu Lisas Mutter bzw. Erast sichtbarbleiben. Zwischen materiellen und funktionalen Äquivalenzen entsteht in der Bedeutungskonstitution gleichsam ein (der etwa der Konkurrenz zwischen dem ordo artificia~is
s c h i c h t e ,und dem ordo in der
n a r rat i v e n
natura~is
der
Kam p f der
G e-
Erz ä h I u n g
Konstitution vergleichbar ist).
Auch wenn die funktionalen Äquivalenzen aus diesem Kampf (unterstützt durch die Sinnpotentiale der
i n t r a-textuellen Para-
digmen und der Allusionen auf andere Prätexte) als Sieger hervorgehen, darf die
simultan~
dvojstvennost'
(Vygotskij 1925) von
These und Antithese nicht einfach zugunsten eines eindeutigen, fixen Bedeutungsresultats aufgelöst werden. In jedem Fall aber, selbst wenn man sich lieber an die materiellen als an die funktionalen Äquivalenzen hält, wird man anerkennen müssen, daß schon allein der inter-textuelle_ Ver_gleich der
m a t e r i e I I
äquivalenten Figuren im Ähnlichen
das Ungleiche aufdeckt. Dunja ist eben nicht, wie Lisa, die naivunschuldige Dorfschöne und folglich wohl auch kaum Opfer von Verführung und Verrat. Sie scheint eher der selbstbewußte Schmied ihres Glück~" Diese Opposition suggeriert einen analogen Gegensatz zwischen Erast und Minskij. Wir dürfen vermuten, daß Minskij nicht der leichtfertige Aristokrat' ist, der ein einfaches Mädchen ins Unglück stürzt. Er gibt Dunja Glück, aber eher - das legt Dunjas Charakter nahe - als Objekt ihrer Berechnungen denn als uneigennütziger Spender. Und Vyrin schließlich geht
ni~h±_
-
wie Lisas Mutter - am Schmerz um die verlorene Tochter zugrunde, sondern am Verlust des Objekts
~einer
eigensüchtigen Liebe. Die
Oppositionen, die in den materiellen Äquivalenzen sichtbar werden (Dunja
~
Lisa> Dunja =f Lisa), unterstützen also durchaus die
Sinnpotentiale, die die funktionalen Similaritäten enthalten (Vyrin ~ Lisa -t Dunja ~ Erast) .
-
165 -
Wenn wir die ganzen Geschichten und ihre
Handlurigslo~ik
mi teinander konfrontieren, komme_n wir zu folgendem Schluß: Pusk'in setzt Karamzins sentimental-tragischem Modell' nicht einfach eine glückliche Kontrafaktur entgegen. Das Problem des Lebensglücks wird von ihm viel komplexer und psychologisch·~iefgründi ger als in der wenig plausiblen tragischen Lösung Karamzins be:'" handelt. Dunjas Glück wird erkauft - und zwar notwendig erkauft mit dem Unglück des Vaters. Das Glück des einen schließt das Glück des andern aus. Aber nicht etwa aus - soz:ialen Gründen, weil sich zwischen ihnen ein gesellschaftlicher Abgr~nd auftut, sondern aus psychologischen:. Der Charakfer ',deß koketten, selbstbewußten Mädchens widerspricht den bieder-eigenpüchtigen Interessen seines Vaters. Hätte Vyrin, der seine Tochter als Ersatz für die verstorbene Frau betrachtet, unter andern gesellschaftlichen Bedingungen etwa am Glück der Jungen teilhaben können oder auch nur wollen? Jede Reduktion der in der Tat unvermeidlichen Kollision zwischen Dunjas und Vyrins Interessen auf soziale Determinanten verkennt Puskins psychologische Untergrabung der im Sentimentalismus gepflegten oberflächlich-sozialen Motivierung und seine Freude an der ironischen Destruktion der von ihm selbst zunächst angebotenen Erklärungsschematc,t. Die Konfrontation der Textkonnotate enthält als Sinnpotential Puskins ironische Kritik an Karamzins a-psychologischer Idyllik und an der gedankenlosen Idealisierung des. Landlebens~ Diese Sinnintention wird von zwei metonymischen Zeichen indiziert: 1. Puskins sentimentaler Reisender versichert, daß die malerischen Tränen, die Vyrins Erzählung begleiten, mochten sie "~um Teil"
("oTl.JaCTH") auch vom Punsch herrühren, dem der Alte reich-
licp zugesprochen hatte,sein Herz gleichwohl "stark rührten" ("cHnbHO
TpoHynH"~
105/37). Uber den Erzähler
hinweg·r~chtet
sich die Ironie des Autors an die Adresse Karamzins, der seinen Erzähler emphatisch ausrufen ließ: "Ach! Ich liebe jene Gegenstände, die mein Herz rühren und mich Tränen süßer Trauer verg ie ßen las sen!" (" Ax! 5I moomo Te cep~~e H
npe~MeThl,
I
3acTaBnHIOT MeHH np6nHBaTb cne3hl He_HoR CKOpOH!"; Karam-
-
166 -
zin 1966:37). Der Sentimentalist nimmt - so lautet Puskins implizites Urteil -
jede Ursache für Tränen in Kauf, wenn diese
ih~
nur zur Rührung verhelfen. 2. Karamzins idyllischer Beschreibung von Lisas Grab setzt Puskin eine überaus nüchterne Kontrafaktur entgegen. Während Lisas Grab; das dem Erzähler zum oft aufgesuchten Ort des Nachdenkens und Tränenvergießens wird, "neben dem Teich, unter einer düsteren Eiche" 'liegt ("6nH3 npY,Qa, no,Q Mpa'lHbIM ,Qy60M"i Kararnzin 1966:52), befindet sich Vyrins Grab auf einern "kahlen Platz, übersät mit Holzkreuzen, den~n kein einziges Bäumchen Schatten gibt" ("ronoe MeCTO [ ... ], ycefIHHoe ,QepeBfIHHbIMH KpecTaMH, He oCeHeHHbIMH HHe,QHHbIM ,QepeBI..\eM" i
106/41).
4.2. Karlgofs Posthalter Ironische Kriti~ an der rührseligen Idyllik und idealisiere~den
Wirklichkeitsdarstellung im russischen Sentimentalismus
resultiert auch aus dem interdiegetischen Bezug von Puskins
Posthalter auf die gleichnamige erbauliche Erzählung (Stancionnyj smotritel') des sentimentalistischen Epigonen Vil'gel'm Ivanovic Karlgof aus dem Jahre 1826, auf die Puskin schon durch den Titel anspielt. In der Rahrnengeschichte kehrt Karlgofs Erzähler, wie Puskins Titularrat ein sentimentaler Reisender, unter dem Vorwand einer Unpäßlichkeit in einer Poststation ein, die ihm - wegen ihrer
~ngewöhnlichen
Bewohner - als Herberge empfohlen worden
ist. Während ihn die Posthaltersfrau (Dunjas biederes Äquivalent) mit Tee bewirtet, preist sie ihm in sentimentalen Tiraden die Vorzüge ihres Standes. Der eintretende Hausherr, der sich auszeichnet durch "feine Wohlerzogenheit, die nur durch das Leben in der großen Welt zu erwerben ist"
("ToHKoe rrpHnw·me,
npH06peTaeMoe CBeTCKOIO )f{H3HbJO" i Karlgof 1832: 115) , erzählt dem Reisenden mit sentimeritalistischer Wohlredenheit die Geschichte seines Lebens. Er ist ein verarmter Kaufmannssohn, hat in Göttingen studiert und in Petersburg seine Lisa
kennengele~nt.
Ihr
Vater leistete angesichts der Armut des Bewerbers gegen die Ver-
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167 -
bindung erbitterten Widerstand. So haben sie sich heimlich von einem Dorfgeistlichen trauen lassen und sind vor dem Vater in' . . die ländliche Poststation geflüchtet, wd sie mit der Schar ihrer Kinder ein zwar bescheidenes, aber überaus glückliches Leben führen ... ·. Puskins Geschichte gibt sich als strukturhomologe, inhaltlich aber oppositive Kontrafaktur zu erkennen. Sie stellt Karlgofs Diegesis geradezu auf den Kopf oder setzt ihr ~ine spiegel12 bildliche Umkehrung entgegen. Sie wiederholt ei~zelne Motive (z.B. die Begegnung des Reisenden. mit der
H~rrin
die retrospektive Erzählung des Posthalters,
d~n
der Station, Widerstand des
Vaters gegen die nicht standesgemäße Liebe der Tochter), invertiert andere (Umkehrung des Wegs von der Hauptstadt zur Poststation) oder bezieht sie auf andere Aktanten (so hat Minskijs Vortäuschen der Krankheit ein Vorbild in der vorgespielten Unpäßlichkeit des Karlgofschen Erzählers). Die wichtigste konstruktive Verschiebung: Puskin verlegt die Posthalter-Funktion und die sekundäre Erzählperspektive (die die retrospektive Binnengeschichte organisiert) vom glücklichen Entführer in .?en hintergangenen Vater. Das interdiegetische Sinnpoterltia'l . resultiert vor allem aus Pu skins ironischem Wörtlichnehmen der Karlgofschen Lehre. Die Erzählung des glücklichen Posthalters demonstriert die Macht der Liebe und die Notwendigkeit, um jeden Preis der "Neigung des Herzens"
("cepAeQHaH cKßoHHocTb";.Karlgoi 183~:131)
zu folgen.
Tatsächlich 'folgen alle drei Protagonisten Puskins (auch der alte Vater!) der 'Neigung ihres Herzens'. Nur sind die Konsequenzen ganz andere, als sie der 'Sentimentalist vOFgesehen hat .. Vor dem Hintergrund der völlig a-psychologischen Idylle' zeigt sich Puskins Geschichte in ihrer psychologischen Motiviertheit. Während die Liebe Karlgofs junges Paar aus der Hauptstadt in die "wunderschöne ländliche Natur" Karlgof 1832:125)
("npeKpacHaH ceßbCKaH npHpoAa";
führt, kann sich Dunjas Liebesglück nur in der
großen Welt verwirklichen und muß mit der Herzensneigung ihres Vaters kollidieren. Vor dem Hintergrund der biederen HeIdin Karlgofs zeigt sich Dunja in ihren oppositiven Zügen, 'd.h. in ihrem wahren Wesen.
-
168 -
Ihre Gewandtheit und Koketterie im Umgang mit hochgestellten Reisenden (die Vyrin durchaus zu nutzen weiß) lassen sie für ein glänzendes
Gese~lschaftsleben
prädest_iniert erscheinen. Der
e~e
lichen Harmonie im Leben des Karlgofschen Posthalterpaares setzt Puskin die Unvereinbarkeit von Dunjas und vyrins Erwartungen ·an das Leben entgegen, die notwendig zum Konfl;ikt führen muß. Was Vyrin vor sich und andern nach den Schemata der zeitgenössischen Massenliteratur als 'Entführung' und nach der Bibel als zeitweilige 'Verirrung' deutet, erweist sich somit als notwendiges und irreversibles Verlassen. Die interdiegetische Opposition artikuliert überdies'Puskins ironische Korrektur der sentimentalistischen Idyllik. Mit dem Karlgofschen locus amoenus und seinen zufriedenen Bewohnern kontrastieren in Puskins prolog die harten Lebensbedingungen, die "Sträflingsarbeit" eines russischen Posthaiters, die ständige Bedrohung durch unzufriedene Reisende und - in der Schlußszene - die mit
kü~ler,
verfremdender
R~alistik
gezeigten Details:
die grauen Wolken, die -den herbstlichen Himmel bedecken, der kalte Wind, der von den abgeernteten Feldern her bläst, der kahle; nicht umhegte Friedhof, voll mit Holzkreuzen, denen kein einziger Baum Schatten gibt, und schließlich die dicke Bierbrauersfrau, der zerlumpte rothaarige und einäugige Junge, der mit der Katze herumbalgt und dann dem Reisenden Vyrins Grab zeigt, indem er auf einen Sandhaufen springt, in dem ein schwarzes Kreuz mit einer kupfernen Ikone steckt. Metonymisches Anzeichen für Puskins Korrektur ist dLe ironische Reduktion der deutschen Klassiker (Goethe, Herd(E:r, Mendelssohn) in der häuslichen Bibliöthek des Karlgofschen Posthalters auf die
vie~
Bilder in Vyrins Stube, die das Gleichnis vom ver-
lorenen Sohn darstellen und von deutschen (!) Versen begleitet sind.
4.3. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15, V.11-32) Während die Beziehung zu ~arlgof lediglich im ~iJ.l.Dhorizont des abstrak.ten Autors erscheint und Karamzins Arme Lisa nur dem
-
169 -
Erzähler als diegetisches Modell vorschwebt, sind zwei Prätexte explizit in die Diegesis eingeschrieben: das Gleichnis vom verlorenen Sohn und das Bild des guten Hirten. Wir müssen zwar annehme!1, daß das Gleichnis vom verlorenen Sohn;das.auf den vier Bildern in der Stations stube dargestellt ist, die moralische Welt des Posthalters prägt, keineswegs aber lenkt es 'tyrannisch' - wie Michail Gerlenzon (1919:125 f.) unterstellte - seine Erwartungen. Wenn Vyrin Dunjas Schicksal tatsächlich konsequent nach dem biblischen Modell antizipierte, müßte er nicht voller Zuversicht, daß sich auch die Verheißung des vierten Bildes erfüllen werde, auf die Rückkehr der 'verlorenen Tochter' warten? J. Thomas Shaw (1977) hat gezeigt, daß mit den vier Bildern, die im Text ausführlich beschrieben werden, und den entsprechenden Situationen des Gleichnisses vier "Szenen" in Dunjas Geschichte korrespondieren, von denen jede in einem scharfen Kontrast zu ihrem extra- und intra-text~ellen Äquivalent steht. Wir können hier die äußerst komplexen Relationen zwischen dem Bibelgleichnis, der Beschreibung der vier Bilder und den vier ~n kr~tischer A~s
Szenen nicht nachzeichnen und wollen nur die
einandersetzung mit Shaw und gegen seine Deutungen zu gewinnenden Sinnpotentiale zusammenfassen. Die Projektion der vier 'Szenen' auf die vier Bilder und die vier Situationen im Gleichnis suggeriert folgende Interpolationen und Konkretisationen der an der Textoberfläche ausgesparten psychischen Beweggründe der Helden: 1. Szene (Dunjas 'Entführung'
~
Auszug des verlorenen Sohnes -
Lk 15, V.12-13): Dunja folgt Minskij freiwillig, sie weiß um die Endgültigkeit der Trennung und nimmt für ihr Glück in der großen Welt das Unglück des Vaters bewußt in Kauf. 2. Szene (Dunja.und Minskij in Petersburg
~
lasterhaftes Leben
des "von falschen Freunden und schamlosen Frauen umgebenen" ["oKPY)KeHHbI:A nO>KHbIMH
~PY3bHMH H 6eCCT~HbIMH )[(eH~HHaMH"i
99/13]
Jünglings ~ Lk 15, V.13): Vor sich selbst erklärt Vyrin die von ihm beobachtete Szene der zärtlichen Liebe zwischen Dunja und Minskij zu einer Szene der Lust, einer Lust, die - wie biblisches Schema .und sprichwörtliche Volksweisheiten voraussagen -
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notwendig ins Verderben führt. 3. Szene (sie existiert nur in Vyrins falscher Antizipation: Dunja als Straßenmädchen ~ Trauer und Reue des die Schweine hütenden Jünglings
~
Lk 15, V.14-19): Vyrin reduziert die ima-
ginierte Szene auf das Elend des verlorenen Kindes und unterdrückt die in der Beschreibung des 3. Bildes und im Gleichnis genannten Motive der IITrauer und Reue ll (IIne'Ianb H pacKaHHHe"; 99/13) bzw. der inneren Umkehr (Lk 15, V.17-19). Das
e~laUbt
den Schluß: Er glaubt nicht mehr an Dunjas Rückkehr, weil er in der Tiefe seines Bewußtseins sehr wohl um ihre glückliche Zukunft weiß. Er resigniert als Minskijs Rivale und kaschiert den echten Schmerz des verlassenen Ehemanns mit dem übertriebenen Schmerz des sich sorgenden Vaters. 4'. Szene (Dunjas Besuch am Grab des Vaters lorenen Sohnes ~rüher
~
~
Rückkehr des ver-
Lk 15, V.20-32): Dunja hat den Vater nicht
besucht, weil sie, die Glückliche, auf den durch ihr
Glück unglücklich Gewordenen Rücksicht nahm.
4.4. Das Bild des guten Hirten (Johannes 10, V.1-16) Warum hat sich Vyrin überhaupt auf den Weg nach Petersburg gemacht? Im Gleichnis bleibt der Vater doch zu Hause (übrigens auch im ersten Entwurf der Novelle, wo der Posthaltertochter statt des Vaters ein in sie verliebter [!] Schreiber nachreist
[PSS, VIII: 661]). Vyrin spricht davon, daß er sein IIverirrtes Schäfchen" nach Hause zurückführen wolle, und spielt damit wie es zunächst scheint
~
auf das Gleichnis Vom verlorenen Schaf
an, das bei 'Lukas 15, V. 3-6, unmittelbar vor den Gleichnissen von der verlorenen Münze und vom verlorenen Sohn, erzählt ist. In Wirklichkeit denkt er aber an eine andere Stelle des Neuen Testaments, nämlich Johannes 10, V.1-16, das Bild des guten Hirten, der s~ine Schafe gegen den reißenden Wolf verteidigt (vgl. Shaw 1977:10). Indem Vyrin die Rolle des guten Hirten übernimmt und Minskij mit dem biblischen Wolf identifiziert, korrigiert er den - in seiner Si9ht - fatalen Irrtum, den er beging, als
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171 -
er der unschlüssigen Dunja bei Minskijs Aufbruch von der Station zuredete: "Wovor fürchtest du dich? Seine Hochwohlgeboren sind doch kein Wolf und werden dich nicht fressen. Fahr nur ruhig bis zur Kirche mit!" '( ""tIero >Ke Tbl 60HWbC.fI? [ ... ] Be,[\b. ero BblcOl
,[\0
u;epKBH"; 102/
25). Der wahre Verlauf von DunjasGeschichte erweist, daß der Vater die Zukunft unbewußt richtig
prognostizie~t
hat!3: Minskij
ist tatsächlich weder der redensartliche noch der biblische Wolf. Weder hat er Dunja 'gefressen' noch sie überhaupt 'geraubt'. Folgen wir dem Allusionssignal und konfrontieren wir seinen Kontext in T (104/33-35) mit dem ganzen PT (Joh 10, V ~ 1-16)" so entdecken wir eine höchst amüsante Äquivalenz·, der eine große Sinnrelevanz zukommt und die gleichwohl bi,slang niemandem aufgefallen ist. Johannes 10 beginnt mit dem Worten: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht durch die Tür hineingeht in das Gehege der Schafe, sondern anderswo einsteigt, der ist ein D i e bund R ä u b e r. Wer aber durch die Tür hineingeht, der ist der Hirt der Schafe. Dem macht der Torhüter auf, und die Schafe hören auf seine Stimme, und er ruftl~eine Schafe mit Namen und führt sie heraus. (Joh 10, V.1-3) Nach dem ersten Zusammenstoß mit Minskij in dessen Petersburger Wohnung hat man Vyrin die Tür gewiesen und ihn ein zweites Mal nicht vorgelassen. Er erfährt durch eine List, wo Dunja wohnt. Die Tür zu ihrer Wohnung ist verschlossen. Er läutet. Die Magd, die ihm öffnet, fragt, 'was er von Dunja wünsche. Ohne zu antworten, dringt Vyrin in den Saal (Johannes' "Gehege der Schafe") ein. Und ohne auf das Geschrei der Magd (des "Torhüters") zu achten, geht er weiter und wird Zeuge
.~.
des friedlichen tgte-
a-tete seines 'verirrten Schäfchens',mit dem reißenden 'Wolf'. Des Vaters ansichtig geworden, sinkt Dunja mit einem Schrei zu Boden. Und Minskij packt den in der Tür stehenden Auf-Seher am Kragen und stößt ihn auf die Treppe hinaus, und zwar mit Worten, die er -oder vielmehr der ironische Autor - eben jenem Kapitel aus Johannes entnimmt, auf das sich der als guter Hirte herbeigeeilte Vater innerlich berufen hat: ""tIero Te6e Ha,[\06Ho?" CKa3an OH eMY, CTHCHYB 3y6bl; "~TO Tbl 3a MHOJO BCIO,[\Y K P a ,[\ e W b C .fI, KaK p a 3 6 0 A: H H K? HnH XOqeWb MeHH 3 a p e 3 a Tb?" (104)
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172 -
"Was willst du?, sagte er zu ihm, mit den Zähnen knirschend, "was s t i e h I s t du dich überall hinter mir her wie ein R ä u b e r? Oder willst du mich a b s c h I a c ht e n?" (35) Man vergleiche hierzu Joh 10, V.l0: "Der um zu s t e h I e n anzurichten.,,1S
und zu
Die b
kommt nur,
s chI ach t e n
und Unheil
Welche Entlarvung! Der 'gute Hirte' erweist sich als der 'Räuber'. Das Schema aus Joh 10, V.1-3 hat sich gegen seinen Verwender gekehrt. Und es ist jetzt der 'Wolf', der biblische Prätexte bemüht, und zwar nicht nur den "Räuber" aus Joh 10, V.l zitiert, sondern in seinen Fragen (die
i n t r a-diege-
tisch kaum einen Sinn ergeben, was man bislang
üb~rsehen
hat)
die in Joh 10, V.l0 gegebene Charakteristik des "Diebes" anwendet. Eine weitere Allusion auf das Johannesevangelium, die ebenfalls bislang unentdeckt geblieben ist, können wir hier nur erwähnen: das Paradoxon des
b I i n den
arme Aufseher konnte nicht begreifen,
Auf-S e h e r s
("Der
[ ... ] wie die Blindheit
über ihn gekommen war" - "Be,I:\HblH CMOTpHTeJIb He nOHHMaJI, [ ... 'J KaK Hawno Ha Hero OCJIenJIeHHe"i 102/25), verweist uns auf das dem Bild des guten Hirten vorausgehende Kapitel 9, dessen Thema die Dialektik von Blindsein und Sehen und die Schuld der Sehenden bildet. Selbst völlig a-psychologisch, tragen die biblischen Prätexte gleichwohl zur
p~y6hologischen
Vertiefung der Posthalter-
novelle bei. Das inter-textuelle Paradigma hält für den Interpreten ein geradezu Freudsches Psychogramm des Titelhelden
pa-
rat. Der Vergleich von T und seiner biblischen PTe enthüllt: Vyrin ist weder der uneigennützige, großzügige Vater des Lukasgleichnisses noch der gute Hirte des Johannesevangeliums. Weder braucht Dunja vor Minskij gerettet zu werden, noch ist Vyrin der Mann, der sie glücklich machen kann. Vyrin benutzt die biblischen Geschichten und die Beweggründe ihrer Protagonisten, um seine wahren Motive zu kaschieren. Hinter seinen psychologischen Substitutionen und Verdrängungen ieigt er sich uns als der blind Eifersüchtige, der sieht, aber nicht sehen will. Sein Untergang ist keineswegs Folge sozialer, Unterdrückung, sondern
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173 -
rührt her von, ~eeli-scher- Verblendung und falscher Prätention (schließlich istder'g~teHirte ein Bild für Jesus).
4.5. Dmitrievs Karikatura Der Erzähler vergleicht den Posthalter, der sich die während seines traurigen Berichts immer wieder hervorquellenden Tränen "auf ausdrucksvolle Weise mit den Rockschößen abwischt" (")KHBOnHcHo OTHpan OH CBoeJO nonoJO" i Terent'i~ H~ß
105/37) mit dem "wackeren
in der prächtigen Ballade von Dmitriev"
TepeHTbHQ B npeKpacHoß
6anna~e
("KaK
ycep~
AMHTpHeBa"i 105/37). Eine
Gegenüberstellung von Puskins Novelle und der 1791 entstandenen KarikaturQ Ivan
Ivan~yi~
wörtliche Anklänge'·, a~
PT'
Dmi trievs zei"gt., daß T zahlreiche enthält 16 und d";;,ß die diegetische
Äquivalenz weit 'nb'er die explizite Parallele hinausgeht. In der komischen Ballade findet ein Soldat, der nach zwanzig Jahren Dienst in sein Dorf zurückkehrt, Haus und Hof in verfallenem Zustand vor. Seine Frau ist verschwunden. Der Diener
Terent'i~
berichtet, sich ständig mit lautem Wehklagen un-
terbrechend und "seine Tränen mit den Rockschößen abwischend" ("cne3~
YTep cBoefl nonoIi"j Dmitriev 1967:V.72), was geschehen
ist. Die Herrin hat einen Unterschlupf für "schlechte Buben", offensichtlich eine Spelunke oder gar ein Freudenhaus, unterhalten, ist denunziert, festgenommen und in die Stadt abgeführt worden. Die Allusion setzt ein verwirrendes Spiel mit Äquivalenzen in Gang; auch hier korrespondiert Vyrin mit zwei Figuren des PT: Dmitrievs Karikatura Soldat
Puskins Posthalter Vyrin
Frau
Dunja
Diener
Erzähler
Dunja entspricht der sündigen Ehefrau des Soldaten. Das profiliert ihre erotischen Züge, suggeriert, daß der Vater ihren Weggang als Verrat aufnimmt, und harmonisiert schließlich mit
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seiner Vorstellung ihres sündigen Lebenswandels in der falschen Antizipation (dem rnanipulativ-reduktionistischen Analogon zum dritten Bild vom verlorenen Sohn). Die explizite Gleichsetzung des Posthalters mit dem sprichwörtlich treuen, überaus larmoyanten Terent'ic weist zum einen auf Vyrins Selbsteinschätzung und gibt zugleich seinem scheinbar väterlichen Schmerz einen ironischen Akzent. Mit dem Soldaten korrespondiert zunächst der Erzähler: Er findet wie dieser ein heruntergekommenes Haus vor, fragt als erstes nach dessen schöner Herrin und gibt sich wie der heimkehrende Soldat der freudigen Erwartung eines Wiedersehens hin. Dann wird mit dem Soldaten natürlich der Posthalter äquivalent. Der auf die Novelle projizierte Schluß der Ballade liest sich wie ein Ratschlag Puskins an seinen verratenen und 17 :
verlassenen Helden qTO
~enaTb?
Ho BeqHO nH
KaK HH 60nbHo
Was soll man tun? Wie sehr es auch schmerzt
TY~HTb?
Aber ewig trauern?
HeCqaCTHHA
MY~,
nonnaKaB,
*eHHncH Ha
~PyroA.
Der unglückliche Ehemann weinte ein bißchen, ... Und heiratete eine andere.
(V.97-100)
4.6. Die Geschichte vorn starken Samson (Richter 13-16) Vyrins Vorname indiziert eine Allusion auf die Samsongeschichte im Alten Testament. Inwiefern ist unser Posthai ter,_ ein Samson? Wie der biblische Samson verliert Vyrin seine g~nze Kraft durch den Verrat einer Frau, seiner Geliebten (6unja ~ Delilah), die die verstorbene Ehefrau ersetzen soll -(wir I,
erin~
nern Qns: Dunja ist für Vyrin "ganz, die selige Mutter"'). Delilah, die schöne Philisterin, verrät ihren Landsleuten das Geheim.nis von Samsons Stärke, die ungeschorenen Haare. Die Äquivalenz (Verlust der Stärke aus übergroßer Schwäche für e~ne ,Frau, [Shaw 1977:76]) suggeriert, daß sich Vyrin als Opfer eines Nergleichbaren Treuebruchs seiner russischen Delilah betrachtet. Der Vergleich der Geschichten enthüllt weitere Parallelen.
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175 -
Der Posthalter trinkt sich zu Tode; Nach seinem Verscheiden, bezieht die Poststa~io~' der Bierbrauer (ein höchst ironisches diegetisches Hysteron prot'eron!). Das Motiv des Trinkens kommt sowohl in der Samsongesch-ichte als auch in den Geschichten anderer Nasiräer (d.h. Jahwe Geweihten) des Alten und Neuen Testaments vor (1. Samuel 1, V.11-15; Lukas 1, V.15), und zwar als Ver b o t
des Genusses von Wein und Rauschtrank. Richter 13,
V.7 berichtet von der Weisung des verheißenden Engels an Samsöns Mutter, sich des Weins und jeglichen Rauschtranks zu enthalten. Dieses
G~bot
verpflichtete auch den Sohn. Die
Profi~
lierung des im Posthalter hochfrequenten Alkoholmotivs scheint folgenden Sinn der interdiegetischen Beziehung zu aktualisieren: Indem sich Puskins verratener Samson dem Trunk hingibt, bricht er gleichsam
da~
alttestamentliche Nasiräatsgelübde (zu dessen
Bedingungen: Numeri 6, V.3-5), kündigt seinem Gott das Vertrauen auf und geht folglich unter;
•
Im Äquivalenten zeigt sich freilich auch eine signifikante Opposition: Ähnlich wie Samson nach Delilahs Verrat von den Philistern
g e b 1 end e t
der Auf-S e h e r
wird (Richter 16, V.21), wird
ange-s i c h t
s
des
a u g e n-scheinlichen
Glücks (d.h. des Verrats) seiner Delilah zum Blinden, zum Verblendeten (man vgl. dazu noch einmal Joh 9, V.39). Wi;ihrend der biblische Samson aber Tausende von Philistern mit in den Tod reißt (Richter 16, V.3D),
l~bt
Dunja, der Vyrin in
Vorau~sicht
der Schande das Grab gewünscht hat, nach seinem Untergang glücklich weiter. Wo aber bleiben in Puskins Novelle die Haare, die dem Gottgeweihten, solange sie ungeschoren bleiben, übermenschliche Kraft verleihen? Auch fUr dieses Motiv findet sich bei Puskin ein - ironisch verschobenes - Äquivalent. Pu skin verpflanzt die Haare des Nasiräers sozusagen auf das Haupt des Rivalen und macht sie zum sexuellen Symbol, an dem sich Dunjas Liebe zu Minskij erweist (und das andererseits - in der Rückkoppelung von T auf PT - die latente Sexualsymbolik des biblischen Mythos bloßlegt). In der Petersburger Szene (der inversiven
Kontra~
faktur zu Karamzins Abschiedsszene), jener Szene, in der der 'gute Hirte' als 'Dieb' und 'Räuber' entlarvt wird, der ge-
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kommen ist, um das 'Schäfchen' zu 'stehlen' unq 'Wolf',
Mi~skij,
den
'abzuschlachten', heißt es:
B KOMHaTe npeKpacHoyopaHHoH MHHCKHH CHAen B saAYMqHBOCTH . .QYHH, OAeTaH co BcelO POCKOUlbJO MOAbl, CHAena. Ha pyq)<e ero Kpecen, KaK HaesAHH~a Ha CBoeM aHrnHHcKOM ceAne. OHa C He~ HOCTblO"cMOTpena Ha MHHCKoro, H a M a T bl BaR q e pH bl e e r 0 K Y A P H H a C B 0 H C B e p K a 10~ H e n a n b ~ bl. EeAHblH CMOTpHTenb! HHKorAa A04b ero He )
Finger
wicke~n
(russ. obvesti vokrug paL'ca) auffassen, um so
mehr als die Haare in zahlreichen alten Mythen und übrigens auch in der russischen Folklore als der Sitz der Seele gelten (vgl. Nekljudov 1975:66). Während der Bezug auf die biblische Samsongeschichte Minskij, den Träger. der schwarzen Locken, als den - durch die Liebe der Frau - Starken ausweist, relativiert die diegetische Reali~ sierung der Redensart die
Uberl~genheit
des Mannes im Geschlech-
terkmnpf. Erscheint Minskij, der Verführer, den - wie die sierung der Redensart andeutet - die Geliebte ger
u m
den
Rea~i
F i n-
w i C k e 1 t, nicht als Unterlegener, als Opfer der Ver-
führungskünste der schönen, jungen Frau, die - als.Tochter des Posthalters und Herrin der Station - gelernt hat, mit Männern umzugehen?
-
4.7. Balzacs
Tpait~
177 -
de poZitique mapitaZe aus der Physiologie
du mapiage Das Psychögramm der Eifersucht und die Motivik des Geschlechterkampfes werden vertieft durch eine Allusion auf Balzacs PhysioZogie du mapiage. Anna Achmatova (1936:114, Anm.1) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Petersburger Szene ein Bild aus Balzacs M~ditat{on X (Tpait~ de poZitique mapitaZe) wiederholt: J'aper9us une jolie dame assise sur le bras d'un fauteuil comme si elle eGt mon te un cheval anglais, [ ... ] (Balzac 1980: 1012) Man hat mit der Parallele allerdings nicht viel anfangen können. Zu verschieden schienen die Themen der Kontexte: hier Balzacs Ratschläge an die Männer, wie sie sich im Falle eines manifesten Ehebruchs ihrer Frauen zu verhalten hätten, und ein paar Exempel, die belegen sollen, mit welch raffinierter Taktik Ehefraue_n, ihren Willen
durchzusetz~n
versuchen, dort die rührende Geschichte
von dem alten Vater, der sich über das vermeintliche Unglück seiner Tochter zu Tode grämt. Und so ließ man es mit dem bloßen Hinweis auf die Entlehnung eines einzelnen Satzes bewenden (so etwa bei Vinogradov 1941:574 und van der Eng 1968:33). Setzt man nun aber die Balzacsehe Thematik mit der durch die Interdiegetizität bloßgelegten und forcierten Motivik der Eifersucht und des Um-den-F'ingep-WickeZns in Beziehung, so zeichnen sich die Umrisse jener Äquivalenz ab, die durch das Bild der auf der Sessellehne reitenden Frau signalisiert wird. Der
M~ditation
X ist als Motto Hamlets "To be or not to,
be •.. " und das als dessen Ubersetzung ausgegebene "L'etre ou ne pas l'etre, voila taute la qu~stiol1" vorangestellt (Balzac, 1980: 1009). Das
Z' ist hier freilich nicht Artikel, sondern Pronomen,
es steht für cocu. Balzacs Spiel mit dem Shakespeare-Zitat macht deutlich: die Grundfrage der (männlichen) Existenz ist die Frage nach der Treue der Ehefrau. Der Tpait~ de poZitique mapitaZe selbst setzt dann ein mit der Analyse der Emotion des zu Recht - Eifersüchtigen:
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178 -
Quand un homme arrive a la situation ou le place la Pre~ miere Partie de ce livre, nous supposons que l'idee de savoir sa femme possedee par un autre peut encore faire palpiter son coeur, et que sa passion se rallumera, soit par amour-propre ou par egoisme, soit par interet [ ... ] (Balzac 1980:1009) . . Puikin bestätigt: "Noch nie war ihm seine Tochter so schön erschienen; gegen seinen Willen betrachtete er sie mit .Entzücken." Während sich Puikin Balzacs Analyse der Eifersucht durchaus zu eigen
~acht,
übernimmt er die Ratschläge des Eheexperten nicht
ohne Korrektur. Balzac rät seinen "cocus": "feindre d'ignorer tout est d'un homme d'esprit"
(Balzac 1980:1123). Pu skin läßt
den Heldell: seines Prosafragments An der·' Ecke des kLeinen PLatzes
(Na ugLu maLen'koj ploscadi, entstanden zwischen 1829 und Anfang 1831), der nach dem Vorbild der Balzacschen "Minotauren" und mit fast wörtlicher Aufnahme ihrer inneren Rede - über die rechte Reaktion auf die unangenehme Entdeckung räsoniert, zu dem.
entgeg~ngesetzten
Ergebnis kommen:
nichts bemerkte, schien ihm npHMeqalOlI\HM, Ka3anocb eMY
d u m m" r n Y n
b1
"So zu tun, als ob er ("npHTBopHTbCH HHqerO He
M"; PSS, VIII, 145; Her.....,-
vorhebung von mir). An Vyrins Schicksal schließlich demonstriert Puikin, welch ernste - von Balzac nicht bedachte. - Folgen die Entdeckung des Liebesverrats zeitigen kann. Nachdem Vyrin Zeuge des tete-a-tete zwischen Dunja und Minskij werden mußte, gibt er alle Pläne zur Rettung seiner 'verlorenen Tochter' auf, schlägt sogar die Empfehlung seines Freundes, vor Gericht zu gehen, aus und beschließt, sich zurückzuziehen. Während er den' Tod seiner Ehefrau gut verwunden hat, ist er durch das von ihm beobacht~te
Glück Dunjas mit dem Andern tödlich verletzt.
Balzac nennt drei Prinzipien, die die "art de gouverner une. femme". ausmachen. Wende der Ehemann alle drei an, sei er "comme un cavalier qui, monte sur un cheval. sournois, doit to.ujpurs leregarder entre les oreilles, sous peine d'etre desar~onne"
(Balzac 1980:1010). In dem Bild, das
di~
Äquivalenz eta-
bliert, ist der "cavalier" aber jeweils die Frau. Durch den \
Rekurs auf das Balzac-Bild'deutet Puskin an: nicht Minskij, sondern Dunja ist der Herr
d~r
Lage.
- "179 -
Die Beziehung der Liebenden wird in der Posthalternovelle nicht näher ausgeführt. Diese Aussparung ist innerfiktional gut motiviert: der eifersüchtige Vater, dessen Sicht die retrospektive Binnenerzählung organisiert, ist ja ein Blinder, er hat die Augen vor der Wirklichkeit der fremden Liebe verschlossen. So kann er aber auch die Kehrseite der Liebesbeziehung " den Kampf der Liebenden um die Vorherrschaft, nicht wahrnehmen, die Puskin durch seine Allusion auf die Balzacsehe Szene hinzuzudenken auffordert. Das Bild, das die Allusion signalisiert" zeigt Dunja auf der Sessellehne, zärtlich auf ,den nachdenklichen Minskij niederblickend. Die entsprechende Situation bei Balzac enthält die gleiche räumliche Anordnung der Protagonisten: auf der Sessellehne sitzt die
~hübsche
Frau~,
im Sessel selbst ihr Mann,
in tiefes Nachdenken versunken. Minskijs "Nachdenklichkeit", die lediglich erwähnt wird, ohne Hinweis auf die Richtung der Gedanken, hat bei manchem Deuter Spekulationen ausgelöst, ja man hat ihr sogar einen konkreten Inhalt unterlegt. So weiß Slonimskij (1959:503), daß sich Minskij in der
beschrieben~nSzene
fragt, ob er Dunja von der Ankunft des Vaters erzählen solle, und ferner, daß er an die Legalisierung der Beziehring denkt. Eine ganz andere Ihterpolation ergibt sich, wenn man auf den Prätext rekurriert und mit den Motiven, die dort konkretisiert sind, tentativ die Lücken in Puskins Text ausfüllt. Bei Balzac ist der Mann im Sessel mit sehr Prosaischem beschäftigt, mit hauswirtschaftlichem Rechnen: "Cela niest pas possible! ... dit le mari en poussant un soupir; et je vais te le prouver par A plus B. [ ... ] Ma' fille, vois, je te fais juge; nous avons dix mille francs, de rente ... [ ... ] Pour acheter la croix de diamants, il faudrait prendre mille ecus sur nos capitaux; or, une fois cette voie ouverte,ma petite belle, il nly aurait pas de raison pour ne pas quitter ce Paris que tu aimes tant, nous ne tarderions pas a etre obliges dlaller en province retablir notre fortune compromise. [ ... ] Allons, sois sage." (Balzac 1980:1012 f.) Daß Puskin bei seiner Allusion die Rede des Balzacsehen Ehemanns überhaupt im Auge hatte, indiziert die Äquivalenz in einern sehr spezifischen Detail. Balzacs Exempel illustriert, welche Taktik Frauen zu Schmuck verhilft. In diesem Fall hat
-
180 -
die Frau .die falsche Strategie gewählt: sie bittet zu unverblümt und zu nachdrücklich, das Brillantkreuz wird nicht gekauft. Dunja hat dagegen erfolgreich taktiert. Es sind nämlich "glitzernde" Fing\3r, um die sie Minskijs schwarze Locken. wickelt. Sie besitzt längst, worum Balzacs HeIdin erfolglos bettelt. Auch noch in der Inversion des Details fordert uns die Äquivalenz auf, zu Dunjas und Minskijs Liebesglück ähnlich prosaisch-alltägliche Seiten hinzuzudenken, wie sie Balzac in seinem Traite de politique maritale mit dem nüchtern analytischen Blick des
Psychologen der Geschlechterbeziehung darstellt.
5. POLYPHONIE UND SEMANTISCHE KOMPATIBILITÄT DER ALLUSIONEN Ein und dieselbe Diegesis hat sich als Äquivalent zu einer. ganzen Reihe von Geschichten erwiesen. Dabei rücken die diegetischen Allusionen jeweils andere Motive von T in den Vordergrund. Jede interdiegetische Relation fokussiert und dynamisiert einen bestimmten Motivkomplex und hierarchisiert den gesamten Motivzusammenhang von T auf neue Weise. Die simultane Vergegenwärtigung so heterogener Prätexte wirft die Frage nach dem Gestaltcharakter der inter-textuellen Vie.lstimmigkei t und nach dem Zusammenhang der durch die unterschiedlichen Prätexte aktivierten semantischen Potentiale auf. Der Interdiegetizität, die die
sch~!chte
Novelle entwirft,
geben sentimentalistische Idyllik und Tragik und der Ernst der biblischen Mythen, Bilder und Gleichnisse einen hohen, mythischpoe,tischen Stimmungston • In diese weitgehend 'monochrome Polyphonie der. Prätexte führt die\Balzac-Allusion einen neuen Ton ein. Den idyllischen, tragischen und ehrwürdig-biblischen
Ver~
sionen der Liebe und des Vater-Rind-Verhältnisses setzt sie das prosaische Bild des - psychologisch sezierten - alltäglichen ~eschlechterkampfes
entgegen. Indern die Physiologie du mariage
mit 'den ,übrigen Prätexten im Stimmungston kontrastiert und gegen die
poetisch-myt~ologischen
zur Geltung bringt, tun g
Entwürfe die Perspektive des Alltags
~nterstützt
sie die in. der
Ver a r b e i-
der Prätexte sich durchsetzende Tendenz zur
P r o s a i-
-
s i e r u n g.
181 -
Die Prosa der Liebe und Eifersucht, die in der
antisentimentalistischen Kontrafaktur zu Karlgofs und Karamzins poetischen Versionen bereits aufschien und durch die Allusion auf die an sich selbst a-psychologischen
B~beltexte
gisches Profil erhielt, gewinnt im Bezug auf die
psycholo-
PhY8io~ogie
du
mariage lebendige Konkretheit.
Die inter-textuellen Relationen gehen in
de~
Bedeutungs-
aufbau von T auf unterschiedliche Weise ein. Die Allusion auf Karlgof und Karamzin aktualisiert sowohl die Interdiegetizität als auch die Intersemantizität (hier: die Opposition der Textideologien) . Pu§kins Novelle bietet sich als prosaische, gegensätzliche Seiten desselben Phänomens erfassende Kontrafaktur zu den nicht mehr als wahrheitshaltig anerkannten einseitigen sentimentalistischen Modeliierungen von entweder Liebesglück (Karlgof) oder Liebesleid (Karamzin) dar. Bei Puskin kommt nicht nur beides zusammen, sondern darüber hinaus bedingt das Glück der einen das Leid des andern (und vom Tod des Posthalters profitiert - im doppelten Sinne: sowohl als Geschäftsmann, der seine Ware verkauft, wie auch später als Bewohner
d~r
Poststation - der Bierbrauer) . Neben der Konfrontation der Tex t i deo l o g i e n
(detaillierender, polyphoner, das
Gegensätzliche am gleichen Phänomen unterstreichender' i s mus
P r o s a-
vs. globalisierender, homophoner, das Gegensätzliche
stimmungshaft harmonisierender
Sen t i m e n t a l i s mus)
kommt natürlich auch dem Kontrast der materiell und/oder tional korrespondierenden
funk~
Akt a n t e n' Bedeutung zu. Die
charakterologische Opposition zwischen Pu§kins Protagonisten und ihren sentimentalistischen Pendants unterwirft nicht nur letztere der poetologischen Kritik des gen au hinsehenden, gleichsam um die Personen herumgehenden Prosaikers, sondern dient auch dazu, das wahre Wesen und die verborgenen psychischen Beweggründe der ersteren
aufzudeck~n.
Die Bibel-Allusionen, deren Prätexte in der erzählten, fiktiven Welt der Posthalternovelle impliziert sind, als Deutungsschemata, die die Orientierung Vyrins leiten, oder 'als prototypische Muster, mit denen er die Wirklichkeit kaschiert, dienen
-
182 -
viel eher der interdiegetischen Konkretisierung des zu erschließenden Personenbewußtseins als der intersemantischen Konfrontation der Textkonnotate. Es kann nicht die Rede davon sein, daß Puskin die biblischen Bilder, Mythen und Gleichnisse parodierte
18
ironisierte, korrigierte oder ihnen auch nur eine prosaische Kontrafaktur gegenüberstellte. Die einzige Rückwirkung von T (genauer der Ausnutzung von PT in T) auf PT selbst (genauer: auf das Bild, das T von PT entwirft) ist die retrospektive Psychqlogisierung des Mythos, die Aufdeckung der latenten
Sexualsymbol~k
der ungeschorenen Haare des starken Samson. Auch wenn Vyrins Identifizierung seiner selbst, der Tochter und des 'Entführers' mit biblischen Rollen (mit dem 'guten Hirten', dem reißenden "Wolf", der 'verlorenen Tochter' und dem "verirrten
Schäfchen~)
sich für die Erkenntnis der Wirklichkeit als höchst ungeeignet erweist, bleiben der Mythos, die Lehren der Lukas-Gleichnisse und der Johannes-Bilder in ihrer Gültigkeit unangetastet. Es ist Vyrin, der- durch falsche Äquivalentsetzung - irrt (oder täuscht), nicht aber die Bibel. Auch in der Relation zu Dmitriev und Balzac aktiviert die 'Allusion in erster Linie die Interdiegetizität (die in PT ausgeführten Motive konkretisieren die Unbestimmtheiten von T) und läßt die Opposition der Textideologien nur sehr schwach zur Geltung kommen. Allerdings macht sich Puskin die Stimmungskonnotate beider Prätexte zunutze. Die scherzhafte Behandlung des Liebesleids in der komischen Ballade und die desillusionierende Analytik4er Prosa der Geschlechterbeziehung relativieren sowohl die Tragik des Untergegangenen als auch das ,Glück der Glücklichen. In welchem Verhältnis stehen aber die durch die multiple Allusion aktivierten Sinnpotentiale zueinander? Obwohl sich die interdiegetischen Bedeutungen an jeweils andern Motiven kristallisieren und jeweils peue Hierarchisierungen des gesamten
Moti~
geflechts bedingen, führt die multiple Semantisierung der einen Diegesis'nicht eigentlich zu einer Konkurrenz inter-textueller Sinngehalte. Sämtliche
~onkretisierungen,
Modifikationen, Rela-
tivierungen, Inversionen des Oberflächensinnes, die die Projektion der Diegesis von T auf das Paradigma der Prätexte bewirkt,
,
-
183 -
sind, wo nicht gar isosemantisch oder homoiosemantisch, so doch zumindest wechselseitig voll kompatibel. Auch wenn sie je andere Teile der Geschichte betreffen, sind sie letztlich einer gemeinsamen Teleologie unterworfen. Die sie integrierende Sinnintention ist die Prosaisierung, die vielseitige Erfassung des in den konventionellen literarischen Modellen verdeckten wahren Wesens von. Liebesglück und Liebesleid.
A N M E R K U N GEN 1.
Die Bachtinsehen Begriffe des "Dialogs" ubd der "dialogischen Beziehung" sind freilich metaphorisch zu verstehen. Die mit ihnen bezeichneten intra- und inter-textuellen Relationen (wertender - meist polemischer - Bezug des Erzählerworts auf das Personenwort bzw. eines Textes auf einen fremden Text) scheidet von einer realen W e c h seI-Rede die P a s s iv i t ä t, der 0 b j e k t-Status des "fremden Worts" (cuzoe slovo). Das "fremde Wort"'kann sich nicht nur nicht wehren, es weiß nicht einmal davon, daß es Gegenstand einer Replik wird (zur Metaphorik von Bachtins "Dialogizität" vgl. SCHMID 1973:12 f. t 226 f. t SCHMID 1974:383).
2.
Zur Transformation der Geschichte zur Erzählung und zu deren Transposition in die Präsentation der Erzählung vgl. SCHMID 1982a.
3.
Zum Verhältnis zwischen Text und Motto vgl. CIE~LIKOWSKA 1977.
4.
Zur Kenntnis fremder Literaturen und Sprachen in der Gesellschaft der Puskinzeit und zu Puskins Ubersetzungsversuchen vgl. NABOKOV 1975,11: 158-163.
5.
Zur zeitgenössischen und späteren Rezeption der Erzählungen Belkins vgl. SCHMID 1981:84-86.
6.
Vgl. Puskins literaturkritischen Fragmente 0 proze (1822) und 0 po~ticeskom sloge (1828), in: A.S.P., Polnoe sobranie socinenij, 17 Bde, Moskva/Leningrad 1937-1959 (im weiteren: PSS) , Bd. XI, S.18 f. und S.73.
7.
Vgl. auch die sehr erhellenden Ausführungen Jan van der ENGS (1968) über die allen Novellen des Zyklus gemeinsamen "procedes de construction", nämlich das "jeu avec certaines conventions litteraires" und die werkirnrnanente "analogie des trois situations principales" sowie über ihre Wirkungen ' ("complication anecdotique", "relief badin", "approfondissement psychologique").
-
184 -
8.
Zur materiellen und funktionalen Similarität und Opposition zwischen dem Posthalter und seinen Prätexten vgl. ausführlich SCHMID 1981:105-132.
9.
Die erste Seitenzahl nach Zitaten aus dem Posthalter bezieht sich auf PSS, VIII, die zweite auf die - hier gelegentlich 'revidierte - deutsche Ubersetzung von Helmuth Dehio in: Alexander Puschkin, Der Postmeister. Der Schuß. Der. Schneesturm (= dtv zweisprachig 9104), München 1975.
10. Zu den Spuren von Karamzins Prosasprache im Posthalter vgl. im einzelnen ABAKUMOV 1937, zu den verbalen Allusionen GIPPIUS 1937:32. 11. Zu der Motiväquivalenz vgl. CLAYTON 1971:180 f., SCHMID 1 9 81 : .11 0 f. 12. Die diegetische Äquivalenz ("negative Spiegelung", negativnoe otrazenie) der beiden Posthalternovellen ist bisher nur von TURBIN (1978:70, 77 f.) angemerkt worden. Noch VINOGRA~ DOV (1934:214) konstatiert, daß zwischen den beiden Werken, abgesehen von der Apologie des Posthalterstandes und der handlungsantizipierenden Beschreibung des Innern der Station, "entschieden nichts Gemeinsames" zu finden sei. 13. Zur diegetischen Realisierung von Sprichwörtern und volkstümlichen Redensarten in den Erzählungen Belkins vgl. SCHMID 1982b. 14. Dieses und das folgende Zitat aus dem Neuen Testarner~ nach der Ubersetzung von Josef Kürzinger (Aschaffenburg 1964), Hervorhebung jeweils von mir. 15. Ö KA~n'n~ OUK ~PXE'U~ E( U~ LVU KA~~~ Ka~ 8u~ KUL anoA~a~. Dem ~UE~V des griechischen Originals entspricht Puskins zarezat' viel genauer als das blassere ubiti oder ubit' der kirchenslavischen bzW. russischen Bibelübersetzung. 16. Zu den Einzelheiten vgl. VINOGRADOV 1934:147-150, van der ENG 1968:33, SCHMID 1981:122 f. 17. Angesichts des durchaus unterschiedlichen Verhaltens der verlassenen Männer konstatiert Paul'DEBRECZENY (1976:160), daß Puskins Erzähler den Kontext von Terent'ics pittoreskem Kummer vergessen hat: " o therwise he would not have tried to arouse syrnpathy for Vyrin by this reference". 18. Uberhaupt scheint der von zahlreichen Puskinisten favorisierte Begriff der Parodie (BOCJANOVSKIJ 1922, LJUBOVI~ 1937; Modifikationen bei: GIPPIUS 1937, CLAYTON 1971:159, 161, SIDJAKOV'1973:64, BETHEA-DAVYDOV 1981) nicht geeignet, die Sinnintention der diegetischen Allusion in den Erzählungen Belkins zu charakterisieren. Zur Kritik arn Parodie-Konzept: SCHMID 1981:101-105.
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Ulrich BUSCH
GOGOL'S HMANTELH - EINE VERKEHRTE ERZÄHLUNG Schriftsteller, Autor, Erzähler
~n
intra- und intertextueller
Beziehung
Die Frage, in welchem Maße und in welcher Weise der Schriftsteller Gogol' sein persönliches Seinsverständnis - sei es nun mehr religiös-moralisch oder mehr geschichtlich-gesellschaftlich oder mehr ästhetisch geprägt - dem Autor des "Mantel" übermittelt und an den Erzähler der Mantel-Geschichte weitergegeben hat - diese Frage stellt sich latent in allen Untersuchungen dieser Erzählung, mögen die Prinzipien der Untersuchung jeweils religiös-moralisch oder geschichtlichgesellschaftlich oder ästhetisch (formalistisch-strukturalistisch) sein: Die Deutung des Erzählers als eines "Komödianten", der mit seinem spezifischen Erzählton (skaz) die nichtige Anekdote, die er zu erzählen hat, zu einem grotesken Kunstwerk macht, entdeckt hinter diesem Erzähler einen artistischen Autor, der ein
u~verbindliches
Spiel mit seinem Leser treibt,
und identifiziert diesen Autor mit Gogol' als einem manieristischen Schriftsteller, der durch dieses Werk genauso wenig wie durch seine früheren Werke ein religiös-moralisches oder ein sozialkritisches Engagement vermittelt (B. Ejchenbaum 1924) •
Dagegen zeigt eine Deutung, die dem Erzähler die Funktion der "Störung des logischen Gedankenganges", der "Entleerung des Sinnvollen", der Entdeckung der "inneren Leere der geschilderten Sphäre" zuspricht, hinter diesem Erzähler einen "ernsten" und "düsteren" Autor, der seinem Leser warnend schildert, wie ein Mensch durch die Liebe zu einem Mantel
-
190 -
"seine Stelle" in der Welt verlieren und ein Opfer des Teufels werden kann; und hinter dem so verstandenen Autor zeigt sich dann Gogol' als ein Schriftsteller, der mit "Gedanken religiösen und moralischen Charakters" befaßt ist und "gerade in seinen Petersburger Novellen" Menschen schildert, "die an ihrer Verbindung mit den Dingen dieser Welt zugrunde gehen" (D. Tschizewskij 1937/1966). Diese beiden Deutungs-Ansätze - der religiös-moralische und der formalistisch-strukturalistische - erscheinen in der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte des "Mantel" als Reaktionen auf den "klassischen" geschichtlich-gesellschaftlichen Deutungs-Ansatz, der den Erzähler zu dem humanen Autor erhebt, welcher seinen· Helden, den armen kleinen Beamten, bemitleidet und das Gesellschaftssystem anklagt - und im Grunde niemand anderes ist als der sozialkritische Schrift1 steller .Gogol' selbst. Zweifellos macht sich in diesen grundsätzlich verschiedenen Deutungs-Ansätzen nicht nur das Seinsverständnis bzw. die Ideologie des Deuters, sondern auch das spezifische Gog0l'Verständnis des wissenschaftlichen Interpreten geltend: Im Lichte des früheren, humoristischen GOQol' liest sich der "Mantel" anders als im Lichte des sp~teren, religiösen Gegol'. Die Frage aber, welches "Licht" eigentlich für den "Mantel" das adäquatere, das maßgebliche ist - oder ob vielleicht gerade der Wechsel.des "Lichtes" den "Mantel" erst richtig sehen läßt -, diese Frage stellt sich jetzt in der Gogol'-Forschung umso deutlicher, als die Rezeptions-Vorurteile über den Autor des "Mantel" inzwischen mehr und mehr wissenschaftlich neutralisiert worden sind. Die Widersprüche, die nun dennoch zwischen den neueren Deutungen der Erzählung zum Vorschein kommen, lassen sich, meine ich, unter intertextuellem Aspekt, nämlich hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Schriftsteller Gogol', dem Autor des "Mantel" und dem Erzähler'der MantelGeschichte, weiterhin reduzieren; damit würde auch die liberalistische These des Interpretations-Pluralismus an Gültigkeit ve.rlieren. 2 ,
-
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Ursache der Vieldeutigkeit des "Mantel" ist jedenfalls der Erzähler: Da er sich "irgendwie" als menschlich unzulänglich und erzählerisch inkompetent zeigt, verunsichert er den Leser und veranlaßt ihn, den Grund der Verunsicherung zunächst in der Erzählung selbst, im Konstruktionsprinzip der Erzählung zu entdecken, dann aber, weiterhin verunsichert, anderwärts Orientierungshilfe zu suchen: in anderen Werken des Schriftstellers und bei Gogol' persönlich. Gogol' selbst hat vom Anfang bis zum Ende seiner schriftstellerischen Tätigkeit immer wieder ausdrücklich die Wirkung seiner Werke auf den Leser und Zuschauer bedacht, z.B. in seinen Briefen zu den "Toten Seelen" oder, noch deutlicher, in seinen Nachworten und Nachspielen zum
"Revizor"~
hier zeigt
er dem Rezipienten den positiven Helden und den Sinn seiner Komödie, nämlich das Lachen, das Lachen des Zuschauers, der sich - im Gegensatz zu den sich selbst verständlichen komischen Figuren des Stückes - selbst in Frage stellt. Eine ähnliche In-Frage-Stellung des Rezipienten geschieht, meine ich, im "Mantel", allerdings nicht wie im "Revizor" im Hinblick auf die Lächerlichkeit, sondern im Hinblick auf die sich passiv und aktiv auswirkende Hilflosigkeit der Figuren: Der Erzähler zeigt den Helden selbst als erbärmliches und hilfloses Geschöpf, weist jedoch keinerlei Ausweg aus dieser Hilflosigkeit und
Erbärmlichkeit~
vielmehr
bietet er uns leichtfertige, halbherzige und phantastische Notlösungs-Versuche als echte Rettungs- und Erlösungs-Möglichkeiten an. Wenn wir nun'den späteren Gogol', den Autor der "Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden" und der "Beichte eines Autors", als einen Schriftsteller und Autor begreifen, der immer wieder ausdrücklich die tätige, wirksame Nächstenliebe dem untätigen, wirkungslosen Mitleid gegenübergestellt hat,3 und wenn wir nun diesen Gogol' in die Rezeption und Interpretation des "Mantel" einbeziehen, so werden wir von vornherein gerade auf den Schein von christlicher Humanität zu achten haben, den der Erzähler sich selbst und seinen Figuren
-
192 -
gibt; so werden wir schon die berühmte "erste humane Passage", die in der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der Erzählung so viel Verwirrung und widersprüchliche Deutung hervorgerufen hat, kaum noch als mißverständlich, ja kaum noch als "humane Passage" ansehen können. Jener "arme junge Mann", der sich die Klage des beim Abschreiben gestörten Akakij zu Herzen
ni~nt
und aus den Worten
"Laßt mich doch, warum ärgert ihr mich" "etwas Seltsames", "etwas, das zum Mitgefühl geneigt macht", nämlich die Worte "Ich bin dein Bruder" heraushört, - dieser "arme junge Mann", der sich daraufhin "mit den Händen bedeckt" und "noch viele Male in. seinem Leben erschauert" bei dem Gedanken, "wieviel Unmenschlichkeit im Menschen" ist, - dieser "arme junge Mann" scheint doch im Sinne des Erzählers gerade deshalb "arm", weil er so etwas wie Mitleid empfindet. Der Erzähler bedauert also nicht. den "leidenden" Akakij, sondern den mitleidenden "armen jungen Mann", d~r sich, untätig und wirkungslos für Akakij,in sein hilfloses Mitleid zurückzieht. Der Erzähler selbst. ergeht sich in seinem verkehrten Mitleid, wenn er
sei~
nen "armen jungen Mann" bedauert, weil dieser bemerkt, "wieviel Unmenschlichkeit im Menschen ist, wieviel grausame Grobheit in der verfeinerten, gebildeten Weltläufi9k€it verborgen ist und, mein Gott! sogar in dem Menschen, den die Welt als edel und anständig anerkennt". Wie sich der "arme junge Mann" die Klage des gestörten Abschreibers Akakij zu Herzen nimmt und es bewenden läßt bei seinem quasi-brüderlichen Mitgefühl, so nimmt sich der Erzähler das Mitgefühl des "armen jungen Mannes" zu Herzen und läßt es bewenden bei seiner pathetischen Anklage der "Welt", des "Menschen" und "Gottes". Lesen wir also die "humane Passage" im Lichte des späteren, religiösen Gogol', der sich in seinen "Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden" immer wieder gegen selbstgefällige Anmaßung und unpassenqes Moralisieren wendet, so hören wir in dem plötzlichen moralischen Pathos des Erzählers die ironisch-provozierende Stimme des Autors, der uns seinen Erzähler als einen falschen Predi-
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ger erkennen läßt, als einen Prediger, der untätiges, wirkungsloses Mitgefühl und hilfloses Selbst-Mitleid als Brüderlichkeit, als christliche Nächstenliebe ausgibt. Demnach bezieht die "erste humane Passage" ihre scheinbare Humanität aus dem verkehrten Seinsverständnis des Erzählers, das nun von hier aus als das maßgebliche Konstruktionsprinzip der ganzen Erzählung deutlich wird. 4 Der Erzähler charakterisiert seinen Helden Akakij nicht als einen Menschen, sondern als einen "Beamten"; er schildert - ironisch-distanziert und spielerisch-leichtfertig, in grotesken Details und Abschweifungen sich verlierend - nur das Äußere, den Namen, die Tätigkeit des Helden, als ginge ihn und uns der Mensch Akakij nichts an. Wie er selbst seinen Akakij als Schreiber verabsolutiert, so verabsolutiert Akakij· seinerseits seine Schreiber-Existenz: "er diente mit Liebe", "unter den Buchstaben hatte er seine Favoriten", "außerhalb des Abschreibens schien nichts für ihn zu existieren". Das Abschreiben bedeutet also für Akakij nicht die Erfüllung einer amtlichen Pflicht, sondern die Befriedigung seiner persönlichen Lust (napisavsis' vslast') und zugleich gewissermaßen seinen Gottes-Dienst: "irgendwas wird Gott morgen zum Abschreiben schicken". Der Erzähler befürwortet diese absolute SchreiberExistenz Akakijs, wenn er z.B. den Direktor, der den Abschreiber "zum Lohn für langen Dienst" mit einer etwas wichtigeren Abschreib-Aufgabe betraut, als einen "guten Menschen" wertet. Der absoluten Amts-Existenz Akakijs, die auch Freizeit in Amtszeit verwandelt, stellt der Erzähler die Freizeit-Existenz der anderen Beamten gegenüber, die in "Zerstreuungen" besteht. Akakij meidet den Kollegen-"Bruder", um ungestört abschreiben zu können, die anderen suchen den Kollegen-"Bruder", um sich gemeinsam zu zerstreuen. Offenbar kennt also der Erzähler nur diese beiden radikal voneinander getrennten Existenzweisen und verwendet deshalb das Wort "Bruder" einmal in der Bedeutung "Amtsgenosse" und das andere Mal in der Bedeutung "Genußgehosse"; seinem verkehrten Seinsverständnis entgeht - im Sinne des späteren religiösen Gogol' - das auf Gott bezogene Miteinan-
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dersein der wahrhaft brüderlichen Menschen. Im verkehrten Seinsverständnis des Erzählers bedeutet dann das Unglück, das in Gestalt des "nördlichen Frostes" den "armen Beam'ten" überfällt und nach "Rettung" bzw. "Erlösung" (spasenie) suchen läßt, nichts als einen "Feind"; im religiösen Seinsverständnis des späteren Gogol' besteht dagegen "die wahrhafte Bedeutung des Unglücks" darin, daß es dem Unglücklichen geschickt ist, "damit er seine frühere Lebensweise ändere, damit er~ .. ein anderer Mensch werde".5 Der Erzähler schildert jedoch, als sei es selbstverständlich, wie sich Akakij auch in seiner Not noch an seiner absoluten Schreiber-Existenz festhalten möchte: Er erzählt, daß der frierende Akakij den Grund, dis Schuld, die "Sünde"
(grech) seiner Not in seinem
löcherigen Mantel sucht und schließlich auch entdeckt. Der Erzähler kommt genauso wenig wie Akakij auf den Gedanken, den der religiöse Gogol' hier vielleicht dem Leser eingeben möchte, daß man in der Not einen Mitmenschen um Hilfe fragen könnte: der Erzähler weiß so wenig wie Akakij, was ein "Bruder" ist. So wendet sich Akakij an den SchneiderPetrovic, dessen "teuflische" Züge in der religiös-moralischen Interpretationsgeschicht~ des "Mantel" überzeugend aufgedeckt worden sind. 6 Im Sinne des späteren, religiösen Gogol' ist aber das Dämonisch-Ungeheuere, das der Erzähler am Teufels-Schneider so gehüßlich zum Vorschein bringt, nur die äußere Hülle des Unmenschlich-Gewöhnlichen, um das es eigentlich geht: daß nämlich der Schneider nicht - wie z.B. der heilige Martin einern armen Frierenden helfen will, sondern an ihm zu verdienen und als Handwerker zu glänzen trachtet. Das DämonischUngeheuere ist am Schneider ähnlich kornisch-grotesk wie später am gespenstischen Akakij; es ist darin eine Art von Humor, die der'Autor des "Mantel" bzw. der Erzähler der Mantel-Geschichte offenbar vorn frühen, humoristischen Gogol' übernommen hat. Nicht als Höllen-Teufel, sondern als teuflisch-deformierter Mensch, als'geldgieriger und selbstsüchtiger Handwerker veranlaßt der Schneider den armen Akakij, seinerseits mit Hilfe des Mantels die Erbärmlichkeit seiner Existenz zu bemänteln,
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ja, sein bis dahin unhörbares Herz nun deutlich und ausschließlich schlagen zu lassen für diese glanzvoll bemäntelte Exi7 stenz, die damit gewissermaßen erotisiert wird. Dank des Mantels ist Akakijs "Existenz irgendwie voller geworden", meint der Erzähler; als Mantel-Träger nimmt Akakij erotische Reize wahr; als Mantel-Träger findet er bei den Kollegen eine gewisse Beachtung, so daß er seiner
Amts-Exist~nz
halbwegs entzogen und halbwegs in ihre genießerische FreizeitExistenz einbezogen wird, wobei er selbst "nicht weiß, wie er sein sollte"
(wiederholt: "ne znal, kak emu byt"') .. Die Folge
davon ist, daß er ins "schreckliche Niemandsland" abseits der Amts- und abseits der Genuß-Existenz gerät und hier, ängstlich ganz auf sein erbärmliches Selbst angewiesen, keine Hilfe gegen die gespenstischen Menschen findet, die ihn seines ein8 zigen Selbstwertes, seines Mantels, berauben. Dem verkehrten Seinsverständnis des Erzählers entsprechend sucht auch der des Mantels beraubte Akakij, als wäre es selbstverständlich, nicht brüderliche, sondern amtliche bzw.
kolle~
giale Hilfe. Der ."gute Mensch", den ihm die Wirtin als Hilfsperson empfiehlt, erweist sich als ebenso wenig hilfreich wie die Kollegen, die, "gerührt" von der Geschichte des Mantelraubes, für Akakij eine nichtige, "wirkungslose Summe" (bezdelicu, bezdel'naja summa) sammeln. Ein Kollege, der sich, "von Mitleid bewegt", entschließt, dem Akakij "wenigstens mit einem guten Rat zu helfen", verweist den Hilfe-Suchenden an die "bedeutende Persönlichkeit", die jedoch ihrerseits mit Hilfe des Hilfe-Suchenden die Bedeutung ihrer amtlichen Stelle zu erhöhen sucht und dabei den Hilfe-Suchenden erniedrigt. Der Erzähler charakterisiert diese "bedeutende Persönlichkeit" als einen "in der Seele guten Menschen", der nur. durch den Generalsrang "vom Wege abgekoffiITlen" sei und nun durchaus nicht mehr wisse, "wie e1;" sein sollte"
("ne znal, kak emu byt' "); aber
seinem verkehrten Seinsverständnis entsprechend versteht der Erzähler unter solch einem "in der Seele .guten Menschen" einen Amts-Kollegen, der "mit Gleichgestellten noch ein Mensch ist, wie es sich gehört, ein ordentlicher Mensch", der aber in
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Gegen.wart von Rangniedrigeren "Mitgefühl" erweckt, weil er
~on
ihnen so etwas wie "Familiarität", d.h. im Sinne des späteren Gogol' Brüderlichkeit, befürchtet. Eben aus Furcht vor "Familiarität", also eigentlich vor Brüderlichkeit, bringt dieser "in der Seele gute Mensch" durch eine Schimpfkanonade den Amtshilfe suchenden Akakij zu Tode. Als letzten "Helfenden" präsentiert der Erzähler den Arzt, der (lem sterbenden Akakij "Kompressen" verschreibt, "schon allein deswegen, damit der Kranke nicht ohne die wohltätige Hilfe der Medizin bliebe". Hilflos zeigt sich schließlich auch der Erzähler selbst gegenüber seinem "armen" Helden: ob Akakij vor seinem Tod "sein kümmerliches Leben bedauert hat - davon ist nichts bekannt", so lenkt der. Erzähler von seinem eigenen defekten Mitgefühl ab, so läßt er gewissermaßen Akakij allein; und noch deutlicher bringt er seine eigene Hilflosigkeit gegenüber dem hilflos verstorbenen Akakij in der "zweiten humanen Passage" zum
V~rschein;
Er charakterisiert hier Akakij als ein "Wesen,
das von niemandem beschützt worden, niemandem teuer, für niemanden .interessant gewesen ist", .und dabei gehört er selbst zu~ie~em
Niemand, da er
~
genauso wie die Kollegen Akakijs -
nur dem Mantel zuliebe Akakij
Beachtung schenkt, als wäre
der Mantel tatsächlich der "lichte
G~st",
der "für einen
Augenblick das arme Leben" Akakijs belebt hat. Der Autor des "Mantel" entlarvt, meine ich, seinen Erzähler und dessen verkehrtes Seinsverständnis vollends durch den phantastischen Schluß der Erzählung: "Aber wer hätte sich vorstellen können, daß hier noch nicht alles über Akakij Akakievic gesagt ist, daß ihm beschieden war, noch einige Tage nach seinem Tode stürmisch weiterzuleben, wie zum Lohn für sein von niemandem bemerktes Leben. Aber so geschah es, und unsere arme Geschichte nimmt unerwartet ein phantastisches Ende." Dem verkehrten Seinsverständnis des Erzählers entsprechend verschafft sich Akakij als Mäntel-raubendes RacheGespenstdie Gerechtigkeit, die ihm als realem kleinem Beamten
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nicht zuteil geworden ist; und im verkehrten Seinsverständnis des Erzählers erscheint die "bedeutende Persönlichkeit", die den Rechtshilfe-suchenden Akakij zurückgewiesen hat, "gewissermaßen als Ursache der phantastischen Wendung der im übrigen
vollkommen wahren Geschichte". Vom späteren, religiösen Gogol' aus gesehen- ist jedoch das vom Erzähler geschilderte komisch-gespenstische Geschehnis im Grunde ver~rsacht durch die teils amtlich~, teils kollegiale, teils erotische Verkehrung des brüderlichen Miteinanderseins der Menschen. Eben weil der Erzähler selbst an dieser Verkehr'ung des menschlichen Seins (im Sinne des religiösen Gogol') teilhat, findet er es bemerkenswert, daß 'die tende Persönlichkeit" nach dem Weggang des von ihr
"bedeu~
v~rnichte
ten Akakij "so etwas Ähnliches wie Bedauern empfand", daß "Mitleid ihr nicht fremd war", ja, daß "sie sogar über den armen Akakij Akakievi2 nachdachte" und "sich entschloß, sogar einen Beamten zu ihm zu schicken, um zu erfahren, wie er sich befinde und ob man ihm nicht t~tsächlich irgendwie helfen könne". Und der Erzähler zeigt dann noch deutlicher seine verkehrte Bewunderung für diese scheinbare Mitleidsfähigkeit der "bedeutenden Persönlichkeit": "Als man ihm [dem General] berichtete, daß Akakij Akakievi2
vorz~itig
im
Fi~ber
gestorben
sei, fand er sich sogar überrascht, vernahm Vorwürfe des Gewissens und war den ganzen Tag nicht in Stimmung. Da er sich' irgendwie zu zerstreuen und den unangenehmen Eindruck zu vergessen wünschte, begab
~r
sich
ab~nds
gen, bei dem er eine ordentliche
zu einem seiner Kolle-
Ge~ell~chaft
fand,
tind~as
das beste war: alle waren dort von demselben Rang, sodaß er vollkommen durch nichts gebunden sein konnte." Ganz befreit von dem ~törenden Mitgefühl mit Akakij wird der General dann auf der Fahrt zu seiner Freundin,
d~h.
bei
einer erotischen Verirrung, die dem erotischen "Seitensprung"' des seinerzeit "voller existierenden" Mantel-Trägers Akaki'j entspricht~
von dem Gespenst Akakij überfallen 'und seines
Mantels beraubt. Der Erzähler charakterisiert ausführlich die Angst, die
d~r
General dem Gespenst gegenüber empfindet und
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mit der die Angst des Mantel-Trägers Akakij den gespenstischen Räubern gegenüber sozusagen vergolten wird; eben diese Angst ist es, die den General veranlaßt, sich von nun an anders zu seinen Untergebenen zu verhalten, nämlich "erst anzuhören, was los ist", bevor er sie ausschimpft. Diese im Sinne des Erzählers positive Wandlung der "bedeutenden Persönlichkeit" erscheint jedoch, vom religiösen Gogol' aus gesehen, als eine verkehrte Wandlung, eben als eine Wandlung, die nur aus der Angst um das eigene erbärmliche Selbst und nicht aus dem Ge9 fühl.der Brüderlichkeit hervorgeht. Dementsprechend kann auch die Rache, die das Gespenst Akakij durch den Mantel-Raub ausübt, nur im Sinne des Erzählers als Akt sozialer Gerechtigkeit gelten und damit "befriedigend" auf Akakijs Umwelt (und deI! Leser) wirken; 10 im Sinne des religiösen Gogol' ist dagegen diese "unbrüderliche" Gerechtigkeit ihrem Wesen nach gen au so verkehrt, wie sie der ahnungslose Erzähler zeigt, nämlich gespenstisch-lächerlich. Das durchweg verkehrte Seinsverständnis des Erzählers kommt nicht nur auf der thematischen Ebene der Erzählung zur Geltung, sondern auch in der Sprechweise des Erzählers, in dem Wechsel und in der Verknüpfung von niederem und hohem Stil, von "naturalistischer" und phantastischer Schilderung, von komisch-grotesker Detaillierung und Abschweifung, sarkast~sch-ironischer
Kommentierung, pathetisch-moralischer
Wertung usw. Diese irritierend-wechselnde, heterogene Elemente.verknüpfende Sprechweise ist eben nichts anderes als die Art.~nd
liehe
Weise, wie sich das verkehrte, unbeständige,
Seinsve~ständnis
oberfläch~
des Erzählers gewissermaßen.von selber,
gegen die Absicht des Erzählers artikuliert, wobei die pathetisch-moralisch wertende Sprechweise besonders deutlich die fundamentale Inhumanität dieses verkehrten Seinsverständ11 nisses - im Sinne des religiösen Gogol' - zu erke~nen gibt. Wenn wir also die ganze Erzählung im Lichte des späteren, religiösen Gogol' lesen, wenn wir besonders auf den Schein von christlicher Humanität achten, den der Erzähler sich selbst und seinen Figuren gibt, wenn wir so der menschlichen Unzu-
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199 -
länglichkeit und erzählerischen Inkompetenz des Erzählers auf den Grund gehen, dann entdecken wir diese Erzählung, meine ich, als ein einheitliches, unmißverständliches Kunstwerk: Wir finden hier als zentralen, alle Teile und Elemente integrierenden "ästhetischen Inhalt,,12 weder ein groteskes, unverbindliches Spiel mit dem Leser, noch eine Teufelsverführung oder eine nachgebildete oder travestierte Heiligenlegende oder eine Stellenphilosophie, noch schließlich soziales Mitleid oder soziale
Anklage~
wir finden vielmehr ein durchweg ver-
kehrtes, inhumanes, unbrüderliches Seinsverständnis, das sich als richtiges, zuverlässig-orientierendes, ja sogar humanes ausgibt und dadurch im Sinne des Autors, der weitgehend mit dem religiösen Gogol' identisch ist, den Leser provoziert, seinerseits das wahre menschliche Seinsverständnis zu entdecken und zur Wirkung zu bringen. 13 An der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte von Gogol's "Mantel" zeigt sich m.E. besohdersdeutlich, wie leicht ein Leser in die Irre geht, wenn er von der Person des Autors und der Persönlichkeit des Schriftstellers absieht, wenn er sich nur dem Text als solchem zuwendet und, unbewußt geleitet von seinem Erkenntnisinteresse, die besonders "interessanten" Partien, Passagen, Elemente darin aufsucht und deutet, als läge der Text einfach vor, als böte er sich gewissermaßen von selbst, freischwebend, zur Deutung und zum Vergleich mit anderen Texten an, als wäre nicht in jedem Text - mehr oder weniger, so oder anders - die geschichtlichexistierende Schriftsteller-Persönlichkeit präsent, die den Autor und dessen Text hervorgebracht hat und die dem Leser, der sie im Text zu entdecken vermag, Orientierungshilfe bietet.
A N "M E R K U N GEN 1.
2.
3. 4.
Dieser "klassische" sozialkritische Ansatz, der aus der Realismus-Diskussion um die Mitte des 19. Jh. hervorgegangen iit, wird noch hundert Jahre später wiederholt, z.B. von N.L. STEPANOV (1959:291). Vgl. Maximilian BRAUN: "Wir wissen immer noch nicht, was Gogol eigentlich im Sinne hatte und warum er seine Erzählung gerade so geschrieben hat." (1973:242). Donald FANGER vertritt die Auffassung, daß alle Interpreten gleichzeitig recht und unrecht haben, da der "Mantel" "von Bedeutsamkeit und Bedeutungslosigkeit schlechthin handle: " ... that the story is ultimately about significance and insignificance as such" (1979:162 f.). Vgl. Gogol's "Brief" über "Die Frau in der Welt" und HUber die Hilfe für Arme". Bemerkenswert ist, daß sowohl in den religiös-moralischen als auch in den sozialkritischen Deutunge~ des "Mante~' die "humane Passage" nicht als Ausdruck des pervertierten Erzähler~Mitleids mit Akakij interpretiert wird, sondern " als Ausdruck des echten Autor-Mitleids, als spräche aus dem "armen jungen Mann" der Erzähler mit der Stimme des Autors. In diesem Sinne schließt sich z.B. auch Viktor §KLOVSKIJ der "klassischen" sozialkritischen Deutung an (1966:102); so auch N.L. STEPANOV (1973:188-219), Efim DOBIN (hier wörtlich: "Der arme junge Mann ... ist N.V . .Gogol' selbst." (1976:345» und viele andere. Sogar S.G. BOCAROV findet in der "humanen Passage" das persönliche Mitleid des Autors, obwohl er im übrigen gerade die mitleidlose Erzählweise des Erzählers so überzeugend aufdeckt (1969:210 ff.). - Den religiös-moralischen Deutungen zufolge kommt in der "humanen Passage" nicht das sozialbrüderliche ("Genossen"-) Mitleid des Autors zum Vorschein, sondern eben das christlich-brüderliche Mitleid; so sieht z.B. Klaus TROST das Mitleid des "armen jungen Mannes" mit Akakij als christlich motiviert an; er meint, es handle sich hier "um nicht mehr und nicht weniger als menschliches, im echten Sinne des Wortes humanes Mitleid" (1974:13), 'obwohl er andererseits gerade "die groteske Erzählstrategie des Erzählers, das Spiel mit den Erwartungen des Lesers so treffend charakterisiert. Auch in den Deutungen, die sich an einer Heiligenlegende als dem Vorbild von Gogol's "Mantel" orientieren, erscheint die "humane Passage" als wahrhaft religiös-human; vgl. z.B. John SCHILLINGER (1972); K.D. SEEMANN (1966).
5.
In HUber die Hilfe für Arme".
6.
Dmitrij TSCHIZEWSKIJ (1937/1966:118); Toby CLYMAN (1979).
-
201 -
7.
Während TSCHI~EWSKIJ (1937/1966:118) Akakijs Liebe zu dem neuen Mantel negativ deutet ("als eine 'Versuchunq' des Akakij Akakievic durch den Teufel"), deuten verschiedene andere Interpreten diese Liebe positiv; vgl. 'F.Chr. DRIESSEN " ... "The Overcoat" is the story of an unhappy love, through which the hero discovers hirnself and comes to life" (1959:213); Hans GUNTHER "Die Worte von der 'belebenden' Wirkung des Mantels auf Akakijs "armes Leben" machen ganz klar, daß Akakijs Freude am Mantel keine "irdische" oder "teuflische" Versuchung ist, sondern eine ßereicherung seines Lebens.~' (1968:178).
8.
S.G. BOCAROV (1969) charakterisiert treffend die Nichtigkeit, die Ich-losigkeit Akakijs; ich meine jedoch, daß die thematische Funktion dieser Nichtigkeit nur unter dem Aspekt der passiven Hilflosigkeit wahrgenommen werden kann.
9.
In den'Untersuchungen, die den "Mantel" als nachgebildete bzw. travestierte Heiligenlegende auffassen, wird die Wandlung der "bedeutenden Persönlichkeit" auf den Einfluß des quasi-heiligen Akakij zurückgeführt und positiv bewertet; vgl. I<. D. SEEMANN (1966: 21 ); John SCHILLINGER (1972:39 ff.).
10.
In den Untersuchungen, die den Erzähler nicht dem Autor und Gogol' entgegensetzen, gilt Akakijs Rache als Akt der Genugtuung bzw. Entschädigung; vgl. Hans GUNTHER (1968: 184); Klaus TROST (1974:25). Demgegenüber macht Jurij MANN auf die ironisierende Funktion der "verschleierten Phantastik" aufmerksam; ausdrücklich bezieht ,er die vom Erzähler phantastisch angebotene "Kompensation" auf das fragwürdige "moralische Gefühl" des Lesers (1978:104).
11.
In den "Aufzeichnungen eines Wahn~innigen" zeigt Gogol' eine andere, vergleichbare Erzählerfigur mit verkehrtem Seinsverständnis.
12.
Wolf SCHMID (1977).
13.
Richard PEACE (1981) sieht diesen Autor m.E. zu sehr unter formalistisch-strukturalistischem Aspekt, d.h. im Hinblick auf einen manieristischen Sch~iftsteller, der mit Hilfe seines Erzählers ein unverbindliches Spiel mit seinem Leser treibt: "Behind his simpleton-narrator lurks the wily author hirnself, who laughs at his narrator, at his heroes, but above all at his readers" (1981:148). Die Differenz zwischen dem lachenden Autor und dem ve~lachten Erzähler, die hier von PEACE betont wird, erscheint unter dem formalistisch-strukturalistischen Aspekt im Grunde als nichtig: "the naive narrator ... is really the sophisticated author hirnself" (1981:147). So bezieht PEACE auch die erzählerische Inkompetenz des Erzählers (z.B. den "Verzicht" auf direkte psychologische Charakterisierung des Helden [1981 :149] nicht auf ein zugrunde liegendes verkehrtes Seinsverständnis und auf ein noch tiefer liegendes "richtiges" (Autor-) Seinsverständnis, sondern er beläßt diese Inkompetenz ebenso wie die
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202 -
Sprachspielerei des Erzählers (in bezug auf den Namen, das Aussehen, die Kleidung, die Tätigkeit, den Rang, die in-significance des Helden) auf der formalen Ebene; und so entdeckt er als Grund, als Funktion dieses "verbal play", das er so detailliert und präzis kennzeichnet, nur einen wenig sagenden "suggest", d.h. eigeritlich "nichts": "Its function is to suggest another meaning below the level of the blandly smiling surface of a joke, and as such it may be compared to the device of a 'coat', which is not a coat, and 'poverty', which is not poverty, or even the naive narrator, who is really the sophisticated author himself." (1981:147). Ein Schriftsteller, der sich - wie Gogol' zur Zeit der Arbeit am "Mantel" und an den "Toten Seelen" - in "illness and spiritual crisis" befindet (1981:339), mag wohl selbst ein Hilfe-Suchender sein und insofern auch mehr im Sinn haben als ein "sophisticated author".
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- 203 -
SCHILLINGER, John, 1972. "Gogol,'s 'The Overcoat' as a 'l'ravesty of Hagiography". - In: SEEJ 16, S. 36-41. SCHMID, Wolf, 1977. Der ästhetische Inhalt. Zur semantischen Funktion poetischer Verfahren (Utrecht SlavicStudies in Literary Theory 1), Lisse. SEEMANN, K.D., 1966. "Eine Heiligenlegende als Vorbild fUr Gogol's 'Mantel'''. - In: ZfsPh 33, S. 7-21. SKLOVSKIJ, Viktor, 1966. Povesti razbory, Bd.2, Moskva.
0
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Rainer GRUBEL
DIE GEBURT DES TEXTES AUS DEM TOD DER TEXTE Strukturen und Funktionen der Intertextuali tät i.n Dostoevskij s Roman "Die Brüder Karamazov" im Lichte seines Mottos [ ... ] nY~WHe rrpoH3Be~eHHR MHpa, rroBecTBYR 0 HaHpa3nH~HeAweM, Ha caMoM ~ene paccKa3~BaroT 0 cBoeM pO)K~eHHH.
([ ... ] die besten Werke der Welt erzählen, während sie von den unterschiedlichsten Gegenständen berichten, in Wirklichkeit von ihrer eigenen Geburt.) Boris Pasternak: Ochrannaja gramota
I. Der
T~xt
im Kontinuum oder Diskontinuum
Seinem vornehmsten Gegenstande, den künstlerischen Texten, yogenüber kann der Literaturwissenschaftler zwei extreme, einander diametral entgegengesetzte Posi tionen einnehmen. Er konzipiert entweder das M6dell einer in sich ruhenden, geschlossenen .und autonomen Totalität in ästhetischer Funktion sprachlich ausgedrückten Slnns,oder aber er entwirft das ModeLl vom Text als einem konstitutiven Bestandteil eines übergeordneten Ganzen, in dessen Strukturzusammenhang erst Sinnqualität und ästhetische Funktion des Textes wirksam werden kannen. Wir haben es hier freilich nicht mit spezifischen Modellierungsverfahren der Literaturwissenschaft zu tun, sondern mit grundlegenden Strategien einer jeden Kultur bei der Modellierung von Natur- und Kulturgegenständen. Im einen Fall wird die Erscheinung kraft des Prinzips der Diskontinuität
vo~
allen anderen Erscheinungen grundsätzlich abgesondert (z.B. mathematische Zahl) , im anderen Fall dient das Prinzip der Kontinuität dazu, Einzelerscheinungen zu einer übergeordneten Ganzheit
zusam~
menzufassen (z.B. mathematische Reihe). Zur Dominanten werden die Prinzipien jeweils erhoben, wenn die Erscheinungen der einen Kategorie aus denen der anderen hergeleitet werden (vgl. Ableitung des Zahlbegriffs aus dem Reihenbegriff bzw. Fundierung des Reihen-
-
206 -
begriffs durch den Zahlbegriff) . Die Konzeption der prinzipiellen Diskontinuität der Kategorie Text lässt keinen formal, semantisch und axiologisch neutralen Übergang von einem bestimmten Text zu einer anderen Erscheinung zu, sei es zum Verfasser, zum Leser, zur Objektwelt der Textreferenz, zu einer früheren Fassung desselben Textes
ode~
auch zu seiner metatextuellen hnalyse und
Interpretation. Immer überschreiten wir bei einer solchen Operation im Sinne der Diskontinuität die Grenze des Textes und bringen ihn mit einer andersartigen Erscheinung in
verbindung.IF~ssen
wir
den Text dagegen als Bestandteil eines Kontinuums auf, z.B. eines kontinuierlichen kulturellen Raums und/oder eines kulturellen Prozes~es,
in dessen Kontext der Text erst formale Prägnanz, in-
haltlichen Sinn und ästhetischen Stellenwert erlangt, so lassen sich diatopisch modellierte Kontinua einführen wie W e 1 t
1 i
t
e rat u r
ion s -
bzw.
R e z e p t
I i
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e r a i
i
Pro d u k -
ion s vor g a n g
teis semantischer Kategorien wie aus s e r
n d i v i
oder diachronische kontinuierliche Pro-
zesse vermittels pragmatischer Kategorien wie t
i
rn u v r e, N a t i o n a l l i t e r a t u r ,
d u e 1 1 e s
und vermit-
W i der s pie gel u n g
s ehe r
Wir k I i c h k e i
t
bilden. Wie gesagt, bezeichnen die aufgeführten Fälle lediglich die Extrempunkte auf einer breiten Skala gradueller Differenzierung der Textautonomie, wie sie etwa in der radikalen Auffassung der "textinternen Interpretation" bzw. einem kruden Widerspie,gelungsmodell vorliegen. Die Geschichte der Kultur lässt sich als Wechsel in der Vorherrschaft der beschriebenen Standpunkte darstellen. Die Idiosynkrasie gegen das etablierte Modell vom Text als autonomer Monade führt dann zur Entwicklung des Gegenmodells vom Text als integralem Bestandteil eines kontinuierlichen Zusammenhangs und vice versa. In unserem Jahrhundert sind diese gegensätzlichen Modelle mit besonderer Radikalität und in besonders schneller Folge im russischen Futurismus und Konstruktivismus hervorgetreten. War im russischen Futurismus der vorrevolutionären Periode als Antwort auf das Kontinuitätsmodell des Symbolismus "Das Wort als solches" ("slovo kak takovoe")
eine Erscheiriung, die Kontextlosigkeit be-
anspruchte, Inbegriff der literarischen Textauffassung,und wurde im frühen Konstruktivismus das Kunstwerk als referenz loses "Ding"
-
207 -
("vesc'") aufgefasst, so betteten die Futuristen und Konstruktivisten der 20er Jahre den verbalen und pikturalen Text in immer umfangreichere Zusammenhänge ein: Majakovskij strebte die Publikation seiner "Gesammelten Werke" an und veranstaltete 1929 eine Ausstellung seines gesamten CE uvre, die Konstruktivisten entwarfen architektonische Ensembles und planten neue Städte. Der Produktionismus integrierte den künstlerischen Text nunmehr in die bestimmenden Zusammenhänge
künstlerischer Produktion, im Design wurde
auch der einzelne bildliche Text zum beliebig reproduzierbaren Objekt, dessen Original nur noch den Charakter eines Prototyps aufwies und damit seiner Einmaligkeit beraubt wurde. Der Gebrauch dieser Texte setzte stets ihre Integration in den Zusammenhang des alltäglichen Lebens voraus: die Grenze zwischen Kunst und Lebenswelt wurde
zugunsten ihres kontinuierlichen Ineinander aufgehoben.
Parallel zu diesem Umschwung in der ModelIierung des Textes durch die künstlerische Produktion verläuft ein Wechsel des Paradigmas in der metakünstlerischen Reflexion. So hat der russische Formalist Jurij
Nikolaevi~
Tynjanov in seiner ersten 1iteraturwis-
senschaftlichen Arbeit unter dem Titel "Dostoevskij und Gogol' (Zur Theorie der Parodie)
11
im Jahre 1921 dem herrschenden iitera-
turwissenschaftlichen Historismus seiner Zeit,der r i s c h e
T rad i t ion
I i t e r a -
als geradlinige Forstset'zUng von
Vorbildern nachzeichnete, eine andere Auf~assung entgegengesetzt. An die Stelle der juristischen Kontinuität des Besitzes bei wechselndem Eigentümer vorstellenden Metapher vorn vennost'") tritt bei Tynjanov die Metapher des
Erb e
("preemst-
Karn p f e s
("bor'ba"). Ein Modell integrativer Gemeinsamkeit wird abgelöst von einern Modell des integrierender Gegensätzlichkeit (1969: 302) "jede literarische Nachfolge ist vor allem Kampf, ist die Zerst5rung des alten Ganzen und ein Neuaufbau aus alten Elementen". So besteht die Parodie für Tynjanov im Unterschied zur Stilisierung gerade in der Demontage der parodierten Verfahren. In seiner Ende der 20er Jahre verfassten, doch erst seit kurzem zugänglichen letzten grossen theoretischen Studie richtet Tynjanov (1977: 293) sich jedoch auch gegen den frühfuturistischen Topos vorn Dichter als Erfinder: Die Evolution der Literatur, insbesondere die Dichtung, vollzieht sich nicht nur auf dem Wege der Erfindung neuer Formen, sondern
-
208 -
auch und hauptsächlich auf dem Wege der Anwendung alter Formen in neuer Funktion. Hier bringt Tynjanov mit dem Begriff der Evolution eine neues, dem metaphorischen Reservoir der Biologie entnommenes Modell ins Spiel, das wiederum einen kontinuierlichen Zusammenhang des Verlaufsprozesses literarischer Texte zu konstruieren gestattet. Am Beispiel einer
T~eorie
der Parodie entfaltet Tynjanov seine Konzeption von
der literarischen Entwicklung, die im Begriff der r i
s c h e n
R e i h e
1 i t e r a -
ihre Kontinuität stiftende Metapher hat:
Das System der literarischen Reihe ist vor allem das System der Funktionen der literarischen Reihe in ihrer Korrelation mit anderen Reihen. (Tynjanov 1929: 40) Wie Tynjanov die "evolutionäre Wechselwirkung von Formen und Funktionen"
(1929: 47) am Beispiel der Parodie dargestellt hat,
wird im nächsten Abschnitt durch die Konfrontation mit Bachtins Konzeption der
f rem d e n
Red e
("~uiaja re~''')
erörtert.
2. Tynjanovs Theorie der Parodie und Bachtins Theorie der fremden Rede
Tynjanov geht davon aus, dass nicht die - überhaupt nur bedingt realisierbare - Rekonstruktion der
Ge n e s e
eines Textes aus
vorhandenen Elementen als Grundlage für seine Beschreibung heran-. zuziehen sei, sondern die Analyse des Standorts dieses Textes in der literarischen Evolution, d.h. die Bestimmung seiner Funktion für die weitere Entwicklung der Literatur. An die Stelle der rückwärts gewandten Zerlegung des Textes in Elemente der Überlieferung rückt die nach vorn gerichtete Erfassung seiner innovativen Funktion im literarischen System. Diese mit dem formalistischen Verfremdungstheorem kongruierende literaturhistorische Konzeption lässt die Wahl der Gattung Par
0
die
als Grundform der Text-Text-Beziehung verständlich
werden, von der ausgehend als Nebenform die Verwendung parodistischer
Verfahren in nichtparodistischer Funktion abgeleitet wird.
Es ist nur konsequent, dass Tynjanov für beide Erscheinungsformen Begriffe verwendet, die vom Terminus "Parodie" abgeleitet sind: wird die parodistische Form in parodistischer Funktion verwendet,
-
209 -
so spricht Tynjanov (1979: 290) von parodijnost', tritt sie dagegen in nichtparodistischer Funktion auf, so verwendet er den Neologismus
par
0
d i e nos t
'.
Während die parodistische Form
in parodistischer Funktion immer die markierte Einstellung auf einen fremden Text, eine Textreihe (z.B. Gattung) -oder auch auf eine literarische Richtung auszeichne, stelle die parodieähnliche Verwendung eine Beziehung zwischen Texten 1 ich e r
u n t e r s c h i ed -
Reihen her, z.B. zwischen solchen, die verschiedenen
Themenbereichen angehören und unterschiedliches lexikalisches Material verwendeten. Hier liegt keine markierte Einstellung auf einen anderen Text usw. vor, sondern die Verwendung eines Modells. Gerade für die Nutzung der parodistischen Verfahren in
n ich t
parodistischer'Funktion findet Tynjanov (1979: 290) eine BestimmUhg, die nicht nur den funktionalen Charakter seiner vorgehensweise, sondern auch seinen systemtheoretischen Ansatz zu 'erkennen gibt: Das gleichzeitige Operieren mit zwei semantischen Systemen, die in einem einzigen Zeichen gegeben sind, bewirkt einen Effekt, den lleine mit' einem terminus technicus der Maler als "Übermalen" bezeichnet und für eine notwendige Bedingung des Humors angesehen hat. So versteht Tynjanov denn auch das Parodieren selbst als eine Methode, einen Text, ein Textreihen bildendes Moment eines Textes oder aber eine Textreihe einer systematischen Veränderung zu unterziehen, sie in ein andersartiges System zu transformieren. Die Parodie entsteht dann aus dem Konflikt zweier
sprachli~her
Systeme t
wobei ein Wort aus seinem ursprünglichen Kontext herausgenommen und in einen neuen Kontext eingebettet wird. Durch diese De- und Rekontextuierung,
die gerade nicht in der Ersetzung eines "hohen"
Themas durch ein "niederes" bestehe, werde die Bedingtheit (uslovnost', Tynjanov 1977: 301) des Systems blossgelegt:
A u tor red e Red e
"Die
wird, indem sie gestört, gemischt wird, zur
e i n e s A u t o r s ". Der
wird solchermassen übergeführt in die
S t a n d Pos e
t o r s, d.h. die Parodie bildet weniger das
0
r t
des Autors
ein e sAu Pro d u k t
"des
Parodierens als vielmehr ihren Prozess. Ihre allgemeine Funktion liegt im Biossiegen der Bedingtheit sprachlichen Verhaltens, ihre Wirkung hingegen in der Beschleunigung des literarischen Prozesses. Zur
gleich~nZeit,
als der russische
For~alistTynjanov
seine
-
210 -
systemtheoretische Konzeption von den diachronischen Beziehungen Tex t - Tex t ,
Tex t - OE u v r e und Tex t - I i t e -
rar i s c heR ich tun g
entwickelte, hat der russische
Kulturphilosoph Michail M. Bachtin eine grundlegende Typologie des künstlerischen Wortes entworfen,die das Verhältnis einer sprachlichen Äusserung zu einer anderen sprachlichen Äusserung zur Grundlage wählt. Neben den Typus des
dir e k t e n
W
0
.r t e s, das
auf ein aussersprachliches Referenzobjekt bezogen ist, stellt Bachtin (1972: 209f.) den Typus des o b. j e k t .h a f t e n
W
0
dar g e s tel I t e n ,
r t e s, zu dem der Sprecher eine
Metaposition bezieht, und er schliesst den Kreis mit dem Typus des
auf
ein
f rem d e s
W
0
r t
ein g e s tel I
.t e n W 0 r t e s. Ein Wort dieses letzten Typus habe - wie das objekthafte Wort - Sprachliches zum Gegenstand, doch nehme es diesem Sprachlichen gegenüber keine Metaposition ein, da es dem Sprecher der f rem den Red e, dem dieses Wort entstammt, Subjektqualität zubillige. Während nämlich das objekthafte Wort einen objektivierbaren und objektivierten Sprecher voraussetzt, der dem sprechenden Subjekt, das. jenes fremde Wort anführt, in der Sprechhandlung als Objekt hierarchisch untergeordnet ist, zeichnet das auf ein fremdes Wort eingestellte Wort die Gleichrangigkeit zweier sprechender Subjekte aus. Eben die Erscheinung, dass eine Äusserung zwei oder mehr wohlunterschiedene Autoren mit je eigener Autorsubj~ktivität
aufweist, nennt Bachtin (1979: 174f.)
Z w e i -
s t i m m i g k e i t oder i n n e r e D i a log. i z i t ä t. Er bewertet sie als eine spezifische Eigenschaft der künstleri-' schen Prosa, die in Dramatik und Lyrik nur durch deren Prosaisierung Eingang finden könne. Der Bachtinsche Entwurf der Dialogizität des auf eine fremde Äusserung eingestellten Wortes steht anders als die Parodietheorie Tynjanovs nicht im Kontext einer Wir k u n g s theorie künstlerischer Texte, sondern im Mittelpunkt einer Pro d u k t i o n stheorie, die gleichfalls in den 20er Jahren entwickelt und erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre
veröffentlicht worden ist.
Bachtin (1977: 156) begreift das Verhältnis zwischen Autor und literarischer Personnage als Dichotomie
von inhaltlicher und for-
maler Gesetzmässigkeit. Die Realität der Personnage, des dem Autor gegenüber
a n der e n
B e w u s s t s e i n s, wird als jener
-
211 -
Gegenstand künstlerischen Sehens entworfen, der diesem Sehen erst ästhetische Objektivation ermöglicht. Neben dem schöpferischen ßewusstsein des Autors müsse daher das Bewusstsein des Anderen spürbar werden. Der Autor - Bachtin (1978: 274) meint nicht etwa den historisch konkreten, sondern den abstrakten, impliziten oder, wie er ihn später nennen wird,
den'~reinen
Autor" - und dessen
Personnage gehören freilich unterschiedlichen Schichten des Kunstwerks an; als aktiv gestaltende und formal abschliessSnde Iristanz übersteigt der abstrakte Autor alle einzelnen Momente seines Werks, ist er ihnen gegenüber
t r ans g red i e n t
(276) .,Das Äu-
torbewusstsein umfasst das Bewusstsein der Personnage, schiesst jedoch zugleich über es hinaus. Daher können die Selbstäusserungen der Personnage erfasst und durchdrungen werden von den Äusserungen des Autors über sie. Die besondere Posi tion, die dem Autor gegenüber dem Helden .1m Kunstwerk zukommt, bezeichnet Bachtin als b e f i n d I ich k e i t
Aus s e r h a I b Diese Aussenposi-
(vnenachodimost').
tion ermöglicht es, den Helden dem Ereigniskontext des Autors fernzuhalten. Solche Exterritorialität gegenüber der Erlebnisund Handlungsposition des Helden ist die Voraussetzung dafür,dass Autor und Leser einerseits vermöge der Empathie am Leben der Personnage teilnehmen, dieses Leben aber zugleich
von
aus sen
erfassen können, um es abzuschliessen und zu vollenden. Die Personnage ist allerdings für den Prosaautor der Andere, weder als objektiviertes
E r
noch als sich mit
Sie ist vielmehr der als ist
alt e r
ihm"identifizi~rendes
a n der e s I e h
Ich.
Aufgefasste Andere,
ego. Dieses andere Ich definiert sich weder im
Sinne des Freudschen Es
(der in der Persönlichkeit komplementär zum
bewussten Ich als Triebpol angelegten, durch unbewusste Inhalte charakterisierten Instanz) noch im Sinne der Jungsehen wechselseitigen Komplementarität von Anima und Animus
(der im Unterbe-
wussten angelegten Züge des jeweils anderen Geschlechts), sondern als notwendige Ergänzung des sich erst durch dieses Komplement als mögliches Kusseres erfahrenden Ich. Räumlicher Ausdruck der Kompl~ mentarität von Ich und Anderem sind
H
Standpunkt gesehener Zusammenhang) und
0
r i K
0
z
0
n t
n tex t
(vom inneren (vorn Aussen-
standpunkt her bestimmter Zusammenhang). Der Horizont des Ich wird für den Anderen zum Kontext jenes Ich und vi ce versa. Anders als
-
212 -
in Gadamers Hermeneutik, die Verstehen als "Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte" (Gadamer 1972: 289) erfasst, wird in Bachtins Ästhetik künstlerisches Gestalten als die Interferenz eines Horizontes mit einem Kontext dargestellt. Beziehen wir die konzeptionelle Dichotomie Tex t Modell
vs.
f rem d e r
A u tor
++
Pe r s
e i gen e r
Tex t a u f Bachtins korrelatives 0
n n a g e, so erweisen sich die
Stücke fremden Textes im eigenen Text als Selbstäusserungen der Personnage f r emd e r A u t 0 r. Der fremde Autor wird dergestalt zu' einem impliziten oder auch expliziten Helden des eigenen Textes: sein Standpunkt wird dezentriert und sein Horizont kontextuiert. Wer die Art und Weise vergleicht, wie Tynjanov und Bachtin die Einheit des Textes zum transtextuellen Beziehungsgefüge
Tex t - Tex t
öffnen, dem fällt bei Tynjanov die Ein-
stellung auf systematische transtextuelle Ordungen auf. Innerhalb des Systems der Literatur werden etwa das Gattungssystem sowie Reihen der Rede (recevye rjady, Tynjanov 1977: 300), die ihrerseits mit bestimmten Gattungen korrelieren, als Bezugsgrössen herausgestellt. Wenn Tynjanov eine Korrelation zwischen Ode und oratorischem Sprechen, zwischen einem bestimmten Typus der Elegie und dem Singen sowie zwischen einem bestimmten Typus des Sendschreibens und dem dialogischen Sprechen herstellt, begründet er die Dialogizität der Rede, anders als Bachtin,nicht auf der implizit pragmatischen inneren Diglossie der Äusserung, sondern auf der im Text explizitierten pragmatischen Konstellation
A u tor - A d res -
s a t. Während Tynjanov die Relation dem Gesichtspunkt der
Tex t
- Tex t
primär unter
literarischen. Evolution als Entnahme eines
Verfahrens (z.B. der intonatorischen Organisation eines Gedichts) aus einem Ausgangssystem und seine Integration in ein Endsystem ganz im Sinne des formalistischen Verfremdungstheorems unter dem Aspekt des Funktionswechsels fasst, der den Zweck verfolgt, die konventionelle Bedingtheit ("uslovnost''', Tynjanov 1977: 301) des literarischen Ausgangssystems blasszulegen, betrachtet Bachtin diese Relation vor allem unter dem Gesichtspunkt der Integration fremder Rede in die eigene Rede. Die für Tynjanov im Rahmen seiner Innovationsästhetik entscheidende diachronische Beziehung g e gen w ä r t i g e r ,
"m
0
d e r n e r"
Tex t
-
alt er,
"u n m
0
213 -
d e r n e r"
Tex t
(sie kann in seinem
Modell durch die Reaktivierung des dem unmodernen vorausliegenden, noch älteren, an Komplexität zunehmen) bildet für Bachtin nur eine Sonderform der im Text zunächst synchronischen Beziehung zwischen fremder und eigener Rede. Dieser Bezug wird seinerseits
z~
einer
historischen Kategorie, wenn in Bachtins Modell die kultur-historische Phase der
E i n s p r ach i g k e i t
(Bachtin 1979:
318), die gekennzeichnet ist durch die Vorherrschaft von Mythos und Dogma, abgelöst
wird von der Phase der
V i eIs p r a -
c h i g k e i t, die es mit ihren dialogischen Verfahren erst möglich macht, die Bedingtheit der eigenen Sprache zu erkennen und durch Ausschöpfung der Redevielfalt in künstlerischen Texten schöpferisch zu nutzen. Dem durch Axiomata der formalistischen Theorie der literarischen Entwicklung fundierten textübergreifenden Kontinuitätskonzept der permanenten Evolution stellt Bachtin den für die Phase der Vielsprachigkeit geltenden
Begr~ff
dialo-
gischer Kontinuität entgegen. 'Das kulturelle Geschehen wird modelliert als ein Dialog, dessen.Strukturmomente bis ,in den einzelnen (Prosa-)Text zu verfolgen sind. Die Parodie ist solchermassen für Bachtin nicht so sehr der Funktionswechsel von Verfahren in verfremdender Intention als vielmehr eine besondere Form der Konfrontation zweier Sprachstile, die durch eine Auseinandersetzung zwischen· zwei sprachstilbezogenen Standpunkten ausgetragen' wird. In dieser Betrachtungsweise wird die parodierte Gattung keineswegs einfach demontiert, sondern als Bild dieser Gattung entworfen und mit der parodierenden Gattung in eine absichtsvolle Interferenzbeziehung versetzt, in der sich die Redeweisen wechselseitig beleuchten. Dass dabei die eine Redeweise die andere blossstellt, ist zwar möglich, aber keineswegs notwendig. Das
f rem d e
W
0
r t
kann nun, wie Bachtin (1978: 229)
feststellt, in einem Text in zwei dialogischen Relationen auftreten: als
a u tor i t ä res
W
0
r t, das kraft der Autorität
der sprechenden Instanz (z.B. Gottheit, Papst, Arzt, Lehrer) oder aber der ursprünglichen
Textga~tung
(z.B. Heilige Schrift, Enzy-
klika, Rezeptvorschrift, Aufgabe) gilt oder aber als 1 ich
übe r z e u gen d e s
W
0
i n n e r -
r t, das weder einem kano-
nischen Text entstammt noch sich auf die Geltung der communis opinio beruft noch von einer Person ausgesprochen wird, die eine
-
214 -
autoritative Institution repräsentiert. Das aus sich heraus überzeugende Wort gilt nur, wenn dem Adressaten seine Botschaft einleuchtet. Dagegen gilt ein Gesetz beispielsweise gerade auch dann, wenn der einzelne Handelnde es nicht anerkennt. Nun kann eine fremde Äusserung zugleich sowohl autoritär als auch innerlich überzeugend sein; so ist es möglich, dass sich uns im zusammenhang einer eigenen Erfahrung der Sinn eines Sprichwortes bestätigt. In der Regel weist die fremde Rede freilich einen Schwerpunkt entweder am Pol der ausserhalb von ihr liegenden Autorität oder aber am Pol der inneren Überzeugungskraft auf (vgl. die extreme Oppositionvon Befehl und Einsicht). Diese Klassifikation des fremden Wortes folgt dem Kriterium seiner Geltungsfundierung. Bachtin hat drei verschiedene Typen des Entwurfs eines Bildes fremder Rede unterschieden: 1. i n t e n t i o n a l e H y b r i d i s i e r u n g von S p r a c h e I e m e n t e n, d.h. die beabsichtigte historische und/oder soziale Interferenz zwischen Elementen zweier Sprachen, die durch zwei Sprecher mit je eigenem sprachideologischem Standpunkt und je eigener, diesen Stan?punkt darstellender Redeweise ("Stimme") in einer einzigen Ausserung repräsentiert werden, wobei es zu einer für die jeweilige Kommunikationssituation charakteristischen Sinninterferenz kommt; 2. d i a l o g i s e h e Kor r e 1 a t i o n i e r u n g von S p r a c h e n, d.h. wechselseitige Erhellung ganzer Sprachsysteme, indem das eine System mit den Mitteln (Code und Inventar) des anderen dargestellt wird; dabei lässt sich die S t i (künstlerische Abbildung des fremden sti1 i sie run g listischen Systems durch das andersgeartete stilistische Sy-· stem,durch die stilisierende Rede) unterscheiden von der V a r i a t ion (arbeitet im Unterschied zur Stilisierung nicht nur mit dem Material des fremden Sprachstils, sondern bringt eigenes thematisches und sprachliches Material in die Darstellung ein) und der P a r 0 d i e (Unterscheidung der Intentionalität des fremden Wortes vom eigenen, so dass das fremde Wort durch Brechung und Blosslegung zwar nicht der ihm innewohnenden Logik, wohl aber der von ihm beanspruchten Geltung beraubt wird) ; 3. d i a l o g i s e h e Kom pos i t i o n d e s Tex t e s, d.h. Nutzung der dialogischen Beziehung von Sprachen und ihren Elementen zum Aufbau der Kompositionsform Dialog. Diese Typologie der Bilder fremder Rede gründet auf dem unterschiedlichen Bezug zu den aufeinander bezogenen Sprachsystemen: bilden sie beim ersten Typus lediglich den Hintergrund, aus dessen Kontext die interferierenden Redeweisen stammen, so treten sie im zweiten Typus als repräsentierte Systeme in unmittelbare
- 215 . . :
Wechselwirkung. Der dritte Typus schliesslich funktionalisiert mit den Verfahren der Dialogisierung auch die interferierenden Codes. Obzwar Bachtin solchermassen in deutlichem Unterschied zu Tynjanov die Text-Text-Beziehung auf die dialogische Struktur der einzelnen sprachlichen Äusserung g~Gndet und sie damit dem einzelnen (literarischen) Text inkorporiert, wird die einzelne Äusserung (der einzelne Text) seit den 20er Jahren im Bachtinkreis zugleich in die Kontinuität der sprachlichen,Kommunikation eingerückt: Jede Äusserung, wie bedeutungsvoll und vollendet sie in sich auch immer sein mag, ist nur ein Moment in der kontinuierlichen sprachlichen Kommunikation (der alltäglichen, literarischen, erkenntnistheoretischen oder politischen). Doch auch diese kontinuierliche sprachliche Kommunikation selbst ist wiederum nur ein Element des ständigen allseitigen Wer den s des jeweiligen gesellschaftlichen Kollektivs. (Volosinov 1975: 158) In einem späten Entwurf zum Textproblem hat ßachtin (1976: 141) durchaus vom process)
Kom m u n i k a t i o n s p r o z e s
gesprochen, dessen Bestandteil der
r i s ehe
Pro z e s s
I
S
(recevoj
i t e r a -
(literaturnyj process) wohl bildet.
Hier ergibt sich die Möglichkeit für eine Analogie'zur Scheidung der
1 i t e rar i s ehe n
r e 1 1 e n s
0
sowie von den
z i ale n
von den benachbarten
a I I t ä g I ich e n
k u I t u und den
Reihen im Modell Tynjanovs (1977: 270-281). Mit
den Reihen des alltäglichen Lebens korreliert die literarische Reihe mittels der
L i nie
der
Red e t ä t i g k e i t
(recevaja linija), d.h. die Literatur übt im Verhältnis zum all-
täglichen Leben eine Kommunikationsfunktion aus. Hier wird deutlich, dass Tynjanovs Reihenmodell eine systematische Kulturtheorie voraussetzt, die von den Vertretern der Formalen Schule jedoch nicht (mehr) ausgeführt worden ist.
3. Die kulturtheoretischen Aspekte einer Theorie der Intertextualität und das Modell von Julia Kristeva In der für die narrative Intertextualität bahnbrechenden Monographie "Das Zitat in der Erzählkunst" hat der niederländische Germanist Herman Meijer (1961: 22), in der Tradition der deutschen
-
216 -
Formästhetik stehend, die Bedeutung des kulturellen Kontextes für die Untersuchung literaturhistorischer Erscheinungen - und damit auch des Zitats - hervorgehoben: Bei allem Nachdruck auf der formgeschichtlichen Seite des Gegen'standes unserer Untersuchung soll es uns doch bewusst bleiben, dass literarische Entwicklungen sich nicht in irgendeinem Wolkenkuckucksheim entwickeln, sondern dass sie klimatisch von dem sie umgebenden kulturellen Raum bedingt werden. Neben der phänomenologischen Kulturphilosophie Bachtins bietet eine Kultursemiotik die besten Voraussetzungen für die Bestimmung der kulturtheoretischen Gesichtspunkte einer Theorie der Intertextualität, die vom Verhältnis zwischen semiotischer Handlung, Text, Sprache und Kultur ausgeht. Als Kultur können wir in diesem Zusammenhang eine Gesamtheit relevanter Zeichensysteme ("Sprachen "), semiotischer Handlungen ("Semiosen") , ihrer Manifestationen ("Texte") sowie ihrer Vermittlungsinstanzen ("Institutionen") definieren. Dabei können bei einer Kultur entweder die Zeichensysteme, die Texte oder die semiotischen Handlungen ins Zentrum gerückt werden~
Wir können dann von einer systemdominanten, einer text-
dominanten bzw. einer handlungsdominanten Kultur sprechen. Um eine systemdominante Kultur handelt es sich beispielsweise bei der byzantinischen Kultur, vgl. etwa die Zeremonienbücher eines Konstantinos VII. Porphyrogennetos. Bei der griechischen Patristik nach der Mitte des 5. Jahrhunderts haben wir es dagegen mit einer textdominanten Kultur zu tun, mit einer Kultur, die überdies geschlossen ist;
soerkl~~t
Ioannes Damaskenos in seiner dreiteiligen
pege gnoseos (Quelle der Erkenntnis), er habe dem Wortlaut der Heiligen, Schrift sowie der Kirchenväter nichts eigenes hinzugefügt. Eine handlungsdominante (Sub-)Kultur bildet die Kultur der happenings in den.60er Jahren unseres Jahrhunderts. Hierbei die
Intertextualit~t
durch die
Interaktionalit~t
~ird
so weitgehend
verdrängt, dass wir diesen Kulturtypus gleichfalls aus der Betrachtung ausschliessen können. Die
Kontinuit~t
einer Kultur kann sich im Hinblick auf die
ersten beidenKulturtypen entweder als m a t i s ehe
z eie h e n s y s t e -
Kontinuität oder aber als
tex tue 1 le
Kontinuität darstellen. Zeichensystematische Kontinuität prägt sich etwa in der
byzanti~ischen
Kultur im autoreflexiv auf die
-
Kultur bezogenen Begriff der
217 -
mim e s i s, der Nachahmung der
antiken Beispiele, aus. Intertextualität erlangt hier die Form der Fortsetzung eines vorbildlichen Musters. So bemlihen sich die by-
zantinischenSchriftsteller nicht nur im Kontext der sich zum Neugriechischen entwickelnden Sprache um die Tradierung des antiken Griechisch, sie folgen auch dem rhetorischen und poetischen System der Antike. Im 12. Jahrhundert verfasst Ioannes Tzetzes eine epische Trilogie, die das trojanische Sujet der Homerischen "Ilias" gleichsam als Vor- und Nachgeschichte fortsetzt, wie auch der Titel zu erkennen gibt: "Ta pro Homeru, ta Homeru, ta meth' Homeron". Da hier nicht nur das sprachliche,sondern auch das metrische und stilistische System Homers weitergefUhrt werden, liegt aus unserer modernen europazentrischen Kulturperspektive das Urteil des Epigonenturns nahe. Aus der Sicht der byzantinischen semiotisch-systematisch kontinuierlichen Kultur ging es dagegen um die aktive Überlieferung des antiken Erbes. Innovation wäre als systemstörender Fehler aufgefasst worden. Ähnlich verhalten sich Kinder, wenn ein Mitspieler eine Regel eines konventionell etablierten Spiels übertritt: auch hier wird die Innovation als
Syst~mstörung
verurteilt.
Ioannes von Skythopolis kommentierte im sechsten nachchristlichen Jahrhundert die Schriften des pseudo-Dionysios Areopagites aus dem fUnften Jahrhundert, die im Mittelalter als die neben dem Alten und Neuen Testament authentischsten Texte galten, da sie dem Paulus-Schliler Dionysios von Areopag zugeschrieben wurden. Zitate aus ihnen hatten - wie Bibelzitate - Beweiskraft. Die den zitierten Texten zugesprochene Autorität teilt sich kraft der Intertextualität dem zitierenden Text mit. Zugleich bestätigt das Zitat vermöge der Gelehrtheit des zitierenden Verfassers die anhaltende Geltung (im negierten Falle: Nicht-Geltung) des zitierten-Textes, wie ein Gerichtsurteil, das sich auf einen Gesetzestext beruft, die Gliltigkeit des betreffenden Gesetzes
demonstriert~
Die Recht-
sprechung bildet denn auch in unserer Zeit die anschaulichste Form eines zitierenden, textuelle Kontinuität voraussetzenden Kulturbereichs. Die Extension einer Kultur kann sprachlich und/oder medialj topisch und/oder chronisch, personal oder sozial begrenzt sein. Die
r u s s i s c h e
let t k u I t u r
K u 1 t u r
medial, die
ist sprachlich, die
K u 1 t u r
der
B a 1
i tal i e -
-
218-
sprachlich-medial begrenzt, die
n i s c h e n
0 p e r
p ä i s c h e
K u 1 t u r
ist topisch, die
k u 1 t u r
ist chronisch, die
K u 1 t
d e s
u r
1 9.
J
zial
personal, die
a h r h u n d e r t
s
-
ist chrono-
K u 1 t u r
von
Bau e r n k u 1 t u r
dagegen so-
abgegrenzt. Schliesslich lässt sich die Überschneidung der
Subklassen beobachten: so bildet die des
0
s k a n d i n a v i s c h e
topisch definiert. Schliesslich ist die K r 1 e ! a
e u r
G e g e n w a r t s
s pan i
s ch e n
h ö fis c h e
Mit t e l a l t e r s
K u I t.u r einen Quer-
schnitt durch alle Klassen (ausser der personalen, die zur sozialen in einer exklusiven Relation steht) . Moderne Kulturen weisen überdies eine interne funktionale Differenzierung in gnosische, ästhetische, praktische, und religiöse Kulturpraxis auf (Grübel 1983).
spielerisc~e
(In mythischen Kul-
turen sind diese Funktionen noch undifferenziert, sie bilden integrale Bestandteile des mythischen Synkretismus.) Kulturelle Diskontinuität kann sich nun entweder durch Brüche in der sprachlichmedialen,
chronotopischen und/oder personal-sozialen Kontinuität
oder aber durch Übergänge über die Grenzen der funktional differenzierten Kulturpraxis ergeben. Wir kennen den Kontinuitätsbruch in der europäischen Kultur beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit; bekannt sind auch die Brüche im Gang der gnosischen Kulturpraxis (Kuhn 1962). Dabei ist besonders hinzuweisen auf die Diskontinui tät im Wechsel von der mythischen zur his·torischen Kultur (Lotman/Minc
~981).
Lotman und Minc haben den oben dargestellten
Dualismus der Kontinuität vs. Diskontinuität kultureller Organisation auf der Ebene des Textes als Dichotomie k r e t e n
vs.
dis k r e t e n
von
i n dis -
Texten dargestellt. Als "in-
diskret ", bezeichnen sie Texte, die kraft der Mechanismen des Iso- und Homeomorphismus Identifikationen von Dingen herbeiführen, die aus der Sicht indiskreter Modeliierung unterschiedliche Gegenstände bilden. Als "diskret" bezeichnete Texte werden mit Hilfe von Codes chiffriert und dechiffriert, die mit den Prinzipien von Similarität und Dissimilarität sowie von Entfaltung und Einfaltung arbeiten. Für unseren Zusammenhang ist der Hinweis auf die Möglichkeit (Lotman/Minc 1981: 37) von besonderem Gewicht, dass zwei vom 1
Standpunkt indiskreter Dechiffrierung verschiedene Texte nicht als in irgendeiner Hinsicht ähnlich, sondern als ein und derselbe Text
-
219 -
angesehen werden. E.M. Meletinskij hat beschrieben, wie beim Übergang des Mythos zum literarischen M3rchen Unterschiede hervortreten. So wird die im mythischen Märchen tinbestirrunte Anzahl von Ereignissen des Gewinnens und Verlierens von Dingen, bei der alle Ereignisse gleichberechtigt sind, im literarischen Zaubermärchen durch die hierarchische Gliederung einer auf zwei oder drei solcher Ereignisse beschr3nkten Folge ersetzt. Die Feststellung Meletinskijs (1972: 185)
"Die
Struktur des archaischen mythologischen Märchens tritt als eine gewisse Metastruktur im Verh3ltnis zum eigentlichen Zauberm3rchen auf", besagt einerseits, dass die von Propp rekonst·ruierte strukturelle Homöomorphie eines bestimmten Inventars von Zauberm3rchen durch eine abstrahierende Transformation von der Objekt- zur Metaebene beschreibbar wird, das heisst, dass alle konkreten Zaubermärchen über einen eigenständigen Textstatus verfügen, der sich erst vermöge eines abstrakten Modells aufheben lässt,das freilich noch immer kulturkonstitutiv ist. Zugleich setzt diese These die Unikalität des archaisch-mythischen Textes voraus: potentielle "alternative Texte" müssen solchermassen entweder zum Bestandteil des mythischen Textes selbst oder aber als Nicht-Text aus dem kulturellen Inventar ausgeschieden werden. Zur Intertextualität kann es unter diesen Bedingungen nicht korrunen. Der Übergang vorn mythischen zum historischen kulturellen Denken 13sst sich unter dem Gesichtspunkt der Textstrukturierung als Sprung von der Vorherrschaft tropischer Bedeutungsbildung iur Dominanz begrifflicher Bedeutungsbildung modellieren. Die russische klassische Philologin Ol'ga Michajlovna Frejdenberg hat in ihrer Schrift "Bild und Begriff" (entstanden 1945-1954, publiziert posthum 1978) einen wesentlichen Unterschied zwischen dem bildlichen mythischen und dem begrifflich-abstrakten Denken herausgearbeitet. Das kulturgeschichtlich frühere bildliehe Denken scheidet noch nicht den Gegenstand von Eigenschaften (Frejdenberg 1978: 181f.)
i
Eigenschaften werden vielmehr selbst als Wesenheiten auf-
gefasst. Frejdenberg betont, dass in der Antike beide Denkformen nicht nur nebeneinander bestanden, sondern auch aufeinander einwirkten, ja si?h wechselseitig bedingten. Im Mittelpunkt steht dabei der Gedanke, dass die abstrakten Begriffe in der griechis?hen Antike metaphorisch aus konkreten sinnlichen Vorstellungen hervor-
-
22ü -
gegangen seien. Die ursprünglich als konkret vorgestellte Identität der Bedeutungen der beiden Glieder der Metapher würden übergeführt in eine Als-üb-Identität: die Bedeutungen seien zugleich identisch und nicht-identisch. Hierbei treten konkrete und abstrakte Bedeutung so auseinander, dass die Identität nicht mehr konkret, wird~
sondern abstrakt begründet
Die Kontinuität der mythischen
Bedeutung geht über in die Diskretheit der neuen Bedeutungsform "Metapher". Die Metapher verkörpert sprachlich in nuce jenes Verhältnis, kraft dessen zwei aus der Sicht des mythischen Denkens identische Te~te als wechselseitige Metamorphose aufgefasst werden: die Texte sind nur noch "gleichsam" identisch, ihre Ähnlichkeit reduziert die Identität auf die Kongruenz von Eigenschaften, oder - wie wir heute sagen - von
M e r k mal e n.
Neben den Text des Mythos, der im Ritual das Gesetzhafte, die "Ewige Wiederkehr des Gleichen" nach dem Prinzip der abstrakten zyklischen Zeit zelebriert, treten die Texte, welche das Ungesetzliche, Aussergewöhnliche, Einmalige mitteilen wie "Der Nibelunge noth" : UnE ist in alten maeren von helden lobebaeren, von.fröuden hochgezIten, von küener recken strIten,
wunders vil geseit, von grözer kuonheit, von weinen und von klagen, muget ir nu wunder hoeren sagen.
Es ist nun offenkundig möglich, das
i n
alt e n
m ae r e n
Gesagte in verwandelter Gestalt zu Gehör Zu bringen, ja es wird sogar möglich
~
wie im Igor'-Lied - die Metamorphose im Text selbst
abzubilden als Kontrastierung von fremder Dichtung (Bojan) und eigener Redeweise. Der Dissoziierung von wahrgenommenem Gegenstand und wahrnehmendem Subjekt
ent~pricht
die Trennung von Sprecher und
Rede: der Text erhält einen Autor. Julia Kristeva hat sich (1979: 82) bei ihrem Versuch einer construction du sens poetique auf die Dialogtheorie Bachtins be-
rufen. Zurecht weist sie darauf hin, dass Bachtin die statische Analyse der Textbedeutung ersetzt durch ein dynamisches Modell: [ ... ] le "mot litteraire" n'est pas un point (unsens fixe), mais une croisement de surfaces textuelies, un dialogue de plusieurs ecritures: de l'~crivain, du destinataire (ou de personnage) , du contexte culturel actuel ou anterieur. (Kristeva 1979: 83) Mit Nachdruck wird hier auf die Relevanz des kulturellen Kontextes
-
221 -
für die Bestimmung des Sinns (russ. "smysl", frz.
~'sens")
eines
Kunstwerks in der ästhetischen Theorie Bachtins hingewiesen, doch scheint mir Kristeva (1976: 84) den Rahmen des Bachtinschen
Kon~
zeptes zu verlassen, wenn sie die These von der Ersetzung des Begriffs der der
I n t e r sub j e k t i v i t ä t
r n t e r tex t u a 1 i
t ä' 't
durch den Begriff
aufstellt ("A la place de la
not ion d'intersubjectivite s'installe celle d'intertextualite"). Nicht nur in seinem Essay zur Theorie des Textes hat Bachtin (1976) die Bedeutung der sprechenden Person für die sprachliche Äusserung hervorgehoben, auch in seiner Skizze "Zur Methodologie der Literaturwissenschaft"
(Bachtin 1979: 353) hat er die Hypostasierung des
Textes als Gefahr für die Literaturwissenschaft gekennzeichnet: "Authentische Erkenntnis ist in der Literaturwissenschaft stets historisch und personifiziert". Literaturwissenschaftliche Erkenntnis kann als dialogische Erkenntnis den Text nur als Äusserung eines sprechenden Subjektes/mehrerer sprechender Subjekte betrachten. Die Differenzierung des Semiotischen undSymholischen als zweier Modalitäten eines einzigen Prozesses der Sinngebung, wobei das Semiotische im Unterschied zum Symbolischen mit dem verbalen Zeichen noch nicht ein abwesendes Objekt ersetzt unq damit die Sphäre des Realen gegenüber dem Symbolischen abgrenzt, scheint mir nur sehr bedingt geeignet, die Subjektfreiheit der rntertextualität zu begründen. Wenn Kristeva (1974, 1978: 67)
feststellt "[ ... ] die
poetische Sprache macht dem Subjekt den Prozess, indem sie sich semiotischer Markierungen und Bahnen bedient",
gälte
es, den Sub-
jektbegriff nicht nur phänomenologisch - Subjekt der Schreibpraxis vs. Subjekt der Aussage (Kristeva 1974, 1978: 215) -, sondern auch historisch einzugrenzen. Die Definition der Intertextualität als "Transposition eines Zeichensystems in ein anderes" (69)
redu-
ziert die Text-Text-Beziehung endgültig auf die Systeminte:ferenz. Auch Kristevas These
[ ••• 1 Bakhtine situe le texte dans l'histoire et dans la societe, envisagees elles-memes comme textes que l'ecrivain lit et dans lesquels il Si insere en les recrivant (Kristeva 1969: 144, 1978: 83) scheint mir eine Verengung der Konzeption der Dialogizität bei Bachtin mit sich zu bringen: Geschichts- und Gesellschaftsbegriff sind für Bachtin durchaus nicht zu reduzieren auf das Textverständnis. Eine solche Depersonifizierung des Gegenstandes und Depsycho-
- 222 -
logisierung
de~
Wissenschaft ist gleichermasseh kennzeichnend für
manche Strömungen der avantgardistischen Kunst wie auch für die ihr nahestehenden kunstwissenschaftlichen Konzeptionen, z.B. den frühen Formalismus. Die Desubjektivierung des Textbegriffs und damit auch des Begriffs der Intertextualität im Konzept eines Textes, der "die Geschichte liest" und "sich in sie einschreibt"
(Kristeva
1968, 1971a: 500, 1971b: 149), diese Aufhebung des handlungstheoretischen Differentialbezugs von Handelndem, Handlung und Handlungsprodukt in eine Handlung, die sich selbst vollzieht, kennzeichnet die Remythisierung der Textwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Sie korrespondiert. mit dem Poetomythizismus von Modernismus und Avantgardismus (Striedter 1971,Lotman/Minc 1981) und hat ihren Vorläufer in der These Osip Briks, es sei mehr oder weniger zufällig, dass sei (Brik
Pu~kin
der Verfasser des Versromans "Evgenij Onegin"
1923: 213). Not tut eine Theorie der Intertextualität,
die die Kontinuität eines Raums der Texte weder von der Instanz der textuell Handelnden (Autor/Leser) noch von der Instanz des verhandelten Dritten (Personnage) ablöst.
4. Zur Phänomenologie dersprachkünstlerischen Intertextualität 4.1. Die textuelIen Relationen Kontextualität, Intextualität und Intertextualität Der literarische Text, aufgefasst als eine komplexe Einheit, die durch die Merkmale 1. sprachlich-semiotischer Repräsentanz, 2. struktureller Prägnanz, 3. semantischer Interpretanz, 4. thematischer Objektivität und 5. kultureller Funktionalität ausgezeichnet ist, lässt sich auf Erscheinungen beziehen, die entweder innerhalb oder ausserhalb seiner Extension liegen. Bezüge zu innertextlichen Erscheinungen können wir intextuell nennen: sie haben stets den Charakter des Verhältnisses eines Ganzen zu einem Teil, einer Menge zu einem Element. Einen Sonderfall dieser Relation bildet das Verhältnis des Textes zu einem eingebetteten Text, wie er in Dostoevskijs Roman "Brat'ja Karamazovy"
("Die Brüder Kara-
mazov" , im weiteren: "BK") in der Form der Legende "Velikij Inkvizitor" (."Der Grossinquisitor") hervortritt. Solche Erscheinungen' können wir als Intext bezeichnen. Die Beziehungen eines Textes zu
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223 -
aussertextlichen Erscheinungen wollen wir je nach dem, ob sie als dem Text homogene (textuelle) oder heterogene (nichttextuelle) Erscheinungen aufgefasst werden, intertextuell bzw.· extratextuell. nennen.
(Schon hier wird deutlich, wie verhängnisvoll es ist, die
Historie nicht als Handlungs- und Ereigniskontinuum, sondern als Text aufzufassen, da dann das Verh~n tnis von "BK" zur russischen Geschichte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kategorial nicht von der Beziehung zu Shakespeares "Harnlet" unterschieden wäre.) Eine besondere Form der extratextuelle~·: Relation bildet die durch die
Kontiguitätsbeziehung
ges~iftete
Kontext-Relation, wie
·sie etwa im Verhältnis der Thematik von "BK" zum orthodoxen Klosterwesen oder zum russischen Gerichtswesen vorliegt. Andere Formen des Kontextes bilden die Bedingungen der literarischen Produktion, denen Dostoevskij beim Schreiben der "BK" unterworfen war, die Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Romans. Intertextuali tät setzt also voraus, dass die Ers.c:heinung, auf die der Text bezogen wird, selbst als eine textuelle Äusserung .aufgefasst wird. Hierbei lassen sich für den sprachlichen Te:xt Eüne Reihe von Typen unterscheiden, die mit der sprachlich--medialen Qualität der Bezugstexte zusammenhängen. So unterscheiden wir die medial homogene intramediale Intertextualität, wie sie im Verhältnis des Textes "BK"
(XIV: 66, 83 usw.)
zum Text von Schillers "Räubern"
hervortritt, von der intermedialen Intertextualität (Beziehungen zwischen Texten, die mit Hilfe unterschiedlicher Medien codiert sind) im Verhältnis zwischen dem Text der "BK" mälde "Der Betrachter"
("C03ep~aTenb")
(XVI: 116) zum Ge-
von Ivan Nikolaevi5 Kramskoj.
Tri tt in der intramedialen Intertextuali tät das Medium selbst' in die Funktion eines Mittels zurück, das die Text-Text-Beziehung trägt, wird das Medium in der intermedialen Intertextualität zum Gegenstand der
Da~stellung.
So wird in der Charakterisietung von
Smerdjakov in der Erzählerrede gerade die Differenz des pikturalen und verbalen Mediums in der Chronikalität genutzt; die prinzi-· pielle Synchronie des Gemäldes wird übersetzt in die Diachronie und Modalität der Rede: Abgebildet ist ein Wald im Winter, und in dem \'lald steht I auf einern Weg ganz und gar allein in einern abgerissenen langschössigen Rock und Bastschuhen ein in tiefste Einsamkeit geratener Bauer, steht und scheint in Gedanken versunken, aber er denkt nicht, sondern er "betrachtet" etwas. Wenn man ihn anstiesse, würde er zusammenzucken
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224 -
und auf Sie blicken, genau so,als ob er erwacht sei, aber nicht das geringste verstünde. Freilich, er würde sogleich zur Besinnung kommen, und würden Sie ihn fragen, woran er dachte, als er dort stand, so würde er sich wahrscheinlich an nichts erinnern, aber statt dessen jenen Eindruck, unter dem er sich während des Betrachtens befand, für sich behalten. Nicht nur wird die zweidimensionale Syntagmatik der Bildzeichen, die perspektivisch einen dreidimensionalen Raum repräsentiert, übergeführt in die eindimensionale Syntagmatik der Rede, die mediale Statuarität der pikturalen Abbildung wird zu einem Charakteristikum der dargestellten Person erhoben, die in einer Similaritätsrelation zu Smerdjakov steht. Dies geschieht kraft der Transformation des pikturalen modalen Status der Gegebenheit in die verbale Modalität des Konditionalis
("eCJlH 6" - "wenn"). Die
Empfänglichkeit Smerdjakovs für Eindrücke, seine Suggestibilität, die ihn erst zum Vatermörder prädestiniert, tritt in der Hülle des verbal konditionalisierten Vergleichs kraft jener Spiegelung hervor, die den Betrachter des Bildes mit dem abgebildeten "Betrachter" konfrontiert. Im Blick auf die Anzahl der beteiligten Medien können wir beim ers~en
Beispiel (Schillers "Räuber") von monomedialer IntertextualitäL
sprechen, während die Bild-Rede-Beziehung des letzten Beispiels für bimediale Intertextualität steht. Beim Bezug eines literarischen
Textes auf mehrere
nichts~rachliche
Medien (wie im Falle der Be-
ziehung zwischen Thomas Manns Erzählung "Wälsungenblut" und der Wagneroper "Die Walküre" aus dem "Ring der Nibelungen") handelt es sich dann um multimedi al e Intertextuali tät. Eine wichtige Differenzierung betrifft bei der Intertextualität des Kunstwerks der Bezug auf künstlerische vs.nichtkünstlerische Texte, genauer: der Bezug auf Texte, die als künstlerisch oder aber nichtkünstlerisch aufgefasst werden. Im ersten Fall lassen sich beide
~exte
in ein vom Bezugstext vorausgesetztes Konti-
nuum künstlerischer Texte einfügen, wie es bei den "BK" sowohl im Hinblick auf Schillers "Räuber" als auch auf Kramskojs "Betrachter" präsupponiert ist. Im zweiten Fall wird ein Bestandteil des künstlerischen Kontinuums
(z.B. der "literarischen Reihe"im Sinne
Tynjanovs) auf eine Erscheinung eines nichtkünstlerischen Kontinuums bezogen. Bo steht das Oescartes-Zi tat "Je pense donc je suis" (XV: 77) im Zusammenhang des cartesianischen philosophischen
-
Systems des "Discours
de' la
225 -
m~thode"
im Kontinuum der kulturel-
len Texte mit gnoseologischer Funktion, die nicht unmittelbar im darstellenden kGnstlerischen System der "BK", sondern in der dargestellten Ideologie Ivans und/oder des Teufels ihren Bezugspunkt findet. Diese Differenzierung lässt sich jedoch nur auf Beziehungen zu Texten anwenden, die nicht durch den Synkretismus der Funktionen ausgezeichnet sind. Nicht immer ist die Beziehung eines Textes oder eines Textstücks auf einen Bezugstext evident. So besteht Uneinigkeit in der Auffassung darliberi ob die Bezeichnung "Pater
Seraphicus", die
Ivan im Gespräch mit Alesa auf den Starec Zosima bezieht (XIV: 241), einen intertextuellen Zusammenhang mit der Schlusszene in Goethes "Faust" stiftet, wie schon Cizevskij im "Wörterbuch der Eigennamen bei Dostoevskij" (Bem 19336: 16) suggeriert, oder aber die Gestalt des Zosima mit Franziscus von Assisi der Kommentar zur Akademieausgabe (XV: 564)
korrelier~,
vors~hlägt.
wie
Entschei-
den lässt sich diese widersprüchliche Korrelationierung nur durch die Integration in ein klinstlerisches
("BK" in Relation zu Goethes
"Faust") oder ein re'iigiös-theologisches Systemfeld (Relation der religiös-theologischen Konzeptionen, wie sie aus der Vita des Franziscus und aus der Lebensbeschreibung des Zosima zu
r~konstru
ieren sind), das auf den Standpunkt Ivans im Gespräch luit Alesa konzentriert ist. Auch die Frage, ob ein Realbezug des Textes kontextuelle oder intertextuelle Funktion hat, kann strittig sein. Der Verteidiger
fUhrt in seinem Schlussplädoyer (XV: 157) den Fall eines achtzehnjährigen Jugendlichen an, der einen Ladeneigentlimer am hel lichten Tage mit dem Beil erschlagen und von ihm 1500 Rubel geraubt hat, die bis auf 15 Rubel bei dem Tatverdächtigen gefunden wurden. In diesem Fall habe die Zusammensetzung des Betrages aus verschiedenartigen Mlinzen und Papieren genau mit der Beschreibung übereingestimmt, die der bei dem Ermordeten angestellte Verkäufer gegeben hab~und
der mutmassliche Täter habe ein Geständnis abgelegt. Der
Fall wird vom Verteidiger in der rhetorischen Funktion des exempl um
angeführt " um der Klarheit di eses Beweismaterials die Zwei-
felhaftigkeit jenes Beweismaterials'gegenüberzustellen, das gegen Mit ja spricht. Obgleich der vom Verteidiger angeführte Fall tatsächlich stattgefunden hat, kann es sich dennoch nicht um einen
- 226 -
kontextuellen Realbezug handeln: das Geschehen, das im Roman dargestellt wird, hat sich, wie die Vorbemerkung "Vom Autor" explizit feststellt, "vor dreizehn Jahren"
(XIV: 6), d.h. bezogen auf die
Entstehungs- und publikationszeit, Mitte der 60er Jahre ereignet. Dennoch wird mehrfach - wie auch im vorliegenden Exemplum - auf
\
Ereignisse der Jahre zwischen 187S und 1879 Bezug genommen (vgl. Gus 1971: S09f.). Hier wäre zu untersuchen, ob die im Verhältnis zum Niveau der Geschichte ahistorische Einfuhr des Materials· aus den 70er-Jahren nicht
i n t e r tex tue I 1 e n
Charakters
ist, d.h. der Ebene des Erzählgeschehens (Schmid 1982: 94-98)
zu-
zuordnen ist. Das oben angeführte Exemplum lässt sich tatsächlich eher intettextuell auf die Meldungen der Tageszeitung "Golos" vom 16. und 17.Januar 1879 beziehen als auf den Prozess selbst, da nur Informationen der Zei tungsartikel aufgegriffen worden sind (XV:600) . Für die narrative Struktur des Romans "BK" bedeutet dies, dass der Verteidiger in seiner Rede ein oppositionelles exemplum anführt, das noch Bestandteil des in der Presse objektivierten öffentlichen Bewusstseins (der 70er Jahre) ist. Ein Beispiel aus den 60er Jahren, das sich wohl auch hätte finden lassen, wäre bei der bekannten Vergesslichkeit des öffentlichen Bewusstseins eben nicht mehr präsent gewesen! So wird die Achronikalität auf der Ebene der Geschichte zur Synchronie der Intertextualität auf der Ebene ihrer erzählerischen Repräsentation verwandelt. Auch der Realitätsbezug von Tolstojs realistischem Roman "Krieg und Frieden" ("Bot1Ha H MHp") ist vielfältig durch
~remde
Texte vermittelt und beruht nur im Ausnahmefall auf dem Hören-Sagen, dem mündlichen Zeugnis der Zeitgenossen des Geschehens. Im Jahre 1927 hat Viktor Sklovskij eine grössere Arbeit über diese intertextuelle Vermittlung von Tolstojs Roman entworfen und im folgenden Jahr eine Studie über dieses Thema vorgelegt (Sklovskij 1927, 1928). Sklovskij führt darin vor, wie Tolstoj seine Quellentexte in polemischer Absicht ausgewählt und verarbeitet hat: Im selben Masse, in dem sich die Arbeit Tolstojs [an "Krieg und Frieden"] entwickelt, setzt eine polemische Bearbeitung des Materials ein [ ... ] Der ganze "Krieg und Frieden" ruft den Eindruck eines polemischen Werks hervor, wobei die Objekte der Polemik sich sehr oft feststellen lassen. Am leichtesten war es für Lev Nikolaevic, mit den bestimmtesten, schlechtesten, bürokratischsten Historikern zu ,polemisieren. Für gewöhnlich besteht das Verfahren
-
227 -
Lev Nikolaevics darin, die offizielle Version darzulegen, wobei er jedoch ein Detail verändert; so verwendet er die Au~zeichnungen Balasevs, kommentiert und moderiert [KoH~epHpyeT] sie jedoch. (Sklovskij 1927: .20f.) Noch in der jüngsten literarhistorischen Würdigung Tolstojs durch Galagan (1982: 827) ist die Rede von der "scharfen Auseinandersetzung Tolstojs mit fast der gesamten russischen und ausländischen Historiographie bei der Behandlung der historischen Rolle Kutuzovs". 4.2. Produktionelle, textuelle und rezeptionelle Intertextualität Gerade diese Polemik Tolstojs im Text seines historischen Romans mit den fixierten Augenzeugenberichten und
hi~~orischen
Dar-
stellungen führt uns auf eines der zentralen Probleme der Intertextualitätsforschung. Analog zur Scheidung der textbezogenen Literaturwissenschaft in Produktions-, Text- und Rezeptionsforschung lassen sich die Erscheinungen der Intertextualität phänomenal untergliedern in produktionelle, textuelle und rezeptionelle Intertextualität. Die produktionelle Intertextualität umfasst alle Beziehungen des im Entstehen befindlichen Textes zu anderen T~xten, die sich im Verlaufe des Prozesses der Textentstehung
herausgebi~
det haben. Den Grenzfall bildet die Gesamtheit der im Schaffensprozess im Bewusstsein des Autors wirksamen Texte, d.h. aller in dieser Zeitspanne aktiv wirksamen memorierten und neu rezipierten Texte. Es ist evident, dass die produktionelle Intertextualität normalerweise in ihrem Gesamtumfang weder vom Autor dokumentiert noch vom Literaturwissenschaftler rekonstruiert werden kann, obgleich Bibliotheksverzeichnisse des Autors, Tagebücher und Korrespondenzen eine bedeutende Hilfe bieten. Nicht nur die Neigung vieler Autoren zur Selbstmystifizierung, sondern auch die Tatsache, dass eine jede Notiz zu einer Lektüre bereits eine se legierende Interpretation darstellt, sollte hier jedoch zur Vorsicht mahnen. 'Der Schaffensprozess ist wissenschaftlicher Observation nicht ummittelbar zugänglich; ein direkter Zugang bietet sich hier nur der psychologischen Introspektion. Doch auch der mittelbaren tung sind hier
Gren~en
gesetzt:
welcher
Beobach~
Autor liebt schon den Li-
teraturwissenschaftler, der ihm über die Schulter schaut? Ein beschriebenes Beispiel einer EntstehungsgeschIchte, Manfred Dierks Darstellung der Entstehungsgeschichte von Walter
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228 -
Kempowskis Roman "Tadellöser & Wolff", demonstriert, dass die Tagebuchnotizen, Photographien, die Traumprotokolle und Zettelkästen des Autors ebenso zu Bezugstexten des Romans in statu nascendi we,rden wie die jeweils vorhergehenden Fassungen. Die textuelle Intertextualität umfasst jene Text-Text-Beziehungen, die einen gegebenen Text losgelöst sowohl vom konkreten Produktions- als auch Rezeptionsprozess in Korrelation mit anderen Texten bringt. Diese Bezugstexte müssen im Unterschied zu den Bezugstexten der produktionellen undrezeptionellen Intertextualität publiziert, d.h. dem Leser (potentiell) zugänglich und/oder bekannt sein. Dostoevskij konnte einen Leser voraussetzen, der Schillers "Räuber" ebenso kannte oder aber kennenlernen konnte wie Shakespeares "Hamlet", E.T.A. Hoffmanns "Die Elixiere des Teufels", Voltaires "Candide" oder das Alte und Neue Testament der Heiligen Schrift. Hieraus'wird deutlich, dass die Intertextualität eines sprachlichen Kunstwerks in hohem Masse zur Bestimmung des Profils des impliziten Lesers, d.h. des vom Text präsupponierten idealen Rezipienten beiträgt. Es lässt sich nun prinzipiell jeder Text auf jeden Text beziehen, so dass der am weitesten gefasste Begriff textueller Intertextualität jeder Spezifik entbehrt. Ich habe daher schon an anderem Ort (Grübel 1980: 216) vorgeschlagen, die latente Intertextualität von der textuell manifesten Intertextualität zu unterscheiden. Textuell manifeste Intertextualität zeichnet sich gegenüber der latenten Intertextualität nicht nur dadurch aus, dass sie im Text einen semiotischen Ausdruck gefunden hat, sondern auch dadurch, dass der Bezugstext ein semantisch notwendiges Komplement des gegebenen Textes bildet. Freilich bleibt die Grenze der latenten zur
manifeste~
Intertextualität
fliessend: neben zweifelsfreien Fällen der manifesten und eindeutigen Fällen der latenten Intertextualität haben wir auch Grenzfälle zu gewärtigen, in denen eine Zuordnung deutungsabhängig ist. Die rezeptionelle Intertextualität umschliesst alle TextText -Beziehungen, mit denen in einer konkreten Rezeption ein bestimmter Text angereichert wird. Teilweise dürfte rezeptionelle Intertextualität vorgepräg\ sein, nur selten dürfte sie mit ihr in ihrer Extension kongruieren. Grundsätzlich unterliegt die rezeptionelle Intertextualität nicht dem Gesetz der historischen Reihenfolge, d.h. der Leser kann den Roman "BK" durchaus mit später
- 229 -
geschriebenen Texten in einen fruchtbaren Zusammenhang bringen: Freilich hängt die rezeptionellelntertextualität nicht nur mit den kulturspezifischen Rezeptionsgewohnheiten zusammen, sondern auch mit einer mehr oder weniger zufälligen Koinzidenz der jeweiligen vorhergehenden und synchronischen Rezeption von verbalen und/oder nichtverbalen Texten durch den Leser. Wie ßie beiden Jubiläumsbände "Wir und Dostoevskij" Erbe in unserer Zeit"
(Sperber 1972) sowie "Dostojewskis
(Grasshoff/Jonas 1976) belegen, hat sich die
Dostoevskij-Rezeption grossenteils in einer Konfrontation mit der Tolstoj-Rezeptionvollzogen, die auch die retrospektive rezeptionelle Intertextualität geprägt hat. Hiervon ist auch die wissenschaftliche Dostoevskij-Rezeption nicht ausgeschlossen; auch wissenschaftliche Texte können (und sollen) in der Rezeption des Lesers (nicht nur des wissenschaftlichen Lesers!) eine ,rezeptive intertextuelle Relation mi t dem Primärtext eingehen,
d~.n,
sie zum Ge-
genstand haben.
4.3. Distinktion des dominanten intertextuellen Bezugs auf Zeichenträger, Zeichenobjekt und Interpretanten Die semiotische Explikation manifester Intertextualität kann sich entweder in erster Linie auf den Zeichenträger, das Repräsentamen der Zeichensequenz richten (z.B. Zitat) oder
~er
auf das.
Zeichenobjekt (z.B. Anspielung) oder aber auf den Interpretanten, d.h. die Zuordnung von Zeichenträger und -objekt (z.B. Topos). So bildet im Gespräch Ivans mit dem Teufel die durch Anführungszeichen markierte Passage der Äusserung des Teufels zweifellos ein .Zitat eines Ausspruchs von Repetilov aus Griboedovs Komödie "Verstand schafft Leiden" 3eMJle O,QHH
("rope OT YMa"): "EblJl, ,QeCKaTb, 3,QeCb Y Bac Ha
TaKo~ ~HJlOCO~
BecTb, Bepy" , a rJlaBHOe -
H MbICJlHTeJlb, "BCe oTBepraJl 6y,QY~Yw *H3Hb~"
3aKoHbl, CO-'
("Es gab, sagt man, hier
bei euch auf der Erde einen solchen Denker und Philosophen, "alles verwarf er, Gesetze, Gewissen, Glauben" und das Wichtigste: das künftige Leben.") Das Einbeziehen der Kenntnis von Griboedovs Komödie ist erforderlich, um der Ironie der Charakterisierung Repetilovs als eines "Philosophen und Denkers" zu durchschauen. Die oben angeführte, in der Sekundärliteratur wegen ihres Sachbezuges strittige Charakterisierung Zosimas als "Pater Seraphicus" kann als Beispiel für die primär zeichenobjektgerichtete
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230 -
Intertextualität dienen. Mit wem Ivan durch die auf Alesa bezogene Bezeichnung "dein 'Pater Seraphicus'" den Starec Zosima in Zusammenhang bringt, erhellt nicht unmittelbar aus dem Text. Offenbar ist dieser Objektbezug auch für Alesa fraglich, wie sein innerer Monolog zeigt:
"«'Pater Seraphicus' - 3TO HMJI OH OTKY,Qa-TO B3Rn -
oTKY,Qa?» - npOMenbKHyno y AneulH [ ••• ]
"
("«' Pater Seraphicus' - die-
sen Namen hat er irgendwoher genommen - woher?» durchzuckte es Alesa [ ... ] .") Deutlich ist allein, dass es eine Quelle gibt, der Ivan diese Bezeichnung entnommen hat, um sie hier halb spöttisch auf den geistigen Vater seines Bruders zu beziehen, der im sterben liegt. Der Bezug auf die Schlusszene
von Goethes "Faust", in der
nach dem "Pater Ecstaticus" und dem "Pater Profundus" der "Pater Seraphicus~mit
gekennzeichne~
der Regieanweisung "mittlere Region"
auftritt und den "Chor seliger Knaben" zu sich ruft, um sie in sich aufzunehmen und in höhere Regionen zu entsenden, führt jedoch in die Irre, so sehr die Korrelation Ivan Alesa (= Die seligen Knaben)
~
(=
Faust)
~~
Mephisto und
Pater Seraphicus auch dazu verlei-
ten mögen. Sowohl vom ideologischen System des Textes her - Zosima lässt sich auf keine Weise der abstrakten himmlischen Architektonik der Schlusszene
des "Faust" assimilieren - als auch von der kUnst-
lerischen Struktur her liegt die Beziehung auf Franziscus von Assisi viel näher: der Name "Pater Seraphicus" ist aus der Vita des Hl. Franziscus entnommen und deutet auf die Erwartung hin, Zosima werde zum Kristallisationspunkt eines neuen Heiligenleben werden. So begründet der von Alesa schliesslich Ubernommene'Objektbezug des Titels "Pater Seraphicus" Uber den intertextuellen Bezug auf die Heiligenvita des Franziscus von Assisi die Heilserwartung, die Alesa in Zosima setzi:
"«,Qa,,Qa, 3TO OH, 3TO Pater Seraphicus, OH
cnacaeT MeHR .... OT Hero H HaBeKH!»"
("« Ja, ja, das ist er, das
ist Pater Seraphicus, er wird mich retten ... von ihm und fUr immer! »
~,
)
Die interpretantengerichtete textuelle Intertextualität erschwert die Lokalisierung des Bezugstextes (oder auch: der Bezugstexte) oft ausserordentlich, da die aufgegriffenen Interpretationsmodelle nicht selten in den ideologischen $ensus communis oder. aber in die ästhetische Norm (Mukarovsky 1936) 'aufgenommen worden sind. So lässt sich die entschuldigende Erklärung von Fedor
Pavlovi~
Karamazov über Agrafena Aleksandrovna Svetlov ("Gru~erlka") auf das
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231 -
Erklärungsmodell unmoralischen Verhaltens durch die Milieutheorie zurückführen. Oua, MO>KeT 6bTTb, B IOHOCTH nana, 3ae,n;eHHaH cpe,n;otl:, HO oHa "B03J1106Hlla MHoro", a B031l106HBUIYIO MHoro H XPHCTOC npOCTHll ... Sie ist vielleicht in ihrer Jugend gefallen, bedingt durch das Milieu; sie hat aber "viel geliebt",. und jener, die viel geliebt hat, ist von Christus auch vergeben word~n ... (XIV: 69) Allerdings ist es aussergewöhlich problematisch, diese Äusserung auf einen bestimmten Text zu beziehen. Zwar gibt das Gespräch zwischen Dmitrij und Ale~a im elften Buch den Hinweis auf Cla·ude Bernard (XV: 28), dessen fUr die Milieutheorie grundlegende Schrift "Introduction
a
l'~tude
de la
m~decine
exp~rimentale"
(Bernard
iS65) mit dem Entwurf eines Abhängigkeitsverhältnisses des "milieu interieur"
(Organismus) vom "milieu
ext~rieur"
(Aussenwelt)
1866
von N.N. Strachov'ins Russische übersetzt worden ist, doch hatte die neue Sinngebung des Milieubegriffs ja schon in de~ Entwicklungstheorie bei Lamarck eingesetzt, war in der 40. Lektion des "Cours de philosophie positive" des Positivisten Auguste Comte (1839) soziologisch formuliert worden und in der Konzeption der Literaturgeschichte Taines
(1863) popularisiert worden (Spitzer
1942/43). Uberdies hatte ~erny~evskij bereit~ 1863 ~m 5. Kapitel seines Romans "Was tun?"
("qTO ,n;ellaTb?") Claude Bernard als bei-
spielhaften Gelehrten herausgestellt und damit die literarische Rezeption eingeleitet. Eine gewisse Hilfe in dieser .. Schwierigkei t bietet hier das Kapitel "Milieu"
("cpe,n;a"i
aus dem "Tagebuch eines
Schriftstellers". Dort lesen wir in einem fingierten Dialog über die Beeinflussung der russischen Geschworenen durch die Milieutheorie: Indem das Christentum den Menschen verantwortlich macht, erkennt es eben dadurch auch seine Freiheit an. Indem die Milieutheorie den· Menschen von jedem Fehler in der Gesellschaftsordnung abhängig macht, führt sie den Menschen zur vollkommenen Unpersönlichkeit, zur völligen Befreiung von jeglicher persönlichen moralischen Schuld, von jeder Selbständigkeit, führt sie ihn in die grässlichste Sklaverei, die man sich nur vorstellen kann. (XXI: 16) Auf die Frage des Opponenten, wie denn die aus dem Volke stammenden Ge~chworenen
mit der Milieutheorie überhaupt bekannt werden können,
antwortet der tagebuchschreibende Schriftsteller: "KOHe'IHO, KOHe'IHO, r,n;e )((e HM ,n;o "cpeAbT" , TO eCTb cnnolIlb-To BceM, 3a,n;YMbJBanCH H, - HO Be,n;b H,n;eH, o,n;HaKo )(e, HOCHTCH B D03,n;yxe, B
-
232 -
n H,nee eCTb HellTo npOHHIJ,alOLQ.ee "Natürlich,natürlich, wie korrunen sie an das "Milieu", d.h. allesamt ohne Ausnahme", sage ich gedankenverloren, "es gibt doch wohl aber Ideen, die umlaufen, in der Idee ist doch etwas eindringliches ... "
Zwar kann Fedor PavlovicKaramazov wie sein Sohn Dmitrij durch Rakitin von Bernard gehört haben, doch liegt der Verweis auf die "umgehenden Ideen"
("H,neH HOCHTCH" ist nach dem Paradigma "umlau-
fende GerUchte", "cnyxH H~CHTCH" gebildet) näher. So kann sich bei der interpretantenorientierten Intertextualität der Bezug auf den Ausgangstext so weitgehend lockern, dass durch die Relation mit der communis opinio der Ursprungs text der "Idee; wie Dostoevskij es ausdrUckt, nicht mehr spUrbar ist. Dann berührt sich die Anspielung auf ein Interpretationsmuster mit der nicht textbezogenen Anspielung auf Redensarten. So ist es aus den angegebenen GrUnden nicht sinnvoll, von Intertextualität zu reden, wenn der
Teufe~
Ivans alter
eg~die
französische Redewendung "11
fait un temps ä ne pas mettre un chien dehors" aufgreift, um Ivan/sich selbst zu motivieren,
Ale~a
die TUr zu öffnen: "Monsieur,
sait-il le temps qulil fait? elest ä ne pas mettre un chien dehors ... " (XV: 84). Diese Äusserung, deren Fremdheit be~onders dadurch hervortritt, dass Ivan sie später in verstUrrunelter Form aufgreift - er spricht nicht die Frage, sondern nur die indikative Antwort aus (XV: 86) - ist deshalb nicht als intertextuell zu bestirrunen, weil sie sich statt auf einen bestimmten Text auf das Inventar der französischen Redewendungen bezieht. Anders liegt der Fall, wenn der Verteidiger in seinem Plaidoyer die lateinische Wendung "vivos voco" anfUhrt (XV: 170). Hier lässt sich nicht nur der (vom Verteidiger intendierte) Bezug zur gleichlautenden Losung der von Gercen und Ogarev 1857-1967 herausgegebenen Zeitschrift "Die Glocke"
("KonoKon") herstellen, d.h. auf
das ideologische Programm der "Westler",· sondern auch auf die Quelle dieses Mottos in Schillers Ode "Das Lied von der Glocke": "Vivos
voco. / Mortuos plango. / Fulgura frangö." Weiter unten
wird gezeigt werden, wie das vorn Verteidiger benutzte Interpretationsmodell des Vorrechts der Kinder vor den Eltern
·(~er
Lebenden
"
vor den Toten) gerade durch den RUckbezug auf die Quelle im Schillertext desavouiert wird.
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233 -
Im folgenden soll - bis auf einen Fall aus der Vorgeschichte der Intertextualität des Mottowortlauts - nur von manifester textuel1er Intertextualität die Rede sein. Wir können sie definieren als die in einem Text semiotisch repräsentierte Korrelation mit einem anderen Text (mehreren anderen Texten) .
5. Strukturen und Funktionen der Intertextualität in den "BK" im Lichte ihres Mottos 5.1. Zur neutestamentlichen Intextualität des Mottos Das Motto des Romans "BK" bildet ein
dur~h
Quellenangabe.und
besondere Position ausserhalb des regulären Zeilenbruchs eindeutig ausgegrenztes und bestimmtes Zitat aus der kirchenslavischen Übersetzung des Johannisevangeliums . Das Zitat enthält einen E:Lnleitungsformel "Amen, amen"
durch die
(im Russischen "HCTHHHO, HCTHHHO")
leicht erkennbaren Ausspruch Jesu Christi, der durch ein verbum dicendi eingeleitet und mit besonderer Autorität versehen wird:
t&v ~A d H6HHOS TO~ crCTOU necr~v e~s T~V aöTöS ~6vos ~~veL t&v ö~ dno&&vQ. noA~v Hapn5v ,ipeL. Amen, amen dico vobis, ni si granum frumenti cadens in terram, mortuum fueritj ipsum solum manet, si autem mortuum fuerit, multum fruc'tum affert. 'A~~v d~~v
A~yw ~~~v.
y~v dno&&vu,
Das Zitat bildet einen Ausschnitt aus einer jener neutestamentlichen
Parabeln, in denen
der eschatologischen Botschaft
die Struktur einer entfalteten Metapher, eines diegetischen Gleichnisses, verliehen wird. Allerdings spart der zitierte Textausschnitt nicht nur den Sachzusammenhang des Einzugs Jesu Christi in Jerusalern aus, sondern er trennt auch jenen verbalen Zusammenhang ab, der den Sinn der Parabel auf das Schicksal des Sprechers bezieht: "Venit hora, ut clarificetur Filius hominis". Wie die Verklärung Christi als der besondere Sinnbezug, so bleibt auch der allgemeine Sinnbezug der Parabel, der durch den
folgend~n
ausgespartex: Intext des Textganzen, auf das
d~s
Vers entworfen wird, Motto metonymisch
kraft der pars-pro-toto-Relation verweist: "Qui amat animam suam, perdet eam: et qui odit animam suam in hoc mundo, in vitam aeternam custodiet earn". Über diesen textuell engeren Intext hinaus weist die zitierte
-
234 -
Passage auch noch weitere, intextuelle Bezüge innerhalb des Neuen Testamentes auf andere Evangelien und die Briefe der Apostel auf. So wird in Vers 36 des 15. Kapitels aus dem ersten Brief des
Paul~s
an die Korinther der Zitattext paraphrasiert, d.h. semantisch nicht wesentlich verändert: "Insipiens! tu quod seminas, non vivificatur, nisi prius moriatur". Wesentlich in seiner Bedeutung ergänzt wird der Ausspruch dagegen durch die intextuelle Beziehung auf die Parabel vom Sämann in Matthäus 13, 3-23, Marcus 4, 1-20 sowie Lucas 8, 5-4.2. Am deutlichsten wird der parabolische Sinn all dieser Gleichnisse aufgelöst in Lucas 8, 11:
~EaTLv
ÖE
aÜT~
n napaßoAn.
'0 an6po~ E~TCV 0 A6yo~ TOÜ ßEOÜ. Est autem haec parabola: Semen
est verbum Dei." Die Verkörperung des Wortes, eines Nichtwahrnehmbaren, durch ein Wahrnehmbares ist im Johannisevangelium (I, 14) als Vorgang beschrieben: "Et verbum caro factum est [ ...
]"~
Diese Transformation
ist von Frye (1981: 224) als Mythos beschrieben worden: Literally, the Bible is a gigantic myth, a narrative extending over the whole time from creation to apocalypse, unified by a body of recurring imagery that "freezes" into a single metaphor cluster, the metaphors all being identified with the body of the Messiah, theman who is all men, the totality of logoi who is one Logos, the grain of sand that is the world. Mit Ol'ga Frejdenberg bin ich der Ansicht, dass in der hebräischen ESChatologie der Mythos, d.h. die Einheit von Erscheinung und Wesen, aufgelöst wird in die Dichotomie von sinnlich wahrnehmbarer bildlicher und sinnlich nicht wahrnehmbarer geistig-begrifflicher Gegenständlichkeit. Die Parabel bildet ja gerade das deutlichste textuelle Zeugnis dieser Entzweiung: das Bild ist nicht mehr schlichtweg ident1sch mit dem Wesen, der Samen ist nicht mehr das Wort: er ist parabolisch vermittelt mit dem Wort. Ol'ga Frejdenberg(1973b) hat darauf hingewiesen, dass in der hebrä~schen Kosmogoni~
Eschatologie im Unterschied zur grieChisch-antiken das ethische Ideensystem dominiert. Dabei tritt der
ethische Inhalt als Resultat der Abstraktion von der Bildhaftigkeit und als Inbegriff der Werthaltigkeit hervor. Die abstrakte ethische Bedeutung entsteht aus der Physis: Mit anderen Worten, die Begriffe vom Guten und Bös~n, von ~ahrheit und Lüge sind selbst aus den Bildern der sterbenden und wiederauferstehenden (in peutiger Ausdrucksweise) Natur in ihrer ganzen
-
235 -
!räumlichen Gegenständlichkeit hervorgegangen. (Frejdenberg 1973b: 513) Die Eschatologie besteht gerade in der Transformation der physischen Naturkräfte in moralische Eigenschaften. Es ist nun bezeichnend, dass Dostoevskij aus der johannitischen Parabel gerade jene Passage zitierend herauslBst, in dem der mythische Diskurs noch unverwandelt spürbar ist. Der Umschlag von Samen und Frucht steht flir die kritischen Momente des Bestehens: Geburt und Tod. Nicht als gegensätzliche Phänomene, nicht als widersprüchliche Determinanten des Lebens werden Tod und Geburt evoziert, sondern als Kehrseite ein und desselben. 5.2. Aus der Vorgeschichte der Intertextualität des Mottos In der 1602 erschienenen zweiten Ausgabe der "Emblemata physioethica" des Nicolaus Taurellus findet sich auf dem zweiten Blatt neben anderen ein Emblem, dessen pictura im Vordergrund einen Bauern bei der Aussaat zeigt, während im Hintergrund die Auferstehung der Toten abgebildet ist. Die inscriptio des dreiteiligen Emblems, das Motto GEN T"
"T A N DEM
P U T R E F A eTA
RES U R -
wird ausgelegt in der versifizierten subscriptio:
Fertilis exhilarat sperantcs terra colonos: Hllic quae mandarint semina quando putrent. Solis cnim t;lßdcm vivent agitata ca/ore: Multaque foccllndo [oenore grana fl!rellt. Quin et nostra Dei jussu putrefacra resurgent: Vt repctant animas corpora quaeque suas. Spem facit hallc isto nobis emblcmate Chrisrus: Pulso ut certa metu sit, stabilisque fides.
Henckel und SchBne (1976: 1096) haben dieses Emblem zwar in ihr "Emblemata" liberschriebenes Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts aufgenommen, gegen ihre, Gepflogenheit des Quellennachweises einen Hinweis auf die Herkunft des Bildrnativs jedoch unterlassen. Die Quelle bildet unzweifelhaft jene Parabel aus dem JOhannisevangelium, die Dostoevskij im Motto der "BK" zitiert hat. Im Rückgriff auf die mittelalterliche Vorstellung von der Welt als
m und u s
s y m b 01 i c u s,
den man lesend wahrnehmen
kann, abbildend und auslegend wiedergeben und lehrend weitervermitteln kann, wird die der Exegese bedürftige Parabel aus dem Neuen Testament in der emblematischen Konfiguration von
sprachliche~
und
-
bildlichem Text auch
236 -
gedankl~ch
begreifbar. freilich interpretiert
die subscriptio mehr als die pictura darbietet: schwerlich wird man dem in der pictura singularisierten Bauern absehen können, dass ihn die "fruchtbare Erde"
e x h i I a r a t, sobald die ihr
anvertrauten Samenkörner verwest sind, da diese Verheissung doch erst in der Zukunft in Erfüllung gehen kann. Zwar bildet die pictura auch die Zukunft ab, doch nicht in der Gestalt von Erscheinungen des
0
r d o n a t u r a 1 i s, sondern der ihr in sekun-
därer Codierung gleichnishaft zugeordneten Erscheinungen der Eschatologie. Am Ende aber legt die subscriptio in der Form autoreflexiver Selbstdeutung ihre eigene pragmatische Funktion aus: den Lesern und Betrachtern, die mit dem didaktischen Sprecher ins kollektive 'Wir aufgehoben sind, Hoffnung zu
gebe~
"auf dass Furcht
vertrieben werde und der Glaube fest sei". Zeichentheoretisch ist die Emblematik nicht so sehr durch die B i m e dia I i t ä t vielmehr durch dessen
ihres Zeichenmaterials ausgezeichnet, als I n t e r m e d i a I i t ä t. Sprachlicher
und bildlicher Teiltext stehen nicht nur in der Iuxtaposition nebeneinander, sondern greifen auch semiotisch ineinander: der verbale Text interpretiert die semiotischen Referenzobjekte des pikturalen Textes. Indem die subscriptio Christus als Schöpfer des Emblems einsetzt - Spem faeit hane isto nobis emblemata Christus -,suggeriert sie den biblischen Ursprung nicht allein des Vorwurfs, sondern auch des Sinnbildes. Die Intertextualität dieses Emblems steht damit gani und gar im Zeichen der Kontinuität einer christlichen Lehre, die es allein didaktisch weiterzuvermitteln gilt. Dabei macht das ~innbild, dessen Kenntnis wir bei Dostoevskij keineswegs voraussetzen, allein Gebrauch von der Bedeutungsstruktur der johannitischen Parabel. Leonid Grossman hat in seinem Vorwort zur Bibliographie der Bibliothek Dostoevskijs auf eine Analogie zwischen der Thematik von E.T.A. Hoffmanns "Elixieren des Teufels" und Dostoevskijs "BK" hingewiesen. In seinem Gespräch mit Medardus sagt der Papst: "Wie, wenn die Natur die Regel des körperlichen Organismus auch im geistigen befolgte, dass gleicher Keim nur Gleiches zu gebären vermag? ... Wenn Neigung und Wollen - wie die Kraft, die im Kern verschlossen, des hervorschiessenden Baumes Blätter wieder grün färbt - sich fortpflanzte von vätern zu vätern, alle l~illkür aufhebend? ... Es gibt Familien von Mördern, von Räubern! ... Das wäre die
-
237 -
ErbsUnde, des frevelhaften Geschlechts ewiger, durch keinSUhneopfer zu tilgen - der Fluch!" (E.T.A. Hoffmann 1815/16: 349f.) Grossman (1919: 115) stellt
~ie
Frage, ob sich in diesem Gespräch
des Mönchs mit dem Papst "nicht ein Kommentar zum geheimnisvollen Epigraphen der Karamazovs" verbirgt. Mir scheint, man muss diese Frage schon im Hinblick auf die un~leichen Relationen der Mönche Medardus -
vaier vs. Ale~a - Vater verneinen. Allerdings ist die
Analogie zwischen beiden Romanen wesentlich komplexer. Die Rede des Papstes, der das Gesetz der Kontinuität ausspricht, wird später gefolgt von der Rede des Priors: Wer vermag das Geheimnis zu enthüllen, das die geistige Verwand·schaft zweier BrUder, Söhne eines verbrecherischen Vaters, und selbst in Verbrechen befangen, bildete. [ ... ] Wer hat dieses oder jenes seiner· [des Teufels, R. G.] höllischen Getränke nicht einmal schmackhaft gefundeni aber das ist der Wille des Himmels, dass der Mensch der bösen Wirkung des augenblicklichen Leichtsinns sich bewusst werde und aus diesem klaren Bewusstsein die Kra~i schöpfe, ihr zu wid~rstehen. Darin offenbart sich die Macht des Herrn, dass, so wie das Leben der Natur durch das Gift, das sittlich gute Prinzip in ihr erst durch das Böse bedingt werde. (391f.) Der Prior setzt dem Naturbild yon
~er
kontinuierlichen Qualität des
biologischen Zyklus das pharmakologische Bild von der diskontinuierlichen Wirkung des Giftes entgegen, das eine heilsame Wirkung entfaltet. Während die Signifikantenstruktur die Kongruenz des zyklischen biologischen Bildes suggeriert, scheint die Sinnstruktur eher das diskontinuierliche Symbol zu favorisieren. Merkwürdig genug, verweist Grossman gerade nicht auf jene Textpassage in den "Elixieren", die in ihrer Stellung zum Romantext der kompositorischen Funktion des Mottos zu den "BK" am nächsten kommt. Im "Vorwort des Herausgebers" zu den "Elixieren" lesen wir am Ende eines Abschnittes, in welchem trotz der Schauerlichkeit, Entsetzlichkeit und Tollheit der den Leser erwartenden Ereignisse dessen Gunst erbeten wird: Es kann auch vorkommen, dass das gestaltlos Scheinende, powie du schärfer es ins Auge fassest, sich dir bald deutlich und rund darstellt. Du erkennst den verborgenen Keim, den ein dunkles Verhängnis gebar, und der, zur üppigen Pflanze emporgeschossen, fort und fort wuchert, in tausend Ranken, bis e i n e BlUte, zur Frucht reifend, allen Lebenssaft an sich ~ieht und den Keim selbst tötet. Die rhetorische Figur der captatio benevolentiae gerät beinahe Jahrzehnte vor Rosenzweigs (1853)
umwälzender SChr:ifft zu einer
~ier
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Verteidigung der "Ästhetik des Hässlichen". In der Intertextualität von Hoffmanns "Elixi.eren" wird, anders als in der emblematischen Überlieferung, der Zusammenhang zwischen dem auf die agrarische Kultur zurückgehenden Bedeutungsfeld "Samen". uni dem verbalsemiotischen Bedeutungsfeld "Wort", wie es uns in der, Intextualität des Neuen Testaments entgegengetreten war, reaktiviert und zugleich autoreflexiv auf den Text selbst angewandt. Auch in der russischen Kultur, keineswegs nur der geistlichen, ist von der Beziehung "Wort" - "Same" - "Person" Gebrauch gemacht worden. So lesen wir im ersten Sendschreiben des Zaren Ivan Groznyj an den zu den Polen übergelaufenen Fürsten Andrej Kurbskij aus dem Jahre 1564 (Lur'e!Rykov 1979: 14) in einer auf Kurbskij bezogenen Paraphrase von Lucas 8, 6 und 8, 12: [ ... ] yno,nooHcfl eCH ceMeHH, na,nalOlI\eMy Ha KaMeHH H B03pacTlIleMY, B03CHRBlIlY me conHUY, co 3HoeM, aOHe cnoBece pa,nH nomHaro, coon03HHncfl eCH, H oTnan eCH H nno,na He COTBopHn eCH, H no nomHblX cnoBecex yGo, no,noOHo Ha nYTb na,nalOlI\eMy ceMeHH, COTBopHn eCH, e)l(e yGo BceflBlIle cnoBo K Gory Bepy HCTHHY H K HaM npflMYIO cnymoy cHe yoo Bpar Bce H3 cep,nua TBoero H3XHTHn eCTb H COTBopHn B cBoe~ BonH XO,nHTH. [ ... ] du bist dem Samen gleich geworden, der auf den Stein fiel und aufging, als aber die Sonne mit Glut zu scheinen begann,bist du sogleich eines lügnerischen Wortes wegen verführt worden, bist abgefallen und hast keine Frucht getragen, und den lügnerischen Wörtern gernäss also, bist du dem auf den Weg fallenden Samen gleich geworden, denn der Feind [der Teufel, R.G.] hat aus deinem Herzen den dort eingesäten wahren Glauben an Gott und den aufrechten Dienst an uns vertrieben und hat dich seinem Willen unterworfen. Das falsche, das unwahre Wort bildet den Bezugspunkt (" no [ ... ] cnoBecex"), den. Beweggrund ("cnoBece paAH") für die Assimilation Kurbskijs an den fruchtlosen Samen. Das wahre Wort aber ist der Glauben (vgl. Lucas 8, 12: "deinde venit diabolus et tollit verbum de corde eorum, ne credentes salvi fiant."). Aus dem Sendschreiben Ivan Groznyjs wird auch ersichtlich, wie stark die Analogiebildung in der altrussischen Kultur hervorgehoben werden muss: "ynoAooHcfl eCH", "noA05Ho 'CoTBopHn eCH"
(wörtlich: "du bist ähnlich gleich-
artig geworden", "du bist ähnlich gleichartig gemacht worden"). "IIo-,n05Hbl~"
bedeutet ursprünglich "nach der Art von", es lässt die
Analogierelation viel deutlicher hervortreten als das uns aus der Lutherübersetzung geläufige "gleich". Jolles (1930: 108) hat die Analogiebildung, den "bezogenen Mythos" als Übergang von der mythischen zur logischen Struktur bezeichnet. Es wird im weiteren
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239 -
Verlauf der Untersuchung festzustellen sein, welcher Form das Zitat in Dostoevskijs Motto angehört und was seine Funktion ist. Der. sich jeder literaturhistorischen Einordnung erfolgreich widersetzende russische' Schriftsteller Vasilij V. Rozanov hat um die Jahrhundertwende die erste eindringliche Deutung des Mottos der "BK" gegeben. In seinem Essay "5ber die Legende vom 'Grossinquisitor'" wird als Gegenstand des Romans die "Wiedergeburt neuen Lebens aus dem sterbenden alten" vorgestellt. Rozanov (1906, 1970: 72) hat die Verknüpfung von mythischer Naturdeutung und historischer Geschichtsdarstellung durchaus gespürt und als Erklärung des Mottos bezeichnet: Nach unerklärlichen, geheimen Gesetzen unterliegt die Natur insgesamt solchen Wiedergeburten; und das wichtigste, das wir in ihnen antreffen, ist die Untrennbarkeit von Leben und Tod, die Unmöglichkeit, das eine zu verwirklichen, ohne dass das andere verwirklicht worden ist. [ ... ] Niedergang, Tod und Auflösung sind nur das Unterpfand eines neuen und besseren Lebens. So müssen wir auch die Geschichte betrachten; an diese Betrachtungsweise müssen wir uns gewöhnen, wenn wir die Elemente des Zerfalls in dem uns umgebenden Leben betrachten [ ... ] Rozanov vertrat die Ansicht, Dostoevskij habe in seinem Werk, insonderheit in den "BK", allein den Tod des Alten ausführlich dargestellt; was wiedergeboren werden solle, sei allenfalls und "von aussen"
g~drängt
(H3BHe 73) angedeutet, wie s6hliesslich die Wie-
dergeburt stattfinden solle, habe Dostoevskij nicht mehr mitteilen können. Dieses Geheimnis habe er ins Grab mitgenommen und seine wichtigste Lebensaufgabe nicht erfüllen können. Wenn es wirklich so wäre, wie uns Rozanov glauben machen will, stünde das Motto ohne Recht zwischen der Widmung an die zweite Frau Dostoevskijs, Anna Grigorevna Dostoevskaja, und dem Titel des Romans, oder aber es stünde vor dem Text eines nicht intentionalen Fragments. Nun ist der Roman vom. Autor jedoch mit diesem Motto in den Druck gegeben worden, das Motto ist damit eindeutig diesem Text vorangestellt, und wir müssen uns fragen, ob der Text in der vorliegenden Form nicht doch das Motto einlöst. Hilfe bei der Beantwortung dieser Frage kann ein Blick auf die Funktionsweise der Motti zu anderen Werken Dostoevskijsbieten. Bei den von Dostoevskij früher verwendeten Motti fällt eine fast durchgängige reflexive Funktion ins Auge: die·Motti bieten im
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240 -
allgemeinen neben einer thematischen Exposi tion einen Strukturentwurf der Texte in nuce. Das frUheste, dem Briefroman "Arme Leute" ("Be,nHble mo,nH II I: 13) vorangestellte Motto bildet ein geringfUgig verändertes Zitat aus der Erzählung "Die lebende Leiche" MepTBeu ll )
(")I(HBOit
von V.P. Odoevskij, mit dem ganz offensichtlich iro~isch
auf Autor- und Erzählerfunktion im Romantext Dostoevskijs Bezug genommen wird: Ox ym 3THMHe CKa30QHHKH! HeT QTOObl HanHcaTb QTO-HHoy,nb none3Hoe, npHHTHoe,. ycna,nHTenbHoe, a TO BCIO no,nHoroTHYIO B 3eMJIe BblpblBaIOT! .. BOT ym 3anpeTHn OW HM nHcaTb! [ ... ] Oh, das sind mir vielleicht Märchenerzähler! Nicht, dass sie etwas NUtzliches~ Angenehmes J Erquickliches schrieben, sie entreissen der Erde vielmehr ihr tiefstes Geheimnis! .. Man sollte ihnen das Schreiben verbieten! [ ... 1 Von ähnlicher Ironie ist das Motto der grotesken Erzählung "Dai . Krokodil 11
("KpoKo,nHn",
V: 180) bestimmt, das zu einer humoristi-
schen Redensart aus dem Französischen greift (Alekseev 1971) ~ in der die paradoxale Sinnstruktur des Textes modellhaft vorgeprägt ist: 1I0he Larnbert! Ou est Lambert? As-tu vu Lambert?1I Nicht anders verhält. es sich bei dem Motto des Romans "Weisse Nächte ll (IIBenble HOQH II ), einem geringfUgig adaptierten Zitat aus dem Gedicht "Die BlUte". ("UBeTw lI
,
1843) von Ivan S. Turgenev. Die phantasmagoreti-
sche Selbstaufhebung, von der das Zitat spricht, charakterisiert aufs trefflichste die Situation des Ich-Erzählers: ... Hnb own OH C03,naH ,nnH Toro, qToow nOOWTb XOTH MrHOBeHbe B coce,nCTBe cep~Ua TBoero? Oder war er dazu erschaffen, Um wenigstens fUr einen Augenblick In der Gesellschaft deines Herzens zu sein? Wesentlich komplizierter als in den bisher angefUhrten Fällen ist das Verhältnis zwischen dem Text "Die Besessenen"
("Eecw",
X: 5) und seinen beiden Motti. Das erste Motto ist zwei Strophen eines Puskin-Gedichtes entnommen, das durch den von Dostoevskij nicht mitgeteilten Titel reflexiv auf den Dostoevskij-Roman bezogen ist:
Dostoevskijs
-
241 -
Die zitierten Halbstrophen nehmen in der appellativen Funktion fiktiven Erzähler und fiktiven Autor des Dostoevskijschen Romans ins pluralische lyrische Ich auf:
"qTO
~enaTb
HaM?"
("Was mUssen wir.
tun?"). Im zweiten Motto, einem umfangreichen Zitat aus dem Lucasevangelium (VIII,
32~36),
das von der Heilung des Besessenen han-
delt und dadurch thematisch mit der· Romanhandlung verknUpft ist, fällt die Kursivsetzung des Ausdrucks ")t(liTenli" "11
BbIlIlJ1liXUme.flU
("Bewohner") auf:
CMOTpeTb cnytIliBWeeCR li, npliwe.I:llllli K I1cycy, HaIUJIli
tIenOBeH:a, li3 KOToporo BbIlIlJ1li 6ecbl [ ... ]"
("Und es gingen die
Be-
wohner hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und als sie zu Jesus
kamen', fanden sie den Menschen, aus dem die Teufel ausgefahren waren [ ... ]".) Der Sinn dieser Hervorhebung der
Betr~chter
des Ge-
schehens, die weder durch den griechischen noch durch den russischen Text gerechtfertigt ist, scheint mir in der Beziehung zu jenem Publikum zu liegen, das den abstrakten Rezipienten des Romans bildet. Wie die Bewohner von Stadt und La~d Zeuge des Besessene~ wurden, so wird der abstrakte Leser zum Zeugen der Besessenen in der Erzählgeschichte. Verläuft die Verklammerung der Motti mit dem Text im ersten Fall Uber die Personnage des Textes, so wird sie im zweiten Fall über die pragmatische Instanz des Rezipienten gelegt. Lässt sich solchermassen im Mottogebrauch bei Dostoevskij ein stetiger Rückbezug auf den Aufbau der Texte beobachten, denen die Motti vorangestellt sind, auf die Instanzen des abstrakten Autors, der Personnage und des Rezipienten sowie auf die Bedeutungsstruktur, so liegt die Frage nahe, ob nicht auch im Falle der "BK" das Motto eine reflexive Funktion, einen Bezug auf den Text selbst habe, ob das Motto uns nicht auch etwas über die Textstruktur mitteilt. Nun ist in diesem Motto nicht unmittelbar von Sprachlichem die Rede, doch haben wir bereits gesehen, dass die Intextualität des Neuen Testamentes den Bezug auf die Rede, auf das Wort durchaus ermöglicht. Der Text der "BK" legt die VerknUpfung der Bedeutungsfelder säen auf der einen und Fühlen, Denken, auf der anderen Seite nahe.
So heisst es in der von
Ale~a
zusammengestellten Vita des Zosima
im Abschnitt "Über das Gebet, über die Liebe und Uber die BerUhrung mit anderen Welten"
(XIV:290):
MHoroe Ha 3eMne OT Hac CKPblTO, HO B3aMeH Toro ~apOBaHO HaM cOKpOBeHHoe o~y~eHlie )t(liBO~ CBR3li Hawefi c MliPOM liHblM, [ ... ]
Ta~Hoe
~a
li
-
242 -
KOpHH HawHX MHcneA H ~YBCTB He 3Aecb, a B MHpax HH~X [ ... ] Bor B3Rn ceMeHa H3 MHPOB HHblX H noceRII Ha ceA 3eMTle r ••. ] Vieles auf dieser Welt ist vor uns verborgen, doch dafUr ist uns ein geheimes verborgenes GefUhl unserer lebendigen Verbindung mit einer anderen Welt gegeben [ ... ], und die Wurzeln unserer Gedanken und GefUhle liegen nicht hier, sondern in anderen Welten. [ ... J Gott hat die Samen aus den anderen Welten genommen und sie auf dieser Welt ausgesät. In einer frUheren Passage desselben Abschnitts (XIV: 289) werden die AusdrUcke "Wort" und "Samen" explizit aufeinander bezogen. Das in zorniger Stimmung Aussprechen eines unanständigen Wortes ("cKBepHoe cnoBo") beim Passieren eines Kindes ruft bei dem Kinde eine bestimmte Vorstellung hervor. Diese Wirkung auf das Kind wird metaphorisch mit 'dem Säen eines Samen in ein Herz in eine Äquivalenzrelation gesetzt. Das Wort steht zu seiner Wirkung in eine.r metonymischen
Beziehung, die dem Verhältnis des Samen zur auf-
gehenden Pflanze metaphorisch äquivalent ist: BOT T~ npowen MHMO Manoro peoeHKa, npowen 3nooH~A, co cKBepH~ cnoBOM, c rHeBnHBOw AYllioA; T~ HHe npHMeTHn, Mo~eT, peoeHKa-To, a OH BHAen TeoR, H oopa3 TBOA, HenpHrnRAH~A H He~ecTHB~A, Mo~eT, B ero oe33a~HTHOM cepAe~Ke OCTaIICR. T~ H He 3Han cero, a Mo~eT O~Tb, T~ y~e TeM B Hero'ceMfl opocHn AYPHoe, H B03pacTeT OHO, no~anyA, a Bce nOToMY, ~TO T~ He yoepercR npeA AHTRTeA, nOToMY ~TO nWoBH OCMOTPHTeJlbHOA, AeRTenbHoß He BocnHTan B ce oe . Da bi~tdu an einem kleinen Kind vorbeigegangen, du bist wlitend, mit einem ,garstigen Wort, mit zornigem Herzen vorbeigegangen; mag sein, du hast das Kind riicht einmal bemerkt, aber es hat dich gesehen, und dein unansehnliches und ruchloses Bild ist vielleicht in seinem wehrlosen kleinen Herzen geblieben. Du hast es nicht einmal gewusst, aber mag sein, du hast schon dadurch einen schlechten Samen in es geworfen, und er geht auf, und das alles, weil du dich nicht vor den Kindern in acht genommen hast, weil du die fürsorgliche, tä~ige Liebe in dir selbst nicht aufgezogen hast. ~uch
des
die andere intextuelle neutestamentliche Bedeutungsbeziehung B~griffes
"Wort", der Bezug auf Christus, wird im Text der "BK"
explizit verwendet. Der Teufel, Ivans alter ego, sagt im Gespräch mit Ivan (XV: 82): H 6~n npH TOM, KorAa YMepwee Ha KpecTe CnoBo BocxoAHno B He60, HecR Ha nepcRX CBOHX AYlliY pacnflToro op,ecHYW pa300AHHKa. Ich war dabei,als das am Kreuz sterbende WORT in den Himmel aufgestiegen ist und auf seinen Händen die Seele des zu seiner Rechten gekreuzigten Räubers trug. Schliesslich darf nicht unerwähnt bleiben, dass Zosima im Gespräch mit
Ale~a
den im Motto zitierten Text selbst anfUhrt (XIV: 259).
Allerdings wird hier der Wortlaut nicht nur um die ins Motto auf-
-
243 -
genoIIUTlene Selbsteinleitung des. Sprechers gekürzt, sondern - damit kongruierend - auf den Standpunkt des Sprechers Zosima bezogen und auf das Schicksal Dmitrijs angewandt, das heisst, durch einen Sachbezug kontextuiert. Zosima fügt, an
Ale~a
gerichtet, noch den Appell hin-
zu "3anoMHH cHe" ("Gedenke dieses"). Durch diese Einfuhr des Zitats in die Personenrede Zosimas wird die Bedeutung des Ausspruchs an die Thematik des menschlichen Schicksals gebunden - "Ho Bce OT rocnO,I:{a H Bce CY,I:{bObl HaL!1H"
("Aber alles ist vom Herrn, auch alle
unsere Schicksale") -, insbesondere aber an das Geschick Dmitrijs. Das Motto wäre in seiner Bedeutung redundant, wenn es ausser der thematischen Äquivalenz von natürlichem Zyklus und menschlichem Leben keine weitere Beziehung zum Text hätte .. ,Ich bin der Ansicht, dass diese Beziehung im autoreflexiven Verhältnis zum "Wort" im Text besteht, nämlich zur geschichtlichen Dimension (im Sinne von "Geschehensmoment") sprachlicher KOIIUTlunikation. Das Motto.be4ieht sich gerade auch. auf das Schicksal des Wortes, das in der intertextuelien Struktur mit besonderer Prägnanz hervortritt. Auch auf die zitierten Worte, auf die Allusionen wäre dann zutreffend,dass sie ihren notwendigen Tbd, ihr notwendiges Ende haben,damit ihnen eine Geburt, eine neue Sinngebung ermöglicht wird. Dies bedeutete, dass die Wörter als Inkarnationen der Kultur weder in einer fortschreitenden Vertiefung ihres Sinns noch in einer progressiven Sinnakkumulation, weder in einem starren Gedächtnis der Überlieferung noch in einem je radikalen Neubeginn ihre Sinnkontinuität entfalten, sondern in einer zyklischen Bewegung der De-Formation und Re-Formation. Dieses Modell der Tradierung von Worten ("Texten") hat zwar eine mythische Komponente (im Regress der Kultur zur Natur) , bricht den mythischen Kreis jedoch dadurch auf, dass das Modell selbst nicht zwingend auferlegt, sondern nur als Möglichkeit angelegt ist: die mythische Struktur, die eine Antwort auf eine Frage darstellt, wird transformiert in die Rätselstruktur, die eine Antwort auf eine Frage erheischt. 5.3. Bedeutung und Funktion des Mottos für die Intertextualität der "BK" Wenn ich von der These ausgehe, dass unser Motto einer Parabel ein Mythem entniIIUTlt und es in ein Rätsel transformiert, so betrachte ich die Projektion der eschatologischen Erwartung in das
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244 -
zyklische Naturbild als den mythischen Kern der zitierten Äusserung~
der - wie oben dargelegt - in der parabolischen Vermittlung
bereits demythisiert wird. Er muss freilich, seines Kontextes in der Parabel beraubt, erneut demythisiert werden. Jolles
(1930: 100)
hat vorgeführt, wie ein Gegenstand sich in der Mythe durch Frage und Antwort selbst erschafft: "in der Mythe wird ein Gegenstand von seiner Beschaffenheit aus Schöpfung". So wird auch eine Geschichte mythisch, die sich im Erzählvorgang selbst produziert, die sich gleichsam selbst erzählt. Schon die Bedeutung des Mottos wirft aber mehr Fragen auf als sie beantwortet, ein Motto setzt sich nicht'selbst, es wird
ges~tzt,
das Rätsel wird gestellt.
Die Rätselstruktur des Romans wird im Text mehrfach thematisiert~
Schon in der Einleitung teilt uns der Autor ("aT aBTopa")
mit: TepRHc~ B pa3peweHHH CHX BonpocoB, pewarocb HX 060ATH 6e30 BCHKoro
pa3pellleHHH. Pa3YMeeTcH, np030pJUlBbIA 'lHTaTenb Y>Ke ,QaBHo yra,QaJI, 'lTO R C CaMoro Ha'lana l( TOMY KnoHHn [ ... ] Indem. ich mich in der Lösung dieser Fragen verliere, entschliesse ich mich, sie ohne eine jede Lösung zu umgehen. Es versteht sich, dass der scharfsinnige Leser schon lange erraten hat, dass ich von Beginn an zu nichts anderem geneigt war [ ... ] Hier wird zugleich deutlich, dass dem Leser die Lösung des Rätsels aufgegeben ist. Der Leser wird an der Herstellung des Textsinns ebenso beteiligt wie der Autor. Im
Te~t
selbst wird der Rätselcharakter im Gespräch zwischen
Ivan und Alesa zum Thema erhoben und reflexiv auf den Dialog Ivans mit dem Teufel, seinem alter ego, bezogen (XV: 88): nOH,Qelllb, nOTOMY 'lTO.He cMeelllb He noATH. nO'leMY He cMeelllb, - 3TO Y>K Tbl. caM yra,QaA, BOT Te6e 3ara,QKa! BCTan H ylllen. Tb]' npHlllen H OH ylllen. OH MeHR TPYCOM Ha3Ban, Anellla! Le mot de l'enigme,. 'lTO R TPYC! Du', wirst gehen, weil.du es nicht wagen wirst, nicht zu gehen. Weshalb du es nicht wagen wirst, das musst du schon selbst erraten; da hast du ein Rätsel! Er erhob sich und ging fort. Du kamst und er ging. Er hat mich einen Feigling genannt, Alesa! Le mot de l'enigme, dass ich ein Feigling bin! Freilich ist das Rätsel, das hier als des Rätsels Lösung angeboten wird, selbst rätselhaft. Der Dostoevskijforscher A.L. Bem (1933:7f.) hat auf die Bedeutung der interpretativen Leistung Dostoevskijs bei der Verarbeitung fremder künstlerischer Texte hingewiesen und die Rezeption Griboedovs, Puskins und Gogol's dargestellt. V.E. Vetlovskaja (1971b) hat
- 245 -
die eindringlichste Darstellung der religiösen und folkloristischen Quellen des Romans "BK" vorgelegt. Ihr verdanken wir auch die Einsicht in die poetische und rhetorische Technik der Bekräftigung bzw. Widerlegung von Meinungen in diesem Roman. Neben einer umfangreichen Literatur, die im Rahmen komparatistischer Studien die Beziehung des OEuvres Dostoevskijs zu anderen russischen und nichtrussischen Autoren und ihren Werken behandelt, verdient die Dissertation von N.M. Perlina (1978) in unserem Zusammenhang besondere Beachtung. In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, das Zitieren in dem Roman "BK" als poetisches Verfahren zu erhellen. Perlina geht dabei von der bachtinschen Differenzierung zwischen autoritärem und innerlich überzeugendem Wort aus und hat eine Reihe von russischen Zitaten auf überzeugende Weise analysiert. ,Allerdings scheint sie mir in anderen Fällen zu sehr dem Zwang dieser Oppositionsbildung zu erliegen, da sie geneigt ist, eine Reihe VOn Zitaten als durchweg widerlegt, eine andere Reihe (vor allem der religiösen Zitate) als unangetastet gültig anzusehen. Ich werde dagegen darzulegen versuchen, dass auch die vordergründige Abweisung, eines Zitattextes eine hintergründige Aufnahme bedeuten kann, dass auch die Zustimmung zu einem zitierten Text dessen Neuinterpretation einschliesst. Die manifeste intertextuelle Relation des Textes der "BK" zum Text von Shakespeares "Hamlet" ist bei vergleichbarer Oberflächenthematik '(Ermordung des Vaters) gekennzeichnet vom Verfahren der Kontrastierung. Die Intertextualität dient damit ~ls eine Äquivalenzstruktur, vor deren Hintergrund die Differenz der intertextuell aufeinander bezogenen Texte hervortritt. Anstatt zu erklären, weshalb sich die erste Frau Fedor
Pavlovi~
Karamazovs von ihrem Gatten
angezogen fühlte, greift der Erzähler vergleichend zur Kurzform des Memorabile. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mädche~s aus der "romantischen Generation", das einer rätselhaften Liebe zu einem Mann, dessen Frau es hätte werden können, durch die Erfindung immer neuer Hindernisse ein Ende setzte und
[ ••• 1 B 6ypHYW ·HOllb 6pOCHnaCb c B~COKoro 6epera, noxomero Ha YTec, B AOBonbHo rny60KYW H 6WCTPYW peKY H norH6na B He~ peOOHTenbHo OT co6cTBeHHWX KanpH3, eAHHcTBeHHo H3-3a Toro, 'lTo6w noxoAHTb Ha ooeKcnHpoBclenHw [ ... ] , sich in einer stürmischen Nacht von einem hohen und steilen Ufer, das einem Felsen ähnelte, in einen ziemlich tiefen und reissenden
- 246 -
Fluss ·stürzte und dann durchaus nur wegen der eigenen Laune umkam, einzig und allein um der Shakespearschen Ophelia zu gleichen. Der Er.zähler füg:t noch hinzu, der Selbstmord hätte nicht stattgefunden, hätte sich an der Stelle dieses Felsens ein flaches Ufer befunden., Die Form des Memorabile wird vorn Erzähler dazu benutzt, sich mittels der Gegenüberstellung der im jeweiligen Intext motivierten vom
Hand~ungsweise
~tandpunkt
- tatsächliche vs. fingierte Hindernisse -
der erzählten Personnage, von ihrer romantisieren-
den Interpretation des Opheliaschicksals zu distanzieren. Die metonymische Struktur des Flussufers erlangt dabei eine inde"xikalische Funktion: das steile Ufer, das dem romantischen Topos des Uferfelsens auch nur ähnelt, wird vorn In~trument zum Anlass des Suizides . .Oie vom Erzähler herangezogene Analogie trägt freilich eine axiologische Inversion: die erste Frau Karamazovs ist aus unerfindlichen Gründen
~ie
Ehe eingegangen, der sich das junge Mädchen
aus ebenso unerfindlichen Gründen entzieht. Nicht Kongruenz, sondern Inkongruenz der
Schi~ksale
enthüllt die Intertextualität. Ein
Schlüsselwort dieses trotz seiner Vermeintlichkeit tödlichen Analogieschlusses bildet das Prädikat "prosaisch", das auf der autoreflexiven Metaebene zugleich die Befindlichkeit des Erzähltextes gegen die "poetische" (romantisierende) Fehlinterpretation des dramatischen Textes ("Hamlet") abhebt. Kraft der doppelten Inversionsfigur wird dann zwischen dem dramatischen und dem prosaischen Text doch axiologische Äquivalenz postuliert. Der Tod der Trägerin der poetischen Fehldeutung - der durch .die Kontiguitätsbeziehung auch den Tod des poetischen Textes involviert - ermöglicht die WiederentdeckunQ des Sinns des Ophelia-Schicksals. Aus dem vier Jahre vor seinem Tode, Weihnachten 1877, verfassten "Memento für das ganze Leben" wissen wir, dass Oostoevskij sich mit dem Plan trug, ein "Leben Jesu" und einen "russischen Candide" zu schreiben. Ob und in welchem Sinn "BK" eine Replikauf·den bekanritesten Roman Voltaires darstellen, diesen Fragen ist in der Oostoevskijliteratur verschiedentlich in einer Weise nachgegangen worden, die jeweils charakteristische Reduktionsmodelle der Intertextualität zu erkennen gibt. Unter dem
Pse~donym
"Infolio" war am
24.November 1901 in der Zeitung "Novoe Vremja" ein Artikel erschienen, in dem die These aufgestellt wurde, "Die Legende vorn Grossinquisitor~
sei "zweifelsfrei aus westlichen Quellen entlehnt wor-
-
den"
247 -
("HecoMHeHHo 3aHMCTBOBaHa H3
3anaAH~X
HCTOqHHKOB"). Gegen die-
se nach dem bereits an der Hand der "Erbe"-Metaphorik
dargele~ten
Kontinuitätsmodell der Eigentumsübertragung vollzogene Gleichung zwischen der "Legende" aus den "BK" sowie Goethes 'Fragment "Der ewige Jude" und Voltaires Kunstmärchen "La mule du Pape" aus dem Jahre 1733 hat Rozanov (1902) sogleich Einspruch erhoben: zwischen dem Grossinquisitor in den "BK", einern russischen Intellektuellen mit Phantasie und einern spanischen Grossinquisitor bestehe keinerlei Kongruepz. Rozanov beharrt auf seiner Grundthese aus dem Buch über die Legende vorn Grossinquisitor, dieses Kapitel bilde als Vorstufe zum geplanten zweiten Roman eine Frucht lebenslanger Vorbereitung (Rozanov 1906: 73) und stehe in erster Linie im Kontext von Dostoevskijs OEuvre.Werkinterne Intertextualität rekonstruiert Rozanov für "BK" vor allem mit der Erzählung "Notizen aus dem Untergrund" Sühne"
("3anHcKH H3 nOp;nOJlbH II )
und mit dem Roman "Schuld und
("npecTynJleHHe H HaKa3aHHe"). Für die werkexternen litera-
rischen Zusammenhänge verwirft Rozanov (1906: 15) den Topos von Gogol' als dem Stammvater der modernen russischen Literatur, der von dem französischen Schriftsteller und Diplomaten Melchior de Vogü~
in der Formulierung "Wir alle sind aus Gogol's
vorgegangen"
("Bce
~
'Mantel' her-
BblIlIJlH H3 rOrOJleBCKoß «lIlHHeJlH»") überliefert
und von vielen Dostoevskij selbst zugeschrieben wurde (vgl. zuletzt Rejser 1971). Rozanov wendet gegen dieses auf einer Kontinuitätsvorstellung basierende gängige Interpretationsmodell des Verlaufs der literarischen Entwicklung vorn vierten bis zum sie~ten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein avantgardistische Kunsttheorie antizipierendes Negationsmodell, das auch schon Tynjanovs Metapher vorn "literarischen Kampf" vorprägt: H3BecTeH B3rn$p;, no KOTOpOMY BCH Haooa HOBeßwaH JlHTepaTypa H3XOP;HT H3 rOrOJlHi O~JlO O~ npaBHJlbHee CKa3aTb, qTO oHa BCH B cBoeM ~eJlOM HBHJlaCb oTpH~aHHeM rOrOJlH, OOPbOOW npoTHB Hero. Bekannt ist die Anschauung, unsere gesamteneuere Literatur ginge von Gogol' aUSi zutreffender wäre es zu sagen, dass sie insgesamt eine Negation Gogol's darstellt, einen Kampf gegen ihn. Rozanov ,(1905) ,beharrt unausdrücklich auf der kulturell weitgehend aut,o,chthonen Genese des letzten Romans Dostoevskijs, wenn er sich in seinem mehr als zweihundert Seiten zählenden Essay lediglich zu jenem in die Fussnote verbannten Hinweis auf Voltaire versteht, der das offenkundige Zitat am Kapitelbeginn der "Legende"
-
248 -
herunterspielt zu einem "Gedanken, der Voltaire als erstem zugeschrieben worden ist". Leonid Grossman sieht, noch ganz im Banne des mittelalterlich-mystische Darstellungen der Inspiration als influxus säkularisierenden, ihren hydrodynamischen Bildbereich gleichwohl metaphorisch wahrenden Einflussmodells, den "russischen Candide" oder - wie er präzisieren zu mUssen meint - den "Candide des 19. Jahrhunderts"
(Grossman 1919: 103) vor allem im' "Aufruhr"
("EYHT")
Uberschriebenen Kapitel der "BK" auS ge fUhrt , das der von Ivan erzählten "Legende" unmittelbar vorausgeht. nie kulturell-ethnographische Differenz von fremdem (französischem) und eigenem (russischem) Cahdide wird solchermassen reduziert auf die säkulare Variationein und desselben Gegenstandes. Erst diese Reduktion lässt Grossmans (1914, 1919: 100) These verständlich werden, der "ko~ mische Roman" Voltaires mit seiner sarkastischen Darstellung des Dr. Panglossim Stile eines märchenhaften Epos könne nicht als Grundlage fUr weiterfUhrende Vergleiche mit "BK" dienen. Wenn Grossman daher neben "Candide" und der "Histoire de Jenni ou l'ath~e
etle sage" auch Voltaires Schriften
"Po~me
sur le
de Lisbonne ou examen de cet axiome: tout est bien", die surl'ath~isme"
d~sastre
~Hom~lie
und den "Dictionnairephilosophique" vergleichend
heranzieht, rekonstruiert er im Rahmen ideengeschichtlicher Vergleiche objektbezogene Intertextualität, die eher als produktionell denn als textuell.zu kennzeichnen ist. Anders steht es mit der Beziehung zum Roman "Histoire de Jenni ... ", da hier die strukturelle Homologie der Dialoge zwischen Freind und Birton auf der einen Seite sowie zwischen Ivan und
Ale~a
auf der anderen als auf
die Zeichenträger bezogene Intertextualität herausgearbeitet wird. Freilich zielt die Vermutung Grossmans, die ersten gedanklichen EntwUrfe der "BK" könnten nach der Lektüre des.Voltaireschen Kurzromans entstanden sein, eher auf produktionelle denn auf textuell manifeste Intertextualität. Ramrnelmeyer (1958) weist in seiner Studie zum Verhältnis von Voltaire und Dostoevskij zurecht die These Komarovics, der Entwurf zum "Grossen Sünder" von 1869/70 enthalte bereits den "russischen Candide" , als anachronistisch zurUck, da dieser ja erst im
"Me~en
to". von 1877 projektiert worden sei. Durch die Juxtaposition
gröss~
rer Textpassagen werden von ihm verschiedene semantische Parallelen
-
249 -
und einzelne Motivübernahmen belegt. Vor allem aber verdanken wir Rammelmeyer den Hinweis auf einen gemeinsamen Bezugstext für Voltaires "Candide" und die "BK" - den parodistischen Roman "Don Quijote". Seine Verhältnisanalogie zwischen "Don Quijote" und "Candide" aus der Romania auf der einen Seite und zwischen "Idiot" und "BK" aus der Slavia aufgreifend, können wir den "Idioten" als "russischen Don Quijote" bezeichnen. Auf der Linie des parodistischen
Romans
ist Dostoevskijs "BK" dann ·einerseits über die Ge-
schichte des Gesamtwerks, die von Rozanov herausgehobene werkinterne Intertextualität, andererseits aber auch im Rahmen der Geschichte der europäischen Literatur durch werktranszendierende Intertextualität zu beziehen. Umgekehrt lässt sich das Verhältnis der Werke Dostoevskijs zueinander, die Geschichte des CEuvre, wesentlich durch die Rekonstruktion der intertextuellen Aussenbezüge bestimmen. Betrachten wir nun die intextuelle Einbettung des bereits aufgeführten Voltaire-Zitats näher, das - wie Rammelmeyer (1958: 216f.) bereits festgestellt hat - dreimal verwendet wird, so fällt die Inkongruenz seiner Sinngebung auf, eine Inkongruenz, die die Similaritätsebene nicht im Interpretantenbezug, sondern im Objektbezug, zustandekommen lässt. Schon beim ersten Auftreten der Passage aus der "Epitre ~ l'auteur des trois imposteurs" vollzieht sich eine unübersehbare Umdeutung des zitierten Satzes. Der Vers "Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer" erlangt im Munde Fedor Pavlovic Karamazovs, ausgesprochen nicht nur als fremde Rede, sondern ahch als fremde Sprache, geradezu einen umgekehrten Sinn. Hier geht es ja nicht um die Rechtfertigung Gottes,um die Theodizee, sondern um die Rechtfertigung des Teufels, um eine Diabolodizee. Die Legitimation des Teufels wird in eiQer Inversion der Argumentationsstruktur rhetorisch-scholastischer Gottesbeweise davon abhängig gemacht, ob die Hölle eine Decke habe, nach oben also abgeschlossen, und ob sie mit eisernen Haken als Folterinstrumenten ausgerüstet sei: wer soll mich sonst mit Haken quälen, denn wenn man nicht einmal mich quält, was wird dann sein, wo ist dann Recht in dieser Welt? Ilfaudrait les inventer, diese Haken" für mich ganz besonders [ ... ]. KTO >Ke MeHR Tor,Qa KplO'IKaMH-To nOTalI\HT, nOToMY 'ITO ecnH Y>K MeHR He nOTalI\HT, TO 'ITO >K Tor,I:la 6Y,I:leT, r,I:le )Ke npaB,Qa Ha cBeTe? 11 faudrai t
-
les inventer, 3TH J
,Q.TJR
250 -
MeHR HapO'IHTO [ •.. J (XIV: 23)]
Zum zweiten Male zitiert Ivan im Gespräch mit Alesa den Vers Voltaires und macht dabei durch die Vervollständigung des Verses die Ersetzung des Wortes "Gott"
("6or") durch den Ausdruck flir die
Folterinstrumente des Teufels, die "eisernen Haken"
("KPlO'IKH") in
der Rede seines Vaters rlickgängig. Allerdings kehrt auch Ivan den Sinn des zitierten Satzes um, indem er im Nachsatz den Konditionalsatzdes Zitats negiert, die Kondition flir die Erfindung nicht gelten lasst:
[ •• ',J es gab einen alten Slinder im achtzehnten Jahrhundert, der hat
g~sagt,
dass, wenn es Gott ni~ht gäbe, man sich ihn ausdenken mUs se, s'il n'existait pas Dieu il faudrait l'inventer. Und tatsächlich, der Mensch hat sich Gott ausgedacht. [: .. ] 6bIn O,I:tHH cTapbItl rpeWHHK B BOCeMUa,I:tUaTOM CToneTHH, KOTOPhltl HspeK, l.J:TO ecnH He 6bIno 6bI6ora, TO Cne,I:tOBanO 6bI erD BbI,I:tYMaTh, s'il n'existait pas Dieu il faudrait l'inventer. H ,I:teitcTBHTenpHO,'IenOBeK Bbl,I:tYMan 6ora. (XV: 214) I~an ziti~rt Voltaires Alexandriner jedoch in einer inversen Wort-
stellung, die das Versrnass zerstört (xx xx xx xx xx xx)und den zitierten Satz nach dem Vorbild der russischen Wortfolge prosaisiert, sodass
~Dieu"
als Subjekt in eine syntagmatisch pointiertere Po-
sition versetzt wird, als gelte es nicht nur auf die korrigierte Vertauschung des Vorstellungsobjektes aufmerksam zu machen, sondern auch zu demonstrieren, dass hier der fremde Gedanke zum eigenen transformiert 'wird. 'Allerdings bleiben eigenes (russisches) und fremdes
(franzö-
sisches) Syntagma, durch die Sprachgrenze voneinander geschieden, nebeneinander stehen: Ivan und Voltaire sprechen nicht mit einer Stimme, ja sie sprechen zwei verschiedene Sprachen.
(Hier zeigt
sich der Unterschied zum zweisprachigen russischen Adligen vor allem des 18. Jahrhunderts.) Gerade diese sprachliche Realisierung des Zitates lässt bei aller Kongruenz von zitierender und zitierter Rede die Sinndifferenz zwischen den ineinander verschränkten Diskursen hervortreten. Wo Voltaire die rationale Notwendigkeit der Existenz Gottes begrlindet - im intextuellen Zusammenhang lautet der Vers folgendermassen: Si les cieux, depouil1E~s de son empreinte auguste Pouvaient cesser jamais de la manifester, Si Dieu n'existe pas, il faudrait l'inventer.
-
251 -
- will Ivan im Gespräch die reale Nichtexistenz Gottes belegen. Zum dritten und letzten Mal wird das Voltaiie-Zitat von dem Gymnasiasten .Kolja Krasotkin im Gespräch mit
Ale~a
angeführt, wo-
bei es erstmals explizit mit dem Namen Voltaires in Zusammenhang gebracht wird. Auf die Frage Ale§as, ob er denn nicht an Gott glaube, antwortet der Knabe: "Ganz im Gegenteil, ich habe nichts gegen Gott. Natürlich ist Gcitt nur eine Hypothese ... aber ... ich gestehe, dass er notwendig ist für die Ordnung ... für die Weltordnung und so weiter ... und wenn es ihn nicht gäbe, so müsste man ihn sich ausdenken" fügte Kolja hinzu und begann zu erröten. Er stellte sich plötzlich vor, dass Ale~a in diesem Augenblick denkt, dass er[Kolja] seine Kenntniss~ herausstellen und vorführen wolle, wie "gross" er sei. "Aber ich will meine Kenntnisse vor ihm ja gar nicht herausstellen", dachte Kolja mit Entrü~tung. Und er wurde plötzlich furchtbar traurig. HanpoTHB, fl HHqerO He HMew npoTHB 60ra. KO~eqHO, 60r eCTb ~onbKo rHnoTe3a ... HO ... fl npH3Haw, qTO OH Hy*eH, Anfl nopflgKa •.• Anfl MHpOBoro nopflgKaH TaK ganee ... H ecnH 6 erD He 6~no, TO Hago 6~ ero B~gYMaTb, - npH6aBHn Konfl, HaqHHafl KpacHeTb. EMY Bgpyr Bo06pa3Hnocb, qTO Anewa ceAqac nogyMaeT, qTO OH XOqeT B~CTaBHTb CBOH n03HaHHfl H nOKa3aTb, KaKoA OH "60nbwo~". "A fl BOBce He XOqy B~cTaBHTb npeg HHM MOH n03BaHHfl", - c HerogoBaHHeM nO~YMan Konfl. M eMY Bgpyr cTano y*acHo gocagHo. (XIV: 499) Nach dem ausschliesslich französischsprachigen
Zitat,
ausgespro-
chen durch den alten Karamazov, der Juxtaposition von französischem und russischem Wortlaut bei Ivanov, dem Vertreter der mittleren Generation, wird in der Antwort des dreiiehnjährigen Knaben schliesslich nur noch die russische Sprache verwendet. Es könnte der Eindruck entstehen, als sei der Vers Voltaires von der heranwachsenden Jugend nun
endgült~g
sischen integriert
in das Denk- und Ausdrucksinventar des Rusworden. Dieser Auffassung scheint auf den er-
sten Blick die bereits von Culkov (1928: 68) aufgedeckte Anspielung auf jenes Antwortschreiben Belinskijs
(X: 214 f.)
auf Gogol's
Brief über Belinskijs Rezension der "Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden"
(1847)
zu entsprechen, in dem polemi-
sierend die Unvereinbarkeit der Lehre Christi und der kirchlichen Organisation postuliert wird. Dort heisst es: Der Sinn der Lehre Christi ist von der philosophischen Bewegung des vorigen Jahrhunderts offengelegt worden. Daher ist auch ein Vo~taire, der mit der Waffe des Spottes die Scheiterhaufen von Fanatismus und Unwissenheit in Europa ausgelöscht hat, natürlich mehr ein Sohn Christi, Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein als alle ihre Bischöfe, Metropoliten und Patriarchen, die östlichen wie die westlichen. Wissen Sie das etwa nicht? Heutzutage ist das doch kei-
-
252 -
nem Gymnasiasten mehr etwas Neues. Ho CMblCJI yqeHHR cXpHcToBa OTKPbIT HJIOCOCIKHeM HaCMeUlKH nOTYWHBWmt B EBpone KOCTPbI aHaTH3Ma H HeBe>KeCTBa, IKeJIH Bce BawH nonbI, apXHepeH,MHTpOnOJIHTbI H naTpHapXH, BOCTOqHbIe H 3an~HbIe. HeY>KeJIH BbI 3Toro He 3HaeTe? A Be,I\b Bce 3TO Tenepb BOBce He HOBOCTb ~IR BCRI
Bestimm~
heit der direkten Rede, in der Kolja dieses bekannte Wissen wiedergibt, vorn Erzähler mit Hilfe äusserst komplexer und avancierter narratologischer Verfahren angetastet. In der Erzählerrede wird ja mitgeteilt, dass Kolja nach dem Zitieren "pI5tzlich" Zeichen von Scham zu erkennen gibt, die mit der Vorstellung motiviert werden, die sich Koljavon der Wirkung seines Redens
(und Zitierens) bei
Alesa macht. Auf diese in erlebter Rede mitgeteilte Reflexion antwortet Kolja in direkter Binnenrede, er wolle ja gar nicht mit seinem Wissen prahlen. So begleitet den äusseren Dialog zwischen Kolja und Alesa, in den das Zitat integriert ist, ein innerer Dialog Koljas, in' dem mit seinen Repliken auch das Zitat relativiert wird, und es ist bezeichnend, dass im weiteren Verlauf des Gesprächs gerade diejenigen Passagen der direkten Rede KOljas durch Stellungnahmen in innerer Rede kommentiert werden, die neuerlich auf Voltaire 'Bezug nehmen: "Voltaire hat doch gar nicht an Gott geglaubt und doch die Menschheit geliebt?" (<<Wieder,cwieder!» dachte er bei sich selbst). BOJIbTep >Ke He BepOBaJI B oora, a JIl06HJI qeJIOBeqeCTBO? ("OnRTb, onRTb!" - nO,I\YMaJI OH npo ce6R.) "Und haben Sie denn Voltaire gelesen?" schloss Alela. c"Nein, nicht dass ich ihn eigentlich gelesen hätte .•. Ich habe übrigens 'Candide' 9,elesen, in russischer Übersetzung ... in einer alten, entstellten Übersetzung, einer lächerlichen .•. (Wieder, wieder!) . A BbI pa3Be qHTaJIH BOJIbTepa? - 3al<JII0qHJI AJIewa. - HeT, He TO qTOObI,qHTaJI ••. 51, BnpOqeM "KaH,I\H,I\a" qHTaJI, BPYCCI
("onRTb"), im ersten Fall noch durch
Erzählerrede integriert, im zweiten dagegen lediglich durch
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Klammern von der direkten Rede ausgegrenzt, steht für die Reflexion des Redenden über den Eindruck, den er eigener Vorstellung nach durch seine rednerische Selbstdarstellung beim Dialogpartner mit dem Bezug auf den fremden Autor Voltaire und seine Texte' hervorruft. In einer der zunehmenden Russifizierung des sprachlichen Ausdrucks entgegengesetzten Bewegung wird der Name des 'fremden Autors zunehmend konkre-, tisiert - von der Nichtnennung über das Appelat.i,.vum "al,ter Sünder des 18. Jahrhunderts" bis zur Aufführung des Eigennamens. So wird der Zitattext zugleich immer mehr zum eigenen (russischen) und zum fremden (Voltaires) Text als Beweggrund für die Scham enthüllt, mehr Wissen zu prätendieren als
Ale~a
beim dreizehnjährigen Knaben ak-
zeptabel erscheinen kann. Das in der Engführung der Stimme des "alten Sünders" und des dreizehnjähriqen Knaben zum Topos des pu er senex
zusammengeschlossene Wissen wird in der begleitend kommentieren-
den inneren Rede wieder geschieden. Gerade der Anspruch, eigene Rede vorzutragen, macht den zitierten Text besonders fremd. Mit einer einzigen Bemerkung, dem Hinweis, Voltaire habe im Gegensatz zu Koljas Behauptung doch an Gott geglaubt, "wenngleich, wie'es scheint, wenig"
(XIV: 500), kann Ale§a das
Voltaire~Bild
Koljas widerlegen,
der zudem bekennen muss, ausser der "Candide"-Dbersetzung nichts von Voltaire gelesen zu haben. Dieser Sachverhalt wie auch die Tatsache, dass dieser Voltaire-Dialog mit dem Streit um den Glauben Voltaires schon in den frühen Entwürfen zum Roman (XV: 307) enthalten ist, veranlassen mich, dem allgemeinen Urteil von Victor Terras (1981: 14)
"Voltaire is brought in to be refuted" in dieser Formulie-
rung nicht zuzustimmen. In 'Wahrheit enthüllt Kolja, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht - wie Terras meint - die Ideen Voltaires als trivial, sondern das nun auch der heranwachsenden Jugend durch Ideologen wie Rakitin vermit~elte Voltaire-Bild. Diese Realisierung eines Zitates durch drei verschiedene Sprecher hat im Roman "BK" noch eine weitere Funktion. Zwischen den Zitierenden, dem alten Karamazov, seinem Sohn Ivan und dem jungen Kolja wird, auf diese Weise eine partielle personale Identität gestiftet, sie fungieren in dieser Hinsicht als ein und dieselbe Person. Da es sich in jedem Falle um Ale§a als Gesprächspartner (und Antipoden) handelt, können wir sagen, dass es sich sogar um Bestandteile ein und desselben Dialogs handelt. Die Intextualität des Zitats legt auf
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254 -
diese Weise die grundlegende Doppelstruktur des Romans offen: die Interferenz von diachronisch intermittierend erzählter (chronologisch, logisch und motivational begrUndeter) nisstruktur mit einer quer zu ihr stehenden
sukzessiver
synchron~sch
Ereig-
einge-
betteten (axiologisch begründeten) akkumulativen Erscheinungsstruktur. Ist die
erst~
als literarisch zu bestimmen, so kann die zweite
nur mythisch genannt werden. Im mythischen System des Textes tritt der Zitatautor Voltaire zwischen die axiologisch in Opposition stehenden (mythischen) Personnages Pedol: Pavlovic - Ivan - Ko1ja auf der einen und Zosima - Alesa - Iljusina auf der anderen Seite. Es ist dann auch bezeichnend, dass bis auf Kolja, der gerade durch sein Gespräch mit
Ale~a
aus der mythisch personalen Einheit herausge-
nommen wird, alle jüngeren und älteren mythischen Inkarnationen der Antipoden in der Ereignisstruktur des Textes zu Tode kommen. Annenskij
(1906, 1979: 29) hat schon sehr früh darauf hingewiesen,
dass im Werk Dostoevskiis das "Gefühl des Todes" ("qYBCTBO cMepTH") keine tragende Funktion erlangt hat. Bachtin, der in der frühen Fassung seines Dostoevskijbuches (1929: 81) zunächst vor allem den Bezug der Dostoevskijschen Romane auf Voltaires "Candide" als eines "philosophischen Romanes" gewürdigt hatte, "in dem die Darstellung völlig auf die philosophische Schlussfolgerung gerichtet ist", lenkt den Blick in der erweiterten Ausgabe von 1963 arif die Linien der menippeischen und karnevalistischen Traditionen (1972: 228f.), die sich u.a. im "Candide" schneiden und im "Don Quijote" bereits zuvor einen Höhepunkt gefunden hatten. Die menippeische Prosa verbinde heterogene Komponenten wie eine extreme Zuspitzung des philosophischen Dialoges mit phantastischen ,und abenteuerlichen Geschehnissen, Utopie mit krassem Naturalismus, und die Karnevalisierung diene als das erforderliche Mittel der Umsetzung des ideellen Gehaltes in seine abenteuerliche Realisierung. Ich kann an dieser Stelle auf den Begriff des Karnevalsbei Bachtin nicht näher eingehen, den ich an anderer Stelle eingehend gewürdigt habe (Grübel 1979: 55-62), muss in diesem Zu, ,
sammenhang jedoch auf eine Besonderheit des karnevalistischen Lachens in der Parodie hinweisen, die Bachtin im Blick ~ufdenRoman "BK" herausstellt. In der Tradition der Karnevalisierung erzeugt d~e
Parodie einen Doppelgänger, der einen Nimbus zerstört, eine
"verkehrte Welt"
("MHp HaH3HaHKY", Bachtin 1973: 216). Als solche
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255 -
parodistischen Doppelgänger der Personnage hat Bachtin für Ivan Karamazov neben Smerdjakov und dem Teufel auch Rakitin bestimmt. Bachtin führt dann weiter aus: In jedem von ihnen (das heisst von den Doppelgängern) stirbt der Held (das heisst,wird er negiert), um sich zu erneuern (das heisst, sich zu reinigen und über sich selbst hinauszuwachsen). a Ka>K,I:{OM H3 HHX (TO eCTb H3 ABOAHHl
~er
"BK" zu
Shakespeares "Hamlet" und zu Texten Voltaires habe ich zu zeigen versucht, dass ein solcher Prozess des Negierens und Erneuerns auch für diese textuellen Doppelgänger gilt: Dostoevskijs Text entsteht aus der Negation bestehender Texte. die doch zugleich im Verlauf der Erzählgeschichte wieder erneuert, in ihre Rechte eingesetzt, mit Leben erfüllt werden. Oder, in der Sprache des Mythos: Dostoevskij: Text wird geboren aus dem Tod seiner Prätexte, die in ihm sterben und zu neuem Leben erweckt werden. Anders als Perli.na (1978), deren Forschungsergebnisse in vielen Fällen einleuchten, wenngleich sie oft genug nicht von textueller, sondern von produktioneller Intertextualität handelt, bin ich der Ansicht, dass auch die Bibelzitate und
Anspielung~n
auf Kirchentexte, die in den Romantext Eingang gefunden haben, diesem Prozess der Erneuerung unterzogen werden. Perlina schreibt (1978: 78): "Die Zitate aus dem Evangelium sind im Text der "Brüder Karamazov" auf einer überästhetischen Ebene gelegen. Sie gehören nicht zum künstlerischen System des Romans, sondern stehen unendlich viel h5her als es. Es ist dies auch das höchste autoritäre Zitat. 11 Wenn es tatsächlich so wäre, handelte es sich bei den "BK" nicht nur nicht um einen dialogischen Roman im Sinne Bachtins;
~ohdern
nicht einmal um einen Roman. In einem als künstlerischem Text aufgefassten Roman gehen alle Bestandteile in das künstlerische System ein, ob sie nun historischer, gnoseologischer oder religiöser Art sind. Dies sei an Hand eines bereits behandelten und eines weiteren Beispiels demonstriert. Wie der Kommentar zur neuen vollständigen Ausgabe der Werke Dostoevskijs einleuchtend mitteilt, sind die "eisernen Haken", von denen der alte Karamazov in seinem oben angeführten Gespräch mit Alesa redet. nicht nur in Ikonen abgebildet,
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die das Jüngste Gericht darstellen (vgl. die Ikone
"Stra~nyj
sud"
der Tret'jakovskij-Galerie, Alpatov 1978: 113), sondern auch in geistlichen Versen über den Reichen, und den armen Lazarus angeführt. Über den Reichen heisst es dort (XV: 525): Es sandte ihm Gott die strengen Engel, Die strengen, unbarmherzigen; Sie holten die Seele zwischen seinen Rippen hervor Mit eisernen Haken ITocnan eMY rocnO~H rp03H~X aHrenOB, rp031-l~X,
BbIHynH
HeMHnOCTHB~X;
CI(B03b peopa ero KpIDKaMH.
~YlIIel-lbJ(Y
~ene31-l~MH
Die sich später sehr viel deutlicher im Vergleich mit dem Gleichnis vom ,Reichen und vom armen Lazarus manifestierende intertextuelle Beziehung auf den Text des Lucasevangeliums
(16, 19-31) wird durch
den vermittelnden Bezug auf kirchliche Texte (Ikonen und/oder geistliche Lyrik) affiziert. Die Inversionsfigur bestimmt dann auch die Beziehung des anspielenden Textes zum Text, auf den angespielt wird: während der Reiche in der Parabel seinen Auszug aus dem Hades begehrt, beharrt der reiche Karamazov auf der Notwendigkeit, sich Höllenqualen unterziehen zu lassen. Durch diese Umkehrung wir~
die Bedeutung der Parabel des Evangeliums auf den Kopf ge-
stellt, die anspielenden Wörter werden ambivalent. Als zweites Beispiel für ein Zitat aus der Bibel, das nicht als autoritäres Wort, als Wort mit unanfechtbarer Geltung aufzufassen ist, soll die Antwort von Fedor
Pavlovi~
auf die Aufforde-
rung des Starec Zosima dienen, nicht zu lügen und sich auch nicht durch Gesten zu verstellen. Der alte Karamazov küsst
darau~hin
dem
Starec die Hand und sagt (XIV: 41, Hervorhebung durch mich): [ ... ] Aber ich habe gelogen, habe ganz entschieden mein ganzes Leben lang gelogen, an jedem Tag und zu jeder Stunde. Wahrlich, ich bin eine Lüge und ein Vater der Lügel Ubrigens, scheint es mir, bin ich nicht der Vater der Lüge, da habe ich mich doch ganz in den Texten geirrt, nun, wenigstens bin ich ein Sohn der Lüge, und das ist auch genug. [ ... ] A nran H, nran, peWHTenbl-lO BCID ~H3Hb MOID, Ha BCHK ~el-lb H 1.Jac. BOHCTHHY nO~b eCMb H oTeu; n~H! Bnp01.JeM, Ka)\(eTCH, He oTeu; n~H, 3TO H BCe B TeKcTax cOHBalocb, HY XOTb CbIH n~H I H Toro oy~eT ~oBonbHo.
Das zitierte Fragment lautet im Zusammenhang der Rede Jesu Christi wider den Unglauben der Juden im griechischen Text und in der russischen 5be~~etzung (Johannis 8, 34):
-
257 -
"Y).JEl.~ (:)1 TOU RCtTpOS; TOU ÖLaßOÄOI) E:OTC [ ••• ] "OTaV ÄaÄ'i) TO tM T~V ~ÖL~V ÄaÄE~~ 5TL rpe::Gs;Tns; E:aT~V Mat RaT~p aÖTO~. Brun oTe~ ~HaBon, H B~ XOTHTe HcnonHflTb noxoTH oT~a Bawero;
&
)
n)f{e~
H
oTe~
rpe::UÖO~,
[ ... ] n)f{H.
In der oben kursiv wiedergegebenen zitierenden Rede wird durch den Ausdruck "wahrlich" ("BOHcTllHY") der Eindruck· geweckt, es folge ein authentisches neutestamentliches Zitat, in dem Jesus Christus sich in direkter Rede äussert. Das folgende Personalpronomen der ersten Person suggeriert überdies eine Ich-Auspage,wie wir sie auch in Johannis 8,34 antreffen. Tatsächlich transformiert das Zitat jedoch die Aussage über einen Dritten
in eine Ich-Aussage,
im Akt des Zitierens wird Christus ersetzt durch seinen Gegenspieler (vgl. die Versuchungen in der Legende vom Grossinquisitor), durch
den
Teufel! Diese Substitution, durch welche sich der zi-
tierende Karamazov ja selbst mit dem Teufel identifiziert, mag die eine Ursache sein für die auf sie folgende Korrektur, die durch jene bezeichnende metatextuelle Selbstkommentierung über den Irrturn in den Texten eingeleitet wird. Freilich ist hier - solange wir nicht das von Whitehead und Russell entwickelte Stufenkalkül einführen - die kretensische Antinomie wirksam: wenn gilt, dass der alte Karamazov stets
("an jedem Tag und zu jeder Stunde")
lügt, so
ist nicht nur die Selbstbezichtigung, sondern auch ihre Korrektur unwahr. üb Karamazov sich daher metonymisch als Teufel oder aber als Kind des Teufels bezeichnet, ist für den logischen Widerspruch belanglos; wahrheitslogisch sind "Vater" und "Sohn" hier austauschbare Individuen. Erst mittels der metonymischen Identifika-. tion mit dem Teufel wird dann jene - nicht
wah~heitslogische
dern biologische - Vater-Sohn-Beziehung relevant, die vom
son-
Kon~entar
der Akademieausgabe (XV: 530) herausgestellt wird: auch Ivan, der Sohn Fedor
Pavlovi~s,
identifiziert sich, freilich erst im neunten
Kapitel des elften Buches, bedingt mit dem Teufel.
(Hier wird deut-
lich, dass sich der intextuelle Sinn dieser intertextuellen Passage erst aus der Retrospektive oder aber bei wiederholter LektGre erfassen lässt, dem ne.uen Leser bleibt er änigmatisch.) Wahrhei tslogisch löst sich die Antinomie auf, indem das "sich Irren in den TexteD~
wahr ist: Fedor
Pavlovi~
ist dann so wenig wie sein Sohn
mit dem Teufel identisch, sondern sie werden - aus der Sicht dieses Zitierens - als Irrende vorgeführt, die sich die Maske des Teufels
-
258 -
anlegen. Da aber die Worte, von der Lüge und vom Vater der Lüge in ihrer Beziehung auf den neutestamentlichen Sprecher und auf die Personenrede des alten Karamazov so stark interferieren, kann hier, wenngleich es sich um ein Zitat aus der Bibel handelt, nicht von einem autoritativen Wort die Rede sein. Um dem möglichen Einwand zu begegnen, im Roman "BK" werde wie in den aufgeführten Beispielen - die prätextuelle Autorität des intertextuell einbezogenen religiösen Wortes durch das einbeziehende Wort nur dann gebrochen, wenn die Intertextualität durch eine Personnage mit ihr ideologisch entgegengesetztem Standpunkt vermittelt sei, weise icha,uf Fälle hin, in denen das intertextuell vermittelnde Wort des Romans gleichwohl Standpunktvielfalt zu erkennen gibt. Valentina E. Vetlovskaja (1971b) hat auf überzeugende Kongruenzen zwischen der Darstellung
Ale~as
in dem Roman "BK" und
der Vita von Aleksej, dem Gottesmenschen ("Zitie Alekseja celoveka bo~ija")
hingewiesen; Sven
Linn~r
(1975: 111) hat die verschiedenen,
für die Biographie Zosimas als Vorbild angeführten Viten und Mönchsfiguren diskutiert und zurecht die Notwendigkeit herausgestellt, auch literarische Quellen in die Untersuchung einzubeziehen. Die zahlreichen vergleichsweise herangezogenen einzelnen Heiligenviten bilden weder
für die Darstellung Ale~as noch für die Lebensbe-
schreibung Zosimas ein identifizierbares Modell. Nina Perlina (1978: 8If.) spricht zurecht von der allgemeinen Orientierung auf die Vita "als ethisch-ästhetisches Paradigma", doch scheint mir die Funktion dieses Paradigmas nicht in der schlechthinnigen Kontinuität der Nachahmung eines Beispiels, sondern in der zugleich kontinuierlichen, und diskontinuierlichen Aufhebung des Gattungsmodells der Vita zu bestehen. Die volle Komplexität dieses Verhältnisses rückt erst in den Blick, wenn wir den extremen Modellcharakter der Bezugsgattung selbst bedenken, der durch die Verpflanzung des Genre aus der byzantinischen in die kirchenslavische Kultur nicht verlorengegangen ist. Die stabile Personenkonfiguration (mit dem Heiligen als Mittelpunkt), die systematisch axiologische, ethisch-religiöse Klassifikation der Handlungen und Ereignisse in ihrem Verhältnis zum curriculum vitae
sowie die vorhersagbare Stetigkeit entschei-
dender Sujetwendungen (z.B. das Wunder nach dem Tode des Heiligen) verleihen der Gattung jenen Charakter der imitatio, den Jolles (1965: 34-41) als grundlegendes Prinzip der Legende bestimmt hat.
- 259 -
Nicht nur tritt kraft der imitatio der Held als Abbild des exzeptionellen Urbildes '''Heiliger'' hervor, sondern es fungiert der Text als die nachahmende und nachahmenswerte Realisierung eines Urtextes: die Heiligenlegende ist Bestandteil einer religiösen Kultur der Kontinuität und diente in der kirchenrechtlichen Prozedur der Heiligsprechung (canonizatio) als relevantes Beweismittel. Es kam gleichsam darauf an, ob sich die überlieferten Daten der Lebensgeschichte dem textuelien Schema des Heiligenlebens adaptieren liessen, ob sie die Gattungsnormen der vitae sanctorum erfüllten. Der Erzähler der "BK" ist von Licha~ev (1971: 362 et passim) in die Tradition der Chronikschreiber, von Vetlovskqja (1977: 16) dagegen - im Unterschied zu Pu~kin und Saltykov-~~edrin - in die der Hagiographen eingereiht worden. Diese widersprüchliche Traditionsfindung hängt' ursächlich mit der aussergewöhnlichen Vielfalt intertextueller Beziehungen zusammen und lässt sich meines Era'chtens als unterschiedliche Bestimmung des Schwerpunktes erklären. Obgleich nämlich der "Autor" sich im Prolog zu den "BK" als einen "Biographen" (XIV: 6) bezeichnet, also durchaus Verfasser einer Hagiographie sein könnte, reisst schon die Charakterisierung seines Protagonisten"als eines "wunderlichen Menschen"
("qy~aK"
XIV: 5),
der schwer best'immbar sei und sich nicht hervorgetan habe, eine unüberWindliche Kluft zum stabilen Personenschema des Heiligen auf. Das
anschliesserid~
Raisonnement über die
Fr~ge,
inwieweit ein sol-
cher wunderlicher Mensch als Besonderheit eine vom Allgemeinen geschiedene Einzelheit darstelle, die der Suche nach dem Sinn im sinnlosen Durcheinander mehr Hindernisse in den Weg lege als sie erleichtere, "bisweilen" ("E HHOß pas" XIV: 6) doch im Zentrum des Ganzen stehen könne, entwirft ein prinzipiell diskontinuierliches historisches Modell, das der Kontinuität heischenden Zwischenzeit der Eschatologie, in der Heilige hervortreten, entgegengesetzt ist. In der chronotopischen Zentrierung auf einen wesentlichen "Augenblick" ("MoMeHT" XIV: 6) aus der Jugend des Helden weicht die Geschichtsstruktur der "BK" weit mehr als vom geläufigen Chronotopen des russischen realistischen Romans vom zeitliche Totalität implizierenden Chronotopen des hagiographischen Enkomions ab: die Hagiographie zieht eine Summe nach dem Tode des potentiellen Heiligen. Und doch wird in regelmässigen Vorausblicken "auf das ganze Leben" Ale~as
eine vergleichbare Totalität projektiert, die etwa als
- 260 -
Ergebnis der mystischen Synchronie intertextueller (gleichsam theatralischer)
Vergegen~ärtigung
der "Hochzeit zu Kana" hervortritt
(XIV: 328): Irgendeine Idee ergriff gleichsam Besitz von seinem Verstand, und zwar für sein ganzes Leben und in alle EWigkeit. [ ... ] Und niemals, niemals in seinem ganzen Leben.konnte Ale§a später diese Minute vergessen. Kal(an-TO Kai< 6bl H,Qen BOu;apnJIaCb B YMe ero - H Y>Ke Ha BClO >KH3Hb H Ha BelKH3Hb nOToM 3TO~ MHHYTbl. Die besondere Mobilität des
(abstrakten) Autors, von der JanMeijer
(1971: 37) gesprochen hat, die "existence simultan€e d'un chroniqueur et de l'auteur", wie Catteau (1978: 407) es genannt hat, lassen sich durchaus auf den Erzähler beziehen, der sowohl biographisch-hagiographische als auch chronographisch-historiographische Techniken verwendet. Der Erzähler des Romans "BK" ist eine komplexe Ko'nstruktion, für die sich kein ideologisch homogener Standpunkt bestimmen lässt. Nicht weniger kompliziert liegen die Dinge bei der Lebensbeschreibung des Starec Zosima, da hier schon im Erzählerkornnentar durch den Hinweis auf den fiktiven Charakter "einer derartigen Kontinuität in diesem Erzählvorgang"
("6ecnpepblBHocTb
TaKO~
B no-
BeCTBOBaHHH CHM",XIV: 260) die Transformation von Diskontinuität in Kontinuität bewusst gemacht, die unifizierende, das Ganze erst zur Einheit umbildende Aktivität des Legendenschreibers Ale§a (XIV: 293) herausgestellt und der in den Text aufgenommene Abschnitt ausdrücklich als Fragment "aus der Vita"
(XIV: 260) Cha-
rakterisiert wird; Nicht die schlichte Einbettung eines Textes, der die Gattung Hagiographie fragmentarisch realisiert, liegt vor, sondern die fragmentarische, grossenteils zitierende Darstellung dieser Gattung, die als Handschrift Ale§as autorisiert wird. Für den Erzähltext bleibt die rein hagiographische Lebensbeschreibung ebenso ein' "fremder Text" wie für den Roman die Vita eine "fremde Gattung", die dargestellt ·und aufgehoben, aber nicht in die Erzählgeschichte aufge15st werden kann. Im' Text ausserhalb der Lebensbeschreibung des Starec findet sich dann auch eine Mitteilung über den Geruch der Leiche, die der Erwartung vieler seiner Anhänger zuwiderläuft. Aus der Heiligenlegende des' Stefan von Perm beispielsweise kennen wir die Nachricht
-
261 -
vom "unsagbaren Wohlgeruch, der dann vom Leibe. des Heiligen ausströmte" [t1~nt1/MKe
CR. TOPAD. SnpooV]CD.H'i6
Der "Leichengeruch"
sen'ie
tl
Het1~peyeHHO
W Tei\ece
CTPO] ,
("TneTBopHblß .rtyx") , der von der Leiche des Zo-
sima ausgeht, bildet als indiziales Zeichen des Vergehens die (in Bachtins Sinne karneval i s ti sehe) Umkehrung des '''Wohlgeruches'' ("6naroyxaHHe", XIV: 299), den man· nach dem Prinzip der realisierten imitatio als Zeichen der Unvergänglichkeit auch von den sterblichen Uberresten Zosimas erwartete. Wenngleich im handschriftlichen Entwurf zu "BK" durch den Verweis auf den Moskauer Metropoliten Filaret, auf dessen Tod im Jahre 1867 im Tagebuch Odoevskijs (195 : 237) die epigrammatischen Verse erschienen waren
Jetzt ist er nach der Rangfolge zum Heiligen befördert worden, Obgleich er etwas stank •.. Tenepb no CTapWHHCTBY npOH3Be.rteH B cBHTble, XOTff HeMHO~KO npOBOHHn •.. sowie im endgültigen Wortlaut durch die Anspielung auf die Berichte über die Reisen desParfenij (XV: 571) mit dem Hinweis, dass am Berge Athos mehr auf Farbe und Konsistenz der Gebeine als auf den Geruch der Leiche geachtet werde, die Signalfunktion des Leichen-. geruchs als "absichtlicher Fingerzeig Gottes" nepCT
ero~
("50r H HapOQHTblß
XIV: 300) relativiert wird, stellt das leibliche Verge-
hen in der historischen Zeit kraft der Störung der erwarteten imitatio die Differenz zur mythischen Zeit der Hagiographie her. Die-
se vor dem Hintergrund der imitativen Kontinuität der Vitengattung hervortretende textuelle Inkongruenz lässt die Frage gerade offen, ob es sich bei Zosima um einen Heiligen handle oder aber um eine Person, die als Heiliger angesehen wird. Durch die Verschiebung der Prädikation von der res zur opinio, erzähltechnisch: von der Personnage zum Standpunkt gegenüber der Personnage, wird die Prädikation zum Rätsel. Dieser Schritt auf das Grenzgebiet zwischen Intertextualität und Gattungsinterferenz zeigt, dass in "BK" nicht allein Zitat und Anspielung, sondern auch Gattungsbezüge die Bezugsobjekte nicht einfach adaptieren, eigenen Zwecken. anpassen und sie in den eigenen Text bruchlos einschmelzen, sie vielmehr konstrastierend darstellen, als Widerpart zu Worte kommen lassen, im dialektischen Sinne aufheben. Der These von Passage (1954: 177), "by means of processes learned from Hoffmann and with materials derived from
- 262 -
Hoffmanl1 The Brothers Karamazov came intobeing"
kann
ich
nicht
zustimmen; wie schon die weiter oben dargestellte unterschiedliche Struktur der Einbettung in den Text und die andersartige Sinngebung des Dostoevskijschen Mottos in den "Elixieren" zu er~ennen geben, 'geht es zunächst nicht um die Kontinuität stiftende Adaption fremden Materials und fremder Verfahren, sondern um deren Konfrontation. Erst auf der Grundlage der Novität von Dostoevskijs Roman, auf der Basis der literarischen Differenz, tritt die Kontinuität der Beziehungsbildung hervor. Im Anders-Sein des zitierenden Textes gewinnt das So-Sein des zitierten Textes Kontur. Grundlegendes Verfahren für die Bildung von Intertextualität im Roman '''BK'' ist die Zuordnung der sprachlichen Aktivität "fremde Äusserungen anführen" zu bestimmten personalen und/oder unpersönlichen Standpunkten (z.B. Standpunkt Alesas vs. communis opinio). Während bei der objektorientierten Intertextualität bezeichnete Gegenstände aufeinander bezogen, gegeneinander abgesetzt und miteinander verglichen werden,
aktivier~
die interpretantengerichte-
te Intertextualität die Standpunkte der Sprecher von fremdem und eigenem Text. Die interpretamenorientierte Intertextualität führt zur Juxtaposition, Kontrastierung und/oder Identifizierung von textuelIen, lation
~prachlichen,
sprachliche~
von der
("C~ndide"
ästhetischen und kulturellen Codes. Da
(frz. vs. russe Text) und textuelIen Korre-
vS. "BK") mehrfach die Rede gewesen ist, die
K6nfrontation ästhetischer Codes von Halina Brzoza (1976) als Inkongruenz gegenüber generisch-stilistischen Konventionen ("'nieodpowiedniej' konwencji gatunkowo-stylistycznej", 228) sowie als "Divergenz zwischen dem sicheren (zumeist positiven) Wert, der in der Gestalt der leitenden Idee des Werks gefasst ist, und dem Typus der Evokation durch die strukturelle Totalität der'Expression" ("rozbie~nos6
mi,dzy pewnt warto§cit [najcz,sciej pozytywnt], uj,-
tt w ksztalt idei przewodniej dziela, a typem wywolanej przez jego calos6 strukturalnt ekspresji",230f.)
sowie als Abwertung der Be-
deutung der durch die Ausdrucksschichterfassten Gegenstände analysiert worden ist, soll abschliessend noch auf die Juxtaposition unterschiedlicher kultureller Codes eingegangen werden. Sie verdient auch deshalb besondere Beachtung, weil - wie oben festgestellt - der jeweilige, die Bedingungen der Intertextualität markierende
Kultu~typus
die Standardisierung des kulturellen Codes
- 263 -
bildet. Durch die Interferenz verschiedener Codes werden dann, die Bedingungen der Intertextualität selbst korrelativ; ein und derselbe Text-Text-Bezug ,kann demnach je nach dem kulturellen Code, als dessen Realisierung er aufgefasst wird, als je unterschiedliche Struktur mit je eigener Funktion hervortreten. Im. diskontinuierlichen Code der literarischen Kultur des 19. Jahrhunderts nimmt sich die Beziehung der Diabolodizee des Ivan zur Theodizee im "Candide" als Gegensatz aus, im kontinuierlichen Code der mythischen Kultur, auf deren Bedeutung für den Roman "BK"
Vja~eslav
Ivanov (1916: 72) und Marcel Proust (1954: 377-381) hingewiesen haben, dagegen als Verwandlung. Toporov (1973: 228f.) klassifiziert den Karnevalismus im ffiuvre Dostoevskijs, wie er von, Bachtin beschrieben worden ist, als Mythopoetismus. Bachtin (1972:181) selbst spricht von
"karnevalisierter Literatur", und wir können
die Karnevalisierung als Remythisierung einer postmythischen
Kul~
tur kennzeichnen. Einerseits handelt es sich dabei also um eine historische Inversion, andererseits aber auch um eine hierarchische, da in postmythischen Kulturen der mythische Code s,ubkultu-, rell aktiv bleibt. Das Oszillieren zwischen postmythischem literarischem und präliterarischem mythischem Code verleiht der Intertextualität des Romans "BK" eine aussergewöhnliche Komplexität. Im einen Kontext ist die Erde (" 3ewHI") der Boden, in den man die Samen wirft, um Frucht zu gewinnen, der Boden, dem der Stein ("KaMeHh") gegenübertritt, auf dem der Samen nicht aUfgehen kann und aus dem sich - trotz der Versuchung (XIV: 230, Matthäus 4, 3 und Lucas 4, 3) - durch kein Wunder Brot herstellen lässt, sie ist nicht allein der Boden, in dem sich der Samen sterbend in neues Leben verwandelt, sondern auf dem sich auch die IVerwandlung Alesas vollz:Leht: (XIV: 328). Im anderen ,Kontext ist die Erde die topographische Basis des Chronotopen der Realisierung und Aufklärung einer,kriminellen Handlung. Gerade, in der die Differenz der kulturellen Codes überspringenden Beziehung des einen zum anderen liegt jedoch das Rätsel des Romans. In der karnevalisierten Literatur wird ja nicht allein die Karnevalisierung der Literatu4 sondern auch die Literarisierung des Mythos vollzogen. Das heisst: indem das Motto ein interpretatives Modell für die Verwandlung des fremden Textes in einen eigenen, einen literarischen Text abgibt, wird auch der Text des Mottos literarisiert. Nur wenn wir den Roman konsequent reli-
-
264 -
giös mythisieren, wenn wir den abstrakten Autor als Motto-setzende ebenso wie Zosima als zitierende
und
Ale~a
als realisierende In-
stanz mit Christus identifizieren, bleibt das Motto des Romans "BK" nicht allein seiner Quelle, sondern auch seiner Struktur und seiner Funktion nach Passage eines religiösen Textes. Die im Roman "BK"zitierten und durch Anspielung manifest einbezogenen Texte durchlaufen eine Erneuerung, werden einer Innovation (mythisch: einer Renaissance) unterworfen. Nichtliterarische Texte sind literarisiert, dramatische und lyrische Texte narrativisiert, andersartige Gattungen romanisisiert,fremdsprachige Texte übersetzt oder anderssprachig kontextuiert, monologische Texte dialogisiert. Der Austausch der Sprecher lässt fremde Äusserungen in eigene übergehen und eigene Äusserungen fremd werden. Die Einschränkung der Gültigkeit der zitierten Äusserung ist notwendige Bedingung für die nichtimitative
Gültigk~it
der zitieren-
den Äusserung (mythisch: die Geburt des eigenen Wortes ist der Tod des fremden Wortes). Allein perfektiviert kann der fremde Text im eigenen gegenwärtig werden. So erzeugt die Intertextualität der "BK" kraft der Diskontinuität der renovatio jene auf kulturhistorischer und kulturhierarchischer Inversion beruhende Kontinuität, die nicht das vorgegebene Modell nachahmt, den bereitstehenden Topos montiert, die Vorurteilsstruktur der communis opinio bestätigt, sondern neue Ansichten im Verhältnis zu frUheren, eigene Darstellungsweisen im Bezug auf fremde erprobt. Durch prämetaphorische Gleichsetzung des creator mundi mit dem Schöpfer der Romanwelt (narratologisch: dem abstrakten Autor), des Samens mit dem Wort und der Erde mit dem Text wird im Gespräch Zosimas mit
Ale~a
die Intertextualisierung mit ihren Voraussetzun-
gen für den (abstrakten) Leser auf mythopoetischer Ebene dargestellt (XIV: 290): Gott hat Samen aus anderen Welten genommen und sie auf dieser Erde ausgesät und seinen Garten aufgezogen, und es ging alles auf, was aufgehen konnte, aber das Aufgezogene lebt nur durch das GefUhl seiner Berührung mit geheimnisvollen anderen Welten1 wenn dieses GefUhl in dir schwach wird oder vernichtet· wird, so stirbt auch das in dir Aufgezogene. Bor B3Hn ceMeHa H3 MHPOB HHWX H noceHn Ha ce~ 3eMne H BpacTHn ca~ c~o~, H B30wnO BCe, llTO Morno B30~TH, HO B3pa~eHHoe mHBeT nHWb '1YBCTBOM conpHKocHOBeHHH cBoero TaHHcTBeHHbIM MHpaM HHWM; ecnH ocna6eBaeT HnH YHH'1TO)l
- 265 -
Die Produktivität dieses mythopoetischen 'Modells erhellt aus der Tatsache, dass es von Ivanov (1916: 30) über Bachtin (1979b: 353) und Seleznev (1980: 16) bis hin zu Lotman vielfach aufgegriffen und in literaturwissenschaftliche Diskurse integriert worden ist. Lotman spricht im Zusammenhang der fragmentarisierten Einbettung fremder Texte von der Notwendigkeit "dass der Leser diese Samen anderer struktureller Konstruktionen in Texte verwandelt" (Lotman 1981b: 18). Die allgemeinste Bedeutung ist ihm jedoch von einem Dichter verliehen worden, von Boris Pasternak(1981: 161): das Verlieren ist im Leben notwendiger als das Gewinnen. Das Korn wird keine Triebe geben, wenn es nicht sterben wird. Es gilt zu leben,ohne nachzulassen,nach vorn zu sehen und sich von den lebendigen Vorräten zu nähren, die uns zusammen mit dem Erinnern bereitet werden vom Vergessen. TepHTb B ~H3HH 60nee Heo6xo~HMO, ~eM npHo6peTaTb. 3epHo He ~acT Bcxo~a,ecnH He YMpeT. HaAO *HTb He YCTaBaH, cMoTpeTb Bnepe~ H nHTaTbcH )f(HBblMH 3anacaMH, !{OTOpble COBMecTHo c naMHTblO BI:Jpa6aTblBaeT sa6BeHHe.
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Igor P. SMIRNOV
DAS ZITIERTE ZITAT
0.1. Es ist anzunehmen, daß Intertextualität, ebenso wie intratextuelle Relationen, diachronischen Veränderungen unterliegt. Jedes diachronische System wird dadurch herausgebildet, daß die Strukturen der von verschiedenen Autoren geschaffenen Texte ein und derselben Dominanzbeziehung untergeordnet werden. Anders gesagt gibt eine systemhafte Dominanzbeziehung den substantiell heterogenen (d.h. auf ungleichartige Referenten bezogenen) Texten eine homogene Sinnform (Smirnov 1981; Döring-Smirnov/Smirnov 1982). Dementsprechend bestimmt die vorherrschende Systemregel auch die Verfahren, mit deren Hilfe ein Autor eine vorausgehende künstlerische Erfahrung verarbeitet. Zitate bzw. Parazitate werden so in ein Kunstwerk integriert, daß die intertextuelle Relation in Einklang mit der intratextuellen gebracht wird. Hieraus folgt, daß jedes beliebige achronische Klassifikationssystem der intertextuellen Relationen (vgl. z.B. Conte 1974 und dazu Johnson 1976, BenPorath 1976:116 ff., Jenny 1976:275 ff.) notwendig, aber nicht ausreichend ist und durch eine dia.chronische Systematik der TextTextbeziehung ergänzt werden muß. 0.2. Unter diesem Aspekt soll nun der Versuch gemacht werden, einen diachronischen Sondertyp des Zitats zu untersuchen, der in der Poesie der Nachsymbolisten vor allem von Pasternak verwendet wurde. Die Struktur dieses Zitattyps hat zumindest zwei Ebenen. Das "fremde" Wort verweist zugleich auf zwei Prototexte: auf einen Text, in -dem das vorliegende Wort- bzw. Sinnmaterial zum ersten Mal aufgetaucht ist, und auf einen anderen, der dieses Thema später aufgegriffen und umgebildet hat. 1.1. So zitiert Pasternak (1965:349 f. / vgl. Ubers. Döring 1973:343 f.) Jarosl~vna
im Verszyklus VoLny (WeLLen) explizit die Klage der
aus dem
Igo~Lied:
- 274 -
Ty - kraj, gde zensciny v Putivle Zegzicami ne placut vpred' , I ja Vsej pravdoj ich scastlivlju, I ej ne nado proc' smotret'. (Du bist das Land, wo Frauen in Putivl' Nicht mehr wie Kuckucke weinen, Und ich mache sie glücklich mit meiner ganzen Wahrheit, Und jene braucht nicht wegzuschauen.) Vgl. dazu die Textquelle (Slovo
0
polku Igoreve 1967:54 / vgl.
Ubers. Raab 1965:31): Na Dunai Jaroslavnyn glas slysit, zegziceju neznaem' rano kycet'. "Polecju, rece, zegziceju po Dunaevi" [ ... ]. Jaroslavna rano placet v Putivle na zabrale ... (An der Donau hört man Jaroslavnas Stimme, einem Kuckuck gleich klagt sie einsam früh am Morgen: "Als Kuckuck will ich", so ruft sie, "die Donau entlangfliegen" [ ... ] Es klagt Jaroslavna früh am Morgen zu Putivl auf dem Wehrgang ... ) Das offensichtlich aus dem Igorlied entnommene Wortthema wird aber mit einer verborgenen Anspielung auf das Gedicht von VI. Solov'ev (1970:74 f.) Otvet na "Pla~' Jaroslavny" (Antwort auf die
"Klage der Jaroslavna") verflochten: Puskaj Pergarn davno vo prache, Pust' mirno dremlet Tichij Don: Vse tot ze ropot Andromachi, I nad Putivlem tot ze ston. (Laß Pergamon längst in Asche liegen, Laß den Stillen Don friedlich schlummern: Immer noch gleich ist das Murren der Andromache Und oberhalb von Putivl' - das gleiche Stöhnen.) Pasternak negiert das Solov'evsche Thema des im Laufe der Geschichte wiederkehrenden weiblichen Schicksals (das gleiche Stöhnen /
wo Frauen [ ... ] nicht mehr weinen). Obwohl in beiden Fällen der gleiche vierfüßige Jambus und vergleichbare lautliche Wietlerholungen (' pt',
'pr',
, pI'
I 'pt', , pr', 'ps') verwendet
werden, ist der Hinweis auf den Text von Solov'ev in den Wellen unauffällig, da Pasternak ein Paar von Lexemen aus dem Igorlied übernommen hat, das sich in der Solov'evschen Reminiszenz an dieselbe Textquelle nicht findet (das Kuckuckmotiv und das
plakat' statt des Stöhnmotivs in der Antwort ... ).
ver~
pasternak~
friert also seine Auseinandersetzung mit dem sekundären Prototext mittels der Intertextualitäts-Signale, die auf den primären Proto-
- 275 -
text zielen. Aber gleichzeitig verwandelt er die intertextuelle Relation zum Gedicht von Vl. Solov'ev nicht in ein unlösbares Rätsel. Pasternak macht die Polemik um das Thema des weiblichen Schicksals dadurch kenntlich, daß er noch eine Reminiszenz an dasselbe Gedicht in seinen Text einfügt. Das einleitende Textsegrnent des Kapitels, in dem Pasternak die Klage der Jaroslavna behandelt, enthält einen paradoxalen Sem-Komplex:
'die daneben stehende Ferne':
Ty rjadom, dal' socializma. Ty skazes' - bliz'? (Du bist neben mir, Ferne des Sozialismus, Du wirst sagen - Nähe?) Dieses Motiv kehrt das Motiv der immer wirksamen Vergangenheitsferne um, mit dem Vl. Solov'ev sein Gedicht schließt: Svoe uz ne vernetsja snova, Nemejut blizkie slova, No pamjat' .dal'nego .bylogo Slezoj prozra~noju ziva. (Das Eigene kehrt schon nicht mehr zurück, Es werden die nahen Worte stumm, Ab~r das Gedächtnis an das ferne Vergangene Ist in der kl~ren Träne lebendig.) Diebeiden Transformationen der Solov'evschen Motive werden von Pasternak in der Art einer rekonstruierbaren Implikation miteinander verknüpft:
'wenn nicht die ferne Vergangenheit, sondern die
ferne Zukunft danebensteht, dann ist keine Wiederholung des historischen Präzedenzfalles möglich'. 1.2. Ein weiteres Beispiel für das zweistufige Zitat ist im sogenannten "politischen" Gedicht Pasternaks (1965:377 / vgl. Ubers. Döring 1973:372) StoLet'e s Lisnim - ne vaera (Mehr aLs
ein Jahrhundert - kein Gestern . .. ) enthalten: Stolet'e s lisnim - ne vcera, A sila preznjaja v soblazne V nadezde slavy i dobra Gljadet' na vesci bez bojazni. Chotet' v otli~'e ot chlys~a V ego .suscestv~an'i kratkom, Truda so vsemi soobsca I zaodno s pravoporjadkom. I tot ze totcas ze tupik Pri vstreces umstvennoju len'ju,
-
276 -
I te ze~vy~iski iz knig, I tech ze er sopos~avlen'e. No lis' sejcas skazat' pora,. Velic'em dnja sravnen'e raznja: Nacalo slavnych dnej Petra Mracili mjatezi i kazni. Itak, vpered, ne trepesca I utesajas' parallel'ju, Poka ty ziv, i ne mosca, I 0 tebe ne pozaleli. (Mehr'als ein Jahrhundert - kein Gestern, Die Kraft aber ist die alte in der Verlockung, In der Hoffnung auf Ruhm und Gutes, Die Dinge zu sehen ohne Furcht. Im Unterschied zu einem Gecken In seiner kurzen Existenz Die Arbeit mit allen gemeinschaftlich Und zugleich mit der Rechtsordnung zu wünschen. Und Bei Und Und
sogleich die gleiche Sackgasse der Begegnung mit der geistigen Trägheit, die gleichen Auszüge aus Büchern, der gleichen Epochen Vergleichung.
Nur ist es erst jetzt Zeit zu sagen, Wenn man durch die Größe des Tags den Vergleich unterscheidet: Den Beginn der ruhmreichen Tage Peters Verdunkelten Rebellionen und Hinrichtungen. Also,in die Ferne, ohne zu zittern Und sich mit Parallelen tröstend, Solange du lebst und keine Reliquie bist Und man kein MitLeid mit dir hat~) Pasternak variiert in diesem Gedicht aus dem Jahre 1931 nicht nur das Thema der Stanzen Puskins, was einleuchtend ist, sondern er beachtet ebenfalls eine von Vjac. Ivanov (1974:257) in der Gedichtsammlung Gor ardens durchgeführte Vers interpretation der Stanzen - das Gedicht PaLacam (An die Henker): V nadezde slavy i dobra Gljazu vpered ja bez bojazni: Istleet drevko topora, Ne budet palaca dlja kazni [ ... ] Tak! Podlye versite kazni, Poka vas skiptr i carstvo t'my! Vmestite, duch v zatvor tjur'my! Gljazu vpered ja bez bojazni.
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(In der Hoffnung auf Ruhm und Gutes Sehe ich in die Ferne ohne Furcht: Der Stiel des Fallbeils wird zu Asche werden, Es wird keinen Henker für die Hinrichtungen geben
[~
.. J
So! Vollbringt niedrige Hinrichtun~en, Solange ihr das Szepter und das Reich der Finsternis besitzt! Stellt den Geist in den Kerker hin! Ich sehe in die Ferne ohne Furcht.) Sowohl Pasternak als auch Vjac. Ivanov zitieren den gleichen Abschnitt des Textes von Puskin (In dep Hoffnung auf Ruhm und Gutes / Sehe ich in die Fepne ohne Fupcht: / Den Beginn dep puhmpeichen
Tage Peteps /
Verdunke~ten
Rebel~ionen
und Hinrichtungen). Aber
dabei läßt Vjac. Ivanov die beiden letzten Verszeilen der zitierten Strophe weg, weil er eine negative Analogie zwischen den historischen Situationen zieht, die den Stanzen (Zeit nach dem Dekabristen-Aufstand) und seiner Invektive (Zeit der ersten russischen Revolution) zugrundeliegeQ. Am Anfang seines Gedichts wiederholt Pasternak ebenso wie Vjac. Ivanov nur die ersten Verse der Stanzen. Die intertextuelle Relation zur Invektive von Vjac. Ivanov wird außerdem unzweideutig auf der anagrammatischen Ebene des Textes von Pasternak bestätigt. Pasternak ersetzt das Puskinsche Wort vpeped (in die Ferne) durch das Lexem vesoi (die
Dinge), das zusammen mit dem vorangehenden Wort
s~a'vy(die
Wendung
In der Hoffnung auf Ruhm ... ) den Vornamen Vjaaes~av teilweise anagrammiert und den Phonembestand der nachfolgenden Reimserie vorherbestimmt (ch~yS~a~ soobS~a~
tpepeS~a~
moS~a).
Für die Verifizierung
des Anagramms ist es wichtig, daß ein solches quasi-etymologisches Spiel mit dem Vornamen Vjaceslav Ivanovs vorher in einem Gedicht Sologubs getrieben wurde: Reet imja VJACESLAV. Vjascij? Vescij? Pros~avljajuscij li vesoi? (Weht der Name VJA~ESLAV. Ist er der Höhere? Ist er der Wahrsagende? Oder der die Dinge Rühmende?) Auf der Kompositionsebene reproduziert und transformiert Pasternak den Ring-Aufbau des Gedichts von Vjac. Ivanov (vgl. dazu den Begriff der "strukturellen Stilisierung"
[Levinton/Smirnov 1979:
78]). Der eine wie der andere Text beginnt nicht nur, sondern endet
- 278 -
auch mit den Reminiszenzen an Puskins Stanzen (vgl. Itak, ne trepesaa ...
VPERED,
(Pasternak]; Takt Podlye versite kazni [ ... ]
GLJAZU VPERED JA BEZ BOJAZNI [Vjac. Ivanov). Dieses Verfahren
können wir in beiden Fällen als Transposition der äußeren Wiederholung (des "fremden" Worts) in die innere formale Struktur des Textes auffassen. Es ließe sich ein solcher umschließender Aufbau, der sich aus zwei Teilen eines Zitats zusammensetzt, als intertextuelle Ring-Komposition bezeichnen. Darüber hinaus verwenden die beiden Dichter arn Schluß die ähnlichen summierenden Wörter: tak (so) und itak (also). Pasternak kompliziert allerdings die an
Vjac. Ivanovs Gedicht orientierte Ring-Komposition: Während Vjac. Ivanov seinen Text mit ein und demselben Zitat einrahmt, führt Pasternak in die letzte Strophe das Puskinsche Wort vpered ein, das im einleitenden Zitat der Anagrarnmierung wegen ausgefallen ist. Im Verlauf der Textentfaltung setzt Pasternak die von Vjac. Ivanov weggelassenen Puskinschen Verse wieder ein. Er schlägt" eine eigene Reinterpretation der Stanzen vor. Während Vjac. Ivanov den auf die Niederschlagung des Dekabristen-Aufstandes anspielenden Text Puskins vom Standpunkt des die Revolution erlebenden Dichters aus transformiert, betont Pasternak die Tatsache, daß auch er in eine nachrevolutionäre Realität geraten ist. Pasternak schätzt aber die Puskinsche Hoffnung auf die Wiederkehr der Tage Peters als verfrüht ein und versetzt die Erwartung in seine eigene Gegenwart: No lis' sejaas prisla pora ...
(Nur ist es erst jetzt Zeit ... ).
Nebenbei hebt Pasternak die Puskinsche Opposition 'Dichter' vs. 'Pöbel' auf. Auch im gegebenen Falle scheint hinter der Auseinandersetzung mit Pu skin eine intertextuelle Relation zu den Werken von Vjac. Ivanov hervor. Pasternak hält Rückschau auf zwei Essays von Vjac. Ivanov,Poet i cern' (Der Dichter und die Banausen) und
o
veselom remesle i umnom veselii (aber das heitere Handwerk und
die kluge Heiterkeit).
(1909:41)
~n
Im ersten von ihnen lehnt Vjac. Ivanov
Ubereinstimmung mit Dostoevskijs Puskin-Rede (Holt-
husen 1982:22 f.) und im Gegensatz zu Puskins Gedicht Poet i tolpa (Der Dichter und der pabel) die Zwangsläufigkeit der ewigen Kontro-
verse zwischen 'dem Künstler und dem Volk ab: Istinnyj simvolizm dolzen" primirit' vsenarodnom isskustve.
Po~ta
i
~ern'
v bol'som,
(Der wahrhafte Symbolismus muß den Dichter mit dem Banausen
-
279 -
durch eine große, dem ganzen Volk gemeinsame Kunst versöhnen.) Im anderen Essay, der auf den vorrevolutionären Artikel Pasternaks Vassermanova reakaija (Die Wassepmannsahe Reaktion) später einen
gewissen Einfluß ausüben sollte (vgl. Flejsman 1981:189), verneinte Vjac. Ivanov (1909:221) die Ideologie von Pu skins Gedicht Po~tu
(An den Diahter) und identi~izierte den Künstler als Hand-
werker: chudoznik [ ... ] est' remeslennik [ ... ] : on nuzdaetsja v zakaze ne tol'ko vescestvenno, no i moral'no, gorditsja zakazom i, esli provozglasaet 0 sebe pOdeas, eto "car'" i, kak takovoj, "zivet odin", - to lis' potomu, eto serditsja na neudovletvorennych ego delom ili ne iduseich k nemu zakazeikov ... ( ... der Künstler [ ... ] ist ein Handwerker [ ... ]: er braucht nicht nur sachlich sondern auch moralisch einen Auftrag, er ist auf den Auftrag stolz, und wenn er manchmal verkündet, daß er ein "Zar" sei und als solcher "allein lebt", so tut er das nur deshalb, weil er sich über die von seiner Tätigkeit unbefriedigten oder nicht zu ihm kommenden Besteller ärgert •.• ) . Die beiden Ideen von Vjac. Ivanov sind bei Pasternak im Motiv der 'Arbeit mit allen gemeinschaftlich'
zusammengeschmolze~.
Die Hin-
weise auf die Texte von Puskin und Vjac. Ivanov bilden gemeinsam eine symmetrische Spiegelstruktur. Pasternak zitiert den ersten Vierzeiler der Stanzen vollständig und hebt damit (durch Konversion) die von Vjac. Ivanov verwirklichte Abkürzungstransformation
di~ser
Strophe auf. Aber gleichzeitig negiert Pasternak die Puskinsche Gegenüberstellung 'Dichter' vs.
'Pöbel' und reproduziert damit die
Thematik, die in den Artikeln von Vjac. Ivanov entwickelt wurde. Pasternak betrachtet verschiedene Werke von Vjac. Ivanov als ein einheitliches semantisches Ensemble ohne Rücksicht darauf, ob es kUnstlerische Texte oder kritische Metatexte sind. 2.0. Im Gedicht Dep Gapten Gethsemane, mit dem der Roman Doktor !ivago schließt, treten zugleich mehrere Doppel-
zitate zu einem komplexen Intertextualitätssystem zusammen. Einerseits folgt Pasternak wörtlich oder paraphrasierend den neutestamentlichen Texten (Röhling 1963:390 ff., Bodin 1976:116 ff.), andererseits trägt er spätere literarische Interpretationen der Gethsemane-Situation ins Gedicht hinein. 2.1. Eine der Interpretationen, auf die Pasternak hinweist
- 280 -
(Rilkes Der Olbaum-Garten) , wurde ausführlich von H. Röhling (1963:390 ff.)
und P.A.Bodin (1976:116 ff.) analysiert. Unter
den Textparallelen, die die beiden Forscher feststellten, ist zumindest eine unumstößlich: ganz deutlich greift Pasternak von Rilke das Motiv der kosmischen Gleichgültigkeit gegenüber Christus auf. Vgl.: Ach es kam die Nacht / und blätterte gleichgültig in den Bäumen. (Rilke 1955:493) Mercan'em zvezd dalekich bezrazli~no Byl povorot dorogi ozaren. (Pasternak 1959:632 ff.) (Vom Flimmern der fernen Sterne war / Gleichgültig die Kurve des Wegs bestrahlt.) Es ist jedoch Röhlings und Bodins Aufmerksamkeit entgangen, daß Pasternak nach Rilkes Sinnmuster nicht nur die fehlende Kongruenz zwischen den diskontinuierlichen Phänomenen (Christus und das Weltall'), sondern auch eine Ubereinstimmun~ der kontinuierlichen Gegenstände (Christus und sein irdisches Milieu) beschreibt. Während Rilke die Ähnlichkeit zwischen der Farbe des Laubes und der Gesichtsfarbe des Helden unterstreicht, Er ging hinauf unter dem grauen Laub / ganz grau und aufgelöst im ölgelände / und legte seine Stirne voller Staub / tief in das Staubigsein der heissen Hände ahmen die ölbäume in Pasternaks Gedicht die Bewegung des Subjekts bergauf zu Gottvater nach: Sedye serebristye masliny pytalis' vdal' po vozduchu sagnut' (Graue silbrige ölbäume / Versuchten in die Ferne durch die Luft zu schreiten.) Nur auf der Grundlage dieser thematisch- darstellerischen Verwandtschaft können wir mit Recht das eindeutige Epitheton sedye ('graues Haar') bei Pasternak vom unauflösbar zweideutigen Wort grau bei Rilke (zugleich 'grauer Staub' und vielleicht 'graues Haar') herleiten. 2.2. Daneben macht Pasternak Gebrauch von Minskijs Gedicht Gefsemanskaja noo' (Die Nacht Von Gethsemane, 1885), aus dem er
wie auch aus Rilkes Text nicht ein einzelnes Motiv sondern zwei in Opposition zueinander stehende und hiermit dechiffrierbar aufeinander bezogene Sem-Komplexe übernimmt. Der Weltraum, von dem
- 281 -
Christus entfremdet ist, erhielt im Verstext Minskijs (1907:3-18) den Anschein von schweigenden und leblosen Siedlungen: DUSd skorbela v nem smertel'no, S cela katilsja pot krovavoju struej [ .•. ] I vsja vselennaja v te gor'kie mgnoven'ja Nedvizno zarnerla, molcala i zdala .•. I tarn, na nebesach, v selen'jach zizni gornej, Nastalo carstvo tisiny. (Die Seele war betrübt in ihm bis an den Tod, Von der Stirne rann der Schweiß wie ein Blutstrom [ ... ] Und das ganze Weltall erstarb bewegungslos In jenen bitteren Augenblicken, schwieg und wartete ... Und dort, im Himmel, in Siedlungen des hohen Lebens Brach das Reich der Stille an~) Vor dem Hintergrund der gleichen neutestamentlichen Anleihe (Schweiß wie Blutstropfen,Lk. 22, 44) verstärkt Pasternak das Motiv des leblosen kosmischen Raums, indem er das Weltall als verheertes Land bezeichnet, in dem Christus bloß im Garten von Gethsemane ein Obdach finden kann. Mit anderen Worten gestaltet Pasternak das überlieferte Weltbild so um, daß der Kosmos die Eigenschaft der Bewohnbarkeit vollständig verliert, dieses Merkmal aber auf einen exklusiven Punkt der Erde übertragen wird: Nocnaja dal' teper' kazalas' kraem Unictozen'ja i nebytija. Prostor vselennoj byl neobitaem, I tol'ko sad byl mestom dlja zit'ja. I gljadja v eti cernye provaly, Pustye bez nacala i konca, ctob eta casa smerti minovala, V po tu krovavom on molilOtca. (Die nächtliche Ferne schien jetzt, als ob sie ein Land Der Vernichtung und des Nichtseins wäre. Die Weite des Weltalls war unbesiedelt Und nur der Garten war ein Ort für das Leben. Und schauend in diese schwarzen Einbruchstellen, Die ohne Anfang und ohne Ende leer waren, Darum, daß dieser Todeskelch vorüberginge, Flehte er im Blutschweiß den Vater an.) Im weiteren zitiert Pasternak ohne erhebliche Abweichungen die Schluß strophe des Gedichts von Minskij, in der die Gefangennahme Christi geschildert wird:
-
282 -
Mel'knuli fakely v kustach, Snop sveta vyrvalsja ottuda. I vot - s ulybkoj na ustach Iz mraka kradetsja Iuda •.. (Fackeln blitzen in den Sträuchern auf, Das Bündel des Lichts brach von dort hervor. Und jetzt - mit einem Lächeln auf den Lippen Schleicht Judas aus der Finsternis herbei~) Daß Pasternaks Text nicht nur die neutestamentliche Erzählung von der Gefangennahme wiedergibt sondern auch Minskijs Nacherzählung absorbiert, unterliegt keinem Zweifel, da die gleichen Wörter (na ustach, Iuda) in den beiden Gedichten die Reimstellen besetzen und dabei auch die Reime zu Iuda (ottuda
~
otkuda) ver-
gleichbar sind: I li5' skazal, nevedomo otkuda Tolpa rabov i skopisee brodjag, Ogni, meei i vperedi - Iuda S predatel'skim lobzan'em na ustach. (Und als er noch redete, da kam, unbekannt woher, Eine Schar der Knechte und eine Rotte der Vagabunden, Die Feuer, Schwerter und vorn - Judas Mit dem verräterischen Kuß auf den Lippen.) Die zweite Periphrasierung des Textes von Minskij stellt der himmlischen Unbewohntheit die irdische Aggressivität gegenüber; sowohl bei Minskij als auch bei Pasternak werden die Gegenpole dieser Kontradiktion ergänzt durch die kontrasthaften Merkmale '(kosmische) Dunkelheit' vs.
'Licht(in menschlichen Händen)'
aufeinander bezogen. Vergleichen wir jetzt die Zitattechnik, mit deren Hilfe Pasternak die intertextuellen Parallelen zu den Werken von Rilke u,nd Minskij zog, so wird klar, daß er in beiden Fällen eine Intensivierung der aufgegriffenen
semantischen Merk-
male unternahm (so wird das für einige Zeit leblose Weltall zum Land des Nichtseins und dazu homogen wird die Farbähnlichkeit zwischen dem Menschengesicht und den ölbäumen zu einer intensiveren Similarität aufgrund der Bewegungsweise verwandelt). Wahrscheinlich ist es nicht zufällig, daß Pasternak beide Male die Amplifikationsmotive der sekundären Prototexte dafür gebraucht, um eine hinsichtlich des Handlungssubjekts äußerliche Realität zu konstruieren, während unmittelbare bzw. von späteren Beimischungen gereinigte Evangelienzitate ihm dazu dienen, den Zustand
- 283 -
oder Worte von Christus wiederzugeben. 2.3. Die verallgemeinerte Deutung des ölberg-Mythos, die im vierten Verszeiler des Gedichts von Pasternak enthalten ist, folgt v~rmut~ich dem Werk Rozanovs Opavsie List'ja (AbgefaLLene BLätter). Rozanov (1913:447) interpretierte den ölberg-Mythos als absichtsvolle Selbstaufopferung Jesu, die jedem Menschen die Todeserwartung erleichtern sollte: Smysl Christa ne zakljueaetsja li v Gefsiman~i i kreste? T.e. eto On - soboju dal obrazec eeloveeeskogo stradanija [ ... ] Esli.tak: i on prisel utesit' v stradanii, kotorogo obojti nevozmo~no, pobedi~' nevozmo~no, i pre~de vsego v etom u~asnom stradanii smerti i ee priblizenijach ... (Besteht nicht der Sinn von Christus eben in Gethsemane und im Kreuz? D.h. er gab selbst ein Vorbild des menschlichen Leidens [ ... ] Wenn das so ist: auch er ging, um im Leiden, das man nicht umgehen, das man nicht besiegen kann,· und vor allem in diesem schrecklichen Leiden am Tod und an dessen Herannahen zu trösten ..• ) Pasternak spricht von Christus als Tröster mit keinem Wort: On otkazalsja bez protivoborstva, Kak ot veseej, polueennych v zajmy, Ot vsemoguscestva i cudotvorstva, I byl teper', kak smertnye, kak my. (Er Als Auf Und
verzichtete, ohne Widerstand zu leisten, ob es entliehene Dinge wären, Allmacht und Wundertätigkeit, er war nun wie Sterbliche, wie wir.)
Aber bei Pasternak bringt Christus sich selbst ebenso wie bei Rozanov zum Opfer, um mit allen Sterblichen auf der gleichen Stufe zu stehen. Ihm ist es nicht bestimmt, die Erbsünde zu büßen, wie es die kanonische Auslegung hervorhebt, sondern keine Wunder zu tun und sich durch die Todesangst mit allen Todgeweihten zu
solidarisieren~
Wenn wir annehmen, daß Pasternaks
Text mit der Prosa von Rozanov interferiert, dann müssen zwei Unterschiede dieser Reminiszenz zu den bereits herausgestellten betont werden. Erstens berichtet Pasternak in diesem Textabschnitt vom innerlichen Zustand Christi, obgleich er sich dabei auf den Amplifikationstext stützt. Allerdings explizierter hier den auktorialen Standpunkt, von dem 'aus das Psychogramm erstellt wird (er war
[ ... ] wie wir ). Die Reflexion auf den Text Rozanovs unterscheidet
-
284 -
sich also von den übrigen Verweisen auf nicht kanonische Motive der sekundären Prototexte nur als eine den äußeren Standpunkt vertretende Beschreibung von den Beschreibungen des Äußerlichen, weswegen diese Reflexion nicht einen fakultativen Fall, sondern eine Variation der allgemeinen Regel darstellt. Zweitens bricht Pasternak auf den ersten Blick sein Prinzip, nach dem jedes sekundäre Zitat aus zwei aufeinander abgebildeten Sinnmengen bestehen soll. Aber diese Abweichung von der regulären Zitierweise ist ebenfalls nur eine veränderte Form der strukturgenerierenden Regel. Bei der näheren Analyse findet sich die zweite Reminiszenz an Rozanovs Prosa im späteren Gedicht von Pasternak (1965:463) No;' (Die Nacht): Ne spi, ne spi, rabotaj, Ne preryvaj truda, Ne spi, boris' s dremotoj, Kak letcik, kak zvezda . . Ne spi, ne spi, chudoznik, Ne predavajsja snu. Ty vecnosti zaloznik U vremeni v plenu. (Schlaf nicht, schlaf nicht, schaffe, Unterbrich die Arbeit nicht, Schlaf nicht, kämpf mit der Schläfrigkeit Wie ein Flieger, wie ein Stern. Schlaf nicht, schlaf nicht, Künstler, Uberlaß dich nicht dem Schlaf. Du bist eine Geisel der Ewigkeit In der Gefangenschaft der Zeit~)
Die Nacht entwickelt das schon in Pasternaks ölberg-Gedicht realisierte Thema der in Schlaf gesunkenen Jünger Jesu (Bodin 1976:320) : Smjagciv molitvoj smertnuju istomu, On vysel za ogradu. Na zemle Uceniki, osilennye dremoj, Valjalis' v pridoroznom kovyle. (Mildernd durch ein Gebet seine Todespein Ging er hinter der Umzäunung hervor. Die Jünger, Die von der Schläfrigkeit überwältigt waren, Wälzten sich untätig auf dem Erdboden im Steppengras am Weg.) Die semantischen Strukturen der vorliegenden Textsegmente beruhen ebenfalls auf der Opposition 'oben' ("Flieger", "Stern" bzw. den
- 285 -
Berg ersteigender Christus) vs.
lunten l ("Künstler" bzw. die Jün-
ger auf dem Erdboden), dabei wird gleichermaßen der erste Gegenpol mit dem Wachen und der zweite mit der Schläfrigkeit oder deren Möglichkeit assoziiert. Parallel mit der Autoallusion, die eine Äquivalenz zwischen Künstlern und Aposteln (nach dem Sinnmuster von Majakovskij) impliziert, greift Pasternak in der Nacht auf die erneut aktualisierten Abg"efaHenen Blätter zurück, aus denen er die metaphorische Auffassung der Zeit (im Gegensatz zur Ewigkeit) als einer Unfreiheit übernommen hat; vgl. den Text Rozanovs (1913:320): Uzasna imenno kategorija vremeni; uzasna eta svjaz l s vremenem. ~elovek vremenen. Kto mozet perenest l etu mysli ... U, kak ja cho~u ve~nogo. "Rab vremeni", tysja~eletija ili minuty vse ravno. U, kak ja ne cho~u etogo "raba vremeni". (Schrecklich ist gerade die Kategorie der Zeit; schrecklich ist diese Verbindung mit der Zeit. Der Mensch ist zeitlich. Wer kann diesen Gedanken ertragen ... Oh, wie will ich das Ewige. "Der Sklave der Zeit", des Jahrhunderts oder einer Minute - das ist gleich. Oh, wie will ich nicht diesen "Sklaven der Zeit".) Der Sem-Komplex der besiegenden bzw. zu besiegenden Schläfrigkeit
(osilennye dremoj - boris' s dremotoj) bringt die beiden in zwei verschiedenen Gedichten Pasternaks eingeschlossenen Zitate aus den Abgefallenen Blättern in einen operationalen Zusammenhang. Die Elemente der Menge {Gott, Mensch} sind einander so zugeordnet, daß sie ihre Kennzeichen vertauschen: Christus als Träger Ides Ewigen wird zum sterblichen Lebewesen; der Mensch (Künstler, Jünger), der die Verkörperung des Zeitlichen ist, darf "nicht schlafen", d.h.
er soll Christus nachahmen. Insgesamt berech-
tigt uns die letzte Analyse davon zu sprechen, daß Pasternaks Werke nicht nur auf der Textebene, sondern auch auf der Subtextebene ein ununterbrochenes (d.h. metonymisches) Ensemble bilden. 3.1. Es fragt sich nun, wieweit die Technik der
Doppelinter~
textualität vom Bezugssystem der nachsymbolistischen künstlerischen Kultur abhängt. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die besondere Position Pasternaks im Rahmen der Avantgarde berücksichtigen. 1928 erklärte Pasternak in einem Brief an Mejerchol'd (1976: 279) :
- 286 -
..• tol'ko takoj futurizm, futurizm s rodoslovnoj ja i ponimaju. ( ... nur einen solchen Futurismus, einen Futurismus mit Stammbaum verstehe ich wirklich. ) Unter diesem Aspekt lassen sich die zweistufigen Zitate bei Pasternak als eine intertextuelle Realisierung der für den Futurismus gültigen Prinzipien betrachten. Das Zitatpalimpsest ist eine Transformation der futuristischen Einstellung auf das "Wort als solches". Die abstrakte Voraussetzung dieses in zahlreichen avantgardistischen ManIfesten wiederholten Slogans bestand darin, daß die Wortkunst der Avantgarde das Zeichenuniversum in ein sen t a t i v e s
seI b s t r e prä -
(von der referentiellen welt unabhängiges) Ge-
bilde verwandeln wollte. Ohne Ubertreibung könnte man die totale Selbstrepräsentativität des Worts bzw. des Textes in
~hren
verschie-
denartigen individuellen Versionen als eine die diachronische Originalität des futuristischen Kunstsystems bestimmende Dominanzbeziehung begreifen. In der Poesie Pasternaks wird die systemregelnde Relation zur referentiellen Welt auf die Welt der Prototexte projiziert. Das Zitatzitat (Terminus von Renate Lachmann) stellt das Zitat als solches dar. Pasternak verweist nicht auf einen älteren Text, sondern auf einen Intertext. An Stelle einer Textquelle repräsentiert ein derartiges Zitat sich selbst, demonstriert den Prozeß des Zitierens und wird zum "fremden" Wort als solchem. Anders gesagt hat Pasternak die systemgenerierende Relation des Zeichens zum Referenten in eine Metarelation des Zeichens zum "fremden" Zeichen transformiert. Das selbstrepräsentative zitat konnte in der Wortkunst der russischen Futuristen auch viele andere Realisierungsformen annehmen. Man denke z.B. an die avantgardistische Technik der Collage, die voraussetzt, daß "fremde" Zeichen zum Hauptthema des Textes werden. Das Zitatzitat bei Pasternak unterscheidet sich aber von den übrigen futuristischen Typen des selbstrepräsentativen Zitats dadurch, daß hier eine intertextuelle Relation als objektiv existierende und dem Dichter bereits zur Verfügung stehende Eigenschaft der vorliegenden Literatur aufgedeckt wird. In diesem Sinne ist die Poesie Pasternaks eine der künstlerischen Präfigurationen von modernen wissenschaftlichen Ansätzen zu Intertextualitätsbeziehungen. 3.2. Die Beispiele zeigen, daß die selbsJtrepräsentativen Zitate in den Werken Pasternaks dort in Erscheinung treten, wo es sich um
- 287 -
relativ gleichartige Gegenstände handelt. All diese Phänomene besitzen ein Kennzeichen, durch das sie mit der Zukunft verbunden sind (1.1. das Land des kommenden Sozialismus; 1.2. die beginnende Epoche des Guten; 2. Christus an der Schwelle seines über alle Zeiten sich erstreckenden Ruhmes). Aufgrund dieses semantischen Inhalts unterscheiden sich die Pasternakschen Doppelzitate von den sogenannten "polygenetischen" (Iirmunskij 1964:77 f., Mine 1973: 402 ff.)
Zitaten bei Blok und anderen Symbolisten. Bekanntlich wa-
ren "polygenetische" Zitate semantisch so aufgeladen, daß diese Zitattechnik mit der Idee der wiederkehrenden historischen Ereignisse korrespondierte. So war z.B. die Schlacht zwischen dem 'russischen und dem tatarischen Heer 1380 für Blok (1960:587) ein Ereignis,
dem wiederzukehren bestim~t ist (Takim sobytijam suideno ~ozvra;~a~ sja); dementsprechend zitierte er im Verszyklus Na pole Kulikovom (Auf dem Felde Von Kulikovo) sowohl altrussische Chroniken als auch spätere literarische Gestaltungen der Schlacht (vgl. dazu Levinton/ Smirnov 1979:73 ff.).
In der symbolistischen Poesie dienten Hinwei-
se auf ei~ im Laufe der Literaturgeschichte wiederbolt gebrauchtes Motiv dazu, die Sozialgeschichte als ein Geschehnisparadigma zu behandeln. Das Zitatzitat bei Pasternak verliert diese semantische Motivierung. Im Vers zyklus Wellen konstatiert Pasternak den Abbruch des geschichtlichen Wiederholungsvorgangs. Im "politischen" Gedicht
Mehr als ein Jahrhundert - kein Gestern ... deutet er darauf hin; daß die in der literarischen Tradition verankerten Erwartungen einer besseren Zeit noch nicht in Erfüllung gegangen sind; als Zeit der echten Hoffnungen bezeichnet Pasternak hier nur die eigene Epoche. Schließlich interpretiert er die Gethsemane-Situation als nicht mehr wiederholbares Ereignis der menschlichen Geschichte; diese Episode ist kein Ausgangspunkt für weitere Reinkarnationen Christi; vielmehr muß jeder Sterbliche angesichts des Todes aus seiner Gegenwart zu Jesus am ölberg zurückkehren - vgl. die Schlußworte Christi in Pasternaks Gedicht: ko mne [ ... J Stolet'ja poplyvut iz temnoty. ( .. auf mich[ ... J Werden Jahrhunderte aus der Dunkelheit zuschwimmen.) Es liegt jetzt auf der Hand, daß Pasternak den semantischen Inhalt' der symbolistischen Zitatzitattechnik umkehrt. Damit büßt dieses
- 288 -
Verfahren die ihm entsprechende Sinnfunktion ein. Das Zitatzitat wird zur
e n t m
0
t i v i e r t e n
Form und gestaltet sich ins
selbstrepräsentative Zitat um. Von diesem Standpunkt aus ist es kein Zufall, daß in der Rolle der sekundären Prototexte bei Pasternak entweder präsymbolistische (VI. Solov'ev, Minskij) oder symbolistische (Vjac. Ivanov, Rilke, Rozanov) Werke auftreten. 3.3. Text-Text-Relationen können wohl zwei grundsätzlich unterschiedene Formen haben. Erstens kann ein Zitat indizieren, daß die Sinninformation des Textes zumindest teilweise in einem Prototext gespeichert ist. Eine im Prototext ausgeführte Sinnoperation wird in diesem (besonders häufig untersuchten und konzeptualisierten) Falle dem neuen Text vorgegeben. Bedeutungen des neuen Textes (bzw. dessen Segments) bilden eine Teilmenge der Prototextbedeutungen. Zweitens kann ein Prototext als Spielraum, in dem Sinnoperationen ausgeführt werden, dienen. In dieser intertextuellen Situation werden semantische Operationen dem Prototext vom neuen Text vorgegeben, so daß die Sinninformation eines früheren Textes (bzw. dessen Abschnittes) im folgenden Kunstwerk gespeichert wird. Die erste Zitierweise läßt sich als k
0
i n d i z i e ren des
n s t r u i e ren des
Z i tat
und die zweite als
bezeichnen. Die Entdeckung
des indizierenden Zitats transformiert den unmittelbaren Sinn des jüngeren Textes (bzw. des jüngeren und des älteren Textes gleichzeitig). Wenn das konstruierende Zitat zutage tritt, dann wird die unmittelbare Sinnperzeption des älteren (bzw. des älteren und des jüngeren Textes) verändert. Die zitierten Zitate bei Pasternak gehören sicher zu der letztgenannten Intertextualitätsgrundform, selbst wenn sie eine besondere Variante dieser Kategorie darstellen. Deren Besonderheit liegt darin, daß die an der Operation beteiligten Elemente nicht auf eine weitere (außer- bzw. innertextuelle) Menge verweisen, sondern aufeinander abgebildet werden. Mit anderen Worten werden die Intertexte, die den Verswerken Pasternaks zugrundeliegen, unterschiedlich umkonstruiert, indem die zergliederten bzw. zu zergliedernden Intertextteile in einen neuen Zusammenhang als Einheiten der Implikation, der Disjunktion, der Spiegelstruktur usw. zueinander gebracht werden. Dadurch bilden die einander zugeordneten Teile des Zitatzitats eine abgeschlossene, immanent organisierte Sinnmenge. Die Perzeption und die Interpretation des zitatzitats setzt eine Rekonstruktion der sinnbildenden Operationen voraus. Da-
- 289 -
her besteht der Sinn des Zitatzitats in der operationalen Form, die es erhält. Das selbstrepräsentative Zitat bei Pasternak ist eine entmotivierte Form, deren Bedeutung sich auf die Generierung dieser Form reduziert. Um es mit den Worten Pasternaks (1958:67) selbst zu sagen: Das klarste, denkwürdigste und wichtigste Ereignis in der Kunst ist ihre Entstehung, und die größten Kunstwerke der Welt, die von den mannigfachsten Dingen künden, beschreiben in Wirklichkeit ihre eigene Geburt.
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Aage A. HANSEN-LÖVE
INTERMEDIALITÄT UND INTERTEXTUALITÄT, Probleme der Korrelation von Wort-und Bildkunst Am Beispiel der russischen Moderne*
My ~hotim, ~toby sZovo smeZo posZo za iivopis'ju. (V.Chlebnikov)
1. DAS SYSTEM DER KUNSTFORMEN IN DER RUSSISCHEN MODERNE 1.1. HIERARCHIE DER KUNSTFORMEN IM SYMBOLISMUS Zweifellos ist das System der Kunstformen 1 (d.h. der künstlerischen Medien) längerfristigen Veränderungen unterworfen als das System der Gattungen (Genres) innerhalb
ein e r
Kunst-
form, die ihrerseits wieder (so im Falle der Literatur) aus epochenübergreifenden konstitutiven Grundgattungen (Lyrik, Epik, Dramatik u.a.) sowie aus periodenspezifischen konstruktiven Genretypen (Montageprosa, short story, vers libre u.a.) besteht. Aus der Sicht des Gesamtsystems der kulturellen Prozesse ist das System der Kunstformen jenem der kunstformspezifischen Gattungen hierarchisch übergeordnet, sodaß eine
i n t e r m e dia I e
Beziehung zwischen Gattungen (bzw. Einzeltexten) verschiedener Kunstformen nicht aus einer unmittelbaren kausal-genetischen Relation zwischen ihnen abgeleitet werden sollte, sondern nur über die Vermittlung des (jeweils herrschenden) Systems der intermedialen Korrelationen. Das gemeinsame Auftreten von heterogenen Kunstformen im Rahmen
ein e s
integralen Mediums (Theater, Oper, Film, Perfor-
mance etc.) bzw. einer
m u I tim e dia I e n
Präsentation
schafft ganz andere intertextuelle Bedingungen und gattungstypologische Korrelationen
als der Fall einer
mon
0
m e dia -
* Verwendete Abkürzungen: WK, WT BK, BT
=
Wortkunst, Worttext Bildkunst, Bildtext
EK EB
Erzählkunst Erzählbild
-
I e n
292 -
Kommunikation ('l'afelbild, Stummfilm, literarischer Text
u.a.).2
Die multimedialen Typen der Präsentation registrieren
allgemein Dominantenverschiebungen im System der Kunstformen weitaus offenkundiger als die monomedialen, wo durch die spezifische Bindung des jeweiligen Mediums an entweder primä.r räumliche
oder aber primär zeitliche Vermittlungsbedingungen der
Integration heterogener Medien konstitutiv Grenzen gesetzt sind. 3 Die Vorliebe des symbOlismus (gemeint ist hier jener der russischen Moderne) für die S i m u I a t ion
Sub s t i t u t i o n oder eher
einer Kunstform durch die andere(n)
(Poe-
sie als Musik und umgekehrt, Lautmalerei, synästhetische Präsentationen etc.) barg die Gefahr einer Verschleierung der medialen und konstruktiven Autonomie der Kunstformen in sich. Eben dieses Bewußtsein der Autonomie und Spezifik des jeweiligen Mediums und auch Genres (ausgedrückt in der russischen Avantgarde mit dem formalistischen Terminus "Gattungsempfindung"
[oseuscenie zanraJ)4
bildet die Grundlage und Hauptmotivation
für die Neuordnung des Systems der Kunstformen in der nachsym5 bolistischen Avantgarde. Die Reflexion der medien- und gattungsspezifischen Voraussetzungen konstitutiver und konstruktiver Art war in der nachsymbolistischen Avantgarde eher
a n a I y t i s c h
ausge-
richtet, wogegen die symbolistische Kunsttheorie (und -praxis) geradezu manisch nach einer "Vereinheitlichung" und
S y n -
nicht nur der Medien und Gattungen, sondern auch der 6 Texte selbst strebte. Auf den symbolistischen ·S y n k r e t h e s e
t i s mus
(nicht nur in der Auffassung der Kunstformen, son-
dern auch im Bereich der Ikonographie, der Denk- und Bewußtseinsformen sowie überhaupt der historisch-kulturellen Pluralität) folgte in der Avantgarde ein ausgeprägter D i s k r e )t i s mus ,7
der sich auf die sensuellen und wahrnehmungs-
theoretischen Bedingungen der jeweiligen Medien stützte. Die konstruktiv-methodische
Pro j e k t ion
der medienspezi-
fischen Verfahren einer Kunstform bzw. Gattung in eine andere, heterogene dient in der Avantgarde (v.a. in ihrer "analytiochen" 8 Frühphase) der Reflexion und Intensivierung des Empfindens der jeweiligen Medien- und Gattungsspezifik (ihrer medialen "Differenzqualität") . Die im Symbolismus
met a p h
0
-
-
r i s c h
293 -
verstandene Einheit der Kunstformen wurde abgelöst
durch die Konzeption einer
met
0
n y m i s ~ h e n 9
riation struktureller Prinzipien (oder a I I e
Va-
die für
Kunstformen als universell und fundamental angesehen
wurden. Während der Symbolismus beim ren
"Verfahren"~,
T r ans zen die -
von Grenzen (zwischen den"Medien, den Gattungen, seman-
tischen Paradigmata, Wirklichkeitsbereichen, Institutionen, Methoden, Text-Rahmen etc.) mehr oder weniger ernsthaft an deren
Auf heb u n g
und die tatsächliche Vereinigung der
ursprtinglich abgegrenzten Ordnungen glaubt, fungiert dieses Transzendieren von Grenzen in der Avantgarde (etwa jener zwischen Kunst und Nicht-Kunst, praktischer und poetischer Sprache, Bild und Wort etc.) als dialektische Bestätigung dieser Grenzen, als Affirmation der Autonomie der jeweiligen Ordnungen. Der Akt der GrenzUberschreitung war hier auch nicht als "Einbahn" gedacht (oder gar als "Uberwindung" einer Ordnung durch eine andere), sondern in beide Richtungen als wechselseitige "Erhel10 lung" der Medien- und Wirklichkeitsausschnitte. Das gegen den klassischen Gattungskanon gerichtete Prinzip der E n t g r e n z u n g in der romantischen und auch symbolistischen Ästhetik wurde in der Avantgarde zu einem Mittel der medialen Selbstreflexion funktionalisiert. Während gerade im mythopoetischen Symbolismus 11 die Qualität einer Kunstform aus ihrer ontologischen bzw. kosmologischen Funktion abgeleitet wurde, die den Kunsttext und auch seine mediale Bindung zum mikrokosmischen Abbild der makrokosmischen Ordnung erklärt, konzentriert sich das Kunstdenken der Avantgarde jeweils auf die Peripherie von Ordnungen, auf die Differenz und den Kontrast z w i s c h e n Elementen, Segmenten, Flächen, Paradigmata, Texten, Gattungen, Medien. Diese für eine negativ-ästhetisch orientierte Kunstauffassung typische Einstellung auf Differenzqualitäten, Kontrast- und Verfremdungseffekte sowie allgemein auf Begrenzungssysteme findet ihren sichtbarsten Ausdruck in der für die gesamte Wort- und Bildavantgarde typische Montagetechnik. 12 Eine metaphorische Auffassung des Verhältnisses der Medien untereinander setzt eine
ver t i kaI e
Hierarchie der
Seins- und Kunstformen (bzw. Wirklichkeitsmodelle) voraus
(wie
im Symbolismus), wogegen ein metonymisches Verhältnis jedem Medium prinzipiell den gleichen Kultur- und Erkenntniswert zugesteht, nichtsdestoweniger aber die strukturellen und konstitutiven Unterschiede der Erkenntnisart, der Denkstrukturen und
-
294 -
der konstruktiven bzw. semiotischen. Prozesse (werkimmanent oder extern) reflektiert und thematisiert. Grundsätzlich kann man feststellen, daß die Korrelation der Kunstformen in der Avantgarde
(vornehm~ich
l o g s e t zen
zwischen Wort- und Bildkunst) im
H
0
m
0
-
von Strukturen und Verfahren besteht, die
auf konstruktive Prinzipien zurückweisen, deren universelle Gültigkeit ~nabhängig von den jeweiligen historischen Kulturen) postuliert wird. 13 In der symbolistischen Kunstphilosophie (nicht so sehr der Praxis) nimmt zweifellos die Mus i k den Spitzenplatz in der Hierarchie der Kunstformen ein. 14 Musik steht hier als Synonym für "absolute Kunst" im Sinne des harmonikalen Kosmismus der Pythagoreer und der neoplatonischen, idealistischen Ästhetik (erneuert in den Konzeptionen Schopenhauers, Nietzsches, und in Rußland v.a. durch Vj.lvanov, A.Belyj, A.Blok u.a.). So wird die Musik zum Modell für einen weit gefaßten Symbolbegriff, da sie gleichzeitig im höchsten Maße a b s t r a k t ist, was ihre St+uktur (Komposition, Kombinatorik) anlangt und sinnlich k 0 n k r e t , was ihre prosodischrhythmische Realisierung (Performanz) betrifft. Gerade das offensichtliche Fehlen eines verbindlichen, kodifizierten ikonographischen bzw. semantischen paradigmatischen Systems in der Musik und der daraus resultierende Eindruck dßr "Ungegenständlichkeit" (bespredmetnost') ihrer Sprache, sollte als Vorbild für eine vergleichbare poetische Sprache dienen, deren Signans-Struktur - ohne von der lexikalischen Semantik determiniert zu werden selbst Aus d r u c k s wer t und "Inhaltlichkeit" erlangt (A.Belyjs Postulat der "Inhaltlichkeit der Form", soderzateZ'nost' formy). 15 Die in der Avantgarde dann noch konsequenter betriebene "Entlexikalisierung" der poetischen Sprache und die Reduktion der (de-)kodierenden Aktivität auf die Ebene der Phoneme, Morpheme und allqerrein der Äquivalenzverfahren "unterhalb" der Satzund Wortebene hat in dem hier erwähnten Musik-Modell des Symbolismus ihren Ursprung.
1.2. INTERTEXTUALITÄT UND TEXTREALISIERUNG IM SYMBOLISMUS Der Zusammenhang schen der
und es muß einen solchen geben - zwi-
I n t e r tex t u a I i t ä t
innerhalb einer
bestimmten Kunstform (einer Periode, eines Gattungssystems, zwischen Epochen) und dem Typ der
i n t e r m e dia I e n
Kor-
relationen (des Systems der Kunstformen) einer Periode ist gerade für die kulturtypologische Beschreibung einer Epoche von größter Wichtigkeit. 16
Allgemein waren die russischen Symboli-
-
295 -
sten sehr darauf bedacht (und bekundeten dies auch in zahlreichen theoretischen Äußerungen), ihre eigenen Texte (etwa einzelne Gedichte)
zu Textgruppen zusammenzufassen (Gedichtsamm-
lungen, prosaisch-lyrische Text-Konglomerate etc.), ihre Einzelwerke zu einem "Lebenswerk" zu verklammern (signalisiert etwa durch ausgiebige Autozitate·bzw. Autoallusionen, Autoreminiszenzen), wodurch die
i
n tex tue I I e n
(bzw. in-
tratextuellen) Korrelationen äquivalent gesetzt wurden zu den i n t e r t e x.t u e I I e n ..
Es war nämlich ebenfalls -
wenn auch nicht in allen Schaffensphasen und Perioden im gleichen Maße - das Ziel der Symbolisten, zwiscpen eigenen Werken und fremden Werken
i
n n e r haI b
des Symbolismus
(einer
bestimmten Periode, z.B. innerhalb des artistischen, frUhen Symbolismus der 90er Jahre oder innerhalb des mythopoetischen . 17 Symbolismus des 1. Jahrzehnts unseres Jahrhunderts ) ein hochkompliziertes und vielfach verflochtenes Netz expliziter (zitathafter) oder impliziter (allusiver) BezUge herzustellen, was nicht zuletzt zu der von den Zeitgenossen als provokant empfundenen Einschränkung einer "uneingeweihten", naiven Dekodierung der
E i n ze I t e x t e
führte: Der jeweilige Gedichttext,
die Erzählung, das Romankapitel oder auch der halb theoretische, halb poetische Diskurs war ohne intertextuelle pet e n z
des Lesers
Kom-
(z.T. auch ohne die Kenntnis des jewei-
ligen Geflechts der "Lebenstexte" der Symbolisten - man denke an das Verhältnis Bloks, Belyjs und Brjusovs etwa um 1905-7) kaum adäquat lesbar. Freilich muß man zwei klar voneinander unterschiedene Typen der Intertextualität in den jeweiligen Symbolismusmodellen annehmen: Im Falle des artistischen Symbolismus ist der Einzeltext durch die wechselseitige Ubersetzung intertextueller BezUge gleichsam
s y n tag m a t i
s c h
er-
schließbar, d.h. er ist Bestandteil eines sehr kohärenten Textkorpus, in dem der Kode des Einzeltextes primär jenen der Gattung realisiert (dies gilt insbesonders für das ungewöhnlich einheitliche Paradigma der Symbolik bzw. Allegorik des FrUhsymbolismus) .18
Aus der Sicht des mythopoetischen Symbolismus ist
dieses Textkorpus nicht bloß das immanente System der Texte einer bestimmten Periode (die synchrone Gültigkeit eines best.immten Kodes), sondern es ist ein UR-TEXT, der achron vor-liegt,
-
296 -
aus dem sich alle Einzeltexte im Wege einer "Entfaltung" (raz-
ve'rtyvanie) entwickeln, der als
My t h
0
s
jenes Ausgangs-
paradigma enthält, das die einzelnen Texte jeweils realisieren und aktualisieren. In diesem Fall stehen die Texte zueinander in einem paradigmatischen Verhältnis" von einer
ver t i kaI e n
man könnte bildlich auch
Intertextualität sprechen, die
ich an anderer Stelle auch als Prinzip der (diachronen) Textrealisierung bezeichnet habe. 19 Ich kann hier nur einige Bemerkungen zur Konzeption der Textrealisierung beibringen, soweit sie für eine Diskussion der Probleme der Intertextualität nützlich erscheinen. "Realisierung" (ausgehend von. Jakobsons Begriff der reaZizacija als Entfaltung 20 einer semantischen Figur - etwa eines Kalaue:r&, einer Metapher oder Metonymie - zu einem parömiologischen Kurztext und dessen Entwicklung zu einem komplexen imaginativen oder narrativen Langtext) ist vom Typ der Semiose her betrachtet immer eine P r o j e k t i o n der Verknüpfung von Zeichen durch Primärakte auf der Ebene des un- und vorbewußten Sprechens, das den primären Ausgangsfiguren (von den archetypischen über die kulturellen, kollektiven zu den individuellen Symbolisierungen und Mythenbildungen) eine sekundäre Aktualisierung und interpretierende Konkretisierung zuteilt. Der s e k und ä r e Charakter dieser letztlich historisch-kulturell gebundenen Konkretisierung der Ausgangsfigur(en) im narrativen Sujet oder perspektivierten Diskurs würde aber - wenn er alleine dominierte die Transponierbarkeit des Textes in die Dekodierung unterschiedlicher Perioden und Epochen unmöglich machen, wohingegen gerade der universelle Charakter der Primärakte und Ausgangsfiguren diese Ubertragung und Tradierung garantiert. Uber diese achrone Funktion der Realisierung lagert sich aber auch eine d i a e h r 0 n e Funktion, die aus der Sicht des "Sprachdenkens" als ein genetisches "Hervorwachsen" eines TexteS aus dem jeweils als Ausgangsgenre geltenden anderen Text erscheint, Dabei spielt gerade der . evolutions immanente Prozeß der "Formalisierung" (d.h. einer defunktionalisierenden, deaktualisierenden, demotivierenden Reduktion bzw. Abstrahierung eines elaborierten, perspektivisch durchstilisierten Sujets zu einer "Primärgattung") eine entscheidende und richtungsweisende Rolle. Erst dadurch kann überhaupt ein (schon einmal komplex entwickelter) Text wieder zur Ausgangsfigur anderer Texte werden, daß er - über vielfältige Zwischenstufen der formalisierenden Tradierung (seines "Abschleifens" durch Nach- und Weitererzählen, durch parodierende oder epigonale Nachahmung, durch Umkodierung in andere Stile oder auch andere Medien) zu einer parömiologischen Kurzformel wieder e i n g e f a l t e t wird (svertyvanie) , die ihrerseits wieder den Ausgangspunkt für weitere Realisierungen bildet. 21 .
-
297 -
Eine solche durchaus genetische (und dem Sprachdenken angepaßte) Vorstellung von diachroner "Generierung" (als Hervorwachsen einer komplexen, "organischen" Ganzheit aus einem "Samen" bzw. dessen "Kode", Ausgangsprogramm) steht der (dem bewußten Denken und rationalen Modellieren zugeordneten) Auffassung der Diachronie als Kom m u n i k a t i o n und Umkodierung zwischen heterogenen Kultur- und Textsystemen gegenüber, die durch intertextuelle Thematisierung (Zitat) bzw. Indizierung (Allusion) auf einander bezogen sind. Nicht zufällig wird für diese kommunikations orientierte Auffassung der Text-Korrelation als Intertextualität die Metapher des Dia log s (zwischen Einzeltexten bzw. Textsegmenten) gewählt. Parallel zu diesem dialogisch-kommunikationsorientierten Typ der Text-Text-Bezüge sollte also auch der Realisierungstyp der TEXT-Text-Entfaltung (bzw. der Text-TEXT-Einfaltung) als diachroner Faktor berücksichtigt werden. Der mythopoetische Symbolismus (auch in seiner kunstphilosophischen Selbstinterpretation etwa bei A.Belyj oder Vj.lvanov) etabliert ein
p a r a d i g m a t i s c'h e s
Verhältnis der
Einzeltexte zu den jeweils dem URTEXT näherstehenden Ausgangstexten (der klassischen Mythologie, der slavischen
~olklore,
des Privatmythos der Symbolisten, des "Kulturmythos" , den ein bestimmter klassischer Text auch des 19. Jahrhunderts - etwa Puskins oder Gogol's - repräsentiert etc.). Diese Vorstellung einer vertikalen Ent- bzw. Einfaltung komplexer, amplifizierter Texte zu (bzw. aus) komprimierten, abstrakten Text-Kernen korrespondiert mit der oben erwähnten symbolistischen Vorstellung von Seinsschichten bzw. -sphären, die zueinander in einem metaphorischen (aus ästhetisch-künstlerischer Sicht) bzw. symbolischen Verhältnis (aus philosophisch-theologischer Sicht) stehen. Ebenso wie der artistische Frühsymbolismus orientiert sich das negativ-verfremdende Modell der Avantgardeästhetik (v.a. des Futurismus) am Prinzip der
s y n tag m a t i s ehe n
Intertextualität, ersetzt aber die für den Symbolismus charakteristischen 'i'lilusiven und zitathaften intertextuellen Bezüge durch eine Intertextualität auf der Ebene der poetischen Grammatik, der konstruktiven Verfahren und einer durchgehenden poetischen Semantik (man denke an die z.T. nicht mehr autorspezifische Semantik der "konkreten" Texte der russischen zaumniki) , die für den Großteil des futuristischen Text-Korpus (ebenso wie
- 298 -
die mit ihm gemeinsam auftretenden Bild-Korpora) verbindlich war. 1.3. ZUM VEru~ÄLTNIS VON WORT-UND BILDKUNST IN DER RUSSISCHEN AVANTGARDEKUNST Beide Kunstformen treten in der Periode der "historischen" Avantgarde (zumal der russischen) in ein ungewöhnlich inniges 22 wechselverhältnis auf allen Ebenen der Semiose (also im Bereich der Signans-Struktur ebenso wie in jenem der Semantik bzw. Ikonographie und den Prozessen
~er
Semiose/Desemiose in
der ästhetischen Pragmatik); man kann daher nicht nur von einer wechselseitigen
R e a I i sie run g
(hier im allgemeineren
Wortsinn) der jeweiligen medialen, konstruktiven und ikonographischen Strukturen sprechen, sondern auch von einer gemeinsamen Sprachregelung und Konzeptualisierung der theoretischen Reflexionen der Künstler bzw. Kunsttheoretiker der Avantgarde. Es gibt keine wesentliche programmatische Manifestation einer Schule, Gruppe oder Richtung der Avantgarde, in der die Wort- und Blldkunst nicht als einheitlicher Gegenstand der Theoretisierung figuriert hätte. Diese Gemeinsamkeit der WKund BK-Theoriebildung resultierte - im Gegensatz zur symbolistischen Ästhetik und Kunstphilosophie - aus der in der Kunstpraxis erprobten auf ihre
Red u k t i o n
fun d a m e n t a l e n
der jeweiligen Kunstform medialen, konstitutiven
und konstruktiv-technischen Voraussetzungen, sodaß die einzelnen Kunst- und Texttypen nur noch als
V a r i a n t e n
eines
ihnen übergeordneten, universellen Kunstmodells in Erscheinung treten. Die Einheitlichkeit des avantgardistischen Kunstmodells 23 Rolle der bildenden Kunst)
(geprägt durch die initiative
wahrte ihre Identität vor dem Hintergrund eines Gegenmodells, in dem die
r e f e ren t i e I I e
(mimetische und/oder
allegorisch-symbolische) Funktion der Bezeichnung dominierte: Dieses andere (aus der Sicht der Avantgarde traditionelle) Kunstmodell betrachtete Text wie Bild primär in ihrer prä sen t a t i v e n,
r e -
gegenstandsbezogenen, vermitteln-
den Funktion, wogegen in der Avantgardeästhetik die
prä-
-
sen t a t i v e n,
299 -
dinghaften, autonomen bzw. autoreferen24
tiellen Funktionen vorherrschten.
Ausgangsmodell der künstlerischen Aktualisierung für die (russische) Avantgarde ist nicht der UR-TEXT (wie für den mythopoetischen Symbolismus), sondern das
a r c h a i s c h e"
vor-
kulturelle und vor- bzw. unbewußte, unperspektivische Denken ("konkretes Denken", "Sprachdenken") , das vor dem Hintergrund des rezenten, kausal-empirischen, perspektivierten Bewußtseins ("perspektivisches Weltbild" der Renaissance und Neuzeit, "klassische" Werkästhetik) eine
a p e r s p e k t i v i s c h' e
Ordnung aufbaut, die archaische und rezente Denkstrukturen si25 multanisiert und wechselseitig verfremdet. Die aperspektivische Avantgarde in WK und BK bedient sich archaischer, mythisch-magischer Semioseforrnen und Denkstrukturen, durch die Kontiguitätsassoziationen (aufbauend auf der r ä u m 1 ich e n e i t ä t 26
Nachbarschaft bzw. der
S i m u 1 t a n
des Atiftretens von Phänomenen) eine, "pseudokau-
sale" bzw. imaginative Verknüpfung von Dingen und Bedeutungen determinieren. Diese Raumdominanz ist es auch, die das unperspektivische mit dem aperspektivischen Kuristdenken verbindet und die Grundlage für die Vorrangstellung der s t e
Rau m k ü n -
über die Verfahren und Konzeptionen der Zeitkilnste in
der Avantgarde bildet. Daher konnte auch die nicht-narrative, nicht-fiktionale, nicht-perspektivierte
W
0
r t k uns t 27
(jenseits der traditionellen Opposition Vers vs. Prosa) in eine direkte intersemiotische Beziehung zur
B i 1 d k uns t
tre-
ten (die gleichfalls unabhängig von einer fiktionsorientierten, perspektivierten, mimetisch-allegorischen Malerei bzw. Graphik gesehen wurde). Beide Kunstformen konvergierten i~ ihrer Tendenz zur
Ver r ä u m 1 i c h u n g ,
turistischen) WK zur
d.h. im
Fall~
S i m u 1 t a n i sie run g
der (fualler
Elemente des Textes zu einern "Textraum", in dem - unabhängig von der progressiven (De-)Kodierung der
s u k z e s s i v e n
syntagmatischen Sequenz - alle Elemente (auch regressiv bzw. richtungslos) auf alle benachbarten bzw. äquivalent gesetzten bezogen werden. Auf diese Weise wird - ebenso wie im Bildraum aus
der Dominantsetzung von Äquivalenzen auf der Ebene der
Signans-Struktur ("formale" bzw. konstruktive Parallelismen
-
300 -
u.a.) eine analoge "Raumsemantik" generiert, welche die referentielle Funktion der Phoneme, Morpheme als Bestandteile der Wortbildung und der Lexeme bzw. Lexemkombinationen als Bestandteile der Erzeugung von Textaussagen reduziert und in den
~in
tergrund rückt. Während der i mag i n a t i v e 28 Raum (der Wortund Bildkunst im hier verstandenen Sinn) Bedeutungsrelationen kodiert (bzw. konstruktiv einsetzt), vermittelt der f i k t i v e Raum den Eindruck "realer" topologischer Relationen, in die der Betrachter - ohne die Möglichkeit zusätzlicher semantischer Umkodierung und Symbolisierung so eintritt, daß der F 0 k u s der "Fluchtlinien" der im Text indizierten und thematisierten Chronotop-Merkmale mit seinem eigenen "Blickkegel" zusammenfällt, wodurch sich (aus der Sicht des "naiven Realismus") auf "natürliehe" Weise ein analoger Vorstellungsraum ergibt. Gerade die unreflektierte Auffassung der "Natürlichkeit" (Unvermitteltheit) der zentralperspektivischen Fiktionsmechanik wurde von Theoretikern und Künstlern der Moderne wissenschaftlich und bildnerisch grundlegend in Frage gestellt. Hierher gehört auch der gesamte Komplex der "Bedeutungsproportionalität", die in Konkurrenz zur mimetischen "Raumproportionalität" tritt und damit einen "semantischimaginativen" Bildraum in Opposition zu einem topographischen Geb~lde setzt. 29 . Im kubistischen Bild ist der (außerkünstlerische) Raum (die Dreidimensionalität) in die Zweidimensionalität der Bildfläche "übersetzt", wodurch "automatisch" die ursprüngliche räumliche "Befindlichkeit" eines Phänomens zur syntagmatischen Position in der Bildfläche transformiert wird (Zerlegung der Bildoberfläche in äquivalent gesetzte Bildsegmente) .39 Dabei wird die gegenständliche, d.h. referentielle Funktion der Bildelemente (Linien, Flächen, Farben jenseits ihrer f i g u r a t i v e n Merkmalhaftigkeit) überlagert durch die syntagmatische Äquivalenzerzeugung (Similarität bzw. Oppositivität von Linien, Farben,Segmenten, Richtungen, Material. qualitäten etc.), wodurch jene Bedeutungspotentiale aktualisiert werden, die vom konventionellen (ikonographischen) V 0 k abu 1 a r der Bildsprache höchstens als konnotative Eventualität überlagert - oder aber gänzlich verdrängt werden. V. Chlebnikovs "UR-SPRACHE" bzw. "Sternensprache " (prajazyk, vsetenskij jazyk) wertet die einzelnen Phoneme und Morpheme der verbalen Sprache analog zur räumlichen Verteilung der fundamentalen malerisch-graphischen Einheiten: Jedes sprachliche Element definiert sich nicht nur aus seiner Position in einem semantischen Paradigma, sondern auch aus seinem Stellenwert innerhalb einer (in kosmisch-universellen Dimensionen) gedachten Top 0 g r a p h i e . So erfaßt die kubofuturistische "Lautsemantik" sowohl die paradigmatischen Positionen der Einzellaute (/ml = "blaue Farbe" ~tc., 111 = "weißes Elfenbein" etc.) als auch Grund-
-
301 -
züge eines topologischen "Bewegungssystems", das die R e 1 a t i o n e n der Objekte im kosmisch-universalen Raum ordnet~ Dabei realisieren (für Chlebnikov) die Vokale die Raum-Zeit-Koordinaten (und darüber hinaus die Art der Bewegung des jeweils Bezeichneten) , während die Konsonanten eher die chromatischen, akustischen und olfaktorischen Qualitäten ins Textbild setzen. Ebenso wie die Anreihung der einzelnen. Bildzeichen bzw. bildsyntaktischen Segmente ohne Vermittlung über ikonographische "Lexik" lesbare Aussagen (wenn auch in einer eher offenen Form) ermöglichen, können die verbalen Zeichen (der kubofuturistischen Dichtersprache bzw. der Universalsprache Chlebnikovs) durch die Reihung der "Urwurzeln" (koT'neslovie) in seriellen Montagetexten auftreten l die das (topologische) System der Ur-Sprache in alle Richtungen gleichzeitig "sternförmig" ausdehnen, gleichsam "räumlich 11 ampli fi zieren. 31 Während im avantgardistischen KunsOmodell Text- und Bildraum, verbale und ikonische Semiose, simultane Assoziierbarkeit aller (äquivalent gesetzten) Textelemente nicht nur methodisch, sondern auch symbolisch ein "Feld '.' diskreter, diskontinuierlicher Einheiten
prä sen t
macht, stehen einander im mime32 tisch-allegorischen Kunstmodell (v.a. des 19. Jahrhunderts)
Wort- und Bildkunst polar gegenüber, wodurch überhaupt die Möglichkeit gegeben ist, daß ein Medium zur Metapher des anderen wird. In diesem Modell dominiert ganz allgemein die z e s s i v i t ä t male
für
S u k -
von Elementen bzw. Segmenten, die als Merk-
ein kausal-empirisches oder allegorisches ,Wirklich-
keitsmodell stehen, das alle Kulturbereiche (und Kunstformen) mit den Mitteln der der Referenz auf
n a r rat i v e n
k u 1 t ure 1 1 e
Hinblick auf eine solche
Perspektivierung und
Embleme operiert. Nur in
g e m e i n sam e
(nacherzählbare,
verbal resumierbare, metasprachlich verbalisierbare) Referenz
33
auf einen mimetisch-allegorischen Wirklichkeitsausschnitt können Wort- und Bildtext (Geschichte bzw. Roman und Gemälde, Novelle bzw. Anekdote und Graphik) in Beziehung zueinander treten. Wir haben hier die von der Avantgarde strikt abgelehnte und immer wieder perhorreszierte bzw.
N a r rat i v i sie run g
R h e tor i sie run g
aller nicht-verbalen Kunst-
formen vor uns: Fiktionalisierung der Bildkunst (Erzählbilder) einerseits und zentralperspektivische "Panoramisierung" der des k r i p t i v e n
Passagen der Erzähltexte ("Landschafts34
schilderungen", "Stilieben", "Idyllik" etc.) andererseits.
-
302 -
Die hier vorgeschlagene Gegenüberstellung von "Imagination" 35 und "Fiktion" ist mit der Opposition "Wortkunst " vs. "Erzählkunst" (bzw. perspekti vierter, stilisierter Diskurs) gekoppelt, wodurch die konventionelle Gegenüberstellung von "Lyrik" und "Prosa" ersetzt werden soll. "Imaginativ" meint hier jenen Typ des "Vorstellens", der vom un(ter)bewußten S p r a c h den k e n und den in ihm wirksamen Primärprozessen (Verdichtung, Verschiebung, Symbolisierung) bzw. Assoziationsregeln (Dominanz der simultanen "Raumsemantik" über die Sukzessivität der temporal-kausalen 'Sequenzen, ~er "Kontiguitätsassoziation" über die "Analogieassoziation" im Sinne Jakobsons) konstituiert wird. Das Imaginative der Wortkunst restituiert bewußtseinsgenetisch das archaisch-mythische Denken ebenso ("Remythologisierung" der rezenten Mythopoesie) wie die unbewußten Sprach- und Denkprozesse. "Fiktionales" Vorstellen ist dagegen mit dem bewußten Denken verbunden, mit dem "Fokus" des reflektierenden Ich-Bewußtseins und seiner Fähigkeit zur Identifikation, Projektion (der eigenen Denkkategorien in die außersprachliche und vorbewußte Realität) und ihre Repräsentation in der Perspektivierung von Aussagen und Texten. Während im fiktionalen, perspektivierten Text der Erzählkunst (und auch des rhetorischen Diskurses) die i n t e r p e r s 0 n a l e ,Kommunikation und Substitution (ich stelle mich fiktiv in jenen perspektivischen "Brennpunkt" und seine kausalen, raum-zeitlichen Koordinaten, den der Erzähltext anbietet) vorherrscht, modelliert die Wortkunst eine i n t r a p e r s 0 n a l e Verständigung (eine "Communio", russe pl'iobsaenie statt "communicatio" , d.h. soobsaenie)36 zwischen unbewußten, vorbewußten und bewußten Prozessen und Denkmodellen. Dies ist auch der Grund für die - aus der Sicht der "Kommunikation" - "gestörte", "autonome", "verrückte", "egozentrische", "hermetische" Natur der Wortkunst(texte) . Eine analoge Dichotomie zu jener von Wort- und Erzählkunst finden wir auch in anderen Kunstformen, so etwa in der bildenden Kunst die Opposition von "Bildkunst" mit ihret' "Entfaltung" der imaginativen und ikonographischen Komplexe aUs k 0 n f i g u r a t i v e n Äquivalenzen und perspektivierten "Bildallegorik" , der optischen Repräsentation eines Wirklichkeitsausschnittes (mimetische Fiktion) oder der bildnerischen Narrativisierung (literarisierte Malerei). Auch in der Musik gibt es entsprechende Analogien, etwa in der Opposition von "reiner", "absoluter" Musik (und ihrer syntagmatischen Kombinatorik) und "angewandter" , "narrativer" oder "expressiver" Musik (Programmusik, Musikmimetik, Musiktheatralik, illustrative Musik 37 etwa im Film oder Theater etc.). Mir erscheint die h~er vorgeschlagene Unterscheidung klarer als jene zwischen Symbolismus und Realismus, Einfühlung und Abstraktion, Erfindung und Nachahmung, Idealität und Abbildung bzw. Widerspiegelung. Im Sinne dieser Unterscheidung von "lmaginativ" und "fiktiv" verhalten sich idealtypisch WK : EK
BK : EB, d.h. Wort-
- 303 -
kunst verhält sich zu Erzählkunst wie die Bildkunst zur narrativen Repräsentationsmalereii intermediale Beziehung zwischen den jeweiligen Kunstformen sollten also diese Korrelationen berücksichtigen, die sowohl zwischen Werken bzw. Texten als auch i n n e r h alb
eines einzigen Textes wirksam sein können.
Der Narrativisierung bzw. "·Li terarisierung" der BK (mit ihrer perspektivischen Fiktionserzeugung bzw. illusionistischen Identifikationsmechanik in trivialen Gattungen) steht die Rückverbindung der Wort- und Bildkunst der Moderne allgemein zur archetypischen Symbolik des Unbewußten und seinen Gesetzmäßigkeiten der imaginativen Semiose gegenüber, die freilich - durch ihren Bezug auf vorgegebene fiktionale und allegorische Kultursymbolik- jede (imaginative) ner (auto-)reflexiven
I k
0
n i
sie run g
I n d i z i e r u ng
mit ei-
versieht und da-
mit der Unmittelbarkeit und Autonomie des (naiven) Selbstvollzugs entzieht. Dieses Flimmern bzw.
0 s z i
I I i e ren
zwischen Imagination und Reflexion gibt allen Semioseakten der Moderne eine Doppelrichtung: Semiose -- Desemiotisierung, Gegenstand -- Ding, Identität -- Nicht-Identität (Andersheit), Abbildhaftigkeit (izobrazitel'nost') -- Dinglichkeit (veso38 nost', vesoizm) , Abstraktion -- Realistik. Zwischen der Erzählkunst und einem literarisierten, perspektivierten, illusionistischen "Erzählbild" herrscht die Beziehung einer
A n a log i e
ven" Funktion 39
vor (z.B. in der "illustrati-
des Bildtextes gegenüber dem "Vorbild" bzw.
der "Vorlage" des verbalen Textes) i zwischen Wort- und Bildkunst im hier verstandenen Sinne dominiert dagegen, eine molo g i e b
e
z i e h u n g,
H
0
-
d.h. zwei Merkmale, kon-
stnlktive Verfahren, ikonographisch-motivische Einheiten im Bildtext verhalten sich zueinander sO,wie sich zueinander entsprechende Merkmale, Verfahren und semantische Einheiten im Worttext verhalten. 2. TYPEN DER KORRELATION VON WORT-UND BILDKUNSTTEXTEN Die Transformation von Wort-Zeichen bzw. Wort-Text Bild-Zeichen bzw. Bild-Text kann grundsätzlich nach drei Prinzipien ablaufen, die den jeweiligen Zei.chen-Typen (Zeichen-
- 304 -
Funktionen nach Ch.S.Peirce) entsprechen: 40 1. Die TRANSPOSITION von
n a r rat i v e n
Motiven
einer "fiktionalen" Situation (fabuZa) mit feststehendem perspektivischen Fokus aus
eine~
Wort-Text in einen "narrativen"
Bild.... Text(Typ der "literarischen" Malerei analog zur
"pro~
grammusik" im 19. Jahrhundert). Vorherrschender Zeichentyp: "signsymbol"; relativ geringe autoreflexive bzw. autoreferen41
tielle Funktion.
2. Die TRANSFIGURATION von
sem a n t i s c h e n
Kom-
plexen eines imaginativen Wort-Textes, der nach dem Prinzip der "Realisierung" bzw. "Entfaltung" aus einem semantischen Kontrast und/ode~ Parallelismus auf der Ebene der Signans-Struktur (z.B. Kalauer, Wortspiel, Homonymie, Synonymie, Paronymie, Anagrammatiketc.) generiert wurde, zu
i mag i n a t i v e n
Bild-Texten, deren "Raumsemantik" das unperspektivische Sprachdenken des verbalen Ausgangstextes ikonisch realisiert (Realisierung 11. Grades) .42 Vorherrschender Bildtyp im unperspektivischen System der Archaik (bzw. auch Subkultur, Folklore, magisch-mythische Kultbilder, Meditationsbilder usw.) und der aperspektivischen Moderne. Vorherrschender Zeichentyp : "signicon". Oszillieren zwischen referentieller und autoreflexiver Zeichenfunktion (im aperspektivischen System) bzw. zwischen ObjektZeichen und Meta-(Meta-) Zeichen. 3. Die PROJEKTION von k
0
n z e p tue I I e n
s c h e,m a t i s c h e n , Modellen, die explizit als Diskurs
ausformuliert oder implizit aus narrativen oder imaginativen Texten rekonstruierbar sind (konstruktive, textgenerative Prinzipien des WK-Textes, Sujet-Schemata, konkretes Verfahren wie z.B. Montage, verfremdete Perspektive, Ungegenständlichkeit etc., . in Bild-Texte, die dadurch den Charakter "appellativer" oder paradigmatischer Modell-Bilder erhalten (suprematische Abstraktion, Konzeptualismus, Objekt-Kunst, Realistik etc.). Dominierender Zeichenty,p:
"sign-index"; maximale autoreflexive,
autoreferentielle Funktion; das Bild wird zum Meta-Meta-Zei43 chen. Die Transformation von Bildzeichen bzw. Bildtexten in Wortzeichen bzw. Worttexte ist eine (gerade im 19. Jahrhundert) sehr verbreitete Thematik der Poesie (aber auch der Musik: vgl.
-
305 -
Musorgskijs "Bilder einer Ausstellung" u.a.). Allgemein ist das Problem der "Poesie über Malerei ein Teilproblem der Poesie über Kunst und auch der Poesie über Poesie" (J.Faryno) .44 Gedichte über konkrete, berühmte (d.h. für ein kulturelles Paradigma typische) Bildwerke (v.a. über Menschendarstellungen - man denke an die Rolle des Porträts in der Romantik) bildeten ein eigenes Genre, das freilich ausschließlich auf einen vorgegebenen ikonographischen Inhalt referierte, nicht aber auf die Struktur der Bildsprache selbst Bezug nahm oder gar deren Verfahren realisierte. Bezeichnend für das neue Verhältnis der Kunstformen untereinander in der Moderne ist das (im Symbolismus einsetzende) Bestreben, nicht mehr bloß konkrete Bilder (1. als ganze, 2. in Teilen, 3. als
Bestandte~l
eines
sie einschließenden ikonographischen Programms bzw. Bildkodes) zu
t h e m a t i sie ren,
sondern die Bildsprache selbst
verbal zu realisieren (vgl. I.Annenskijs Gedicht "Ofort", das die "Sprache der Radierung realisiert" oder O.Mandel'stams Gedicht "Impressionizm") .45 Die oben genannten Transformationstypen (2) und (3), also TRANSFIGURATION und PROJEKTION, können miteinander kombiniert auftreten oder jeweils im Rahmen eines synthetischen Genres (Buch, Theater, Ausstellung, Film, Performance) gemeinsam mit dem verbalen Ausgangstext (bzw. Ausgangsdiskurs) figurieren. Nur in den Typen (2) und (3) ist die Transformationsrichtung auch reversibel, d.h. alle erwähnten Prozesse können auch in Richtung Bild-Text - Wort-Text ablaufen, da die Transformationstypen (2) und (3) sich nach den Prinzipien der Simultaneität, I
e i n z i ge
Metasprache zwi-
schen den einzelnen Kunstformen (WK, BK, Architektur, Musik, Tanz etc.)
ver mit tel t,
d.h. jenen hermeneutischen
Klartext repräsentiert, in den sich jeder Text einer Kunstform 46 r ü c k übe r s e t-z e n lassen mUß. In der Moderne do-
-
306 -
miniert dagegen das Prinzip der "wechselseitigen Erhellung der Künste", jede Kunstform "entblößt" auf dem Wege der Transfiguration und/oder intersemiotischen Projektion die spezifische mediale Struktur, den Semiose-Typ der jeweils anderen Kunstform. Diese "Entthronung" der verbalen "Vermittlung" zwischen den Medien wurde zunächst durch die wachsende "Lizenz" in der freien Beweglichkeit der i k 0 n 0 g r a p h i 47 (so v.a. im Historizismus s c h e n Einheiten eingeleitet und dann Symbolismus des 19. Jahrhunderts: freie Kombinierbarkeit kleinster semantisch-ikonographischer Einheiten zu heterogenen, okkasionellen
E n sem b I e s ,
in denen diese
Einheiten freilich eine völlig neue ikonologische Funktion erhalten) und im weiteren durch die sie run g
A u tot h e m a t i -
der zugrunde liegenden kombinatorischen und
konstruktiven Regeln und darüber hinaus der primären ästhetischen Akte (Dekontextierung, Rahmung, Depragmatisierung, Uberdeterrninierung, "foregrounding" etc.) vollendet. Gerade der 3~ Transformationstyp (PROJEKTION) setzt eine semiotische und strukturelle intersemiotische Ordnung voraus, die im jeweiligen Text (der jeweiligen Kunstform) mitreflektiert werden muß. Damit wurde - jedenfalls in der Ästhetik der Avantgarde - die angestammte Dominanz des verbalen hermeneutischen Diskurses (als begrifflich-allegorischer Metasprache), der zwischen allen Kunstformen vermittelt und damit der Literatur (und ihrer Wissenschaft: der "Philologie") eine alles beherrschende Vormachtstellung sichert, ersetzt durch die Konzeption des S p r a c h c h a r a k t e r s aller Kunstformen, deren Interrelation nunmehr auf eine philologische Allegorese als einzige intermediale bzw. intersemiotische "Brücke" verzichten konnte. Dies bedeutet freilich keineswegs, daß die narrativ-perspektivische Fiktionserzeugung damit untergegangen wäre, ebensowenig,daß sich plötzlich der rhetorische Status des (auto-)reflexiven Kunstdiskurses verflüchtigt hätte; es ist vielmehr durch die Emanzipation der Kunstformen (und der ihnen untergeordneten Genres) aus der hermeneutischen Kompetenz der verbalen A l l ego r e s e auch zu einer völlig neuen Beweglichkeit in der interund intrasemiotischen Kombination heterogener Zeichenund Texttypen gekommen (Dominanz eines s y n t a g m a t i s c h e n und im weiteren p e r f 0 r m a t i v e n , prozessualen "offenen" Kunsttyps) • 48
-
307 -
3. BILDSEMANTIK, IKONOLOGIE UND IKONISCHE REALISIERUNG Traditionell gen zur
am weitesten entwickelt sind die Uberlegun-
B i I d sem a n t i k
(der BK) und damit auch zu
deren TRANSPOSITION in die verbale Semantik (der WK) bzw. vice versa. Den entscheidenden wissenschaftlichen Durchbruch auf diesem Gebiet leisteten die Studien zur Ikonographie bzw. Ikonologie der Warburg-Panofsky-Schule im Bereich der bildenden Kunst, deren gesicherte Ergebnisse freilich erst in letzter Zeit mit jenen der Semiotik der visuellen Kommunikation zusam49
menfließen.
In der nun schon klassischen Konzeption E.Panofskys bilden die ikonographischen Zeichen einen Paradigmatavorrat, der für jede Periode oder Epoche eine eigene "semantis~he Welt" (analog zu jener der sekundären "modellbildenden 'systeme"50 der verbalen Sprache im Sinne Ju.Lotmans) reprä'sentiert. Aus diesem Paradigma, das auf einer bestimmten abstrakten Ebene identisch ist mit jenem der Sprache allgemein als primäres modellbildendes
System~
gibt es Seme und Sememe, die im konkret-
bildnerischen (ikonischen) Paradigma einer Epoche "gespeichert" sind (im ikonographischen Kosmos einer Makroperiode und in den zahlreichen spezifischen ikonographischen Programmen.bis hin. den Stil- und Gruppen-Ikonographien kleinster Subsysteme). Aus diesen Paradigmata werden ikonographische Zeichen (-Komplexe) selektiert und zu konkreten
E n sem b I e s
im Bild verei-
nigt, die ihrerseits paradigmatischen Status erhalten können, wodurch feststehende ikonographische Syntagmata als heraldische, emblematische, allegorische Zeichenkomplexe entstehen, die den verbalen ldiornen, kanonisierten semantischen Figuren aller Art bis hin zu den parömiologischen Kurzgenres analog sind. Die ikonographischen Zeichen (-Komplexe) werden durch ihre konkrete syntagmatische position im Bild-Text zu n
0
log i s c h e n
hinaus zu schichtigen
i k
0
Zeichen der Bild-Semantik und darüber
s i n n t r a g end e n
Einheiten einer viel-
Bi I d a u s s a g e .51
Die russische Semiotik, vor allem aber die Arbeiten B.A.Uspenskijs 52 zur Bildsemiotik, unterscheiden in Anlehnung an Panofskys Theorie - ebenfalls klar zwischen symbolischem Bildzeichen als kontextunabhängiger
-
-
308 -
semantischer Einheit, die Bestandteil eines Paradigmas ist und damit ein Zeichen "zweiter-Ordnung" repräsentiert, und Zeichen "erster Ordnung", die im Bild konkret auftreten, wo sie als Bestandteile einer syntagmatischen Kombination und - was noch wesentlicher ist - einer sukzessiven pekodierung (eines interpretierenden "Lesens") fungieren. Die einzelnen Lesarten der konkreten Bildzeichen erster Ordnung sind wesentlich determiniert durch die Dekodierungsrichtung, d.h. durch die (unter mehreren offenstehenden bzw. indizierten Möglichkeiten ausgewählten) Dekodierungswege, die assoziierend beschritten werden und die simultan p r ä s e n t i e r t e Bildsemantik und Bildkombinatorik zu konkreten "Aussagesätzen" verknüpfend interpretieren. Zu diesem schwer faßbaren Problem der Dekodierungsrichtung (auf das Uspenskij und die Bildsemiotik auch kaum eingeht) kommt das nicht weniger komplizierte Problem der Hierarchisierung der Bildzeichen in mehr oder weniger komplexe Ebenen der Semiose, d.h. der Beziehung von Signans und Signaturn auf einer primären, objektsprachlichen Ebene, sowie auf einem meta (meta) sprachlichen Niveau. Je komplizierter diese Verbindung (bzw. Distanz) von Signans und Signatum ist, umso "symbolischer" wird der Ausdruck, umso mehr steigert sich die "systemhafte _ Bedingtheit" (uslO1Jnost') der symbolischen Zeichen, "wenn man uslo1Jnost' definiert als Quantität der Zwischenglieder zwischen Signans und Signatum, d.h. nach der Anzahl der Komponenten in der Kette: Zeichen des Zeichens des Zeichens"~53
Es ist naheliegend, daß die intersemiotische Umkodierung zwischen Bild- und Wortzeichen auf den hierarchisch höheren Meta-Meta-Ebenen der symbolischen Signifikation weitaus klarer zu dekodieren ist (vorausgesetzt man verfügt über das entsprechende im Bild indizierte Kode-Wissen, d.h. vor allem über das ikonographische Programm und den stilistischen "Habitus") 54 als auf der Ebene der einzelnen Ideogramme. Mit anderen Worten: Je symbolischer die Bildsprache, umso näher liegt eine Transposition in die verbale Sprache, je stärker das visuell-mimetische Moment im Vordergrund steht ("realistische Illusionsmalerei" bis hin zum Impressionismus!), umso ferner liegt eine Umkodierung in den Worttext und die verbale Sprache. Analog zur primären Wortbedeutung (zumeist eine materielldingliche, konkrete, nicht-übertragene, nicht-metaphorische) in der verbalen Sprache kann man auch für die Bildsprache primäre ideographische Bedeutungen annehmen, die das Bildzeichen als - im Peirceschen Sinne - schematischen
I n d e x
(mimetische
Referenz), als appellatives und/oder symptomatisches mal
eines visuellen Phänomens (perzeptems)55
Me r k -
augenschein-
lich machen.' Sekundäre, d.h. im weitesten Sinne "übertragene", "figurative" Bedeutungen des Bildzeichens (oder einzelnen Ideo-
gramms) werden durch nische
I k
-
309 -
0
n i s i e r u n gen
R e a 1 i s i e r u n gen
b ale r
vorgegebener
(d.h. ikover-
figurativer Bedeutungen (Metaphern, Idiome, Rede-
wendungen und der gesamteparömiologische Apparat) oder durch Äquivalentsetzung auf der bildsyntaktischen Ebene generiert: Metonymisierung durch ,Kontiguitätsassoziation parallel bzw. äquivalentgesetzter bildnerischer Signantia, die Konnexe auf der Seite der Designata suggerieren und darUber hinaus - im Wege von Kanonisierungen des ikonologischen Bild-Kodes zu ikonographischen Bild-Genre-Kodes .und Bild-Epochen-Kodes lexikalisieren" und "idiomatisieren". Der umgekehrte Weg einer (Re-)Metaphorisierung dieser kanonisierten ikonographischen Komplexe, die nur mehr als Bild-Index oder gar Signal monofunktional wirken, entspricht dem analogen Vorgang der Seman56
tisierung und Desemantisierung in der verbalen Sprache.
Die in der Bildkunst des russlchen Kubofuturismus dominierende Sem-Generierung (und Bild-Text-Entfaltung allgemein) nach dem Prinzip der Transformation von Kontiguitäts- in Analogieassoziationen (eine "formale" Äquivalenz der Signans-Struktur determiniert eine semantische Assoziation auf der Ebene der Signantia) bildete den Ansatzpunkt (und wohl auch die Anregung) für Jakobsons berühmte Definition des Poetischen als "Projektion von der Ebene der Paradigmatik auf jene der Syntagmatik". 57 In der BK (v.a. der Avantgarde) war diese Determinationsumkehr der konventionellen Signifikation schon medienkonstitutiv angelegt: In ihr determiniert das Nebeneinander ikonischer Zeichen einen semantischen (ikonologischen) Konnex, der in Widerspruch treten kann zur allegorisch-ikonographischen (oder aber mimetischen) Dekodierung der Bildzeichen. Die der BK entlehnte pround regressive Korrelativität aller mit allen Elementen der Signans-Struktur macht.denn auch den vorwiegend ikonischen Charakter der kubofuturistischen zaum~-Texte aus: Die akustische und graph (em) ische K 0 n f i g u r a t i o n der Text-Elemente ikonisiert ein (paradigmatisch-generatives) Modell, das so präsentiert wird, als handelte es sich dabei um einen eigenständigen künstlerischen Text. Besonders augenfällig ist die Realisierung ,spezifisch bildkünstlerischer Prinzipien innerhalb der Wortkunst der (kubofuturistischen) Avantgarde im Falle der anagrammatischen Verschiebung der Wortgrenzen 50 (formuliert in der für den Kubofuturismus typischen Konzeption einer Sdvigologija) - ein Verfahren, das wie kein anderes die graphisch-bildnerische Seite des WK-Textes mit der textuell-verbalen Seite der BK verknüpft. Die Generierung neuer Lexeme (Neologismen, slovotvorcestvo) durch die Verschiebung (sdvig) der Lexem- und Morphemgrenzen
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310 -
eines vorgegebenen Lexikons stützt sich auf die Inkongruenz von schriftlicher und mündlicher, graphischer und akustisch-phonetischer Performanz bzw. Fixierung (im Medium), wobei im Kubofuturismus (im Anschluß an die uralte Tradition des Lettrismus, des manieristischalexandrinischen Bildgedichts) das Verschiebungsverfahren dazu dient, die konventionelle Kongruenz zwischen phonetischer und graphischer Textrealisierung aufzubrechen, die jeweilige mediale Bindung der einen oder anderen Darstellungsweise auch als Kunstform verfremdend zU'entblößen und bewußt zu machen. Auf diese Weise können durch die Erzeugung von Homographen bzw. Metagraphen neue Lexeme gleichsam mit den Mitteln der BK erzeugt werden. Umgekehrt konnten die Vertreter des (synthetischen) Kubismus ihre Bilder als "poetische" (d.h. "wortkünstlerische") verstehen, man denke etwa an die Äußerungen Henri Kahnweilers zur Malerei Juan Gris: "Mit I Reimen', wie er es wohl nannte, mit Metaphern schmückte er seine Bilder, den erstaunten Betrachter auf Ähnlichkeiten hinweisend, die dieser vorher nie beachtete. Gleicht nicht die öffnung eines Krugs einer Birne, die neben ihm liegt? Das Notenblatt den Saiten der Gitarre [ ..• ] Beziehungen ketten die Dinge aneinander ... " (Kahnweiler) . 5 9 Die Beziehung zwischen den Dingen, genauer die Äquivalenzen der Bildzeichen auf der Ebene der Signantia, sind nach dem Prinzip der Kontiguität geordnet, aus denen unmittelbar semantische Analogien ("figurative" Metaphorisierung und Symbolisierung) entwickelt werden. Auch von Picasso sind einschlägige Äußerungen belegt: "Bilder sin~ Gedichte, und sie sind immer in Versen mit plastischen Reimen geschrieben, nie in Prosa. Plastische Reime sind Formen, die aufeinander reimen oder die Gleichklänge hervorrufen, entweder untereinander oder mit dem sie umgebenden Raum.,,6? Das Prinzip der Textgenerierung durch "Realisierung" bzw. "Entfaltung,,61
einer Ausgangsfigur wird im Rahmen der BK in
jenen Fällen wirksam, wo eine ikonographische Einheit innerhalb eines korrekten ..Bildes ihrer bloß allegorisch-symbolischen Funktion entkleidet wird ("Desymbolisierung") und eine neue konkretdingliche Funktion als ikonologisches Bildzeichen erhält. Die ikonographische Ausgangseinheit ist in der Regel mit verbalisierten semantischen Figuren (System der Symbole bzw. Allegorien einer Epoche, Emblematik, Heraldik einer Periode) untrennbar verbunden und im höchsten Maße abstrahiert und konventionalisiert, wogegen die ikonische Realisierung immer eine konkretisie,rende "verdinglichende, desemiotische, direkte (also defigurative) Tendenz aufweist. Im archaisch-primitiven "konkreten Denken,,62 (L~vi-Strauss) dient das Bild als ikonische
-
311 -
Realisierung eines Mythos oder "My thems" , in späteren Phasen der Ikonisierungwerden zunehmend allegorische
Au~gangstexte
(bzw. Ausgangsfiguren) zum Ursprung von bildnerischen Entfaltungen (biblische, hagiographische, historische, "klassi(zisti)sehe" Ausgangsformeln); parallel dazu bilden aber die außerund vorkünstlerischen parömiologischen (Klein-)Genres der Alltagssprache (Sprichwörter, Redewendungen, Sinnsprüche, Idiome aller Art) einen unerschöpflichen Vorrat für verbale und ikonisch-bildnerische Entfaltungen. Besonders reiches Beispielmaterial hierfür liefert die schwächter Form)
g rot e s k e
s a t i r i s ehe
und (in abge-
(karikierende) Realisie-
rung von vorgegebenen Kulturschablonen und Darstellungskli63
schees.
Dennoch soll ein nicht unwesentlicher Unterschied zwischen verbaler und ikonisch-bildhafter Realisierung, der für das gesamte Gefüge der Wort-Bild-Korrelationen bezeichnend ist, hier erwähnt werden: Während nämlich die verbalen Entfaltungen (etwa das "etymologisierende" Wörtlich-Nehmen eines "übertragenen", figurativen Idioms) die "abstrakte" Referenz (mit ihrer typisierenden, kategorisierenden, begrifflichen Intention) auf eine direkte, dinglich-konJu.:eJ:.e..,. ma..teJ;:-ieH, .....Ed.nnliche (und damit oft
v i s u eIl e
ziert "), setzt die
AusqanqsbedeUlJ:ungzu-rückfUhrt ("redu-
i k
n i s ehe
0
Bild-Realisierung immer
eine zusätzliche (parallel präsentierte oder jedenfalls mitassoziierte)
Met a f
0
r m
der Realisierung voraus, da sie
ohne eine in irgendeiner Weise paradigmatisierte (vorgeprägte und gespeicherte)
v e rb a l e
Realisierung schwerlich in
Erscheinung treten könrite. Die ikonische Bild-Realisierung setzt also immer schon das Vorwissen einer
ver baI e n
Formel, (semantische Figur, Idiom, metonymischer Ausdruck
etc~)
als gegeben voraus, die ihrerseits im Rahmen ihrer sprachlichen Generierung die übertragen-abstrakte auf eine direkt-konkrete und damit eben auch
v i s u eIl -
tion gebracht haben muß,
0
p t i s ehe
Imagina-
um dann als ikonische Realisierung
nochmals ins Bild gesetzt zu werden. In allen Gattungen der Emblematik (auch in ihrer folkloristischen und subkulturellen Form) zeigt sich daher das Bedürfnis, den (verbalen) Ausgangsoder Bezugstext in das Bild zu integrieren oder ihn jedenfalls
-
312 -
(in komprimierter Form) beizufügen.
64
Eine Bildrnetapher, ohne ,eine irgendwie mitgedachte oder indizierte verbale Metapher ist kaum dekodierbar; jede Bildrealisierung ist daher immer schon eine
s e k und ä r e ,
abge-
leitete Mitteilung ("Realisierung einer Realisierung"). Die visueli-imaginative Darstellung wird - ausgehend von einem verbalen Zeichen (-Komplex) - im Bild nochmals konkretisiert und dabei nicht selten auch noch ,auf eine bestimmte Weise pragmatisch (didaktisch, epi treptisch, "moralisch" etc.) funktionalisiert: Man denke etwa an Breughels berühmte Sprichwörter-Ikonisierungen, an die grotesk-hermetische Bildsprache eines H.Bosch - bis hin zur Visualisierung von Redewendungen und anekdotischen Formeln in Kinder(-lehr) büchern. 65 Während aber im illustrativ-narrativen Bild eine erzählerische
F i k t ion
ins Bild "übersetzt" wird, erfolgt in
der bildnerischen Realisierung primär die Ubersetzung, Umkodierung der
i mag i n a t i v e n
Ikonik. Das "Denken in
Kalauern" und realisierten Mataphern, die zu Motiven und Sujets (samt personifizierten Aktanten) entfaltet sind, verbindet das (archaisch-unbewußte) behandelt,66
"Sprachdenken ", das "Wörter" wie "Dinge"
mit dem konkreten "Bilddenken": Der (verfremden-
de) Akt der "Verdinglichung" tovescestvl.enie),der das Lexem zu einem "Laut-Ding" umdeutet, findet auf der semantischen Ebene seine Entsprechung in der konkretisierenden, "entgegenständlichenden" Rückführung der übertragenen Formeln zu dinglichvisuellen Vorstellungsbildern ("Sprachfakten werden zu Sachfakten", Jakobson) .67 derne
je~enfalls
All das findet aber - in der Kunst der Mo-
- vor dem Hintergrund und im Rahmen der re-
ferentiellen Fiktionalisierung statt, wobei freilich die (verbalen oder ikonischen) semantischen Einheiten oder Symbole so behandelt werden, als würde es sich dabei um objektsprachliche Ausdrücke für "Gegenstände" und "reale Zustände" handeln. 4. ABSTRAKTION UND KONZEPTREALISIERUNG Dieser Transformationstyp (3) spielt in der Avantgarde eine zentrale Rolle, ja ist geradezu ein konstitutives Merkmal einer jeden "Avantgarde": Das Artefakt selbst ist gleichzeitig
-
vollwertiges Kunstwerk
313 -
und'
Paradigma für Kunst (bzw. einen
bestimmten verabsolutierten Kunsttyp) selbst, es wird zum E x e m p 1 u m fenen K
0
des
einer möglichen Realisierung eines neu entworund ästhetischen'
K
0
n z e p t s .68
Gerade in der "ungegenständlichen" Malerei und Poesie (bespredmetnost~, zaumnaja poezija, Abstraktion, concept art) ersetzt die strukturelle Homologie zwischen Theorie und Gegenstand, Verstand und Erfahrung das bisherige Modell einer intuitiven Analogie beider Bereiche, die für Produzent und Rezipient "selbstverständlich" war und beide einander adäquat machte, auf eine hermeneutische Ebene stellte. Das Wesensmerkmal "ungegenständlicher" Avantgardekunst (bzw. allgemeiner antimimetischer Kunstavantgarde) ist nicht sosehr in der Aufhebung der ~imetischen Referenz zu suchen, sondern vielmehr in der Ausweitung, ja Dominantsetzung der A u t o t h e m a t i s i e r u n g des Künstlerisch-Ästhetischen selbst, das zum Paradigma für "eigentliches" Leben erhoben wurde (schon vorgeprägt in der im Symbolismus erfolgten Umkehrung der "realistischen" Determinationsrichtung): Kunst als Widerspiegelung des Lebens bzw. der Wirklichkeit - nunmehr verkehrt in Leben (Welt) als Realisierung der Kunst. Im Suprematismus Malevics wird das (kunsttheoretisch-philosophische), K 0 n z e p t als Artefakt präsentiert; das K~nstwerk ist die Realisierung einer Hypothese, eines "Projekts 11 , einer Formel, die - auch für den Bereich der "bildenden KunstlI, der "Architektur" oder "Urbanistik" ver baI bleiben kann, d.h. grundsätzlich keiner Fixierung im entsprechenden Medium der jeweiligen Kunstform bedarf: "Ich arbeite nicht mehr mit dem Pinsel, sondern mit der Feder. Es hat sich gewissermaßen ergeben, daß man mit dem Pinsel nicht soviel auszurichten vermag wie mit der Feder. Der Pinsel~' ist verludert und reicht nicht mehr bis in die Gehirnwindungen hinein, die Feder ist schärfer ll (Malevic) . 6 9 Der Künstler schafft also keine Bilder mehr (sofern damit izobrazitel~nost', d.h. Repräsentation von etwas gemeint ist), sondern "Entwürfe", die zu geistigen, gesellschaftlichen, seelischen Wirklichkeiten entfaltet werden (vgl. Malevics Bildparadigma "Schwarzes Quadrat" u.a.). Der für die Ästhetik und Kunsttheorie der Renaissance zentrale Begriff der Kom pos i t i o n 70 (maßgeblich formuliert in der Kunsttheorie Albertis, der diesen Terminus erstmals in der Bedeutung von "bewußter Organisation des Materials im Bild"- d.h. kombinatorischsyntagmatisch' - definierte) löste den für die mittelalterliche Ästhetik typischen Begriff des S e h e m a s ab, nach dem ein (Kult-)Bildstereotyp -sowohl ikonographisch als auch konstruktiv - nachzubilden ist. Albertis Auffassung der "Komposition (der Begriff selbst entstammt der klassischen Philologie bzw. Rhetorik) ist untrennbar mit dem Prinzip der I n n 0 v a t i o n verbunden, d.h. der perspektivischen und räumlichen Neuordnung der vorgegebenen ikonographischen und bildsyntagmatischen Programme. Der kombinatorische Aspekt von "Komposition"
-
314 -
tritt damit ebenso in den Vordergrund wie seine operationaleFunktion als "Regel", die der Künstler im Schaffensprozeß verfolgt, um im Rahmen des Bildes einen perspektivierten Bildraum aufzubauen, der als Mikrokosmos ein v i s u e I I e s Äquivalent zum Makrokosmos der Natur darstellt. Dieses visuelle Modell läßt gleichermaßen Rückschlüsse auf die Raumhaftigkeit des dargestellten Wirklichkeitsausschnitteswie auf die individuelle Raumposition des Betrachters zu. Das primär s p r a c h ~ I ich (verbal) orientierte Weltverständnis des Mittelalters wird seit der Renaissance und bis hin zur Moderne durch eine primär visuelle Weltauffassung abgelöst; die Versetzung der Gegenstände in einen illusionären Raum (des monoperspektivischen Bildes) befreit und entfremdet den Betrachter von ihnen, wogegen das (mittelalterliche) Kultbild keinen distanzierten Betrachter zuläßt, sondern nur einen solchen, der sich innerhalb des Bildes bewegt, dessen "geistiges Auge" die innere Form' ("endon eidos"), also das "Wesen"'des Bildes "schaut". Auch hier begegnen wir, dem Unterschied zwischen imaginativem "Schauen" - im Sinne einer inneren Vision, russ. videnie - und dem fiktionalen (perspektivierten) ,Betrachten von "außen", wie "durch ein Fenster", das durch den Bildrahrnen markiert wird. 71 Wesentlich für die Neuordnung des Verhältnisses von Wort und Bild, verbaler und ikonischer Sprache im Kunstdenken der Moderne war die Entdeckung der
A b s t r akt ion
und der
Ungegenständlichkeit (bespredmetnost') als autonomer Wahrnehmungs- und Erkenntnisakt. Gerade die Analyse des optisch72 visuellen Perzipierens der modernen Wissenschaft (ebenso wie der wissenschaftlich experimentierenden Künstler) förderte jene allen Erkenntnisakten immanente Abstrahierungsvorgänge zutage, die das sensuelle Wahrnehmen mit dem begrifflichen Denken verbinden. Jedes
k r,e a t i v e
"künstlerische Denken")
Denken (paradigmatisch das
"setz,t sich über die Grenzen zwischen
Ästhetischem und Wissenschaftlichem hinweg" und läuft in "anschaulichen Bildvorstellungen" ab (Arnheim, 10). Auf diese Weise wird eine abstrakte Konzeption zu einem bildhaften "Schema" konkretisiert und umgekehrt eine konkrete, komplexe Gegenständli'chke~ t in ein abstraktes Konzept übersetzt.
Die moderne, auf der Gestalttheorieaufbauende Wahrnehmungspsychologie bestätigt das in der abstrakten Kunst (und zuvor schon im Kubismus und Futurismus) so prägnant realisierte Prinzip der "Kunst als Denkmittel" im Bereich der Denkprozesse und Rezeptionsstrukturen (und nicht im Sinne der allegorisch-mimetischen Auffassung der Kunst als ein "Denken in Bildern", wie es in Rußland Belinskij und seine Epigonen vertraten).
-
315 -
Im Gegensatz zu Platons Wertschätzung der Musik und Geringschätzung von Wort- und Bildkunst (als Repräsentation des "Scheins" der Dinge) steht die aristotelische Abstraktion dem "anschaulichen, bildhaften Denken" weitaus näher. Seit Aristoteles galt der Grundsatz, daß, die Gattungszugehörigkeit eines Phänomens seine Existenz (für uns, d.h. für unser kategorisierendes Denken) überhaupt erst konstituiert; durch eben die kategorisierenden Abstraktionsakte werden aus Phänomenen Gegenstände,73 deren Identifizierbarkeit aus ihrer Zugehörigkeit zu einer Gattung (d.h. einem Paradigma) resultiert. Während die kubofuturistische Ästhetik (auf zumeist metonymische Weise) die Gattungszugehörigkeit eines gegebenen Phänomens durch eine andere substituiert·, tendiert die abstrakte Kunst zur (reflektierten und im Bild 'auch thematisierten) Neuordnung des Gattungssystems einerseits oder zur partiellen Beseitigung von jeglicher Gattungszugehörigkeit (Kandinskijs "Realistik"). 74 Die Zuordnung einer bestimmten ne:lzmenge (aus dem Chaos der Impressionen gefil teit) zu bestimmten. "Formzusammenhängen" bildet die Vorstufe' zum begrifflichen Denken (Arnheim nennt sie "Anschauungsbegriffe" und "Wahrnehmungskategorien") • Diese Anschauungsbegriffe des praktischen, kausal-empirischen Denkens stehen aber nicht wie Arnheim annimmt - auf e i n e r Ebene mit den ästhetisch-künstlerischen Abstraktionsprozessen, sondern sie bilden deren Objekt, werden von ihnen in ihrerkulturspezifischen Bedingtheit reflektiert und "entpragmatisiert". Ziel der gesamten (nicht nurungegenständlichen, sondern auch gegenstandskritischen figurativen) Moderne (in WK und BK) ist das Zurückgehen hinter die "Anschauungsbegriffe und Wahrnehmungskategorien" selbst, um der D i n g h a f t i g k e i t der Gegenstände habhaft zu werden: Erst durch die Filterung und Semiotisierung in den Wahrnehmungskategorien (und den kulturellen, sekundär-modellbildenden Paradigmata, die üblicherweise in einem verbalisierten Kanon vorliegen) wird aus einem D i n g (ve~a') ein G e gen s t a n d (ppedmet) der erkennenden, identifizierenden Wahrnehmung (die Formalisten nannten diese Form der automatisierten Wahrnehmung "Wiedererkennen" - uznavanie, das' durch das "Neu-Sehen" (novoe videnie) bzw. das absichtsvolle "Nicht-Erkennen" (neuznavanie) verfremdend außer Kraft gesetzt, jedenfalls aber re flektierbar wird). Durch die Ubersetzung des Dings in einen Gegenstand wird aus "Natur" - "Kultur", "Realia" werden zu "Zeichen" und damit zu Instrumenten der Kommunikation ebenso wie zu solchen der Imagination als Elemente einer semantischen Welt und eines ikonographischen Kodes. Während also die Gegenstände auf ihre Dinghaftigkeit reduziert werden (Kandinskijs "große Realistik", "Objekt"Kunst), werden die Wahrnehmungskategorien sowie die konventionellen Darstellungsverfahren (der izobpazitel'nost') v e r g e gen s t ä n d I i c h t , d.h. zum Objekt einer Thematisierung im Bild und darüber hinaus einer s e k und ä r e n , eben bildnerisch-semiotischen (ikoni-
-
316 -
sehen) Abstrahierung (Vergegenständlichung der Verfahren in Kandinskijs "großer Abstraktion").75 Ausgehend von diesen allgemeinen Uberlegungen kann man annehmen, daß der Akt der Abstrahierung (im Denken und im kreativen Schaffen) zunächst eine Phase der Des y m b o l i s i e run g (Desemiotisierung) durchläuft (Aufhebung der kulturpsychologisch gegebenen Wahrnehmungs formen als Folge der Aufhebung bzw. Deformation der psychophysischen Wahrnehmungskategorien) , die im weiteren zur nackten Präsentation des Wahrnehmungsschemas einerseits und des (ungegenständlichen) "Dinges" andererseits führt: Diese nackte Präsentation (obnaienie) wird aber in einern nach'folgenden Semioseakt wieder (neu) symbolisiert (R e s y,m b o l L s i e r u n g )
nun aber in einer
freien Weise (im Sinne der "freien Ubertragung bzw. Verschiebung" von Bede'utungen bzw. Referenzfunktionen,76 die im ursprünglichen, desymbolisierten Ausgangsperzeptern nicht vorhanden waren. Die
met
0
n y m i s ehe
Ubertragung eines schon
symbolisiertem Objekts aus einem Symbolkontext in einen anderen (in ein anderes ikonographisches Paradigma) findet dann statt, wenn das kulturelle Zeichen (das schon über eine eigene Symbolisierung verfügt) in einen anderen kulturellen Kontext verschoben wird,der sich auf
ein e r
mit dem Ausgangskontext befindet;
pragmatischen Ebene
met a p h
0
r i s c h
ist eine semantische Bewegung dann, wenn das (komplexe) Zeichen in einen Kontext versetzt wird, (bzw. einen substituiert), der auf einer' an d e r e n
pragmatischen Ebene liegt als der
Ausgangskontext, ,also auf einer Ebene,' die erst im Akt der Ubertragung und Substitution
mit 9 e s c h a f f e n
wird
(erfahren als "Werden der Bedeutung"). Der primäre metonymische Akt der Semiose kann in zwei "Richtungen" ablaufen: Die "Abstrahierung" eines realen Stierkopfes ,etwa zu einern ikonischen Zeichen und im weiteren zu einem Graphem (z.B. griechisches "Alpha") - und umgekehrt die "Realisierung" eines Graphems zu einern Stierkopf (oder anderen figurativen Deutungen). Dieser zweite Akt des "Rückgängi.gmachens" der Abstrahierung erschließt aber eine Reihe z u s ä t z 1 i c h e rAssoziationen und Interpretationen, wodurch das Ergebnis der Remetonymisierung durchaus nicht mehr identisch ist mit seiner Ausgangsfigur: Stierkopf - Ideogramm - Graphem
-
317 -
(als linguistisches Zeichen) - Ideogranun 11 - Stierkopf oder Fahrradlenkstange oder Leiter oder Mistgabel (assoziatives Feld analoger Referenten von ikonischen Zeichen). Es würde zu einer ganz mißverständlichen Dechiffrierung des abstrakten Bildes führen, wollte man nur den Weg der Konkretisierunggehen, d.h. ein "perzeptives Ausgangsbild" aus rudimentären refe~entiellen Indizes (figurativen Symptomen) rekonstruieren. Resymbolisierung meint nicht diesen (mimetischen oder allegorischen) "Rückbezug" zum Ausgangsbild, sondern den Vor b e zug zu einer (wenn auch nicht beliebig erwei terbaren) Menge "perzeptiver Bilder" möglicher semantischer Welten, die der einzelne Bild-Text (zusammen mit homologen und analogen Bild-Korpora) entwirft. Der genetisch-kausale Rückbezug auf ein (einziges) Ausgangsbild (bzw. Ausgangsparadigma) wäre charakteristisch für einen "affirmativen" Kulturtyp (LotInans Konzept der "Ästhetik der Identität" - man denke an die mittelalterliche Ikonographie, die Emblematik des Barock, die Allegorik des Klassizismus). In affirmativen ästhetischen Systemen ist normalerweise die "sekundäre Sinnschicht" (Panofsky, Bourdieu) 7D der Bildkunst explizit v e r b a I i s i e r t , als "literarisch übermitteltes Wissen" in ikonographischen Diskursen gespeichert. Diese dienen als metasprachliche Formulierungen jener ikonischen Bedeutungen (paradigmatischen Einheiten und 'paradigmatisierten Syntagmata) , die dann im konkreten Kunstwerk als "inunanenter S i n n oder Gehalt" kombiniert und konkretisiert werden. Die Dekodierung dieses Sinnes (der Aussage) ist Aufgabe der ikonologischen Deutung; eine rein "allegorische" Interpretation eines Werkes (kausal-genetische "Rückübersetzung" in eine einzige Ausgangsfigur bzw. ein feststehendes Paradigma) würde die ikonographische und die ikonologische Bedeutung gleichsetzen. Während nun der erste Abstraktionsschri,tt. (Desymbolisierung) die Referenz auf ein vorhandenes ikonographisches System aufhebt, erzeugt der Akt der Resymbolisierung realisiert in einer ausreichend großen Menge von Bildwerken, die sich zu ganzen Zyklen und Ensembles korporieren - eine potentielle bzw. okkasionelle ("anachronische", "utopische", "phantastische", "exotische" etc.) .,Ikonographie (im Sinne eines "Konzeptualismus" auf der ikonographischen Ebene) in Verbindung mit der I k 0 n i s i e run g (d.h. der bildnerischen Thematisierung und Indizierung)bestinunter konstruktiver Prinzipien und fundamentaler Gesetzmäßigkeiten der Semiose überhaupt. Auf diese Weise wird das (verbal formulierte und tradierte, d.h. diachron transponierbare) "Wissen". ("Gedächtnis" der Kultur) 79 ergänzt durch das Reflektieren der Gesetzmäßigkeiten der Zeichengebung, Vertextung, Interpretation etc. Dies ist aber nur dann möglich und, sinnvoll, wenn die "Kunstwelt" einen neben der "Naturwelt" autonomen Seinsstatus besitzt: "So wird neben die 'Naturwelt' eine neue 'Kunstwelt' gestellt - eine ebenso reale Welt, eine kon-
77
- 318 -
krete. Deshalb ziehe ich persönlich vor, die sogenannte 'abstrakte' Kuns~ konkrete Kunst zu nennen." (Kandinskij)
80
5. ZUR DEFINITION DER "WORTEBENE" IN DER BILDKUNST
Es ist in diesem Rahmen unmöglich, alle Varianten der intersemiotischen Transformationen auf allen denkbaren Zeichenebenen erschöpfend und systematisch zu erfassen. Dies ist deshalb auch schwierig, weil die Semiotik der Bildkunst verglichen mit jener der Wortkunst
b~w.
überhaupt der verbalen Sprache,
noch sehr bescheiden entwickelt ist, sodaß etwa eine klare Definition der bildnerischen Äquivalente zu den Zeichen (Funktionen) der phonologischen, morphologischen, semantischen, syntaktischen u.a. Sprachebenen noch keineswegs in einer mit der ve~gleichbaren Verbindlichkeit feststeht. 81 Wenn
Lingvistik
man also von einer "Gr.ammatik des Bildes" oder einer ikonographischenSemantikspricht, so verwendet man diese Begriffe im allgemeinen eher metaphorisch und keineswegs im Rahmen einer klaren Bestimmung dessen, was das bildnerische Pendant etwa . zum Morphem oder Semem, zur Metonymie oder zum Reim darstellt. Das Hauptproblem einer systematischen Darstellung der intersemiotischen (und damit im weiteren intertextuellen) Korrelativität von Wort- und Bildtext liegt darin, daß man für die Bildsprache keine vergleichsweise klare Einheit ansetzen kann, wie sie das
Lex e m i n der verbalen Sprache darstellt.
Uberhaupt scheint die "Worthaftigkeit" jenes Kriterium zu sein, das die verbale Sprache (bzw. im System der Kunstformen die WK) von allen anderen Medien grundlegend unterscheidet. Alle semiotischen (und sonstigen) Versuche, das "Wort" der Filmsprache etwa oder das der Musiksprache etc. zu definieren, dürfen nicht zu der Vorstellung verleiten, als würde man damit etwas vergleichsweise "Diskretes", "Isolierbares", "Nominales" auffinden, wie es das Wort in der
~erbalen
Sprache darstellt. Man
kann höchstens davon sprechen, daß bestimmte Zeichen (komplexe) in einem non-verbalen Medium die
Fun k t i o n
des Wortes
bzw. Lexems haben können, ohne damit eine reale Entsprechung auszudrücken. Während die Musik (worauf Cl.L~vi-Strauss82
scharfsinnig
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319 -
hinweist) direkt von den kleinsten (den Phonemen entsprechenden) bedeutungsunterscheidenden Merkmalen zu den komplexen (rhythmisch-melodischen) Segmenten (bzw. Motiven) - unter Umgehung der Wortebene - überleiten, fehlt dem Mythos etwa die Merkmalebene der Phonemstufe. Auf die Bildkunst bezogen kommt B.uspenskij83
zu dem Schluß, daß "jene Ebene der Male-
rei, wo es um die allgemeinen Verfahren der Wiedergabe aer räumlichen und zeitlichen Verhältnisse in der Darstellung geht - unabhängig von der Spezifik der dargestellten Objekte", vergleichbar ist mit der "phonologischen Ebene in der natürlichen Sprache", wogegen "jenes System der Darstellung, das unmittelbar mit der Spezifik der Darstellung von Objekten selbst verbunden ist, mit der semantischen Ebene" korrespondiert. Nach diesem Modell tragen die "ideographischen Zeichen" eine grammatikalische Funktion, wogegen die oben erwähnten "symbolischen Zeichen"(II. Grades) "mit der phraseologischen Ebene" der verbalen Sprache vergleichbar sind. Daraus ergeben sich die analogen Ebenen der Bildanalyse: die semantische Ebene der Bildsprache, die dort, wo es um das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem geht, auf ein übergeordnetes (bildexternes) Paradigma rekurriert, und dort, wo sie mit der bildtextinternen Syntax verbunden ist, ikonologische Bedeutungen aktualisiert. Konsequent unterscheidet daher auch Uspenskij (im Anschluß an Panofsky und ~egin) 84 zwischen einer "geometrischen" und einer "semantischen Syntax" der Bildsprache, wobei erstere die "physisch-geometrischen Begrenzungen des Bildes unabhängig von der Semantik der dargestellten Objekte" beschreibt. Das Grundproblem bei der Suche nach bildnerischen Äquivalenten zu den "diskreten, disjunkten, diskontinuierlichen und digitalen Segmenten der (verbalen) Sprache" besteht darin, daß die Bildzeichen bzw. Bildtexte eben "nichtdiskret, nichtdisjunkt, sondern kontinuierlich und analogisch" sind" (Sauerbier). 85 Gerade die BK der Moderne strebt aber nach einer Bildsprache (das seit dem Impressionismus), die gerade diesen diskreten, diskontinuierlichen, digitalen Charakter der einzelnen Bildzeichen und -segmente und ihrer Kombination verstärkt (so v.a. im Kubismus). Wie in der WK der (kubofuturistisehen) Avantgarde wird auch in der BK die Dekodierungsebene vom Ausgangsniveau der Lexeme, Idiome bzw. Satzaussage auf die Ebene der "Wortbestandteile" gesenkt: In der BK wird die Dissoziierung von "Wahrnehmungsmustern", durch die üblicherweise die referentielle Ikonizität (Figurativität) von Bildwerken vermittelt wird, und stark gegliederten, "digitalisierten" Perzeptemen, die die Funktion von lexikalischen Bestandteilen übernommen haben,
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320 -
als "Entgegenständlichung" interpretiert, weil die gewohnte interpretativ-hermeneutische Bindung der PerzeptemKomplexe an ikonographische Referenten und pragmatische Wahrnehmungsmuster (Wiedererkennungsindizes für typisierte Gestaltkomplexe im Bereich der Realia und ihres "Wahrscheinlichkeitsmodells") zumindest in ihrer Eindeutigkeit und Verbindlichkeit gestört oder aufgehoben ist. Eine d i r e k t e Bindung der minimalen Einheiten (Perzepterne bestehend aus Chromemen und Formemen) 86 an interne und externe Objekte ist ebensowenig (eindeutig) möglich wie eine Dekodierung von verbalen Texten ohne Einschaltung eines Lex i k 0 n s der gegebenen natürlichen Sprache (wie dies die russische "konkrete Poesie" der za,umniki zunächst anstrebte) • 87 Das erwähnte Dis k r e t mac h e n der elementaren Bildzeichen bildete jedenfalls die Voraussetzung für eine strukturelle Korrelativität von Wort- und Bildtext in der Moderne. Umgekehrt konnte sich die WK an der prinzipiellen . 0 f f e n h e i t 88 der Konnotation der Bildsprache orientieren und die Bindun'g an die lexikalische Denotation lockern. Hinzu kommt die Verlagerung der Aufmerksamkeit bzw. Intentionalität von der Referenzfunktion der Wort- und Bildzeichen zu ihrer syntagmatischen Position, zu der von dieser abgeleiteten Positionssemantik (Transformation von räumlich-diskreter Kontiguität in zeitlich-kontinuierliche Analogie bzw. Kausalität). Die Offenheit der metonymisch-horizontalen Assoziierbarkeit diskreter Zeichen bzw. Textsegmente steht der Geschlossenheit einer primär metaphorisch-vertikalen Symbolsprache kontinuierlicher Zeichenkomplexe gegenüber, in denen das diskrete Einzelzeichen (seine materielle "Spur" 'wie Pinselstrieh, Lautsemantik etc.) über keinen festgelegten expressiven Wert und keine klare semantische Konnotation verfügt. Es hängt letztlich von der Dekodierungsebene ab, wie "klein" (d.h. wenig komplex, elementar) die diskreten Zeichen sein müssen, damit sie nicht mehr als diskrete Zeichen wahrgenommen werden, sondern zu merkmallosenBestandteilen makrosemiotischer Einheiten werden. In dem Augenblick, wo die Koreferenz aller Zeichen (im Sinne von relationaler Semantik der Textkohärenz) auf ein bestimmbares, nacherzählbares T h e m a gelockert oder aufgehoben wird, verlagert sich die Dekodierungsebene und die Strategie der Lektüre auf die autoreferentiellen Merkmale des (Bild-)Textes sowie auf ihre Bezüge zu einer extratextuellen Instanz der Interpretation, wodurch die Autofunktionalität 89 der Elemente und Komplexe der Signansstruktur äußerst intensiviert wird. Erst dadurch entsteht aber eine Disposition beim Rezipienten, intersemiotische und intermediale Bezüge mono- oder multimedialer Werke als zentralen ästhetischen Prozeß und als grundlegendes Prinzip des künstlerischen Denkens zu erfahren.
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321 -
6. INTERMEDIALE GATTUNGEN Entgegen einem verbreiteten "riaiven" Kunstverständnis ist die multimediale Performanz nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel im System der Kunstformen und Gattungen
gleich welcher EPO-
che. Durch die Kanonisierung und Automatisierung (sowie Institutionalisierung) einer bestimmten Performanzform (Stummfilm, Ton-Farbfilm,
Musiktheater, Kirchenoper, Dichterlesung etc.)
entsteht beim Publikum der Eindruck, als würde es sich jeweils um festgefügte (wenn auch bei näherer Betrachtung hybride) Medientypen handeln. Wie schon erwähnt, strebten die Künstle~ (Theoretiker) der Moderne (v.a. der Avantgarde) danach, die jeweilige mediale, performative, semiotische Struktur der Kunstformen und Gattungen in
u n gern i s c h t e r
Form zu präsentiespezifis~
ren, um sich auf diese Weise der Regeln einer jeden Zeichensprache zu vergewissern. biese sentation von "reinen"
iso I i
M e die n i n d i
e
r t e
z e s 90
Prä-
als fer-
tige Kunsttexte bzw. Werke (des "Wortes als solchem", des "Bildes als solchem", der "absoluten Musik", der eher schon atopisehen als utopischen "Architektonas" Malevics, des reinen Filmmediums im frühen Stummfilm, des "freien Tanzes", der "entliterarisierten" Theatralik in der futuristisch-konstruktivistischen Phase Mejerchol'ds usw.) - dieser für jede analytische Phase der Avantgarde typische
M e d i e n p u r i s mus
verband einen rein technisch-handwerklichen Anspruch (Kunst als "Machen", das sich selbst inszeniert) mit dem Bemühen, die spezifisch ästhetische
N
0
e se,
die autonome Struktur des
"künstlerischen Denkens" als solche einsichtig und erlernbar zu machen. Parallel zu diesem Medienpurismus, dessen Ziel ja die Reflexion und neue Erlebbarkeit der jeweiligen Zeichensprache darstellte, ging es aber auch um die Ersetzung ,der kanonisierten Medientypen bzw. -gattungen (Tafelbild, Guckkastenbühne, Gedichtband, Porträtfoto etc.) durch neue G'attungen und' Performanzforrren, in denen die Spezifik der Zeichensprache der jeweils korrelierten Medien innerhalb
ein e s
Werkes nicht nur für sich re-
flektierbar bleiben sollte, sondern auch (als Folge davon)
jene
externe "Position" zu liefern hatte, von der aus ein Medium (bzw. eine Gattung) sich von
a u ß e n
reflektieren konnte. Solche
- 322 -
inter-und intramedialen
Reflexionen dienen im Prinzip demselben
Ziel wie die Autoreflexion der eigenen (oder einer) Sprache in bilingualen oder polyglotten Kulturen. 91 Reflexionen dieser Art bringen es mit sich, daß auf der einen Seite die relative non y m i e
keit bewußt gemacht wird (d.h. etwa die Möglichkeit, für n e
Referenz
S y -
in der verschiedensprachlichen Ausdrucksfähigz w e i
e i -
oder mehr verschiedensprachliche Aus-
drücke zu benutzen - etwa einen volkssprachlichen und einen kult (ur) sprachlichen) , auf der anderen Seite die jeweils unterschiedliche (ja oftmals sehr divergierende) sekundäre Modellierung durch das jeweils gegebene Sprachsystem (im Kontrast zu den anderen) akzentuiert wird. Während bei den konventionalisierten Mediengattungen der 1. Effekt (also die Erzeugung medialer "Synonyma" etwa durch die
K
0
0
r d i nie run g
von verbaler
und gestisch-mimischer Signifikation, literarischer und illustrativ-bildnerischer, malerischer und musikalischer etc.) im Vordergrund steht - wodurch es eben zum "Verschmelzen" der heterogenen Medien und Zeichensprachen in Hinblick auf die ihnen gemeinsame
e x t r a m e dia 1 e
Referenz ("Programm",
"Ausdruck", pragmatischer "Effekt", fiktionales Vorstellungsbild, .Stimmung etc.) kommt - bemüht sich der avantgardistische Künstler um eine
i n k
0
n g r u e n t e
Präsentation der Me-
dien innerhalb einer gegebenen Medieng~ttung.92 Die immer wieder vertretene Vorstellung, man könne ein und dasselbe. (thematisierbare) Motiv, ohne dasselbe zu verändern, gleichzeitig mit verschiedenen Medien (oder auch Gattungen) "ausdrücken", wurde vom Kunstdenken der Moderne aufs strikteste abgelehnt: Eine nicht thematischinhaltlich (bzw. mimetisch-allegorisch) orientierte Konzeption der künstlerischen Zeichensprachen mußte die Ebene der Ä q u i v a l e n z der intermedialen Gattungen (Bildgedicht, Gedichtbild, Lettrismus , Buchkunst, Film, etc.) primär im Bereich der "Verfahren", der konstruktiven und semiotischen Prozesse suchen. So konnte es vorkommen, daß die S i m i 1 a r i t ä t auf dem Niveau der verbalen und ikonischen Syntagmatik (z.B. Korrespondenz zwischen Metathese oder Inversion auf der Ebene der Wort- und Satzbildung mit den entsprechenden Verfahren in der Dekomposition figurativer Schablonen) begleitet wurde durch eine 0 p pos i t i v i t ä t auf der Ebene der verbalen und bildnerischen Motive (Realisierung des Prinzips der "Reversibilität" auf der Ebene der Morphem-, Wort-, Satzfolge eines palindromatischen verbalen Textes einer bestimmten Motivik "A" und derselben konstruktiven Verfahren in der Bildsprache - aber mit einer bestimmten Motivik "B"). 93
-
1?1 -
Oie semiotische Ooppelnatur des Schriftzeichens, das einmal als
G rap h e m
WK) und einmal als
i k
(Bestandteil der verbalen Sprache der 0
n i s c h e s
Bildzeichen (Bestand-
teil der Bildsprache der BK) gelesen werden kann - diese Ooppelfunktion dient im (russischen) Kubofuturismus als zentrales Pa94 Tritt der
radigma des Verhältnisses von WKund BK überhaupt.
Buchstabe im kubofuturistischen Bild als konstruktives
(syntag-
matisches) und ikonographisches Element auf, entblößt und verfremdet er die (typo-)graphische Funktion (der pis'mennost')i wird der Buchstabe in der
~isuellen
Poesie (lettristische Tex-
te, Bildgedichte) als bildnerisch-konstruktives Element eingeführt, verfremdet er die ikonographische und figurative Funktion (die izobrazitel'nost'). Beide Intentionen können in multimedialen Gattungen (Almanach, Theater usw.) gemeinsam auftreten und einander wechselseitig (oszillierend)' dominieren -
je
nachdem, welcher "mediale Gesichtspunkt" jeweils gewählt wird. Oie visuelle Poesie verlagert das Schwergewicht der "Einstellung auf den Ausdruck" (ustanovka na vyrazenie), von der deklamativen (phonetisch-prosodischen) Performanz zur (typo-) graphischen (ustnost' - pis'mennost'): Anders als in der konkreten "Laut-Oichtung" wird im "Bild-Gedicht" das Medium der verbalen Kommunikation (und seine konstitutive Zeithaftigkeit) durch Bildzeichen überlagert, die im Raum angeordnet sind und neben ihrer konventionellen Zeichenfunktion ("sign-syrnbol") auch eine zusätzliche ikonische Konnotation vermitteln, die den Text in seinen Segmenten (Hervorhebung einzelner Phoneme bzw. Morpheme oder Wörter durch Modulation der Typographie) oder als ganzes gestalten (Anordnung der Grapheme und Zeilen zu einer Figur, die in einer ikonischen Beziehung zur Motivik des Textes steht (man denke an die manieristischen lettristischen Gedichttexte, die in Gestalt einer Vase, eines Schwans etc. angeordnet sind). Diese Art der Text-Ikonisierung erfüllt eine analoge Funktion wie die Onomatopoetica auf der lautsemantischen Ebene. Oie (typo-)graphische Textrealisierung, die aus der Sicht der lautlichen bzw. akustischen Performanz als defizitär und extrem reduziert erscheint (die schriftliche Fixierung des Textes hat unter diesem Gesichtspunkt keinen autonomen medialen Charakter, sondern bloß den einer "Partitur" -
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324 -
analog zur "Notation" musikalischer Texte oder zum "Libretto" von Schauspielen), gestattet spezifisch bildklinstlerische Semantisierungsmöglichkeiten, die der an die Zeit und Sukzessivität gebundenen mlindlichen Deklamation fehlen; Simultaneität der präsentierten Textelernente, prägnante Segmentierung äquivalenter Syntagmata und Lexeme, "vertikale" Zuordnung von Elementen, die in der Deklamation linear-sukzessiv auftreten, graphische Markierung von Begrenzungssystemen, die akustisch nicht markierbar sind. Dieses letztgenannte typographische Verfahren macht sich besonders in jenen Verssystemen bemerkbar, in denen die Versgrenze - etwa durch Enjambements - nicht syntaktisch-metrisch (und mit klarem Reim) fixiert ist. 95 Die typographischen Verfahren haben in traditionellen Gedichteditionen keine auch nur annähernde eigenständige konstruktive oder gar semantisierende Funktion. Erst im (russischen) Symbolismus (v.a. bei A.Belyj) treten die Verfahren der typographischen Verszeilengliederung (besonders markant in der "gestuften" Anordnung syllabotonischer oder rein tonischer Versstrukturen) als autonome verssyntagmatische Funktionen auf 96: Das konzeptuelle Schema des Metrums ebenso wie das der Satzlogik wird auf diese Weise in rhythmisch-semantische Segmente gegliedert ("l
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325 -
nummerierte Paragraphen gegeneinander gesetzt sind). Ziel dieser Tendenz zur Dis k 0 n t i n u i t ä t , zum Dis k r e t mac h e n relativ autonomer Segmente,war schließlich die Annäherung der narrativen Fiktionsprosa an die Poetik imaginativer Wortkunsttexte. Auf den Zusammenhang zwischen "Sujetlosigkeit" (deperspektivierte, defiktionalisierte Prosamontage) und "Ungegenständlichkeit" in der BK sei hier n~r hingewiesen. 99 Ein Maximum an intersemiotischen Korrelationen - bis hin zur Verschmelzung der Medien zu einer ganzheitlich rezipierten Mediengattung - wird dann erzielt, wenn innerhalb ein- und desselben Artefakts verbale und ikonische Zeichen gleichzeitig und o s z i 1 1 i e ren d
präsentiert sind, sodaß vom jeweiligen
p rag m a t i s c h e n
Kontext her nur zu entscheiden ist,
ob es sich etwa um ein "Gedichtbild " (als Teil einer "Galerie" etwa) oder um ein "Bildgedicht" (als Teil eines literarischen Textes) handelt. 100 EßE305ETOHHAß n03Mß ,J~
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326 -
Fälle einer völligen Austauschbarkeit der jeweiligen medialen Dominanten bilden eine in der russischen Avantgardekunst relativ seltene wenn auch signifikante Ausnahme; normalerweise dient der erwähnte pragmatische Rahmen oder aber eine explizite Kommentierung durch den Künstler (oder andere vermittelnde Instanzen) der Festlegung der dominanten Dekodierung. Auf der Textebene entscheiden freilich auch Dichte und Verteilung des Auftretens von Bild- und Wortzeichen über die Zuordnung des Artefakts entweder zur WK oder BK (so etwa in M.Larionovs primitivistischem Bild "Venera"
(1912) ,101
dessen "versetzte Auf-
schrift" (grafiaeskaja zaum') ven/era als "Bildtitel" eine metasprachlich-attributive Funktion trägt - und als "Bildbestandteil" im syntagmatischen (und ikonographischen) Gefüge des bildnerischen Artefakts figuriert. Beide Funktionen sind aber - rein quantitativ - den Bildzeichen so unterlegen, daß diese eindeutig auch semiotisch dominieren. Den umgekehrten Fall repräsentiert das oben abgebildete Werk von Ivan Puni ("Flucht der Formen") ,102
wo eindeutig die Grapheme in ihrer quantita-
tiven Häufung den rein ikonischen Bildzeichen überlegen sind, wohl aber durch ihre bildnerische Gestaltung den Charakter von reinen Bildzeichen annehmen. Besonders interessant sind jene Bilder, die ausschließlich aus einer graphischen "Aufschrift" (straßenschild, Reklametext, Zeitungstitel, Wegweiser etc.) bestehen, deren S i g n a 1 f u n k t i o n (schon auf grund der Rahmung des Artefaktes und jener durch die pragmatische Situation der Präsentation als ~Bild") aufgehoben ist und zu einem reinen Ideogramm reduziert wurde. Als Beispiel dafür kann I.Punis Bild "Bani" (1915) dienen, in dem die Aufschrift als einziges figuratives Element der bildnerischen Mitteilung dient (wenn man von der faktura der beiden Farbflächen absieht).103
6AHI1 ....
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Die Synthese von Wort- und Bildkunst zu einem multimedialen Genre gelang am ehesten in der kubofuturistischen undsuprematistischen
B u c h k uns t
, 104
in der - analog zur mittel-
alterlichen Schrift-Bild-Symbolik (der illuminierten Handschriften, der Ikonen- und Freskenmalerei oder aber in den folkloristischen Genres der "Einblattdrucke" Uubki])-die Wort- und Bildzeichen
g e m e i n sam
einen komplexen Text erzeugen.
("Te li le", 1914. Poem von A.Krucenych und tw. V.Chlebnikov, graphischer Anteil von O.Rozanova) ·105 Die "Renaissance der mittelalterlichen Buchauffassung und der Konzeption der Buchseite als ganzes", d.h. als Text-Bild (bzw. Bild-Text), bildet den typographischen Ausdruck für die allgemeine Tendenz der (russischen) "Avantgarde zur Reaktivierung und Aktualisierung archaischer (primitiver, naiver, magischmythischer, folkloristischer etc.) Denk- und Ausdrucksformen. Im Gegensatz zum illustrativ-fiktionalen Bezug zwischen Text und Bild (als ikonischer Meta-Text zum Erzähltext) reierieren im mittelalterlichen Bild- und Worttext beide Zeichentypen auf einund dasselbe Symbol (bzw. Mythem), auf ein- und denselben URTEXT, den das B u c h faltet. 106
(als mikrokosmisches Analogon zur "Welt") ent-
r.
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329 -
Besonders auffällig ist diese "Gleichstellung" von Wortund Bildtext in jenen mittelalterlichen (byzantinischen) Kodizes, in denen vielfach die I I I u m i n a t i o n auf einer Stufe mit dem (kleingeschriebenen) Kom m e n (der ebenso marginal dem Haupttext beigeordt ~ r tex t net ist) steht~ (Vgl. als Beispiel dazu aus P.Huber, BiZd
und Botsohaft. Byzantinisohe Miniaturen zum AZten und Neuen Testament, Oktateuch-Mini~turen von Vatopedi, Abb.4):107
TEXT I = Text des Alten Testaments TEXT II = Katenenkommentar des Kirchenva ters 'l'EX7' III = Kurzzi tat aus TEXT I als Bildkommentar und Ausgangsformel
KONNENTARTEXT (NETATEXT ~ (TEXT II) HAUPTTEXT (TEXT I) !TEX7' Inl BIIJD BILD
Der immer wieder gezogene Vergleich der Funktion der Bildtexte im mittelalterlichen Kodex (Fresko, Ikonenmalerei etc.) mit den "Sprechblasen" der heutigen Comic-Strips trifft zwar rein textsyntagmatisch zu, vernachlässigt aber die Hierarchisierung der paradigmatischen (und damit auch symbolisch-ikonographischen) Zuordnung der Wort- und Bildtexte im mittelalterlichen Buchgenre. Hier spielt die metonymische Beziehung zwischen verbalem und ikonischem Text (bildnerisch dargestellter verbaler Text als "Rede" einer narrativ-fiktiven Figur) eine der metaphorischen Beziehung zwischen Wort und Bild untergeordnete Rolle. Dort, wo die Schrift im Bild freilich eine "direkte (An-) Rede" (auf dem irdischen oder zwischen himmlischem und irdischem Bereich) darstellt, die sich an eine auf dem Bild dargestellte Figur richtet, gibt es Parallelen zur heutigen Sprechblasen-Funktion. Als bildnerischer Index der d i r e k t e n Rede dient in der mittelalterlichen Bildsprache häufig die aus dem blauen Halbkreis (am oberen Bildrand) weisende H a n d (Gottes) (vgl. etwa Huber, Abb. 20) oder eine kanonisierte Red e g e s t e (ibid., Abb. 21: erhobene Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger). Diese Redegeste markiert den (unterweisenden, das W 0 r t des Ausgangstextes vermittelnden und gleichzeitig auch verkörpernden) Redner, wogegen der Empfänger des W 0 r t e s seine Rezipientenposition durch offene Hände und ausgestreckte Finger signalisiert (vgl. ibid., Abb. 23, 25 u.a.). Die im Bild auftretenden Texte können auch reduziert bzw. komprimiert sein zu bloßen Text-Indizes, durch die eine entsprechende Stelle in der Bibel (oder in anderen kanonisier-
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ten Texten} mit einem Schlagwort angezeigt ist, das gleichzeitig die Funktion des Bildtiteis ("Superscriptio") erfüllt .. Diese KurzformeIn werden dann nach dem (oben skizzierten) Prinzip der Textentfaltung behandelt. Auch sind häufig bestimmte Figuren und Gegenstände mit ihren N a m enversehen (die Figur "verkörpert" ikonisch ihren "heiligen Namen" - und umgekehrt): Der heilige Name (und seine symbolisch-magische Funktion der Re-präsentation, d.h. der Vergegenwärtigung seines Trägers) wird gleichermaßen durch die ikonische F i g u r wie durch die graphische Darstellung ins Bihl gesetzt. Er bildet damit - wie das gesamte Text-Kult-Bild - keineswegs das Objekt einer von außen kommenden Betrachtung (oder einer Kommunikation zwischen zwei horizontal konfrontierten Partnern - wie dies etwa im fiktionalen "Andachtsbild" eines psychologisierten Religionsverständnisses der Fall ist), sondern die im Physischen (Dinglichen) inkarnierte Emanation einer metaphysischen Urbildhaftigkeit welcher Art auch immer. Die Funktion der Wort-Bild-Korrelation im System des mittelalterlichen Denkens ist zutiefst mit der vertikalhierarchischen Raumauffassung verbunden, die erst in der Renaiisance zu einer horizontal-linearen Konzeption transformiert wurde. In der alten Kunst ist grundsätzlich jedes Werk ein Rückbezug auf einen P r o t o t y p (oder Archetyp), lOB den es (energetisch und strukturell) zu restituierengilt. Daher spielt auch das Z i t a t (und die Allusion) als Verweis auf das Ur-Bild und den Ur-Text (bzw. auf ein kanonisiertes Textkorpus) eine qualitativ und quantitativ unvergleichlich größere Rolle als in den Wort-BildTexten der Neuzeit. Den prototypischen (Kult-)Bildern (und -Texten) stehen die allegorischen gegenüber, die eine hermeneutisch-kommentierende (monologisierende) Funktion der Exegese (der Konkretisierung und Aktualisierung) erfüllen. Erwähnen möchte ich hier noch D.S.Lichacevs 109 scharfsinniqe Beobachtung, daß jene Spiegelfunktion, die für die neuzeitliche Kunst die Literaturkritik- und Wissenschaft erfüllt, im Mittelalter durch die bildende Kunst geleistet wurde und auch vice versa: "Die Literatur verifizierte und kommentierte sich in der Malerei aller Gattungen" (25). Die Rolle des Wortes in der BK wurde durch das Bedürfnis motiviert, das "Schweigen" des Bildes zu überwinden. Der Leser der mittelalterlichen illuminierten Handschriften konzentriert sich gleichermaßen auf Bild- und Worttext, wodurch der verbale Text relativ "lakonisch" sein konnte, da die imaginative "Auffüllung" der indeterminierten Stellen durch die BK erfolgen konnte; umgekehrt waren auch die Bilder relativ komprimiert und abstrahiert (zu Ideogrammen), da sie sich auf den verbalen Kommentar verlassen konnten. Lichacev vermerkt auch, daß die Aufschriften auf den Textbildern in der Regel die Vergangenhei tsform des Originalzi-io, tats in das P r ä s e n s umformen (26), wodurch Bild und Text auf eine synchrone (oder eher a c h r 0 n e ) Ebene gestellt werden. Gerade mit dieser Umformung wird aber auch - wie mir scheint -der konstitutiv s i m u 1 t a n e Charakter der WK und BK abgehoben von der Sukzessivität und
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Historizität narrativer verbaler und bildnerischer Darstellung: "Das Wort auf der Bildfläche.bringt gleichsam die Zeit zum Stillstand" (27) oder zeigt das Zeitliche sub specie aeternitatis. Die Verbindung .von Wort- und Bildzeichen in
ein e r
Me-
diengattung signalisiert das neue Medienbewußtsein der Moderne, die sich gegen eine "SchriftkultUl~'" wandte, in welcher der Werktext (auch jener des Bildes) zum Gegenstand einer privaten, kontemplativen, fiktionalen Betrachtung wird. In den subkulturellen und folkloristischen Medien "spielt das Auditorium mit dem Text", indem es selbst zum ROllenträger eines performativen Aktes wird. Daher auch die "organische (Lotman) ,110
Verbindung des "lubok mit dem Theater"
die notwendige Einbettung multimedialer Gattungen
in mehr oder weniger offene "Inszenierungen", die den performativen "Rahmen" für die intermedialen l\orrelationen anbieten. Gerade das ausgeprMgte Interesse der Symbolisten (v.a. Vj.Ivanovs, Bloks, Belyjs) am Theatralischen leitete den von der Moderne grundgelegten Prozeß des Ubergangs von einer werk- zu einer per111 formanzorientierten Ästhetik ein. In besonderer Weise wird diese Entwicklung von der Werkästhetik (Geschlossenheit, TextualitMt, Fixiertheit im Medium, Reproduzierbarkeit der materiellen Basis, Repräsentativität, Gegenständlichkeit etc.) zur Performanzästhetik (Offenheit, Intermedialität, Nichtreproduzierbarkeit, Präsentativität, Ungegenständlichkeit bzw. "Dinglichkeit" etc.) im Avantgardetheater selbst vorgeführt: Im neuen, befreiten "Schauspiel-Theater"
(teatr-zre"lisce) werden die einzelnen Medien und Zeichensprachen (Dekoration, Tanz, Kinetik, Mimik, Deklamation, Licht, Dialog, narrativ-rhetorische Texte etc.) gegeneinander ausgespielt und jedenfalls der Bevormundung durch das Textbuch (das Libretto des . 112 8 "lova]) entzogen. Eines dieser Verfah-
"Worttheaters " [tea tr
ren ist die "Entfaltung" von semantischen Figuren zu ikonischkinetischen Personifizierungen auf der Bühne, die'''Inszenierung'' von Metaphern und Wortspielen (von "Sprachmasken") auf der Bühne (als "Sprechmasken"): Mejerchol'd hat etwa in seinen Majakovskij-Inszenierungen (ebenso wie in den Bearbeitungen von Gogol'-Texten) die verbalen Verfahren der grotesken Hyperbolisierung, der wörtlich genommenen Redewendungen und Sprichwörter "theatralisiert": "Die Hyperbel geht in Hosen [... ].Vor Mejerchol'd
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hatte unser Auge noch nie eine Hyperbel gesehen." (Belyj) 113 Der Personifizierung der Sprachverfahren (olicetvorenie., ozivlenie zu dramatischen Aktanten (die freilich über keine ausgeprägte psychologische Perspektivierung bzw. Selbstreflexion verfügen) steht die Rückverwandlung des ·Schauspielers in einen dinghaft-mechanischen Status gegenüber (Pup:pentheater- bzw. Marionettentheatereffekt , "Biomechanik It Mejerchol'ds, Formalisierung der Sujet- und Konfigurationsmuster etc.). Diese Art von "Personifizierung" (als Aktantialisierung von Sprach verfahren) geht sowohl von verbalen als auch ikonischen Ausgangsfiguren aus. Die Kostüme, Dekorationen, Masken, mimisch-kinetische Stereotypien, deperspektivierte Rede "verschlucken" gleichsam den Träger.bzw. Repräsentanten einer psychologisch, sozial, ideologisch motivierten Perspektive. Auf diese Weise werden Dinge und(unbelebte) Zeichenträger met 0 n y m i s c h zu belebten, bese~lten (anthropomorphen) Gestalten, wogegen sich die Schaupsieler in abstrakte, typisiert-schematische Merkmale auflösen, die von einem Träger zum anderen relativ frei verschiebbar werden. Diese nun schon mehrfach konstatierte Doppelbewegung der De- und Resemiotisierung läßt sich besonders gut am Beispiel der Bühnen- und Kostümentwürfe Malevics zu A.Krucenychs futuristischen Stück Pobeda nad solncem (1913) studieren: Hier dienen die Kostüme grundsätzlich nicht der Charakterisierung der Figuren, sondern sie "tragen", sie "verkörpern" sie, indem sie eine jeweils relativ abstrakte semantische Kategorie "in Szene setzen"
(Tolstjak., Budetljanskij silac, Truslivye., Nekij zlonamerennyj., Neprijatel'.) Novyj etc.): 114
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Die dramatischen Figuren sind "Personifizierungen" von Qualitäten, ohne über eine narrative Perspektivierung zu verfügen, die "semantische Welt" der WK und BK ersetzt die Referenz auf ein kulturell vermitteltes Wahrscheinlichkeitsmodell, das die Motive und Motivationen erschließbar und nacherlebbar macht. Auf die Verwandtschaft dieser WK-Inszenierung mit dem mittelalterlichen (und auch späteren humanistischen, barocken) Symbol- und Allegorietheater möchte ich hier nur verweisen (ebenso wie auf den Unterschied zwischen einer aperspektivischen Symbolisierung von "Abstrakta", einer perspektivischen "Allegorisierung" von Emblemata und einer unperspektivischen "Realisierung" von semantischen Figuren). 115
-
333 -
Analog zur Integration von Schrif.t- und Textelementen ins Bild funktioniert auch die Verwendung von "Aufschriften" und "Schildern"
(auf Tafeln und Kulissen bzw. Kostümen) als metony-
misches Textobjekt auf der Bühne, die eine normalerweise bildhafte Referenz (perspektivisch adäquate Illusion eines Wirklichkeitsausschnittes im Rahmen der Guckkastenbühne) durch einen schriftlichen Verweis ersetzt und damit den visuell-fiktionalen Raum zu einem
sem a n t i s c h e n
Raum transformiert.
Man denke etwa an A.Lavinskijs Dekorationsbeschriftungen in der Inszenierung von MajakovskijsMisterija-buff (1922).116 Auch Ju.Tynjanov verweist in seiner bahnbrechenden Studie zur Verssemantik ProbZema stichotvornogo jazyka (1923/24)117 auf die im mittelalterlichen Theater, aber auch in der Dramaturgie der Shakespeare-Zeit übliche Semasiologisierung von Requisiten (bzw. deren Ersetzung durch Schilder und Hinweise., die als "Äquivalente" der referierten Bedeutungen im Zuschauerbewußtsein dienen sollen). Tynjanov hat in seiner kaum beachteten Konzeption der (semantischen) Ä q u i v a l e n z auch das Prinzip der "minimal-art" (und ihrer theatralischen Varianten) vorweggenommen. Ausgehend von der Behandlung des Problems der syntagmatischen Nullstellen (etwa im Falle der "weggelassenen" Strophen[teilEi] im Evgenij Onegin), deren äquivalenzbild(;mde Funktion nicht nur nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil intensiviert ist (ibid., 50), kommt Tynjanov zu dem SchlUß, daß jede künstlerische, d.h. "dynamische" Form nicht aus der Menge (bzw. Vollständigkei t) des angebotenen "Materials" (d.h. der referentiellen Indizes), sondern aus der Spannung zwischen dominantem konstruktivem Prinzip und den untergeordneten Faktoren erwächst: "Dabei kann das Material auf ein M i n i m u m reduziert werden, das erforderlich ist als Zeichen des konstruktiven Prinzips. Analog dazu, wie im mittelalterlichen Theater für eine Dekoration,. die einen Wald darzustellen hatte, ein Schild mit der Aufschrift "Wald" ausreichte, genügt auch für die Poesie das Schild (jal'Zyk) irgendeines Elements anstelle des Elements selbst: Wir akzeptieren als Strophe sogar die Nummer einer Strophe und sie ist - wie man sehen/konnte -·konstruktiv gleichwertig mit der Strophe selbst." (51) Als Folge einer solchen Reduktion und Substitution eines komplexen (visuell-haptischen) "Materials" durch ein minimales verbales Zeichen konstatiert Tynjanov eine intensive "Entblößung" (obnaienie) des konstruktiven Prinzips und wie man ergänzen könnte - der konstitutiven Struktur und Pragmatik eines bestimmten Mediums. Die "Äquivalente" einer solchen minimalen Referenz (d.h. Indizierung) liegen dann freilich nicht im Bereich eines (zu ergänzenden, fiktional aufzufüllenden) Wirklichkeitsausschnitts, sondern im Rahmen eine? bestimmten (künstlerischen und medienspezifischen) Kodes. Bezeichnenderweise führt Tynjanov als weitere Beispiele für "Äquivalente 11 die "Bühnen- und Regieanweü~ungen"
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im Versdrama (remarki) an, die im verbalen Text selber (vom Autor) integriert sind (so v.a. in den Dramen der Symbolisten, etwa in L.Andreevs Zizn' eeloveka), wobei diese Anweisungen keinerlei szenische Funktion erfüllen, sondern eine solche nur, vorgeben (bzw. imaginative Äquivalente dafür liefern). Tynjanovs Bemerkungen bieten einen interessanten Ansatz zur Klärung des Problems der Funktion von impliziten und expliziten Zeichen(akten) in der künstlerischen'Mftteilung allgemein und der' Substitution eines Mediums durch Zeichen (-Komplexe) indexikalischer Art eines anderen Mediums innerhalb eines medialen Genres.
A N M E R K U N GEN
1.
2.
R.O.Jakobson hat als einer der ersten im Rahmen des kunstwisaenschaftlichen Strukturalismus dazu aufgefordert, ein Werk nicht nur innerhalb seiner Gattung und seiner Kunstform, sondern im Zusammenhang mit den anderen "Künsten" der gesamten Epoche zu analysieren (R.O.JAKOBSON 1976:57 f.). Nach Jakobson bilden die Kunstformen (bzw. "Künste", russ. "iskusstva") jeder Epoche ein über die (kunstformimmanente) Ordnung der Einzelgattungen'hinaus reichendes System, dessen funktionale und wertmäßige Hierarchie durch die jeweils "dominierende" Kunstformstrukturiert wird: "Die anderen Künste definierten sich" - etwa in der Renaissance - "nach dem Grad ihrer Nähe" zur dominierenden Kunstform, im konkreten Fall zur bildenden Kunst (ibid.). Dagegen nimmt diese dominierende Stellung in der Romantik die Musik ein, im Realismus die Literatur etc. Dahergenügt es auch nicht, Fragen der Evolution der Kunst auf die Untersuchung der einzelnen Kunstformen zu beschränken; es geht auch "um die Frage der Veränderungen im Wechselverhältnis der einzelnen Künste", wobei die Ubergangsbereiche zwischen ihnen von besonderem Interesse sind (etwa die Illustration im Zwischenbereich von Literatur und Bildkunst oder die Gattung der Romanze zwischen Musik und Poesie, ibid. S. 61). Jenseits der Analyse eines Textes in seinem Verhältnis zu heterogenen Kunstformen liegt dann schon die Analyse der Wechselbeziehung zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Komrnunikationssystemen (bzw. Medien) in einer Kultur, eine Fragestellung, die im Rahmen des "pragmatischen Modells" des russischen Formalismus (Theorie des "literaturnyj byt" , d.h. des "literarischen Alltags") und überleitend zum tschechischen Strukturalismus zum ersten Mal systematisch bearbeitet wurde (vgl. dazu HANSEN-LÖVE 1978:397-425; ibid. zum System der Kunstformen in der russischen Moderne S. 59 ff.). Zum Verhältnis von WK und BK in der russischen Moderne bzw. qer russischen Avantgarde vgl. die bahnbrechende Studie von N.CHARD~IEV 1940, zuletzt 1976:8-84 und allgemeiner die Arbeit von M.KAGAN 1972. - JAKOBSON 1971b:338 f. stellt das Problem der Korrelation der Kunstformen in den weiteren Rahmen der heterogenen Zeichentypen und ihrer Wechselbeziehung. Zum System der Kunstformen um die Jahrhundertwende vgl. zuletzt M.GRYGAR 1980:199-254; vgl. weiters J.VELTRUSKY 1981: 109-132. SAUERBIER 1976: 11 ff. zur inter-und multimedialen Tendenz des Aktionismus, Konkretismus und Konzeptualismus der Gegenwartskunst (seit den 50er Jahren). Dieselbe Tendenz läßt sich freilich schon in der klassischen (auch der russischen) Moderne feststellen. Gerade die symbolistische Theorie und Praxis des Dramas (vor allem bei Vj.Ivanov und z.T. A.Blok) und der Dramaturgie (beim jungen Mejerchol'd, bei Evrejnov u.a.) belegt die für die Moderne grundlegende Durchbrechung der Monomedialität (und ihrer Fixierung auf Werkästhetik, auf fiktionale Hypostasierung des autonomen Textes in seiner Reprä-
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sentativität) in Richtung Inter-und Multimedialität (mit der für diese charakteristischen Bindung an eine Performanzästhetik, die sich durch ein Näherrücken von Produktion, Performanz und Rezeption innerhalb eines möglichst unmittelbaren raum-zeitlichen Kontextes auszeichnet). Die Idee des Theaters als Ideal einer "synthetischen" Kun~tform,. wie sie der Symbolismus vertrat {ausgehend von der romantischen Idee des "Gesamtkun~twerks", V.a. von R.Wagners Musiktheater, aber auch den. archaischen oder folkloristischen Formen des "Mimos" , der dionysischen Entwicklungslinie der Kunst),wurde in der postsymbolistischen Avantgarde durch die Konzeption eines "analytischen", die einzelnen Kunstformen multimedial isolierenden (wenn auch gleichzeitig präsentierenden) VerfremdungsTheaters abgelöst (kubofuturistische Dramaturgie, konstruktivistisches Theater Mejerchol'ds und S.Tret'jakovs bzw. durch diesen wesentlich vermittelt B.Brechts). Diese Isolation; Vereinzelung und Totalisierung der konstruktiven und medialen Verfahren ist typisch für eine jede analytisch-verfremdende Kunstrichtung (vgl. dazu ebenso SAUERBIER 1976:77 f.) . . Eine zusammenfassende Darstellung der neueren Konzeptionen einer "Semiotik der multimedialen Kommunikation" siehe bei E.W.B. HESS-LUTTICH 1978:21-48. 3.
Ausführlicher dazu HANSEN-LÖVE 1978:59 ff. Besonders in der Frühphase seiner ästhetischen Theorie greift A.Belyj auf die platonische (und durch Schopenhauer vermittelte) Konzeption der "Hierarchie" der Kunst-und Seinsformen zurück (vql. A.BELYJ [1902] 1910:149-174 behandelt die· "Kunstformen" ["formy iSkusstva"] ausgehend von A,SCHOPENHAUER' Die Welt als Wille und Vorstellung, I, 3. Buch und F,NIETZSCHE Die Geburt der Trago'die, ·zit. nach 1954:1, 89 ff.). '
4.
Vgl. aus formalistischer Sicht dazu Ju.TYNJANOV [1927],zit. nach 1972:275 ff. und V.~KLOVSKIJ 1928:237 ff. Interessant für die, Beziehung von Genre und Medium ist 'l'ynjanovs Hinweis, daß für das Genre-Empfinden nicht nur die qualitativen (konstruktiven) Kriterien, sondern ebenso die quantitativen Bedingungen der (Re-) roduktion ausschlaggebend sind: also etwa die ~änge eins Textes (Tynjanov spricht von einem "Minimum zweitrangiger Züge", TYNJANOV 1972:319; 1969:256 ff., 395 ff.),
5.
Ein erster ~~satz zu ~iner semiotischen Definition der medialen Autonomie des Films als eigenständige Kunstform findet sich in dem formalistischen Sammelband Poetika kino (1927), hier v.a. der Beitrag von B.V.KAZANSKIJ 1927:89-135. Schon 1919 verweist V.~KLOVSKIJ (1919/1923:32 f L ; 1927:16) auf jene semantischen und konstruktiven "Vorzüge", die der Kinematographieaus ihren technisch gegebenen Mängeln (Stummfilm, starre Kameraposition) gegenüber dem Theater oder der Literatur erwachsen. Vgl. dazu auch B.~JCHENBAUM [1925] 1927, 1969: 208 f., der auf die umgekehrte Wirkung verweist: Die Erzählprosa Anfang der 20er Jahre in Rußland mußte sich ihrer medialen Spezifik (v.a. ihrer Verbalität, ihrer wortkünstlerischen Komponente im "skaz") vergewissern, um gegenüber der höheren Attraktivität des Filmgenres auf der Ebene der Sujetstruktur und Montage bestehen zu können.
-
6.
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A.BELYJ 1910:67 kritisiert den "Synthetismus" als mechanistische Kombination unzusammenhängender Teile, wogegen das echte Symbol die "organische Vereinigung" zu einer neuen (bildhaften) Ganzheit darstellt~ Diese GegenUberstellung von "Mechanik" (charakteristisch fUr den frUhen Symbolismus) und "Organik" (religiös-philosophischer Symbolismus), die sich Ubrigens auch bei Vj.Ivanov findet (Vj.IVANOV SS 11, 606), verbindet Belyj mit der Gegenüberstellung von "Schöpferturn" ("tvor~estvo") und der Position des distanzierten (oder fiktionalen) "Betrachtens" ("sozercanie"); im Bereich der Medien tritt diese Opposition als per formativ orientiertes Kunstschaffen ("tvor~estvo"), das den "Lebens~e~t" mit dem "Kunsttext" untrennbar vereint ("ziznetvor~estvo"), dem Prinzip der Abgeschlossenheit und Objekthaftigkeit der Werkästhetik entgegen ("tvorenie", "sozercanie", "ergon" statt "energeia", Objekt des fiktionalen Nacherlebens etc.). Vgl. ibid., 68 ff. und v.a. 107 f. "Erkenntnis", "Betrachten" ("poznanie", "sozercanie"~sind fUr Belyj Einstellungeri, die d~s Leben in seiner schöpferischen Unmittelbarkeit und Augenblicklichkeit nicht erfassen können (BELYJ ibid. 111 f.). An anderer Stelle kommt Belyj zu einer radikalen Gleichsetzung von Symbolismus und "tvor~estvo" (ibid. 139), von "Künstler(leben)" und "Kunstwerk". Ausgehend von Wagner und Nietzsehe postuliert Vj.Ivanov eine "synthetische Kunst" ("sinteti~eskoe iskusstvo"), in der alle Kunstformen vereinigt sind (Vj.IVANOV 11:89 ff.; ders., 11:205 ff.). Ideal dieser neuen, "organischen", synthetischen Kunstform ist das "totale" Theater. Starke Ausstrahlung sowohl in den Symbolismus als auch die postsymbolistische Avantgarde hatte A.Skrjabins Idee einer Versöhnung aller Kunstformen in einem synästhetischen Werk, das Musik, Poesie und Tanz vereinigt (vgl.N.CHARD~IEV 1970:98 zu Skrjabin und Chlebnikov). Das Interesse der Symbolisten an der bildenden Kunst war zwar verglichen mit ihrer Hochschätzung der Musik (s. Anm. 14) relativ geringer; am ehesten bestand es noch auf dem Gebiet der Farb-Semantik (bzw. chromatischen Symbolik), die zu einem der Markenzeichen (auch des französischen Symbolismus) zählt. Die freie Verschiebbarkeit von Farb-und Gegenstandsbindungen zeichnet ja sowohl die bildende als auch die poetische Kunst der Symbolisten aus (vgl.· zur symbolistischen Bildkunst u.a. H.H.HOFSTÄTTER 1965: 128 f.). Der Zusammenhang zwischen der fUr den Symbolismus grundlegenden Konzeption des "Synästhetismus" und des ebenso typischen Synkretismus und Synthetismus in der Kunst der Jahrhundertwende ist unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität noch kaum untersucht worden. (Vgl. zur symbolistischen Chromatik A.STEINBERG 1979:187-213; J.PETERS 1981) . Besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang ist A.Bloks Aufsatz "Kraski i slova" (1905), in dem er - gerade mit Blick auf die enorme Bedeutung der freien Chromatik - eine Synthese von. Malerei und Dichtung (wohlgemerkt: Wortkunst!) fordert (A.A.BLOK V, 20 f.). Bloks Bekenntnis zur Malerei als zu jener Kunstform, die der (kindlichen) "Unmittelbarkeit" und dem Prinzip des "Neu-Sehens" durch Kunst am nächsten konunt, weist voraus auf die zentrale (auch kunsttheoretische) Rolle der BK in der postsymbolistischen Avantgarde. Gerade Bloks Hinweis auf die
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Bedeutung des "kindlichen Sehens" als Grundlage ,für jede Kunsterneuerung wurde im Neo-Primitivismus und Naivismus der russischen Avantgarde zur Leitidee. Vgl. ausführlich zu diesem Artikel Bloks S.M.DANI~L 1975:79 ff.; G.PIROG 1980:101-108; K.CIESLIK 1980:83-91. Zur Emotionalisierung und symbolischen Uberhöhung der Farbwerte bei Vrubel' vgl. A.BLOK IV, 428 f. (bei Belyj vgl. ELSWORTH 1978:133 f.). - V.BRJUSOV 1975:49 f. fordert gleichfalls eine Neuordnung des Systems der Kunstformen und die Erschließung neuer Medien. Vgl. J.E.BOWLT 1979 (mit zahlreichen Hinweisen zur WK-BK-Korrelation im russischen Symbolismus. Erw~hnt sei hier nur die Entstehung einer eigenen Mediengattung der (Kunst-)Zeitschrift im Symbolismus (vgl. die Zeitschriften "Mir iskusstva", "Vesy", "Zolotoe runo" etc.), 'd:\-e - parallel zur Theatralik und zur "Inszenierung" von existentiellen Situatio-: nen (etwa in den Künstlerzirkeln, den "kruzki") - am ehesten der symbolistischen Idee des Gesamtkunstwerkes nahe kam. Die Formalisten konnten - ausgehend von der kubo,futuristisehen und suprematistischen Journal-, Almanach- und Buchkunst einen ersten Ansatz zur tlleoretischen Begründung dieser Mediengattungen, entwickeln. VgI.dazu HANSEN-LÖVE 1978: 413 L, 542 ff. ' 7.
Zur "Diskontinuität" ("preryvnost''') bzw. Diskretheit als Merkmal des modernen Denkens vgl. P.A.FLORENSKIJ 1971:504 ff.; V.V.IVANOV, J.M.LOTMAN 1973:27 f. sehen in der Opposition "diskrete" vs. "nichtdiskrete semiotische Modelle" (bzw. Texte) eines der Hauptkriterien in der typologischen Bestimmung von Kulturen; ein Sonderfall dieser Opposition kann die Antithese von ikonischen und verbalen Zeichen sein, wobei WK und BK einander bei de~ Bildung des Kulturmechanismus,gegenseitig bedingen: beide Kunstformen verhalten sich zueinander "äquivalen~", sind jedoch nicht zur Gänze wechselseitig ineinander übersetzbar ("vzaimoperevodimyj"). V.V.IVANOV 1974: 65ff. wendet diesen Gesichtspunkt der Diskretheit auf die Bedeutung des Kubismus für die moderne Kunst an; ebenso vgl. V.V.iVANOV 1976:271 ff.; E.M.MELETINSKIJ 1976:77 f. Zur Problematik des Prinzips der "Diskretheit" in der diachronen Pe~iodisierung vgl. I.P.SMIRNOV 1977:16 ff. und zusammenfassend dazu HANSEN-LÖVE 1980:133 ff.
8.
I.P.SMIRNOV,' R.DöRING 1980:441 unterscheiden innerhalb jeder Periode zwischen einern "analytischen" und einern "synthetischen" Subsystem (vgl. auch die in der Kunstgeschichte gängige Unterscheidung in "analytischen" und "synthetischen" Kubismus). Schon der Symbolist Vj.lvanov spricht explizit von der (negativ gewerteten) analytischen Phase des frühen Symbolismus (d.h. "dekadentstvo") und der synthetischen Phase des reifen, religionsphilosophischen Symbolismus (Vj.IVANOV 11, 605 f. und v.a. 111, 62 fL, 73 L).
9.
Zur metaphorischen Natur des Symbolismus im Gegensatz zur metonymischen des Postsymbolismus (der "historischen Avantgarde") vgl. I.P.SMIRNOV 1977:80 L, 102 ff. Die Begriffe Metapher / Metonymie sind hier im jakobsonsehen Sinne (und
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ihrer Variation durch I.P.SMIRNOV 1977:93 und ders., 1979b: 177 f~) verstanden. 10.
Zur Idee eine~ "wechselseitigen Erhellung der Künste" vgl. H.WÖLFFLIN.
11.
VgI., zu dieser Klassifizierung Anm. '17. ("dekadenter" Symbolismus vs. mythopoetischer Symbolismus).
12.
Die "Montage", ja das "Montage-Denken" als zentrales KonstitutivesPrinzip der (kubofuturistischen) Avantgarde basiert auf dem "metonymisch-katachretischen" Charakter dieser Periode (vgl. I.P.SMIRNOV 1977, -I.R.DÖRING-SMIRNOVA, I.P.SMIRNOV 1980:461 f.). Im Gegensatz zum Streben der· Symbolisten nach "Vereinigung" ("coniunctio", "coincidentia oppositorum", russe "slijanie") postulie~ten die russischen Kubofuturisten das Prinzip der "Verschiebung" ("sdvig"), der "Diskonstruktion", "Disjunktion" (vgl. D.BURLJUK 1913:101; A.KRUCENYCH 1923, HANSEN-LÖVE 1978:90 f.).
13.
Zur Verbindung des konstruktiven "Fundamentalismus" mit der Tendenz zur Restitution archaisch-primitiver Denk-und Darstellungsformen vgl. V.MARI
14. Im Symbolismus (2. Phase) wird nicht immer klar unterschieden zwischen "Musik" als konkrete Kunstform und dem Prinzip der "Musikalität" ("muzykal'nost'''), das sehr vie'l weiter gefaßt ist und z.T. (als organisch-kosmisches Prinzip im Sinne der Musikphilosophie Nietzsches) mit "simvolicnost'" des Lebens und der Kunst gleichgesetzt wird (BELYJ 1910: 111 und 139; Vj.IVANOV [1904] 1929:31 f.; K.BAL'MONT 1973: 6). Das von Blok für die Malerei in Anspruch genommene Prinzip der "Unmittelbarkeit" (5. Anm. 6) schreibt Belyj d.er Musik zu, die infolge ihrer Abstraktheit ("bezobraznaja neposredstvennost' muzyki", BELYJ 1910:170) und ihrer elementaren Verwurzelung im (kosmisch-organischen) "Rhythmus" (ibid. 219) direkt auf die Psyche wirkt. Diese kosmische Einbettung der Musik (pythagoreisch gedacht als "Sphärenmusik", dionysisch als organisch-elementarer Rhythmus) durchdringt alle ästhetischen Schriften Vj.Ivanovs, A.Belyjs, A.Bloks u.a. (vgl. etwa A.BLOK VI, 101; A.BELYJ 1910:147-174. A.Biok ~ritisiert in seinem ersten erhaltenen Brief an A.Belyj die in diesem Artikel ["Formy iskusstva"]nicht genügend klare Unterscheidung von "muzyka" und "muzykal'nost''', vgl. A.BLOK, A.BELYJ 1940:3 ff.; zur Uberschätzung der zu weit ge faßten Wirksamkeit der Musik vgl. BELYJ 1907:57-60). Zur Realisierung des Prinzips der "Musikalität" in der Prosa A.Belyjs vgl. D.TSCHI~EVSKIJ 1971:VII ff.l A.KOVAC 1976:167 ff.; B.CHRISTA1976:395-414; R.P.HUGHES 1978:137145; zur unterschiedlichen Realisierung der "muzykal'nost'" in Symbolismus und Futurismus vgl. noch W.G.WESTSTEJN 1980: 255-296. CI.LEVI-STRAUSS behandelt sowohl in der Einleitung zu seinen "Mythologica" als auch im Finale die Stellung der Musik zu den anderen Kunstformen und zum Mythos (L~VI-STRAUSS I 1971:28 ff.): Ebenso wie die Symbolisten sieht auch Levi-
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Strauss in Wagner jenen Ktinstler, der erstmals die "Affinität zwischen Musik und Mythos" (ibid. 30) struktural realisiert hat. Ein Vergleich zwischen dem musikalischen Aufbau der Symphonien Belyjs und ~em "symphonischen Aufbau" der "Mythologica", die ja auch als halb-ktinstlerischer Text konzipiert sind, würde auch ein neues Licht auf die Affinität der symbolistischen Mythopoetik und der strukturalistischen Mythentheorie werfen '(ibid. I, 45). Nach Levi-Strauss vermi ttel t das mythologische Denken zwischen d'em der artikulierten Sprache und dem der Musik (I, 47), ebenso wie die Musik (aufgrund des Fehlens der ersten Artikulationsebene, s.u. Anm. 88) zwischen Kultur und Natur vermittelt (eine Auffassung, die wiederum durchaus der symbolistischen Mythopoetik entspricht). Im "Finale" zu den "Mythologica IV" (732 f~.) verweist Levi-Strauss auf das horn 0 l o g e Verhältnis 'von Mythos und Musik ("Die Mythen sind lediglich ineinander übersetzbar, sO,wie eine Melodie nur in eine andere Melodie tibersetzbar ist, die mit ihr Homologiebeziehungen bewahrt: man kann sie in eine andere Tonart transponieren .. ", IV, 757). Historisch gesehen tritt die Musik zu jenem Zeitpunkt an die Stelle des Mythos, da dieser ersetzt wurde durch das "romaneske" Erzählen (ibid. 765), d.h. "demythologisiert" wurde: "Wenn der Mythos stirbt, wird die Musik auf dieselbe Weise mythisch wie die Kunstwerke, wenn die Religion stirbt, aufhören; einfach nur schön zu sein, und heilig werden"(766): Auch diese Einschätzung deckt sich mit der remythologisierenden Intention der Moderne bzw. mit dem Selbstverständnis des, Symbolismus. ,Sbenso wie Belyj sahen auch die Kubofuturisten die wesentlichste Gemeinsamkeit zwischen Musik und den anderen Kunstformen der Moderne in der Tendenz zur "Ungegenständlichkeit" ("bespredmetnost'''). Vgl. dazu N.KUL'BIN 1915:192 ff. 15.
Vgl. den Abschnitt tiber das "slovotvor~estvo" bei BELYJ 1910:434 fL und parallel dazu Ju.TYNJANOV[1924] 1965: 25.'
16.
Zur Intertextualität im Symbolismus vgl. Z.G.MINe 1974: 134 ff. (zur Funktion des Zitats im Symbolismus ibid. 139); Z.G.MINe, Ju.M.LOTMAN 1973:96 ff.; Z.G.MINe 1975:43 ff.; R.'TIMENCIK 1974:124 ff., SMIRNOV 1977:54 ff.
17.
Die Unterscheidung in eine Frtihphase des Symbolismus ("dekadentstvo") und, den Sym,bolismus der 2. Generation (religionsphilosophischer, mythopoetischer Symbolismus) hat sich allgemein durchgesetzt (I.P.SMIRNOV 1977:27 L; Z.G.MINe 1974: 135 f.; L.PUSTYGINA 1975:143-147; HANSEN-LÖVE 1980:149).
18.
I.P.SMIRNOV 1977:25; HANSEN-LÖVE 1983.
19.
Zur Theorie der "Realisierung" und "Entfaltuno" semantischer Figuren aus formalistischer Sicht vgl. HANSEN-LÖVE 1 978 : 1 28- 1 52 ; der S., 1 9 8 2 : 1 97 - 2 5 2 .
20.
R.JAKOBSON [1921] 1972:80 ff.; A.BELYJ 1934:232 ff.
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341 -
21.
Vgl. HANSEN-LÖVE 1982:213f. und O.FREJDENBERG 1936 (zum Verfahren der "Realisierung von Tropen" in den antiken Lite'raturen) .
22.
B.A.USPENSKIJ 1970a:172-218 liefert eine zusammenfassende Darstellung der "strukturellen Gemeinsamkeit von Malerei und Literatur", v.a. seiner eigenen, auf die Konzeption L.,F. ~egins (~EGIN 1970) zurückgreifenden;Studien zurPerspektivik in Wort-und Bildkunst. Vgl. allgemein Meyer SCHAPIRO 1969:238 ff.; ders. 1973; R.JAKOBSON 1970:3-23; ausgehend von Jakobson und den einschlägigen Studien Jan Mukarovskys ("Mezi poezii a vytvarnictvim" und "Podstata vytvarnych umAni") "gI. J.VELTRUSKl' 1981:109-132 sowie M.R.MAYENOWA 1981:133-137. Konkret zum Verhältnis von Kubismus und Dichtung vgl. M.GRYGAR 1973:9-49; ders., 1980:199-254; zum Konstruktivismus in dieser Hinsicht vgl. R.GRUBEL 1981:83 ff., 237 ff.; A.FLAKER 1980:11-17; J.BOWLT 1972:131-146; .ders.,1976:41 ff; vgl. auch den historischen Uberblick bei VI.MARKOV 1968 und C.GRAY 1963.
23.
A.MALRAUX 1956:52 ff. zur jahrhundertelang bestehenden Rolle der Malerei als "bevorzugtes Ausdrucksmittel der Poesie"; K.LEONHARD 1953:20 f. S.D.SAUERBIER' 1976:13 f., 20 f., 46, 81.
24. 25.
Die Unterscheidung des (archaisch-mythischen bzw. unbewußten) "unperspektivischen" Denkens vom (bewußt-rationalen) "perspektivischen" Denken (der Renaissance und ihrer' Zentralperspektivik) und vom "Aperspektivismus"(der Moderne) entnehme ich Jean GEBSER [1949/53] 1-111, 1973:1,35-69. Zum Zusammenhang von Perspektivik und archaischem Denken vgl. S.Ju. NEKLJUDOV 1972:191 ff.; V.V.IVANOV 1972:105-133; V.N.TOPOROV 1972:77-103; A.D.STOLJAR 1972:66 ff.; bes. über den Zusammenhang des rezenten "Kunstdenkens" ("chudozestve'nnoe myslenie") mit dem archaisch-mythologischen Denken L.B.PEREVERZEV 1965: 217-220; zur Problematik der "umgekehrten Perspektive" vgl. B.A.USPENSKIJ 1970b:4 f~.; L.F.~EGIN 1970:40 f.; zu den allgemeinen Charakteristika des "mythologischen Denkens" vgl. E.M.MELETINSKIJ 1976:164 ff.; I.P.SMIRNOV 1977:57 ff., 285 ff.; 1972:284-320; ders. 1979:175-203; dazu zusammenfassend HANSEN-LÖVE 1980:167-173; S.S.AVERINCEV 1972:110-155; V.V.IVANOV, V.I.TOPOROV 1965:238; I.P.SMIRNOV 1978:186-203; Ju.M.LOTMAN, B.A.USPENSK1J 1973:282-303 (zur Metaphorisierung der ursprünglich mythologisch funktionierenden Symbolik); zur Problematik der Remythologisierung zuletzt I.P.SMIRNOV 1981:59 ff. Zum Modell des (a~chaisch-primitiven) "konkreten Denkens" (und seiner Verwandtschaft mit dem Montagedenken der Moderne, dem Prozeß der "bricolage") vg1. C1.L~Vt-STRAUSS 1973:11 ff. und zur Struktur des mythologischen Denkens Cl.L~VI-STRAUSS 1971:26 ff ("Logik der sinnlichen Qualitäten") und ders., 1975:732 ff. Uber den Zusammenhang von archaiscn-unbewußtem und rezentem Kunstdenken vgl. C.G.JUNG 1979:82, 89.
26.
S.FREUD 1961:283 ff. sieht eine Entsprechung zwischen den Verdichtungs-und Verschiebungsprozessen in der Sprache des Unterbewußten und jener des mythisch-magischen Denkens sowie der wortkünstlerischen Diskurse: Grundprinzip ist die (aus der Sicht des rezenten, rationalen Denkens unrichtige) Trans-
-
342 -
formation von Kontiguitätsassoziationen zu Analogieassoziationen, d.h. von räumlicher Nachbarschaft zu zeitlich-kausalen Abfolgen. Freud vergleicht (ibid. 317) die "Stummheit" der Malerei (im Vergleich mit der Poesie) mit der "Stummheit" des Traumes~ in beiden (in ,BK und Traum, d.h. unbewusster Imagination) dominiert die SimultaoE!ität aller Elemente: im Traum wird der "loqische Zusammenhana als Gleichzeitiqkeit ausgedrückt"; der Traum "verfährt darin ähnlich wie der Maler .. " (ibid. 319). Aus eben dieser Beobachtung heraus stellt auch E.CASSIRER 1922:42 ff. eine strukturelle Analo,gie zwischen mythischem und ästhetischem Denken her: Während im rationalen (wissenschaftlichen) Denken der Zeitbegriff vorherrscht, "so bleibt im Mythos der Vorrang des räumlichen Anschauens vor dem zeitlichen durchaus gewahrt" (ibid.). In diesem Primat der räumlichen Kontiguität wurzelt alle Magie. Vgl. dazu S.Ju.NEKLJUDOV 1972:191~ V.N.TOPOROV 1972:78 f.i vgl. die Beiträge in: Ritm, prostranstvo i vremja v literature i iskusstve (1974), hier v.a. V.V.IVANOV 1974:39-67; G.B.BORISOVSKIJ 1979:88-112, bes. 98 ff.~ B.V.RAU~ENBACH 1979:143 ff. und zuletzt 1980. R.JAKOBSON 1971b:340 zur Simultaneität (BK) vs. Sukze~ sivität (WK, Musik), verweist auf einen der ersten Vertreter dieser Dichotomie in Rußland, I.M.Secenov, Elementy mysli [1870], M. 1959, aber auch auf Lessings bekannte Laokoon-Studie (ibid. 343). Ebenso JAKOBSON 1971a:336 f. R. ARNHEIM 1972: 232 f. ("Das intellektuelle Denken baut die Simultanstruktur des Räumlichen ab")~ A.J.BISANZ 1976:184223; SAUERBIER 1976:314 ff. , Zur' Typologie der Raum-und Zei tkUnste aus symbolistischer Sicht vgl. BELYJ 1910:147 ff., 175 ff. (dazu J.ELSWORTH 1980: 68 fL) ,. Besonders aufschlußreich dazu V. BRJUSOV 1975: 381 ff. 27.
'Vgl'. HANSEN-LÖVE '1982 :212L
28.
Zur hier vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen "Imagination" (als Prozeß des unbewußten, archaisch-mythischen Sprachdenkens, dominierend in der Semantik der Wortkunst) und "Fiktion" (als bewußt-perspektiviertes Projizieren von Vorstellungen auf ein gegebenes Wirklichkeits-und Wahrscheinlichkeitsmodell, dominierend in der Narrativik) vgl. HANSENLÖVE 1982:231ff. ; SAUERBIER 1976:352 f.
29.
B.A.USPENSKIJ 1971:178 ff.
30.
Vgl. HANSEN-LÖVE 1978:82ff.
31.
Ibid. 115 L~ V.CHLEBNIKOV 1972: 11,101 fL, 315 L, 322 f.; A.BELYJ 1922;
32.
A.J.BISANZ 1976:196 L~ SAUERBIER. 1976:352 f.
33.
Zum Begriff des, "Realismus" in diesem Zusammenhang vgl. R.JAKOBSON [1921] 1969:372-391.
34.
Ju.TYNJANOV 1929:509 ff. unterscheidet klar zwischen einer narrativ thematisierenden "Illustration" verbaler Texte durch auxiliäre Bildbeigaben und Realisierung derselben durch autonome (homolog strukturierte) Bildtexte (wie dies in der kubofuturistischen "zaum'" der Fall ist).
- 343 -
35.
Vgl. HANSEN-LÖVE 1982 ~'231 f.
36. 37.
I.P.SMIRNOV 1977:99. Zur Ablehnung der (narrativen) Programmusik durch den Kubofuturismus vgl. N.KUL'BIN 1915:193. Zur Abstraktheit der MU$ik vgl. auch V.KANDINSKIJ [1910] 1952. Der eigentliche Sinn des Begriffs "Ungegenständlichkeit" ("bespredmetnost''') besteht eben in der depragmatisierenden, desemiotisierenden Rückverwandlung der kulturell-zivilisatorischen "Realia" in physisch-sensuelle und imaginative Ding (-Vorstellungen). In der Ästhetik der Avantgarde (und des ' Formalismus) tritt dann "ve§~'" (= Ding) auch in der Bedeutung von (Kunst-)Werk auf. Vgl. zur philosophischen Begründung der Begriffe "ve§~''', "material", "priem" B.A.ENGEL'GARDT 1927:37 ff.; HANSEN-LÖVE 1978:188 ff~ Die sehr kritische Einstellung der Formalisten zu allen mimetisch-abbildenden Funktionen der BK wurzelt schon in ihrer Negation einer v i s u e 1'1 - 0 P t i s c h e n Interpretation von semantischen Figuren ("Bildern", "obraznost'" der symbolistischen Ästhetik).
38.
39.
40.
Vgl. zur Zeichentheorie in der Tradition von Ch.S.Peirce zusammenfassend bei Th.A.SEBEOK 1979:56 ff.
41.
R.JAKOBSON 1971c:307-342 beschränkt sich weitgehend auf die them,atischen Gemeinsamkeiten zwischen Literatur und bildender Kunst; "Transposition" ist für Jakobsdn die Ubertragung eines Themas aus einem Kunsttyp in einen anderen (ibid. 332), wobei etwa die "Plastik" (selbst ein Zeichen, "signum") zum Thema ("signaturn") im'Dichtwerk wird, wo sie als Zeichen bzw. Bild 2.0rdnung fungiert. SAUERBIER 1978: 39 verwendet den Begriff der "Transposition" in einem viel weiteren Sin~ (=Ubertragung von "Texten" eines'Zeichentyps in solche eines anderen).
42. 43.
Vgl. dazu HANSEN-LÖVE 1982:1978, 115-119.' Zur dominierenden Rolle des Index-Zeichens in allen Gattungen der'nichtmimetischen Avantgardekunst vgl. SAUERBIER 1 9 7 6 : 1 9 f., 3 1, v. a . 78_ f., 362 f f .
4~
J.FARYNO 1979:65-94 sieht in der Poesie über Malerei ein Teilproblem des Komplexes "Poesie über Kunst" bzw. Metapoesie (ibid. 65); G.PIROG 1980:101-108.
45.
FARYNO 1979:68 f.
46.
JAKOBSON 1971a:334 unterscheidet zwischen einer Dominanz des verbalen Zeichens für eine Kommunikationsform, in der der Typ des Zeichen-"symbol" vorherrscht, gegenüber jenen Kommunikationsformen, in denen der "index"-Typ und der "ikonische" überwiegen (in der auditiven Kommunikation). Ders., 1971b:340 zur Frage, warum uns die verbale.Kommunikation als primär gegenüber anderen Formen der Verständigung erscheint. Nach I.P.SMIRNOV (1977:109) verlor die verbale Sprache in der Periode des Postsymbolismus ihre Funktion als "universelle Verbindung zwischen den Künsten"~ wodurch diese die Fähigkeit ihrer wechselseitigen Ubersetzbarkeit einbüßten. Dagegen errang der ikonische Zeichentyp (bzw. die BK) die
-
344-
Vorherrschaft in den Medien dieser Periode. I.R.DÖRING, I.P.SMIRNOV, 1980:27 unterstreichen die dominierende Rolle des Wortes (bzw. der verbalen Kommunikation) in der Periode des Realismus als "Vermittler zwischen den Kunstformen" (vgl. dasselbe bei JAKOBSON [1971] 1976:58). JAKOBSON 1971c:261 ff. sieht die "intersemiotische Transrnutation" als einen Sonderfall der "Ubersetzung" an. 47.
H.HOFSTÄTTER 1965:86 ff.
48.
U.ECO 1977:154 ff. ("Das offene Kunstwerk in den visuellen Künsten"); S.D.SAUERBIER 1976:11 ff. (s. Anm. 2).
49.
VgI.E.PANOFSKY [1932],[1939] im Sammelband Ikonographie
50.
Ju.LOTMAN 1973; ders., 1974:28 ff.;
51.
E.PANOFSKY 1964:127 f. unterscheidet zwischen einer "primären Sinnschicht" der unmittelbaren Rezeption (ohne kulturelle Vorinformation) und einer "sekundä~en Schicht" ("Region des Bedeutungssinnes", der Kultursymbolik) . Diese sekundäre Sinnschicht ist ein im allgemeinen literarisch übermitteltes bzw. gespeichertes "Wissen". Vgl. auch E.PANOFSKY 1955: 30 ff.
52.
Zum Begriff des "Symbols" in der Bildsprache (der Ikonenmalerei) vgl. B.A.USPENSKIJ 1971:187 ff. Vgl. weiters: V.V. iVANOV,V.N.TOPOROV 1977:102 ff. und S.M.DANIBL' 1973:135 ff. und A.M.DANIBL, S.M.DANI,BL 1983. 'Ju.K.LEKOMCEV 1967:122-239 bezeichnet den (nach Ch.S.Peirce d~finierten) "ikonischen" Zeichentyp als "znak izobra~enie", der unterschieden ist vom "Ausdruck" ("vyra~enie") als einer "Menge von Linien und Flecken" auf einem Bild, die zueinander in "äquivalente" und "hi~rarchische" Klassen geordnet sind (124). Der ästhetische Effekt ergibt sich aus 'einer bestimmten Beschränkung "der Syntax der Ausdruckselemente" (125). Vgl. ders., 1962:123-125. - M.WALLIS 1970:524-535 unterscheidet zwischen ikonischen Zeichen ohne Details ("S9hemata") und ~olchen mit Details ("Pleromata") .
und Ikonologie. ThQorien - Entwicklung -
53.
~robleme
(1979).
1978:3 ff.
B.A.USPENSKIJ 1971:188 f.
54.
P.BOURDIEU 1970: 132 ff.
55.
Vgl. v.a. U.ECO 1970:205 ff.
56.
Zur visuellen Ikonisierung von "sprachlichen Symbolisierungen" vgl. SAUERBIER 1978:35 f.: "Wenn di~ Objekte der Bild~r selbst zeichenhaft vermittelte oder vermlttelnde (also seml0tisierte) 'dingliche Wirklichkeit' sind, dann sind die visuellen Abbildungen jeweils selbst Metazeichenbildungen". Zur Funktion von "Bildern als Interpretationen von Worttexten" vgl. ders., 63 f. (zu den Bildrätseln, Rebus-Gattungen und Emblematik) .
57.
JAKOBS ON 1960:358.
58.
Zur Poetik der Anagramme im Symbolismus vgl. V.S.BAEVSKIJ, A.D.KOSELEV 1979:50-75 (AnagrammatikaIs mythologisches Ur-
- 345 -
denken: "anagrammaticeskoe myslenie", ibid. 5l) und allgemein: J. STAROB.INSKI1971 : 27 ff. - Zur kubofuturistischen "sdvigologija" vgl. KRU~ENYCH 1923. 59.
H.Kahnweiler zit. nach: HOFMANN 1970:72. Vgl. auch H.KAHNWEILER, "Le cubisme", in: Confessions estetiques, Paris 1963, S. 19f.
60.
P.Picasso zit. nach: HOFMANN 1970:65f.
61.
Vgl. HANSEN-LÖVE 1982:205.
62.
Vgl. oben Anm. 25.
63.
Setzt man die Konzeption der "grotesken Weltordnung", wie sie M.M.Bachtin entwickelte, fort, dann steht die Groteske einer "aperspektivischen", ambivalenten Präsentation des Textes näher als die "Satire", welche immer auf die Inkongruenzen in heterogenen, perspektivisch fixierten "Wahrscheinlichkeitsmodellen" (ideologischer, historischer u.a. Ausrichtung) verweist. Zur "Aperspektivik"der Moderne vgl. J.GEBSER 1973 und HANSEN-LÖVE 1978:82-89.
64.
Vgl. A.A.MOROZOVA, L.A.SOFRONOVA 1979:13-38; I.P.SMIRNOV 1979b:335-361 (vgl. die Emblematik im Barock und in der Avantgarde - etwa in der Plakatkunst Majakovskijs, ibid. 351).Vgl. P.A.FLORENSKIJS (1971b:521-527) Konzeption eines "Symbolariums" ("slovar' simvolov"), d.h. einer Art Lexikon der "Ideogramrre", jener visuellen Zeichen, die relativ abstrakte ~~deutungen denotieren,wie sie etwa in der Werbung, der Warenbezeichnung, Heraldik, aber auch in der archaisch-archetypischen Emblematik universell auf treten ("als universelle Sprache der Menschheit", ibid. 523). Da diese uni~er~elle Ideographik in Unserem Unbewußten gespeichert ist, muß sie auch unabhängig von ihren konkret-historischen Funktionen analysiert werden (527). Nach Florenskij sind die Ideogramme am reinsten erhalten in den Volksweisheiten, Märchen, Mythen, Sprichwörtern etc. M~t Recht kritisiert Florenskij den symbolistischen Symbolbegriff, der den universellen, komparatistisch er faßbaren Charakter .der Emblemata nicht erfaßt. Vgl. A.Belyjs "Emblematika smysla" (BELYJ 1910:49-143), wo als "Emblem" jene Funktion der Symbole verstanden wird, die (kultur-)bedingt ("uslovnaja"), d.h. für eine bestimmte historische Epoche könventionalisiert ist. - Zu System und Poetik der "redenden Malerei" und der "stummen Dichtung" in manieristischen Hieroglyphen, Emblemen, Figuralalphabeten und mnemotechnischen Lehrmitteln vgl. P. PREISS 1974:367 ff.
65.
Vgl. LISSICKY 1980 Graphik und Agit-Plakate mi t Texten Abb. 40 ff.
66.
S.FREUD [1905] 1961:134 ff.; zur formalistischen Theorie der "Realisierung" vgl. HANSEN-LÖVE 1978:161 ff.
67.
Vgl. JAKOBSON [1921] 1972:80 ff.
68.
Zum "Konzeptualismus" und "ungegenständlichen Kunst" in der russischen Avantgarde vgl. V.SKLOVSKIJ 1923:101 f f . i K.MALEVI~ 1962:89 f f . i L.A.SHADOWA 1978:298 f.
69.
SAUERBIER 1976:13 ff., 31, 41, 81 f. unterscheidet für die Postmoderne zwischen Darstellung (bzw. Repräsentation) und
~lort-Bild
- 346 -
Präsentation (analog zur Opposition von geschlossener Werkästhetik und offener Performanzästhetik); dieselbe GegenUberstellung gilt auch in der russischen Moderne, wo (etwa bei Malevic) "izobrazitel'nost''' mit "Darstellung" gleichzusetzen ist, die von der "ungegenständlichen Kunst" (des Suprematismus, Abstraktionismus) grundsätzlich negiert wird ("bespredmetnost' " , "vescizm":[ =Dinglichkei t] . 70.
Vgl. I.DANILOVA 1975:7 ff., 25 f., 47 f. Zur Unterscheidung von "Komposition" und "Konstruktion" vgl. die bahnbrechende kunstphänomenologische Studie von n.G.GABRICEVSKIJ 1928:66 f. Ders., 56 ff. begrUndet den Zusammenhang von (Ab-)Bildhaftigkeit ("izobrazitel'nost''') und Zentralpersp~ktivik. Vgl. aus derselben phänomenologischen Sicht die Darstellung von M.A. PETROVSKIJ 1927:51-80.
71.
BELYJ 1910:434 ff. setzt "innere Form", "Bildhaftigkeit" ("obraznost"') und "SymbOlhaftigkeit" ("simvolicnost"') der "poetischen Sprache" gleich. Vgl. dazu auch P.A.FLORENSKIJ [1922] 1972:348 ff.
72..
Vgl. R.ARNHEIM 1972:9 ff. Zur Verwandtschaft von Konzeptkunst und wissenschaftlicher Konzeptualisierung vgl. SAUERBIER 1976: 223 ff. und ders., 1978:72 ff.
73 . . Zur Bedeutung der "Dinghaftigkeit" in der russischen Avant-garde ("vescizm") vgl. HANSEN-LÖVE 1978:74 ff. und zur Kritik daran M.BACHTIN 1975:14 (Ablehnung der formalistischen "Materialästhetik"). Die hier angedeutete Unterscheidung von "vorkulturellemDing" (bei Malevic: Natur, Organik, Kosmos) und "kulturellem" (Gebrauchs-)Gegenstand findet sich auch in der "vesc'" / "predmet" - Opposition der russischen phänomenologischen Ästhetik (G.SPET 1914:133 f.; ders., 1923: 11,48 ff.i ders., 1927:128 ff.). 74.
V.Kandinskij unterscheidet zwischen "groß~r Abstraktion" und "großer Realistik" (V.KANDINSKIJ [1912] 1955:25 ff.; vgl. W. HOFMANN 1966: 51 f f .! 291 f f. ) . .
75.
J.K.LEKOMCEV, 1979:120 ff.
76.
Zur Analogie zwischen Semiotisierung / Desemiotisierung und Metaphorisierung /Metonymisierung vgl. V.V.IVANOV 1976:156 f. Vgl. auch SAUERBIER 1976: 75 ff. ("Desemiose" als semiotische Reduktion bzw. "Dekomposition").
77.
Vgl. die "Objekte" von M.Larionov in Rußland und M.Duchamp oder P.Picasso schon in den 10er Jahren.
78.
Vgl.E.PANOFSKY 1964:127 ff. unterscheidet zwischen einer "primären Sinnschicht" der unmittelbaren (sensuellen) Wahrnehmung und einer "sekundären Schicht", die aus kulturellen Bedeutungen gebildet wird ("Region des Bedeutungssinnes"). Diese sekundäre Sinnschicht ist im allgemeinen ein literarisch Ubermitteltes Wissen ("ikonographisches" System einer Bildkultur) , das dann im konkreten Bild aktualisiert und konkretisiert wird (als "ikonologische" Bedeutung). Vgl. auch BOURDIEU 1970: 132 f.
79.
Zur Konzeption der Kultur als "Gedächtnis" vgl. J.LOTMAN, B. USPENSKIJ 1971:147 ff. (Kultur als "pamjat' kollektiva").
- 347 -
80.
V.KANDINSKIJ 1955:207, 215.
81.
Nach JAKOBSON 1971b:340 teilen die Musik und die verbale Sprache die Eigenschaft, in "kleinste, diskrete Elemente" zerlegbar zu sein, die als. "signifikante Einheiten in einem artifiziellen Arrangement" fungieren. Di~ Tatsache, daß es in der visuellen Kommunikation keine "distinctive features" gibt, ist ein fundamentales Merkmal dieses Kommunikationstyps. Ausführlich zu dieser Frage auch Cl.L];:VI~STRAUSS 1971 :31 ff., der in der Musik wie im Mythos "S~~achen" sieht, die jeweils auf andere Weise "die Ebene der artikulierten [d.h. verbalen] Sprache transz~ndieren". Die "Töne der Musik"und die Materialien der bildenden Kunst liegen nicht auf derselben Ebene (ibid. 35), daher fordert Levi-Strauss auch die "Unterwerfung der plastischen Künste" (d.h. der bildenden Kunst) unter die "Gegenstände" (36), da die "Organisation der Formen und Farben innerhalb der sinnlichen Erfahrung [ ... ] für diese Künste die Rolle der ersten Artikulationsebene des Realen spielt". In der .artikulierten Sprache sind dagegen die Einheiten der "ersten Ordnung" verwischt (sie werden als konventionell empfunden), sie werden aber in .der Dichtung aktualisiert (nach Lotman werden sie Bestandteile eines "sekundären modellbildenden Systems"). LeviStrauss zieht daraus den - umstrittenen - Schluß, daß "alle Formen der abstrakten, nicht-figurativen Malerei die Fähigkeit des Bezeichnens verlieren" (38), da sie auf die erste ~rtiku~ lationsebene·verzichten. Genau hier setzt nun die Kritik durch U.ECO (1972:197 ff. "Semiotik der visuellen Codes") ein, der im Gegensatz zu Levi-Strauss behauptet, daß es auch in der visuellen Kommunikation "relevante Züge" (distinktive Merkmale) geben muß, die als "ikonischer Code" fungieren und eine Äquivalenz (analog zur Wortebene) zwischen einem graphischen Zeichen und einem relevanten Zug des "Erkennungskodes" (der kulturell vermittelt ist) herstellen (206) . Da diese "ikonographische Konvention" so stark verinnerlicht ist, erweckt sie den Eindruck, als würde es sie gar nicht geben. Daher auch das Bedürfnis, ikonische Zeichen mit "Wortinschriften" zu ergänzen (213). Zu den "diskreten Zügen" der ikonischen Zeichen (analog zu jenen der verbalen Sprache) vgl. ibid. 215 ff. Die Tendenz "zur Digitalisierung" (d.h. "Diskretmachung") von "analogischen Kontinua"der Chromatik, Topik setzt im späten Naturalismus ein und führt direkt zur Ästhetik der Diskontinuität in der Avantgarde. Im weiteren kritisiert Eco die Auffassung von LeviStrauss, daß "keine Sprache vorliegt",wenn nicht eine "doppelte Gliederung" (in Moneme - also Elemente der "ersten Ordnung" und Phoneme - Elemente "zweiter Ordnung")existie.rt (ibid. 231). Eco sieht nun in den "ikonischen Zeichen" die von Levi-Strauss vermißten "Moneme" der visuellen Kommunikation, während die ikonischen "Figuren" analog zur verbalen Ebene der "Phoneme" anzunehmen sind (236). Freilich können (gerade in der visuellen Kommunikation) "Zeichen" (d.h. Elemente der 1.0rdnung) zu "Figuren" (bzw. noch komplexeren ikonographischen Ensembles) werden und umgekehrt. Eco spricht hier von "Codes mit beweglichen Gliederungen" (238); für dasselbe Phänomen - wenn auch in einem anderen Kontext - schlägt JU.Lotman den Begriff des "Ausgangsniveaus" bzw. der "Nullstufe" vor, von der aus Teile und Ganzheiten, Elemente und Komplexitäten festlegbar sind (vgl. dazu Ju.M.LOTMAN 1972:151 zum Begriff des "Ausgangstyps") .
- 348 -
82.
Im Anschluß an die Kunsttheorie E.Panofskys nimmt auch U.Eco einen "ikonographischen Kode" an, der sich "auf der Grundlage des ikonischen Kode aufbaut" (242 f.), wodurch erst "ikonische Aussagen" möglioh werden, die freilich (als eine Art "Idiolekt")weitaus weniger starr sind als die vergleichsweise starren Kodes der verbalen Kommunikation (vgl. zur Kritik an der Auffassung der modernen Kunst durch Levi-Strauss ibid. 381 ff.).Zur Diskretheit der verbalen Sprache vgl. J.FARYNO J978:126 ff. CI.L~VI-STRAUSS 1971:31 ff.
83.
B.A.USPENSKIJ 1971:188 ff.
84.
Ibid.
85.
Vgl. SAUERBIER 1976:233 ff. (im Anschluß an U.ECO 1972:213) u~terst~eicht die indexikale Funktion der "ikonischen Zeichen" (ibid.· 235), eine Funktion, die v.a. in der "nichtmimetischen Repräsentation" (in der nichtfigurativen, ungegenständlichen BK) dominiert. Vgl. ders., 1978:40 ff. (variiert die Zeichentheorie M.Benses) .
86.
M.BENSE 1969: 19 ff;
37.
VgLA.KRUCENYCH [1913] 1967:64 f.
M.BENSE, E.WALTER 1973:97 f.
ao.
U.ECO 1977:154 ff.;
89.
Vgl. JAKOBSON [1921] 1972:29 f.
90.
Diese Form der "Selbstpräsentation" des Mediums (der "Kunstform" bzw. einer charakteristischen Menge ihrer Merkmale) als (autonomes) Kunstwerk entspricht der im Kubofuturismus kanonisierten Präsentation des Kunstwerkes (Wortkunsttextes) a l s charakteristische Menge von wort-bzw. textgenerativen Paradigmata, die zu syntagmatischen Ensembles e n t f a I t e t· werden. Insofern ist die Selbstpräsentation von Medienindizes (ebenso wie jene der Indizes der Verbalität, der Gattungshaftigkeit, der Textualität, der Kunsthaftigkeit etc.) nicht bloß ein Akt der Verfremdung, als sie dazu dient, die Intention des Rezipienten auf jene dominierende Dekodierungsebene zu fixieren, von der aus die Hierarchisierung der elementaren und der komplexeren Textebenen erfolgt.
91.
Zum kulturellen "Polyglottismus" vgl. zusammenfassend A.SHUKMAN 1977:43 ff.i J.LOTMAN 1974a:43 ff.i ders., 1974b:77 ff.
92.
Mejerchol'd koordiniert die Dekomposition der (narrativen) literarischen "Vorlage" (für die Theatralisierung) mit dem Prinzip der Dissoziierung der gestischen, mimischen, kine~ tischen, artikulatorischen etc. Darstellungsmittel.
93.
Zur Realisierung der Sujet-und Zeitinversion (Permutation, "perestanovka ~astej", Palindromatik etc.) vgl. R.JAKÖBSON [1921] 1972:52 ff. Besonders auffällig ist diese Vorliebe für Inversicnenin der Wort-und Bildkunst der Olga Rozanova (vgl. ihr Gedicht "Ispanija" in O.ROZANOVA 1919). parallelismus und syntaktische Inversion galten in der Theorieder Avantgarde als die grundlegenden wort-und textgenerativen Prinzipien: Die Simultaneität einer verbalen oder ik6nischen Ausgangsfigur wird in die Sukzessivität der direkMetath~se,
SAUE~BIER
1978:43 f.
-
349 -
ten oder verkehrten Sujetfolge des Textes übersetzt (JAKOBSON ibid.) . 94.
Vgl. Chlebnikov und Kru~enych in ihrem Manifest "Bukva kak takovaja" (1913, zit. nach Manifesty i programmy russkiah futuristov, 60-61); S.TRET'JAKOV [1922] 1925:6 ff.; G.VINOKUR [1925] 1929:235 ("Grafika i jazyk").
95.
Zur Funktion der graphischen Fixierung der Verszeile bzw. der Versgrenzen vgl.TYNJANOV "[ 1924] 1965: 50 ff. Der Verstheoretiker S.I.BERN~TEJN (1927:9 ff.) unterscheidet zwischen optisch (d.h. auf die visuelle Dekodierung) oder akustisch (d.h. auf die Deklamation) orientierten Dichtertypen.
96. "HANSEN-LÖVE 1978:319 ff.; H.EAGLE 1978:71-85; 1980:81-90. 97.
98.
99.
G.JANECEK
Im Gegensatz zum narrativ-fiktionalen (perspektivierten) "Andachtsbild" (der Neuzeit) als Objekt einer psychoiogisierten "Frömmigkeit" (individualpsychologische Religiosität) - analog zum ebenso psychologisierten und perspektivierten Andachtsgebet - gehört das "Kultbild" in den Rahmen der symbolisch-imaginativen (unperspektivischen, apsychologischen, antimimetischen) BK (bzw. das rituell-kultische Beten als Akt der Vergegenwärtigung des Heiligen und Ewigen in der Sprachwirklichkeit) . Der ostkirchliche Ikonoklasmus weist eine wesentliche Ähnlichkeit mit den Intentionen der suprematistischen bzw. abstraktionistischen "Gegenstandslosigkeit" auf: Beiden gemeinsam ist die Ablehnung der narrativfiktionalen "Repräsentation" (vgl.dazu auch W.HOFMANN 1970: 84 f.; E.MARTINEAU 1977). Zur religiösen (pneumatologischen) Selbstdeutung Kandinskijs in diesem Sinne vgl. L.SCHREYER 1965:225 ff. Vgl.V.~KLOVSKIJ
[1925] 1927:7 ff, 70 ff. Die Technik der "gestuften" Zeilen-und Absatzgliederung hat in der Prosa A. Belyjs eine "primär rhythmisch-prosodische Funktion (Belyj selbst betont die Vorbildwirkung der dithyrambischen Textsegmentierung in der Kunstprosa Nietzsches sowie das durch Nietzsehe vermittelte Wagnersehe Prinzip der Leitmotivik), während sie etwa bei V.Rozanov und dann V.~klovskij zum Ausdruck der "Sujetlosigkeit" und der "Verräumlichung" der Prosa zur Wortkunst hin dient (vgl. ~klovskijs Rozanov-Analyse, V.~KLOVSKIJ 1921). Zur Analogie von "bessjuzetnost'" und "bespredmetnost'" vgl. V.~KLOVSKIJ 1923a:99 ff.; A.HANSEN-LÖVE 1978:254 f.
100. Vgl. dazu allgemein MASSIN 1970:155 ff., 245 ff.; T.CIESLIKOWSKA 1977: 31-37; M.R.MAYENOWA 1973:45 ff.i zum suprematistischen und kubofuturistischen Lettrismus vgl. S.P.COMPTON 1978. Zur "~elezobetonnaja po~ma" V.Kamenskijs vgl. A.~EM ~URIN 1915:165 ff. D.Burljuk zeigte z.B. seine Gedichte in Larionovs Ausstellung "No 4" (Moskau 1924), vgl. N.CHARD~IEV, V.TRENIN 1970:388. Eine eingehende semiotische Analyse des Phänomens "Bilder als Schrift" (und umgekehrt) liefert SAUERBIER 1978:37 ff. (Gegenüberstellung von "Schrift-Texten" und "Lettern-Bildern"). V.Kamenskijs "zelezobetonnaj§l ps>ema" findet sich abgebildet in: COMPTON 1978:Abb.55; vgl. auch als
-
350 -
weiteres Beispiel V.Kamenskijs "Konstantinopel" (1914), Abb. in: V.CHLEBNIKOV 1972:I,Abb.9. Ivan Punis Bild "Flucht der Formen" (1919) abgebildet ibid., Abb.3. 101.
Abb. in: Paris-Moscou, 113.
102.
'rvan Puni (Jean Pougny), Abb. in: CHLEBNIKOV 1972:Abb.3; weitere Beispiele in: Jean Pougny 1965.
103.
Abb. in: Paris-Moscou, 159.
104.
S.P.COMPTON 1978 (dort zahlreiche Abbildungen und BibI.); EI LISSITZKY [1927] 1980:363. Vgl. die Konzeption der "samopis'ma" im futuristischen Almanach Sadok sudej, SPb. 1914.
105.
Abb.12 und 13 in: COMPTON 1978.
106.
Vgl. H.BLUMENBERG 1981; zur "Metapher des Buches" M.FOUCAULT 1971 :6~ ff.
107.
P.HUBER 1973:Abb.4.; I.DANILOVA 1975:15 ff., 50 ff. (zum Dialog der Figuren auf den Ikonen und zu ihrer nonverbalen Kommunikation) .
108.
Vgl. I.DANILOVA 1975: 7 ff.
109.
D.S.LICHAL:EV 1979:25 ff.; M. SCHAPIR01973 und dazu H.DAMISCH 1978:274-290.
110.
Ju.LOTMAN 1977:328 f.
111.
S.o. Anm. 2.
112.
P.BOGATYREV 1923; V.SKLOVSKIJ 1923:126 ff.; A.KRUL:ENYCH 1923; G.ERBSLÖH 1976:2 f., 61. ff.
113.
A.BELYJ 1934:314.
114.
Vgl. Abb. in SHADOWA 197 8:Abb. 26-35.,
115.
Perspektiviert und.vor allem "pragmatisiert" (didaktisch-propagandistische Funktion) sind diese ikonischen Realisierungen in der Agit-Plakatkunst eines EI Lisickij (vgl. EL LISSITZKY [1922] 1980:Abb. 80-91).
115.
Abb. in: Paris-Moscou, 387.
116.
Ju.TYNJANOV [1924] 1965:51 f.
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Vladimir KARBUSICKY
INTERTEXTUALITÄT IN DER MUSIK
Es sollte eigentlich nicht so selbstverständlich sein, daß wir von musikalischer Intertexiualität sprechen; die Vergleichbarkeit der Künste, "la correspondance des arts" (Souriau 1969), ist nicht problemlos. Bei Kreuzungen von Kunstgattungen - vertonten Bildern, gemalter Musik, musikalisch nachgebildeter Dichtung (wie etwa Liszts Faust-Symphonie) usw. fehlt immer etwas von dem primären Text, bleibt etwas unausdrückbar, und es entsteht zugleich etwas Neues, Spezifisches. Betrifft also die Gemeinsamkeit nur eine Schicht jeder Kunstgattung? Wie spezifisch sind dann die Gestaltungsprinzipien und -prozesse, welche wir unter dem Begriff "Intertextualität" untersuchen wollen? Aristoteles stellte eine Systematik der
~L~naL~
auf, deren
Ubersetzung "imitatio" ein genauso großes UnglUck für die Ästhetik ist wie "verbum" für
A6yo~
in der
Theolog~e.
Mimesis
ist viel umfangreicher als "Nachahmung". Die Nachahmung allein begründet weder die Differenzen noch die Gemeinsamkeit. Die Differenzen entstehen im Aristotelischen Modell zwar durch den gewählten Gegenstand
(~
tatsächlich nachahmende Relation),
aber auch durch verschiedene Mittel des mimetischen Bezugs
(.4> tv
lhtpoq;: ~L~Et:aaaL), die dann durch die "Art" (6 .p6no~)
modifiziert werden (Oxf. Ausg.: 3,5). So entstehen die Künste in einem mehrpolaren Bezugsfeld und unterscheiden sich durch Konfigurationen derselben Prinzipien; die Intensität oder das Fehlen dieser Prinzipien prägt die Spezifität, die Basis ist gemeinsam. Für unsere Zeit versuchte sie Thomas Munro (1949) nicht nur morphologisch und genetisch, sondern auch durch Auswertung der Klassifikationspraxis zu begründen. Die ästhetischen Gemeinsamkeiten implizieren ähnliche analytische
- 362 -
Methoden, aber auch, daß einzelne Kunstwissenschaften anhand ihres spezifischen Materials einen Vorstoß leisten und danach von den anderen eingeholt werden kannen. Der Textbegriff ist zwar in der Musikologie geläufig, zumal wenn Musik "mehrere Texte
zug~eich"
aufklingen lassen kann
(in der Polyphonie exemplarisch, Hammerstein 1970). Sie hat sich mit typisch intertextuellen Vorgängen (besonders dem Zitat, Lissa 1969, Stoianova 1979) befaßt, aber "Intertextualität" ist für sie neu. Die Frage: "Wie ist es mit der Intertextualität in der Musik?" muß sich die Musikologie darum auch selbst stellen. Sie zielt auf Erkenntnis spezifischer Ausprägungen von Operationen, die unter dem Begriff "Intertextualität" zusammengefaßt und bisher vor allem an literarischem Material untersucht worden sind. Sind alle ihre Abarten in den Musikstrukturen analog zu finden? Gibt es in der Musik nicht etwas "darüber hinaus", was im Gegenzug die Theorie der literarischen Intertextualität bereichern kann? In theoretischen Uberlegungen erscheint die Intertextualität in erster Linie als ein Problem der Semantik (von formaler Analyse bis zu semantischen Schlüssen auf der Ebene des Superzeichens) und zweitens als ein Problem der Komparatistik, sei es im literarischen, linguistischen oder ethnologischen Sinne '(es geht um strukturelle Außenkräfte, "Einflüsse", die mehrere Kulturen bzw. Ethnien umfassen; Erkenntnis synkretischer Gebilde ist ohne Komparatistik unmaglich). Doch hinzu kommt mit steigender Aktualität ein dritter Problemkreis: intertextuelle Vorgänge, die sich in der Rezeption realisieren (subjektive Projektion eines nicht vorgesehenen Textes auf den primären Text) . Die Relevanz des vierten kann erst die Musik in vollem Maße unterstreichen: die Theorie des "Gehres" (kongruent mit dem Aristotelischen
.p6no~).
Es mag paradox klingen, aber bei aller
semantischen "Unbestimmtheit" (ein alter Begriff Ingardens: niedookre§lenie, 1957:9) ist es gerade das "Genre" in der Produktion, Interpretation wie Rezeption der Musik, was verläßlich anspricht. Ein "unpassendes" Genre oder gar nur eine Beimischung anderer Genreeigenschaften in die Mutterstruktur werden
- 363 -
sofort erkannt - die "musikalische Collage" nutzt diesen Effekt. Zu allen genannten Problemkreisen kann die Musikanalyse beitragen, auch wenn sie in musikologischen Forschungen ungleichmäßig beachtet worden sind. Die Notwendigkeit der Einbeziehung musikalischer Parallelfälle und interdisziplinärer Untersuchungen möchte ich im folgenden anhand vier ausgewählter Exempla belegen.
1. "Die Tod" oder: Intertextuelle Kontradiktionen
Der Unterschied im Geschlecht ist bei der Ubertragung des Textes in ein anderes ethnisches Milieu ein ungewollter Aspekt der rezeptiven Intertextualität. Sich auf C.G. Jungs tiefenpsychologische Deutung der maskulinen oder
feminine~
Betrachtung
der Dinge stützend, analysierte dies trefflich Gaston Bachelard in seiner "Poetique de la
rev~rie" (1960; 31978:28 ff.): wenn
R. Reine den Tannenbaum im Norden von einer südlichen Palme träumen läßt, geht im Französischen der poetische Reiz verloren, da die Palme maskulin ist; im geschlechtsneutralen Englisch sind derartige poetische Feinheiten überhaupt verwischt. Begriffe aus dem Bereich der Mythologie bereiten besondere Schwierigkeiten, weil sie ganze Vorstellungswelten evozieren. Es sind gerade die Gegebenheiten der Umwelt und des Lebens wie Sonne, Mond, Bäume, Gewässer, wo der Name in einer anderen Sprache oft der scheinbar echt maskulinen oder echt femininen Substanz widerspricht. Wenn ich sage: "Das Sonne ging auf, er sah die Blut unter dem Eiche; der Messer mit seinem metallenen Kälte lieferte ihm die Mut gegen die Tod zu kämpfen", so ist das im Tschechischen die korrekte Betrachtung der Dinge. Der Tod als mythologisches
We~
sen ist für unser Thema besonders instruktiv, weil er gleich in zwei Nachbarkulturen, der romanischen und slavischen, feminin ist. Es verwundert, daß Vladimir Jankelevitch als Philosoph und Musikologe, der in seinem hervorragenden Buch über den Tod eine erstaunliche Menge von variablen Kulturbelegen gesammelt hat,
- 364 -
diesen Aspekt übersah. So schreibt er z.B. über das bekannte Bild von Albrecht Dürer (Jankelevitch 1977:46): Dans Le Chevalier,' la Mort et le Diable, Dürer dedouble le chevalier qui est le symbole de l' energie affirmative et de la positivite vitale. Satan et la mort representent le grossissement de la doubluremeontique que l'epaisseur et l'animation de l'etre dissimulent en general a nos yeux; le neant'qui est l'ombre de la vie prend corps son tour.
a
Jankelevitch denkt das Bild romanisch, es ist für ihn "die" Tod, auch wenn Dürer einen mitreitenden Knochenmann mit deutlichem Bart gezeichnet hat! Aus zwei Gesellen des Kriegers ist sozusagen ein Ehepaar geworden, das ihn begleitet, "die" Tod ist quasi seine anima. Der germanische Tod ist ein Sensenmann und der Gegenspieler des Kriegers (im schwedischen Film "Das siebte Siegel" spielt er um das Leben des Ritters Schach). Für die musikalische Gestaltung ist wichtig, daß dieses mythologische Wesen reitet. Denn es ist die Bewegungsart des Objekts, die vornehmlich die Möglichkeit öffnet, einen "Gegenstand" oder eine "Eigenschaft" und gar einen "Begriff" musikalisch darzustellen. Der Psychologe Julius Bahle machte 1928 Versuche mit Musikern, denen er verschiedene "Darstellungsaufgaben" stellte. Bei Gefühlskomplexen wie "Angst" oder "Traurigkeit" stellten sich die Versuchspersonen in der Regel einen Menschen vor, der sich entsprechend verhält und bewegt. Bei der Aufgabe, den "Stolz" auszudrücken, gab z.B. ein Musiker zu Protokoll (Bahle 1929:64): Bei Stolz stellte ich mir einen eingebildeten Menschen gehend vor. Ich versuchte, den Gang nachzumachen. Zuerst kam der Rhythmus, der das Gekünstelte, Unnatürliche ausdrückt, die Melodie paßte sich dem Rhythmus an. DaS Ergebnis (das "Darstellungsmotiv") sieht wie folgt aus:
,. Sl.olz"
~
-"
f :
I
I
I
Tf'~ ,.. • ..j~ ~y I
I'"'"Y--
f
/
•
.... -
- 365 -
Das ist ein mimetisch vielschichtiger Komplex: der Marschrhythmus (als Stilisierungsmittel des Genres) geriet "ins Stocken", die Tntervalle sind unnatürlich verzerrt, die Zusammenklänge sind "leer". Das tragende Charakteristikum ist die Bewegung - das der Musik als· ·einer Zeitkunst Zugänglichste. So ist es naturgemäß auch der Ritt, der den germanischen Tod musikalisch charakterisiert. Es gibt eine liedhafte Nachbildung des mittelalterlichen Totentanzes aus dem 17.Jahrhundert, "In (Flandern reitet der Tod".
<:)
Flandern in Not. Karl Wolfram singt, Polydor 237700
Der Ritt des Todes ist mit mimetischer Selbstverständlichkeit
im begleitenden Instrument wiedergegeben. Der komplette Text (bestehend aus T 1 = Totentanz, in den Hi~tergrund gedrängt; T 2 = Nachbildung von T im Wort; T = Weise mit der Dominanz 3 1 des mimetischen Elements des Ritts) hat einen assoziationsreichen, konnotativen Appell - T 4 realisiert in der Rezeption -, der sich auch ohne Experiment beschreiben läßt: Pest; Todesschicksal; alte Bilder des reitenden Todes (A. Dürer?)i die "Schlacht in Flandern" der beiden Weltkriege (vielleicht in apokalyptischer Vision von otto Dix). Doch diese Schichten haben ihre Kulturgrenze. Im romanischen Bereich, wo der Tod feminin ist (bei Horaz vertieft: suprema mors)
J
hat die danse
macabre einen anderen mythologischen Gehalt. So fällt sie in der Symphonie fantastique von Hector Berlioz (1830) ganz natürlich mit dem Hexensabbat zusammen. Bei den 'Slaven reitet "die" Tod nie, sie schleicht als ein in weißes Tuch gekleidetes Weib . und erscheint dem Menschen einsam und still in seiner Todesstunde. Man vergleiche, mit welcher Natürlichkeit dieses Bild in einem Bericht über den Tod Janaceks in der Edition seiner Briefe benutzt wird (Slavicky 1966:65): Am Sonntag den 12. August 1928 gegen neun Uhr schlief Jana-
cek ein. Die Tod, die an der Tür des Krankenzimmers stand, schien zu zögern, als ob sie Angst hätte, der Menschheit diesen Stern der Kunst zu nehmen. Sie wartete noch eine kurze Zeit ab, dann begab sie sich zum Bett des Sterbenden. Genau um zehn Uhr verschied Leos Janacek. So tritt "die" Tod (russ. cMepTb, poln. smier6, tsch. smrt ... )
- 366 -
in Märchen auf ("die Gevatterin Tod"); es ist die Sensenfrau, die als das Todessymbol gilt. Ihre Bewegung ist kein Ritt, sondern ein Schritt - schleichend oder hastig, je nach dem Kontext. In seiner 14. Symphonie, einern Vokalwerk, vertonte Dmitrij ~ostakovic
insgesamt elf Gedichte mit der Todesthemati,k: von
Federico Garcia Lorca, Guillaurne Apollinaire, Wilhelm Küchelbecker und Rainer Maria Rilke. Die bekannte Sequenz Rilkes: "Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns", die selbst schon eine Nachbildung der mittelalterlichen Sequenz des Notker Balbulus ist. (Media vita in morte sumus), ist in der Ubersetzung, die ~ostakovic komponierte, slavisch mythologisiert: BceBnaCTHa CMepTb. OHa Ha
cTpa~e
H.B CqaCTbH qac ..
~
"Die" mäch-
tige Tod steht also still ihre Wache wie in jenem Bild der einsamen Todesstunde, und so ist dieser Text musikalisch gestaltet: als Schlußsatz mit versöhnlichem Ausklang. Das feminine Wesen des Todes ist offenkundig in einer Verbindung mit dem Archetypus der terra genetrix, die ihre. Kinder gebärt, aber auch wieder zurück empfängt (Eliade 1954, 1957:192 ff.). Dieser Akzent entfällt beim germanischen
Tod~
ihm ist auch das in slavischen
Balladen vorkommende Motiv einer "Hochzeit" des Soldaten im Felde fremd (der Soldat heiratet die "smrt" in der Schlacht). Die grausige Rolle des maskulinen Wesens hat im Slavischen MepTBeu, der Revenant (Afanas'ev Nr. 348-362). - Aufschlußreich in
~ostakovics
Symphonie ist der 11. Satz, eine Vertonung des
Gedichts "Malaquefia" von Garcia Lorca: La muerte entra y 'sale de la taberna pasan caballos negros y gente siniestra por los hondos caminos de la quitar ... "La muerte" ist im Russischen zwar ebenfalls ein weibliches Wesen; die Ubertragung bewirkt aber aus anderen Gründen einen intertextuellen - ästhetisch fruchtbaren - Konflikt: CMepTb Bowna H ywna H3 Ta6epH~. qepH~e KOHH H TeMH~e AYWH B y~enbHx rHTap~ 6pOAHT ... Die Bewegung des weiblichen Wesens ist hektisch, das Milieu einer Taberne ist für die russische Mythologie unspezifisch,
- 367 -
und es ist besonders die Gitarre, die als SLgnal der Fremdheit'wirkt (im Unterschied etwa zur Balalaika oder "Garmoska"), um so mehr in Verbindung mit der Frauenvorstellung. So tritt dieser Text in die Textebene der Musik Sostakovics hinein und bringt neue semantische Akzente in die Mittel, die seinen Personalstil ausmachen: zu diesen gehört seine Vorliebe für scharfe Rhythmen der Schlaginstrumente - mal geben sie ikonisch das
~kelettrasseln
wieder; typisch ist für ihn die Neigung zur
Groteske - mal sind es 'Indizes der gleitenden Schritte. Das Signal des Wortes "Gitarre" als hohlen,- für eine Frauengestalt unpassenden Instruments konnte ein Musiker nicht überhören. "Die" Tod ist intoniert als ein frivoles Weib mit der grausigen Professionalität ihres Handwerks (die Interpretation der Sopranistin Galina Visnevskaja, die mit Sostakovic befreundet war, ist authentisch) :
c:>
D. Sostakovic: 14. Symphonie, 11. Satz.Orig. mit G. Visnevskaja, Dirigent Mstislav Rostropovic. Eurodisc 87621 X K
Die Ubersetzung für den Vertrieb des Werkes im deutschen Sprachbereich mit "dem" Tod verwischt diese Inhalte und bereitet dem deutschen Rezipienten Schwierigkeiten: Das leichte Hin-und-herLaufen des Todes als ein frivoles Weib, das mit den ikonischen und indexikalischen Mitteln der Musik dargestellt ist, paßt gar nicht zum maskulinen Tod des deutschen Textes. Dieser ethnisch bedingte Zusammenstoß kann zum bewußten Verfremdungsmittel werden. Im Mai 1980 fand in Wien eine Uraufführung der Oper "Jesu Hochzeit" von Gottfried von Einem statt. Ihr Genre liegt in der Tradition der Mysterienspiele (es sei dahingestellt, inwiefern dieses Genrebewußtsein im heutigen Publikum erst durch das Werk selbst geweckt werden muß). Den bolischen Gegenpart
Jes~
s~
spielt hier "die Tödin". Auf das deut-
sche Publikum wirkte diese Figur durchaus ungewöhnlich - eben: mysteriös. Um so befremdender war die Erotisierung' des symbolischen Verhältnisses
Jesus~Tödin
(als Leben und komplementä-
rer Tod). Nur im deutschen Sprachbereich konnte dies die Kritik wie folgt honorieren (Herbort 1980):
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Wenn es einen genialen Einfall gibt in diesem ansonsten manchmal etwas zähen und in seiner verquasten Poeterei eher betulichen Stück, dann diese auf den romanischen Sprachraum sich berufende Umwandlung des Todes in ein )schönes Weib<, eben die Tödin. Im romanischen und slavischen" (dies ist zu ergänzen) Kul turraum wäre dies "normal", sogar im erotischen Sinne (s. die erwähnte "Hochzeit des Soldaten" als Balladenmotiv). Dann würden vielleicht auch die Szenen, die in Wien Bestürzung hervorgerufen haben - Jesus wirbt um die Tödin, kniet vor ihr und singt: "Laß uns die Hochzeit machen" - eher als Allegorie des kanonischen Todes Jesu (als
Erlösungstat) rezipiert. Diese Betrachtung hat
der Komponist allerdings in den musiktheoretisch bekannten, heute aber kaum rezipierten zahlensymbolischen Mitteln verschlüsselt: Im Gesang Jesu dominiert die Terz, im Gesang der Tödin die Sexte, und diese Intervalle sind komplementär, sie ergänzen sich zur absqluten Konsonanz der Oktave.- Für das umgekehrte," im Grunde erotische Verhältnis ist ein einmaliger Beleg die Entstehung des Werkes "Le violon de la mort. Danses macabres für Violine und Klavier" von der Komponistin Grete von Zieritz aus dem Jahre 1952. Sie erzählte darüber (Stürzbecher 1971:136): (In einer schweren seelischen Depression"... ) hatte ich ein einmaliges Erlebnis. In einer menschenleeren, einsamen Hochgebirgsgegend hörte ich plötzlich eine Geige. Es war ein wildes, sehr akzentuiertes Spiel von jemandem, der alles kann, ohne je üben zu müssen. Ein Klirren war in den Tönen, das mir besonders deswegen auffiel, weil es von einer menschlich-fleischigen Hand nicht ausgehen konnte. Ich ging dem Rätsel dieses Geigenspiels nach und plötzlich sah ich ihn - den Tod. Er lachte, während er spielte. Aber es war der Bann um ihn. Ich durfte nicht näher kommen. So setzte ich mich in ungefähr zehn Meter Entfernung, schrieb mit, was er spielte und änderte auch später an dieser Aufzeichnung des ersten Satzes nichts ... Die folgenden vier Sätze sind nicht vom geigenden Tod diktiert, wohl aber von ihm inspiriert ... Bei der Uraufführung passierte es: Als ich den Saal betrat, saß mein Freund, der Tod, auf dem Flügel in einem kanninroten Gewand, lachte und erwartete unser Spiel ... Ich habe noch lange mit dem Tod gelebt. Dieses Erlebnis läßt sich in die romanische oder slavische Vorstellung des femininen Todes nicht umsetzen. Der Bericht der Komponistin ist im Grunde unübersetzbar, und auch ihrem Werk würde der authentische Hintergrund fehlen. Friedrich Smetana, der
-
369 -
in den letzten Jahren seines Lebens von Visionen heimgesucht wurde, schuf ebenfalls ein mythologisches Wesen, das als "guter Hirte" verführerisch im Freien spielt: es ist der Teufel mit der Flöte, er weidet in den Bergen seine "schwarzen Schafe" (in: Die Teufelswand, 1881-82). Dem Teufel nahe steht eben der germanische Tod als männliches Wesen. Das erotische Verhältnis ist umgekehrt (vgl. das Bild von Hans B. Grien um 1515: Der Tod nimmt sich den nackten weiblichen Körper, sein Kuß ist der tödliche Biß) . Die Projektion eines subjektiven oder eines durch Zugehörigkeit des Subjekts zu einer anderen Ethnie bedingten Textes auf den primären Text ist ein aktiver Akt. Das Subjekt ist viel aktiver als der "Empfänger" des Kommunikationsmodells, dessen Verstehen auf das "gemeinsame Zeichenrepertoire" zusammenschrumpft. Gerade das Nicht-Gemeinsame macht sich geltend. Die "Rezeption" ist ein Schaffensakt, aus dem Zusammenstoß entsteht etwas Drittes. So geht es bei rezeptiver Intertextualität um mehr denn einen angesprochenen "Erwartungshorizont". Die schöpferische Intention des Wahrnehmungsaktes mag auch "unauthentisch," sein; aber gerade deshalb entsteht eine neue ästhetische Qualität. Beim interethnischen Kulturaustausch haben wir mit wahren Kaskaden von intertextuellen Verschiebungen zu tun, die oft mehrere Kunstgattungen erfassen.
2. Die Intonation als "musikalischer Text" der Sprache Als Ausgangspunkt nehme" ich das breit diskutierte wie strapazierte Gedicht "Les Chats" von Charles Baudelaire, aufgenommen,in "Les fleurs du mal", 1857. Roman Jakobson und Claude Levi-Strauss gelangten (1962) mit steigender Komplexität der analysierten Strukturebenen und somit modellhafter Abstraktion naturgemäß zur musikalisch schon gestimmten "Komposition" des Ganzen. Ihre Feststellung von kreuzenden Diagonalen und komponierten Formteilen greift ins Musikalische über, die untersuchte Euphonie führt zur Anwendung des Tonartbegriffs.
'~enn
Lucien
- 370 -
Goldmann und Norbert
~eterß
(1970) in dieser Analyse Schlüsse
auf die "Weltanschauung Baudelaires" vermissen und nach ihr verlangen, so ist es ein zu großer Sprung.Vielleicht war in dem Gedicht, wie in der Musik, mehr Spiel am Werke (wie die sicherlich nicht zufällige Euphonie, die Jakobson und
L~vi-Strauss
exakt untersucht haben, beweist). Jedenfalls geht Roland Posner in
~einen kritisch~n
Bemerkungen zu dieser Analyse'viel adäqua-
ter vor, wenn er zunächst ihre erbrachte Leistung reflektiert und stufenweise ihre' weiteren Schritte aufbaut (Posner 1972: 202-242). Posner führt das von der PhOnetik ausgehende analytische Verfahren zu den letzten Konsequenzen des Begriffsinstrumentariums im Bereich des Musikalischen (217): Das Gedicht ist einem Orchesterstück viel ähnlicher als es der eindimensionale Drucktext nahelegt. Die Instrumentalstimmen geben sich gegenseitig Profil und sind darin den Textebenen vergleichbar. Aber auch die gleichzeitig erklingenden Töne sind harmonisch aufeinander abgestimmt, und die Harmonien (ihnen entsprechen vertikale Schnitte durch die Orchesterpartitur) erhalten ihren unverwechselbaren Charakter, indem sie sich von ihren Vorgängern und Nachfolgern abheben. Die Wiederkehr gleich definierter Äquivalenzklassen (z.B. mit dem Merkmal >phonologische und semantische Helligkeit<) auf wechselnden sprachlichen Elementen (. .. ) ist zu vergleichen mit der Wiederkehr gleicher Harmonien (z.B. >Septimenakkord<) auf verschiedenen Grundtönen. Wenn fü~ den Text des Gedichts das gleiche gilt wie für den >Text< des Musikstücks, müßte demnach die Verteilung der vertikalen Äquivalenzklassen auf die Folgen der Textebenen in der Strukturanalyse eine ähnliche Rolle spielen wie die Verteilung der horizontalen Äquivalenzklassen auf die Textsequenz. Folgerichtig erweitert Posner die Analyse um den Rezeptionsaspekt: der Text erhält in der Rezeption das "organisierende Prinzip der Funktionen"; die Analyse des Rezeptionsverlaufs bietet aber "viel größere Schwierigkeiten als die Untersuchung der materiell fixierten Bestandteile des Zeichenträgers; es geht 'hier nicht mehr um einen statischen Gegenstand, dessen Elemente synoptisch
~egeben
sind, sondern um die flüchtigen Momente eines
Prozesses." (Posner beruft sich auf die rezeptionsgerichtete Analyse desselben Gedichts von Michael Riffaterre, 1966.) Weiter nennt Posner typisch intertextuelle Vorgänge, "emotive Reaktionen, die der Text steuert" und "direktive Impulse, die von ihm
- 371 -
ausgehen", wie: Spannung (: Erwartungslntensität), Uberraschung, Enttäuschung, Ironie, komischen Effekt. Das sind Vorgänge, die tatsächlich in der Musik hoch formalisiert und somit rezeptiv weitgehend fixiert sind (dazu zwingt sie ihr averbaler Charakter); es genügt, auf die
~igur
des
"Trug~chlusses"
zu ver-
weisen, der als musikrhetorisches Mittel seit dem 18.Jahrhundert konventionalisiert und in Harmonielehren definiert wurde: statt der erwarteten Befriedigung auf der Tonika setzt eine neue Spannung ein. Posner erweitert also sachgemäß die Analyse intertextueller Prozesse um musikheuristische und musikhermeneutische Aspekte. Diese Perspektiven hat bereits der Prager Strukturalismus geöffnet; Mukarovskyuntersuchte 1933 die Intonation "comme facteur du rytlune poetique" und verfolgte die "rein musikalische Kadenz" beim Vortrag Nezvals
(1948:17~),
V. Helfert
untersuchte das "Musikalische der Sprache" (1937). Wie schwierig ist es, die postulierte Komplexität der Textanalyse zu verwirklichen, erweist sich gerade in dieser Studie Posners: in seinem weiteren Bei'spiel ist sie ilun entgangen. Posner führt das Brechtsehe Lehrstück "Die Maßnalune" (1930) mit dem "Lob der Partei" als Muster des Parallelismus an, d~r mit "semantischer Opposition" verknüpft ist: "Der Einzelne hat zwei Augen - Die Partei hat tausend Augen ... " usw. So will Posner die "Gesamtheit" des rezeptiven Appells erfassen. In der Tat ist es nur eine Ebene der Gesamtheit des Lehrstücks. "Die Maßnahme" ist nicht nur ein verbaler "Text", sondern ein Text mit drei Komponenten: Wort + Musik + Szene; so wurde sie auch Ende 1930 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt. Somit weist das Werk mehrere "Äquivalenzklassen" auf. Die von Posner ausgeführte Reihe mit acht "Oppositionen" von
"Einzelne~Partei"
hat de facto die Endform eines Responsoriums, also einer archaisch-kirchlichen Gattung mit szenischem Effekt (raumakustisch). Der massive Einsatz aller Sänger ("denn sie kämpft mit den Methoden der Klassiker"), wo die Worte, isoliert betrachtet, wie aus einem "marxistisch-wissenschaftlichen Lehrbuch" ausgeschnitten aussehen, erfolgt in den
parall~len
Quin-
ten eines mittelalterlichen Organums, das nicht nur religiös,
-
372 -
&inzeln~ sieht eine stadt.Die part:ieht sieben Staaten. D.er iinzelnehateine
.
!fJ Chor
Jlß~olo
$J.d·e~u Bh'±fl.LJJ~JJ~JIJJhJ J 1 Stunde.
Die Partoi hat viele Stunden.Der.Einzelne kann vernichtet w\lrden.
&r> >
Allel
~IP !!WHß'II1'Pt~=FI~F~F~1 Dl0 Partei kann nicht vernichtet
werd~n,
und bestimmt eind, sie zu. veränderJ\, indem
denn oh kiim·pft mit den He"
die· Lehre die Hassen ergreUt.
sondern in der Rohheit des Klanges gebieterisch wirkt. Diese Verfremdungsm~.t:tel verla~ern
vom Gesang sche
getra~en,
Beschwö~ung.
das Ganze - es wurde wirklich nur
nie bloß rezitiert - in eine mythologi-
Die Lehrsätze des Leninismus werden in dieser
intertextuellen Ausstattung selbst zum Gegenstand der kultischen Verehrung. Wenn Posner in den Zweizeilern "Einzelne -Partei" eine Verknüpfung von "Parallelismus. + semantische Opposition" sieht, so ist diese Deutung vom Gesichtspunkt des gesamten (vielschichtigen) Textes aus falsch. Denn das Prinzip des Responsoriums bedeutet das, was Posner "direktive Impulse" nennt: der Chor folgt dem Vorsänger, er "opponiert" nicht, sondern er bekräf:tigt. Darum liegt in ihm die positive Aussage,
-
373 (
welche die Partei, die verbal als ein Demiurg des Lebens apostrophiert wird, mythologisiert. 'Die Figur "Parallelismus + semantische Opposition" ist nur ein Moment des Textes als Ganzen, das hineingebracht wird, damit es aufgehoben werden kann: das Kollektiv (der Chor) hat zu erfüllen, nicht zu opponieren. Eine komplexe, den musikalischen Teiltext einbeziehende Analyse macht die feinen sozialen Prozesse greifbar, die ansonsten viele historische und sozialpsychologische Untersuchungen erforderlich machen - den die Partei bereits 1930 ansteckenden "Kult" mit religiöser Funktion der "reinen Lehre".
(Ad marginem: Der
Fall bestätigt, daß Kunstwerke nicht als Illustration der Geschichte, sondern als ihre Quelle mit selbständigem Aussagewert zu betrachten sind.) Am Beispiel von "Les Chats",hat Posner richtig bewiesen,
daß in "rein verbalen" Texten ein zweiter Plan der musikalischen Intonation (besonders in der Euphonie einer Dichtung) unbedingt zu verfolgen ist, wenn wir intertextuelle Prozesse komplex untersuchen wollen. Die Musiktheorie hat dieses Musikalische in der Sprache längst vor der Entwicklung phonologischer Untersuchungen reflektiert (der Anfang liegt bei Vincenzo, Galilei im 16.Jahrhundert, weitere Ansätze in der "musikalischen Rhetorik" des 17. und 18.Jahrhunderts und bei Rousseau als Sprach- und Musiktheoretiker, vgl. Unger 1941; Beaufils 1954; Ruwet 1972; Niemöller 1980). Auch Komponisten wie Mussorgskij und Janacek haben die Musik des Sprechaktes als einen Weg zur realistischen Wiedergabe von Lebenssituationen, Handlungen und psychischen Zuständen untersucht. Die Nutzung der' Sprachmelodie theoretisch zu begründen versuchte Richard Wagner, aber erst Leos Janacek hat sie konsequent als praktisches Mittel zur Gestaltung musikalischer Texte
sy~tematisiert.
(Es ging ihm um die situationsbedingte
Wahrheit des Ausdrucks. Eine Skizze der Problemgeschichte: \tlolff 1970.) Die sprachmelodischen Einheiten nannte Janacek "napevky". "Napevek" ,ist ein Neologism~s; naplv
=
(Lied)weise, napevek
ist also ein Bruchstück des melodisierten
Sprechaktes in sinn-
voller Geschlossenheit, eine Saussuresche "parole" kleinsten Umfangs. Janacek verfolgte nicht nur die melodische Linie, sondern
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374 -
auch die Bewegung - die rhythmische Substanz des situationsbedingten Sprechaktes - und die besondere Verfärbung, das Timbre"das durch die musikalischen Mittel der
~nstrumentenfarbe
und des Zusammenklangs (der Harmonie) ausdrückbar ist. Für emotive rhythmische Kleingestalten prägte Janacek ebenfalls einen Neologismus: "scasovka" (cas
=
Zeit; scasovka
von der Bewegung der Gefühle in der Zeit einer Spannung gegenüber den regelmäßigen,
=
etwas
Abbröckelndes, was in ordnend~metrisierten
Rhythmen steht). Janacek schuf 1911/12 eine echt psychologisierte "Harmonielehre" (Schönbergs "Harmonielehre" von 1911 bedeutet ebenfalls einen Umbruch). Er brachte in sie auch seine Theorie der "nipivkY" ein
(Janac~k
21920:IV):
Neni nad scasovaci pravdu, kteri le!i ve slovi, jeho! slabiky jistou fizi vyverajici ni lady !ivotni do rovnych dob jsou napiaty. Neni nad scasovaci pravdu rytmu ze slov v mluvi. Porozumime a vycitime z toho rytmu kazdy zichviv duse; jim prenisi se na nis a virnou ozvinou budi se v nis. Takovy iytem neni jen vyrazem meho nitra, ale svidci i 0 prostredi, okoli, vsech mesologickych vlivech, v kterych senalezirn - je dokladem vidomi urcite doby. (Es gibt nichts über die ausdrucksrhythmische [scasovaci] Wahrheit, die in dem Worte liegt, dessen Silben, die aus einer Phase der Lebensstimmung hervorquellen, in gleiche Zeitwerte gespannt sind. Es gibt nichts über die ausdrucksrhythmische Wahrheit des Wortrhythmus in einem Sprechakt. Wir verstehen ihn, wir fühlen aus diesem Rhythmus jeden Schauer der Seele; durch ihn überträgt sich dieser Schauer auf uns und klingt in uns getreu nach. Ein solches rhythmisches Element ist nicht nur ein Ausdruck des Inneren, sondern gibt auch das Milieu kund, die Umwelt, alle mesologischen Einflüsse, unter denen ich mich befinde - ist ein Dokument des Bewußtseins einer bestimmten Zeit.) Janacek untersuchte die Indizes in der Verfärbung der Stimme (Gebrochenheit, Angst, Freude, Drohung ... ). Akustisch gesehen sind es die sogenannten Formanten, welche die originelle Stimmfarbe in konstanter Konfiguration prägen; hinzu mischen sich aber Formanten, die situationsbedingte, psychische Zustände indizieren. Sie wirken psychologisch so stark, daß sie rezeptiv (in unserer Sinnestäuschung) die Tonhöhe und den Zusammenklang ändern (dieselben Töne hören wir in einem gesungenen Aufschrei viel höher als in einem ruhigen Zusammenhang). Janacek vergleicht einen Undezimen-Zusammenklang in der Elektra von Richard Strauss, der die grausigen Worte vom Blut der Mörder begleitet, mit der
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Endwirkung: durch die "Wortflut" ist er rezeptiv verwandelt, viele Töne werden niedriger gehört, der Zusammenklang ist "komprimiert". Ich nehme an, daß es Jan&~eks Theorie der "n&p~vky" war, die Karel ~apek zu der glänzenden "Geschichte des Dirigenten Kalina" (1929) angeregt hat: ein Musiker dechiffriert ein zufällig mitgehörtes Gespräch in ·einer ihm fremden Sprache nach seinem musikalischen Gehöt: "Hört, das war kein Liebesgespräch, so was erkennt der Musiker; ein werbendes Uberreden hat eine ganz andere Kadenz und klihgt· nicht so beklorrunen; ein Liebesgespräch, das ist ein tiefes Violoncello, dies aber war ein hoher Kontrabaß, gespielt Presto rubato in unveränderter Fingerlage ... Dieser Mensch sagte etwas sehr Böses." Es wat ein Uberreden zum Mord, die Frau gab nach und wurde zum bloßen Instrument. "Ich erkannte das aus dem Schreck, der aus diesen zwei Stirrunen wehte; er steckte in der Farbe der Stirnrne,in der Kadenz, im Tempo, in den Intervallen und Zäsuien - ich sage euch, die Musik ist exakt, exakter als die 'Sprache!" - Ein Bild·des autonomen "musikalischen Textes", der spontan in jeden verbalen Text einkomponiert ist und für uns exakt wahrnehmbare Indizes des psychischen Zustandes bedeutet. Die'se "Klangfarbenrnelodie" entdeckte neu - unter Berufung auf Schönberg' - Julia Kristeva (1974:229). Schade, daß ihr die Vorleistung Jan&~eks - aber auch Mukarovskys französisch veröffentlichte Studie zur Semantik der musikalischen Intonation des Verses - entgangeh sind (Jan&~eks sprachmelodische Theorien wurden vor 1974 ebenfalls ausreichend in zugänglichen Sprachen behandelt). Jan&~ek
ging noch weiter, ihn interessierte auch, ob im
sprachmelodischen Text nicht
~in
anderer Text "zitiert" werden
kann. Vierzig Jahre nach dem Tode Smetanas, 1924,' führte er edn Gespräch mit dessen Tochter. Seine Fragestellung war echt intertertuell: .Gibt es nicht in' der Rede der Tochter eine Schicht, die die Rede ihres Vaters enthält? Jan&~ek berief sich auf die Erfahrung der mimetischen Automatie. Wenn wir den Sprechakt einer anderen Person wiedergeben,' verfärben wir unsere Stimme und ahmen im gesarntenAusdruck des Gesichts (der die Stimme mitformt) ihr Verhalten nach. Wenn die Tochter also spontan schildert, was ihr Vater sagte, ist darin seine Redeweise enthalten. Jan&~ek
zeichnet ihre Aussage auf: "Er (Smetana) sagte, indern er auf
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376 -
die Partitur (der Oper) )Der Kuß< schaute:
f:rrn 11
JJ
iJZPg I
To Ylecko pfiJde k oetnen';
I"
(>Das alles kommt einmal zur Hochschätzung!<). In dieser Rede, dem Zitat der Worte Smetanas, höre ich ihn selbst. So sprach höchstwahrscheinlich auch Friedrich Smetana, so voller erregter Empfindungen, im Vertrauen auf den zukünftigen Erfolg seines Werkes. Des Meisters Rede, ihr kurzer Abschnitt, durch die Wahrheit des augenblicklichen Einfalls von seiner Tochter in unsere Zeiten überliefert."
(Jan&~ek
1959:75 ff.)
Das graphische Bild unserer Sprache gibt bekanntlich die Intonation ( + Rhythmisierung ~ "s~asovky" und das Timbre) nicht wieder. Wir ergänzen sie automatisch bei der Lektüre, ja wir "hören" allmählich die Stimmen einzelner Romanhelden, wenn sich ihre Charaktere schon herauskristallisiert haben - wir
pro~i
zieren unsere stilisierten Erfahrungen mit der Sprechweise ähnlich handelnder, bekannter Personen auf sie. So bildet sich eine Rekonstruktion der auditiven Ebene als Bestandteil des Textes, welcher der Autor mit Sprachstilisierung nachhilft ein klassischer Fall der rezeptiven Intertextualität. Wir realisieren auch die Stimmlage, Stimmfarbe'und Intonation einer bekannten Person im inneren Gehör, wenn wir ihren Brief oder einen 'anderen Text von ihr lesen. "Auch> innere<: Rede ist getragen durch die Intonation", sagt Mukarovsky (1933, 1948:173). Die Stimme Intellektueller ist jedoch wegen des Zwangs zur Unterdrückung der Emotionalität '''unmelodisch'': wenn wir aber etwa eine ältere Bäuerin hören, wird uns die Schönheit einer melodischen, beweglich intonierten Rede bewußt. Auch Kinder haben eine allen Regungen nachgebende Intonation: doch sie können sie schwierig auf Befehl vorspielen, d.h. bewußt modellieren. Das macht die Schwierigkeiten des gefühlvollen Vortrags eines Gedichts im Schulunterricht aus;' der Lehrer zwingt das Kind zur Modulation der Stimme, wenigstens zur syntaktischen Intonation, wenn schon die affektische versagt. So können "Frage", "Ausruf",
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377 -
Interjektion als Öffnung des Satzes gelingen. Aber auch ein solcher "schulisch monotoner" Sprechakt hat eine umfangreiche Aussagequalität, die erstrahlt, wenn er in einen musikalischen Kontext eingesetzt wird. Diese Resonanz bietet optimal ,die "musikalische Collage" - ein typisch intertextuelles
Ve~~ahren.
Sie ist besonders seit
den 50er Jahren, als elektronische Apparaturen eine Uberlagerung von mehreren Musikstrukturen erleichtert
~aben,
eine oft genutzte
koml?ositorische Methode. Ich nehme ,das IIRequiem" von Michel Chion (1973) als, Beispiel, wobei, ich nur einen Aspekt dieses merkwürdigen Werkes erörtere - ausführlich befaßt sich mit ihm Christoph Reinecke (Musikwissenschaftliches Seminar der Universität Hamburg). Es hat für unser Thema den Vorteil, daß die hintergründige Textebene eine traditionelle Gattung ist, die allerdings schon im 19. Jahrhundert stark säkularisiert wurde (vgl. Cherubinis Requiem ein Akt der politischen
a
la memoire de Louis XVI von 1816 -
Restau~ation,
vielsagend bei dem ehe-
maligen Hauptkomponisten der Französischen Revolution). In unserem Jahrhundert wurde die Gattung zum Vehikel politischer Aussagen (Hanns Eisler: Lenin-Requiem, 1937; Benjamin Britten: War Requiem, 1962 u.a.). So sind es bereits drei Textebenen, die Chion benutzt, wenn er das musikalische Substrat bildet, in welches verschiedenartig intonierte oder gesungene "paroles" eingesetzt werden: a) Texthintergrund der traditionellen Totenmesse mit kanonisierten Teilen: Requiem aeternam, Kyrie Eleison, Dies irae ... ; b) Tradition weltlicher Nachbildungen, Requiem "als Musikgattung"; c) Textebene der elektronischen Musik, mit eigener Reihe von rezeptiven Appellen (teils sind sie akustisch, teils wahrnehmungspsychologisch und sozial bedingt; so entstanden gewisse Konstanten von Assoziationen wie "Weltall", "phantastische Welten", "abstrakte Bewegung" usw., stark ist aber "Schrecken; Katastrophe, Weltuntergang" vertreten - experimentelle Ergebnisse in: Karbusicky 1975). Mit Hilfe der ,CollageTechnik baut Chion eine apokalyptische Vision auf; suggestiv ersteht eine Situation in der Stunde des totalen Atomkrieges, wo vielleicht noch eine Frist vor dem Tode besteht, aber es bleibt nichts anderes als nur noch Gebet. Alles sinkt zum Urzustand einer chaotischen Masse zurück, es klingen nur noch
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Fetzen von menschlichen Stimmen, Bruchstücke eines einst glücklichen, kindlichen Lebens auf. Beobachten wir, welche Wirkungen ausgelöst werden, wenn in die genannten drei Hauptschichten des Textes plötzlich ein Sprechakt wie die Lektüre des I. Korintherbriefes mit der Stimme einer elf jährigen Schülerin "eingeklebt" ist. Ihre kindische Unbeholfenheit, ihr an tieferen Bedeutungen vorbeigehender, schulisch
m~notoner
Vortrag, bei dem sie sich oft verspricht,
bekommt durch den musikalischen Kontext ein ungeheures Spektrum von inhaltlichen Appellen. Als Kind kann
~ie
nicht "auf Befehl"
intonieren, ihre Stimme erhebt sich nur bei "0 Mort, ou est ta victoire?" zur syntaktischen Intonation, die unerwartet einen Hauch der affektischen bekommt: das Mädchen 'hat gleichsam Mitleid mit der Tod, etwa: "0 du arme ... " - ein unwillkürlich kornischer Effekt. Sie denkt den Tod feminin, als weibliches Wesen, und solidarisiert sich sozusagen mit "ihr". Sie verdeutlicht mit ihrer Naivität eine intertextuelie Verschiebung, die im romanischen und slavischen Sprachbereich den Sinn des OriginalS tatsächlich schwächt. Denn im Griechischen ist der Tod maskulin, ~ 3avuLo~, so daß der Ausruf des Paulus einen stark herausfordernden Akzent hat: noü aou, 3Uvun;, LO VLXO!;'; noü aou, 3avuLE:, La xtvLPOV (I. Kor. 15,55; es ~st ei~e Allusion, die sich auf Jesaja und Hosea bezieht). In Luthers "Tod, wo ist dein Sieg, wo ist dein Stachel" geht diese Herausforderung nicht verloren; für einen ZuhÖrer, der diese bekannte Textsteile deutsch denkt, verdoppelt sich der unwillkürlich-kornische Effekt des Mitleids in der Intonation des Mädchens
"6
Mort •.. " (bei Vorführungen
immer zu beobachten). - Auch in anderen aufgenommenen Sprechakten ("En ce jour de
col~re,
que vais-je dire?" im anknüpfenden
Teil Dies irae, das geflüsterte Gebet im Teil Domine Deus usw.) entdecken wir, obwohl sie "monoton" sind, ungeahnte Reichtümer latenter Musik; durch die drei Textschichten, die ihr musikalisches Substrat bilden, werden sie rezeptiv aktiviert und kommen ins Bewußtsein.
o
Michel Chion: Requiem. Harmonia mundi
AH 689.05
Stimmlage, Stimmfarbe, rhythmisierte Intonation sind bedeutungstragende Komponenten mit vorwiegend indexikaler Qualität, also mit viel verläßlicherer Kommunikation als bei der symboli-
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379 -
schen Qualität, die auf Konventionalisierung angewiesen ist. Gerade da die indexikale Qualität so "selbstverständlich" ist, wird sie in unserer Schrift nicht notiert: sie wird beim Lesen automatisch rekonstruiert. Die Semiotik läßt sie zumeist unbeachtet, weil sie sich vor allem an gedruckten "Texten", nicht an Sprechakten als akustischem Pqänomen orientiert. So werden in einem Satz wie: "Glauben Sie, daß das genügt" nur Permutationen von Wortakzenten verfolgt, etwa daß "flinf voneinander verschiedene Bedeutungen" ( G l a u ben
Sie ... ; Glauben
S i e ... usw.)
möglich seien (Cherry 1957, 1967:169). Mit Vorliebe zählen solche Permutationen die Logiker auf, etwa: I c h geh e
hin; Ich gehe
gehe hin; Ich
h i n . Das ist jedoch ein ziemlich re-
duziertes Verfahren, abhängig nur von
ein e r
Textebene, ja
eher nur vom Zeichensystem der Schrift. Die Logiker denken am Schreibtisch und nicht in der
~kustischen
Realität lebendiger
Sprechakte; darum wird nur die Bezeichnung des Wortakzents vermißt, und die möglichen Bedeutungen werden dann "mathematisch" rekonstruiert. Ein einfacher Satz wie: "Ich gehe hin" ist indes als Sprechakt (also in "musikalischen" Komponenten) 'in unzähligen Bedeutungsspektren realisierbar: als Ausdruck der Freude; als Drohung; als traurige Pflicht ... oder: in der Stimmfarbe und -lage eines sorglosen, lustigen Mädchens; einer resignierten alten Prau; im Schrei eines Feldwebels; im Akzent eines Ausländers usw. Wird ein solcher Satz gelesen, so werden seine möglichen Bedeutungen nicht permutativ festgelegt, sondern intertextuell rekonstruiert. Solche Rekonstruktionen (mit hineinprojizierten Inhalten) sind ein alltäglicher Vorgang der rezeptiven Intertextualität. Wenn aber eine "nur logische" Rekonstruktion durch permutierte Wortakzente in einem musikalischen Kontext eingesetzt wird, entdecken wir auch in ihr latente Qualitäten einer musikalischen Intonation. Die tragende Textebene der Komposition von Ladislav Kupkovi~ "Confessio" (1969) bilden Aufnahmen des Gottesdienstes in einem slowakischen Dorf: Kirchenglocken, Gesang der Gemeinde mit der Begleitung der Orgel, die, da die Gläubigen immer zu langsamerem Gesang neigen, im Vorsprung des Einsatzes das Tempo halten will, Gebete, Läuten von Messeglöckchen usw. Hinzu ist ein Sprechakt des Chors live ,einkomponiert (eine Variante der Collage-Technik), der das Vaterunser vorträgt,
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Neubildung von peklo di ven"
=
= Hölle,
"do pekelce"
=
in die Hölle, "ty
du geh' raus!) Da solche Zerbröckelungen zumeist in
magischen Sprüchen funktionell waren, weckt die Anwendung dieses Prinzips in der Dichtung - wieder eine intertextuelle Erscheinung - eine gleichsam unterbewußt magische Einstellung (J. Joyce ästhetisierte sie bis zu seinem Spätwerk zunehmend). Was einen verbalen Text durchaus "verspielt" macht und folglich entsemantisierendwirkt, ist die Wiederholung - das wichtigste Prinzip der musikalischen "Syntax". Konnotativ werden dann etwa nur "gute Laune", "Freude am Spiel" und ähnliche Gemütszustände wie beim Musikspiel evoziert. So kornmtdiese musikalische Textebene in die. verbale des Briefes W.A. Mozarts "An das Bäsle" vom 5.0kt.1777 hinein (es geht um eine versprochene Sonate): Warum nicht? Has? - Warum nicht? Warum soll ich sie nicht schicken? '>Jarllin soll ich sie nicht übersenden? ~qarum nicht? Kurios. Ich wüßte nicht, warum nicht? - Nu, also diesen Gefallen werden Sie mir tun? Warum nicht? Kurios! Ich tue Ihnens.ja auch, wenn Sie wollen, warum nicht?Warum soll ichs Ihnen nicht tun? Kurios, warum nicht? Ich wüßte nicht, warum nicht? .• Zwei elementare Vorgänge der rein musikalischen Evolution werden hier angespielt: Wiederholung und Variation. In der Sprache wirken sie nicht nur
"verspi~lt",
sondern auch archaisch, wenn
nicht "primitiv" - Smetana benutzt sie (in: Die verkaufte Braut) zur Charakteristik des Kecal, eines eitlen Heiratsvermittlers im Dorfe. Musikaiisches entsteht aus Wortfetzen "atls bloßer Freude am Gleichklang und der Wiederholung" (Lach 1925:33). Die Komponente des Spiels (in der Musik verbunden mit der Ausspielung der Spannungen des Materials, der Formung des Energiestroms) hat in allen Künsten ihren Anteil, schon darum, weil Kunstwerke eine "konstruierte Wirklichkeit" sind.
(Sogar in der Theorie des
Realismus, der die Kunst als "wahre Widerspiegelung der Wirklichkeit" definiert, geht es nicht ohne "Typisierung", ja Vorzauberung eil!-er Realität, "wie sie sein sollte".) Darum spricht Th.W. Adorno vom "Clownshaften", das noch die bedeutendsten Kunstwerke "in sich tragen und das nicht zuzuschrninken ein Stück ihrer Bedeutung ist"; "die Konstellation Tier/Narr/Clown ist eine von den Grundschichten der Kunst" (Adorno 1970:181-182). TOlstojs Novelle "Die Kreutzersonate" ist eine Anklage dieses
-
381 -
wobei Akzente permutiert werden: Uns e r · tägliches Brot gib uns heute; Unser tägliches
t ä g I ich e s
B rot
Brot gib uns heute; Unser
... usw. So wird ein großer Reichtum rezepti-
ver Intertextualität evoziert, nicht nur von Assoziationen des naiven Dorflebens Chagallscher Art, sondern in sozialer Richtung einer Bewußtwerdung der
existent~ellen
Situation armer Bauern,
die im wiederkehrenden religiösen Akt das Gelingen ihrer harten Arbeit durch magischen Beschwörungsstil (chlieb - Brot wird bis zur Intonation eines verzweifelten Aufschreis gesteigert) sichern wollen.
00
L.Kupkovi~:
Confessio. Aufnahme des WDR, 1969 (Archiv)
Ein anderes Moment kommt jedoch konnotativ hinzu, das auch im begreifend-beschauenden Abstand des Komponisten nicht zu überhören ist: die Komponente des "Spiels", die in der Musik im allgemeinen so konstitutiv ist,
d~ß
sie aUGh schon in jeder be-
tonten Euphonie eines literarischen "Textes" in Erscheinung tritt. (Im Falle "Les Chats" habe ich dies schon angedeutet.) Einen Durchbruch dieser Komponente in die Sprache gibt es allerdings sehr selten; in der Folklore waren es einige KindersprUche, besonders wenn sie mit Spiel verbunden waren, in der Dichtung konunt sie erst in moderner Entwicklung (bei den Dadaisten, jetzt auch in "graphischen" Dichtungen) zur Geltung. Das Spiel, die asemantische Schicht der Musikstruktur, kann so überwiegen, daß es, wie in der Musik des Klassizismus, zum Stilmerkmal wird. Es bringt darum auch in die Sprache einen "entsemantisierenden" Effekt: Wörter als Bedeutungseinheiten werden zerbröckelt, nur nach ihrem Wohllaut behandelt, "alogisch" gereiht. Böhmen:
Enyky benyky· kliky be abr fabr domine ence pelce do pekelce ty di ven!
Ein Auszählspruch aus
I J;) I J ~ ,1 I ) ) I) J I),' I J) I ,:J I J.
I ,1 ) IJJ I) J I~ ~
I cl I cl I I) )
I
I I
Es ist ein trochäischer Tetrameter (als idealer Grundriß; denn es handelt sich um ein tonisches Verssystem im musikalischen Maßstab von vier Takten mit variabler Silbenzahl) . Die Bruchstücke von WBrtern habe~ wirklich "magischen" Charakter.
(Sicht-
bar ist lat. "domine", hinter "benyky" kann man "bene" nur noch ahnen, ähnlich "abr" == deutsch "aber"? Das Wort "pekelec"
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382 -
Spiels in der 'Kunst, seiner Unverantwortlichkeit, denn seine vorgezauberte Welt kann ernst genommen werden. Das hat mit einem Moment der rezeptiven Intertextualität zu tun - der "selektiven Emphase" des Rezipienten. Der Text erreicht eine sehr einseitige Wirkung, weil nur eine seiner Schichten pars pro toto emotionell oder aus einem starken sozialen Anlaß wahrgenommen wird. "Die Kreutzersonate"
(1886) eignet sich ausgezeichnet zur Analyse die-
ser intertextuellen Verschiebung von inhaltlichen Akzenten.
3. Selektive Emphase und intermedialer Transfer In der "Kreutzersonate" schildert der Erzähler Pozdnyiev erregt die Wirkung des Beethovenschen Werkes. Seine Emphase ist typisch selektiv - im Sprung vom ersten Satz (Presto) gleich zur gesamten Musik, ja zur Kunst
sc~lechthin.
Das Spiel seiner Frau
(Klavier) und des Gastes seines Hauses Truchacevskij (Violine) führt zur Annäherung beider, und,in der Situation der aufflammenden und stets verdrängten Eifersucht des Erzählers entsteht rezeptiv eine neue Schicht der "Bedeutung" der Sonate. Kennen Sie das erste Presto? Kennen Sie es? Oh! - schrie er auf. Oh, oh! Was für ein furchtbares Ding, diese Sonate, und zwar gerade dieser Teil! Und überhaupt die Musik - was für eine entsetzliche Sache! Was tut sie? Und warum tut sie eben das, was sie tut? Es heißt, die Musik erhebe die Seele Unsinn, Lüge! Sie wirkt überaus stark, gewiß - ich spreche von mir -, doch von einer seelischen Erhebung ist bei ihrer Wirkung nicht im geringsten die Rede; sie wirkt auf die Seele weder erhebend noch niederdrückend, sondern erregend. Wie soll ich es Ihnen sagen? Die Musik zwingt mich, mich selbst und das, was meine Wirklichkeit ist, zu vergessen, sie versetzt mich in eine andere Wirklichkeit, die nicht die meine ist; ich habe unter dem Einfluß der Musik den Eindruck, daß ich etwas fühle, was ich im Grunde genommen gar nicht fühle, etwas begreife, was ich nicht begreife, etwas vermag, was ich nicht vermag ... Die Musik versetzt mich plötzlich, unmittelbar in jenen seelischen Zustand, in dem .sich der Urheber der Musik befunden hat. Unsere Seelen verschmelzen, und ich schwebe mit ihm zusammen aus dem einen Zustand in den anderen hinüber ... Auffällig sind in diesem konstruierten Sprechakt Wiederholung und Variation, zwei Grundkomponenten des Spielhaften in der Musik, sie werden aber zum Index der Erregung des Erzählers (kurZe Sätze, Interjektionen). In der Emphase konzentriert sich
- 383 -:-
diese Aussage auf die unerwünschte Synergie, wobei die Gestalteigenschaften der Musik, welche dieses Mitgerissensein anregen, im Verborgenen bleiben. Der Erzähle! ist erregt, weil er weiß, daß diese Musik loit derselben unkontrollierten Kraft auf die beiden Spieler wirkt. Die Erregung einer Gefühlsenergie, die sozusagen gegenstandslos bleibt und weder der Zeit noch dem Orte entspricht, kann nur verderblich wirken. Auf mich wenigstens übte dieses Stück eine furchtbare Wirkung aus: es war mir, als ob sich mir neue Gefühlswelten, neue Möglichkeiten eröffneten, von denen ich bisher keine Ahnung gehabt hatte ... Meine Frau hatte ich noch niemals so gesehen, wie sie an jenem Abend war: diese strahlenden Augen, dieser Ernst, dieser bedeutsame Ausdruck während des Spiels, die völlige Hingabe und das weiche, schmachtende, selige Lächeln am Ende des Spiels ... Dem Erzähler wird die durch die Musik erzwungene Hingabe der beiden Spieler, ihre unausweichliche Folge bewußt: das gemeinsame Erlebnis wird sie zusammenführen in "neue Gefühlswelten", denen er selbst widerstrebt.
~
Die Gründe dieser Wirkungen der
Sonate schildert Tolstoj natürlich
nicht~
sie lassen sich aber
analytisch rekonstruieren. Es ist historisch
bekannt~
daß für Beethoven ein "Spiel"
primär war, resultierend aus der Absicht, für den Geiger Bridgetower, der als Virtuose zur
~esellschaftlichen
Sensation wurde,
ein"brillantes" Konzertstück zu schreiben: "molto concertante quasi come d'un Concerto". Die Uridee war also, die beiden Instrumente "coneertante" spielen zu lassen, das heißt in Gleichgewicht und Dialog von Klavier und Geige.
(Erst später, im Som-
mer 1803 I widmete Beethoven das \'Jerk Rudolphe Kreutzer.) Der "Dialog" macht aus beiden Spielern gute Partner: die Imitation in der Stimmführung wechselt rasch, das Thema ist unruhig, mit ständigen Sprüngen, die Harmonie oft ambivalent (Bruch des A-Dur gleich in·der ersten Antwort des Klaviers zur Mollsubdominante, d-Moll, Sprünge von a-Moll zu G-Dur usw.). Ständiger Aufbruch und Resignation - so läßt sich der Ausdruck der beweglichen Struktur interpretieren. Dies entsprach genau der Situation der Spieler in Tolstojs Novelle, ihrer "unerlaubten" Zuneigung. Noch ein Moment ist wichtig: der Klavierpartist keinesfalls nur "Begleitung"~
er hat eine sehr aktive Rolle.
(Manche Violinisten
spielen darum diese Sonate nicht gerne, sie halten' sie für ein
- 384 -
"Klavierwerk mit Begleitung der Geige".) Durch
diese Aktivität
entflieht die Frau dem Erzähler, findet ihre Selbstverwirklichung, fällt aus ihrer untergeordneten Rolle im Hause heraus. So wird die "konzertante" Uridee des Musikwerkes durch die selektiv emphatische Wahrnehmung des Dialogischen rezeptiv umgedeutet. Mit dem scheinbar harmlosen Zusammenspiel beginnt das Drama der blinden Eifersucht, die Pozdnysev zur Ermordung seiner Frau fUhren wird; das "Spiel" endet ernst. Das literarische Werk Tolstojs kann wieder mit selektiver Emphase rezipiert werden und das Ergebnis in das ursprüngliche Medium zurückkehren. Im Jahre 1923 schrieb Leos Janacek ein Streichquarteft, "Angeregt durc~.L.N. T6lstojs Kreutzersonate". Seine persönliche Situation war der bei Tolstoj dargestellten nicht unähnlich - eine Liebe zu einer verheirateten Frau (Kamilla Stössel), die "nicht erlaubt" war. Den Text und sicherlich auch jene Stelle, wo die Wirkung der Musik geschildert wird, las er wiederum selektiv und schon in kreativer Intention. In seinem russischen Exemplar Tolstojs notierte er (zit. nach ~eda 1961:61): M~me
zn~t stanovisko Tolsteho. - Na koho hudba pusobi jen tak jako vun~, jako sveteln~ z~r - u toho. rodi s~ tomu pribuzne eiste zivotni n~lady - touha, l~ska ... atd. i soueasne buji. To je laicke pojim~ni hudby - dokud nevim a neznam, odkud vznik~ skladba.
(Wir müssen den Standpunkt Tolstojs kennen. - Auf wen die Musik nur so wie Duft, wie eine Lichtstrahlung wirkt, bei dem werden dem verwandte, reine Lebensstimmungengeboren - Sehnsucht, Liebe ... usw., ja sie werden gleichzeitig wuchern. Das ist eine Laienbetrachtung der Musik - solange ich nicht weiß und nicht kenne, wovon eine Komposition entsteht. ) Das sind schon Akzente seiner Lebenssituation - in seinen Äußerungen betonte er oft den "reinen" Charakter seiner Liebe und ihre Bedeutung für die Inspiration seiner Werke. Nach der Uraufführung schrieb Janacek an Frau Kamilla (14.0kt.1924): Etwas so Großartiges, wie das Böhmische Quartett mein Werk gespielt hat, habe ich bisher nicht gehört ••. Ich selbst bin erregt, und es ist schon ein Jahr her, seit ich es verfaßt habe. - Ich hatte die unglückliche, gequälte, geprügelte, erschlagene Frau vor Augen, wie sie der russische Schriftsteller Tolstoj in seinem Werke "Die Kreutzersonate" schildert. Der Komponist Josef Suk, Mitglied des
Böhm~schen
Quartetts,
- 385 -
erinnerte sich: Janacek war bei der Probe sehr erregt und sagte: "Den Schluß doppelt so schnell. Wir müssen die unterjochte f.~enschhei t
schützen!"
Wir haben es wieder mit einer Kaskade rezeptiver Intertextualität zu tun,'mit einer Verschiebung konstitutiver Akzente:
/ Musikali- ~ scher Text (Beethoven) "Dialog" im ·konzertanten Spiel
\.
Verbaler Text - . Rezipierter --. (Tolstoj) Text Tolstojs a) "Erzähler" als musikali-· b) Ethos der sehe InspiraMusik (selektion tiv) a) Unerlaubte e) FrauenLiebe, Frauenschicksal, schicksal Totschlag aus b) Beethovens Eifersucht Sonate
Musikalischer Text (Janacek) a) Ethos der Musik ----. für die "unterjochte Menschheit" b) "Dialogisehe" Faktur
'~'-----------------------------------------'~
Die Wege des rezeptiven Bruchs (der inhaltlichen "Selektion") sind nicht nur geschichtlich (1803 - 18e6 - 1923), kulturell und sozial bestimmt. Hinzu fügt sich der Bruch der Gattung (der zwangsläufig selektive Transfer der Inhalte von Ton zu Wort und zurück) sowie der persönlichen "Situation" (bei Tolstoj der Kampf mit dem Tierischen in ihm im Verhältnis zur Frau, bei Janacek ein "verbotenes" Verhältnis, ähnlich wie es L.N. Tolstoj schildert). Janacek nimmt sich aus dem verbalen Text einseitig das Motiv der unterdrückten Frau und steigert ~s ethisch zur Anklage der sozialen Umstände. Doch er wäre kein Musiker, wenn ihn dabei hintergründig nicht
~uch di~
Musik Beethovens inspi-
rierte. Schon deshalb, weil Tolstoj ihre Wirkung so emphatisch beschreibt. Die Faktur seines Quartetts ist ebenfalls konzertant und dialogisch.
o o
Beethoven: ViolinsonateA-Dur (die "Kreutzersonate"), op.47. Janacek: I . Streichquartett ("Angereqt durch L.N. TOlstojs Kreutzersonate"). Von heiden Werken sind mehrere Aufnahmen verschiedener Schallplattenfirmen auf dem Markt.
Janaceks Melos sind ständige Wellen des Aufschwungs und Zusammenbruchs, seine Harmonien sind ambivalent. Eine Ähnlichkeit des Kontrasts von Adagio-Öffnung (lyrisches, "weibliches" Element) und dem motorischen Thema ("männliches Element") ist augenfällig, im Notenbild:
-
386 -
Beelhaven, ap. 47
(0"
mofo J =160
J8n~l!ek,
I. Streichquartett I'"it.
Das ist eine "Ähnlichkeit" im gestalttheoretischen Sinne, d.h. mit einer ausreichenden Menge von gemeinsamen Qualitäten, die das "Wesentliche" repräsentieren. Sie entspricht der "Allusion" in verbalen Texten. Janacek setzt die konträren Gestalten allerdings enger zueinander, wie es auch seinem Personalstil (motivische Arbeit mit kurzen, "abgehackten" Gebilden, ähnlich seiner Redeweise) entspricht r behält aber ihr Prinzip, so wie sie bei Beethoven auftreten, bei. Die einleitende lyrische Gestalt ist sone ristisch (wie in den Doppelgriffen der Geige bei Beethoven), und sie ist dechiffrierbar als ein Symbol der Frau, der Liebe zu ihr, die "nicht erlaubt"
ist~
das Kopfmotiv ist eine Verschrän-
kung der Gestalt aus seinem "Tagebuch eines Verschollenen" (1921). Es handelt sich ebenfalls um ein Thema der unerlaubten Liebe des Bauernsohns zu einer Zigeunerin (vgl. Hollander 1964:96):
4h ~p ki~Jd biijfP IHp tJ'Ili~ bi ~~ce 11 Co ko·mu sü-.z.e-no
to-mu ne·u-I:e ~
(Was einem beschieden ist, dem entflieht er nicht)
- 387'''';'
Dieser Zusammenhang ist nicht konstruiert. Janacek bekannte in seinem Brief vom 8.6.1927 Frau Kamilla, die mit 19 Jahren einen Geschäftsmann heiratete: " ... in meinen Kompositionen dort, wo reines Gefühl wärmt, wo Aufrichtigkeit, Wahrheit, innige Liebe ist, bist Du es, wovon meine bangen Melodien kommen, Du bist die Zigeunerin mit dem Kind im Tagebuch eines Verschollenen, Du bist die arme Elina Makropulos ••. ". Ähnlich schrieb er auf dem Titelblatt des Klavierauszugs seiner Oper Kat'a Kabanova (1919-21, nach Ostrovskijs "Der Sturm"), der an Frau Kamilla gerichtet war
(12.2.1928), von seiner Frauenfigur: >Ich kenne, mein Freund<, sagte ich Prof. Khodl, )eine zauberhafte Frau, sie ist wie ein Wunder immer in meinen Gedanken. Meine Kat'a wächst in ihr, in ihr, der Frau Kamilla! Dieses Werk wird die zarteste meiner Arbeiten sein!~ - Und es ist geschehen. Ich habe nie eine größere Liebe erkannt als in ihr. Ihr weihe ich das Werk. Blüten, beuget euch vor ihr, Vöglein, hört in dem Lied der ewigen Liebe nie auf! So wachsen
die Textelemente Tolstojs (aus: "Die Kreutzersonate")
in rezeptiver Intertextualität, deren Ergebnis ein Musiktext ist, in ein anderes, szenisches Werk derselben. Kultur (A.N. Ostrovskij) hinüber. Was wir den "intermedialen Transfer" nennen, sind komplizierte Prozesse, 'in denen Bedeutungen teils übernommen, teils umgedeutet und umfunktioniert, teils aus neuen Situationen generiert werden; so strukturell ist die Peircesche "Semiose" zu betrachten. Betont schon Aristoteles die Rolle des Subjekts in seinnem mehrpolaren Bezugsfeld der
~L~naL~,
so verdeutlichen solche
Fälle einer selektiven Emphase, wie aktives in die Interaktion tritt. Jeder intermediale Transfer macht aber auch die gattungsbedingten Grenzen deutlich. Auch "epische Malerei" kann nur gewisse Momente der literarischen Vorlage nacherzählen; sie muß auch viel Neues, Spezifisches bringen. Aus beweglichem Geschehen wird Momentaufnahme, aber es kommen eigene Kompositionsgrundsätze hinzu - die Visualisierung muß den Ausdruck, die Gestik ergänzen, dem "Raum" eigene Dynamik geben und vor allem die Farben wählen (auch Farbensymbolik kommt zu Worte). Diese Grenzen und Spezifltäten lassen sich mit einer anderen Verkettung von Werken, diesmal über große Zeitspannen hinweg, verdeutlichen.
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388 -
Die Begegnung Salomos (961-931 v.Chr.) mit der Königin von Saba ist eine epische Apostrophe seiner Weisheit, gedichtet um 610 v.Chr.
Die Königin kommt aus der Ferne (heute: Südjemen) ,
weil sie die Kunde vorn Reichtum und der Weisheit Salomos gehört hat, sie stellt ihm verschiedene Rätsel, er weiß sie alle zu lösen, und sie lobt ihn und seinen Gott, Jahve. Die Erzählung hat die Funktion
ein~r
bildhaft ,wirksamen und zugleich symboli-
schen Bekräftigung der göttlichen Aura. Salomos; das epische Genre impliziert die Anwendung zahlreicher konventioneller Metaphern und Hyperbeln der Lobgesänge. Zur christlichen Aktualisierung trug die Ähnlichkeit einer Wanderung der heiligen Helena, der Mutter Konstantins
(f
um 336), nach Jerusalern bei, wo sie das
Kreuz Jesu gefunden haben soll. Die Legende des Heiligen Kreuzes komponierte die Figur der Königin von Saba in die Szenenfolge hinein: sie erkannte hellseherisch das Holz, aus dem die Brücke vor Jerusalem' gebaut wurde, als das künftige Holz des Kreuzes, sie kniete darum vor der Brücke nieder. In dieser Umdeutung erfuhr die Erzählung einen Transfer in die Mittel der Malerei die Fresken des Piero della Francesca (geb. zwischen 1410 - 1420, gest. 1492) in der Kirche San Francesco in Arezzo, entstanden zwischen 1452 und 1466. Die Szene ist jetzt ein Bestandteil der großartig angelegten und
farben~eichen
Komposition und ist zwei-
teilig: zunächst die Ankunft der Königin von Saba in Jerusalem (sie kniet vor der Brücke nieder), dann der Empfang durch König Salomo (sie verbeugt sich vor ihm als dem Träger der Weisheit Gottes). Die bildhafte Nacherzählung dieser christianisierten Begegnung Salomos mit der Königin von Saba ist in folgende Szenen eingerahmt: Der Traum des Konstantin (in dem ihm ein Engel das Zeichen des Kreuzes als Sieges zeichen überreicht) und der Sieg Konstantins über Maxentius (unten); die Uberführung des hl. Kreuzes (links); der Tod Adams (oben, bedeutsam für die Erlösungssyrnbolik der Kreuzigung Jesu, die das Zentralgeschehen darstellt).
(Es ist hier technisch unmöglich, die Bilder in Farbe
zu reproduzieren; man nehme dazu Lionello Venturi: Piero della Francesca, Geneve 1954, S. 51-92.) Während der "Ausdruck" der handelnden Personen noch wenig differenziert ist,' sind es die Gestik und die Farbkomposition, welche den stärksten Eindruck erwecken; sie bringen die Komposition, die den Raum der Kirche
- 389 -
so großartig füllt, in Bewegung. Diese Visualisierung des epischen Genres erfuhr im Jahre 1955 einen Transfer wieder in ein anderes Medium - die Musik. Die Fresken haben Bohuslav Martinu bei seiner Italienreise so tief beeindruckt, daß er ein symphonisches Triptychon "Die Fresken des Piero della Francesca" komponierte. Er vermied bloße Deskription und konzentrierte sich auf den Eindruck der Szenen, gab also auch dem subjektiven ~Ausdruck" freie Bahn. Das Sujet "Salomo und die Königin von Saba" löst sich in den mimetischen Qualitäten der Impression nicht gänzlich auf, es ist weiter zu erkennen, aber nur in Einzelzügen, Einzelprinzipien der neuen Gattung. Der erste Satz der Komposition bezieht sich nach Martinus Angabe auf das Gespräch Salomos und der Königin von Saba, also ein Moment, das eigentlich 'in der biblischen Vorlage, nicht aber bei Piero della Francesca Vorhanden ist - es ist aber ein "in der Musik ausdrückbares" Moment des Dialogischen, darstellbar durch Gegenüberstellung zweier Kontrastthemen, "Stimmlagen", Harmonien. Auf die Fresken bezieht sich aber ein anderes Mittel die "Farben" der Musik (ein synästhetisch bedingter Zusammenhang, vgl.
Hu~te
1982). Martinu war ein Meister der farbenreichen In-
strumentation, des kombinatorischen Au~spielens der Klangfarben von Instrumentengruppen.
(Der zweite Satz will die Atmosphäre
des Traumes des hl. Konstantin erfassen, ist also wiederum nicht "szenisch-deskriptiv"; die Traumatmosphäre schuf Martinu schon meisterhaft in seiner surrealistischen Oper "Juliette ou la Clef des songes" nach G. Neveux, 1937. Der dritte Satz gibt den Gesamteindruck, also das Subjektiv-Mimetische, in dem vor allem die gesamte räumliche Anlage und farbenreiche Komposition den "Transfer" finden.) Anhand einer Aufnahme können wir uns vergegenwärtigen, welche Momente bei der Umsetzung in die Musik verdrängt und welche hervorgehoben werden können.
o
B. Martinu: Die Fresken des Piero della Francesca (1955), Panton 8110 0074
Diesmal geht es also nicht nur um "selektive Emphase", sondern auch um die Kunst der Selektion beim Transfer von Gattung zu Gattung. Die Wahl des Sujets ist aber auch durch das Subjekt des Komponisten, die Rolle des Werkes in seinem Spätschaffen (Martinü lebte 1890-1959) mit der Betonung des Geistigen bedingt.
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390 -
Das Genre der syrnphonischen Musik war im Hinblick auf den zentralen Appell der Farbe und der Räumlichkeit der Freskenkomposition das geeignetste ..
(Ein intimer Klang z.B. des Streich-
quartetts wäre nicht adäquat.)
4. Das Genre als "sprechendes" Mittel der Musik Wie die Wahl des Genres (Untergattung, Art,
Lp6no~
... ) in
der Musik sprechend sein kann, weil die Genreeigenschaften wegen ihrer funktionellen Verankerung ziemlich scharf wahrnehmbar und somit auch als syrnbolische:s Mittel anwendbar sind, möchte ich mit dem letzten Beispiel belegen. Es ist die Aufstandsszene aus Smetanas Oper "Die Brandenburger in Böhmen" von 1862/63, ein historisch kostümiertes Bild des Arbeiteraufstandes von 1844 und der Revolution von 1848. Es ist ein vielschichtiger Text, in dem auch die konventionalisierten
Gattungseigenschaften ei-
ne große Rolle spielen. Ich versuche die Hauptschichten des Textes zu skizzieren. Text 1 - der "verbale" Text: ein historisches Geschehen, Ende des 13. Jahrhunderts, die Leiden des Landes unter dem Brandenburgischen Protektorat. Text 2 - der "aktuell-hintergründige" Text. Der Librettist Karel Sabina war der erste Prager Schriftsteller, der eine Verbindung zur Arbeiterbewegung suchte. In seiner revolutionären Gesinnung wurde er durch Proudhon und Bakunin beeinflußt. Aufklärerisch
b~trachtete
er den notwendigen sozialen Fortschritt
als den Sieg des Lichts über die Finsternis, im Jahre 1861 erschien seine Schrift "Duchovy komunismus"
(Der geistige Korrunu-
nismus), in der er für eine "Kulturrevolution" plädierte. Wegen seiner Teilnahme an den revolutionären Ereignissen 1848-49 wurde er zum Tode verurteilt, mit acht anderen Revoluzzern aber vom jungen Kaiser zu 18 Jahren Gefängnisstrafe begnadigt (Smetana honorierte diesen Akt der Humanität durch seine dem Kaiser zur Hochzeit mit Elisabeth gewidmete "Triumphsymphonie", 1853, mit einer Paraphrase der Kaiserhymne) und im Jahre 1857 amnestiert. Als Smetana aus Schweden zurückkehrte, wählte er Sabina als Librettisten seiner ersten Oper, deren historischer Stoff nur ein
-
391 -
Vorwand zur Schilderung der Charaktere und politischen Spannungen der Gegenwart war. "In seiner politischen Gesinnung geht Sabina vom Grundsatz aus, daß alle politischen Umstürze vergeblich sind, weil sie nicht genügen: die Erlösung liege nur in sozialen Umwälzungen", schrieb Sabinas erster Biograph J.E. Sojka (1862/63). Karel Sabina nutzt die. Gelegenheit zu einem schon sozialistisch gefärbten Bild einer Klassengesellschaft: in seinem Libretto für Smetana schildert er das durch Klasseninteressen geleitete Verhalten des Adels, des Bürgertums und dagegen des "armen Volkes" - der Arbeiterklasse, deren Aufstand von 1844 Sabina noch vor Augen schwebt. Text 3 - die Gattung der
Op~r,
namentlich der beliebten "histo-
rischen Oper" des 19. Jahrhunderts. Der Anachronismus gehörte zur Konvention; in den Kostümen, in denen entlegene Zeiten stilisiert wurden, agierten zeitgenössische Helden. Der Anachronismus betrifft natürlich in erster Linie die Stilmittel der Musik: sie waren selbstverständlich die der Gegenwart (vgl. bei Richard Wagner: Mythologie in "modernsten" Ausdrucksmitteln). So ist es auch bei Smetana ein Weg zum "Wagnerianismus"; er bekannte sich zu der "Neudeutschen Schule" in der Musik, einem Kreis um Liszt und Wagner, weil er'für ihn den Fortschritt (wie er sich äußerte) bedeutete. Text 4 - die Genres der zeitgenössischen Umgangsmusik, der demokratischen Volksbewegung, die Smetana in den Text 3 einschleust: jedes der Genres gibt dem musikalischen Bild des Aufstandes scharfe soziale Konturen und Farben des "Lebens". Die beigefügte Tabelle ist ein tektonisches Schema der Szene (in meiner
Ubersetzu~g
der Vorlage, Text 1+2). Die leeren
Flächen bedeuten die Dominanz des eigentlichen Rahmens der Gattung "Ope~"
("Text 3") mit dem üblichen Charakter von Chorszenen,
Arien, Rezitativen usw. Die Fläche 11 ist ein Genre des "Volksliedes" - ein Bild der sorgloien Freude des elenden Volkes und zugleich seine nationale Bestimmung (es ist ein typisch tschechisches Volkslied). Die Fläche 111 ist ein Genre des Trinkliedes, beliebt in den Kreisen der Studenten und patriotischen Gesellschaften~ es bringt ein weiteres, konkretisierendes Bild der
Aktion, das die gegenwärtige Zeit des Geschehens unterstreicht. Die überhebliche Stimmlage und Intonation des Solo, Fläche IV,
m::11,
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Am Tage wollten die ill18 nicht geben, was wir flehentlich verlangt haben; darum sind wir in der Nacht gekommen und nehmen uns selbst, was wir wollen. Uneer Elend ist zu Ende, unsere Stunde hat geschlagenl Es gibt keinen Bettler mehr in Prag, wir alle sind gleich, Knecht und Herr. Wer unten war, der soll jetzt oben sein! Gut ist'a, Gesindel, gut ist's 80, Solo seid lustig, singtl ( Was morgen wird? - denkt nicht daranl Denn, noch ehe der Morgen kommt, Solo finden viele von uns den Tod ••• Darum feiere jeder sorglos seine letzte Stunde hierl [ Wozu weinen, wozu klagen? Wir sind noch nicht verdammt. Solange noch die Herren was haben, Chor [ haben auch wir genug I Nehmt, was ich geklaut habe, Solo ich bin schaD satt genug; jaL wo unsereiner hineintritt, drangt sich·. ein hungriger Gast mit I + Chor Speckwurst, Wein und Honigtrank alles, alles gibt's genug, wozu sollen wir verhungern, wenn die Herren noch was haben? Der Brandenburger hat schon alle Läden und Paläste Solo der böhmischen Herren ausgeraubt; es bleibt uns nichts anderes Übrig, als beim Bürgertum an die Tür zu klopfen. Wenn Watzinger und Tausendmark einbrechen dürfen, 80 Gürfen wir auch das gleiche wie der ruhmreiche Fürst von Brandenburg tun. Solange die Herren noch was haben, Chor [ hat ee auch das Gesindel gut I Fu r i a n t T a n z Unsere Stunde hat geschlagen M8nner alle Tore sind auf! elende Prager Volk ist erwacht [ Das und wird jetzt die Herren spielenl Wozu zögern. nehme sich jeder, was er findet I Chor Unsere Stunde hat geschlagen Tutti alle Tore sind auf! Das elende Prager Volk ist erwacht [ und wird jetzt die Herren spielenl Halt I HaIti Laßt uns noch beraten, Solo.(Jira: ) [ wie wir dae schöne Prag unter uns verteilen! Mit Wenigem geben. wir une nicht zufrieden I Chor [ Jira 8011 jetzt uneer König seinl Jira sei jetzt der Bettlerkönigl Solo Anstatt der Krone geben wir ihm den Bettelsack. Anetatt des Zepters den Bettelstab. [ Die Straße i8t 8ein palast, harter Stein - sein König8tisch. Solo(Jira: ) Nun gebt mir Zepter und Krone [ und echwört mir Gehorsami Wozu zögern, nehme sich jeder, was er findet. Chor Unsere Stunde hat geschlagen, Tutti alle Tore sind auf I Das elende Prager Volk ist erwacht [ und wird jetzt die Herren spielen! Auf die Herrenl Auf die Herren! Auf die Herrenl Chor
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-
393-
seine gekünstelten Intervalle charakterisieren das hohe soziale Milieu und die Okkupanten mit spürbarer Ironie. Das weitere, bildhaft eingesetzte Genre ist der Tanz, Fläche V. Das ist mehr denn eine übliche Konvention der Operngattung (Ballettaktion für das Publikum). Das benutzte Genre ist der "Furiant", ein temperamentvoller Sprungtanz, der,zu wilden, ekstatischen Schritten der Straßenaktion stilisiert wird; Smetana mischt musikalische "Exotismen" dazu. Dan~ch wird (Fläche VI)~in anderes zeitgenössisches Genre eingesetzt - die Liedertafel. Sie ist ein symbolisch umfunktioniertes Bild: die Anwendung dieses beliebten Genres des politisch aktiven 'Bürgertums symbolisiert die Entstehung einer organisierten, schon politisch wirksamen Kraft aus dem LumpenprOletariat, das sich anscheinend nur fürs Plündern interessiert.
(In derselben Oper ruft es auch entrüstet
aus: My nejsme lüza, my jsme
li~!
Wir ,sind kein Pöbel, wir sind
das Volk!) Die Fläche VIII ist der dramatische Höhepunkt der gesamten Szene: Die Krönung des Bettlerkönigs.
(Man bedenke, wie
vielschichtig im Hinblick auf intertextuelle Bezüge ,diese Episode ist, welche das Karnevalsritual anspielt und politisch umfunktioniert!) Als musikalisches Genre ist diesmal der gregorianische Choral eing'esetzt - eine "ernst gemeinte Persiflage" mit der Gegenüberstellung des stolzen Zeremoniells und der rohen Realität. - Die Schlußworte der Szene verwa'ndelte Smetana in revolutionäre Parolen, und zwar vermittels eines Wortspiels. "Ein Instrument spielen" heißt tschechisch "auf ein Instrument spielen"; statt "die Herren spielen" sagt man "auf die Herren spielen". Smetana nimmt nun das Bruchstück des Textes Prazska se zbudila chudina a zahraje si, zahraje si na pa ny (Das elende Prager Volk ist erwacht und wird jetzt> auf< die Herren spielen) "na pany" -
"auf die Herren" und wiederholt es mit emphatischem
Ausdruck, so daß daraus eine Kampfparole ("Auf die Herren!") entsteht, mit der ()
di~
S~ene
endet.
Smetana: Die Brandenburger in Böhmen, Akt I, Aufzug 7 und 8, Schallplatte Supraphon DV 6002 Die Verbindung der Textebenen 2+4 sicherte der Oper eine
große Aktualität. Das Werk mußte zunächst viele Intrigen über-
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winden, bis die Uraufführung (die sich vor den Behörden natürlich auf die Textebenen 1+3 stützte) am 5. Januar 1866 stattfinden durfte. Im Zuge der radikalen Politisierung (der Höhepunkt war 1868) hatte das Werk einen großen Erfolg. Der bekannte Ästhetiker Otakar Hostinsky schrieb, daß die nächtliche Aufstandsszen~
"geradezu elektrisierte"; sie war "eine Sensation"
(Hostinsky 1900, 1941:385). Die Kritik mußte wohl oder übel loben, auch die konservative; erst schrittweise baute sie ihre Vorwürfe auf, die sich auf Smetanas "Wagnerianismus" konzentrierten. Jan Neruda ironisierte den Widerwillen der konservativen Kreise mit einem Epigramm unter dem Titel "Auch ein Urteil über die ) Brandenburger<" (zit. nach Prazak 1948:122): Ta hudba nemuze a nesmi za nic stat! Za prve: neni tarn nic do skoku, za druhe: je to hudba pokroku, za treti: Smetana je demokrat a skoro z kazde jeho arie se na nas sklebi demokraciel (Diese Musik kann und darf nichts wert sein! Erstens: es gib~ dort nichts Amüsantes, zweitens: es ist eine Musik des Fortschritts, drittens: Smetana ist ein Demokrat und fast aus jeder seiner Arien grinst uns die Demokratie an!) Selten hat ein Kunstwerk so viele intertextuelle Verflechtungen, die seine wiederkehrende
politi~che
Aktualität so bewirken, wie
die "Brandenburger in Böhmen". Die Oper war eine Anspielung auf die fremde Herrschaft der Habsburger in Böhmen, aber ihre Uraufführung fiel mit der preußischen Invasion 1866 zusammen, so daß darauf - die "Brandenburger" Smetanas und die "Brandenburger" wieder einmal in Böhmen - ein Theaterstück entstand (Hostinsky 1900, 1941:107). Es war nicht das letzte Mal (weitere Aktualisierungen s. in: Karbusicky 1975:311-313). Die intertextuelle Vielschichtigkeit eines Kunstwerkes impliziert - di'es wollte ich mit Belegen bis zur politischen Rezeption·zeigen - die Möglichkeit seiner "gesellschaftlichen Realisierung" in mehreren und oft auch ideologisch konträren Kontexten und Verschiebungen von dechiffri~rten "Bedeutungen".
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Intertextuelle Vorgänge sind in der Musik zum Teil parallel zur Literatur, zum Teil ganz spezifisch. Man könnte Reihen von weiteren Beispielen ausführen: für Zitat (mit den Spezifitäten: Leitmotiv, Erinnerungsmotiv, Signal ... ), Anspielung, Karikatur, Parodie und Travestie, für Nachbildung und Stilisi.erung, für weitere Arten von Collagen, für Verfremdung und Destruktion, für "Entfremdung" (soweit sie ausdrlickbar ist), für weitere Uberlagerungen von Betrachtungsebenen (Martinüs Marienspiele, 1934: auf der Bühne wird vorgeführt, wie eine fahrende
Scha~spieler
gruppe kommt und die Vo:stellung einer anderen Theatergruppe auf ihrer Bühne vorführt), für Versetzung in einen Traum, sogar für eine psychologische Studie des "Doppelgängers" (Smetana in: Die Teufelswand) . Einige Vorgänge sind eine spezifische Domäne der Musik, worauf ich bei der Wiederholung und Variation hingewiesen habe. Was ich in den vier Problemkreisen darzustellen versuchte, ließe sich in Detailstu~ien weiter ausarbeiten. Daß die Berücksichtigung des Musikmaterials neue Einblicke bringt und die Theorie der Intertextualität bereichert, geht schon, glaube ich, aus den ausgewählten vier Exempla ausreichend hervor.
A N ME R K U N G In diesem Rahmen konnten nur elnlge Spezifitäten der Bildung von Bedeutungen in dem im Grunde "asemantischen" Medium der Musik erwähnt werden. Vgl. dazu Karbusicky 1982, eine Darstellung,die aus der Tradition des Prager Strukturalismus schöpft. Ebenda sind Hinweise auf die Literatur zur musikalischen Semiotik sowie weitere Fälle einer rein musikalischen Intertextualität zu finden. - Zu bemerken ist, daß Mukafovsk~ zwar den Begriff "Intertextualität" nicht benutzte, aber d~s Problem intensiv untersucht hat. Seine analytische Kategorie war die auf Kant zurückgehende "Reihe". In einem Kunstwerk greifen verschiedene "Reihen" von konstitutiven Elementen und Stilschichten ineinander, sie verlagern ihre Dominanzen auch nach den Akzenten der sozialen Rezeption. Ihre sich ständig im Wandel befindenden Faktoren sind Funktion, Norm und Wert. Mukafovsk~ stützte sich auf die Tradition des empiriokritizistischen Denkens und die Gestalttheorie (Mach wie Ehrenfels waren einst in Prag tätig), ein Impuls für ihn war n~türlich auch ~klov~kij~ Ich glaube, daß man die analytischen Vorteile des Intertextualitätsbegriffs dann vollständig nutzen kann, wenn die konkreten Leistungen hineingearbeitet werden, zu denen schon der flexible Begriff der "Reihe" geftihrt hat. (Kongruenz: Problemgeschichte ~ Begriffsgeschichte .)
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HINWEISE ZU DEN AUTOREN BUSCH, Ulrich, Prof. Dr. phiI., geb. 1921 in Münstereifel. Studium der Slavistik, Germanistik, Geschichte, Anglistik in Leipzig und Bonn. Promotion 1950 in Bonn, Habilitation 1959 in Münster. Seit 1961 Professor für Slavische Philologie in Kiel. Bücher: Die Seinssätze in der russischen Sprache, Meisenheim 1960; Alexander Puschkin, Eugen Onegin (Ubersetzung und Nachwort), Zürich 1981. Aufsätze (Auswahl): Puskin und Sil'vio, in: Slawistische Studien zum V. Internationalen Slavistenkongreß in Sofia 1963; L.N. Tolstoj als Symbolist, in: Forum Slavicum 12, München 1966; Zu Puskins "Pique Dame", in Commentationes linguisticae et philologicae (FS für E. Dickenmann), Heidelberg 1977; ~echov als Fragesteller, in: Korrespondenzen (FS_für D. Gerhardt), Gießen 1977: Erdenbürgerliche Gedanken zum positiven und negativen Helden, in: Jubiläumsschrift ... der Universität Münster, 1980. GRIVEL, Charles Prof. Dr. phiI., geb. 1936 in Genf. Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie, Religionsgeschichte, Kulturanthr9pologie, Rechte in Genf und Dakar (Senegal). 1960 Licencees-Lettres et Philosophie in Genf. 1961-62 Lektor in Gießen. 1963 Assistent und später "Maitre-Assistant" an der Freien Universität Amsterdam. 1971-72 Gastprofessor in Konstanz. 1973 Habilitation in Leiden. 1975-80 Professor in Groningen. 1980 Gastprofessor in Bochum. Seit 1981 Professor für Romanische Philologie in Mannheim. Buch: Production de l'interet romanesque, 2 Bde, Paris 1973. Aufsätze (Auswahl): Les Universaux de texte, in: Litterature 30 (1978): Le Confessionnal et sa ruse. L'Ecriture-Rousseau, in: Voltaire, Rousseau et la tolerance, LilIe 1980; Esquisse d'une theorie des systemes doxiques, in: Degres 24/25 (1980/81); Die Identitätsakte bei Balzac, in: Honore de Balzac, München 1980; Savoir social et savoir litteraire, in: Litterature 43 (1981). Herausgeber: Rapports (Amsterdam); CRIN (Universität Groningen); MANA (Universität Mannheim); Methoden in de literatuurwetenschap; Recherches sur le Roman I (CRIN Groningen); Ecriture de la religion, ecriture du roman (PU LilIe); Revue des Sciences Humaines. GRUBEL, Rainer, Prof. Dr. phiI., geb. 1942 in Leipzig. Studium der Slavistik, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Frankfurt und Leningrad. Promotion 1976 in Göttingen. 1976-81 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann Dozent in Utrecht, 1981-82 Professor in Oldenburg, seit 1982 Professor für Slavische Literaturwissenschaft in Utrecht. Buch: Russischer Konstruktivismus. Künstlerische Konzepte, literarische Theorie und kultureller Kontext, Wiesbaden 1980. Aufsätze (Auswa~l): Genij - Gejne. Zur Struktur und zur strukturbildenden Funktion eines Reims in dem Gedicht "Evrejskij vopros" von II'ja Sel'vinskij, in: Die Welt der Slaven 18 (1973); Ber~' told Brecht: "Gegen Verführung", in: Methodische Praxis der Literaturwissenschaft, Kronberg/Ts. 1976; Zwischen "Leier" und "Trommel". Zur Funktion zweier Topoi im Wechselverhältnis von Struktur
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und Selbstverständnis russischer avangardistischer Lyrik, in: Wiener Slawistischer Almanach 2 (1978); Die Forsocy (Formalisten.soziologen), in: Von der Oktoberrevolution zum Schriftstellerkongreß, Wiesbaden 1979; Zum Verhältnis von Methode, Wertbegriff und Wertung in der semiotischen Kunsttheorie des Leningrader Bachtinkreises, in: Beschreiben, Interpretieren, Werten, München 1982. Herausgeber: Ju. M. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt a.M. 1973; ders., Die Analyse des poetischen Textes, Kronberg/Ts. 1975; M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a.M. 1979; Von der Revolution zum Schriftstellerkongreß, Wiesbaden 1979 (zusammen mit G. Erler, K. Mänicke-Gyöngyösi und P. Scherber). GUMBRECHT, Hans Ulrich, Prof. Dr. phiI., gebe 1948 in Würzburg. Studium der Romanistik, Germanistik, Arabistik, Mittellateinischen Philologie, Philosophie, Soziologie in München, Regensburg, Salamanca und Konstanz. Promotion 1971 inKonstanz, dort 1974 Habilitation. 1975-82 Professor in Bochum. Seit 1983 Professor für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft (Schwerpunkt Iberoromanistik) in Siegen. Gastprofessor 1977 an der Pontificia Universidade Catolica in Rio de Janeiro, 1982 an der Faculdade da Cidade in Rio de Janeiro, 1980 und 1983 an der University of California in Berkeley, 1982 an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Bücher: Funktionswandel und Rezeption. Studien zur Hyperbolik in literarischen Texten des romanischen Mittelalters, München 1972; Zola im historischen Kontext, München 1977; Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der französischen Revolution, München 1978. Aufsätze (Auswahl): 'Modern, Moderne, Modernismus:, in: Geschichtliche Grundbegriffe IV, Stuttgart 1978; Skizze einer Literaturgeschichte der französischen Revolution, in: Die europäische Aufklärung 111, Wiesbad~n 1981; For a History.of Spanish Literature 'Against the Grain', in: New Literary History 11 (1979/80). Herausgeber: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters' (seit 1976); Mitherausgeber: Lendemains. Zeitschrift für Frankreichforschung (1975-1981); Romance Philology (seit 1983); Hanore de Balzac, München 1981 (zusammen mit K. Stierle und R. Warning); Für eine Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich, München 1982 (zusammen mit R. Reichardt und T. Schleich); Der Diskurs der Sprach- und Literaturgeschichte. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Stuttgart 1983 ( zusammen mit B. Cerquiglini). HANSEN-LÖVE, Aage A., Dr. phiI., gebe 1947 in Wien. Studium der Slawistik und Byzantinistik in Wien, Prag und Moskau. Promotion 1975 in Wien. Seit 1976 Assistent und Lektor am Institut für Slawistik der Universität Wien. 1979/80 Vertretung einer Professur in Oldenburg, gleichzeitig Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Utrecht. 1983 Abschluß der Habilitationsschrift über Diabolik und Mythopoetik im russischen Symbolismus. Buch: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978.
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Aufsätze (Auswahl): Wissenschaftliche Theoretisierung künstlerischer Modelle und künstlerische Realisierung (Literarisierung) theoretischer Modelle - dargestellt am Beispiel des Russischen Formalismus, in: Wiener slavistisches Jahrbuch 24(1978); Lev Lunc' Erzählung "Nenormal'noe javlenie ll als IIliteraturtheoretische ParabellI, in: Wiener Slawistischer Almanach 1 (1978); Zur Autoreflexivität künstlerischer Texte, in: Akten des II. Internationalen Semiotikkongresses Wien 1979; Die Realisierung und Entfaltung semantischer Figuren, in: Wiener Slawistischer Almanach 10 (1982); Zu den theoretischen Grundlagen des Verhältnisses von Wort- und Bildkunst in der russischen Moderne (im Druck) • Herausgeber: Wiener Slawistischer Almanach (seit 1978); Sonderbände zum Wiener Slawistischen Almanach. KARBUSICKY, Vladimir, Prof. Dr. phii., geb. 1925 in Velim (Böhmen).Studium der Musikwissenschaft, Ästhetik und Philosophie in Prag. Dort 1953 Promotion. 1954-68 Mitarbeiter in der Akademie der Wissenschaften in Prag. 1964~68 Dozent ~n der Prager Karlsuniversität. 1968-76 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in KÖln, dort 1976 Habilitation. Seit 1976 Professor für Systematische Musik-wissenschaft in Harnburg. Bücher in tschechischer Sprache zu folgenden Themen: Geschichte des Arbeiterliedes, profaner Gesang, 'mittelalterliche Sängerepen, Probleme der Beethoven-Forschung, Feldforschung und Musiksoziologie, Strukturalismusstreit.- Bücher in deutscher Sprache: Widerspiegelungstheorie und Strukturalismus, München,1973; Ideologie im Lied - Lied in der Ideologie, ,Köln 1973; Empirische Musiksoziologie, Wiesbaden 1975; Beethovens Brief 'An die unsterbliche Geliebte', Wiesbaden 1977; Musikwerk und Gesellschaft, Wien 1977; Gustav Mahler und seine Umwelt, ,Darrnstadt 1978; Systematische Musikwissenschaft, München 1979; Anfänge der historischen Uberlieferung 'in Böhmen. Ein Beitrag" zum vergleichenden Studium der mittelalterlichen Sängerepen, Köln/Wien 1980. Aufsätze (Auswahl): Ein Ende der System-Ästhetiken? Zum Widerspiegelungsmodell der Musik in Lukacs' IIÄsthetik ll , in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 17 (1974); Uber die Schwierigkeiten der Anwendung der Informationsund Kornrnunikationstheorie auf die Musik, in: Beiträge zur Musikreflexion 5 (1976); liDer Kreuzweg ll Otakar Ostrcils: ein soziologischer Beleg zur Wozzeck-Rezeption?, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 4 (1980); Oie semantische Spezifität der Musik, in: Russian Literature 12 (1982)~ SCHMID, Wolf, Prof. Or. phil., geb. 1944 in Teplitz (Böhmen). Studium der Slavistik, Germanistik und Philosophie in Köln, Prag, Bochum und München. Promotion 1972 in München. 1969-72 Wissenschaftlicher Assistent in München. 1972-76 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Utrecht. 1976-78 Professor in Oldenburg. Seit 1978 Professor für Slavistik (Literaturwissenschaft) in Harnburg. 1981 GastprOfessor an der University of Queensland in Brisbane (Australien) . Bücher: Der Textaufbau in den Erzählungen Oostoevskijs, München 1973;'Der ästhetische Inhalt. Zur semantischen Funktion poetischer Verfahren, Lisse 1977.
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Aufsätze (Auswahl): Zur Semantik und Ästhetik des dialogischen Erzählmonologs bei Dostoevskij, in: Canadian-American Slavic Studies 8 (1974); Formästhetische Inhaltsauffassungen im slavischen Funktionalismus, in: Sound, Sign and Meaning, Ann Arbor 1976; Antirealistische Motivierung der Objektwelt.'Jurij Olesa als Vorläufer von Alain Robbe-Grillets "Litt~rature du regard", in: Referate und Beiträge zum VIII. Internationalen Slavistenkongreß, München 1978; Thesen zur innovatorischen Poetik der russischen Gegenwartsprosa, in: Wiener Slawistischer Almanach 4 (1979); Die narrativen Ebenen "Geschehen", "Geschichte", "Erzählung" und "Präsentation der Erzählung", in: Wiener Slawistischer Almanach 9 (1982). SCHWANITZ, Dietrich, Prof. Dr. phii., geb. 1940 in Werne a.d. Lippe. Studium der Anglistik, Geschichte und Philosophie in Münster, Freiburg, London, Philadelphia. Promotion 1969 in Freiburg, dort 1976 Habilitation. 1966/67 Teaching Fellow in Philadelphia. 1967 Wissenschaftlicher Assistegt in Freiburg. 1971/72 Max Kade Visiting Professor an der Univerpity of Massachusetts in Amherst. 1976 Privatdozent in Freiburg. Seit 1978 Professor für Englische Philologie in Hamburg. Bücher: George Bernard Shaw: Künstlerische Konstruktion und unordentliche Welt, Frankfurt a.M. 1971; Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit. Untersuchungen zur Dramaturgie der Lebenswelt und zur Tiefenstruktur des Dramas, Meisenheim a.G. 1977. Aufsätze (Auswahl): Relativismus. :und bürgerliche Gesprächskultur: zwei sozialistische Figuren in zwei Ideenromanen, in: GRM 4 (1975); Der Unfall und die Weltgeschichte: zur Thematisierung der Alltagsweit in Laurence Sternes "Tristram Shandy" , in: Literarische Ansichten der Wirklichkeit (FS für J. Kleinstück) , Frankfurt a.M. 1980; Die Zeit ist aus den Fugen, aber das Leben geht weiter: "Hamiet" oder "Die Witwe von Ephesus", in: GRM NF 31 (1981); Möglichkeiten systemtheoretlscher Literaturanalyse. Eine Demonstration anhand von Shakespeares "Merchant of Venice", in: Anglistentag 1980, Gießen 1981; Die undurchschaute Lösungstechnik des Detektivs - zehn Thesen zum Abstraktionsstil und zur Temporalstruktut" des Kriminalromans, in: Arcadia 17 (1982). . SMIRNOV, Igor' Pavlovic, Prof. Dr. phii., geb. 1941 in Leningrad. Studium der russischen Philologie in Leningrad. Promotion 1967 in Leningrad. 1966-79 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Russische Literatur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Leningrad (Puskinskij dom). Seit 1982 Professor für Slavische Philologie an der Universität Konstanz. Bücher: Chudozestvennyj smysl i evolucija poeticeskich sistem " [Künstlerischer Sinn und Evolution poetischer systeme], Moskau 1977; Diachroniceskie transformacii literaturnych zanrov i motivov [Diachronische Transformationen literarischer Gattungen und Motive], Wien 1981; Ocerki po istoriceskoj tipologii kul'tury: ... - realizm ( ... ) postsimvolizm (avangard) ..• [Skizzen zur historischen Kulturtypologie: Realismus ( ... ) Postsymbolismus (Avantgarde) •.. ], Salzburg 1982 (zusammen mit J.R. Döring-Smirnov). '
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Aufsätze (Auswahl): Drevnerusskij smech i logika komiceskogo [Das altrussische Lachen und die Logik des Komischen], in: TODRL 32 (1977); Generativnyj podchod k kategorii tragiceskogo (na materiale literatury XVII veka) [Ein generativer Ansatz zur Kategorie des Tragischen (am Material der russischen Literatur des 17. Jhs.)], in: Wiener Slawistischer Almanach 3 (1979); Formirovanie i transformirovanie smysla v rann ich tekstach Gogolja [Bildung und Umbildung des Sinns in den frühen Texten Gogol's], in: Russian Literature 7 (1979); 0 bar.acnom komizme [Zur Komik des Barock], in: Wiener Slawistischer.Almanach 6 (1980); 0 sistemnodiachroniceskom podchode k drevnerusskoj kul'ture (rannij period) [Zur systemhaft-diachronischen Beschreibung der altrussischen Kultur (in ihrer frühen Periode)], in: Wiener Slawistischer Almanach 9 (1982). STEMPEL, Wolf-Dieter, Prof. Dr. phiI., gebe 1929 in Landau. studium der Romanistik in Marburg, Aix-en-Prov.ence, Paris und Heidelberg. Promotion 1954 in Heidelberg. 1954-62 Wissenschaftlicher Assistent in Bonn, dort 1962 Hab~litation. 1963-67 Professor für Romanische Philologie in Bonn, 1967-73 inKonstanz, seit 1973 in Hamburg. Bücher:. Untersuchungen zur Satzverknüpfung ~m Altfranzösischen, Braunschweig 1964; Gestalt, Ganzheit, Struk~ur. Aus Vor- und Frühgeschichte des Strukturalismus in Deutschland, Göttingen 1978. Aufsätze (Auswahl): Syntax in dunkler Lyrik. Zu Mallarmes "A la nue accablante", in~ Poetik und He~meneutik 11 (1966); Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem, in: Poetik und Hermeneutik 111 (1968); Perspektivische Rede in der französischen Literatur des Mittelaft~rs, in: Interpretation und Vergleich (FS für W. Pabst), Berlin 1972; Zur literarischen Semiotik Miroslavs ~eivenkas, in: M,t., Der Bed~utungsacifbau des literarischen Werks, München 1978; Aspects generiques de la reception, in: Poetique 39 (1979). Herausgeber: Beiträge zur Textlinguistik, München 1971; Texte der russischen Formalisten 11: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache, München'1972; Ges~hichte - Ereignis und Erzählung. Poetik und Hermeneutik V, München 1973 (zusammen mit R. Koselleck); M. terven~a, Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks, München 1978 (zusammen mit F. Boldt); Mitherausgeber des Romanistischen Jahrbuches (seit 1974) . STIERLE, Karlheinz, Prof. Dr. phiI., gebe 1936 in Stuttgart. Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie in Heidelberg, Montpellier, Münster und Gießen. Promotion 1963 in Gießen, Habilitation 1968 in Konstanz. 1963-68 Wissenschaftlicher Assistent bei H.R. Jauss in Gießen und Konstanz. 1968 Universitätsdozent. Seit 1969 Professor für Romanische Philologie in Bochum. 1974 Fellow des Institute for the Humanities der Wesleyan University. Bücher: Dunkelheit und Form in Gerard de Nervals "Chimeres" , München 1967; Text als Handlung. ··Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1975; Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschafts~rfahrung, Krefeld 1979.
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Aufsätze (Auswahl): Baudelaires "Tableaux parisiens" und die Tradition des 'tableau de Paris', in: Poetica 6 (1974); Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten?, in: Poetica 7 (1975); Die Identität des Gedichts - Hölderlin als Paradigma, in: o. Marquard, K. Stierle (Hgg.), Identität. Poetik und Hermeneutik VIII (1979); Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, Heidelberg 1980; Theorie und Erfahrung. Das Werk J.-J. Rousseaus, in: Europäische Aufklärung 111, Wiesbaden 1981. Mitherausgeber der Reihen "Studien zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft" und "Sprache und Geschichte".
WIENER SLAWISTISCHER ALMANACH S 0 N DER B Ä N D E 1. Ju.D.APRESJAN, Tipy informacii dlja poverchnostno-semanticeskogo komponenta modeli "smysl --- tekst", 1980, 125 s. ÖS 120.-, DM 17.-, $ 9.2. A.K.~OLKOVSKXJ / Ju.K.S~EGLOV, Poetika vyrazitel'nosti. Sbornik statej, 1980, 256 S., ÖS 200.-, DM 28, $ 15.3. Marina Cvetaeva. Studien und Materialien, 1981, 310 S. ÖS 250".-, DM 35,-, $ 16.4. I.P.SMIRNOV, Diachroniceskie transformacii literaturnych zanrov i motivov, 1981, 262 S., ÖS 200.-, DM 29.-, $ 12.5. A.STONE NAKHIMOVSKY, Laughter in the Void. An Introduction to the Writings of Daniil Kharms and Alexander Vvedenskii, 1982, 191"·S~, ÖS 180.-, DM 25,70.-, $ 11.6. E.MNACAKANOVA, Sagi i vzdochi. ~etyre knigi stichov, 1982, S. 216, öS 150.-, DM 21,40.-, $ 9.7. Marina Cvetaeva, "Krysolov". Der Rattenfänger, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von M.-L.BOTT, mit einem Glossar von G.WYTRZENS, 1982, 326 S., öS 200.-, DM 28,50.-, $ 12.8. "S.SENDEROVI~, Aleteja. Elegija Puskina "Vospominanie" i problemy ego po~tiki, 1982, 350 S., ÖS 250.-, DM 35.9. Th.LAHUSEN, Autour de l' "homme nouveau". Allocution et societe en Russie au XIX e si~cle (Essai de semiologie de la source litteraire), 1982,338 S., öS 200.-, DM 28,50.10. Erzählgut der Kroaten aus Stinatz im südlichen Burgenland. Kroatisch und deutsch. Herausgegeben von Karoly Gaal und Gerhard Neweklowsky unter Mitarbeit von Marianne Grandits, 1983, LXX~339 S., ÖS 200.-, DM 28.Alle-Bestellungen an WIENER SLAWISTISCHER ALMANACH, Institut für Slawistik der Universität Wien, A-1010 Wien, Liebigg. 5.