Dorothy Cannell
Der Tote ist immer der Butler Roman Aus dem Amerikanischen von Brigitta Merschmann
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Dorothy Cannell
Der Tote ist immer der Butler Roman Aus dem Amerikanischen von Brigitta Merschmann
Zum Buch Butler arbeiten in der Regel eher diskret im Hintergrund und sind ihren Herren stets loyal zu Diensten. Und so ist der Skandal auf Gossinger Hall groß, als plötzlich der Butler Hutchins im Mittelpunkt des Interesses steht. Sir Henry Gossinger hat ihn zum Alleinerben bestimmt, und der Neid der enttäuschten Angehörigen ist mehr als groß. Ebenso zahlreich sind die Verdächtigen, als der Butler tot aufgefunden wird. Nach dem schrecklichen Vorfall beschließt die Enkelin des Toten, Gossinger Hall zu verlassen und nach London zu gehen. Doch sie weiß nicht, daß sie sich direkt in Gefahr begibt. Zur Autorin Dorothy Cannell wurde in Nottingham, England, geboren und lebt heute in Peoria, Illinois. Für einen der Krimis aus der Ellie-Haskell-Serie erhielt sie den Agatha Award. Der Tote ist immer der Butler entstammt nicht dieser Serie.
Veröffentlicht im Econ Taschenbuch Verlag Der Econ Taschenbuch Verlag ist ein Unternehmen der Econ & List Verlagsgesellschaft Deutsche Erstausgabe © 1998 by Econ Verlag GmbH, Düsseldorf und München © 1997 by Dorothy Cannell First published by Bantam Books, New York Titel des amerikanischen Originals: GOD SAVE THE QUEEN! Aus dem Amerikanischen übersetzt von: Brigitta Merschmann Umschlagkonzept: Büro Meyer & Schmidt, München – Jorge Schmidt Umschlagrealisation: Init GmbH, Bielefeld Titelabbildung: Image Bank, München Lektorat: Birgit Förster Gesetzt aus der Sabon, Linotype Satz: Josefine Urban – Kompetenz-Center, Düsseldorf Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-612-27523
Für meinen Sohn Warren, der auch den Gesang der Sirenen hört
Kapitel 1 Im Alter von drei Jahren siedelte Flora Hutchins nach Gossinger Hall im Dorf Nether Woodcock, Lincolnshire, über. Als sie das graue Steinhaus mit den wild wuchernden Türmchen zum ersten Mal sah, dachte Flora, daß es noch größer war als das Krankenhaus, in dem ihre Mutter gestorben war, und folglich der Buckingham-Palast sein müsse. Und als ihr Großvater zur Begrüßung die Stufen hinunterkam, in dem Nadelstreifenanzug, in dem er so distinguiert aussah, staunte sie, weil er keine Krone trug, so überzeugt war sie, er müsse der König von England sein. Das kleine Mädchen brauchte ein paar Tage, um hinter den wahren Stand der Dinge zu kommen. Grandpa war nicht der König, sondern Sir Henry Gossingers Butler. Aber das bedeutete nicht, daß Flora sich in ein Häufchen Elend verwandelte, das man im Besenschrank versteckte. Als sie größer wurde, gefiel es ihr, der Serie von Haushälterinnen zur Hand zu gehen, die so regelmäßig kamen und gingen wie die Jahreszeiten. Sie machte die Betten, wischte Staub und schälte Kartoffeln zum Abendessen. Grandpa ließ es zwar nicht zu, daß sie ihm bei der Zubereitung der Spezialtinktur half, die er benutzte, um Sir Henrys kostbare Silbersammlung aus dem achtzehnten Jahrhundert zu putzen, doch Flora leistete ihm dabei gern Gesellschaft, denn dann pflegte er ihr Geschichten über Gossinger Hall zu erzählen. »Fang ganz von vorn an«, bat sie oft. »Na schön«, erwiderte Grandpa. »Der Originalteil dieses Hauses wurde im zwölften Jahrhundert erbaut, und zwar von Baron Thomas Short Shanks, einem Pantoffelhelden, dessen Gattin, Lady Normina, ihm allerdings erlaubte, am Kreuzzug
teilzunehmen. Unter einer kleinen Bedingung. Er müsse ihr ein Haus bauen, das ihre elf Schwestern vor Neid erblassen ließe.« »Lady Normina scheint kein besonders netter Mensch gewesen zu sein, oder, Grandpa?« »Es steht unseresgleichen nicht zu, ein Urteil darüber zu fällen, Flora«, antwortete er bestimmt, während er fleißig ein Stück der Sammlung polierte. »Es heißt, Lady Normina war es leid, daß ihre alles andere als liebevollen Verwandten ihre Höckernasen über sie rümpften. Und das nur, weil ihr Gatte jedem zweitklassigen Ausrufer Englands Stoff gegeben hatte, als er während eines wichtigen Zweikampf-Turniers disqualifiziert wurde – außerdem mußte er noch einen Beutel voll Gold als Strafe zahlen –, weil er auf den Kampfplatz galoppiert war, noch bevor Königin Eleanor ihr Taschentuch fallen lassen konnte.« »Der arme Thomas.« Diese Wendung der Geschichte rührte jedesmal an Floras weiches junges Herz. »Sir Thomas für dich und mich«, sagte Grandpa mißbilligend. »Er mag nahezu tausend Jahre tot sein, doch das ist kein Grund, ihm nicht den gebührenden Respekt zu erweisen.« »Entschuldige.« »Dann fahren wir fort.« Dies sagte er mit einem Lächeln. »Um die Wahrheit zu sagen, Flora, waren ihre Schwestern nicht die einzigen, die Lady Normina ausstechen wollte. Zu jener Zeit war die Küche nicht Teil des Haupthauses. Und da Lady Normina es darauf anlegte, den Ostaffs zwei Schlösser weiter in nichts nachzustehen, bestand sie darauf, ihre Küche müsse in bequemer Entfernung zum Haus liegen, damit sie die faule Köchin bespitzeln konnte; aber auch wieder nicht so nah, daß, sollte eine Lammkeule Feuer fangen, auch ihr Traumhaus in Rauch aufgehen würde.« »Ich glaube, ich hätte mich vor Lady Normina gefürchtet.« Flora hoffte jedesmal, daß dies nicht zu sehr nach Kritik klang.
»Nach allem, was man hört, war sie eine Tyrannin.« Bis hierher hatte Grandpa gewöhnlich zwei oder drei Stücke der Sammlung poliert. »Es störte sie nicht, daß die Damen der Nachbarschaft sie als neureich und furchtbar hochmütig bezeichneten! Lady Normina hielt sie alle für jämmerliche Geschöpfe, die begreiflicherweise eifersüchtig auf die stets so hübschen und frischen Binsenmatten auf ihren Fußböden waren. Mylady hatte Flora, ihrer Schutzheiligen, gelobt, der Rüstung eines jeden Ritters, der nicht die Schuhe auszog, bevor er den Fuß über die Schwelle ihrer Wohnung setzte, eine tüchtige Beule beizubringen. Und jeder, der ausspucken wollte, mußte sich nach draußen verziehen.« »Hat Sir Henry dir das alles erzählt, Grandpa?« »Vieles davon wurde aufgeschrieben, meine Liebe. Die Gossingers waren immer schon begeisterte Tagebuchschreiber. Aber unterbrich mich nicht dauernd, Flora, sonst werde ich nie fertig, bevor es Zeit für Sir Henrys Tee ist.« Etwa an dieser Stelle griff Grandpa meist nach einem frischen Poliertuch. »Jedenfalls ist es nicht schwer zu verstehen, daß Lady Norminas ganzer Stolz die sogenannte ›Garderobe‹ war.« »Was ist das?« »Eine Innentoilette, in jener Zeit etwas den meisten Menschen – sogar den sehr reichen – völlig Unbekanntes, und so genannt, weil sie zugleich als Aufbewahrungsort für Kleider diente, aufgrund der günstigen chemischen Zusammensetzung der Ausdünstungen, die sich bestens dazu eigneten, die Motten fernzuhalten. Unser Wort für die Kleiderablage geht auf die damalige Garderobe zurück, Flora.« »Ist ja interessant«, sagte Flora pflichtbewußt und versuchte, nicht die Nase zu rümpfen. »Die Schwestern waren außer sich – vor Freude, so müssen wir hoffen – über das große Glück ihrer teuren Normina.« »Ist die ›Garderobe‹ noch da, Grandpa?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er, während er zur Uhr hochschaute. »Aber sie ist immer verschlossen. Jetzt sei ein braves Mädchen, und steig von deinem Hocker runter, um den Schokoladenkuchen für Sir Henry aus der Speisekammer zu holen.« Grandpas Erzählungen entnahm Flora, daß Gossinger Hall früher einmal der letzte Schrei in Sachen Luxus gewesen war, zumindest nach den Maßstäben der damaligen Zeit. John of Gaunt sollte mehrmals zusammen mit seiner Mätresse Katherine Swynford zu Besuch gekommen sein. Und selbst heute, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, weckte die große Halle noch genügend Interesse, um an den Tagen, an denen sie der Öffentlichkeit zugänglich war, Schaulustige anzulocken. Die Eintrittsgebühr war bescheiden, nur zwei Pfund für Erwachsene und fünfzig Pence für jeden Jugendlichen, der sich aufrichtig Mühe gab, hinreichend klein und gelangweilt zu erscheinen, um als höchstens elf Jahre durchzugehen. Das Geld war gut angelegt, zumal in dem Preis für den Rundgang die Leihgebühr für einen kleinen Kassettenrekorder samt Kopfhörern inbegriffen war – ein Audioführer zu den Stellen von historischem und architektonischem Interesse. Während es sich also durchaus lohnte, das Haus zu besichtigen, vor allem an den Tagen, an denen die Geschäfte früh schlossen, hätten jedoch nur sehr wenige der Besucher, die die Bequemlichkeiten selbst der bescheidensten Doppelhaushälfte zu schätzen wußten, auf Gossinger Hall leben wollen. Traurig, aber wahr. Die kleine Flora, der das überlebensgroße Gespenst von Lady Normina aus dem zwölften Jahrhundert über die Schulter sah, war heilfroh, daß Sir Henry mit seinen nahezu sechzig Jahren unverheiratet geblieben war. Mrs. Warren, die im Geschenkshop plus Café arbeitete, mochte Flora sehr gern. Sie
mochte auch Mr. Tipp, dessen Stellenbeschreibung ihn offiziell als Stallburschen auswies, wenngleich er fast ebenso alt war wie sein Herr, Sir Henry. Und sie vergötterte ihren Großvater, auch wenn sie manchmal gereizt dachte, daß er die Königin mehr liebte als jeden anderen Menschen auf der Welt. Ihre Kindheit schien durch ihre Fingern zu gleiten wie eine verzauberte Kette aus Gänseblümchen, ganz Pastellfarben und zarte Düfte. Die Schule im Dorf. Sir Henry, der ihr Sahnebonbons gab und ihren Kopf tätschelte. Sonnige Nachmittage, an denen sie in den Koffern auf dem Speicher nach ausrangiertem Putz wühlte, um sich zu verkleiden und so zu tun, als sei sie eine von Lady Norminas Dienerinnen. Und Grandpa, der ihr noch weitere Geschichten über die gute alte Zeit auf Gossinger erzählte. Da war die Geschichte über den Besuch von Königin Charlotte. Der Nachmittag hinterließ einen schlimmen Kratzer an der Familienehre, als man entdeckte, daß das silberne Teesieb, das Ihre Majestät mitgebracht hatte (zweifellos in der Annahme, Lincolnshire sei eine primitive Gegend), verschwunden war. Der damalige Erbe von Gossinger war ein wilder junger Mann, der bis zu seiner gepuderten Perücke in Spielschulden steckte, und natürlich vermutete man, er habe das Teesieb eingesteckt, um es bei der erstbesten Gelegenheit zu verkaufen. Als Ergebnis wurde die Familie erst wieder während der Regentschaft von George V. bei Hofe empfangen, und der Makel war sogar bis in die heutige Zeit haftengeblieben. Unfreundliche Gemüter flüsterten, die Gossingers seien nicht hundertprozentig echt. Flora brachte zahllose Stunden damit zu, in allen Nischen und Winkeln, die sie entdecken konnte, nach dem Teesieb zu fahnden, das angeblich die Form eines Schwans haben sollte. Wie herrlich wäre es gewesen, zu Grandpa laufen zu können, die Hände hinter dem Rücken zu verstecken und zu sagen:
»Rate mal, was ich gefunden habe! Sir Rowland hat das Teesieb nicht gestohlen! Es war die ganze Zeit hier!« So hätte Flora es ihrem Großvater in bescheidenem Maß vergelten könnten, daß er sie für all die Liebe entschädigt hatte, die sie durch den vorzeitigen Tod ihrer Mutter hatte entbehren müssen. Und dafür, daß sie anscheinend nie einen Vater gehabt hatte. Grandpa, so wußte sie, hätte es riesig gefreut, die Ehre der Gossingers auf diese Weise wiederhergestellt zu sehen. Aber das war noch nicht alles. Es wäre ein magischer Augenblick für ihn gewesen, das Teesieb in den Händen zu halten. Seine große Leidenschaft war das Silber, das er für Sir Henry putzte, weshalb es Flora stets ein Rätsel war, daß es eine Geschichte gab, die er ihr niemals erzählen wollte, obwohl er sie bestimmt kannte: wie nämlich das vorzüglich gearbeitete Silber, an dem er so sehr hing, ursprünglich in den Besitz der Gossingers gelangt war. Flora fand das Teesieb nie. Und plötzlich, als sei sie eines Abends als Kind zu Bett gegangen und am nächsten Morgen als junge Frau erwacht, war Flora siebzehn Jahre alt. Und ehe sie sich versah, ereignete sich auf Gossinger Hall eine einschneidende Veränderung. Mabel Bowser erschien auf der Bildfläche. An besagtem verhängnisvollem Tag hatte Flora aus dem Fenster des Wohnzimmers geschaut, das sie mit ihrem Großvater teilte, als sie eine Frau in braunem Tweed aus dem Touristenbus steigen und den Geschenkshop plus Café betreten sah, der dem Publikum als Eingang zu Gossinger diente. Na so was, die sieht ja aus wie eine Reinkarnation von Lady Normina, dachte Flora, und ein eigenartiger kleiner Schauer lief ihr über den Rücken. In der Tat hatte Miss Mabel Bowser den eisernen Blick einer Frau, die ihren Mann auf einen Kreuzzug schicken würde, ohne
ihm ein Lunchpaket zu schnüren. Und niemand, Flora eingeschlossen, hätte jemals vermutet, daß das Herz in ihrem fünfundvierzigjährigen Busen schneller schlug, als sie ihre Handtasche öffnete. Es war ein frostiger Oktobertag, und Mrs. Warren nahm ihr Eintrittsgeld entgegen, indem sie lediglich die Fingerspitzen aus dem Ärmel ihrer Strickjacke streckte. Genauer gesagt, ihrer Strickjacken. Denn Mrs. Warren war in mindestens drei Jacken eingepackt, und es schien kein Scherz zu sein, als sie erklärte, die Heizkörper rings an den Wänden seien weder nützlich noch eine Zier. Es sei denn, man war zufällig eine »Ballettratte« und wünschte, seine Arabeske zu üben. Furchtlos stellte Mabel Bowser sich dem eiskalten Hauch von Jahrhunderten, der von den hochaufragenden Steinmauern der großen Halle auf sie herabwehte. Zwei Lehrerinnen aus ihrem Touristenbus waren indessen alles andere als begeistert. Sie schimpften, ihre Kopfhörer müßten ihnen wohl zugleich als Ohrenschützer dienen. Mabel konnte ihr Genörgel hören, da sie Mrs. Warrens Anerbieten, ihr einen persönlichen elektronischen Führer auszuhändigen, ausgeschlagen hatte. Sie wollte nicht, daß ein zusätzliches Gewicht sie etwa auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Denn obgleich sie eine Frau von beachtlicher Statur war, schwebte sie wie auf Wolken. Auf eigenes Risiko. Außerdem hätte das Gerät sie als Besucherin abgestempelt, und Mabel Bowser wollte eine glorreiche Stunde lang so tun, als sei sie in der verstaubten Pracht von Gossinger Hall zu Hause. Seit ihrer Kindheit in der Wohnung über dem Trödelladen ihrer Eltern war Mabel von der Sehnsucht erfüllt, zu den Spitzen der britischen Gesellschaft zu gehören. Mit diesem löblichen Ziel vor Augen hatte sie sich darauf verlegt, unmoderne Tweedkleider, Baumwollstrümpfe und runde Hüte zu tragen. Sie hatte Sprechunterricht genommen und mit einer
Hingabe gelernt, die Henry Higgins in helles Entzücken versetzt hätte und die ihre Schwester Edna, die noch in Bethnal Green lebte, ein wenig traurig machte. Aber was weiß eine Frau, deren Vorstellung von Selbstverwirklichung ein Abend auf dem Hunderennplatz ist, schon von Weiterbildung? Die kurzsichtige Edna hätte keine fünf Pfund darauf verwettet, daß die Schulmädchenträume ihrer Schwester, in die nächsthöhere Klasse aufzusteigen, bei diesem Besuch auf Gossinger in Erfüllung gehen sollten. Doch das Schicksal zieht bekanntlich seine Fäden. Denn vor der »Garderobe«, die zugesperrt war und an deren Tür ein »Zutritt verboten «-Schild hing, stieß Mabel Bowser mit Sir Henry Gossinger höchstpersönlich zusammen. Mit einer ein wenig unbeholfenen Verneigung stellte der Baronet sich vor. Sir Henry gehörte nicht zu jenen, denen es in die Wiege gelegt ist, sich zu verbiegen. Und als waschechter Aristokrat sprach er mit einer Stimme zu ihr, die klang, als habe er ein heißes Rosinentörtchen im Mund. »Bedaure vielmals, meine Liebe. Sollte nicht ohne Blindenhund durch die Gegend stolpern.« Welche Manieren! Welcher Takt! Mabel wurde zwar nicht schlau aus dem, was Sir Henry sagte, aber sie wußte sogleich, daß er all das war, was sie sich jemals unter einem Mann vorgestellt hatte. Korpulent, nahezu kahl und fünf Zentimeter kleiner als sie. »Es war meine Schuld«, beteuerte sie. »Ich habe nicht aufgepaßt.« Eine schlichte Entschuldigung, aber durch das leidenschaftliche Zittern ihrer Stimme zu opernhaften Dimensionen vergrößert. Sir Henry sagte etwas, dem sie nicht zu folgen vermochte, und ihre Reaktion war ein mehrmaliges inniges Nicken. Bald schon entdeckte Mabel, daß sie, wenn sie seine Lippen genau beobachtete, jedes zweite Worte verstehen konnte. Es
war ein Wunder! So, als führe man nach Frankreich und merkte, daß man den Sprachführer nicht brauchte, um von der Fähre zu gelangen. Sir Henry lächelte sie freundlich an und erklärte, die »Garderobe« sei verschlossen, weil ein Absinken der Grundmauern von Gossinger den (an dieser Stelle nuschelte Sir Henry noch mehr) Sitzbereich gefährlich erweitert habe. Eine Toilette, die nicht so heißt, ist nicht das gleiche. Mabel Bowser war bezaubert von Sir Henrys Geplauder über das Thema Klo im zwölften Jahrhundert. Schweißtröpfchen ließen ihr Gesicht wie taubenetzt erstrahlen. Obgleich kräftig gebaut, fühlte sie sich schwach und matt. Träumte sie nur, oder hatte Sir Henry gerade angeboten, sie persönlich durch seine historische Wohnung zu geleiten? Sie verstieg sich nicht zu der Vorstellung, er habe sich auf den ersten Blick in sie verliebt, fragte sich jedoch, ob der Baronet in ihr wohl eine verwandte Seele erkannt hatte. Mabel Bowser erbebte in ihren festen Schuhen, als Sir Henry die Hand auf ihren Arm legte und sie durch die große Halle führte. Knapp eine halbe Stunde später zeigte Sir Henry ihr Gossingers bemerkenswert prächtige Silbersammlung aus dem achtzehnten Jahrhundert, die in Glaskästen in der ehemaligen Vorratskammer ausgestellt war. Er versicherte ihr, Hutchins, der Butler, sei für die Reinigung des Silbers verantwortlich, und von ihr werde selbstverständlich nicht einmal erwartet, in diesem Raum Staub zu wischen, sollte sie sein Angebot annehmen und Gossinger zu ihrem Heim machen. Zugegeben, es war keine sehr lange Werbung. Doch die Zeiten haben sich geändert, seit Lady Normina im Jahre 1172 Thomas Short Shanks versprochen wurde, noch ehe sie den Mutterschoß gänzlich verlassen hatte (es war eine Steißgeburt). Seine Gemütsbewegung mochte der Grund sein, warum Sir Henry noch undeutlicher sprach als sonst; Mabel Bowser
hingegen bereitete es keinerlei Mühe, klar zu sagen, daß sie ihn heiraten würde, ohne zu warten, bis ihr bestes Kleid aus der Reinigung zurückkam. Die Hochzeit fand wenige Wochen später in St. Mary’s Stow statt. Es war eine geschmackvolle kleine Feier, an der nur Sir Henrys Neffe Vivian und Miss Sophie Doffit, eine Cousine dritten Grades, die der Königinmutter verblüffend ähnlich sah, teilnahmen. Es ziemte sich selbstverständlich nicht, Hutchins, seine siebzehn Jahre alte Enkelin Flora und Mrs. Johnson, die derzeitige Haushälterin, mitzuzählen, die respektvoll ganz hinten in der Kirche saßen. Mr. Tipp, der bejahrte Stallbursche, war nicht erschienen, da ja jemand das Haus hüten mußte, falls Einbrecher vorbeischauten und sich an dem Mangel an Gastfreundschaft stießen. Und Edna konnte nicht aus Bethnal Green anreisen, um den Triumphzug ihrer Schwester zum Traualtar zu bezeugen, da sie wegen »Blutfluß« – sie bestand auf dieser Bezeichnung – im Krankenhaus lag und operiert werden sollte. Aber es war das beste so. Edna hätte ihre liebe Mühe gehabt, auch nur das Allernötigste zu sagen und sich den Anschein von Bildung zu geben. In ungetrübter Freude – bis auf ein flüchtiges Bedauern, daß sie Sir Henry nicht schon geheiratet hatte, als sie noch jung genug war, um ihm einen Sohn und Erben zu schenken – hegte die frischgebackene Lady Gossinger die berechtigte Hoffnung, bis ans Ende ihrer Tage ein glückliches, zufriedenes Leben zu führen. In den folgenden Jahren wurde sie eine immer überzeugtere Anhängerin des Tweed. Niemand sollte sie als neureich abstempeln, vielen Dank! Lady Gossingers Vorstellungen vom Leben des Landadels beruhten auf gewissen in den dreißiger und vierziger Jahren verfaßten Romanen – vor allem denen von Agatha Christie. Für die ehemalige Mabel Bowser stand der Begriff Goldenes Zeitalter für eine Epoche, als das Frühstück in einer
imposanten Reihe silberner Schüsseln auf einer drei Meter fünfzig langen Anrichte serviert wurde. Die Gentlemen gaben sich der Fuchsjagd hin und beschäftigten sich mit Nichtstun in der Bibliothek, während ihre Gattinnen sich auf ihre Blumengärten konzentrierten. Und die Entdeckung einer Leiche auf dem Grundstück durfte die Mahlzeit nicht um mehr als eine Stunde hinauszögern, auch wenn das Lieblingstranchiermesser der Köchin bis zum Heft im Rücken des Opfers steckte. Es versteht sich von selbst, daß Lady Gossinger, geborene Bowser, niemals ernsthaft damit rechnete, daß direkt vor ihrer Nase ein Mord geschehen würde. Ihr Eheleben ging zufrieden seinen Gang, bis zu jenem unglückseligen Tag fünf Jahre später, als Sir Henry die Bombe platzen ließ und ihr die rosaroten Schuppen jäh von den Augen fielen. Hinterher sollte Mabel sich mit bitterer Klarheit daran erinnern, wie vergnügt sie noch eine Stunde zuvor gewesen war, bevor ihre schöne neue Welt in tausend Stücke zerbrach. Und sie dachte mit verkniffenem, säuerlichem Lächeln, ganz ähnlich jenem, das Lady Normina auf ihrem Marmorgrabstein zur Schau trug, daß sie niemals, nicht in tausend Jahren geglaubt hätte, eines Tages ein scheinbar so unbedeutendes Mädchen wie Flora Hutchins auf die eine oder andere Art unschädlich machen zu müssen.
Kapitel 2 Es war an einem Samstag nachmittag Ende März. Jung-Vivian, wie Lady Gossinger ihren inzwischen neunundzwanzig Jahre alten Neffen nannte, war zu einem Wochenendbesuch erschienen. Wenn auch nicht schön, war er mit seinem dichten braunen Haar, den haselnußbraunen Augen und aristokratischen Gesichtszügen auf jeden Fall mehr als nur präsentabel. Sie waren zu viert in dem im Turm gelegenen Salon versammelt. Es war kein ausnehmend freundlicher Raum, er erinnerte vielmehr an jenes Zimmer, in dem Anne Boleyn ihre letzten Tage verbracht und sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie sie bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt ihr Haar tragen sollte. Sir Henry und Mylady thronten Seite an Seite auf schweren geschnitzten Stühlen, die an Richterstühle gemahnten. Ihnen gegenüber auf einem kleinen Sofa mit Eichenlehnen und hauchdünnen Gobelinkissen saßen Vivian und Miss Sophie Doffit und arbeiteten an ihrer Körperhaltung. Sir Henrys Cousine war zu einem ebensolchen festen Inventar geworden wie das Vogelnest in der Nische über dem Fenster, nachdem sie (indem sie ständig vergaß, ihren Koffer zu packen) ihren einwöchigen Besuch anläßlich der Hochzeit in einen unbefristeten Aufenthalt umgewandelt hatte. Lady Gossinger wollte die Beine übereinanderschlagen, erinnerte sich jedoch daran, daß dies gewöhnlich war, und reichte ihr Lächeln herum wie Sahnebonbons in einer Papiertüte. Wenn die Atmosphäre ein winziges bißchen gespannt schien, so nur, weil zwei Teilnehmer der kleinen Familienzusammenkunft völlig durchfroren waren. Der Steinkamin war bis auf das Gerippe eines verrosteten Gitters leer. Und trotz kürzlicher Reparaturarbeiten an den
Heizkörpern bestand die Zentralheizung auf Gossinger immer, noch im wesentlichen daraus, die Fenster zu schließen und baumwollene Unterwäsche zu tragen. »Ich weiß es zu schätzen, daß Ihr es ertragt, mich um die Beine zu haben.« Während Vivian sich an seine Tante und seinen Onkel wandte, wünschte er, sie würden in die Kapelle übersiedeln, die er immer schon für den behaglichsten Raum auf Gossinger gehalten hatte. Da dies nicht geschah, konnte er nur hoffen, daß Hutchins bald mit dem Tee kam und zwei Wärmflaschen mitbrachte. »Dummes Zeug. Du bist uns nicht im entferntesten lästig!« Lady Gossingers Stimme vibrierte mit einer Macht, die den uralten Grundmauern von Gossinger neue Risse beizubringen drohte. »Wie lieb von dir, das zu sagen, Mabel!« Miss Doffit rieb ihre Hände aneinander, um ihre Blutzirkulation in Gang zu bringen. »Manchmal mache ich mir nämlich Sorgen, wie alte Leute es so häufig tun, ich könnte vielleicht länger geblieben sein, als ich erwünscht bin.« »Ganz und gar nicht, Sophie. Wir haben uns über deinen Besuch gefreut.« Mylady gelang es, in aufrichtigem Ton zu sprechen, da sie der festen Überzeugung war, zum Leben in besseren Kreisen gehöre eine arme Verwandte, die sich dankbar im Schatten hielt. Außerdem war da die Ähnlichkeit zur Königinmutter, die jede Taxifahrt mit Cousine Sophie ungeheuer spannend machte, selbst wenn sie die alte Dame warnen mußte, ihr Winken am Fenster in dieser besonderen Manier könne als Hochverrat aufgefaßt werden. Lady Gossinger holte nachsichtig Luft. »Schon gut, Sophie! Obgleich du, hättest du nur ein wenig aufmerksamer zugehört, bevor du mich unterbrochen hast, meine Liebe« – sie lachte, um den Rüffel abzumildern »gemerkt hättest, daß ich mit Jung-Vivian gesprochen habe.
Ich meinte, daß er nicht im entferntesten lästig ist. Wir haben ihn furchtbar gern, ist es nicht so, altes Haus?« Lady Gossinger hob die Stimme um ein oder zwei Oktaven, als sie sich ihrem Mann zuwandte und ihm einen festen Klaps aufs Knie gab. »Oh, ja, selbstverständlich, Mabel!« Sir Henry kaute seine Worte und spie sie aus, wie ein Mann, der mit den Gedanken ganz woanders ist. »Könnte den Jungen nicht lieber haben, wenn er der Sohn meines verstorbenen kleinen Bruders Tom wäre.« »Aber Vivian ist doch Toms Sohn, mein Lieber«, sagte Lady Mabel mit der Geduld einer Ehefrau. »Oh, ja, ganz recht, ganz recht! Alter Familienname, Vivian…« Sir Henry versank wieder in seine Träumereien. Ein eiskalter Luftzug fuhr zischend durch den Kamin, während der Regen stockend gegen die schmalen Gitterfenster schlug wie ein unbegabtes Kind, das am Klavier die Tonleitern übt, auf die Tasten einschlägt. In der Tat hatte Lady Gossinger eine tiefe Zuneigung zu ihrem neuen Neffen gefaßt, die in dem Augenblick geboren wurde, als Vivian unumwunden erklärte, er hege keineswegs den Wunsch, seinen Wohnsitz im Stammhaus seiner Vorfahren aufzuschlagen, wenn der Titel nach dem Tod seines Onkels an ihn überging. Vielmehr werde es ihn glücklich machen, wenn seine Tante die hoffentlich vielen ihr noch zugemessenen Lebensjahre auf Gossinger verbringen wolle. Darauf hatte er ihr sein Wort als Ehrenmann verpfändet. »Wir wünschten nur, du würdest uns öfter besuchen kommen, Jung-Vivian.« Mylady schenkte ihm ihr sorgfältig kultiviertes Lächeln. »Wirklich famos, dich hier zu haben. Aber wir dürfen nicht zuviel verlangen. Wir wissen, wie es um die vielbeschäftigten jungen Lebemänner aus der Stadt steht, nicht wahr, Henry?«
»Oh, ja, selbstverständlich. Bin nicht immer ein verknöcherter alter Kerl gewesen. Erinnere mich noch, in grauer Vorzeit selbst mal jung gewesen zu sein. Scheint allen so zu gehen, schätze ich.« Die blassen Augen des Baronets hefteten sich auf die Standuhr, die seit Menschengedenken weder tickte noch tackte und ihrem Herrn scheinbar dennoch, vielleicht durch ein fast unmerkliches Verziehen ihres Zifferblatt-Gesichts, die Zeit übermittelte. »Was hast du in letzter Zeit getrieben, mein Junge? Königin und Vaterland gedient?« »In gewisser Weise ja, Onkel Henry.« Vivian Gossinger schob auf der Suche nach Wärme die Füße unter den ausgeblichenen persischen Läufer. »Hat da jemand Geheimnisse vor uns?« schalt Lady Gossinger ihn mit erhobenem Zeigefinger, der ihr von dem starken Luftzug, der Cousine Sophie immer wieder dreist unter die Röcke schaute, fast von der Hand gerissen wurde. »Das gehört sich aber nicht, verstehst du, mein Lieber? Dein Onkel Henry und ich wollen nur dein Bestes. Und es gibt nichts, was du uns nicht erzählen könntest, das du deiner eigenen Mummy und deinem eigenen Daddy nicht erzählen würdest, wenn sie noch lebten.« »In diesem Fall, wenn du hundertprozentig sicher bist, daß du es hören willst, Tante Mabel!« Vivian Gossinger vermied es, den Kupferstich von Lady Normina anzusehen, von dem ihm jedesmal unheimlich wurde, und verkündete: »Kurz und gut, Tante, ich habe unlängst einen Job angenommen – ich bin Vertreter für Toilettenartikel für den Herrn.« »Du hast was getan, mein Lieber?« Lady Gossinger sank in ihren Stuhl zurück und schnellte sogleich wieder nach vorn, nachdem sich die Rose der Tudors in ihr Rückgrat gebohrt hatte. Sie war schockiert. Zutiefst schockiert. Aber zugleich genoß sie es, schockiert zu sein. Es war die angemessene Reaktion eines Menschen ihres Familiensinns. Es sei denn –
war es möglich, daß Jung-Vivian sie an der Nase herumführte? Ja, so mußte es sein! Lachend, um zu zeigen, daß sie nicht angebissen hatte, drohte Mylady ihrem ungezogenen Neffen mit dem Finger. »Schäm dich, mir solche faustdicken Lügen aufzutischen! Ziehst angeblich mit deinem kleinen Musterkoffer von Haus zu Haus, also wirklich! Wir sollten ihn in die Ecke stellen, weil er uns angst machen wollte, ist es nicht so, Henry?« »Pardon, meine Liebe! Muß Watte in den Ohren haben, oder die alten grauen Zellen streiken. Hab’ nicht mitgekriegt, was du gesagt hast, aber bestimmt hast du recht, wie immer.« Sir Henry fuhr mit der Hand über seinen kahlen Schädel. Er schien weit größeres Interesse an dem Geräusch des Regens zu haben, der jetzt ein Konzert von Beethoven auf den Fensterscheiben spielte, als an der erschütternden Enthüllung seines Neffen. »Ich mache keinen Spaß, Tante Mabel.« »Klar doch, Vivian!« »Im Augenblick bin ich Vertreter für Macho Man. Aber falls es ein Trost für dich ist, Tante, besonders talentiert bin ich nicht. Ich verirre mich andauernd. Und ich mag es nicht, von Schoßpudeln mit Hollywood-Kronen und falschen Nägeln angefallen zu werden.« »Spricht jemand mit mir?« Cousine Sophie erkannte sogleich ihren Irrtum und sagte, ihr Magen müsse geknurrt haben, da er nach Butterkuchen verlangte. Lady Gossinger achtete nicht auf sie. »Vivian, um der Familie willen, hör auf dein Tantchen! Es muß doch etwas anderes geben, das du tun könntest, um dein Taschengeld aufzubessern. Etwas, das deinem Rang angemessener ist. Wie wäre es mit einer Laufbahn als Parlamentarier, mein Lieber? Du würdest keine unangenehmen Prüfungen ablegen müssen, und überleg nur mal, wieviel Kostgeld du sparen würdest, wenn du zu all diesen politischen Essen gehst.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich aufgeregt habe, Tante Mabel.« Vivian sah zerknirscht aus. »Aber ich glaube, ich sollte Macho Man noch ein Weilchen treu bleiben. Stichwort Charakterbildung und so weiter. Es sind wirklich ganz anständige Produkte. Sie haben eine sehr gute Körperlotion und Hafer-Avocado-Gesichtsmaske im Angebot, sollte Onkel Henry interessiert sein.« Sir Henry gab einen kehligen Laut von sich und schaffte es, überzeugend so zu tun, als sei er tief in Gedanken versunken, doch Lady Gossinger konnte ihre Beunruhigung nicht verbergen. Gesichtsmasken und Körperlotionen! Erfuhr sie da etwas über ihren Neffen, das sie lieber nicht wissen wollte? Stand ihr die Entdeckung bevor, daß er sich Perserkatzen hielt und eigene Blumenarrangements entwarf? Natürlich kam so etwas in den besten Familien vor; man sagte (wer auch immer man war), auch Richard Löwenherz… In diesem Falle – Lady Gossinger holte Luft, um wieder zu Kräften zu kommen – schrieb die Wohlerzogenheit vor, sich aufgeschlossen zu zeigen. Aber das hieß ja nicht, daß sie Jung-Vivian noch ermutigen mußte. »Ich fürchte, dein Onkel Henry wird sich die Schuld geben.« Sie kaute an ihrer Unterlippe. »An dem Job?« »Ja, genau, mein Lieber. Alles andere ist ganz allein deine Sache.« Lady Gossinger wärmte sich einen Augenblick an ihrem eigenen Heiligenschein. »Henry gibt sich immer an allem die Schuld. An den Gesamtschulen, dem Gemeinsamen Markt, den indischen Schnellrestaurants, was immer du willst. Und ganz im Vertrauen, Jung-Vivian.« Lady Gossinger warf einen Blick auf ihren Mann, der selbstvergessen fünfzig Zentimeter neben ihr saß. »Ich mache mir Sorgen, wie jede fürsorgliche Ehefrau es tun würde, daß er viel zuviel Zeit in
dem Beichtzimmer neben der Kapelle verbringt. Aber seltsamerweise bringt mich das auf eine Idee, mein Lieber.« »Ach ja?« »Die ideale Lösung, Vivian. Ich weiß, du bist nicht besonders kirchlich gesinnt, aber du könntest doch eine Zeitlang auf Gossinger wohnen und ehrenamtlich in der Kathedrale von Lincoln arbeiten. Wäre das nicht nett? Bis Lincoln sind es von hier nur fünfundzwanzig Kilometer. Mit dem Auto ein Katzensprung.« Mylady schäumte über vor Begeisterung. »Ich fände es besonders schön, mein Lieber, wenn du am Informationsstand aushelfen könntest. Du könntest den Leuten sagen, wo der berühmte Lincoln Imp zu finden ist, und erzählen, wie irgendwann einmal die Abschrift der Magna Charta, die sich im Besitz der Kathedrale befindet, in einer alten Keksdose aufbewahrt wurde. Und dann gibt es da noch diese lustige kleine Legende über den Schweinehirten von Stow. Besonders die Amerikaner lieben solche Dinge.« Während Lady Gossinger einen wohlverdienten Atemzug nahm und Vivian sich fragte, wie er ihr taktvoll beibringen sollte, daß er lieber in einem Bushäuschen leben würde als auf Gossinger, gelangte Cousine Sophie zu dem Schluß, daß sie sich, nachdem sie bis dreihunderteinunddreißig gezählt hatte, nun wieder ins Gespräch mischen durfte. Sie setzte sich kerzengerade auf, legte die Hand auf die Stehlampe neben ihr, als halte sie ein Zepter, und ergriff aufs entschiedenste die Partei von Mylady. »Mabel hat recht, wie gewöhnlich, Vivian. Ehrenamtliche Arbeit ist das eine, aber die andere Art Arbeit – für die man entlohnt wird – kann niemals eine angemessene Beschäftigung für unseresgleichen sein. Einer meiner Brüder arbeitete für die Bank von England, und das hat unseren Daddy umgebracht. Hast du schon mal« – Cousine Sophies weichgepolstertes Gesicht umwölkte sich – »in einer Bank gearbeitet, Vivian?«
»Nein, Cousine Sophie.« Miss Doffit nahm seine Hände zwischen die ihren und drückte sie mit einer für eine Dame ihres Alters so erstaunlichen Kraft, daß Vivians Augen tränten. »Vermutlich bin ich altmodisch, aber ich kann mir nicht helfen, ich halte es für eine ausnehmend vulgäre Tätigkeit, sich mit den Geldproblemen anderer Leute zu befassen. Ich weiß nicht, aber ich kann mir nichts Schändlicheres denken, außer vielleicht in einem dieser Trödelläden zu arbeiten, die vom Unglück in Not geratener Menschen profitieren.« Cousine Sophie blinzelte entschlossen eine Träne weg. »Oje, da plappere ich wieder drauflos, als habe meine Meinung auch nur die geringste Bedeutung. Bin ich euch wieder mal auf die Nerven gefallen?« »Das würdest du nie.« Vivian Gossinger sah sich durch Jahrhunderte guter Kinderstube und das Schweigen seiner Tante, das die Eiseskälte im Raum noch verstärkte, zu dieser Antwort genötigt. »Du bist ein Goldschatz, Cousine Sophie.« »Und du bist deinem lieben Vater so ähnlich, mag unser Vater im Himmel seiner Seele gnädig sein!« Miss Doffit lächelte unter Tränen. »Weißt du, ich schlafe in seinem alten Zimmer. Und ich muß gestehen, es ist mir sehr ans Herz gewachsen. Der Wind pfeift dort so fröhlich durch die Fenster. Kaum zu glauben, Vivian, aber manchmal vergesse ich wochenlang, daß dein Daddy mir einmal erzählt hat, in diesem speziellen Schlafzimmer spuke eine ungezogene junge Frau, die Gossinger Hall im achtzehnten Jahrhundert mit einem bösen Fluch belegte.« Miss Doffit beäugte Sir Henry, sah sein mürrisches Gesicht und ließ den Kopf hängen, als wünsche sie, er werde in den passend bereitstehenden Korb des Scharfrichters fallen. Dann riß sie sich zusammen. »Darf ich mich nützlich machen und nachsehen, was Hutchins so lange davon abhält, unseren Tee zu bringen?«
»Sieht ihm gar nicht ähnlich, unpünktlich zu sein.« Lady Gossinger machte sich an ihrer Perlenschnur zu schaffen. Seit der Bemerkung über die Verworfenheit von Trödelläden hatte sie nur hier und da Bruchstücke von Cousine Sophies weitschweifigem Geplauder aufgeschnappt. Was würde die alte Dame denken, wenn sie von dem Laden in Bethnal Green wüßte? Wieviel Mühe sich Mylady auch gegeben hatte, ihre Vergangenheit zu vertuschen, das Vermächtnis der Mabel Bowser blieb doch lebendig. Und in diesem Augenblick hätte Lady Gossinger, obgleich sie ihren Mann noch lieber hatte als Jung-Vivian, ihn gut und gern erdrosseln können. In einem Anfall von Gefühllosigkeit hatte Sir Henry vor wenigen Wochen den ehemaligen Laden der verstorbenen Mr. und Mrs. Bower erworben, samt der Wohnung darüber, und zwar als Geschenk zum fünfzigsten Geburtstag seiner Frau. Als er sie von dieser Heldentat in Kenntnis setzte, erklärte Sir Henry, er habe in dieser Angelegenheit gebetet und sei zu der Überzeugung gelangt, daß sie die Immobilie gern besitzen wolle, schon aus sentimentalen Gründen. Zudem wäre es ein hübscher kleiner Notgroschen. Und während er dies sagte, sah Sir Henry aus, als sei er mit sich und der ganzen Welt im reinen. Wenn sie an das wunderbare Geschenk dachte, das sie für seinen kurz bevorstehenden Geburtstag versteckt hatte! Lady Gossinger hatte einen Augenblick lang mit dem Gedanken gespielt, ihm eine schallende Ohrfeige zu erteilen, bevor ihr einfiel, daß sie sich dadurch erneut auf das Niveau von Leuten wie Edna hinunterbegeben würde. Um die Wahrheit zu sagen, war es keine schlechte Investition. Das Haus war zehn Jahre lang an denselben Mieter verpachtet worden. Dennoch ging sie noch Wochen nach ihrem Geburtstag mit angewinkelten Armen umher, aus Furcht, es könne, wenn sie die Arme auch nur einen Zentimeter hob, ein verräterischer Hauch von Bethnal Green entweichen. Jetzt
hörte sie auf, mit ihren Perlen zu spielen, und winkelte die Arme wieder an. »Ziemlich eigenartig, daß Hutchins sich verspätet. Bin noch nie jemandem begegnet, der es mit der Uhr so genau nimmt. Und jetzt ist es schon zehn Minuten nach vier«, sagte Sir Henry und sah auf die Uhr, deren Zeiger wie zum Gebet ineinander verschlungen waren, seit das Pendel aufgehört hatte zu schlagen – laut Familienlegende um Mitternacht, vor langer, langer Zeit. Der Baronet räusperte sich. »Und just über Hutchins wollte ich mit Euch allen reden. Hatte aber das Gefühl, es könnte noch warten. Wollte keinem den Tee verderben. Dachte, ihr könnt die Nachricht besser mit vollem Magen verkraften.« »Ist Hutchins krank?« Vivian Gossinger gab jeden Gedanken an korrekte Körperhaltung auf und beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, der Inbegriff wohlerzogener Sorge um einen treuen Diener der Familie. »Er liegt doch nicht im Sterben?« Lady Gossingers Stimme klang gereizt, sie hatte – ganz zu recht – das Gefühl, Hutchins hätte seine Arbeitgeber von seinen Absichten unterrichten müssen. »Nun, ich muß sagen, es ist ihm sehr gut gelungen, seinen Zustand zu überspielen.« »Nein, nein! Er hat keine Verabredung mit dem Schnitter. Nichts dergleichen!« Sir Henry zog sich tief in seinen Herrschersessel zurück, der allerdings nicht zu bequemem Sitzen geschaffen war, wie seine Miene bezeugte. Er wollte unbedingt loswerden, was er zu sagen hatte, doch als echter Gentleman ließ er zunächst den Damen den Vortritt. »Hutchins ist noch nicht so alt, Vivian«, sagte Cousine Sophie, die es mit großem Stolz erfüllte, vierundachtzig Lenze zu zählen, und die sich standhaft über Menschen in den Siebzigern ärgerte, die sich als alt hinstellten.
»Recht überlegt, muß er doch kurz vor der Pensionierung stehen«, sagte Vivian. »Trotzdem bin ich immer davon ausgegangen, daß Hutchins Gossinger erst verläßt, Onkel Henry, wenn man ihn im Sarg hinausträgt. Zumal seine Enkelin bei ihm lebt.« »Ach ja! Die kleine Flora!« Sir Henrys Stimme klang liebevoll. »Natürlich ist sie jetzt erwachsen und arbeitet im Haushalt oder im Geschenkshop mit. Aber als Hutchins sie nach dem Tod ihrer Mutter herbrachte, war sie erst vier oder fünf Jahre alt. Wirklich ein ganz verspieltes kleines Ding. Ungefähr so, als tolle ein kleiner Hund durchs Haus. Ich weiß noch, daß sie gern nach oben auf den Speicher ging und sich verkleidete.« »Hutchins scheint sie zu vergöttern«, warf Sophie ein und vergaß erneut, daß das Schicksal ihr auf Dauer einen Platz im Schatten zugewiesen hatte. »Die menschliche Natur ist eigen. Da machen die Leute jedesmal ein großes Theater, wenn ein Mann, obendrein einer, der nicht mehr der allerjüngste ist«, räumte sie ein, »die Erziehung eines Kindes übernimmt. Aber denkt an die Frau, die letzte Woche Vierlinge bekommen hat – mit vierundsechzig Jahren!« »Cousine Sophie.« Vivian Gossingers Lippen waren so weit aufgetaut, daß er ein Lächeln zustande brachte. »Du hast wieder in der Klatschpresse geschmökert!« »Nein, nein, es war eine richtige Zeitung! Und ich bin sicher, ich habe die gleiche Geschichte im Radio gehört, über diese pensionierte Lehrerin aus Bridlington, die einen viel jüngeren Mann geheiratet hat und ihm unbedingt ein Kind schenken wollte. Manche würden sagen, ein Pfeifenständer wäre ein passenderes Geschenk gewesen, aber ich fand es sehr tapfer von Mrs. Smith.« Cousine Sophie nickte weise. »Als ich ihre Geschichte hörte, mußte ich an dich denken, Mabel.«
»An mich?« Lady Gossinger wirkte keineswegs geschmeichelt. »Ich bin nicht um Jahre älter als Henry!« »Nein, nein, selbstverständlich nicht.« Die alte Dame verkroch sich in ihrer Ecke des Sofas. »Ich dachte ja nur, weil du immer so jung aussiehst, wirklich, fast noch wie ein Mädchen, wie schön es wäre, wenn du und Henry ein Baby bekommen würdet. Einen Jungen natürlich. Und ich könnte mich nützlich machen und auf ihn aufpassen.« Gefühlvoller Seufzer. »Es würde dir doch nichts ausmachen, Vivian?« »Daß du auf ihn aufpaßt?« »Nein, mein Lieber! Daß er deinen Platz als Henrys Erbe einnehmen würde.« Lady Gossinger warf Cousine Sophie einen zornigen Blick zu. »Da wir von einem Thema zum anderen gesprungen sind, haben wir ganz aus den Augen verloren, Henry« – sie wandte sich an ihren Mann – »daß du uns irgend etwas über Hutchins mitteilen wolltest. Tut mir leid, altes Haus! Aber jetzt heraus damit. Du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit. «
Kapitel 3 Flora hatte nicht vergessen, daß ihr Großvater sie gebeten hatte, den Tee im Turmzimmer zu servieren. Doch sie hatte nicht auf die Zeit geachtet. Ein Grund war, daß ein Knopf von ihrer weißen Bluse absprang, während sie einen Kunden im Geschenkshop bediente, und sie ihn noch annähen mußte. Wobei sie festgestellt hatte, daß ihr Haar sich aus dem Knoten löste und sie außerdem eine Laufmasche im Strumpf hatte. Der Hauptgrund, warum sie nicht auf die Uhr sah, war allerdings, daß Grandpa heute Geburtstag hatte, und sie war entschlossen, das kleine Wohnzimmer so festlich wie möglich herzurichten. Die Wohnung sah stets gemütlich aus; auf den Regalen stapelten sich Unmengen von Büchern, und Grandpas Sessel stand behaglich am Kamin, aber heute wollte Flora Perfektion. Sie hatte einen blauweißen Porzellankrug mit Winterstiefmütterchen auf den Klapptisch gestellt. Der mit Zuckerguß überzogene Schokoladenkuchen auf dem silbernen Zierdeckchen, den sie schon frühmorgens gebacken hatte, sah sehr appetitlich aus. Außerdem hatte sie Luftballons an den Rückenlehnen der beiden Eßzimmerstühle befestigt. Grandpa würde so tun, als sei er überrascht, sie würden fröhlich zusammen zu Abend essen, und nur in einem Punkt war Flora enttäuscht, daß nämlich das Geburtstagsgeschenk, das sie ihm so gern hatte geben wollen, nicht eingetroffen war. Vor zwei Wochen hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und an Ihre Majestät geschrieben, um ihr von Grandpa und der fabelhaften Silberpolitur zu erzählen, die er nach einem alten Familienrezept hergestellt hatte. Flora hatte erklärt, daß die Silberpolitur im Geschenkshop von Gossinger Hall verkauft wurde und daß die Leute eigens Ausflüge hierher machten und viele Kilometer fuhren, um die Tinktur zu kaufen.
Wäre es zuviel verlangt (diese Worte hatte sie unterstrichen) zu hoffen, daß Ihre Majestät es in Erwägung zog, diesem ausgezeichneten Produkt Ihr königliches Patent zu verleihen? Nachdem sie den Brief mehrmals durchgelesen hatte, um sicherzugehen, daß er keine Orthograpieoder Grammatikfehler enthielt, hatte Flora ihn mit klopfendem Herzen zum Postkasten gebracht. Als sie an jenem Abend zu Bett ging, lag sie noch lange wach und stellte sich Grandpas erfreutes Gesicht vor, wenn ihr Traum für ihn wahr wurde. Obwohl sie wußte, daß es dumm war, hatte Flora bereits am ersten Wochenende auf ein Antwortschreiben gehofft. Vielleicht würde es ja von einer Hofdame verfaßt, die sie bat, ein Fläschchen der Silberpolitur zum Buckingham-Palast zu schicken. Um sie am königlichen Silber auszuprobieren. Doch inzwischen waren mehr als vierzehn Tage verstrichen, und Flora dachte allmählich, sie würde niemals eine Antwort erhalten. Vielleicht war Ihre Majestät, wenn sie den Brief je zu Gesicht bekommen hatte, zu dem Schluß gelangt, daß Miss Flora Hutchins entweder eine völlig überdrehte Spinnerin war oder aber die dreisteste Person, von der sie je gehört hatte. Mrs. Bellows, die in Floras Kindheit einige Jahre lang Haushälterin auf Gossinger Hall gewesen war, hatte gern Geschichten erfunden, um das kleine Mädchen an regnerischen Nachmittagen zu unterhalten. Selbstverständlich waren sie nicht so gut wie Grandpas Geschichten, aber sie hatte einige sehr lustige Anekdoten über Ihre Majestät und das Leben im Buckingham-Palast erzählt. Und diese Geschichten waren Flora geblieben, noch lange nachdem Mrs. Bellows festgestellt hatte, daß Gossinger Hall sich nicht mit ihrem Hexenschuß vertrug, und eine andere Stellung annahm. Sie schilderten Ihre Majestät Elizabeth II. als eine Frau von liebevollem Wesen, die jedem einzelnen ihrer Untertanen eine echte Mutter sein wollte. Und Jahre später, besonders wenn sie niedergeschlagen war,
spann Flora ihre eigene Version von Mrs. Bellows’ Geschichten über die Queen. »Ich glaube, ich war auf dem Holzweg«, sagte Flora laut, während sie eine Kerze auf dem Geburtstagskuchen aus Schokolade zurechtrückte. »Aber daran bin nur ich allein schuld. Nur ein wahrer Dummkopf würde erwarten, daß die Queen sich für irgendeine hausgemachte Silberpolitur interessiert. Gott sei Dank weiß Grandpa nicht, was ich getan habe: jetzt geht mir auf, wie entsetzt er über meine Unverschämtheit wäre. Im Unterschied zu Mrs. Bellows betrachtet er Ihre Majestät fast als Heilige, die noch nie in ihrem königlichen Leben gebackene Bohnen gegessen hat und lediglich aus der Ferne verehrt werden darf. Ich wollte ja nur, daß dies Grandpas allerschönster Geburtstag wird, weil ich glaube, daß er sich wegen seines Alters Sorgen macht. Er fragt sich, was aus Sir Henry und Gossinger Hall werden soll, wenn er sich nicht mehr um alles kümmern kann. Außerdem« – Flora seufzte – »weiß Grandpa, daß er der einzige Mensch ist, den ich habe und der mich liebt. In mancherlei Hinsicht sieht er mich immer noch als das kleine Mädchen von früher. Aber vielleicht ändert sich das allmählich.« Sie ging zum Spiegel über dem Bücherregal und faßte ihr Haar wieder zu einem ordentlichen Knoten zusammen. Sie hatte babyfeines braunes Haar, nicht unbedingt ideal, um es mit Gummibändern und Spangen zusammenzufassen, doch ihr Großvater hatte ihr immer zugeredet, es ja nicht abschneiden zu lassen. Vielleicht deshalb, dachte Flora, weil meine Mutter wunderschönes langes Haar hatte und er etwas an mir sehen will, das ihn an sie erinnert. Um so mehr hatte es sie überrascht, als Grandpa heute morgen beim Frühstück, aus heiterem Himmel, gesagt hatte: »Flora, warum denkst du nicht darüber nach, mal etwas anderes mit deinem Haar anzufangen? Eine etwas modernere Frisur zu tragen?«
»Tja, das ist der Beweis«, teilte Flora ihrem Spiegelbild mit, »daß sein Geburtstag ihm zu schaffen macht. Er denkt vermutlich darüber nach, ob er mich nicht langsam aus dem Nest scheuchen sollte. Die meisten Mädchen wären wohl schon vor langer Zeit ausgeflogen. Aber ich könnte Grandpa niemals verlassen.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Und ich muß zugeben, daß ich noch aus einem anderen Grund gern auf Gossinger bin, auch wenn Mylady eine Nervensäge ist. Es ist wegen Vivian.« Das Blut stieg ihr in die Wangen, und sie stellte sich vor, was ihr Großvater sagen würde, wenn sie ihm gestünde, daß sie ein Mitglied der Familie in Gedanken beim Vornamen nannte. »Aber ich kann nicht dagegen an.« Flora wandte sich vom Spiegel ab und preßte die Hände an ihr Gesicht. »Ich bin wie eines dieser bemitleidenswerten Mädchen im Märchen, die sich in den schönen Prinzen verlieben. Obschon Cinderella genaugenommen doch nicht so bemitleidenswert war, denn sie hat ihn ja schließlich geheiratet. Und außerdem habe ich mich nicht auf den ersten Blick irrsinnig in Vivian verknallt. Bei unserer ersten Begegnung muß ich etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Und ich hatte eine Wahnsinnsangst vor ihm, bis ich wenigstens sieben war, weil ich ihm anscheinend immer im Weg war, wenn er die Stufen hochstürmte. Erst als wir eines Nachmittags zusammen mit Murmeln spielten, dachte ich, daß er außer Grandpa der netteste Mensch auf der Welt wäre. Und ich muß wenigstens sechzehn gewesen sein, bis es so schlimm um mich stand, daß die Welt aus den Fugen geriet, wenn es nur hieß, er werde am Wochenende nach Gossinger Hall kommen.« Erst da blickte Flora auf die Uhr auf dem Kaminsims und stellte fest, daß es zehn nach vier war und sie sich mit dem Servieren des Tees ernsthaft verspätet hatte. Sie kramte in einer Schublade, griff sich eine saubere Schürze und hastete in die
Küche, wo Mrs. Much, die derzeitige Haushälterin, ungeduldig mit dem Fuß klopfte und auf ihre Uhr blickte. »Tut mir leid.« Flora griff nach dem nächstbesten Tablett und verschwand in die Halle. Fünf Minuten später, nachdem sie zwei weitere Tabletts nach oben gebracht und auf dem Servierwagen aus Eiche abgestellt hatte, der zu diesem Zweck am Treppenabsatz stand, schob sie die schwere, beschlagene Tür zum Turmzimmer auf und trat ein. Sie sah aus wie das Dienstmädchen in einem Roman von Agatha Christie, wie Lady Gossinger zum wiederholten Mal mit tiefer Genugtuung feststellte. »Es tut mir furchtbar leid, daß ich mich verspätet habe!« Zum Glück ging Floras Keuchen in dem Rattern der Räder auf dem Steinfußboden unter. Ein Teelöffel flog vom Servierwagen. Vivian sprang auf und versuchte, das silberne Geschoß aufzufangen. Vergeblich. »Ich begreife nicht, warum Sie überhaupt hier sind, Florie.« Lady Gossinger hatte den Namen des Mädchens auf diese Weise adaptiert, da sie glaubte, er entspreche so eher ihrem untergeordnetem Rang. »Nun stehen Sie nicht so da, Kind, als warteten sie darauf, daß Ihnen die Mandeln entfernt werden. Wo ist Ihr Großvater?« »Es geht ihm doch gut, oder?« erkundigte sich Sir Henry. »Hoffentlich nicht unpäßlich, der gute Mann? Sieht Hutchins gar nicht ähnlich, nicht selbst den Tee zu bringen. Ich weiß noch, wie er einmal halbtot die Stufen hochkroch, als er Lungenentzündung hatte.« »Es ist meine Schuld.« Flora heftete den Blick auf ihre Hände, während sie sich an Tassen und Untertellern zu schaffen machte. »Großvater hat mich eigens gebeten, ihn zu vertreten, weil er die Halle im Auge behalten wollte. Es ist eine Führung im Gange, eine Schulklasse, nur Jungen, und
Großvater befürchtete, der Lehrer wäre nicht imstande, sie im Zaum zu halten und jeden Unfug zu unterbinden.« »Ganz recht, das möchten wir ja vermeiden.« Sir Henry nahm eine Leinenserviette und breitete sie über seine Knie. » Großvater wird böse auf mich sein.« Flora reichte Miss Doffit Tasse und Unterteller. »Ich habe nicht auf die Uhr geachtet, und es tut mir wirklich sehr leid, daß Sie auf Ihren Tee warten mußten.« »Kopf hoch! Ist ja nichts weiter passiert.« Vivian, der den Teelöffel mittlerweile zwischen den Füßen von Cousine Sophie ausfindig gemacht hatte, half ihr, indem er eine Platte mit Gebäck herumreichte. »Sei so lieb und setz dich wieder hin«, wies Lady Gossinger ihren Neffen an. »Florie darf nicht noch dafür belohnt werden, daß sie ihre Pflichten vernachlässigt hat.« Sie sah das Mädchen streng an. »Ich hoffe doch sehr, wir bekommen nicht noch einmal solch ein verantwortungsloses Verhalten zu sehen.« »Nein, Mylady.« Flora wirkte geziemend zerknirscht. Und Lady Gossinger lehnte sich äußerst befriedigt zurück; sie hatte tatsächlich einen Moment lang geglaubt, Jung-Vivian habe dem Mädchen zugezwinkert, sich jedoch sogleich gesagt, daß es schlicht unmöglich war. Sein Augenlid hatte wohl nur gezuckt. Und selbst wenn sich hinter den guten Manieren und dem seriösen Gebaren Jung-Vivians ein lasziver Charakter verbarg, Lady Gossinger glaubte ganz gewiß nicht, daß ausgerechnet Flora das Tier in einem Mann zum Vorschein zu bringen vermochte. Sie war ein unscheinbares Mädchen, blaß und dünn; ihr braunes Haar war, wie es sich gehörte, zu einem Knoten zusammengesteckt. Und wenn sie auch nicht unbedingt dumm war, dachte Lady Gossinger nachsichtig, sprühende Intelligenz konnte man ihr ebensowenig bescheinigen. Aber eines mußte man Florie lassen: Sie trieb es nicht mit dem Metzgergehilfen
und war nie dabei ertappt worden, wie sie Myladys Kleider anzog oder einen Schluck von dem Sherry nahm, der für die Besuche des Pfarrers bereitstand. Außerdem mußte man zugeben, daß sie sich nicht nur nützlich machte, indem sie den diversen Haushälterinnen half, sondern auch im Geschenkshop assistierte. Mrs. Warren – die selten mit etwas zufrieden war – berichtete, die Tageseinnahmen hätten sich verdreifacht, seit Florie sich um den Einkauf kümmerte und Hutchins’ Silberpolitur verkaufte. »Brauchen Mylady sonst noch etwas?« Flora goß aus dem vorbereiteten Krug heißes Wasser in die Teekanne, dann packte sie mit beiden Händen den Griff des Servierwagens und wartete auf weitere Instruktionen. »Nein, das wäre vorläufig alles, Florie. Es sei denn« -Lady Gossinger wandte sich an ihren Mann – »du möchtest, daß sie rasch hinuntergeht und noch mehr Gebäck holt?« »Pardon!« Vivian erhob sich von seinem Stuhl. »Ich glaube, ich habe drei Stück Kuchen gegessen. Wie wäre es, wenn ich Nachschub aus der Küche hole? Ist doch ungerecht, wenn Flora für meine Sünden bezahlen soll, oder?« Lady Gossinger schien widersprechen zu wollen, doch Sir Henry sagte, er wolle kein Gebäck mehr. Er lächelte ein wenig zerstreut, stand auf und ging im Raum auf und ab. »Gehen Sie nur, Flora«, sagte er, »und Sie brauchen nicht wiederzukommen, um das Geschirr zu holen. Kann nicht zulassen, daß Sie sich so anstrengen, schließlich braucht Ihr Großvater Sie noch. Schicken Sie Tipp, ja genau. Ganz anständiger Bursche, dieser Tipp. Macht sich gern nützlich.« »Ja, Sir Henry.« Flora zog sich eilig zurück und vergaß, die massive Tür hinter sich zu schließen. »Du meine Güte, altes Haus! Was ist denn mit Hutchins los? Du wolltest es uns vorhin sagen, und jetzt diese seltsame Bemerkung zu Florie, daß ihr Großvater sie noch braucht.«
Lady Gossinger stellte ihre Teetasse auf den Beistelltisch neben ihrem Stuhl und blickte liebevoll-besorgt auf den Rücken ihres Mannes, der durch die Bleiglasscheiben nach draußen sah. Irgend etwas an seiner Haltung sagte ihr, daß er gesprungen wäre, wenn er ein wenig dünner und die Fenster ein Stück breiter gewesen wären. Jung-Vivian und Cousine Sophie spürten deutlich, wie aufgeladen die Atmosphäre war. Beide saßen völlig regungslos da. Mein lieber, einfühlsamer Henry, dachte Lady Gossinger. Er leidet, weil Hutchins seit Jahr und Tag bei ihm ist und ihm gewisse Dinge aufgefallen sind… Dinge, die mir entgangen sind, Hinweise darauf, daß der gute Mann nachläßt. Daß er Flora mit dem Tee zu uns schickt, ist ganz und gar unüblich auf Gossinger Hall. »Ist schon gut, Henry«, sagte Mylady laut und ging so leichtfüßig, wie ihre festen Schuhe es eben zuließen, zum Fenster hinüber. »Ich begreife, was du mir sagen willst, mein Lieber, und glaube mir, es macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Ganz im Gegenteil. Ich finde es außerordentlich mutig von dir, deinen Überzeugungen entsprechend zu handeln.« »Ach wirklich, meine Liebe?« Sir Henry sah sie entgeistert an. »Kann mir nicht erklären, wie du es herausgefunden hast. Aber könnte nicht glücklicher sein, weil du es auf diese Weise aufnimmst. War schon in Sorge, es könnte dir schwerfallen, die Situation zu akzeptieren.« »Ich weiß, du hältst mich für viel zu sensibel.« Lady Gossinger glättete vorsichtig ihr Haar, um ihren Heiligenschein nicht in Schief läge zu bringen. »Und glaub mir, Hutchins tut mir sehr, sehr leid, aber wenn die Zeit gekommen ist, ihn aufs Altenteil zu schicken, mein Lieber…« Sie fing den Blick ihres Mannes auf, und das Entsetzen, das in seinen Augen stand, beunruhigte sie. »Das ist es doch, was du mir sagen wolltest, oder, Henry?«
»Leider nicht, Mabel.« Der Baronet warf einen letzten sehnsüchtigen Blick zum Fenster, dann straffte er die Schultern. »Um es kurz zu machen – ich habe beschlossen, mein Testament zu ändern und Gossinger Hall Hutchins zu hinterlassen.« »Du hast was getan, du verdammter Schwachkopf?« Lady Gossingers Organ hätte jedem Gepäckträger Ehre gemacht. Das Echo pflanzte sich bis nach Bethnal Green fort, wo ihre Schwester Edna einer ihrer Kundinnen gerade die Haare wusch und sich fragte, wie sich ihr Enkel Boris wohl auf seinem Schulausflug nach Lincolnshire benehmen mochte.
Kapitel 4 Mr. Leonard Ferncliffe war ein Mann der Wissenschaften. Seit mehr als einem Jahrzehnt unterrichtete er elfjährige Jungen in teuren Schuluniformen in naturwissenschaftlichen Fächern und machte jetzt eine Entdeckung, die in seinen Augen für die Welt im allgemeinen und für ihn im besonderen von kolossaler Wichtigkeit war: Er konnte Kinder nicht leiden. Insbesondere Kinder männlichen Geschlechts. Um es noch unverblümter zu sagen, er verabscheute sie mit jeder Faser seines Körpers, der in einen Burberry-Regenmantel, eine beigefarbene Twillhose und die leichten Wollsocken gehüllt war, die seine Mutter per Hand für ihn wusch und in einem Nylonbeutel trocknete. Wäre in seinem Leben alles nach Plan verlaufen, dann hätte Mr. Ferncliffe jetzt nicht den Schulausflug beaufsichtigen müssen, der nach einer chaotischen Prozession durch die Stadt Lincoln auf Gossinger Hall seinen krönenden Abschluß fand. Eric Stodder, der Geschichtslehrer an der New Church Privatschule für Jungen, hatte bereits sämtliche Vorkehrungen für seine mittlerweile jährliche Pilgerfahrt getroffen, als er plötzlich zwei Tage vorher an Windpocken erkrankte. Woraufhin der Direktor Mr. Ferncliffe in sein Büro rief und ihm eröffnete, er sei der Glückliche, der Stodder ersetzen sollte. Zunächst schien es kein so besonders schlimmer Auftrag zu sein. Stodder rief vom Krankenbett aus an und sagte, er habe Lincoln ausgewählt, weil die Stadt randvoll mit Geschichte sei und es im Bailgate einen sehr guten Krawattenladen gab. So weit, so gut, hatte Mr. Ferncliffe in exakt dem Augenblick gedacht, als Tom Collier, ein gewöhnlich kooperativer Junge, im Bus seinen Nebenmann vollkotzte, während sie mitten im Londoner Verkehr steckten. Von da an ging es mit dem Tag in
halsbrecherischem Tempo bergab. Edward Whitbread hatte hochmütig die Information preisgegeben, daß sein Vater Lincoln als das York der armen Leute bezeichnete. Das Schloß sei ein Witz. Der Lucy Tower lohne das Klettern nicht. Und seien wir doch ehrlich, sagte Edward, hat man eine Kathedrale gesehen, hat man sie alle gesehen. Begreiflicherweise hatte Mr. Ferncliffe sich gerächt, indem er erwiderte, das gleiche ließe sich auch von Konfektläden sagen. Also würden sie, obwohl Mr. Stodder ihn auf einige sehr gute Läden am Steep Hill hingewiesen hätte, keine Zeit damit verschwenden, dorthin zu gehen. Ebenso begreiflicherweise verwandelten sich die Jungen, die erkannten, daß sie jetzt nichts mehr zu verlieren hatten, in wütende Monster. Was es höchst unwahrscheinlich machte, daß einem von ihnen irgendwann in der Zukunft der Schlüssel zu Lincolns Stadttoren überreicht werden würde. Als Mr. Ferncliffe jetzt in der großen Halle von Gossinger stand, zusammen mit zweiundzwanzig mürrischen Schuljungen, die entweder ihre Kopfhörer und Kassetten in die Luft schleuderten oder sich demonstrativ gelangweilt gegen die Heizkörper lehnten, schwankte er zwischen dem Wunsch, nach Hause zu seiner Mutter in Earl’s Court zu fahren oder aber eine echte Verzweiflungstat zu begehen – zum Beispiel in den Pub die Straße runter zu flüchten und sich einen jungen Wein zu bestellen. Mr. Ferncliffe war nicht besonders eingenommen von Gossinger Hall. Als er die Risse in den Wänden überprüfte, hatte er zwei Weberknechte entdeckt und war überzeugt, daß es im Haus von Weberknecht-Inkubatoren nur so wimmelte. Doch nachdem er es sich heldenmütigst verkniffen hatte, seine Hosenaufschläge nach Spinnen zu untersuchen, befahl er den Jungen, einen Kreis um ihn zu bilden, und fragte sie ab, was sie während der Führung gelernt hatten. Bedauerlicherweise
mußten sie noch gut eine Stunde totschlagen, bis der rettende Bus erschien. »Wir wollten in die Garderobe sehen«, sagte Scott Lowell. »Wie nicht anders zu erwarten war. Vermutlich wolltet ihr ein Schild aufstellen, auf dem steht: ›Hier saß John of Gaunt‹.« Mr. Ferncliffe rief sich mutig in Erinnerung, daß er bis zu seiner Pensionierung nur noch ganze dreißig Jahre durchzustehen hatte. »Und wir haben nicht ein Gespenst zu sehen gekriegt!« Barry Taylor-Hobbs klang durch und durch empört. »Der Vater von Edward Whitbread ist hier in der Nähe aufgewachsen, und er sagt, auf diesem Haus soll ein Fluch liegen.« »Und ich bin sicher, Mr. Whitbread hat recht, wie immer«, sagte Mr. Ferncliffe. »Treten wir in die Mitte der Halle, Jungs, damit wir uns den Kamin anschauen können. Versucht mal, euch vorzustellen, wie das Leben ausgesehen haben muß, als Gossinger Hall nur mit diesem Kamin beheizt wurde.« »Sieht aus wie ein alter Grillofen.« Seit Tom Collier sich im Bus übergeben hatte, war er nicht zu seinem gewohnten fröhlichen Gleichmut zurückgekehrt. »Wenn wir unsere Jacken in die Luft werfen«, schlug Lionel Robbins hilfsbereit vor, »könnten wir ein paar von diesen schmuddeligen alten Wimpeln runterholen; anschließend könnten wir sie verbrennen und sehen, ob der Rauch wirklich durch das Loch im Dach abzieht.« »Sicher nicht. Die Klappen sind geschlossen.« Mr. Ferncliffe mußte die Stimme heben, um sich Gehör zu verschaffen, als daraufhin ein Kriegsgeschrei ausbrach, angesichts dessen die Schotten und die Pikten es sich mit dem Grenzübertritt zweimal überlegt hätten. Es war schockierend, wie schnell die Jungs zu den kleinen Gangstern degenerierten, die in den Augen ihrer nichtsahnenden Eltern nur von Leuten abstammen konnten, deren Lebenszweck darin bestand, sich den lieben
langen Tag die Seifenopern im Fernsehen anzuschauen. »Ich bin sicher«, fuhr Mr. Ferncliffe mannhaft fort, »ihr habt alle gewaltig davon profitiert zu erfahren, daß das Wort ›Zapfenstreich‹ ursprünglich ein musikalisches Signal bezeichnete, auf das hin in den Heerlagern die Schankfässer verschlossen wurden.« Die einzige Person, die erkennen ließ, daß sie zuhörte, als Mr. Ferncliffe seine Arbeit tat, war das zierliche braunhaarige Mädchen in der altmodischen Dienstmädchentracht, das so plötzlich und still wie ein Gespenst neben ihm aufgetaucht war. Ein Schulblazer schwirrte an ihrem Kopf vorbei und ließ ihr Lächeln ein wenig schief ausfallen, als sie ihm mitteilte, der Geschenkshop plus Café würde in einer halben Stunde schließen. »Es ist noch Mokka-Walnuß-Kuchen da, Sir«, fügte sie hinzu. »Ach ja?« Mr. Ferncliffe ging das Herz auf. »Es ist ein ausgezeichneter Kuchen. Mein Großvater backt ihn selbst, und wir haben schon Besucher sagen hören, es sei der beste, den sie je gegessen hätten.« »Selbstgebacken?« Mr. Ferncliffes verwundete Seele erwärmte sich für diese schlichte Tochter Lincolnshires. Er sah bereits im Geiste, wie er ihr bei einer Tasse Milchkaffee das Herz ausschüttete. Die stampfenden Schritte und das wilde Gelächter der Jungen verklangen zu einem sporadischen Echo und gemahnten an ein Gewitter, das sich hinter einen fernen Hügel zurückzog. Dieses Mädchen, ein kleines Geschöpf mit unscheinbarem Gesicht, würde ihm rührend dankbar dafür sein, daß er in seinem Burberry-Regenmantel und den glänzend polierten Schuhen sie wie einen Menschen behandelte, der zu Erkenntnis und Einfühlung fähig ist. Sie hatte Sommersprossen, bemerkte er jetzt, ungewöhnlich für einen Menschen mit dunkelbraunem Haar. Mr. Ferncliffe war besonders empfänglich für Sommersprossen.
Sie würde sich Hals über Kopf in ihn verlieben, beschloß er, während sie ihm den Zucker reichte. Und danach – die Ärmste – würde sie mit bittersüßem Lächeln denken, daß die gemeinsame halbe Stunde mit diesem attraktiven Fremden sie für jeden anderen Mann, der noch ihres Weges kommen würde, verdorben hatte. Mr. Ferncliffe neigte zu derlei romantischen Phantasien. Es war unwahrscheinlich, daß seine Mutter von ihnen erfahren und ihm deswegen Schwierigkeiten machen würde, so wie damals, als er bei einer Verabredung zum Mittagessen mit einer jungen Dame beinahe eine Bindung eingegangen war, indem er eine Flasche französischen Wein bestellte. Dieses Mal jedoch ging Mr. Ferncliffe in seiner Phantasie einen Schritt weiter als gewöhnlich. Er stellte sich vor, wie das Mädchen aus Lincolnshire die Finger in seinem Haar verflocht und ihm mit verschleiertem Blick in die Augen schaute, während sie gelobte, so viele der Jungs zu ermorden, wie zu seinem Glück erforderlich war. Dies würde ihn ihr natürlich verpflichten, was hieß, daß er ihr ganz besonders behutsam Lebewohl sagen mußte. »Pardon.« Er schüttelte den Kopf, um ihr Gesicht wieder scharf zu sehen. »Ich habe nicht mitbekommen, was Sie gerade gesagt haben.« »Ich habe mit allem Respekt vorgeschlagen, Sir« – sie stand auf den Zehenspitzen und legte die Hände an den Mund – »die jungen Gentlemen mit Kuchen und Schokoladenkeksen vollzustopfen. So können Sie sich vielleicht einen Augenblick Ruhe verschaffen, und mein Großvater wird Ihnen nicht die Hölle heiß machen, wenn er Sie erwischt.« »Ihr Groß… – Meinen Sie Sir Henry Gossinger?« Mr. Ferncliffe verlor das Gleichgewicht, als einer der Jungen mit voller Wucht gegen ihn prallte, bevor er mit mehreren seiner Klassenkameraden verknäuelt zu Boden ging. Hatte er sich
unerlaubte Freiheiten gegenüber einer jungen Frau aus einer der besten Familien Großbritanniens herausgenommen? »Sir Henry?« Das Mädchen blickte auf ihre Uniform, offenbar fragte sie sich, ob Mr. Ferncliffe sie mit einem feinen Kleid verwechselt hatte. »Nein, Sir, mein Großvater ist Hutchins, der Butler. Gewöhnlich behält er die Besucher streng im Auge. Und es ist ein Wunder, daß er noch nicht hier war, um Ihnen zu sagen, Sie sollten diese Burschen ermahnen, sich zu benehmen.« Sie zögerte und machte sich an einer losen Haarsträhne zu schaffen und versuchte, sie in den Knoten hinten in ihrem Nacken zu schieben. »Sie haben ihn nicht zufällig gesehen, Sir?« »Ich glaube nicht.« Wenn Mr. Ferncliffe unkonzentriert klang, dann deshalb, weil er ganz und gar von dem Gefühl in Anspruch genommen war, nicht die gebührende Anerkennung zu finden. Diese unbedeutende junge Frau hielt ihn nicht für unwiderstehlich. Ja, sie schien nicht im geringsten beeindruckt von ihm oder seinem Burberry-Regenmantel zu sein. Möglicherweise verachtete sie ihn sogar als einen Schwächling der allerschlimmsten Sorte. Einen Mann, der sich von Schuljungen auf der Nase herumtanzen ließ. »Großvater hat graue Haare«, sagte sie. »Ach ja?« Mr. Ferncliffe fütterte seinen wissenschaftlichen Verstand mit dieser Information und zog eine Niete. »Er trägt einen Mittelscheitel.« »Wirklich?« »Er ist mittelgroß und…« »Ist er verschwunden?« Kaum waren ihm diese Worte entschlüpft, wußte Mr. Ferncliffe, daß er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Seine Stimmung hob sich beträchtlich: Hier war die Maid in Bedrängnis, nach der sein Herz von jeher verlangte. Was machte es schon, daß sie nicht den Ritter in schimmernder Rüstung in ihm erkannte? Er würde ihr
beweisen, daß Ritterlichkeit sein zweiter Vorname war. Eigentlich lautete sein zweiter Vorname Herbert, aber diese Enthüllung konnte er zu einem späteren Zeitpunkt machen, bei einem Glas Rotwein. Wenn er ihr helfen sollte, mußte er zunächst eine entscheidende Frage stellen. »Und Ihr Name ist?« »Flora.« Sie bekundete geziemende jungfräuliche Überraschung. »Und Grandpa ist nicht verschwunden. Ich kann ihn nur nicht an einem der gewohnten Plätze finden. Wenn eine Führung stattfindet, bleibt er zumeist in der Nähe der alten Vorratskammer, wo die Silbersammlung ausgestellt ist, aber…« »Ich helfe Ihnen suchen.« Mr. Ferncliffe schob die Hand in die Tasche seines Regenmantels und brachte statt des Schwerts eines Drachentöters Stift und Notizblock zum Vorschein. »Lassen Sie mich nur rasch ein paar Einzelheiten notieren, damit ich Ihnen den Kummer ersparen kann, die Polizei anrufen zu müssen, wenn wir Ihren Großvater nicht finden.« »Aber so schlimm ist es doch gar nicht.« Flora wich vor ihm zurück und wäre um ein Haar über zwei Jungen gestolpert, die auf dem Fußboden saßen und sich wie der Rest der Truppe entschieden hatten, still dem sich entfaltenden Drama zuzuhören. »Es tut mir leid, Sir, wenn ich Ihnen den Eindruck vermittelt habe, ich sei in Sorge. Grandpa ist jetzt vermutlich in der Küche und trinkt eine Tasse Tee mit der Haushälterin.« »Und wenn nicht?« ließ sich Mr. Ferncliffes Stimme mit ungewohnter Inbrunst vernehmen. »Was ist, wenn der arme Alte das Haus verlassen hat, in diesem Augenblick verloren über die Straße irrt und zur beklagenswerten Beute des Gegenverkehrs wird?« Flora preßte die Finger an die Schläfen, holte tief Luft und rang sich dann ein Lächeln ab. »Grandpa ist bei vollem Verstand. Er ist ebenso vernunftbegabt wie Sie, Sir.« Das
spöttische Kichern eines der Jungen füllte die winzige Pause. »Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, aber ehrlich gesagt haben Sie schon genug damit um die Ohren, auf zwanzig Jungs aufpassen zu müssen, ohne sich auch noch um mich oder Grandpa Sorgen zu machen.« »Zweiundzwanzig.« Mr. Ferncliffe steckte Stift und Notizbuch wieder ein und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie zurückgewiesen er sich fühlte, als Flora Hutchins durch eine Türöffnung zu seiner Linken verschwand. Er sagte sich, daß er ohne sie besser dran war, daß sie ja nicht mal zählen konnte und daß seine Mutter sie gehaßt hätte. Dann überprüfte er die Anzahl der Jungen in der großen Halle und stellte fest, daß Flora recht gehabt hatte. Es waren zwanzig. Also wo steckten die anderen zwei? Mr. Ferncliffe wollte diese Frage gerade den verbleibenden kleinen Ungeheuern stellen, als Edward Whitbread aus der Richtung des Cafés herbeigeschlendert kam. »Echt guter Sahnekuchen«, verkündete er, als sei das Erklärung genug. »Wie kannst du es wagen, dich ganz allein von der Gruppe zu entfernen?« Mr. Ferncliffe, der nicht verhindern konnte, daß seine Stimme elend schrill klang, stopfte die Hand in die Tasche seines Regenmantels und wurde von dem Stift gestochen. »Ich war nicht allein, Sir«, erwiderte Edward mit der Überheblichkeit, die er auf den Knien seines Vaters sitzend erlernt hatte. »Ich war mit Boris Smith zusammen. Er sagte, er wolle sich den Porno in der Kapelle angucken. Er dachte, sie wäre voll mit Skulpturen von Heiligen ohne Klamotten. Widerlich, die Phantasien mancher Leute.« Edward seufzte schwer. »Wie dem auch sei, jedenfalls dachte ich, Sir, daß ich zum Wohl der Schule mitgehen und ein Auge auf ihn haben sollte. Schließlich ist er ja nicht wie wir übrigen, oder?«
Mr. Ferncliffe nagte innen an seiner Wange. Es stimmte, Boris war nicht aus demselben Holz geschnitzt wie seine Klassenkameraden. Jedes Jahr bot die New Church Privatschule für Jungen einen Freiplatz für einen unwürdigen Kandidaten von weniger wohlhabender Herkunft an. Boris war einer der Nutznießer des Programms, und Mr. Ferncliffe hatte bei mehr als einer Gelegenheit an der Weisheit der Schulleitung gezweifelt. Zum Beispiel, als Boris’ ChemieExperiment sich als Demonstration entpuppte, wie man das Labor in die Luft jagen konnte. Doch Mr. Ferncliffe wußte auch, daß Edward Whitbread ein notorischer Unruhestifter war. Er konnte unmöglich glauben, daß er dem anderen Jungen nur nachgegangen war, um ihn von Dummheiten abzuhalten. »Und wo ist Boris jetzt?« fragte er eisig. »Stopft er sich im Café mit Sahnekuchen voll?« »Ich glaube nicht, Sir.« Edward grinste zweien seiner Kumpane zu, die nur zu erpicht darauf waren, ihn noch anzustacheln. »Ich habe Boris abgeschrieben, nachdem er irgend so ein Ammenmärchen über seine Tante Mabel erzählte, die angeblich Lady Gossinger sein soll. Wie mein Vater immer sagt, es hat wirklich keinen Sinn, diesen Leuten helfen zu wollen. Ob Sie’s glauben oder nicht, Mr. Ferncliffe, Boris sagte, er wolle sich in die Privaträume der Familie schleichen und das alte Mädchen überraschen.« Edward gab sich abstoßend tugendhaft. »Ich war nicht bereit, mich an dieser Aktion zu beteiligen, Sir; also ging ich ins Café, weil ich dachte, Sie würden dort auch bald mit den übrigen Jungs auftauchen. Und die Frau am Tresen, übrigens ganz in Ordnung für diese Art Leute, bestand darauf, ich müsse etwas essen, um Kraft für die Heimfahrt zu sammeln.« Mr. Ferncliffe knirschte mit den Zähnen. Die Pflicht gebot, daß er sich auf die Suche nach Boris machte, aber er wäre nicht im mindesten enttäuscht gewesen, hätte er entdeckt, daß der
zweite Verschwundene, der Butler namens Hutchins, ein besonders unausgeglichener Vampir war, der den Jungen in den Hals gebissen hatte, bevor er ihn zu einer Führung durch die unterirdischen Verliese mitnahm. Da Wunschdenken keine exakte Wissenschaft ist, führt es selten zu hundertprozentigem Erfolg, selbst an Orten mit der düsteren Geschichte von Gossinger Hall. Und es hätte Mr. Ferncliffe keineswegs entlastet, hätte er gewußt, daß der muntere Boris Smith nicht im mindesten ahnte, wie tief er in der Tinte steckte. Das war typisch für Jung-Boris, der voll und ganz im Augenblick zu leben pflegte. Er hatte seiner Großmutter Edna versprochen, sich auf dem Schulausflug gut zu benehmen, und in besagtem Augenblick hatte er es völlig ernst gemeint. Er hatte zugegeben, daß sie, auch wenn ihr blondgefärbtes Haar darüber hinwegtäuschen mochte, allmählich zu alt wurde, um weitere nervliche Schocks zu verkraften. Er hatte außerdem versprochen, den Kids in seiner Klasse nicht zu verraten, daß seine Großtante Mabel die Herrin über Gossinger Hall war. Großmutter hatte ihm erklärt, man könne sie eventuell auffordern, die Schulgebühren für die letzten vier Halbjahre herauszurücken, wenn die Schulleitung diese Information in die Hände bekam. Und was sollte dann aus ihnen werden? Draußen auf der Straße würden sie sitzen, mit einer Matratze und nur einem Kochtopf. Bevor Boris loszog, um zu seinen Klassenkameraden zu stoßen, hatte er Großmutter versichert, er habe völlig verstanden. Aber wie es seine Gewohnheit war, hatte er seine Versprechen vergessen. In seiner Bescheidenheit verzichtete er darauf, sich den Unfug mit Edward Whitbread als Verdienst anzurechnen, da er ja nur eine Nebenrolle gespielt hatte, die ihm wenig mehr als das Versprechen abverlangte, über ihren Abstecher zu der mittelalterlichen Toilette und das darauffolgende Highlife den Mund zu halten. Und danach, in
kameradschaftlicher Stimmung, hatte Boris ihm von Großtantchen Mabel erzählt. Edward hatte sein Ehrenwort gegeben, nichts zu verraten, und Boris hätte ihm beinahe vertraut; doch plötzlich schien es ihm angesichts der guten Chance, daß die Aktivitäten dieses Nachmittags ihn einholten, er könne ebensogut aufs Ganze gehen, Großmutters sämtlichen Wünschen zuwiderhandeln und sich in die Höhle der alten Hexe alias Lady Gossinger wagen. Vielleicht konnte er ihr ja wenigstens fünf Pfund abluchsen. Boris war im Begriff, die Tür mit der Aufschrift »Privat« zu öffnen, als sie mit einem Ächzen aufschwang, das ihn vor Schreck auf sein Hinterteil plumpsen ließ. Schnell kroch er unter einen mit Broschüren bedeckten Tisch, um zu verhindern, daß er am Schienbein getroffen wurde. Ehe er wieder aufstehen konnte, erschienen zwei Männer, die sich unterhielten, und er beschloß, lieber zu bleiben, wo er war, um nicht zu riskieren, daß man ihm befahl, er solle verduften, und er der Gelegenheit beraubt wurde, Großtante Mabel zu beschwatzen. »Muß schon sagen, ich komme mir wie ein ganz übler Schuft vor«, sagte der ältliche Mann mit der Glatze und dem dicklichen Körper eines Menschen, der nur selten, wenn überhaupt, die Vanillesauce zum Pudding ausschlägt. »Hasse es, eine Frau weinen zu sehen.« »Ich fürchte, es war ein ziemlicher Schock für sie, Onkel Henry«, erwiderte der jüngere Mann, der Boris wie ein richtiger feiner Pinkel vorkam. »Du denkst wohl, ich hätte es ihr unter vier Augen sagen sollen, wie, Vivian? Eigentlich unnötig, daß du und Sophie dabei wart. War mir natürlich bewußt. Aber ich bin von Natur aus ein Feigling.« Der ältere Mann sah zutiefst bekümmert aus. »War ich immer, werde ich immer sein, schätze ich. Deshalb habe ich Mabel ja überhaupt geheiratet, wenn du die ganze Wahrheit wissen willst.«
»Du brauchst keine Beichte vor mir abzulegen. Manche Dinge bleiben am besten ungesagt, Onkel Henry.« Boris erkannte, daß die beiden förmlichen Typen über Großmutters einzige Schwester, seine Großtante Mabel, sprachen. »Zum Henker damit, Vivian«, sagte der ältere Mann, »ich muß mit jemandem reden. Habe einen verflixt dummen Fehler gemacht an dem Tag, als ich Mabel kennenlernte. Dachte, sie kommt wegen der Stellung als Haushälterin. Hatte die ganze Woche in der Zeitung inseriert. Wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß sie zu den Touristen gehört. Sie sah genau so aus, verstehst du? Wie eine Haushälterin, meine ich. Und sie hatte keine Kopfhörer auf, also kannst du doch sicher nachvollziehen, mein Junge, warum ich alles in den falschen Hals bekam?« »Ich begreife nicht, worauf du hinauswillst, Onkel Henry.« »Ich weiß, es klingt verflixt merkwürdig, mein Junge, aber als ich sie fragte, ob sie auf Gossinger Hall glücklich sein könnte, dachte sie, ich stelle ihr die gewisse Frage. Was soll ein Mann in so einer Situation tun?« »Du hättest sie über das Mißverständnis aufklären können. « »Das ist die eine Möglichkeit.« Sir Henry blickte kummervoll zu Boden. »Aber da ist letztlich auch die Frage der Buße. In den letzten Jahren bin ich recht religiös geworden. Hat doch keinen Sinn, die Kapelle ungenutzt zu lassen, wenn du verstehst, was ich meine, mein Junge.« »Nicht ganz.« Boris sah, daß der junge Mann namens Vivian sich alle Mühe gab, nicht begriffsstutzig zu wirken. »War nie sehr gut darin, mich zu erklären.« Sir Henry straffte die Schultern und sah seinem Neffen in die Augen. »Aber um es kurz zu machen, als Mabel mich so unbedingt heiraten wollte, dachte ich plötzlich, mir würde eine Bestrafung angeboten, die auf ihre bescheidene Weise eine
Wiedergutmachung für die Sünden der Vergangenheit sein könnte. Nicht meiner Vergangenheit, wenn du verstehst, was ich meine, Vivian. Bin ein langweiliger Kerl. War nie interessant genug, um irgendwelche großen Laster pflegen zu können. « »Wessen Vergangenheit dann, Onkel Henry?« » Genug der Worte, mein Junge.« »Es geht doch nicht etwa um diese Sache mit dem Familiensilber?« »Darüber dürfen wir nicht mal reden, Vivian; die Wände haben Ohren, weißt du. Habe meinem Vater einen feierlichen Eid geschworen, als der arme Kerl sich auf dem Sterbebett die Lunge aus dem Leib hustete. Damals hat er mir die Geschichte erzählt. So wie dein Vater sie dir erzählt hat, bevor er verschied. So ist es eben, Familientradition und so weiter.« Es war eine sehr lange Ansprache für Sir Henrys Verhältnisse, und er war noch nicht fertig. »Ich hoffe, du verstehst folgendes, mein Junge: Ich habe das Gefühl, die Entscheidung, Gossinger Hall Hutchins zu hinterlassen, bringt unsere Familie dem Ziel näher, die Vergangenheit zur letzten Ruhe zu betten.« »Ich bin überzeugt, du hast getan, was du für das Beste hältst, Onkel Henry«, antwortete Vivian, »aber offen gestanden glaube ich nicht, daß dies im Augenblick ein sehr großer Trost für Tante Mabel ist.« »Da könntest du recht haben.« In diesem Augenblick sah Sir Henry in den Augen von Boris wie eine präparierte Eule aus. »Aber letzten Endes ist es ja nicht so, als würde Hutchins Mabel nach meinem Ableben aus dem Haus jagen. Bisher habe ich mit ihm noch nicht über meine Pläne gesprochen, aber ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß er sie bitten wird, so lange auf Gossinger zu bleiben, wie sie mag.« »Um Flora die Mutter zu ersetzen?« Vivian hob eine Augenbraue. »Ich mag mich täuschen, Onkel, aber Tante
Mabels Gefühlsausbruch hat mir eher den Eindruck vermittelt, sie wolle lieber tot sein, als unter diesen Bedingungen zu bleiben.« »Du glaubst, sie hat sich so sehr aufgeregt, ja?« Sir Henry wirkte geknickt, bis ihm etwas einfiel. »Es ist ja nicht so, als stünden ihr keine anderen Alternativen offen, mein Junge. Ich habe vor, ihr eine ansehnliche Summe Geldes zu hinterlassen, genug Geld, um für ihre Bequemlichkeit zu sorgen. Außerdem hat sie noch die Wohnung in Bethnal Green, mußt du wissen. Sie hat dort eine Schwester, und wenn ich nicht mehr bin, möchte sie vielleicht zu ihren Wurzeln zurückkehren. Geht doch nichts über die eigene Familie, oder? Tatsache des Lebens.« Sir Henry atmete vernehmlich auf. » Mit der Zeit wird Mabel sich schon davon erholen.« »Wenn du meinst, Onkel Henry.« »Sie ist eine gute Frau. Möchte nicht, daß du denkst, ich hätte sie nach all den Jahren nicht verflixt liebgewonnen.« Wer’s glaubt, dachte Boris. Er drückte sich noch enger an die Wand, als Sir Henry sich zerstreut umsah und sagte, er wolle Hutchins suchen, um die Lage mit ihm zu erörtern. Woraufhin Vivian Gossinger erklärte, er wolle auf ein Bier in den Pub gehen. Und nachdem die beiden noch eine Weile geblökt hatten wie zwei Schafe, schlenderten sie durch den Korridor davon, und Boris konnte endlich aufstehen und nachdenken. Der Junge konnte sich eines Anflugs von Mitgefühl für Großtante Mabel nicht erwehren, wenngleich sie für Großmutter nie auch nur etwas halbwegs Nettes getan hatte. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß die Situation ihm gewisse Möglichkeiten eröffnete. Im Augenblick würde Tantchen sich garantiert von aller Welt verlassen fühlen, verraten von ihrem Ehemann und im Stich gelassen von dem stupiden Neffen, wie also konnte sie einen Besuch von Boris anders empfinden als
einen Sonnenstrahl, der ihr von Gott gesandt wurde, um ihre dunkelste Stunde zu erhellen? Boris öffnete die Tür mit der Aufschrift »Privat« und erklomm eine enge, gewundene Treppe, die nur unzulänglich von einem Fenster von der Form und annähernden Größe eines Pfeils erhellt wurde. Es war, als klettere man aus einem Brunnen, dachte er, und er würde vermutlich wenigstens eine Woche lang stinken wie ein Frosch. Boris empfand einen Hauch von Zuneigung für die Sozialwohnung, die er mit Großmutter bewohnte. Meist roch es dort nach geröstetem Käse oder Fish & Chips. Bis er die oberste Stufe erreicht hatte und sich in einem schmalen Flur mit einer Tür wiederfand, war er überzeugt, daß Großtante Mabel bei seinem Anblick in Freudentränen ausbrechen würde. Seine einzige Befürchtung war, daß sie ihn auch mit nassen Küssen überhäufen würde, oder, schlimmer noch, ihn auf den Schoß nehmen wollte. Aber, so sagte er sich weise, während er die Hand hob, um an die Tür zu klopfen, wenn er mit zehn Pfund in der Tasche wieder ging, wäre alles halb so wild. Boris klopfte ein zweites Mal. Als er keine Antwort erhielt, drückte er mit beiden Händen die massive eiserne Türklinke hinunter und schob die Tür auf. In dem komischen runden Zimmer befanden sich zwei Frauen. Eine lag auf dem Sofa, die andere, die der Königinmutter sehr ähnlich sah, beugte sich über sie und sprach in einer Art Singsang. »Ich bin’s, Cousine Sophie, Mabel…« Sie hatte Boris nicht bemerkt, und er hielt es für ein Gebot der Höflichkeit, sie zu unterbrechen. »Hallo«, sagte er lauter, als er vorgehabt hatte. »Ich bin gekommen, um dich in der Stunde der Not zu besuchen, Großtante Mabel. Ich bin Boris, der einzige Enkel deiner Schwester Edna, und in diesem Augenblick fließt mein Herz über von – «
Er kam nicht dazu zu sagen, von was, denn seine Großtante Mabel fuhr plötzlich auf, stieß einen durchdringenden Schrei aus und warf ihm ein Kissen an den Kopf. »Raus hier, du kleines Ungeheuer«, brüllte sie, »bevor ich dich nach draußen schleifen, hängen, aufs Rad flechten und vierteilen lasse!« »Aber Tantchen, ich liebe dich…« Ein zweites Kissen traf ihn gegen die Brust. Boris verstand den Wink und ging zur Tür hinaus, wo er auf einen mageren ältlichen Mann stieß, der einen leeren Servierwagen in seine Richtung schob. »Guten Tag, junger Herr«, sagte Mr. Tipp. Selten war Boris in den elf Jahren seines Lebens verlegener gewesen. Doch es gelang ihm, nach außen eine Abgebrühtheit vorzuheucheln, die seiner New-Church-Schuluniform würdig war. »Jemand sollte Mylady in der Garderobe einschließen«, sagte er, bevor er sich abwandte und blitzschnell die Stufen hinunterrannte. Zum Glück, so dachte er jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, stieß er nicht auf Mr. Ferncliffe, der kurz zuvor die Suche nach seinem verschwundenen Schüler aufgegeben hatte und seinen Kummer jetzt in einer Tasse Tee ertränkte.
Kapitel 5 »Teure Mabel.« Cousine Sophies Singsang drang wie durch dichten Nebel an Lady Gossingers Ohr. »Ich finde, du warst erstaunlich tapfer. Leg dich wieder aufs Sofa, meine Liebe, und ruhe deinen armen Kopf aus, während ich dir eine schöne Tasse lauwarmen Tee einschenke.« »Ist er weg?« Mylady öffnete vorsichtig ein Auge, bevor ihr wieder einfiel, daß ihr Leben ruiniert war. »Meinst du diesen schrecklichen kleinen Jungen, meine Liebe?« »Ednas Enkel? Er war wirklich hier? Gott helfe mir, ich hatte gehofft, es sei nur ein Alptraum gewesen. Aber eigentlich habe ich von Henry gesprochen. Hat sich aus dem Staub gemacht, wie? Oder versteckt sich das alte Haus hinter dieser halboffenen Tür und wartet darauf, daß ich ihm zurufe, wie unendlich dankbar ich ihm bin, daß er mich in seine Pläne eingeweiht hat, sein Testament zu ändern und Gossinger Hall dem Butler zu vermachen?« Die betrogene Ehefrau hob die Hand, um das Turmzimmer daran zu hindern, sich weiter in irrem schiefen Winkel um sich selbst zu drehen. Vergeblich. Sie drohte vom Sofa geschleudert zu werden und zutiefst gedemütigt auf dem Fußboden zu landen. »Henry war sehr durcheinander, und dazu hatte er auch allen Grund, Mabel.« Cousine Sophie versuchte zu verbergen, daß sie die Situation in vollen Zügen genoß, doch ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie aus der silbernen Teekanne einschenkte. »Als du deine Krämpfe bekamst, sagte er, Frauen seien in solchen Augenblicken gern allein, und stürzte davon, als seien ihm alle Dämonen der Hölle auf den Fersen. Wie es jeder vernünftige Mensch unter diesen Umständen getan hätte«, fügte Cousine Sophie rasch hinzu. »Welch ein Schock,
und das direkt nachdem du Käsegebäck gegessen hattest. Es ist ein Wunder, daß du noch bei uns bist, Mabel.« »Und ich nehme an, Jung-Vivian war ganze zwei Schritte hinter seinem Onkel, und keiner von beiden konnte soviel Rücksicht nehmen, die Tür zu schließen.« Lady Gossinger blinzelte eine Träne fort. »Es war der Junge – Boris war, glaube ich, sein Name –, er hat die Tür offenstehen lassen. Bei den jungen Leuten von heute gelten gute Manieren nichts mehr.« Cousine Sophie zögerte, dann fügte sie, offenbar in dem Versuch, das Feuer noch zu schüren, hinzu: »Flora hat es ebenso gemacht, als sie den Tee brachte, wenn du dich noch erinnerst.« »Und wenn ich denke, daß dieses stupide kleine Fräulein Niemand hier auf Gossinger die große Dame spielen wird, wenn Henry den Löffel abgibt. Wenn einem davon nicht speiübel wird! Wie meine Schwester Edna sagen würde.« Das Gesicht von Mylady verfärbte sich zu einem nahezu fluoreszierenden Purpurrot. »Da ich ein wenig mehr Klasse habe, begnüge ich mich mit Selbstmord.« »Aber das wäre doch sicher ein kleines bißchen voreilig! Vergiß nicht, meine Liebe, Henry hat sein Testament ja noch nicht geändert. Und in dieser unbeständigen Welt kann alles mögliche passieren. Man spricht zwar ungern über solche Dinge, doch Henry könnte zum Beispiel sterben, bevor er zu seinem Anwalt gehen kann. Zugegeben, eine sehr vage Möglichkeit, aber manchmal geht das Leben sehr seltsame Wege.« Sophie schüttelte weise den Kopf. »Henry ist so gesund wie ein Pferd.« »Aber er steht ja doch unter ungeheurem Druck.« Cousine Sophie ging auf Zehenspitzen mit der Tasse eiskalten Tees zum Sofa. Das meiste war auf den Unterteller geschwappt. »Trink das, Mabel, und vergiß nicht, du bist nicht allein. Ich stehe hinter dir.«
Nach dieser aufmunternden Bemerkung ging die alte Lady zur Tür hinüber und sah in dem Augenblick, als sie sie schließen wollte, Vivian Gossinger auf der Treppe. Der junge Mann stand in einem komischen Winkel, so daß sie nicht zu sagen wußte, ob er kam oder ging, doch soweit es sie betraf, war das ohnehin gleichgültig. »Geh weg!« formte sie mit den Lippen, berauscht von ihrer Macht. »Deine Tante Mabel will dich nicht sehen. Im Augenblick hat sie eine unüberwindliche Abneigung gegen Männer.« »Was murmelst du da?« wollte Lady Gossinger wissen. »Nichts, meine Liebe. Ich überlege nur, wie ich dir am besten helfen kann.« Cousine Sophie versuchte, ihr Gesicht zu glätten, doch als sie sich wieder dem Zimmer zuwandte, waren noch Spuren ihres Triumphs rings um ihren Mund sichtbar. Ihr Blick blieb kurz an dem Eichenschrank neben dem Kamin hängen, in dem die Sherryflasche für den Pfarrer bereitstand. Ein anstrengender Mensch, der Pfarrer, mit einer Nase wie eine alte Hexe. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde er sagen, daß Gott ihr heute die Gelegenheit bot, auf die Sophie seit fünf Jahren, seit sie auf Gossinger Hall war, wartete. Endlich wurde sie gebraucht. Dringend gebraucht. Und wenn sie ihre Trümpfe richtig ausspielte, würde Mabels Dankbarkeit ihr vielleicht endlich die Sicherheit geben, daß sie nicht plötzlich irgendwann mit einem Einkaufswagen auf der Straße stand und auf die Heilsarmee angewiesen war. Bilder des Glücks füllten Sophies Kopf an. Bilder, die mit einem Frühstück im Bett begannen und damit ausklangen, daß ihre Kissen von Händen aufgeschüttelt wurden, die bestrebt waren, jede einzelne Falte zu glätten, die den vollkommenen Nachtschlaf von Mabels Schutzengel stören könnten. Leider sprangen diese hoffnungsfrohen Bilder in Stücke, als Lady Gossinger mit furchteinflößendem Geklirre ihre Royal-Derby-
Tasse samt Unterteller fallen ließ und in lautes Schluchzen ausbrach. »Ach, geh weg, Sophie, geh schon!« Die fuchtelnde Hand von Mylady traf auf eine Damastserviette, und sie schneuzte sich dreimal ausgiebig die Nase. »Verschwinde, hörst du. Ich kann es nicht ertragen, dich anzusehen.« »Aber warum denn, Mabel?« Die alte Dame spürte, wie tief in ihrem Innern eine wunderschöne Seifenblase zerplatzte, und Tränen schossen ihr in die Augen. »Was habe ich getan? Was, in Gottes Namen, habe ich gesagt?« »Du warst dabei! Du warst Zeugin, wie all meine Unterschichteninstinkte Amok liefen! Du hast gehört, daß ich Henry angeschrien habe wie ein elendes Fischweib. Und als wäre das noch nicht genug, hast du aus allernächster Nähe die Zugabe mitverfolgt – als Boris auftauchte. Wenn es dir also nichts ausmacht, möchte ich jetzt ungestört versuchen, mich zu fangen, ehe ich wieder dahin zurückkrieche, wo ich hingehöre – in die Gosse.« »Lieber ein ehrliches Fischweib« – Cousine Sophie tupfte sich mit einem ihrer arthritischen Fingerknöchel die Tränen ab, bevor sie sich mit großer Würde bückte und die Porzellanscherben aufsammelte – »als eine feige Heuchlerin.« »Wie hast du mich genannt?« Mylady verschluckte sich, als sie Luft holte, und fing an zu husten. »Du hast schon richtig verstanden.« Cousine Sophie richtete sich auf und ging zu dem Papierkorb am Kamin. »Und ich muß über dich staunen, Mabel, weil du von Aufgeben sprichst, ohne auch nur versucht zu haben, für deine Rechte als Henrys Gattin zu kämpfen. Ich glaube fast, deine Schwester Edna hätte mehr Rückgrat, wenn ich sie auch nie zu Gesicht bekommen habe.« Lady Gossinger war tief getroffen. »Aber was kann ich denn tun?«
»Darf ich vorschlagen, Mabel« – Cousine Sophie war nach dem Erfolg ihrer nicht einmal sehr raffinierten List schon bedeutend munterer – »daß du deine weiblichen Waffen ins Spiel bringst?« »Was denn – soll ich mich in Henrys Arme werfen und seine Weste naßheulen?« Mylady machte ihrer Verachtung in einem hohlen Lachen Luft. »Solch ein Theater könnte vielleicht wirken, wenn ich blond und bildhübsch wäre, mit einem Gesicht, das aussieht, als hätte Gott es gestern morgen erst erschaffen. Zu deiner Information, Sophie, ich sehe aus wie ein Clown, wenn ich heule. Trotzdem danke, aber ich glaube, ich halte das bißchen Würde, das mir noch geblieben ist, lieber fest.« »Ich bin völlig deiner Meinung, meine Liebe. Mein Vorschlag bezog sich auf folgendes, Mabel: daß du dich fängst, bevor du Henry wieder unter die Augen trittst. Und dann sagst du ihm, es tue dir leid, daß du den Kopf verloren hast, weil du inzwischen seine Entscheidung von ganzem Herzen billigst.« Cousine Sophie setzte sich auf einen der Richterstühle gegenüber von Lady Gossinger. »Ja, du hältst ihn sogar für einen wahren Heiligen, weil er nach seinem Gewissen handelt, und du hast ihn nie mehr geliebt, warst niemals von solchem Stolz erfüllt, seine Gattin zu sein, wie in jenem Moment.« »Und was soll das nützen?« »Henry wird einsehen, daß er einen echten Goldschatz geheiratet hat.« »Und?« Lady Gossinger hob spöttisch eine Braue. »Wenn du Glück hast, wird er sich schließlich fragen, ob er sich nicht wie ein absoluter Schuft verhalten hat. Vor allem, liebe Mabel, wenn du den Worten Taten folgen läßt und die Temperatur aufdrehst.« »Sprichst du von der Heizung?«
»Nein, meine Liebe.« Cousine Sophie warf einen Blick zur Tür, als fürchte sie, jemand halte das Ohr ans Schlüsselloch. »Ich spreche – wenn du das vulgäre Wort verzeihst – von Sex. Männer sind solche Babys, wenn es um all diesen Unsinn geht. Zumindest entnehme ich das den Talk-Shows im Fernsehen. Und ich glaube nicht, daß es schaden würde, o nein, es könnte dir ungeheuer viel nützen, wenn du einen geballten Angriff vorträgst, vielleicht zwei- oder dreimal die Woche, bis bei Henry der Groschen gefallen ist.« »Und der wäre?« Mylady war nicht mal in ihrer Hochzeitsnacht derart nervös gewesen. »Daß er Gossinger Hall dir oder wenigstens Vivian hinterlassen sollte – was auf das gleiche hinausläuft, da der junge Mann klargestellt hat, daß er hier niemals leben würde. Du weißt, worauf ich hinauswill: durchsichtige Nachthemden, Schlafzimmeraugen und all solche Sachen. Das mag als eine unlösbare Aufgabe erscheinen, vor allem für eine Frau, die bereits die Wechseljahre hinter sich hat…« »Ich habe nichts dergleichen hinter mir!« »Nein, natürlich nicht.« Cousine Sophie gab sich alle Mühe, ihren kolossalen Schnitzer wieder auszubügeln. »Was habe ich da gesagt? Ich meinte nur… du wirkst so überaus… reif für dein Alter.« »Ich bin sicher, du willst mir nur helfen«, sagte Lady Gossinger unaufrichtig, »aber wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich jetzt allein sein, um mein Unglück richtig genießen zu können.« »Eine überaus kluge Handlungsweise, Mabel.« Die alte Dame rang sich ein unsicheres Lächeln ab. »Aber denk mal über meinen Vorschlag nach. Männer sind so empfänglich für weibliche Reize… ich glaube, das ist der Begriff, den die verheirateten Frauen aus meiner Bekanntschaft verwenden. Unterdessen, meine Liebe, werde ich versuchen, mich nützlich
zu machen, indem ich Erkundigungen einziehe, warum Tipp nicht erschienen ist, um das Teegeschirr zu holen. Vielleicht hat er deinen Wortwechsel mit diesem furchtbaren Jungen belauscht und hielt es für das beste, wiederzukommen, wenn du dich wieder gefangen hast.« »Vergiß Tipp! Das hat mir gerade noch gefehlt, daß dieser alte Knacker hier herumlungert, während ich versuche, die Scherben meines Lebens aufzusammeln!« Lady Gossinger wußte, daß sie furchtbar gewöhnlich klang, und es war ihr gleichgültig. »Was weiß denn ich, verdammt noch mal, vielleicht hat Henry ihm bereits ein Herrenhaus in Cornwall vermacht!« »Mach dir darüber keine Gedanken, meine Liebe.« Cousine Sophies Stimme klang erschöpft. »Außer Gossinger gibt es keinen Grundbesitz in der Familie. Es sei denn, du zählst das Witwenhaus mit.« »Ach, geh weg!« Mylady wollte gerade ein Kissen nehmen und nach ihr werfen, als die Tür aufging und sich wieder schloß und sie endlich allein war. Himmlische Stille. Endlich konnte sie ihr Unglück nach Herzenslust auskosten. Sie stand am Fenster, eine stämmige Frau in schlichtem Tweed, und die Tränen tropften ihr von der Nasenspitze. Vom Fenster aus konnte sie das Witwenhaus sehen, das Cousine Sophie erwähnt hatte und das nur durch die Straße und eine Gärtnerei von Gossinger Hall getrennt war. Man hatte das hübsche Tudorhaus an der Stelle errichtet, wo früher Lady Norminas Traumküche aus dem zwölften Jahrhundert gestanden hatte. Doch das. Witwenhaus würde keiner enteigneten Witwe als Zuflucht dienen können, da es an die Familie verpachtet war, die die Gärtnerei betrieb, und es war ebenso unmöglich, die Leute auf die Straße zu setzen -Lady Gossinger unterdrückte ein Schluchzen –, wie es unmöglich
war, daß Hutchins einfach tot umfiel, bevor Henry sein neues Testament unterschrieb. Letzten Endes, altes Mädchen, dachte die frühere Mabel Bowser, läuft es auf die uralte Frage hinaus: Bist du eine Frau oder eine Maus? Sie spürte, wie ihr Rückgrat an Substanz gewann. Allmählich verwandelte sie sich wieder in Lady Gossinger. Kein sinnloses Geschniefe mehr. Handeln war gefragt. Sie ging zu dem Wandschrank am Kamin und holte einen kleinen Gegenstand hinter der Sherryflasche hervor. Sie war zwar versucht, sich Mut in flüssiger Form zuzusprechen, entschied jedoch, daß sie die Aussicht, daß der Pfarrer ihr eine Predigt über der Sünde Sold hielt, jetzt nicht gebrauchen konnte. Am besten, sie vollbrachte die üble Tat gleich auf der Stelle. Mit diesem erbaulichen Gedanken verließ Lady Gossinger das Turmzimmer. Sie ging die im Halbdunkel liegende Treppe hinunter und gelangte, ohne auf eine Menschenseele zu treffen, in die große Halle; dort spürte sie etwas – eine Bewegung in der Stille –, das sie zum ersten Mal überlegen ließ, ob die alten Geschichten über den Spuk auf Gossinger Hall nicht vielleicht doch zutrafen. Oder war es nur ihr schlechtes Gewissen, das sie ein kleines bißchen beklommen machte? Ach, zum Teufel damit, sagte sich Mylady, als sie durch den schmalen Durchgang zum Café ging und eben der Person gegenüberstand, die sie suchte. »Ah, da bist du ja!« donnerte sie mit einer Stimme, die ihre Erdbeben-Dimension wiedergefunden hatte. »Ich habe einen kleinen Auftrag für dich. Dauert gar nicht lange, und hinterher kannst du eine schöne Tasse Tee trinken und Sahnetörtchen futtern.« In exakt diesem Moment bereitete Mrs. Much, die Haushälterin, Tee in einer Kanne zu, die sie über Nacht in
Bleichmittel eingeweicht hatte. Nachdem sie den Kessel wieder auf den alten Herd gestellt hatte, befühlte sie ihr dauergewelltes Haar und zog resolut an ihren Schürzenbändern, während sie sich mit einem vernichtenden Blick in der Küche umsah. Dieser Raum war kein bißchen freundlicher als der Rest von Gossinger; er war um die Jahrhundertwende angebaut worden und sollte das Hauspersonal vor allem daran erinnern, daß Senkfüße zum Beruf gehörten. »Wenn ich nicht aus diesem entsetzlichen Haus herauskomme, stürze ich mich schließlich noch vom Dach, und dann werden Sir Henry und Mylady von einem weiteren Gespenst heimgesucht«, sagte Mrs. Much laut. »Und noch vor drei Monaten habe ich gedacht, ich hätte den Job meines Lebens gefunden.« Mrs. Much sprach zu Mr. Tipp, der an dem gescheuerten Holztisch saß und den kleinen Zettel studierte, den er in seinen skelettartigen Händen hielt. Mit fünfundsechzig Jahren sah Mr. Tipp alles andere als robust aus. Ja, man fürchtete, der leiseste Windhauch könnte ihn in ein Klangspiel verwandeln. »Das ist nicht verwunderlich.« Er faltete den Zettel zu einem briefmarkengroßen Viereck zusammen, und zum ersten Mal gelang es ihm, den Anschein zu erwecken, als höre er den Wehklagen der Haushälterin zu. »Lassen Sie es mich so ausdrücken, Mr. Tipp.« Sie legte einen Schokoladenkeks auf seinen Unterteller und pflanzte ihren ausladenden Körper auf den Stuhl gegenüber. »Manche Menschen treibt der Ehrgeiz, Arzt, Banker oder dergleichen zu werden, ich hingegen träumte als kleines Mädchen nur davon, als erwachsene Frau in den Häusern anderer Leute sauberzumachen. Nichts entzückt mich mehr als Scheuern und Polieren, es sei denn, ich kann einen Schwung Gardinen abnehmen und in die Wäsche stecken.«
Einen Moment lang erschien ein Leuchten auf Mrs. Muchs Gesicht, das an einen Vollmond an einem wolkenlosen Himmel erinnerte. »Stellen Sie es sich nur mal vor.« Sie faltete ihre dienstbaren Hände. »Die grenzenlose Freude, eine Badewanne zu schrubben, bis sie so weiß ist wie frischgefallener Schnee! Niemand, und das ist die reine Wahrheit, Mr. Tipp, wird jemals wissen, welches Glück es mir beschert, einem Stück Linoleum all seinen Glanz wiederzugeben, so daß es aussieht wie neu.« »Ich verstehe, was Sie meinen, Mrs. Much.« »Aber die Arbeitsbedingungen müssen stimmen, wenn Sie mich verstehen, Mr. Tipp. Es reicht nicht, daß ich auf Gossinger Hall wohnen kann und ein anständiges Gehalt beziehe. Ich kann keine berufliche Erfüllung finden, wo ich gemaßregelt werde, nur weil ich die Wandbehänge abgenommen habe, um sie zu waschen.« »Ich zweifle nicht daran, daß sich niemand klarer ausdrücken könnte als Sie.« Mr. Tipp trank einen Schluck Tee, der nach Bleichmittel schmeckte, und sagte sich mannhaft, daß Geschmack Gewöhnungssache sei und er schon noch Gefallen daran finden würde. Er hätte gerne um einen weiteren Schokoladenkeks gebeten, wollte jedoch nicht gierig erscheinen. »Mr. Hutchins hat auf diesen Wandbehängen herumgehackt, als wäre ich eine kaltblütige Mörderin.« Mrs. Muchs Gesicht verdüsterte sich. »Es hat mir beinahe den Nachmittag verdorben, bis ich mir sagte, wer braucht letzten Endes diesen Job. Ich habe keine Ahnung, wohin er so lange verschwunden ist, aber ich sage nur, Gott sei Dank sind wir ihn los. Soll er mich ruhig bei Sir Henry und Mylady anschwärzen. Und sollen sie mich ruhig rausschmeißen. Das juckt mich nicht. Ich habe ‘ne Cousine, die glaubt, ich könnte es weit bringen, wo sie arbeitet, aber darüber sage ich kein weiteres Wort, das bringt
nur Pech.« Mrs. Much hielt die Finger über Kreuz. »Was ich nicht verstehe, ist, warum Sie Jahr für Jahr hier ausharren, Mr. Tipp. Es ist ja nicht so, als hätte man Ihnen jemals eine richtige Aufgabe gegeben, seit keine Pferde mehr im Stall stehen.« »Seit dreißig Jahren nicht mehr, seit der alte Major eingeschläfert werden mußte, aber es stört mich nicht, Mädchen für alles zu sein. Wenn ich etwas sehe, das erledigt werden muß, schreibe ich es auf, und manchmal habe ich eine ellenlange Liste zusammen.« Mr. Tipp nahm den gefalteten Zettel, mit dem er herumgespielt hatte, bevor er seinen Tee trank. Er blickte ihn mit einem Ausdruck zufriedenen Stolzes an, dann steckte er ihn in seine Jackentasche. »Ich bin der letzte einer langen Reihe von Tipps, die alle hier auf Gossinger Hall gearbeitet haben, seit wann, weiß niemand mehr genau. Was mehr ist, als man über Mr. Hutchins sagen kann. Nicht, daß ich unhöflich sein will, ich sage nur, daß in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen uns besteht, abgesehen davon, daß er Sir Henrys rechte Hand ist.« Mr. Tipp sah ausgesprochen besorgt aus, und Mrs. Much beeilte sich, ihn zu beruhigen. »Sie können sich auf mich verlassen, ich werde es niemandem weitersagen. Mein verstorbener Mann würde Ihnen versichern, daß ich beinahe übertrieben loyal bin. So ein reizender Mann, in der Blüte seiner Jahre ausgelöscht wie ein Licht, als er in der Badewanne einschlief und ertrank.« In respektvoller Erinnerung an den Verblichenen wischte sie sich die Augen. »Es ist eine Schande, sage ich, Mr. Tipp, daß Sie hier an zweiter Stelle stehen, in Ihrem Alter. Mein Stolz würde das nicht zulassen – « Ihr ging auf, daß dies wohl kaum taktvoll war, und sie fügte schnell hinzu: »Aber ich kann mir denken, daß es Ihnen so kurz vor der Pensionierung schwerfallen würde, eine neue Anstellung zu finden. Wohin wollen Sie gehen, wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist?« Mrs. Much
stand auf, um ihm noch eine Tasse Tee einzuschenken. »Haben Sie noch Familie, irgendwelche Verwandten, die Sie bei sich aufnehmen könnten?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Sie Ärmster.« Sie reichte ihm als Trostpreis die Zuckerschale. »Sir Henry wird schon für mich sorgen.« »Auf Mylady würde ich mich nicht verlassen«, sagte Mrs. Much unheilvoll. »Sie ist nicht leicht zufriedenzustellen«, gab Mr. Tipp zu, »aber sie liebt Gossinger Hall glühend.« »Na, dann wünsche ich ihr viel Glück!« Mrs. Much ließ sich wieder am Tisch nieder. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, denn ich weiß, Sie sind sehr loyal, aber ich kann Herz und Seele nicht an ein Haus verschenken, wo weit und breit kein Teppichboden oder Farbfernseher zu sehen ist und die Sanitärinstallationen aus dem finsteren Mittelalter stammen. Ich traute meinen Augen nicht, als Mr. Hutchins mich an meinem allerersten Tag über eine dieser Steintreppen nach oben führte und mir diese furchtbare Toilettengrube zeigte. Hab’ noch nie im Leben einen so abscheulichen Ort gesehen. Und ich hätte nicht dankbarer sein können, weil sie immer verschlossen ist und mir nicht einer der Schlüssel überreicht wurde mit der Anweisung, einmal die Woche da reinzugehen und sauberzumachen.« Mr. Tipp versuchte, ein mitfühlendes Gesicht zu machen, aber da er ein Mann war, der davon geträumt hatte, die Ställe auszumisten, wie sein Vater und sein Großvater es vor ihm getan hatten, wollte ihm keine passende Antwort einfallen. Daher sagte er klugerweise gar nichts. »Ich bin froh, wenn ich aus diesem Haus herauskomme.« Mrs. Much stand wieder auf und nahm Mr. Tipp mit einem von Herzen kommenden Seufzer die Teetasse aus den Händen.
»Flora ist zwar ein ganz nettes Mädchen, aber nicht gerade eine amüsante Gesellschaft. Hat nicht viel Feuer, doch es ist nicht meine Art, andere Leute in der Luft zu zerreißen. Vielleicht ist sie nicht bei bester Gesundheit. Sie ist blaß genug, um als Gespenst durchzugehen, was nicht verwunderlich ist, wenn man in so einem Mausoleum von Haus aufwächst! Manchmal, wenn ich mitten in der Nacht aufwache« – Mrs. Much brachte ein unsicheres Lachen zustande, das beweisen sollte, daß sie nicht von Natur aus ein Feigling war – »höre ich Geräusche tief im Gemäuer, die sich wie Schreie anhören.« »Es gibt viele Geschichten über merkwürdige Vorfälle, die sich im Laufe der Jahrhunderte auf Gossinger Hall zugetragen haben sollen.« Mr. Tipp senkte die Stimme. »Sie haben bestimmt von dem Teesieb der Königin gehört, das hier verschwand. Aber wußten Sie auch, daß eines der Dienstmädchen verdächtigt wurde, es an sich genommen zu haben, und man sie bestrafte? Da der eine oder andere von uns im Laufe der Zeit hier gearbeitet hat, könnte sie durchaus eine Tipp gewesen sein, wie manche es behaupten.« Dieses Geständnis wurde mit einem seltsamen Anflug von Stolz vorgebracht. »Und es könnte sein, daß Sie in dunkler Nacht ihre Schreie hören, und daß sie es war, die Gossinger Hall mit einem Fluch belegte.« »Auf den Fenstern liegt auf jeden Fall ein Fluch.« Mrs. Much blickte zu dem Fenster über der Küchenspüle. »All diese gräßlichen kleinen Scheiben mit so viel Blei, daß es aussieht wie ein Kreuzstichmuster. Da ist mir ein schönes Panoramafenster mit Doppelverglasung allemal lieber. Mrs. Frome, die Dame, für die ich gearbeitet habe, bevor ich hierherkam, hatte wunderschöne große Fenster. Es war genau das richtige Haus, wenn Sie es sich vorstellen können, Mr. Tipp. Ganze fünf Jahre alt, mit Einbauschränken, wohin man sah, und alle Bilder waren auf die Vorhänge abgestimmt. Beim
Einzug kauften sie brandneue Möbel, Mr. Frome bestand darauf. Und wie ich zu ihm sagte, als Mrs. Frome im Krankenwagen weggebracht wurde, um nie mehr nach Hause zurückzukehren, er konnte sich mit der Gewißheit trösten, daß er sich nichts vorzuwerfen hatte. Bereuen Sie nur ja nicht, keinen von diesen selbstreinigenden Herden gekauft zu haben, sagte ich, als Mr. Frome an meiner Schulter weinte wie ein kleines Kind. Solche technischen Spielereien nehmen der Hausarbeit all ihren Glanz. Und es stimmte. Ich hatte jede Minute genossen, in der ich das Gestell schrubbte. Man hätte nie vermutet, daß in diesem Ofen so mancher YorkshirePudding entstanden war.« »Welch traurige kleine Geschichte.« Mr. Tipp sah auf die Uhr, während er sprach. »Es war Gift, was sie dahinraffte.« Mrs. Much kamen die Tränen. »Ein Unfall natürlich, denn welche Frau mit einem Kühlschrank, in dem man Eiswürfel machen kann, und einem Schlafzimmer von Laura Ashley sollte sich aus dieser Welt begeben wollen? Und ich nahm es mir ganz besonders zu Herzen, weil ich vor Mrs. Frome bei Mrs. Ashford gewesen war, die ohne Vorwarnung verschied, gleich nachdem sie ihren Teller Pilzsuppe aufgegessen hatte.« Mrs. Much fand, daß dies genug der Reminiszenzen war, und wandte sich Mr. Tipp zu. »Stimmt etwas nicht, Mr. Tipp?« »Ich überlege, ob ich nach oben gehen und das Teegeschirr holen soll«, erwiderte er zerstreut, erhob sich und setzte sich dann wieder hin. »Flora ist vor einer Weile in die Küche gekommen, als Sie anderswo zu tun hatten, um mir zu sagen, Sir Henry hätte darum gebeten, daß ich diese Aufgabe übernehme. Doch als ich kurz darauf ins Turmzimmer ging, warf Mylady mit einem Kissen.« »Die Frau hat den Verstand verloren.«
»Sie hat es nicht nach mir geworfen«, erklärte Mr. Tipp rasch. »Da war ein Junge, ein Junge in Schuluniform, mit Stachelhaaren und Sommersprossen. Er stand oben an der Treppe.« »Vielleicht war er seiner Aufsichtsperson entwischt?« gab Mrs. Much zu bedenken, als spreche sie von einem Löwen im Zoo. »Wie dem auch sei, Mr. Tipp, es ist jetzt fast sechs Uhr, und ich mache mir Sorgen, daß Sie Ärger kriegen, wenn Mr. Hutchins plötzlich auftaucht und erfährt, daß Sie das Teegeschirr nicht abgetragen und nach unten gebracht haben. Nun, das wäre nicht weiter schlimm, wenn Sie vorhätten, gemeinsam mit mir zu kündigen, aber Sie sagten ja gerade, daß dies nicht der Fall ist. Wie wär’s also, wenn Sie Ihre Rollschuhe anschnallen und Mylady erklären – falls sie sich noch im Turmzimmer aufhält –, daß Sie sie in ihrem aufgeregten Zustand nicht stören wollten?« »Sie war mehr als aufgeregt, sie war…« Mr. Tipp kratzte sich am Kopf, während er nach dem passenden Wort suchte. »Sie war… außer sich.« »Wegen dieses Schuljungen?« »Er sagte…« »Ja?« »Er sei der Enkel ihrer Schwester.« Mr. Tipp sah beschämt aus, weil er über seine Herrschaft tratschte. Er wußte genau, daß Hutchins, wäre er anwesend gewesen, ihn als einen Verräter seines Standes gebrandmarkt hätte. »Und wieso sollte Mylady darüber in Wallung geraten wie ein Wasserkessel?« »Vielleicht ist er ein fauler Apfel.« »Der gekommen ist, um ihr eins über den Schädel zu geben, weil sie seinen Geburtstag vergessen hat?« Mrs. Muchs Stimme klang, als könne sie sich für den Jungen erwärmen. »Da war noch mehr. Ich habe unfreiwillig mitangehört…«
» Selbstverständlich unfreiwillig.« »… wie Lady Gossinger mit Miss Doffit über Sir Henry sprach… darüber, daß er sein Testament ändern wolle.« Mr. Tipp drückte sich wie ein Schatten an der Küchentür herum. »Nein, so was!« Mrs. Much brannte darauf, mehr zu erfahren, doch (wie konnte es anders sein) genau in diesem Augenblick kam Flora in einem feuchten Regenmantel zur Hintertür herein. Ihr Gesicht war angespannt. Einzelne Strähnen hatten sich aus ihrer Haarrolle gelöst und hingen ihr schlaff in den Nacken. Und Mrs. Much schien es, als habe das Mädchen etwas von der sich zusammenballenden Dunkelheit des späten Nachmittags mit ins Haus gebracht. »Warten Sie, ich helfe Ihnen aus dem Mantel«, sagte die Haushälterin. »Mr. Tipp, warum warten Sie nicht noch ein paar Minuten, bevor Sie ins Turmzimmer gehen, und setzen den Kessel auf, damit Flora eine Tasse Tee trinken kann? Man sieht doch auf den ersten Blick, daß Sie irgend etwas ganz furchtbar aufgeregt hat.« »Nein, ich bin bloß dumm.« Das Mädchen wich den Händen aus, die ihren Mantel aufknöpfen wollten, und ließ sich am Küchentisch nieder. »Ich war draußen, um nach Grandpa zu suchen, ich dachte, er hätte vielleicht… noch eine Besorgung gemacht, aber er muß hier im Haus sein.« »Nun, ich kann nicht behaupten, daß ich ihn seit heute mittag gesehen hätte«, sagte Mrs. Much. »Aber ich war selbst im Haus beschäftigt und dachte, er putzt das Silberzeug; obgleich ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob heute sein gewohnter Tag dafür ist.« Da sie spürte, daß Flora Aufmunterung gebrauchen konnte, fuhr sie fort: »Ich muß sagen, es ist beeindruckend, wie Mr. Hutchins all diese Taufbecher und was noch alles zum Funkeln bringt. Diese Politur, die er mixt, ist ein Wundermittel. Ich jedenfalls habe noch nie etwas benutzt, das angelaufene Stellen so gut beseitigt und den Dingen einen
so prachtvollen Glanz verleiht.« Mrs. Much hoffte, daß es nicht so klang, als fühle sie sich gedrängt, ihm widerwillig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Es war klar, daß es mehr bedurfte als der Tasse Tee, die Mr. Tipp zum Tisch trug, um das Mädchen aus seiner niedergeschlagenen Stimmung zu reißen. »Ich bin bloß dumm«, wiederholte Flora. »Es ist eher unwahrscheinlich, daß eine fliegende Untertasse auf dem Rasen gelandet ist und eine Armee kleiner grüner Männchen Grandpa in den Weltraum entführt hat, oder?« Doch ihr Lachen fiel gekünstelt aus. »Könnte doch sein, daß sie das Rezept für die Silberpolitur haben wollten!« Es sah Mr. Tipp gar nicht ähnlich, Witze zu machen, und Flora mußte lächeln. Plötzlich war sie überzeugt, ihr Großvater werde jeden Augenblick auftauchen und ihre Befürchtungen, weil er die Führung nicht beaufsichtigt hatte, zerstreuen. Und wie um ihr recht zu geben, öffnete sich die Tür zum Korridor. Doch nicht ihr Großvater betrat den Raum. Es war Vivian Gossinger, dessen Krawatte schief saß und dem das gewöhnlich so gut frisierte Haar in die Stirn fiel. »Miss Hutchins«, sagte er sanft, »Sie sollten lieber gleich mitkommen. In der Garderobe ist ein furchtbarer Unfall passiert. Ihr Großvater ist hineingefallen und – « »Ist er schwer verletzt?« Sie stand langsam auf. »Es tut mir so leid, Flora. Er war tot, als man ihn herausholte.« Vivian ergriff ihre Hand. »Gott segne ihn, es wird nie wieder einen Menschen wie Hutchins auf Gossinger geben.«
Kapitel 6 Am Tag von Mr. Hutchins’ Beerdigung regnete es, und das machte alles noch schmerzlicher, da Flora Regentage immer geliebt hatte. Grandpa pflegte zu sagen, der Regen von Lincolnshire sei der sanfteste Regen in ganz England. Als kleines Mädchen stellte sie sich bei Regen vor, daß Gott, wenn er im Himmel einen Rundgang über seine Ländereien machte, Gummistiefel trug und eine riesige Gießkanne in der Hand hielt. Manchmal, wenn Flora auf eine bestimmte Art die Augen zusammenkniff, konnte sie Gottes Gesicht sehen, in einer Wolke, in der die meisten Menschen eben nur eine flauschige Wolke gesehen hätten. Sie lächelte über den Gedanken, daß Gott an seinem fleißigen Arbeitstag innehielt und auf den irdischen Garten hinunterblickte, den er vor so langer Zeit gepflanzt hatte, um sich zu überzeugen, daß er nicht den kleinsten Kontinent und nicht die winzigste Blume vergessen hatte. Und sie rief ihm in Erinnerung, daß ihr Name Flora war. Auch als Erwachsene gefiel es ihr noch, wenn alles verschwommen und unscharf war, wie auf einem Bild, daß sie einmal selbst gezeichnet und ausradiert hatte, weil es ihr nicht ganz gelungen erschien. Und das allerbeste an Regentagen war die Gewißheit, daß hinterher, wenn die Sonne herauskam, die Welt wieder genauso aussehen würde, wie sie immer aussah, nur besser, weil alles geputzt war, ebenso wie Grandpa jeden Dienstag und Donnerstag das Silber putzte. Aber am Tag der Beerdigung war es anders, denn Flora wußte, auch wenn der Regen sich verzog und die Sonne herauskam, würde nichts wieder so sein wie vor dem Unfall. Es war, als habe man die einzelnen Teile ihres Lebens in die falschen Schubladen einsortiert. Und an allen Schubladen
waren Schlösser angebracht, und sie hatte keine Ahnung, wo sie nach den Schlüsseln suchen sollte. Den Schlüssel zur Garderobe hatte man zu Grandpas Füßen gefunden, als man ihn entdeckte. Zusammen mit einem Stück Papier, auf das er die Worte GOD SAVE THE QUEEN! geschrieben hatte. Als es Zeit war, zum Gottesdienst aufzubrechen, legte Flora gemeinsam mit ihrem schwarzen Mantel und dem Hut, der wie ein Obstkuchen aussah – Lady Gossinger hatte darauf bestanden, ihn ihr zu diesem Anlaß zu leihen –, einen Schutzpanzer äußerer Gefaßtheit an. Als sie in den Wagen stieg, hörte sie Miss Doffit zu Sir Henry sagen, sie sei froh, daß es regne, da Beerdigungen keine Vergnügungsausflüge sein sollten, mit einem griffbereit auf dem Rücksitz des Autos verstauten Picknickkorb von Fortnum & Mason und einer karierten Reisedecke, die auf dem Friedhofsrasen ausgebreitet wurde. Sir Henrys Antwort hörte Flora nicht, da Vivian, der die Autotür für sie geöffnet hatte, sie blitzschnell zuschlug. In der Andacht, die in St. Sebastian’s – einer ziemlich geschmacklosen spätviktorianischen Kirche mit protzigen Buntglasfenstern, auf halber Strecke zwischen Nether Woodcock und Maidenbury gelegen – stattfand, wurden alle Lieblingschoräle von Mr. Hutchins gesungen. Von Blumenspenden war wunschgemäß Abstand genommen worden. Und als der Sarg durch den Mittelgang getragen wurde, bemerkte Flora, daß er oben ein wenig staubig war, aber sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie sehr das ihren Großvater geärgert hätte. Es war wichtig, sich auf erbaulichere Gedanken zu konzentrieren. Außer den Gossingers und ihren Angestellten säumte eine stattliche Anzahl von Trauergästen die Bänke; doch wiederum nicht so viele, daß es so aussah, als habe man an der Tür Freilose für die Tombola ausgegeben. Der Pfarrer, Mr. Aldwin, war ein kugelrunder Mann mit einem Funkeln in den Augen,
das selbst der Ernst des heutigen Anlasses nicht vollends zu vertreiben vermochte. »Ist er nicht ein reizender Mensch?« meldete sich eine Stimme aus dem hinteren Teil der Kirche zu Wort. »Welch angenehme Abwechslung zu dem alten Pfarrer. Mr. Roberts stand auf der Kanzel, als säße er auf der Anklagebank in Old Bailey, fälschlich des kaltblütigen Mordes beschuldigt.« Dann sagte Sir Henry mit seiner unverkennbaren Nuschelstimme: »Du siehst aus, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen, Mabel, meine Liebe. Furchtbar stickig hier. Glaube nicht, daß diese verflixten Fenster jemals geöffnet werden.« Einer der Unterschiede zwischen Mr. Aldwin und seinem Vorgänger bestand darin, daß, während Mr. Roberts eine Vorliebe für ein gelegentliches Gläschen Sherry hatte, Mr. Aldwin zu gegebenem Anlaß gern ein Glas Guinness trank. Obgleich er seine Position erst seit wenigen Wochen bekleidete, sprach der Pfarrer mit großer Zuneigung und Bewunderung von dem »lieben Verstorbenen« und schloß mit der Behauptung, Air. Hutchins sei stets ein guter und treuer Diener des Allmächtigen gewesen. »Das war er, unter anderem.« Die Stimme einer Frau stieg hinter Flora empor. »Aufopferungsvoll, das war Mr. Hutchins. Arbeitete fast sein Leben lang für die allmächtigen Gossingers und endete in der Toilette. Das ist nicht gerecht, sage ich!« Zum Glück stimmte der Organist in diesem Augenblick das letzte Kirchenlied an, und Mr. Aldwin, der jetzt geradezu vergnügt wirkte, stürzte sich auf die erste Strophe von »Shall we gather at the river« und schlug auf der Einfassung seiner Kanzel den Takt dazu. Und bald stimmten fast alle übrigen gleichermaßen begeistert ein, was Mrs. Much, die in der zweiten Reihe saß, dazu veranlaßte, Flora ins Ohr zu flüstern, es höre sich wie ein Gesangswettbewerb im Pub an.
»Und ich weiß nicht, ob Ihr Grandpa zu dieser Sorte Mensch gehörte, meine Liebe. Sie wissen schon, die Sorte, die sich im ›Goldenen Vlies‹ einen genehmigt.« Und Sie haben ihn auch nicht besonders gemocht, dachte Flora. Es war ein Trost, als Sir Henry vortrat und sie bei der Hand faßte, als sei sie immer noch ein kleines Mädchen mit kurzen Rattenschwänzen, um sie aus der Kirche zu geleiten. »Muß sagen, Sie halten sich prächtig, meine Liebe«, sagte er, als sie draußen im Regen standen, der auf seinen kahlen Kopf prasselte. »Aber Sie sollten keine Angst davor haben, die Fassung zu verlieren, wissen Sie. Ich schäme mich nicht zuzugeben, daß ich selbst ein paar Tränen vergossen habe. Habe sogar Mylady heute morgen ertappt, wie sie schniefte.« »Es tat weh, sie so außer sich zu sehen. Nur ein herzensguter Mensch würde sich den Verlust eines Dieners, selbst eines Dieners von Hutchins’ Format, so sehr zu Herzen nehmen«, sagte Miss Sophie Doffit hinter ihnen. Dann fügte sie leise hinzu: »Bestimmt käme niemand auf die Idee, daß Mabel über das Vorgefallene nicht aufrichtig schockiert war.« Die alte Dame trug einen blaßrosa, an einer Seite mit flaumigen Federn geschmückten Hut und einen passenden, gerade geschnittenen Mantel, der dem Wetter nicht ganz angemessen war. Ihre Ähnlichkeit mit der Königinmutter war noch auffälliger als sonst. Mehrere Kinder, die man mitgenommen und denen man eingeschärft hatte, sie sollten sich ja benehmen oder es würde ihnen später noch sehr leid tun, begannen auf und ab zu hüpfen und zeigten aufgeregt auf Miss Doffit. Dieses unwürdige Schauspiel fand jedoch eine jähes Ende, als die ungezogenen Kleinen am Rande des Gehwegs eine Frau entdeckten, die wie eine Hexe aussah. Ihr Mantel war senfgelb und schwarz kariert, und sie hatte außergewöhnlich lange purpurrote Fingernägel. Sie starrte einen kleinen Jungen an, als
lecke sie sich insgeheim die Lippen. Er kreischte auf, als sie ihn mit einer ihrer Krallen zu sich lockte und ihm ein Stück Kandiszucker anbot. Sogleich scharten die Eltern ihre Sprößlinge um sich und marschierten mit ihnen davon, während Flora teilnahmslos dastand und in die Ferne blickte. Sie merkte nicht, daß die Hexe auf sie zugegangen war, bevor sie es sich offenbar anders überlegte und sich wieder zurückzog. Inzwischen hatte Lady Gossinger am Arm ihres Neffen Vivian die Kirche verlassen. In dem prasselnden Regen konnte Flora ihr Gesicht nicht erkennen. Auch die Fahrt zum Friedhof und der Fußweg über den moosbewachsenen Pfad zum offenen Grab blieben ihr durch den ununterbrochenen Regen zum Glück nur verschwommen in Erinnerung. Begleitet vom Rascheln der deprimiert wirkenden Bäume in der eisigen Brise, gab der Pfarrer die Standardverse, einschließlich des »Asche zu Asche«, mit einer Herzlichkeit zum besten, die erneut an Jovialität grenzte. Miss Doffits Stimme trug im Wind, als sie den neuen Pfarrer zu einer riesigen Verbesserung gegenüber Reverend Roberts erklärte, der sie dazu veranlaßt habe, aus purer Angst darauf zu verzichten, irdische Reichtümer anzusammeln, um überhaupt noch Hoffnung zu haben, zumindest in die Außenbezirke des Himmels eingelassen zu werden. Wo, wie man höre, so fügte sie hinzu, die überwiegende Mehrheit der Menschen in Sozialwohnungen und in alles andere als ersprießlichen Vierteln lebte. Jemand hustete. Und Vivian hielt einen schwarzen Schirm über Floras Kopf. Die Trauernden, einschließlich der Hexe mit dem Mantel in Senfgelb und Schwarz, der flatterte, als sei er lebendig, bildeten einen dunklen, stillen Kreis, als der Sarg ins Grab hinabgelassen wurde. Flora machte sich flüchtig Sorgen, daß die alte Miss Doffit ein wenig zu nah herangehen und kopfüber
hinunterfallen würde, wobei jedermann ihren Schlüpfer zu sehen bekäme. Vermutlich blaßrosa, dachte Flora, mit handgearbeiteter Spitze und kleinen Bändern verziert. Es fiel ihr leichter, über so etwas nachzudenken, als sich damit zu befassen, daß der einzige Mensch auf der Welt, den sie liebte, für immer gegangen war. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie in der Kirche doch nicht alle Lieblingslieder von Grandpa gesungen hatten. Zu ihrer eigenen Überraschung stimmte Flora »God save the queen« an, schief und mit der durchdringenden Stimme, die den Musiklehrer der Dorfschule dazu veranlaßt hatte, sie eines Tages beiseite zu nehmen und ihr (so freundlich wie nur möglich) vorzuschlagen, in Zukunft nur noch den Mund zu öffnen und zu schließen wie ein Fisch. Ein Junge, und zwar eben jener, der sich nicht durch Tapferkeit ausgezeichnet hatte, als die Hexe ihm den Kandiszucker anbot, kicherte. Flora hörte es nicht, und sie bemerkte es auch nicht, als zuerst Vivian und dann mehrere andere vereinzelte Stimmen einfielen, bis schließlich alle mitsangen. Sie warf eine Handvoll feuchter Erde auf den Sarg und entfernte sich rasch von der Gruppe, einschließlich der Gossingers. Sie rannte fast zu dem wartenden Auto. Sir Henry hatte ihr einen Fahrer besorgt. Es war der Mann von Mrs. Warren, die im Geschenkshop plus Café auf Gossinger arbeitete und selbst mit Mrs. Much und Mr. Tipp zum Haus zurückfahren würde. Flora war nicht zum Plaudern aufgelegt, doch es erschien ihr unhöflich, sich vornehm auf den Rücksitz des Wagens zurückzuziehen. Also stieg sie vorn zu Mr. Warren ein und schenkte ihm ein von der Krempe ihres Huts umwölktes Lächeln. »Sie brauchen nichts zu sagen, Kleines«, sagte er zu ihr. »Ich werde Sie in Null Komma nichts zu Hause abliefern.« Diese
Worte, obschon in freundlichem Ton gesprochen, ließen sie frösteln, denn zu Hause auf Gossinger Hall wartete eine solch ungeheure Leere auf sie, daß sie fürchtete, sie werde sich darin verlieren und niemals wieder hinausfinden. Mr. Warren sagte, er kenne eine Abkürzung nach Gossinger Hall. Er war ein Mann Ende Vierzig mit vergeistigtem Gesicht und fliehendem Haaransatz. Nichts auf der Welt bereitete ihm Sorge, wie man seine Frau zu vielen Gelegenheiten ärgerlich hatte sagen hören. Vielleicht hatte er ja einen schlechten Tag, aber Flora kam er nicht wie ein besonders guter Fahrer vor. Er summte Kirchenlieder, als sie hier und da gegen den Randstein prallten, einige Hecken zurechtstutzten und fast den Pfosten einer Bushaltestelle ummähten. Flora mußte sich zusammenreißen, um sich nicht an ihrem Sitz festzuklammern. Nachdem sie aufs Geratewohl über gewundene Landstraßen gebraust waren, landeten sie in Maidenbury, einer mittelgroßen Stadt in entgegengesetzter Richtung zu Gossinger. Mr. Warren sagte – ohne sich allzu große Verlegenheit wegen des Umwegs anmerken zu lassen –, er könne bestimmt noch eine andere Abkürzung finden. »Wir haben keine Eile«, versicherte Flora ihm und dankte Gott für die Sicherheitsgurte, als sie an einer Kreuzung schleudernd zum Stehen kamen und nur um Haaresbreite einen Mann verfehlten, der in den strömenden Regen gehüllt war und einen prallen Aktenkoffer bei sich trug. Sie wollte gerade ihr Fenster herunterdrehen und sich erkundigen, ob ihm auch nichts geschehen sei, als der Mann zu ihrer Verblüffung die Wagentür öffnete und ohne auch nur »mit Verlaub« zu sagen auf den Rücksitz kletterte. »Sehen Sie stur geradeaus«, sagte er mit angenehm modulierter Stimme. »Ich war gerade bei der hiesigen Bank und habe eine ziemlich große Summe abgehoben.«
»Das ist ja sehr interessant, Kumpel«, erwiderte Mr. Warren unbewegt, während Flora sich an den Hals faßte. »Aber ich fahre keinen Bus.« »Der öffentliche Nahverkehr ist heute leider nicht drin.« Der Fremde machte es sich bequem. »Nicht nach der zermürbenden Erfahrung, die ich machen mußte, als ich meine kleine Transaktion durchführte, mit einer Waffe in der einen und einem Zettel, auf dem stand, wieviel, in der anderen Hand. Um alles noch schlimmer zu machen, war die junge Kassiererin nicht sehr entgegenkommend. Ich überlege noch, ob ich eine Beschwerde auf einem dieser Vordrucke einreichen soll. Andererseits«, räumte der Mann ein, »könnte sie auch einfach nur einen schlechten Tag gehabt haben.« »Die haben wir ja alle«, pflichtete Mr. Warren bei, während er einen Bus zu überholen versuchte und nur knapp einer Kollision mit einem entgegenkommenden Lkw entging»Nun gut«, sagte der Mann auf dem Rücksitz. »Ihr lieben Leute werdet es also sicher verstehen, daß mir danach zumute ist, mich ein wenig verwöhnen zu lassen. Und das heißt, falls es keine allzu große Zumutung ist, daß ich mich in dieses überaus komfortable Polster zurücklehne, während Sie fahren. Mir ist jedes Ziel recht. Ich mache mir keine Sorgen, solange es nur die entgegengesetzte Richtung von Maidenbury ist. Und rasch, wenn ich bitten darf, denn wie Sie sich sicher denken können, habe ich es ziemlich eilig.« »Sie haben gerade eine Bank ausgeraubt? Und Sie können sich kein Taxi leisten?« Mr. Warren lachte, offenbar in der Absicht, Flora aufzumuntern; sie merkte allerdings, daß er wie befohlen aufs Gaspedal trat. »Tut mir leid, ich habe kein Kleingeld. Nichts unter FünfzigPfund-Scheinen.« Der Mann auf dem Rücksitz kicherte leise, um zu zeigen, daß er ebenfalls Sinn für Humor hatte. Er
trommelte eine muntere kleine Melodie auf den Aktenkoffer, als sie blitzschnell in den Nebel eintauchten. »Aber Sie haben die Waffe noch?« Flora beschlich plötzlich das eigenartige Gefühl, daß nicht Mr. Warren, sondern ihr Großvater neben ihr saß. Sie hörte ihn klar wie der Tag sagen: »Du weißt, was von dir erwartet wird, Flora. In jedem Augenblick, jeder Situation, repräsentieren wir die Familie.« Und sie spürte, wie ihr Rücken sich straffte, als sie sagte: »Denn wenn Sie keine Waffe haben, Mr. Bankräuber, wäre es doch ziemlich dumm von mir und Mr. Warren, wie zwei Schafe hier im Auto sitzen zu bleiben. Oder nicht?« »Donnerwetter, Ihr Mut gefällt mir«, sagte der Mann. »Gehen wir einfach davon aus, daß er eine Waffe hat, Mädel«, schaltete sich Mr. Warren ein. »Sie haben recht«, räumte Flora ein, »denn mir scheint, er müßte der allergrößte Trottel sein, wenn er den Anhalter spielt, ohne über ein Mittel zu seinem Schutz zu verfügen. Er kann ja nicht wissen, ob wir nicht zwei gemeingefährliche Irre sind, die ihrer Wege gehen, nachdem sie den ganzen Nachmittag Gräber gebuddelt haben.« Sie hob die Hände, und man sah ihre schmutzigen Handflächen. »Ich habe den Eindruck, daß Menschen wie er sich nicht so leicht einschüchtern lassen«, flüsterte Mr. Warren, während er einen Bogen um einen Lkw machte und einen Radfahrer in den Eingang eines Ladens beförderte. »Sie irren sich«, sagte der Bankräuber matt, als sie über einige Schlaglöcher rumpelten. »Ihr Fahrstil verfügt über das Potential, mir Todesangst einzuflößen. Vergessen Sie, was ich übers Schnellfahren gesagt habe, alter Junge. Wir wollen doch nicht, daß sich irgendein übereifriger Polizist an unsere Rücklichter hängt.« »Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, erwiderte Mr. Warren gleichmütig und riß kraftvoll das Lenkrad herum. »Wir
biegen hier auf eine Landstraße ab, auf der zu dieser Tageszeit kaum Verkehr herrscht.« »Ich will Ihnen nicht im Nacken sitzen, wenn Sie mir das Wortspiel verzeihen«, sagte der Mann hinter ihm, »aber ich neige zu Anfällen von Reiseübelkeit. Es hilft, wenn ich nicht darüber nachdenke, wie wäre es also, wenn Sie mir ein wenig von sich erzählen?« »Sie würden uns sterbenslangweilig finden«, versicherte Flora ihm. »Ganz und gar nicht. Ich bin ein Menschenfreund. Das muß man in meinem Metier schon sein. Der Frau, die in der Bank neben mir stand, habe ich meine Waffe angeboten und ihr erklärt, daß sie damit ganz schnell zum Kopf der Schlange vorrücken könnte, und sie hat mir meine Freundlichkeit mit einem hysterischen Anfall vergolten. Aber zurück zu Ihnen beiden.« »Wir sind auf dem Heimweg von einer Beerdigung«, sagte Mr. Warren. »Hoffentlich niemand, der Ihnen lieb und teuer war?« »Mein Großvater.« »Sie ist jetzt ganz allein auf der Welt«, warf Mr. Warren ein. »Ihre Mutter starb, als sie noch ganz winzig war, und ihr Vater« – er räusperte sich – »wurde ihr ebenfalls in zartem Alter genommen.« »Arme kleine Waise! Mein aufrichtiges Beileid.« Die Stimme des Mannes klang so mitfühlend, man vergaß leicht, daß er ein Bankräuber war. »Grandpa ist gestürzt.« »Er wurde doch nicht geschubst, oder?« Das Interesse verlieh der Stimme des Mannes einen leichten Cockney-Akzent, wo er zuvor nur vornehm geklungen hatte. Und Flora schoß durch den Kopf, daß er viele Stimmen und vermutlich fast ebenso viele Gesichter hatte.
»Natürlich wurde er nicht geschubst«, entgegnete sie, als der Wagen ruckartig zum Stehen kam und sogleich wieder einen Satz nach vorn machte. »Es war ein Unfall. Grandpa muß schwindelig geworden sein und – « »Verzeihen Sie, wenn ich Ihre traurige Geschichte unterbreche, meine Liebe. Aber die Wahrheit ist, mir wird allmählich selbst ein wenig schwindelig. Man schaut einem geschenkten Gaul ja ungern ins Maul, aber der Fahrstil dieses guten Mannes bekommt mir anscheinend nicht. Daher wäre ich Ihnen dankbar, falls es nicht zu viele Umstände macht, wenn Sie mich an der nächsten Ecke rauslassen.« »Wie Sie wünschen, Kumpel.« Mr. Warren wirkte beinahe enttäuscht, als er das Auto rumpelnd zum Stehen brachte. »Ich nehme nicht an«, fügte er hinzu, als die hintere Tür aufging, »daß Sie zu denen gehören, die den Reichen nehmen und den Armen geben?« »Bedaure!« »Dachte nur, ich frage wenigstens, aber wenn es nicht drin ist.« Mr. Warren griff neben seinen Sitz und holte einen Bogen Papier hervor. »Vielleicht könnten Sie noch dieses Formular ausfüllen – dauert nur eine Minute – und bei meinem Boß ein gutes Wort für mich einlegen.« »Ist mir ein Vergnügen«, sagte der Mann mit scheinbar aufrichtiger Begeisterung. »Vielen Dank fürs Mitnehmen.« Mit diesen Worten kletterte er aus dem Wagen und wurde sogleich vom Nebel aufgesogen. »In diesem Job trifft man interessante Leute«, sagte Mr. Warren nur, als er den Gang einlegte und wieder losfuhr, wie Flora hoffte, in Richtung Gossinger Hall. Ihr war zwar ein wenig mulmig, doch hysterisch war sie beileibe nicht. Hatte Grandpa ihr nicht von Kindesbeinen an beigebracht, daß Menschen ihres Standes keine Szenen machten, selbst wenn keine wichtige Persönlichkeit zugegen war?
»Unerschütterlichkeit«, pflegte er zu sagen, »ist die erste Pflicht eines guten Dieners. Wir sind nicht schnell bedrückt, Flora, und nur selten beeindruckt.« Der Wagen rumpelte die Straße entlang, und Flora schloß die Augen und rief in Gedanken Schnappschüsse ihrer glücklichen Kindheit ab, als die Welt jenseits des Dorfs nur in dem magischen Universum der Phantasie existierte und sie glaubte, Grandpa würde so alt werden wie Noah in der Bibel. Sie bedauerte es, als Mr. Warren gelassen verkündete, sie seien da, heil und unversehrt auf Gossinger eingetroffen. Flora wußte, sobald sie ins Haus ging, würden all die glücklichen Erinnerungen von den dunklen Schatten der Garderobe überdeckt werden. Daher begab sie sich nur widerstrebend in die Küche. Dort warteten Mrs. Warren, die in ihrem besten Mantel und Hut fast wie eine Fremde aussah, Mrs. Much und Mr. Tipp. Sally Warren war eine Frau, die bei Ärger jeglicher Art, ob groß oder klein, förmlich aufblühte. Und nachdem sie eine Viertelstunde lang noch einmal begeistert ihre liebsten Sterbebett-Geschichten nacherzählt hatte, herrschte eine nahezu festliche Atmosphäre. Zugegeben, es gab keine Luftballons oder Luftschlangen aus Kreppapier, dafür jedoch standen kleine Sandwiches, Buttercremeschnittchen und Lebkuchen auf dem Tisch, ergänzt durch die große Teekanne und den Milchkrug aus Keramik. Ich kann das nicht, dachte Flora. Ich kann nicht an einer Teeparty mit Leuten teilnehmen, die den Umstand feiern wollen, daß der Name, den der Tod diesmal aus dem Hut gezaubert hat, nicht der ihre war. Grandpa liegt in diesem dunklen Loch auf dem Friedhof und kann mit niemandem außer dem Wind sprechen. Und er konnte Zeitgenossen, die ächzen und stöhnen, nie ausstehen… Mit einem Gefühl beinahe trunkener Erleichterung besann Flora sich, daß sie
noch etwas zu erledigen hatte, etwas, das keinen Aufschub duldete. Sie mußte die Polizei anrufen und von dem Bankräuber berichten. Es wäre ein Verbrechen, Stillschweigen zu bewahren und dem Mann zur Flucht zu verhelfen, nur weil er in gewisser Weise für einen Lichtblick an einem ansonsten gräßlichen Tag gesorgt hatte. Grandpa hatte oft über Menschen gesprochen, die gegen das Gesetz verstießen, wie sie das Leben normaler Menschen – Menschen wie er und Flora – ruinierten.
Kapitel 7 Zwanzig Minuten später stand Vivian in seiner untadelig kultivierten Art am Fenster des Turmzimmers. Er hielt eine Teetasse in der Hand, und eine Haarlocke fiel ihm apart in die Stirn. Er war völlig durchfroren, obgleich er nicht vergessen hatte, für diesen Besuch wollene Unterwäsche einzupacken, und sprach teilweise in der Hoffnung, daß die Betätigung seiner Stimmbänder ihm helfen würde, sich aufzuwärmen. »Draußen hat gerade ein Polizeiwagen gehalten«, sagte er. »Jetzt schwindelst du aber, Jung-Vivian.« Lady Gossinger faßte sich an die Kehle, und ihre Augen traten hervor, als sie sich an ihren Mann wandte und ein unbeschwertes Lachen aufzusetzen versuchte. »Es ist wirklich furchtbar ungezogen von ihm, uns zu ärgern, findest du nicht auch, altes Haus? Was meinst du, sollen wir ihn zur Strafe in die Ecke stellen?« »Laß mich mal nachsehen, meine Liebe.« Sir Henry ging mit merklich schwerfälligen Schritten zu seinem Neffen hinüber. »Es scheint so, meine Liebe«, sagte er schließlich, »ja, ich denke, ich kann definitiv sagen, daß es sich um einen Polizeiwagen handelt.« Lady Gossinger gab einen gurgelnden Laut von sich, den man, so hoffte sie, dem Wind zuschreiben würde. »Selbst wenn es ein Polizeiwagen ist«, trug Miss Doffit in ihrem beschwichtigendsten Ton bei, »heißt das noch längst nicht, daß ein Polizeibeamter drinsitzt.« »Das ist wahr«, sagte Vivian Gossinger sanft, »aber nach dem Gesetz der Serie würde ich sagen, es ist ein ziemlich sicherer Tip.« »Dann…« Cousine Sophie zupfte an den Ärmeln ihrer rosaroten Strickjacke und fand schließlich eine Antwort. »Dann sind sie zweifellos wegen der Fernsehgebühren gekommen. Ihr
habt soviel um die Ohren, meine Lieben« – sie umfing Sir Henry und Lady Gossinger mit ihrem Lächeln -»da habt ihr wohl vergessen, sie zu bezahlen, oder?« »Das muß es sein.« Mylady schien nach dem kleinsten Strohhalm greifen zu wollen. »Meine Schwester Edna wird sich kugeln vor Lachen, wenn sie davon hört. Höchste Zeit, daß ich von meinem hohen Roß heruntersteige, wird sie denken. Aber es ist ja nicht so, als steckten wir in ernsthaften Schwierigkeiten, oder, Henry?« »Natürlich nicht, meine Liebe.« Er ging zu ihr und blieb neben ihr stehen, jedoch nicht so dicht, daß er sie berührte. »Vernünftige Jungs, die Polizei, die werden nicht so tun, als ob hier ein Mord geschehen wäre.« Drückende Stille senkte sich auf das Zimmer wie eine Staubschicht, und zumindest einer der Anwesenden hatte Mühe zu atmen. Dann sagte Vivian, er wolle nach unten gehen, um herauszufinden, was los war, und Cousine Sophie erbot sich mutig, ihn zu begleiten, in der Hoffnung, die Polizei vielleicht mit Käsegebäck bestechen zu können. »Nun also, meine Liebe…« Sir Henry nahm seiner Lady gegenüber Platz, als sie allein waren, ihm fiel jedoch nichts anderes ein, was er sagen könnte. »Noch eine Tasse Tee?« schlug sie vor, und als er darauf verneinend den kahlen Kopf schüttelte, musterte sie ihre festen Schuhe. An ihnen klebten noch Schlammspuren vom Friedhof. Die Angst steckte ihr in der Kehle wie ein Hühnchenknochen. Hat Henry ein blutrünstiges Bild vor Augen, wie sie Hutchins unter einem teuflischen Vorwand in die Garderobe locke und ihn kopfüber in das antiquierte WC stoße? Lady Gossinger war nicht dabeigewesen, als der tote Butler gefunden wurde, doch Vivian hatte unerschrocken und in allen Einzelheiten geschildert, wie der Mann bis zu den Knöcheln in der Toilette festklemmte. Und Henry, der sich verzweifelt bemühte, nicht
zusammenzubrechen, hatte hinzugefügt, daß es Hutchins erspart geblieben war, drei Stockwerke tief in den Tod zu stürzen, weil das alte Mauerwerk nachgegeben hatte. Warum sollte die Polizei hier sein, wenn nicht, weil man ein Gewaltverbrechen vermutete? Myladys Gedanken schossen hierhin und dorthin, wie eine Laborratte, die verzweifelt einen Fluchtweg aus ihrem Käfig sucht, bevor eine Riesenhand sie im Genick packt. Sollte sie die Angelegenheit direkt ansprechen und Henry fragen, ob er glaubte, daß er sie durch die Eröffnung, er wolle sein Testament ändern und Gossinger Hall Hutchins hinterlassen, den Rosenpfad zum Mord hatte beschreiten lassen? »Wir müssen uns über Mrs. Much unterhalten«, hörte sie sich statt dessen sagen. »Wie war das, meine Liebe?« »Sie hat gekündigt. Sie sagt, sie hätte eine bessere Stellung gefunden.« »Ach!« sagte Sir Henry. »Hältst du es nicht auch für sehr verdächtig, daß sie in einem Augenblick wie diesem das Weite sucht?« »Inwiefern?« »Ich wollte nichts sagen, um dich nicht zu beunruhigen, Henry.« Lady Gossinger holte Luft, um Kraft zu schöpfen. »Aber ich frage mich, ob diese Frau hundertprozentig ehrlich ist. Eine der Teetassen mit den wilden Rosen ist verschwunden und – « Sie wollte hinzufügen, daß man sich angesichts dessen nur fragen konnte, welch andere Missetaten sonst noch zum Repertoire von Mrs. Much gehören mochten, doch Sir Henry unterbrach sie. »Ach, das!« Er sah ausgesprochen verlegen aus. »Habe neulich selbst eine Tasse zerbrochen. Habe vergessen, es zu erwähnen, tut mir leid, meine Liebe.«
»Nun, die Tasse war nicht der einzige Gegenstand, der auf Wanderschaft gegangen ist.« Lady Gossinger trank zur Stärkung einen Schluck Tee. »Ich kann den Schuhanzieher nicht finden – den hübschen, länglichen mit dem Pferdekopf, den meine Schwester Edna uns zur Hochzeit geschenkt hat. Nun, warum schaust du denn so, Henry?« »Er ist in meinem Schlafzimmer, Mabel. Hab’ ihn benutzt, um Golfspielen zu üben. Hätte etwas sagen sollen, aber ich dachte, du würdest dir Sorgen machen, daß ich die Fensterscheibe zerschlage.« »Du hast jedes Recht auf deine kleinen Geheimnisse.« Es fiel Mylady nicht schwer, sich nobel zu geben. Das Gespräch – wenn es auch nicht ihren Plänen entsprechend verlief – war keine völlige Niete. Es gelang ihr, eine Träne aus dem Augenwinkel zu pressen. »Vielleicht fällt es dir schwer zu glauben, daß es mir ernst ist, mein Lieber, vor allem nach meinem schrecklichen Benehmen, als du mir erzähltest, daß du Hutchins Gossinger Hall hinterlassen wolltest. Aber Gott ist mein Zeuge, Henry, ich habe meinen Gefühlsausbruch bereut, kaum daß die Worte heraus waren, und seitdem plagt mich der Gedanke, daß der Tod des guten Mannes die Strafe für mein unchristliches Verhalten war.« »Unwahrscheinlich.« Sir Henry ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. »Wir alle drehen hin und wieder durch. Ja, wenn überhaupt, gebe ich nur mir die Schuld, deswegen, wie ich die Angelegenheit angepackt habe.« »Wie furchtbar lieb von dir, Henry!« Diesmal traten echte Tränen in Lady Gossingers Augen. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du könntest denken, daß es vielleicht doch kein Unfall war und daß ich… nun ja, du weißt schon, bei dem, was ihm zugestoßen ist, die Hand im Spiel hatte.« »Unsinn, meine Liebe. Der Gedanke ist mir nie gekommen.«
»Ich glaube, wir müssen jetzt vor allem eines tun.« Mylady schniefte, ohne darüber nachzudenken, daß man es für ordinär halten könnte, und fuhr fort: »Wir müssen uns darauf konzentrieren, was wir mit der armen kleinen Florie anfangen.« »Habe selbst auch schon darüber nachgedacht«, sagte Sir Henry. »Ich möchte dir einen Vorschlag machen, altes Haus.« Seine Frau lächelte unter Tränen. »Wir schicken sie nach Bethnal Green.« »Sie soll bei deiner Schwester Edna wohnen?« »Natürlich nicht, mein Lieber, das würde ich meinem ärgsten Feind nicht antun.« Mylady war derart von ihrem eigenen Großmut mitgerissen, daß ihr beinahe entschlüpft wäre, niemand solle Ednas furchtbarem Enkelsohn ausgesetzt sein. Und das ging nicht. Lady Gossinger hatte ihrem Mann nichts davon erzählt, daß der Junge sich am Tag von Hutchins’ Ableben den Zutritt zum Turmzimmer hatte erzwingen wollen. Aus Gründen, die in den dunkelsten Winkeln ihres Herzens verborgen waren, zog sie es vor, diese Information unter ihrem Hüfthalter unter Verschluß zu halten. »Nein, mir schwebt vor«, fuhr sie fort, »der armen kleinen Florie eine Zeitlang die Mietwohnung über dem alten Laden meiner Eltern zu überlassen.« »Dachte, die wäre schon vergeben.« »Nicht mehr. Die Vormieter waren anscheinend Windhunde: Nach zehn Jahren spottbilliger Miete sind sie zu fetteren Weiden weitergezogen.« Lady Gossinger versteifte sich, sie glaubte schwere Schritte auf den Stufen zu hören. Kündigten sie die Ankunft der Polizei an? Ein schwindelerregender Augenblick verstrich, in dem sie darauf wartete, daß eine Faust gegen die Tür hämmerte. Doch nichts geschah. »Ich habe vor wenigen Tagen einen Brief mit der Kündigung erhalten, Henry«, sagte sie, und ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren
ein wenig rasselnd, bis ihr aufging, daß sie den näherkommenden Servierwagen hörte. Mrs. Much klopfte und trat ein. »Sind wir soweit?« fragte sie mit einem Lächeln und klang, so fand die empörte Lady Gossinger, wie eine Pflegerin, deren Patient auf der Bettpfanne sitzt. Wirklich schade, daß diese Frau gekündigt hatte, sonst hätte sie sie auf der Stelle gefeuert. Was Mrs. Muchs feinen neuen Job betraf, so glaubte Mylady kein Wort davon. »Nein, wir haben unseren Tee noch nicht ausgetrunken«, erwiderte sie mit einer Stimme, die das Ergebnis ihres hartnäckigen Sprechunterrichts war und über die Edna sich schiefgelacht hätte. »Gehen Sie nur, Mrs. Much, und kommen Sie in einer halben Stunde wieder.« »Mache ihr ungern so viel Mühe, Mabel. All diese Stufen, du weißt schon.« Sir Henry, der an diesem Tag zusätzlich zu seiner Teilnahme am Begräbnisgottesdienst seine Privatkapelle aufgesucht hatte, war in besonders christlicher Stimmung. »Ach, machen Sie sich darüber mal keine Gedanken«, sagte Mrs. Much mit munterer Vertraulichkeit. »Ich kehre gern wieder in die Küche zurück. Als ich ging, wurde es da gerade spannend. Und ich liebe nichts so sehr wie ein wenig geistige Anregung, außer auf Händen und Knien von oben bis unten das richtige Haus zu schrubben, versteht sich.« Mrs. Much dachte glücklich darüber nach, daß sie dieses Haus bald verlassen würde, wo man bestimmt mehr als ein armes Mädchen gefoltert hatte, weil der Frühstückstoast angebrannt war. »Gehen Sie«, sagte Lady Gossinger in einem Ton, so eiskalt wie der Bodensatz in der Teekanne. »Sicher wird Mr. Vivian Ihnen die ganze Geschichte erzählen. So ein netter junger Mann. Gleich nach der Ankunft des Polizisten, der mit Flora und Mr. Warren über das Vorgefallene sprechen wollte, kam er in die Küche runter. Ein Constable
Sowieso, und er klang so zuversichtlich, wie man es sich nur wünschen kann, daß sie in kürzester Frist eine Verhaftung vornehmen werden.« Mylady gab einen erstickten Laut von sich. »Fred Warren?« fragte Sir Henry. »Ich kann verstehen, daß der Knabe mit Flora sprechen wollte, aber was zum Kuckuck will er von Warren?« »Er war es doch, der den Fluchtwagen gefahren hat«, erklärte Mrs. Much geduldig. »Den was?« Sir Henry sah fast ebenso verwirrt aus wie seine Gattin. »Für den Bankräuber.« Lady Gossinger stand auf und setzte sich sogleich wieder hin. Als sie ihre Stimme wiederfand, befahl sie Mrs. Much knapp, ganz von vorn anzufangen. Und irgendwie gelang es ihr, zutiefst schockiert auszusehen, als die Haushälterin enthüllte, was sie über Floras Heimfahrt von der Beerdigung mit Mr. Warren und dem Mann auf dem Rücksitz erfahren hatte. Doch innerlich sang Mylady – in einem recht tiefen Bariton – eine Ode an die Freude und die Freiheit. Wie dumm von ihr anzunehmen, die Polizei vermute eine Gewalttat hinter Mr. Hutchins’ Tod! Der bloße Gedanke war hirnrissig. Wäre der Bankräuber in diesem Augenblick zur Tür hereinspaziert, Mylady hätte ihm wohl einen dicken Kuß auf den bösen Mund gedrückt. Statt dessen verlieh sie ihrer angestauten Erregung Ausdruck, indem sie ihrem Mann einen kurzen Kuß auf die Wange gab, während Mrs. Much mit dem beladenen Servierwagen das Zimmer verließ. »Und Sophie dachte, die Polizei wäre wegen der Fernsehgebühren hier.« Sir Henry stieß einen langgezogenen Seufzer aus. »Konnte es auch nicht gewesen sein. Wir haben gar keinen Fernseher. Arme kleine Flora.«
»Ja, furchtbare Erfahrung für sie, nach allem, was sie durchgemacht hat«, pflichtete Lady Gossinger ihm bei. »Aber das Leben geht weiter, und sie wird sich bald erholt haben, wenn sie nach Bethnal Green geht.« »Bist du sicher, daß es so das beste ist, meine Liebe?« »Du nicht, Henry?« »Nun ja, ich hatte gedacht, wir brauchen sie hier. Dauert vielleicht eine Weile, Ersatz für Mrs. Much zu finden, und da Hutchins nicht mehr ist… du siehst doch sicher die Schwierigkeit, meine Liebe.« »Uns bleibt ja noch Tipp«, sagte Mylady. »Du schlägst doch nicht vor, ihn in Hutchins’ Fußstapfen treten zu lassen, oder?« gab er ungewohnt gereizt zur Antwort. »Unmöglich, Mabel. Habe noch nie darüber gesprochen, aber hatte nie viel für Tipp übrig. Horcht an Türen, weißt du. Und späht um Ecken. Eines Tages wird der Bursche mehr hören oder sehen, als ihm guttut. Habe ihn hierbehalten, weil seine Familie hier seit einer Ewigkeit in Arbeit und Brot steht…« Sir Henry hielt inne. Er blickte ostentativ zur Tür, die anscheinend nie jemand schloß. Wohlgemerkt, niemand außer Hutchins, der auch nie den Fauxpas begangen hatte, anzuklopfen, bevor er ein Zimmer betrat. »Würde mich nicht wundern, wenn Tipp jetzt da draußen steht«, fuhr Sir Henry im Flüsterton – zumindest hielt er es dafür – fort. »Eher vermutlich Mrs. Much«, konterte Lady Gossinger. »Wahrscheinlich macht sie sich am Servierwagen zu schaffen, bevor sie ihn abräumt, um das Teegeschirr nach unten zubringen.« »Will nicht mit dir darüber streiten, meine Liebe.« Sir Henry rieb seine Knie, die ein wenig wund waren von der langen Zeit, die er heute kniend im Gebet verbracht hatte.
»Und vergiß, was ich über Tipp gesagt habe. Ich war wohl nie besonders fair ihm gegenüber. Ist ja nicht die Schuld des armen Kerls, daß einer seiner Vorfahren, ein Dienstmädchen hier aus dem Haus, verdächtigt wurde, das silberne Teesieb von Königin Charlotte gestohlen zu haben.« Sir Henry merkte, daß der Blick seiner Gattin zu dem Eichenschrank wanderte, wo sie den Sherry aufbewahrten. Er verstand den Wink. Da er ebenfalls eine Stärkung in flüssiger Form gebrauchen konnte, schenkte er sich und ihr ein. »Bitte sehr, meine Liebe.« Er reichte ihr ein Glas. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Hatte von Tipp gesprochen. Letzten Endes ist er auch nicht schlimmer als Cousine Sophie, wenn es um das Horchen an Türen und das Verstecken hinter Ecken geht. Weiß noch den Abend, als mein Vater im Sterben lag – « »Alles überaus interessant, Henry.« Lady Gossinger kippte den größten Teil ihres Cream Sherry in einem Zug hinunter. »Aber laß uns zu der armen Florie zurückkehren. Ich bleibe dabei, daß sie ein neues Leben beginnen muß. Wie mir scheint, Henry, sind wir ihr diese kleine Gefälligkeit schuldig.« Lady Gossingers Heiligenschein hing ein wenig beschwipst über ihrem linken Auge, als sie diese Worte sprach, aber ihr entging keineswegs, daß ihr Mann sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Zärtlichkeit ansah. »Du hast recht, meine Liebe, wie stets.« Sir Henry prostete ihr mit seinem Glas zu. »Wir überlassen die Wohnung ein Jahr mietfrei der kleinen Flora. Erinnert mich an meinen Vorfahren, den Schurken Sir Rowland. Der für den Erwerb der Silbersammlung und möglicherweise für das Verschwinden des Teesiebs verantwortlich war. Was Tipps Vorfahrin entlasten würde. Wie ich höre, hatte Sir Rowland die Gewohnheit, den Dienstmädchen, für die er eine besondere Vorliebe hegte, für eben diesen Zeitraum mietfrei eines seiner Cottages zu überlassen. Klingt gut. Aber man sagt auch, daß er auf einer
anderen Form der Bezahlung bestand. Hoffen wir, daß dies vor seiner Heirat war, ehe er hart zu arbeiten anfing. Doch genug davon, meine Liebe. Zurück in die Gegenwart. Wie du sagst, wird die kleine Flora, wenn wir das arme Kind nach Bethnal Green schicken, die Gelegenheit haben zu vergessen, und…« »Und was, Henry?« »Kein Grund, sich aufzuregen, Mabel.« Sir Henry warf seiner Gattin einen ernsten Blick zu, führte das Sherryglas an seine Lippen und trank einen großen Schluck. »Es ist noch nichts beschlossen, verstehst du, aber diese Idee gibt mir Zeit, um zu entscheiden, ob ich das Richtige tue.« »Inwiefern, altes Haus?« Lady Gossinger mußte die Stimme heben, um ihr plötzliches Herzklopfen zu übertönen. »Wenn ich der kleinen Flora Gossinger Hall hinterlasse.« Sir Henry sprach sehr schnell, mit geschlossenen Augen. »Scheint mir, nachdem ich den größten Teil des Tages gebetet habe, eine mögliche Lösung zu sein, jetzt da mein treuer Hutchins nicht mehr der Nutznießer sein kann.« »Jemand anders sollte schon mal anfangen zu beten«, murmelte Lady Gossinger, während sie mit einer Geste nach der Sherryflasche griff, die man nur als drohend bezeichnen konnte.
Kapitel 8 Wortlos bot Mrs. Much im Flur vor dem Turmzimmer Mr. Tipp ihr Taschentuch an. Dann fragte sie sich, ob sie auch das Richtige getan hatte, denn es war so kräftig gestärkt, daß sie fürchtete, er könne es dazu benutzen, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ihr Herz, das sie nach dem Tod ihres Mannes niemals mehr ganz verschenkt hatte – außer an Teppichböden und bunte Toilettenbrillen – schlug mit diesem ältlichen Mann, der so wenig Fleisch auf den Knochen hatte, daß ein Geier den Schnabel gerümpft hätte bei der Aussicht, ihn zum zweiten Frühstück vorgesetzt zu bekommen. Der arme Mann! Und dabei hatte er seine Pflicht und Schuldigkeit getan und war mit ihr nach oben gekommen, um ihr zu helfen, das Teegeschirr wegzuräumen! Doch dies war weder die Zeit noch der Ort, um mit Mr. Tipp die ausgesprochen gemeinen Dinge zu erörtern, die Sir Henry über ihn gesagt hatte, bevor er erklärte, er wolle Gossinger Hall Flora Hutchins hinterlassen. Natürlich war Mrs. Much von dieser Neuigkeit überrascht, doch sie interessierte sich nicht sonderlich für ein Testament, in dem ihr Name nicht erwähnt war. Sie ging mit einem mit Geschirr beladenen Tablett die Treppe hinunter, und ihr geschmähter Kollege folgte ihr mit einem Haufen Besteck in den Händen und trug eine Miene zur Schau, als solle er bald erneut dem Friedhof einen Besuch abstatten. Nur noch wenige Tage in dieser Scheußlichkeit von Haus, sagte sich Mrs. Much, als sie über die Steinfliesen zur Küche ging, dann würde sie ihre neue Stellung antreten. Natürlich würde es nicht so sein wie damals, als sie für die verstorbene, geradezu heilige Mrs. Frome arbeitete, aber in der Not durfte man nicht wählerisch sein. Und man konnte fairerweise nicht
erwarten, daß irgend jemand, einschließlich Ihrer Majestät der Königin, imstande wäre, den von Mrs. Frome gesetzten hohen Standards gerecht zu werden. »Was sagten Sie noch gleich, wo Sie demnächst arbeiten werden?« Mr. Tipp gab sich alle Mühe, interessiert zu scheinen. »Ich glaube nicht, daß ich es erzählt habe.« Mit dem Ellbogen stieß Mrs. Much die Küchentür auf, ohne daß das schwerbeladene Tablett auch nur flüchtig ins Wanken geriet. »Es ist nicht so, als neigte ich von Hause aus zu Geheimniskrämerei, aber nach dieser letzten Erfahrung bin ich zu dem Schluß gelangt, daß man nie weiß, was einen erwartet, wenn man eine neue Stellung antritt. Also bin ich lieber nur vorsichtig optimistisch, was meine künftige Arbeit im Buckingham-Palast betrifft.« Mr. Tipps offener Mund sagte alles, was Mrs. Much zu hören wünschte. »Es ist noch so eins von diesen alten Schlössern«, räumte sie ein, »aber von meiner Cousine, die dort arbeitet – sie hat ein gutes Wort für mich eingelegt –, habe ich gehört, daß es wunderbar in Schuß gehalten ist. Ich soll als Zimmermädchen im eigentlichen Sinne des Wortes anfangen – meine Wirkungsstätte werden die Badezimmer sein… Sie glauben doch nicht, Mr. Tipp, daß es im Buckingham-Palast eine Garderobe gibt?« »Vermutlich nicht. Es gibt nicht viele Häuser in England, die es mit den Wundern von Gossinger Hall aufnehmen können.« »Das beruhigt mich ungemein. Nehmen Sie Platz, Mr. Tipp, dann mache ich uns einen schönen Tee«, bot Mrs. Much freundlich an. Nur sie beide befanden sich in der Küche. Allerdings hatte inzwischen jemand rücksichtsvollerweise die Überbleibsel des Leichenschmauses abgeräumt und den Abwasch erledigt.
»Sieht so aus, als hätte dieser Polizist alle in Gewahrsam genommen«, sagte Tipp – er bezog sich auf Mr. und Mrs. Warren, Flora, Mr. Vivian Gossinger und Miss Sophie Doffit. »Das bestimmt nicht, der Streifenwagen war nicht groß genug.« Mrs. Much nahm ihm das Besteck ab, ehe er sich eine Verletzung zufügen konnte – durchaus ein Risiko in seinem depressiven Gemütszustand –, und überlegte, ob es ratsam wäre, einen körperlichen Annäherungsversuch zu machen. Nach dem Tod seiner Frau hatte sie Mr. Frome die Hand gehalten, und schließlich hatte der arme Mann in ihren Armen geschluchzt wie ein Zweijähriger und gesagt, er habe Angst, allein zu schlafen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Prinz Philip in ihren Armen schluchzen würde, aber man konnte ja nie wissen. »Sollte nur ein Witz sein.« Mr. Tipp saß mit hochgezogenen Schultern am Küchentisch. »Das mit der Polizei, meine ich.« »Tja, ich halte es nachgerade für ein Wunder«, sagte Mrs. Much, »daß Sie in der Lage sind, auf Sir Henrys Auslassungen mit Humor zu reagieren. Sie sind ein richtiger Mann, mein Freund, und lassen Sie sich von niemandem das Gegenteil einreden.« »Sehr freundlich von Ihnen.« Mr. Tipp erwies sich als würdiger Empfänger des ihm zuteil gewordenen netten Kompliments, indem er mannhaft einen Schluck Tee trank, der von einer weiteren Topfsäuberungsaktion intensiv nach Bleichmittel schmeckte. »Ganz im Vertrauen«, fuhr er mit gespitzten Lippen fort. »Es hat mich schon umgehauen, als Sir Henry sagte, er wolle Gossinger Hall Flora hinterlassen. « »Und ich kann Sie sehr gut verstehen.« Mrs. Much ließ sich mit ihrer Tasse ihm gegenüber nieder. »Aber was mich wirklich erschüttert hat, Mr. Tipp, waren die gehässigen Dinge, die er über Sie gesagt hat.« Sie überlegte, ob sie es wiederholen
sollte – Wort für Wort, um seine Erinnerung aufzufrischen –, beschloß jedoch, statt dessen ein Stück Lebkuchen zu essen. »Ach, das habe ich mir überhaupt nicht zu Herzen genommen«, erwiderte Mr. Tipp. »Es heißt ja, ›der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand’‹. Und wäre ich nicht nach oben in den Turm gegangen, um Ihnen beim Abräumen zu helfen, hätte ich nie erfahren, was Sir Henry über mich geäußert hat. Also habe ich es nur mir selbst zuzuschreiben, das kann man nicht anders sagen.« »Sie wollten doch nur nett sein.« Mrs. Much sah sich dazu veranlaßt, ihm ein dickes Stück Lebkuchen zu geben. Mr. Tipp hielt den Kopf gesenkt und knetete an seinen Fingern, die nur noch Haut und Knochen waren. »Sir Henry ist immer fair und gut zu mir gewesen. Hatte nie einen Grund, mich zu beklagen. Hutchins fehlt ihm, nur deshalb sagt er Dinge, die er nicht so meint. Und es ist gut möglich, daß er sich… na ja, ernsthafte Sorgen macht.« »Weil er Hutchins verloren hat und ich anschließend gekündigt habe?« Mrs. Much schob ihren Stuhl näher an den Tisch heran. »Nun, ich kann verstehen, daß ihn das mitgenommen hat. Ich will nicht großspurig sein, und ich sage es auch nur unter uns, Mr. Tipp, aber mich wird man nicht leicht ersetzen können. Es gibt nicht viele, die auf eine Leiter klettern und all diese schmutzigen alten Gemälde abnehmen würden, um sie mal kräftig mit Stahlwolle abzureiben. Man kann die Gesichter auf den Bildern nicht mal erkennen, weil sie alle so aussehen, als hätte man sie in Bratfett getaucht.« »Sie sind einzigartig, keine Frage.« Mr. Tipp trank noch einen Schluck von seinem Tee, was der Grund für seine angespannte Miene sein mochte. »Ich bin überzeugt, Sir Henry und Mylady wissen nicht, wie sie ohne Sie zurechtkommen sollen. Und es ist ja nicht so, als hätten sie nicht schon genug andere Probleme. Manchmal, vor allem abends, mache ich mir so
meine Gedanken, ob Sir Henry nicht insgeheim befürchtet, daß es kein Unfall war, was Hutchins zugestoßen ist.« »Was, wie kommen Sie denn darauf?« Als Mrs. Much sich neugierig vorbeugte, bohrte sich ihr Ellbogen in ihren Lebkuchen, und sie mußte aufstehen, um ihren Arm abzuwaschen. Nachdem sie diese Aufgabe ungewohnt flüchtig erledigt hatte, ging sie zum Tisch zurück und nötigte Mr. Tipp noch Tee auf. »Nun ja, wenn Sie sich noch an den Tag des Unfalls erinnern – « »Wer könnte den vergessen!« »Was ich sagen will…« Mr. Tipp senkte die Stimme und blickte sich besorgt um, als fürchte er, es könne sich jemand in der Speisekammer versteckt halten und an der Tür horchen. »Wissen Sie noch, wie ich Ihnen an jenem Nachmittag erzählte, ich hätte gehört, wie Lady Gossinger und Miss Doffit darüber sprachen, daß Sir Henry sein Testament ändern wollte?« »Ich entsinne mich.« Mrs. Much nickte. »Vielleicht sollte ich es nicht wiederholen.« Mr. Tipps Lippen zuckten, und er starrte auf sein Stück Lebkuchen, als fürchte er, es könne vom Teller hochspringen und ihn beißen. »Ich finde, Sie sollten sich alles, was Ihnen zu schaffen macht, von der Seele reden«, riet Mrs. Much, um ihn zu ermutigen. »Vertrauen Sie mir, Sie armer kleiner Mann, ich werde es keiner Menschenseele weitererzählen.« »Es war so.« Mr. Tipp verkroch sich tief in seinen Stuhl. »Mylady war schrecklich mitgenommen, weil Sir Henry gerade verkündet hatte, daß er sein Testament ändern und Gossinger Hall Hutchins hinterlassen wolle.« »Nein, sowas!« »Also begreifen Sie sicherlich…«
»Ja, natürlich!« Beinahe hätte Mrs. Much hinzugefügt, sie habe ja kein Spatzenhirn, biß sich jedoch noch rechtzeitig auf die Zunge. »Sie meinen, diese böse Frau da oben, mit ihrer gekünstelten Stimme und den Manieren eines Emporkömmlings, ermordete Mr. Hutchins, bevor Sir Henry zu seinem Anwalt gehen und das neue Testament unterschreiben konnte.« »Ich sage nicht, daß Mylady irgend etwas… irgend etwas getan hat.« Mr. Tipp sah mehr denn je wie ein Gerippe aus, als er auf seinem Stuhl herumrutschte. »Ich denke lediglich, daß Sir Henry ins Nachdenken gekommen sein und sich schreckliche Sorgen machen könnte. Der Arzt hat ja schließlich keine Fragen gestellt, oder? Er sagte zwar, es müsse eine gerichtliche Untersuchung stattfinden – so habe ich es wenigstens verstanden; aber es klang nicht so, als rechne er damit, daß etwas Verdächtiges zum Vorschein kommen würde.« »Ich bin davon ausgegangen, alle erklärten sich den Vorfall etwa so wie ich«, sagte Mrs. Much. »Mr. Hutchins war nach oben gegangen, um wie gewohnt die Garderobe zu überprüfen und sich darum zu kümmern, daß sie nicht noch weiter verfällt – obwohl Sie mich nicht fragen dürfen, was das sollte. Und dann wurde ihm plötzlich schwindelig – und wem würde es an einem so häßlichen, unhygienischen Ort nicht so gehen –, und er beugte sich vielleicht hinunter, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, nur nützte es nichts, und er fiel vornüber in dieses gräßliche Loch von Toilette.« »So könnte es passiert sein.« Mr. Tipp versuchte tapfer, sich den Anschein zu geben, als glaube er an diese Version. »Es ist ja nicht so, als hätte man Hutchins dort eingeschlossen, nicht wahr? Das wäre in der Tat verdächtig gewesen. Aber die Tür stand offen, wie weit, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber weit genug, um Mr. Vivian Gossinger aufmerksam zu machen,
denn es galt immer die strikte Regel, daß die Garderobe zugesperrt sein soll. Nur Hutchins und Sir Henry hatten Schlüssel, wenigstens soviel ich weiß.« »Trinken wir noch eine Tasse Tee, während wir uns das durch den Kopf gehen lassen«, schlug Mrs. Much vor. »Ich mache ihn – « Mr. Tipp wollte aufstehen. »Nein, Sie bleiben, wo Sie sind.« Dies wurde mit größter Bestimmtheit gesprochen. »Ich lasse nicht zu, daß Sie sich überanstrengen, indem Sie diesen großen, schweren Kessel heben, der meiner Einschätzung nach noch aus der Eisenzeit stammt.« »Ich bin stärker, als ich aussehe.« »Das sind die Drahtigen oft«, pflichtete Mrs. Much bei, da sie befürchtete, die Gefühle des armen kleinen Mannes verletzt zu haben. »Es würde mich nicht überraschen, wenn Sie in Ihrer Jugend geboxt hätten.« »Nein.« Mr. Tipp schüttelte den Kopf. »Meine Ma und mein Pa hätten mir so was nie erlaubt. Sie waren Dissenter.« »O ja, mein Onkel gehörte auch zu denen. Sie interessieren sich brennend für alles, was mit Sünde zu tun hat«, sagte Mrs. Much kenntnisreich, als sie mit der frischen Kanne Tee zum Tisch zurückkam und die Gastgeberin mimte. »Aber selbst ein bodenständiger Mensch wie ich, Mr. Tipp, weiß, daß der Mord an einem Mitmenschen wegen eines Testaments nicht das richtige Mittel ist, um sich einen Platz im Himmelreich zu erwerben. Sie wissen ja,« – sie reichte ihm Tasse und Unterteller – »ich habe nie viel von Lady Gossinger gehalten. Aber bei allem Respekt, das ist etwas ganz anderes, als zu denken, sie könnte Mr. Hutchins um die Ecke gebracht haben.« »Durchaus möglich, daß sie es nicht war.« Mr. Tipp starrte in seine Tasse, als hoffe er, die Teeblätter würden ihm einen Fingerzeig geben.
»Na, jetzt sind Sie aber umgeschwenkt.« Mrs. Much setzte sich vollends verwirrt an den Tisch. »Haben Sie nicht gerade selbst gesagt, Mylady hätte ein Motiv? Und man braucht keine Kriminalromane zu lesen, um zu wissen, daß man immer erst danach suchen muß. Aber warten Sie mal«, rief sie. Offenbar war ihr eine neue Idee gekommen. »Mir scheint, es gibt noch eine andere Person, die wohl keine Freudensprünge gemacht hat, als Sir Henry den Entschluß faßte, den Stammsitz seiner Vorfahren einem Außenstehenden zu vermachen. Mr. Vivian Gossinger.« »Er kann es nicht gewesen sein.« Mr. Tipp sprach mit ungewohnter Überzeugung. »Mr. Vivian hat nie viel für Gossinger übrig gehabt.« »Dann hat er mehr Grips, als man vermuten würde, wenn man ihn sieht, ob von vorn oder von hinten.« Mrs. Much löffelte Zucker in ihren Tee und rührte so kräftig um, daß das Muster in ihrer Tasse verschwamm. »Aber das ist nicht das gleiche, als sei er kreuzfidel gewesen wie ein kleines Kätzchen mit zwei Schwänzen und einer toten Maus, als sein Onkel plötzlich verkündete, Hutchins werde das Haus erben. Fragen Sie mich nicht, warum überhaupt jemand hier leben will; über schlechten Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Und wer weiß, wie Mr. Vivian – welch schlapper Name für einen Mann – sich aufführt, wenn er sich unbeobachtet glaubt. Wie Mrs. Warren mir erzählt hat, gibt es seit undenklichen Zeiten atmosphärische Störungen in der Familie.« »Sally Warren glaubt, ihr eigener Mann wäre gestört, weil er so oft vergißt, Plastiktüten in den Mülleimer zu stecken«, sagte Mr. Tipp beherzt. »Tja.« Mrs. Much warf einen Blick auf die Wanduhr und gelangte zu dem Schluß, die Arbeit könne ruhig noch eine halbe Stunde warten. »Wenn Sie nicht glauben, daß Mr. Vivian Gossinger das Verbrechen begangen hat, wer außer Mylady
sollte es sonst gewesen sein? Niemand hatte durch dieses Testament so viel zu verlieren wie sie. Es sei denn,« -Mrs. Much trank von ihrem Tee, während sie über die Angelegenheit nachdachte – »Miss Doffit bekam plötzlich Unterrocksausen, weil sie dachte, sie könne ohne Brot und Dach über dem Kopf dastehen, wenn Mr. Hutchins das Ruder übernimmt. Unter uns gesagt, Mr. Tipp, ich habe zwar eine Schwäche für die alte Dame, aber es läßt sich nicht leugnen, daß sie einen Triller unterm Pony hat. Und sie ist sehr rüstig für eine Frau, die auf die Neunzig zugeht.« Mr. Tipp schüttelte den Kopf. Für ihn kam Miss Sophie Doffit nicht als überzeugende Tatverdächtige in Frage. »Ich bin es immer wieder im Kopf durchgegangen«, sagte er, »und inzwischen denke ich, falls Mr. Hutchins tatsächlich ermordet wurde, könnte es doch sein, daß das Testament jemandem, der ihn aus ganz anderen Gründen aus dem Weg schaffen wollte, zufällig gelegen kam.« »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Mrs. Much. »Sobald die Polizei erkennen würde, daß es sich nicht um einen Unfall handelte, wäre klar, daß Lady Gossinger das stärkste Motiv hatte. Und falls es ihr dennoch gelänge, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, blieben da immer noch ihr Neffe und diese arme schusselige alte Dame. Man kann den Gedanken kaum ertragen, nicht wahr? Nicht, wenn der Täter eine andere Person war, die nichts Gutes im Schilde führte. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin längst nicht davon überzeugt, daß Mr. Hutchins nicht einfach ohne fremdes Zutun in die Toilette gefallen ist.« Mrs. Much warf wieder einen Blick auf die Uhr. »Eines muß ich Ihnen lassen, Mr. Tipp, in Ihnen steckt viel mehr, als man auf den ersten Blick vermutet. Mir scheint, Sie sollten es wie einer dieser Privatdetektive machen und gegen Geld Nachforschungen anstellen.«
»Sehr freundlich von Ihnen.« Mr. Tipps hageres Gesicht legte sich noch mehr in Falten, als er lächelte. »Wenn ich jemals so etwas tun sollte, dann nur als Nebenbeschäftigung, als Hobby sozusagen, da ich Gossinger nie und nimmer verlassen würde.« »Und ich dachte schon, ich könnte Ihre Assistentin werden.« Mrs. Much wurde blaß, noch während sie lachte. »Das Problem ist nur, Mr. Tipp, selbst wenn noch jemand gehört hat, wie Sir Henry davon sprach, sein Testament zu ändern… oder, was wohl wahrscheinlicher ist, wenn jemand geplaudert hat, bleiben nicht mehr viele andere Verdächtige übrig. Nur Sie und ich, wenn man es genau nimmt.« »Da wäre noch Sally Warren.« »Ja, sicher.« Mrs. Much stand auf und machte sich daran, das Teegeschirr abzuräumen. »Und wenn wir schon Detektiv spielen und nach einem Grund suchen, warum sie Mr. Hutchins aus dem Weg räumen sollte, wäre doch zum Beispiel folgendes denkbar: Er fand heraus, daß sie sich aus der Kasse des Cafés bedient hatte, und wollte Sir Henry informieren. Vielleicht« – sie versuchte vergeblich, sich nachsichtig zu geben – »steckte die arme Seele finanziell in der Klemme, nachdem ihr Mann seinen Job in der Gärtnerei verloren hatte, weil der Sohn des Eigentümers seinen Platz einnahm, und Mr. Warren sich als Taxifahrer verdingen mußte.« »Ich habe Sally nicht beschuldigt«, sagte Mr. Tipp. »Wen dann?« »Wir müssen fair sein.« »Na schön.« Mrs. Much vollführte einen Balanceakt mit dem Geschirr. »Sie geben mir ein paar Sekunden Zeit, um das hier in die Spüle zu stellen, und dann spiele ich Sherlock Holmes und sage Ihnen, warum Sie der Täter sein könnten, und anschließend drehen wir den Spieß um – Fair play –, und Sie versuchen einen Grund zu finden, warum ich Mr. Hutchins beseitigt haben könnte.« Sie drehte das Wasser ab und gab
einen Spritzer Spülmittel hinein. »So«, sagte sie, als ihre Arme bis zu den Ellbogen in Seifenlauge steckten, »jetzt kann ich mich konzentrieren, Mr. Tipp. Obgleich ich nicht weiß, warum ich hier mit dem Rücken zu Ihnen stehen sollte, wenn ich Sie wirklich für den Mörder hielte.« »Aber wenn ich es getan hätte?« »Nun, der Grund müßte sein, daß Sie immer in Hutchins’ Fußstapfen treten wollten.« »Das wollte ich nie.« »Das würden Sie natürlich sagen müssen.« Mrs. Much stellte die Teekanne hochkant auf das Abtropfbrett. »Und wenn wir schon phantasieren, behaupte ich, daß Sie es immer gehaßt haben, nach Mr. Hutchins’ Pfeife tanzen zu müssen, zumal Sie selbst gesagt haben, daß Ihre Familie schon seit Hunderten von Jahren auf Gossinger arbeitet. O ja« – sie erwärmte sich für das Szenarium – »wie muß es an Ihnen genagt haben, trotz Ihrer treuen Dienste niemals eine richtige Anstellung zu bekommen!« Mr. Tipp öffnete den Mund, um Einwände zu machen. Mrs. Much jedoch war nicht mehr zu bremsen. »Ja, ich weiß, Sie werden sagen, daß Sie offiziell immer noch für die Stallungen zuständig sind, aber ich würde einwenden, das ist nur Salz in Ihren Wunden. Im Stall gibt es nichts mehr auf vier Beinen, es sei denn, man nimmt die ausgemusterten alten Tische. Und dann müssen Sie noch erfahren, daß Sir Henry hingeht und das Haus Mr. Hutchins hinterläßt!« Sie spülte den Milchkrug aus. »Tja, unter diesem Blickwinkel ist es nicht verwunderlich, mein Freund, wenn Sie durchgedreht sind und dafür gesorgt haben, daß seine einzige Hinterlassenschaft in einem Stück Erde auf dem Friedhof besteht.« »Sie haben mich wasserdicht überführt.« Mr. Tipp verschränkte nervös die Hände. »Offen gestanden, war Mr. Hutchins nie ganz mein Fall.«
»Viel zu herrschsüchtig«, pflichtete Mrs. Much ihm mit der Lebhaftigkeit eines Menschen bei, der sich über diesen fatalen Fehler erhaben weiß. »Besonders störte mich, wenngleich ich es mir nicht anmerken ließ, daß Mr. Hutchins mich nie beim Putzen des Silbers helfen ließ«, fuhr Mr. Tipp nachdenklich fort. »Ich habe mich oft gefragt, ob er befürchtete, ich würde mit einem der Stücke durchbrennen, wegen dieses Dienstmädchens aus meiner Familie, die manche für die Diebin des silbernen Teesiebs der Königin hielten.« »Ich glaube nicht, daß es darum ging.« Mrs. Much sah sich genötigt, die Kränkung zu lindern, die der arme kleine Mann erlitten hatte, bevor er noch in Tränen ausbrach und sie den Tisch schließlich noch einmal abwischen mußte. »Eifersucht war der Grund, warum Mr. Hutchins sich derart mit dem Silber aufspielte. Man hätte meinen können, es sei seit zweihundert Jahren im Besitz seiner Familie. Ich persönlich habe ja immer gedacht, daß es nach fünf oder sechs Jahren an der Zeit ist, einen Gegenstand loszuwerden und sich zu verändern. Wie Mrs. Frome, Gott sei ihrer Seele gnädig, oft zu mir sagte: Wenn ich mir nichts Neues leisten kann, verzichte ich lieber ganz.« Mr. Tipp, der die vielen treffenden Aussprüche Mrs. Fromes mittlerweile wortwörtlich hätte zitieren können, nickte nur. »Und nun« – Mrs. Much wischte ein letztes Mal mit dem Trockentuch über die Spüle und überprüfte, ob sie ihr Gesicht in den Armaturen sehen konnte – »müssen Sie mir sagen, Mr. Tipp, warum Sie denken, daß ich auf der Liste der Verdächtigen stehen sollte.« »So auf Anhieb ist es eine ziemlich harte Nuß.« »Na na, nur keine Angst, ich werde nicht beleidigt sein.« Mrs. Much ließ sich am Tisch nieder und setzte ein strahlendes
Lächeln auf. »Wenn ich austeilen kann, kann ich auch meine eigene Medizin schlucken.« »Es ist nicht so, als ob ich im Ernst denken würde – « »Natürlich nicht.« Mr. Tipp sprach zu einem Punkt über ihrem Kopf. »Aber wenn ich ein echter Detektiv wäre, könnte ich auf den Gedanken verfallen, daß Sie beunruhigt waren, weil Mr. Hutchins so böse reagierte, als Sie zum Beispiel diese Wandbehänge wuschen. Er hätte dafür sorgen können, daß Sie schlechte Referenzen bekommen, und das hätte Ihre Hoffnungen, im Buckingham-Palast zu arbeiten, zunichte machen können.« »Nein, so was!« Mrs. Much versuchte, einen bewundernden Ton anzuschlagen. »Mr. Tipp, Sie haben wirklich eine blühende Phantasie.« »Sich selbst überlassen ist Sir Henry ja eher ein alter Softie.« »Mylady aber nicht.« »Aber es ist Sir Henry, der die Referenzen verfaßt. Ich habe mich hin und wieder gefragt, was der Grund sein könnte.« Mr. Tipp sah Mrs. Much jetzt wieder in die Augen. »Ob es daran liegen könnte, daß sie ein bißchen unsicher in Rechtschreibung ist, so wie ich?« »Nun, zweifellos kann ihr niemand vorwerfen, Sie wäre in Oxford oder Cambridge gewesen. Das heißt, mal abgesehen von Vergnügungsausflügen.« Allmählich erholte sich Mrs. Much wieder davon, daß sie – in übertragenem Sinne – auf der Anklagebank gesessen hatte. Doch es ließ sich nicht leugnen, Mr. Tipp hatte ihr einen Schock versetzt. »Es scheint, wir sind jeden durchgegangen, der Mr. Hutchins möglicherweise aus dem Weg räumen wollte. An jenem Tag war sonst niemand im Haus, bis auf die junge Flora, und Sie können unmöglich annehmen, daß sie… nicht ihren eigenen Großvater, der sich um sie gekümmert hat, seit sie ein kleines Mädchen war. Es sei
denn…« Mrs. Much sah sich in der antiquierten Küche um und spürte erneut, wie begierig sie darauf war, Gossinger Hall zu entkommen. »Es sei denn«, fuhr sie fort, »die junge Flora glaubte sich an dieses Haus gekettet, solange ihr Großvater lebte, und griff nach dem einzigen Mittel, das in ihren Augen ein Ausweg war.« Mr. Tipp schien ihr nicht aufmerksam zuzuhören. »An dem Tag, als Mr. Hutchins starb, hielten sich hier noch andere Personen auf«, sagte er langsam. »Da war diese Jungenklasse mit ihrem Lehrer von irgend so einer piekfeinen Londoner Schule.« »Stimmt.« »Und wenn Sie sich noch erinnern, Mrs. Much, war einer der Schuljungen Lady Gossingers Neffe. Sein Name war Horace. Oder Boris.« »Das ist ja alles sehr interessant, Mr. Tipp, aber warum in Gottes Namen sollte er Hutchins ermorden?« »Ich denke ja nicht, daß er der Mörder war; aber ich weiß noch, als ich ihm vor dem Turmzimmer begegnete, sagte er etwas, das mir damals zwar noch nicht merkwürdig vorkam, Mrs. Much, doch später packte mich das kalte Grausen. Dieser Junge sagte, jemand solle Lady Gossinger in die Garderobe einschließen.« »Allmächtiger!« »Angenommen« – Mr. Tipps Gesicht schien ob seiner Begeisterung für diese Theorie Fett anzusetzen – »Boris, oder wie immer er auch hieß, brachte Mr. Hutchins dazu, ihm die Garderobe zu zeigen, und schloß ihn dann zum Spaß dort ein. Schuljungen machen so was; zumindest war es in den Geschichten so, die ich im Schoolboy’s Annual las, als ich selbst noch ein junger Bursche war. Und vielleicht hatte er ja durchaus vor, Mr. Hutchins wieder rauszulassen, aber entweder
hat er es vergessen oder er konnte seinem Lehrer nicht wieder entwischen.« »Oh, wenn das nicht der häßlichste Verdacht ist, den Sie bisher geäußert haben«, sagte Mrs. Much. »Ein Kind in seinem zarten Alter, das den Tod eines seiner Mitmenschen auf sein Gewissen geladen hat!« »Ja, aber nicht mit – wie sagt man noch? – mit Vorsatz. Als er ihn schließlich freilassen wollte, war Hutchins bereits an einem Herzanfall oder was auch immer gestorben.« Mr. Tipp schüttelte den Kopf. »Zumindest kann ich es mir so vorstellen.« »Ich schätze, es ist ein angenehmerer Gedanke, daß wir es mit jemandem zu tun haben, der bloß einen albernen Streich ausgeheckt hat, als mit einem kaltblütigen Mörder, der alles im voraus plante.« Ein wenig unsicher stand Mrs. Much auf und ging zur Speisekammer hinüber, wo sie an einem Haken an der Tür eine Reservestrickjacke aufbewahrte. »Es ist schlimm genug, wenn man in der Zeitung über Mordfälle liest, so wie über diese Frau, die neulich aus dem Waschsalon in Grimsby verschwand, oder diesen alten Mann, der zuletzt nicht weit von hier gesehen wurde. Aber vor der eigenen Tür sozusagen rechnet man mit so was nicht. Nun, höchstwahrscheinlich ist nur Ihre Phantasie mit Ihnen durchgegangen, Mr. Tipp, und Sie haben mich angesteckt, aber mir scheint, wir täten gut daran, die Polizei anzurufen. So ein netter junger Mann, dieser Polizist, der mit Flora und Mr. Warren über den Bankräuber gesprochen hat!« »Er hat sie eingehend verhört, nicht wahr?« Mr. Tipp sah auf die Uhr und stand ebenfalls auf. »Ich nehme an, das haben sie schnell raus – ich meine, bohrende Fragen zu stellen, um die Leute dazu zu bringen, ihnen Dinge zu sagen, die sie eigentlich nie verraten wollten.«
»Ja, sehr schlau, wenn man es genau betrachtet«, erwiderte Mrs. Much flach. Ihre Gedanken kreisten hartnäckig um ihre frühere Arbeitgeberin, Mrs. Frome, die ihre anhängliche Haushälterin liebenswürdigerweise in ihrem Testament bedacht hatte. Sie hatte es nur wenige Monate, bevor sie der tödlichen Überdosis erlag, aufgesetzt. Und vor Mrs. Frome war da die nette, freundliche Mrs. Ashford, die Mrs. Much ebenfalls ein hübsches kleines Andenken hinterlassen hatte, bevor sie der Pilzsuppe zum Opfer fiel. Gott steh’ ihr bei, was würde das Ergebnis sein, wenn die Polizei die näheren Umstände des Ablebens dieser beiden Damen unter die Lupe nahm? War es nicht fast unumgänglich, daß man den Schluß zog, es mit einer erfahrenen Mörderin zu tun zu haben? Mrs. Much holte zweimal tief Luft, um sich zu beruhigen. Es konnte doch nicht sein, daß Sir Henry sie in seinem Testament berücksichtigt hatte? Es sei denn – eine eiskalte Hand schloß sich um ihr Herz –, Sir Henry gehörte zu den Menschen, die es nur für recht und billig hielten, selbst einer Haushälterin eine Kleinigkeit zu hinterlassen, die nur wenige Monate für sie gearbeitet hatte. Aus Furcht, preiszugeben, daß sie die Fassung verloren hatte, ging sie zum Fenster hinüber. Von wo aus sie gerade noch Flora und Mr. Vivian Gossinger erkennen konnte, die im Garten standen und sich offensichtlich unterhielten. Zum ersten Mal dachte Mrs. Much über die Frage nach, warum Sir Henry eigentlich beschlossen hatte, Gossinger Hall seinem Butler zu vermachen, doch so schnell, wie er gekommen war, verschwand dieser Gedanke wieder. Plötzlich kam sie sich entsetzlich schutzlos vor, weil sie dem Zimmer den Rücken zuwandte. Sie hatte keine Angst vor Mr. Tipp. Nein, was sie ängstigte, war das Gefühl, daß jemand hinter der Küchentür lauerte und ihre Angst in sich einsaugte, nachdem er jedes Wort ihres Gesprächs mit Mr. Tipp belauscht hatte.
Sie drehte sich um und sagte, wie sie hoffte, in beiläufigem Ton: »Vielleicht sollten wir in diesem Stadium doch noch nicht zur Polizei gehen, Mr. Tipp. Es ist ja nicht so, als hätten wir echte Indizien, wenn man es genau nimmt.« »Und ich glaube auch nicht, daß Sir Henry über unsere Einmischung erfreut wäre, und als solche wird er es sicherlich auffassen. Also was halten Sie davon, Mrs. Much, wenn wir beide statt dessen Augen und Ohren offenhalten?« »Ich werde bald nicht mehr hier sein«, entgegnete sie. »Ich werde im Buckingham-Palast sein und versuchen, die Königin dazu zu überreden, sich Teppichboden anzuschaffen. « »Ja, richtig. Das heißt, ich bin auf mich allein gestellt, nicht wahr?« Mr. Tipp wirkte heroisch und aufgeregt bei der Aussicht, sich in eine neue Epoche des Verrats und der Intrige in der dunklen Geschichte von Gossinger Hall stürzen zu können. Aber Mrs. Much hatte keine Zeit mehr, ihm auszureden, Sherlock Holmes zu spielen, denn die Tür sprang auf, und Miss Sophie Doffit betrat die Küche, um zu verkünden, Lady Gossinger sei im Anschluß an die Beerdigung erkrankt. Die alte Dame verschwieg tunlichst, daß Mylady ihre Unpäßlichkeit selbst verschuldet hatte, indem sie den gesamten Inhalt einer Sherryflasche geleert hatte. Sie verlangte eine Kanne extrastarken Kaffees und trug sie mit einem eigenartigen Lächeln von dannen, das Mrs. Much in ihrem nervösen Zustand nur als triumphierend deuten konnte.
Kapitel 9 Für Flora schlangen sich die Tage nach der Beerdigung ineinander wie Schals, die man wie Kraut und Rüben in die Schubladen einer Kommode gestopft hatte. Es gab nur wenige trennscharfe Augenblicke: Als sie mit Mr. Vivian Gossinger im Garten stand und ihm sagte, es falle ihr schwer, an Grandpas Tod zu glauben, und sich zum ersten Mal seit Tagen sicher fühlte, als er den Arm um sie legte. Und als Sir Henry sie fragte, ob sie nicht fortgehen und eine Weile in der Wohnung in Bethnal Green leben wolle, die früher einmal den Eltern von Mylady gehört hatte. Und nun saß Flora in einem langgestreckten Abteil des Frühzugs nach King’s Cross. Ihr saßen, durch den beschichteten Tisch von ihr getrennt, zwei Männer gegenüber. Sie registrierte, daß der Mann am Mittelgang einen Priesterkragen trug, nahm ansonsten jedoch kaum Notiz von ihnen. Ihre beiden Koffer waren im Gepäcknetz über ihrem Kopf verstaut, und sie preßte das Gesicht an das kühle Fenster. Flora war nur einmal zuvor in London gewesen, als kleines Mädchen; wenn man recht überlegte, war sie kaum einmal aus dem Haus gekommen. Gossinger war ihre Welt gewesen, seit sie drei Jahre alt war und Grandpa ihr erklärt hatte, daß er nicht der König von England, sondern nur Sir Henry’s Butler sei, und daß er in dieser Eigenschaft keine Krone trug. Begleitet vom Rattern des Zuges, zogen die Erinnerungen in weichen leuchtenden Farben hinter ihren geschlossenen Lidern vorüber: Wie sie zusah, während Grandpa seiner Arbeit nachging. Wie sie ihm sagte, sie liebe ihn mehr als Lebkuchen oder Verkleiden spielen oben auf dem Speicher und sogar mehr als Regentage.
Flora erinnerte sich an die Zeit, als sie ihn gebeten hatte, ihr zu versprechen, daß er niemals sterben und sie verlassen würde, so wie ihre Mutter es getan hatte, oder wenigstens nicht, bis sie neunhundertneunzig Jahre alt war. Dabei hatte sie ihn leidenschaftlich umarmt und ihm ihrerseits versprochen, sie würden, wenn er zu alt war, um länger Butler zu sein, in ein kleines Haus in Cleethorpes am Meer ziehen, und dann wäre sie an der Reihe, ihm Gutenachtgeschichten vorzulesen. Als Flora ihre Haltung leicht veränderte, sah sie, nein, spürte sie eher, daß einer der Männer ihr gegenüber, oder vielleicht beide, sie beobachteten, aber sie fragte sich nicht, was ihr Interesse wecken mochte. Anders als der Zug, der am nächsten Bahnhof vorbeidonnerte, reiste sie in Gedanken zurück in die Vergangenheit, in die Zeit, als ihre Welt noch intakt und sicher gewesen war. Manchmal hatte ihr ihre Mutter gefehlt, aber daß sie keinen Vater hatte, war ihr nie allzu schlimm vorgekommen. Schon als kleines Mädchen gelangte sie zu dem Schluß, daß Gott zur Zeit ihrer Geburt vorübergehend die Väter ausgegangen waren, so wie der Backstube an einem besonders hektischen Tag die Bakewell-Törtchen ausgehen mochten. Statt dessen bekam Flora eben Grandpa. Und sie hatte nie aufgehört, sich glücklich zu schätzen. Er war manchmal ein wenig streng und nicht sehr angetan von Umarmungen oder Küssen, und ein paarmal, zum Beispiel, als er sie frühzeitig ins Bett schickte, weil sie gesagt hatte, Sir Henry habe große Ohren, hatte sie gedacht, Grandpa liebe jeden auf Gossinger mehr als sie und die Queen mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Doch selbst in jenen Augenblicken hatte sie tief im Innern gewußt, daß Grandpa, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Scheiterhaufen bestiegen hätte, um Schaden von seinem kleinen Mädchen abzuwenden.
Flora starrte aus dem Fenster auf Felder und Bäume und vereinzelte Häuser, die vorbeirasten, als flüchteten sie vor einem Invasionsheer. Sie kam sich furchtbar klein und verloren vor, etwa so wie es einer Nonne zur Zeit der Reformation ergangen sein mochte, nachdem die Büttel Heinrichs des Achten sie ohne jedes Gepäck, sogar ohne frische Unterwäsche, aus dem Kloster gezerrt und ihr befohlen hatten, auf der Stelle das Weite zu suchen. Ich wette, ich sehe genauso eigenartig und weltfremd aus, dachte Flora, als trüge ich ein Habit aus grober Wolle und hätte eines dieser ausgezehrten Gesichter, die daher rühren, daß man den ganzen Tag und die halbe Nacht in einer Zelle von der Größe einer Speisekammer betet. Ihr Blick ging über die Köpfe der beiden Männer hinweg und heftete sich auf die Frauen im Abteil, vor allem die Frauen in ihrem Alter. Sie sahen alle so… Flora suchte nach dem Wort, so… lebendig aus. Manche waren sehr schick angezogen. Andere sahen aus, als hätten sie schon lange nicht mehr gebadet oder sich die Haare gewaschen. Aber keine einzige sah so aus, als fahre sie zum ersten Mal in ihrem Leben nach London. Während Flora ein rothaariges Mädchen betrachtete, das wie ein Tramp aus edwardianischer Zeit aussah, einen Silberstecker in der Nase und dick getuschte Wimpern hatte, befühlte sie den Knoten in ihrem Nacken und empfand einen Anflug von Neid. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich einmal einen Lippenstift gekauft hatte – die Farbe hieß Persuasion Pink –, und daß Grandpa nicht enttäuschter hätte aussehen können, als wenn sie gesagt hätte, sie habe sich das Geld verdient, indem sie an der Straßenecke stand und wildfremde Männer in schnellen Autos ansprach. Grandpa hatte Flora nicht befohlen, sich nie mehr das Gesicht anzumalen wie ein Zirkusclown. Er hatte sie lediglich, ohne die Stimme zu heben, daran erinnert, daß ihre äußere Erscheinung und ihr Benehmen
im guten wie im schlechten stets auf Gossinger Hall zurückfielen. Damals hätte Flora beinahe eine patzige Antwort gegeben, doch als ihr Großvater sich abwandte, hatte sie zum ersten Mal richtig bemerkt, daß seine Schultern gebeugt waren und sein Haar mehr weiß als grau. Es war die damalige Haushälterin, eine Mrs. Jolliffe, die Flora verteidigt hatte. »Ein Hauch Lippenstift schadet doch nichts, Mr. Hutchins. Selbst die hübschesten Mädchen« (ihr Ton stellte klar, daß Flora sich nicht zu der Kategorie dieser Glücklichen zählen durfte) »gehen nicht gern mit Gesichtern, so nackt wie ein Babypopo aus. Und Flora ist in dem Alter, in dem man das Beste aus sich machen will. Sagen Sie mir nicht, daß Sie nicht bemerkt haben, wie sie jedesmal die Farbe wechselt, wenn Mr. Vivian Gossinger zu Besuch kommt und ihr auch nur guten Morgen wünscht.« »Gar nicht wahr!« hatte Flora gerufen und war arg in Versuchung geraten, der lächelnden Mrs. Jolliffe den hassenswerten Lippenstift ins Gesicht zu schleudern. »Allerdings nicht!« Diesmal hob Mr. Hutchins gegen seine sonstige Gewohnheit die Stimme, als er sich an die Haushälterin wandte. »Ich empfinde das Ansinnen, daß ich meine Enkeltochter nicht dazu erzogen haben soll, sich jeder Vertraulichkeit gegenüber den Mitgliedern der Familie zu enthalten, als üble Kränkung.« »Man kann einem Mädchen nicht die Gefühle verbieten, nicht wenn es um junge Männer geht«, hatte Mrs. Jolliffe gänzlich unerschrocken erwidert. »Schon gar nicht einem Mädchen wie unserer Flora, die auf Gossinger eingesperrt ist und nie die Gelegenheit hat, sich unter Gleichaltrige zu mischen und Spaß mit ihnen zu haben.« An diesem Punkt war Flora aus dem Zimmer gelaufen. Sie wünschte, sie wäre tot und Mr. Vivian Gossinger nie geboren. Sie hätte nie, nie gedacht, daß einmal jemand ihr Geheimnis
erraten würde. Sie warf sich aufs Bett und beschloß, das nächste Mal, wenn er guten Morgen zu ihr sagte, so dumm auszusehen wie nur möglich; so kam er wenigstens nicht auf den Gedanken, daß Flora Hutchins Grips genug hatte, um nachts wachzuliegen und sich vorzustellen, wie es wäre, in das sanfte Grün des frühen Morgens hinauszugehen und ihn an der Trauerweide zu treffen, wo er auf sie wartete. Und ich stand unter eben jenem Baum, dachte Flora, die wieder aus dem Zugfenster starrte, als die Polizei am Tag der Beerdigung wegfuhr und Vivian nach draußen in den Garten kam, um mir zu sagen, ich solle mir keine Sorgen um meine Zukunft machen, er sei überzeugt, Sir Henry und Mylady würden dafür sorgen, daß es mir an nichts fehlt. Aber ich bin sicher – sie drückte die Nase gegen die Fensterscheibe und schloß die Augen –, er wollte mir noch etwas anderes sagen, weil er immer wieder die Trauerweide umkreiste, als wäre sie ein Maibaum mit lauter Bändern, die ihn umschlingen und umstricken wollten. Vielleicht war es ihm nur schwergefallen, die richtigen Worte zu finden, um ihr zu sagen, wie sehr er Grandpas Tod bedauerte, aber Flora glaubte nicht, daß es nur das war. Dann stieß Sir Henry zu ihnen. Und in diesem Augenblick entdeckte Flora auch die Frau vor der Gärtnerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war kein Irrtum möglich. Es war die Frau in dem senfgelb und schwarz karierten Mantel, in dem sie schon auf Grandpas Beerdigung erschienen war. Die Frau, die wie eine Zigeunerin aussah. Wer war sie? Und warum tauchte sie auf und verschwand wieder wie ein Phantom? Diese Fragen drängten sich Flora immer wieder auf, zusammen mit der Erkenntnis, wie wenig Grandpa ihr über sein Leben und nähere Anverwandte außerhalb von Gossinger Hall erzählt hatte. Ich wünschte, ich hätte ihn mit Fragen durchlöchert – vor allem
über meine Mutter, dachte Flora. Aber ich wußte immer, daß es ihn unglücklich machte, über sie zu sprechen. So als… belaste ihn weit mehr als die Trauer über ihren frühen Tod. »Pardon!« Die Stimme traf Flora unvorbereitet, und ihre Gedanken zersplitterten wie Glas. Der Sprecher war einer der beiden Männer, die ihr gegenübersaßen. Der am Fenster, nicht der mit dem Priesterkragen. »Verzeihen Sie die Störung, da Sie in Gedanken offenbar meilenweit entfernt sind, Miss Hutchins«, sagte er überkorrekt. »Aber ich wollte nicht in King’s Cross einfahren, ohne unsere Bekanntschaft erneuert und Ihnen versichert zu haben, wie außerordentlich ich das tragische Ende Ihres Großvaters bedaure.« Flora blinzelte. Er war ein noch junger Mann mit dunkelblondem Kraushaar, das leider an die Perücke eines Anwalts erinnerte, langer Nase und einem Mund, der zu beben schien, wenn er sprach. Er trug einen Burberry-Regenmantel. Wo hatte sie ihn nur schon mal gesehen? Er half ihr auf die Sprünge. »Mein Name ist Ferncliffe. An dem Tag, als Ihr Großvater den Unfall hatte, war ich mit einer Gruppe elfjähriger Jungen von der New Church Privatschule bei Ihnen.« »Ich erinnere mich«, sagte Flora. »Die Jungs haben ziemlich viel Radau gemacht«, glaubte Mr. Ferncliffe gestehen zu müssen. »Überdreht wie ein Haufen Uhrwerke, die alle auf einmal losschnarren. Dieses Erlebnis hat mir das Lehrerdasein gründlich verleidet; aber meine Mutter meint, ich solle durchhalten, um meinen Charakter zu stählen.« Er sah ausgesprochen sehnsüchtig aus, offenbar hoffte er, Flora werde ihm sagen, es sei viel wahrscheinlicher, daß er zum Manne heranreifte, wenn er es sich als Frühpensionär gutgehen ließ. »Ich habe in der großen Halle mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?« fragte sie. »Ich machte mir Sorgen, weil ich meinen
Großvater nicht finden konnte, aber ich hätte mir nie träumen lassen, nicht einen Augenblick lang, daß er vielleicht schon tot war.« Flora biß sich auf die Unterlippe. Die traurige Neigung ihres Kopfes, ihr blasses Gesicht trafen den Chemielehrer mit solcher Wucht, daß ihm beinahe der Füllfederhalter aus der Hemdtasche sprang. Ihn erfaßte der beinahe überwältigende Drang, sie vor einem Leben in Einsamkeit und Verzweiflung zu erretten. Nur das drohende Bild seiner Mutter, die wissen wollte, warum er sich zum Tee verspätet hatte, hinderte Mr. Ferncliffe daran, über den beschichteten Tisch hinweg nach Floras Hand zu fassen und sie anzuflehen, mit ihm an irgendeinen unerträglich romantischen Ort, wie zum Beispiel die Isle of Skye, zu entfliehen, den Namen Jones anzunehmen und sich auf ewig mit ihm in einer Frühstückspension zu verkriechen. Jeder einzelne der hundertsiebenundsiebzig Zentimeter Mr. Ferncliffes glühte förmlich von der Intensität seiner Schwärmerei, als er sich das süße scheue Lächeln vorstellte, das um Floras Lippen spielen würde, wenn sie erkannte, daß das Schicksal ihr einen Jung-Lochinvar zugeführt hatte, als sie ihn am dringendsten brauchte. Sie wäre so zutiefst dankbar, so herzzerreißend ergeben, daß es ihn große Mühe kosten würde, sie davon zu überzeugen, welche Erleichterung er empfand, den Klauen zahlloser hinreißender Schönheiten entronnen zu sein. Leider forderte mit aller Macht der gesunde Menschenverstand seinen Tribut. Womöglich wäre es das beste, den Pfad wahrer Liebe mit Bedacht zu beschreiten. Mit einem schweren Seufzer zog Mr. Ferncliffe den Gürtel seines Regenmantels zurecht, in dem heldenmütigen Versuch, sich zusammenzureißen, und es gelang ihm, sich mit einigermaßen ruhiger Stimme an das derzeitige Objekt seiner Begierde zu wenden.
»Vermutlich fragen Sie sich, Miss Hutchins, was mich wieder nach Lincolnshire geführt hat.« Flora hatte sich nichts dergleichen gefragt. Sie hatte über die elfjährigen Jungen nachgedacht, wie gut es war, daß ihnen der Schulausflug nicht verdorben worden war. Zum Glück war ihr Reisebus bereits abgefahren, als man Grandpa tot auffand. Anschließend ging ihr durch den Kopf, daß Mr. Ferncliffe seine jungen Schützlinge an jenem Nachmittag kaum zu bändigen vermochte, und – so unfreundlich es klingen mag – sie hatte den Verdacht, daß zumindest einer oder zwei der Jungs es für einen Riesenspaß gehalten hätten, wären sie in der Nähe gewesen, als im finsteren Gossinger Hall eine Leiche entdeckt wurde. »Entschuldigen Sie.« Flora sah Mr. Ferncliffe an. »Was sagten Sie gerade über ihre Rückkehr nach Lincolnshire? Hatte es etwas mit Grandpas Tod zu tun?« »Sie meinen… ja, ich schätze, es wird eine gerichtliche Untersuchung geben. Einer der Jungs – er heißt Boris Smith – kam neulich zu mir und wollte wissen, ob die Polizei mich und die Jungs vernehmen würde. Das kleine Monster! Aber wenn dergleichen stattfinden soll, weiß ich nichts davon. Es ist nicht unbedingt die Gewohnheit des Direktors, sich mir anzuvertrauen.« Mr. Ferncliffe merkte, daß seine Stimme gereizt klang, was nicht dem Image entsprach, das er sich zu geben wünschte. Er machte alles noch schlimmer, indem er hinzufügte, der Direktor neige dazu, seine Lehrer wie Dienstboten zu behandeln. Zum Glück schien es Flora nicht aufzufallen, und schließlich kam Mr. Ferncliffe dazu zu erklären, daß er nach Lincoln gefahren war, weil seine Mutter (wenigstens verplapperte er sich nicht und sagte »Mummy«) nach seinem ersten Ausflug sehr ärgerlich auf ihn gewesen war.
»Sie hat sich furchtbar aufgeregt, weil ich nicht im Lucy Tower war.« »Der Turm gehört zur Burg, nicht wahr?« Flora gab sich alle Mühe, Interesse zu heucheln und nicht zu wünschen, ein Koffer möge vom Gepäcknetz fliegen und auf Mr. Ferncliffes Krauskopf hinunterkrachen, damit sie bis King’s Cross ihre Ruhe hatte. »Meine Mutter heißt Lucy«, sagte Mr. Ferncliffe. »Ach ja?« »Sie hängt sehr an ihrem Namen.« »Er ist ja auch hübsch.« »Insofern ist es wohl verständlich«, räumte Mr. Ferncliffe ein, »daß sie sich beleidigt fühlte, weil ich nicht in diesen verflixten Turm gestiegen war und bei jedem Schritt an sie gedacht hatte. Ich versuchte, ihr zu erklären, daß die Jungs außer Rand und Band waren und ich dort vielleicht in Versuchung geraten wäre, die herrliche Aussicht zu vergessen und den einen oder anderen von der Turmspitze zu stoßen.« Er lachte ein wenig unsicher, um zu zeigen, daß er nur Spaß machte. »Mum – Mutter wollte das Thema tagelang einfach nicht ruhen lassen. Sie ließ erst ab, als sie von dem Bankraub las, der sich nicht weit von Gossinger Hall ereignete.« Mr. Ferncliffe stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und legte die Finger aneinander. »Und ich muß zugeben, es war schon interessant, als sich herausstellte, daß der Mann, der den Überfall inszenierte, genaugenommen nur sein eigenes Geld abhob.« »Ja, so stand es in den Zeitungen.« »Verstehen Sie mich nicht falsch, Miss Hutchins, ich hege keinerlei Sympathien für den Kerl, aber ich weiß nicht, ob es richtig von seiner Familie war, sein Vermögen einzufrieren, so daß er nicht – jedenfalls nicht legal – an sein Geld herankommen konnte, als er nach fünfzehn Jahren Gefängnis oder wieviel auch immer entlassen wurde.« Mr. Ferncliffe
unterdrückte erneut einen wilden Impuls, diesmal den Impuls, Flora anzuvertrauen, daß seine Mutter sein Geld ebenfalls scharf im Auge und fest im Griff hielt, und ließ die Hände in seinen Burberry-Schoß sinken. »Anders wäre es«, fuhr er fort, »wenn man den Mann eingesperrt hätte, weil er auf dem Rücksitz seines Autos junge Frauen ermordete.« »Betrachtet Ihre Mum ihn als eine Art Volkshelden?« fragte Flora. »Das hat sie nicht gesagt.« Mr. Ferncliffe schüttelte den Kopf. »Sie erzählte mir von dem Schweinehirten von Stow, der seine Lebensersparnisse der Kathedrale von Lincoln hinterließ. Mutter sagte, sie könne nicht glauben, daß ich von Gossinger Hall keine einzige Broschüre über diesen großen Philantropen mitgebracht hätte. Man hätte meinen können, ich hätte ein Verbrechen begangen. Ein viel schlimmeres Verbrechen, als eine Bank auszurauben. Also beschloß ich, meiner Sohnespflicht nachzukommen.« Mr. Ferncliffe ließ erneut ein nicht überzeugendes Lachen vernehmen. »Das heißt, ich fuhr wieder nach Lincoln, um den Lucy Tower zu erklimmen und zu sehen, was ich in der Kathedrale über diesen Schweinehirten in Erfahrung bringen konnte, aber leider war der Informationsschalter nicht besetzt, da gestern Sonntag war…« »Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein, mein Sohn.« Der Sprecher war der Gentleman neben Mr. Ferncliffe, der bisher geschwiegen hatte. »Ich bin auf dem Rückweg nach London, nachdem ich das Wochenende bei meinem sehr lieben Freund, dem Dekan der Kathedrale von Lincoln, verbracht habe.« Er legte die Hand an seinen Priesterkragen. »Und wie es der Zufall will, kamen wir im Verlauf einer höchst ergötzlichen Kaminplauderei darauf zu sprechen, wie oft Heilige in allerbescheidenstem Gewand wirken. Der Schweinehirt von Stow ist natürlich ein ausgezeichnetes Beispiel dafür.«
»Welch glücklicher Zufall«, sagte Mr. Ferncliffe, der in seiner Undankbarkeit hoffte, der Mann werde sein Sprüchlein aufsagen und dann den Mund halten. Der Zug war jetzt nur noch etwa zehn Minuten von King’s Cross entfernt. Insofern blieb Flora nicht mehr viel Zeit, um zu erkennen, daß sie sich Hals über Kopf in Leonard Ferncliffe verliebt hatte, und ihn anzuflehen, sie nicht zur hilflosen Beute des üblen Londoner Verkehrs werden zu lassen. »Bedauerlicherweise kann ich Ihnen die Geschichte nur in groben Zügen erzählen.« Auf das milde Gesicht des Klerikers trat ein herzliches Lächeln. »Trotzdem glaube ich nicht, daß ich Gefahr laufe, Sie zu einem betrüblichen Irrglauben anzustiften. Ja, ich schicke sogar voraus, daß es Menschen gibt, die behaupten, die Geschichte sei nichts weiter als eine hübsche Legende. Ihr könnt frei entscheiden, meine lieben Kinder« – sein freundlicher Blick schloß Flora ein – »ohne Furcht vor himmlischer Vergeltung, ob ihr glauben wollt, daß ein gewisser Schweinehirt von Stow seine Lebensersparnisse – ein Häuflein Silberpennies – der Kathedrale von Lincoln vermachte oder nicht. Er entschloß sich dazu, so sagt man, nachdem er sich in einer Winternacht draußen in der Marsch verirrt hatte. Der Unglückliche blies in sein Horn, aber niemand hörte ihn, und er ging in wachsender Verzweiflung weiter, bis er die Glocken der Kathedrale von Lincoln vernahm, die ihm sicheres Geleit zu seiner Heimstatt gaben.« »Es ist eine so schöne Geschichte.« Flora hatte sie schon mehrmals gehört, allerdings nie mit solch wohlwollendem Charme erzählt. Sie mußte lächeln, zum einen, weil sie sich an all die wunderschönen Augenblicke voller Geborgenheit erinnerte, wenn Grandpa ihr Geschichten über Lady Normina und andere historische Personen erzählt hatte, und zum andern, weil das strahlende Gesicht über dem Priesterkragen scheinbar wie maßgeschneidert auf seine Aufgabe abgestimmt war. Es
war unmöglich, sich diesen Mann auf einem anderen Lebensweg vorzustellen als jenem, der zur Kanzel führte. Sie bekam nur am Rande mit, daß Mr. Ferncliffe eine saure Miene zog, doch all ihre Überlegungen zerstoben im Wind, als eine dröhnende Stimme über den Lautsprecher verkündete: »King’s Cross Station!« Innerhalb von Sekunden stand der Zug still, und viele der Fahrgäste waren bereits aufgestanden, sahen auf ihre Uhren und sammelten ihr Gepäck zusammen. »Eine Station von vielen auf der Reise des Lebens.« Der Geistliche nahm den Aktenkoffer, der zu seinen Füßen gestanden hatte, und trat in den Mittelgang. »Darf ich euch dabei behilflich sein, eure Taschen herunterzuholen, meine lieben Kinder?« Mr. Ferncliffe, der sich steif wie ein Soldat erhob, erwiderte, er komme schon zurecht, und zog seine Reisetasche unter dem Tisch hervor. Flora hingegen sagte, sie wäre sehr dankbar, wenn ihr jemand helfen könne, ihre beiden Koffer aus dem Zug zu schaffen, was dazu führte, daß der Geistliche den einen und Mr. Ferncliffe den anderen Koffer für sie durch die Sperre trug. »Sind Sie sicher, daß Sie den Rest des Weges allein zurücklegen können?« Der Geistliche lächelte freundlich, während sich Leute, die keine Zeit zu verschwenden hatten, an ihnen vorbeischoben. »Ich kann Sie zur U-Bahn begleiten, falls Sie dorthin wollen.« Mr. Ferncliffe behauptete sein Recht mit kühner Mißachtung der Gefühle seiner Mutter, wenn er zu spät zum Tee kam. »Ein glänzender Vorschlag.« Der Geistliche strahlte immer noch, als er einer Frau mit einem schwarzbraunen Beagle auswich, der nach seinen Knöcheln schnappte, als hege er den Verdacht, der gute Mann habe Drogen in seinen Hosensaum eingenäht. »Ich werte es als ein Zeichen Ihres Vertrauens, meine teure junge Dame, wenn Sie mir erlauben, weiterhin meinen Anteil an der Last zu tragen.«
»Sie sind ja so liebenswürdig«, sagte Flora zu den beiden Männern, »und ich bin Ihnen sehr dankbar, aber die Koffer sind wirklich nicht schwer, und ich brauche nur bis zur Bethnal Green Station zu fahren. Von dort, so hat man mir gesagt, ist es nur ein kurzer Fußweg zu dem Ort, wo ich wohnen werde.« Sie merkte, daß der Geistliche einen scharfen Blick auf Mr. Ferncliffe warf, als schätze er ihn ab. Und aus einem Grund, den sie nicht zu benennen wußte, erschien ihr die Welt ringsum plötzlich so fremd wie der Mars. »Also dann, meine liebe Tochter«, sagte der ehrwürdige Gentleman, reichte ihr ihren Koffer und sah zu, wie der andere Mann es ihm zögernd nachtat, »lassen wir Sie in Frieden ziehen, im Vertrauen darauf, daß Sie in Gottes himmlischem Glockenklang eine ebenso glückspendende Zuflucht finden mögen wie damals der Schweinehirt von Stow.« »Wirklich, ich komme schon zurecht.« Flora mußte lauter sprechen, um nicht von der Lautsprecherdurchsage, an welchen Stationen der Zug nach York haltmachen würde, übertönt zu werden. »Ich werde mietfrei in einer hübschen kleinen Wohnung über einem Laden wohnen, wer also könnte glücklicher sein als ich?« Ihre Worte versetzten Mr. Ferncliffes Vision den Todesstoß – der Vision einer Flora, die einsam und verlassen kleine Sträuße welker Blumen in Covent Garden verkaufte, und wie er eines trüben Winternachmittags inmitten eines Wolkenbruchs dort zufällig auf sie traf; bei welcher Gelegenheit er ihr den gesamten Blumenvorrat abkaufen würde, bevor er sie in einem Taxi zum Dinner ins Ritz entführte, wo sie unter der Berührung seiner Hand dahinschmelzen und liebliche Verwirrung darüber bekunden würde, daß ein Mann von seiner Gewandtheit und mit seinem verblüffend guten Aussehen trotz ihres Allerweltsgesichts und ihrer Mittellosigkeit die wahre Frau in ihr erkannte. Auch gut; sie entpuppte sich als von
oberflächlichem Wesen, indem sie sich ohne den flüchtigsten sehnsüchtigen Blick von ihm verabschiedete. Also entfernte sich Mr. Ferncliffe, entschlossen, seinen Kummer in zahllosen Tassen Tee zu ertränken. Sollte er einer Koffeinvergiftung erliegen, um so besser. Der freundliche Geistliche hinwiederum sagte ihr mit aufrichtigem Wohlwollen auf Wiedersehen und war im Nu verschwunden. Als ob er, dachte Flora ein wenig bedauernd, während sie ihre Koffer nahm, ein Engel war, den man gesandt hatte, um ein kleines Stück des Weges mit ihr zu gehen, und jetzt in die Zentrale zurückbeorderte, um ihn in eine neue Mission einzuweisen. Flora blieb einen Augenblick stehen, blickte zu dem Fahrkartenschalter zu ihrer Rechten hinüber und kämpfte gegen den Impuls an, dorthin zu eilen und einen Rückfahrschein nach Hause zu erstehen. Nur – ihre Füße trugen sie prompt in die entgegengesetzte Richtung – war Gossinger nicht mehr ihr Zuhause. Vielmehr war es in ihren Augen zu einer Art Spiegelkabinett geworden – sie ging schneller und spürte kaum noch das Gewicht ihrer Koffer –, und was ihr dort früher einmal angenehm vertraut gewesen war, erschien ihr jetzt eigenartig verzerrt. Manchmal ist der Sprung ins Ungewisse das beste, dachte sie, während sie die Treppe zur U-Bahn hinunterging. So könnte die Schwester von Mylady durchaus eine seltene Blume sein, gefällig und beflissen, mir dabei zu helfen, mich in der Wishbone Street einzurichten. Und wenn der Straßenname kein gutes Omen ist, dann weiß ich nicht. Floras entschlossener Optimismus hielt an, bis sie stehenblieb, um auf der Metalltafel nachzusehen, zu welchem Bahnsteig sie gehen mußte. Ihr war plötzlich beklommen zumute, und ihr Nacken prickelte. Doch es war dumm von ihr, auch nur eine Sekunde lang zu denken, daß sie jemand beobachtete. Gewiß,
Flora hatte sich gefragt, ob sie Mr. Ferncliffe jemals wieder loswerden würde; aber der Verdacht, daß der Lehrer ihr folgte, wenn auch nur, um dafür zu sorgen, daß sie den richtigen Zug bestieg, war doch sicherlich übertrieben… Und dieser nette Geistliche hätte nicht harmloser sein können. Als sie sich von der Tafel abwandte, gelangte sie zu dem Schluß, daß ihr Problem darin bestand, nicht an Menschenmengen gewöhnt zu sein, vor allem nicht an Menschenmengen, denen schnell nicht schnell genug war. Apropos Leben auf der Überholspur! Prompt wurde sie von dem Luftschwall eines einfahrenden Zuges auf den Bahnsteig gesaugt. Und in ihrer Hast, den Zug zu besteigen, ohne zwischen den Türen eingeklemmt zu werden, bemerkte Flora die Frau mit dem dunklen, geheimnisvollen Gesicht nicht, die einen schwarzgelb karierten Mantel trug und auf sie zugehen wollte, bevor sie es sich anscheinend anders überlegte und ins Nachbarabteil stieg. Flora sah sich auch nicht um, als sie in Bethnal Green ausstieg. Sie war zu beschäftigt damit, das Atmen neu zu erlernen, nachdem sie scheinbar stundenlang zwischen Menschen eingequetscht gestanden hatte, die nur das Gleichgewicht wahren zu können schienen, indem sie ihr auf die Füßen traten. Und als sie oben an der Bahnhofstreppe anlangte und auf die Straße trat, war ihr einziger Gedanke, daß sie sich, wenn dieser grimmige und schmutzige Ort London war, hier niemals heimisch fühlen würde. Als sie jedoch an den schmalen Ladenfassaden vorbeiging und hier und da Gesprächsfetzen schriller Cockney-Stimmen von Männern und Frauen aufschnappte, die gerade ihre Marktstände dichtmachten, mußte Flora zugeben, daß diese Stadt voller Leben steckte. Und man konnte mit Fug und Recht sagen, daß sie deshalb Welten von Nether Woodcock trennten. Als sie an einer Ampel die Straße überquerte, kam sie an einer Frau in einem Sarong vorbei. Und als sie stehenblieb, um sich
zu besinnen, wie weit sie es noch hatte, bevor es links in die Wishbone Street ging, sah Flora zwei Männer mit Turbanen in ihre Richtung kommen. In Gossinger wären sie jedem aufgefallen. Aber hier, dachte Flora, sind sie keine Fremden. Ich bin es, die aussieht, als wäre ich in einer Wagenladung Kohlköpfe versteckt eingetroffen. Und da bin ich auch schon, dachte Flora, als sie auf die Nummer über dem Türeingang sah. Wishbone Street Nummer 67. Sie setzte die Koffer auf der zerbröckelnden Veranda ab und versuchte tapfer, etwas zu finden, das ihr gefiel. Sie fing mit den Ladenfenstern an, doch die Eisenstäbe vor den Fenstern hatten etwas entschieden Unfreundliches. Auf dem Schild über der verkratzten flaschengrünen Tür stand »Joe’s Kamerashop«. Flora fragte sich neidvoll, wo Joe jetzt war. Sie versuchte sich einzureden, daß er Herz hatte, weil er von den Fenstern der Wohnung im ersten Stock nicht die Gardinen abgenommen hatte. Doch selbst von hier unten sah der graustichige Stoff aus, als werde er zerfallen, sobald man ihn in lauwarme Seifenlauge tauchte. Als der Schlüssel sich nicht im Schloß drehen ließ, wünschte sie verzweifelt, Lady Gossingers Schwester Edna Smith möge plötzlich die Tür öffnen und erklären, sie habe hinten im Laden schon mal Tee aufgebrüht, um die erschöpfte Reisende zu erquicken. Doch dann ließ sich der Schlüssel auf einmal mühelos drehen, als habe er Flora nur einen kleinen Streich spielen wollen. Sie hielt die Tür mit dem Fuß auf und tastete drinnen nach dem Lichtschalter. Als sie ihn nicht fand, stolperte sie über die Türschwelle, zog die Koffer herein und spielte weiter Blindekuh, bis sie endlich fündig wurde. Der Raum war plötzlich in trübes Licht getaucht, das von einer nackten Glühbirne an der Decke ausging.
Flora setzte sich auf einen der Koffer und knöpfte mit zitternden Fingern ihren Mantel auf. In dem Laden war nichts, was ihr angst machen konnte, und zwar deshalb, weil gar nichts da war außer einem Tresen im rückwärtigen Teil und zwei leeren Regalen an der Wand hinter ihm. Aber wenn ich jetzt nicht aufstehe und mir die anderen Räume ansehe, sterbe ich womöglich vor Angst, daß sich jemand hinter einer der Türen versteckt haben könnte, sagte Flora sich entschlossen. Die Küche gleich hinter dem Laden zu erkunden war kein großes Abenteuer. Eine Spüle und ein steinalter Herd standen in einer Ecke, und das war auch schon alles, womit man Heim und Garten hätte beeindrucken können, abgesehen von der Treppe, die nach oben in die Wohnung führte. Und nur das ist wichtig, daß ich eine Wohnung habe, schärfte Flora sich standhaft ein, während sie auf noch einen Lichtschalter drückte und die Stufen hochlief. Der winzige Treppenabsatz öffnete sich auf ein Wohnzimmer, zwei winzige Schlafzimmer und ein Bad, in dem eine Feldmaus von Klaustrophobie heimgesucht worden wäre. Es war schwierig, ja nahezu unmöglich, sich vorzustellen, daß Lady Gossinger jemals hier gewohnt hatte, geschweige denn noch Platz für eine Schwester und ihre Eltern gelassen hatte. Flora schien es, daß den Räumen mehr fehlte als nur die Möbel. Niemand hatte eine persönliche Note in Wishbone Street Nr. 67 zurückgelassen. Es gab nichts, was einen Neuankömmling willkommen heißen könnte, und aus dem gleichen Grund gab es auch nichts, was ihr sagte, daß sie nicht hierhergehörte. »Das hier«, sagte Flora laut, »ist das genaue Gegenteil zu Gossinger Hall, wo alles mit irgendeiner Tradition zusammenhängt. Ich befinde mich an einem Ort, der jedesmal, wenn eine neue Person zum ersten Mal den Schlüssel in die Tür steckt, ganz von vorn anfängt.« Sie stand am Wohnzimmerfenster und hielt den Zipfel einer der schlaffen
Gardinen in der Hand, aber im Herzen war sie wieder auf Gossinger. Sie spürte die Anwesenheit ihres Großvaters und hörte ihn mit zutiefst liebevoller Stimme sagen: »Jedes Ende ist ein neuer Anfang, meine liebe Flora.« Spontan rannte sie die Treppe wieder hinunter, kniete sich vor den größeren ihrer Koffer und durchwühlte ihn nach der Schere, die sie, so wußte sie… na ja, sie war fast sicher… eingepackt hatte. Ja, da war sie! Flora wickelte ihren Handspiegel aus den schützenden Nachthemden, stellte ihn auf das obere der beiden Regale hinter dem Verkaufstresen und zählte, die Schere in der Hand, bis drei. Dann löste sie mit angehaltenem Atem ihr Haar, schüttelte den Kopf, um es zu lockern, nahm eine Strähne und schnippelte drauflos. Sie war halb fertig, als sie vor Schreck die Schere fallen ließ. Es hatte an der Tür geläutet. »Das wird Lady Gossingers Schwester sein. Sie will mich überraschen und sehen, ob ich wohlbehalten hier eingetroffen bin«, sagte sie zum Spiegel, bevor sie auf das Büschel Haare starrte, das sie noch in der Hand hielt. »Ich werde ihr einen ganz schönen Schreck einjagen. Was für eine Vogelscheuche, wird sie denken.« Flora nahm die Schere mit zur Tür, nur für den Fall, daß es jemand Furchteinflößenderes war als Edna Smith. Schließlich war dies die Großstadt. Und wie sich zeigte, war es klug von ihr, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, denn als sie (bei vorgelegtem Riegel) fragte, wer dort sei, gab die Antwort ihr den Wunsch ein, sie könne ihr Haar wieder ansetzen, wenn auch nur, um das Frösteln loszuwerden, das ihr mit Sicherheit eine Woche lang einen steifen Nacken bescheren würde. »Ich bin’s, Vivian Gossinger.« Und wenn schon, sagte Flora sich tapfer, als sie den widerspenstigen Riegel zurückschob und die Tür öffnete. Dies ist meine Wohnung, auch wenn ich keine Miete zahle, und ich
habe ihn nicht eingeladen, also muß er mich schon so nehmen, wie ich bin. Dieser plötzliche Trotz gegenüber den Prinzipien ihrer Erziehung kam ihr zustatten, bis Mr. Gossinger über die Schwelle trat und sie mit staunendem Blick musterte. »Ich habe mir gerade das Haar abgeschnitten«, flüsterte sie und reichte ihm die Schere wie ein Kind, das man beim Stehlen ertappt hat. »Ich finde es sehr kleidsam«, sagte Mr. Gossinger anscheinend aufrichtig. »Hatten Sie vor, den langen Teil dranzulassen, oder möchten Sie, daß ich ihn für Sie abschneide?« »Ja, bitte«, sagte Flora.
Kapitel 10 »Danke, daß Sie mich zurechtgemacht haben, Sir«, sagte Flora mit ihrer besten Hausmädchenstimme. »War mir ein Vergnügen«, versicherte ihr Mr. Vivian Gossinger. »Sie sehen ganz bezaubernd aus mit kurzem Haar, aber ich hoffe doch, daß Sie sich nicht genötigt sahen, es des Geldes wegen abzuschneiden.« »Sie meinen, um es zu verkaufen?« Flora lachte beinahe, doch ihr fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß ihresgleichen nicht mit Höhergestellten zu lachen pflegten. »Bitte halten Sie mich nicht für unverschämt, Flora, aber ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht ein wenig zu knapp bei Kasse sind, um sich hier einzurichten.« »Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Gossinger.« Flora stand in der Mitte des kleinen Ladens, die Arme angewinkelt, als halte sie ein Teetablett in den Händen. »Aber Sir Henry hat mir ein wenig von der Summe vorgestreckt, die ich aus dem Nachlaß meines Großvaters erhalten werde. Ich behaupte nicht, daß es viel ist.« Sie merkte, daß sie drauflos plapperte, weil sie nervös war, vor allem weil sie bisher noch nicht in den Spiegel gesehen hatte, um einschätzen zu können, ob sie wie ein albernes Huhn aussah oder nicht. »Grandpa hat den größten Teil seiner Ersparnisse fest angelegt. Ich soll das Geld erst bekommen, wenn ich dreißig bin. Vielleicht hat er sich Sorgen gemacht, ich würde auf die falsche Sorte Männer fliegen, denn ich vermute, so ist es meiner Mutter ergangen. « Ihre Stimme wurde immer leiser. »Ich weiß, Hutchins hat Sie sehr geliebt«, sagte Vivian. »Ich komme bestens klar. Vor allem, wenn ich einen Job kriegen kann.« Nur gut, dachte Flora, daß sich kein einziges Möbelstück im Laden oder in der Wohnung darüber befand,
denn sonst hätte sie sich verpflichtet gefühlt, ihm einen Platz anzubieten, und dann hätte er sich gleichermaßen verpflichtet gefühlt, eine Weile zu bleiben. »Was mein Haar betrifft« – sie berührte die stacheligen Enden – »ist es ja nicht so, als wäre es mein einziger Pluspunkt gewesen, so wie bei Jo in Betty und ihre Schwestern.« »Das stimmt.« Vivian lächelte. »Sie haben auch sehr schöne Augen.« Flora wollte erwidern, daß er solche Dinge nicht sagen sollte. Sie war kein Kind mehr, das man lobte und dem man Sahnebonbons zusteckte. Statt dessen hörte sie sich sagen: »Meinen Sie wirklich, daß ich hübsche Augen habe?« »Zweifellos.« Vivian kam näher, so daß sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. »Es ist kein gewöhnliches Blau; sie haben bernsteinfarbene und bronzene Tupfer. Hier, wenn Sie mir nicht glauben, sehen Sie selbst.« Er ging zu dem Tresen hinten im Laden, nahm ihren Handspiegel und reichte ihn Flora. »Ich habe Angst, nachzusehen«, sagte sie. »Feigling.« Flora mußte lachen, verstummte jedoch und biß sich auf die Lippe, als sie in den Spiegel blickte. Ihr Haar sah nicht so aus, als wäre es bei Vidal Sassoon frisiert worden. Doch sie mußte zugeben, daß sie auf positive Art anders aussah. Ihre Augen schienen an Leben gewonnen zu haben, und sie fragte sich sogar, ob nicht ein Hauch Kajal und Wimperntusche diese Wirkung unterstreichen würde. »Und?« fragte Vivian. »Es hat keinen Sinn, es zu bereuen, der größte Teil meines Haars liegt jetzt in dem Papierkorb unter dem Spülbecken.« »Sie könnten direkt den Seiten von Oliver Twist entsprungen sein.« »Ist das etwas Positives?« Flora mußte ihn anlächeln.
»Sie müssen der reizendste Kobold von ganz London sein.« Vivian musterte sie eingehend. »Nicht nur von Bethnal Green?« Es war verrückt, aber es war auch Magie. Es liegt an diesem Ort, sagte Flora sich, und dem Gefühl, das er einem einflößt, daß alle möglichen wunderbaren Dinge passieren könnten, weil es hier nichts gibt, was einem im Weg stehen könnte. Nur kahle Wände und freie Flächen. Keine schwarz auf weiß festgehaltenen Regeln. Ihr Herz machte einen Satz, als Vivian ihr Gesicht mit seiner Hand umfaßte: Einen köstlich angstvollen Augenblick lang war sie sicher, er werde sie küssen. »Ich habe einen Picknickkorb mitgebracht«, sagte er und trat gut sechs Schritte zurück, was in Floras Augen gleichbedeutend mit einer Ohrfeige war. »Was haben Sie gesagt?« fragte sie und hoffte, daß er ihre Verlegenheit nicht bemerkte. »Ich habe von Onkel Henry gehört, daß Sie heute einziehen, und ich dachte, ich könnte Ihnen unter die Arme greifen, indem ich Ihnen etwas zu essen bringe. Es ist draußen.« Vivian durchquerte bereits das Zimmer und sprach über die Schulter hinweg. »Dauert nur zwei Sekunden.« Flora war versucht, schnell die Tür hinter ihm zu verrammeln, als er nach draußen auf die Straße trat, doch ihre Vernunft trug den Sieg davon. Vielleicht hatte er sich nichts dabei gedacht oder gar nicht gemerkt, daß sie einen Kuß erwartete. Es war ja auch nicht so, als ob sie die Lippen gespitzt oder die Arme um ihn geschlungen hätte. Und nach dem, was die Haushälterin vor Mrs. Much gesagt hatte, konnten Männer manchmal furchtbar begriffsstutzig sein. In der Minute, die Vivian brauchte, um mit einem Weidenkorb zurückzukehren, hatte Flora sich wieder gefaßt. »Wirklich, sehr freundlich von Ihnen, Sir.« Sie legte besondere Betonung auf das letzte Wort. »Aber Sie hätten sich
nicht in solche Unkosten stürzen sollen. Ihre Familie hat schon so viel für mich getan, schließlich darf ich ein Jahr lang mietfrei hier wohnen.« »Und so sollte es auch sein.« Vivian Gossinger stellte den Korb in der Mitte des Raumes auf den Fußboden. »Ihr Großvater war ein unvergleichlicher Butler; Onkel Henry wird niemals einen ebenbürtigen Ersatz finden – übrigens auch für Sie nicht, Flora.« »Freut mich, das zu hören.« Flora spürte, daß ihre Wachsamkeit wieder nachließ, und flüchtete sich in eine spitze Bemerkung. »Ich hoffe, das Essen stammt nicht von Fortnum & Mason.« »Das brauchen Sie nicht zu befürchten.« Vivian schenkte ihr sein seltenes, jedoch eigenartig ansteckendes Lächeln. »In letzter Zeit mußte ich ein wenig kürzertreten, weil ich meinen Job als Vertreter verloren habe. Ich habe Herrenkosmetik von Macho Man verkauft. Alles hier drin« – er tippte mit der Schuhspitze an den Korb – »stammt aus dem guten alten Tesco’s.« »Bestimmt haben Sie trotzdem viel zuviel ausgegeben«, wandte Flora ein. »Ich habe nicht gesagt, daß ich arbeitslos bin. Auf Gossinger wissen Sie nichts davon, aber in den letzten vierzehn Tagen habe ich auf einem Flohmarkt nur wenige Kilometer von hier gearbeitet. Inzwischen bin ich ein wahrer Experte für angeschlagenes Porzellan.« »Ich werde Ihre Freundlichkeit niemals vergessen…« »Das klingt, als wollten Sie mich auf der Stelle zur Tür hinausbefördern.« Vivian Gossinger schob sich eine widerspenstige Haarlocke aus dem Gesicht. »Na ja.« Flora konnte ein jäh aufsteigendes Glücksgefühl nicht unterdrücken. »Ich will Sie nicht aufhalten.«
»Das Öffnen einer Dose Corned beef ist keine Frauenarbeit. Außerdem gibt es ein paar Dinge, über die ich gerne mit Ihnen reden würde, Flora. An jenem Nachmittag im Garten nach der Beerdigung Ihres Großvaters hatten wir ja kaum Zeit.« »Hört sich an, als ginge es um etwas Wichtiges.« »Nichts, das nicht warten kann, bis Sie etwas gegessen haben.« Mr. Gossinger ging in die Knie und breitete ein grünweiß kariertes Tischtuch auf dem Fußboden aus, bevor er den Picknickkorb auspackte. Außer der Dose Corned beef waren da mehrere Päckchen Käse, ein Schnittbrot, ein Strauß roter Weintrauben und eine Tüte Orangensaft. »Ich fürchte, ich habe den Senf vergessen, aber dafür ist hier irgendwo Butter.« Er kramte wieder in dem Korb und brachte das Gesuchte triumphierend zum Vorschein. »Es ist klassische Männerarbeit« – er schenkte ihr wieder sein entwaffnendes Lächeln – »binnen zwei Tagen eine gut ausgewogene Mahlzeit zusammenzustellen. Sogar an das Dessert habe ich gedacht. Schauen Sie.« Er hielt eine Packung Schokoladenkekse in die Höhe. »Auf dem Etikett steht: ›Königlicher Hoflieferant‹.« »Besser kann man es nicht machen.« Flora gab es einen Stich, als ihr der Brief einfiel, den sie wegen Grandpas Silberpolitur an die Queen geschrieben hatte. »Wie wäre es, wenn ich den Tisch decke? Das heißt, falls Sie auch an das Besteck gedacht haben.« Flora kniete Vivian gegenüber auf dem Tischtuch nieder. Es schien sinnlos, sich länger zu sträuben. In höchstens einer halben Stunde würde er verschwunden sein, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie sich dann nie wiedersehen. »Ich war entschlossen, aufs Ganze zu gehen.« Er reichte ihr Messer und Gabeln und ließ sich auf die Fersen zurückfallen. »Alle Achtung, Sir.« Flora konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Rostfreier Stahl, etwa um 1960 hergestellt, wie es aussieht.«
»Sind Sie sicher?« »So gut wie. Sind Sie auch sicher, daß wir es benutzen sollten?« »Keine Ahnung«, erwiderte Vivian und ging auf das Spiel ein. »Ich weiß nicht, ob die Stücke versichert sind; meinen Sie, es sollte so sein?« »Mein Großvater wußte alles über alte Sachen.« Flora legte das Besteck aus. Ihr veränderter Ton machte klar, daß das Spiel, zumindest für sie, plötzlich an Reiz verloren hatte. »Sie müssen ziemlich viel von ihm gelernt haben, da Sie immer mit ihm zusammengearbeitet haben.« »Ja, wenn man als Hausmädchen auf einem Herrensitz wie Gossinger Hall arbeitet, kann man gutes Porzellan oder Glas auf den ersten Blick erkennen lernen.« »Und Silber«, sagte Vivian Gossinger. »Das auch, aber ich werde Grandpa niemals das Wasser reichen können, wenn es darum geht zu wissen, wo oder wann ein Löffelpaar hergestellt wurde, und sogar den Namen des Schmieds zu kennen.« Flora sprach langsam und unbeholfen, denn ihr war der entsetzliche Verdacht gekommen, daß vielleicht ein Stück aus der Silbersammlung verlegt worden war. Hatte Sir Henry oder vielleicht auch Mylady bei Mr. Gossinger angerufen, um ihn zu bitten, nach Bethnal Green zu fahren und sie mit Nettigkeit und Corned-beef-Sandwiches zu bestechen, in der Hoffnung, ihr das Geständnis zu entlocken, daß sie es eingesteckt hatte? »Ich habe gerade überlegt«, sagte er und stellte die Teller zwischen Messer und Gabeln, »daß Sie auf dem Flohmarkt ein absolutes As wären.« »Wirklich?« Flora gelangte zu dem Schluß, daß sie einen übel mißtrauischen Charakter hatte. »Es hat mir immer gefallen, an den Ständen zu stöbern. Ich glaube« – sie fuhr mit den Fingern durch ihr kurzes Haar, so daß es ihr erst recht vom Kopf
abstand – »ich glaube, das kommt daher, daß es mir immer soviel Spaß gemacht hat, auf dem Speicher von Gossinger Verkleiden zu spielen. Dort gab es eine wunderschöne Federboa, Hüte und Kleider, wie die Damen sie in den zwanziger Jahren trugen. Es war eine hinreißende Mode, finden Sie nicht auch?« Als Vivian Gossinger in ihr leuchtendes Gesicht sah, entschied er bedauernd, daß er ihr nicht sagen konnte, was er dachte. Statt dessen sagte er, daß er sie gern einigen der Standinhaber auf dem Flohmarkt vorstellen würde, auf dem er arbeitete, falls sie Lust hätte, auch dort zu arbeiten. »Natürlich hätte ich Lust, aber es geht nicht.« »Wieso nicht?« »Weil« – Flora, deren Gefühle selten in so kurzer Zeit eine solche Achterbahnfahrt gemacht hatten, stieß die Worte beinahe gereizt hervor – »weil ich nicht mit Ihnen zusammenarbeiten kann, Mr. Gossinger! Sir Henry und Mylady würden einen Anfall bekommen. Und ich möchte lieber nicht darüber nachdenken, was mein Großvater dazu zu sagen hätte, wenn er noch lebte.« »Sie meinen, ich käme mit der Konkurrenz nicht klar, weil ich bereits einen Job als Verkäufer verloren habe?« »Das ist es nicht, und das wissen Sie.« »Na schön, ich verspreche Ihnen, daß ich Sie nicht quälen werde, wenn Sie einverstanden sind, mich morgen zum Flohmarkt zu begleiten – nur um zu sehen, ob es dort Federboas im Sonderangebot gibt.« »Ich muß darüber nachdenken.« Flora wußte, daß sie schwach war, aber die Versuchung war zu groß… Vivian, der spürte, daß er Aufwind hatte, bot ihr ein Glas Orangensaft an. »Ich bitte um Verzeihung, weil es kein besserer Jahrgang ist«, sagte er zu ihr.
»Er schmeckt bestimmt wunderbar.« Flora trank probehalber einen Schluck und nickte. Hätte er eine richtige Dame bewirtet, dann hätte er einen Wein mit einem dieser unaussprechlichen Namen mitgebracht, dachte sie. Und das ist nur gut so. So weiß ich, daß er, wenn es hart auf hart kommt, nicht vergißt, daß wir aus verschiedenen Welten stammen. Also ist das Beste, was ich tun kann, mich ganz natürlich zu geben, damit er nicht denkt, daß ich ihn mißverstanden habe. Flora befolgte prompt ihren eigenen Rat und fing an, Brot mit Butter zu bestreichen und Corned beef aufzuschneiden. Wonach sie und Vivian sich das Mahl, ergänzt durch ein weiteres Glas Orangensaft, schmecken ließen. »Wissen Sie was, von dem Saft bin ich tatsächlich ein bißchen beschwipst«, sagte sie, was sogleich zur Folge hatte, daß Vivian Gossinger, der sehr fröhlich gewirkt hatte, ernst wurde. »Ich nehme an, Sie sind einfach erschöpft von der Umstellung auf ein neues Zuhause.« Er schluckte die letzte Weintraube hinunter und stand auf. »Soll ich Ihnen jetzt helfen, die Koffer nach oben zu bringen, damit Sie sich allmählich einrichten können?« »Danke.« Flora rappelte sich auf und rieb die Hände aneinander. Da sah man es. Es war blitzschnell vorüber; in Null Komma nichts wäre er fort, und schon morgen würde er sie völlig vergessen haben – die Hausangestellte seines Onkels. »Die Treppe ist am anderen Ende der Küche.« Sie wollte nach einem der Koffer greifen, doch Vivian hatte sich bereits beide geschnappt und ging am Verkaufstresen vorbei in die Küche, wo er wie angewurzelt stehenblieb. »Sie haben keinen Tisch und keinen einzigen Stuhl. Ich dachte, es wäre wie ein richtiges Picknick, wenn wir auf dem Fußboden essen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß es keine andere Alternative gibt«, sagte er. »Morgen besorge ich mir ein paar Möbel.«
»Möbel.« Mr. Gossinger stellte die Koffer ab. »Haben Sie denn ein Bett?« »Das besorge ich mir auch.« »Na, ich muß schon sagen.« Er wandte sich Flora zu. »Ich staune, daß Onkel Henry und Tante Mabel Sie an einen solchen Ort geschickt haben. Sie haben überall in der Stadt Sachkonten, es wäre ein leichtes gewesen, ein paar Sachen für Sie kommen zu lassen.« »Das war nicht ihre Verantwortung.« »Da irren Sie sich.« Vivian sah ärgerlich aus. »Sie waren es Ihrem Großvater schuldig, dafür zu sorgen, daß Sie nicht in einer leeren Wohnung sitzen. Und das nach all dem Rummel um Onkel – « »Welcher Rummel?« »Ach, Sie wissen schon.« Vivian nahm wieder die Koffer. »Onkel Henry sagte doch immerzu, Hutchins sei der beste Butler, den es je gab.« »Das war kein Rummel«, fuhr Flora auf, ohne an den Respekt zu denken, den sie Höhergestellten schuldete. »Außerdem haben Sir Henry und Lady Gossinger jetzt alle Hände voll zu tun, schließlich haben sie auf einen Streich ihr ganzes Personal verloren.« »Ich wußte, daß Mrs. Much gehen wollte.« »Aber von Mr. Tipp wußten Sie nicht?« »Was ist mit ihm?« Zum zweiten Mal stellte Vivian die Koffer ab und rückte seine Brille zurecht. »Er ist doch nicht tot, oder?« »Nein, natürlich nicht!« Flora merkte, daß ihre Stimme ungeduldig klang, und sprach langsamer. »Er ist nur am selben Tag abgereist wie Mrs. Much, zu einem Cousin in Dorset, der plötzlich erkrankt ist und seine Hilfe braucht.«
»Das nimmt mir eine Last von der Seele«, sagte Vivian geheimnisvoll, und diesmal trug er die Koffer die Treppe hinauf. »Es tut mir leid, daß sie so schwer sind«, entschuldigte sich Flora. »Ich habe nämlich die Hälfte der übrigen Fläschchen mit Grandpas Silberpolitur mitgenommen. Eigentlich albern, weil ich seine Rezeptur habe und jederzeit Nachschub herstellen könnte; aber es gab nicht viel anderes, was wirklich ihm gehörte – bis auf seine Kleider –, weil er nie ein eigenes Haus bewohnt hat.« »Ich halte es nicht für albern.« Mr. Gossinger, der die Koffer zum letztenmal abgesetzt hatte, öffnete die Tür zum Wohnzimmer und warf einen Blick hinein. »Für dumm halte ich nur, daß Sie meinen Vorschlag, auf dem Flohmarkt zu arbeiten, nicht ernst nehmen, wo Sie für diese Wohnung so viele Dinge brauchen.« »Ich habe das Geld, das Grandpa mir hinterlassen hat.« »Sie haben selbst gesagt, es wäre nicht sehr viel.« Vivian Gossinger setzte sich auf einen der hochkant stehenden Koffer und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Außerdem habe ich noch eine brillante Idee. Wenn Sie an einem der Stände, an denen Silber verkauft wird, engagiert würden, könnten Sie sich ein kleines Zubrot verdienen, indem Sie die Politur Ihres Großvaters an den Mann bringen.« »Ja, das könnte ich.« Als Flora sich in dem leeren Wohnraum umsah, hatte sie erneut das Gefühl, einen magischen Ort betreten zu haben, einen Ort, der ganz und gar zu ihrer eigenen Kreation werden könnte. Die schäbigen Gardinen regten sich an den recht und schlecht versiegelten Fenstern, doch als Flora fröstelte, war nicht der Luftzug der Grund. »Diese Schokoladenkekse«, sagte sie. »Ist Ihnen übel davon?« Vivian Gossinger stand auf, wobei er beide Koffer umstieß.
»Nein, es geht mir um das königliche Patent. Ich habe viel darüber gelesen. Das bedeutet, daß auf dem Etikett eines Produkts ›Königlicher Hoflieferant‹ stehen darf. Sie werden das, was ich sagen will, bestimmt für dumm halten…« »Stellen Sie mich auf die Probe.« »Na schön.« Flora holte tief Luft. »Mein größter Wunsch ist es, die Königin dazu zu bewegen, Grandpas Silberpolitur ihr Patent zu verleihen. Als er noch lebte, lag ich nachts oft wach und träumte davon, aber ich sprach nie darüber, weil er mit Sicherheit nur gesagt hätte, es könne niemals wahr werden. Und dann, zwei Wochen vor seinem Tod, schrieb ich einen Brief an Ihre Majestät, in dem ich ihr versicherte, daß es das Produkt seit drei Jahren zu kaufen gibt. Das ist eine der Bedingungen, wissen Sie.« Vivian sagte nichts; er dachte daran, daß er nach Bethnal Green gekommen war, um Flora Hutchins zu fragen, ob sie wirklich glaubte, daß der Tod ihres Großvaters auf einen Unfall zurückzuführen war, und jetzt brachte er es nicht fertig, weil nur ein hundsgemeiner Mensch das Funkeln in ihren Augen zum Erlöschen bringen würde. »Es ist bloß ein Traum«, fuhr Flora hastig fort, »und nein, ich habe nichts von der Queen gehört. Aber ich bin sicher, sollte doch noch ein Brief kommen, wird Sir Henry ihn sogleich an mich weiterleiten«, sagte sie und brachte ein Lächeln zustande. Und genau in diesem Augenblick läutete es an der Tür zum Laden. »Grundgütiger, wer kann das nur sein?« Sie wollte die Treppe hinunterlaufen, doch Vivian schob sich an ihr vorbei und rannte vor ihr nach unten. »Sie müssen vorsichtig sein, vor allem abends«, sagte er und kam sich fast vor, als sei er für einen lebhaften kleinen Hund verantwortlich, der jeden beliebigen Bösewicht mit arglosem Schwanzwedeln willkommen heißen würde. »Sie wissen nicht, wer da draußen auf sie warten könnte.«
»Um mich komplett auszurauben?« Flora, die ziemlich müde war, gähnte hinter vorgehaltener Hand, als sie den leeren Laden durchquerte und hinter ihm in Deckung ging. »Oder um Ihnen eins über den Schädel zu geben«, erwiderte Vivian warnend, verzichtete jedoch darauf, ein noch übleres Szenarium auszumalen. »Huhuu, ich bin’s nur!« rief eine muntere Stimme durch die Tür. »Mabels Schwester Edna. Ich wohne gleich um die Ecke und komme mit dem Bett, das ich eigentlich schon früher vorbeibringen sollte.« »Dem was?« fragte Flora, während Vivian nur verblüfft eine Braue hob und eine Spur zögernd die Riegel zurückschob. Beide gingen fest davon aus, daß sie sich Auge in Auge einer Matratze samt Sprungfeder gegenübersehen würden, die bedrohlich im Wind schwankte und den Blick auf die Trägerin versperrte. Doch was sie tatsächlich erblickten, als die Tür aufschwang, war eine Frau, die Lady Gossinger sehr ähnlich sah und unter dem Arm eine Rolle aus flaschengrünem Plastik trug. Neben ihr stand ein Junge von etwa zehn oder elf Jahren. »Es ist eines zum Aufblasen«, erklärte Edna Smith, während sie über die Schwelle trat. »Und das hier ist mein Junge, Boris, das heißt, mein Enkel. Sag der Dame und dem Herrn hallo, und lächle mal ein bißchen. Mach schon, um Himmels willen.« Das Ergebnis dieses Befehls war, daß der junge Boris noch mürrischer aussah als zuvor, doch er versuchte immerhin, sich nützlich zu machen, indem er mit dem Fuß die Tür hinter ihnen zustieß. »Es ist so nett von Ihnen, vorbeizukommen.« Flora ging zu ihr, um ihr das Bett abzunehmen, wenn es denn tatsächlich ein Bett war, was unter dem Arm ihrer Besucherin klemmte, während Vivian sich instinktiv nach einem Stuhl oder etwas Vergleichbarem umsah, um es Mrs. Smith als Akt der Gastfreundschaft anzubieten.
»Also hat meine Tante unsere Flora doch nicht vergessen, und sie muß nicht ihre erste Nacht hier auf dem Fußboden schlafen. Vielen Dank, daß Sie in die Bresche gesprungen sind«, sagte er. »Sie müssen Jung-Viv… Mr. Gossinger sein.« »Genau. Und darf ich sagen, daß es mir ein großes Vergnügen ist, endlich Tante Mabels einzige Schwester kennenzulernen?« Wenn Vivian zerstreut wirkte, so deshalb, weil er das Gefühl nicht loswurde, daß eigentlich Mylady vor ihm stand, die sich nur mit auffälligen Klamotten aufgemotzt hatte. Die Ähnlichkeit der beiden Schwestern war wirklich sehr groß. Sie hatten denselben Körperbau und das gleiche aufgedunsene Gesicht. Allerdings tat sich eine Welt von Unterschieden auf, sobald man Mabels immergleiche Tweeduniform mit dem künstlichen Eidechsenmantel dieser Frau verglich. Hinzu kam ihre mattblondierte Coiffure; ihr Haar war auf dem Kopf zu Ringellocken aufgedreht und im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßt. Ihre Stimmen gaben den Ausschlag, wie Vivian feststellte. Diese Frau machte kein Hehl daraus, daß sie eine waschechte Londonerin war. »Es ist furchtbar nervtötend, es aufzublasen«, sagte Edna, als sie sah, wie Flora das Bündel aus grünem Plastik beäugte. »Einer meiner Untermieter hat es dagelassen. Wenn ich mich recht entsinne, war es der Lastwagenfahrer, der sich mit seiner Frau zerstritten hatte, weil er von der Nachbarin ein wenig mehr als eine Tasse Tee bekommen hatte. Und Boris lag mir danach in den Ohren, ich sollte das Bett behalten, falls mal einer der Jungs aus seiner Klasse vorbeikommt und bei ihm übernachten will. Da kann er lange warten.« Dies sagte sie mit einem liebevollen, wenn auch ein wenig besorgten Blick auf ihren Enkel. »Ein eingebildeter Haufen ist das da auf dieser Schule; es kann einem geradezu schlecht werden, aber so ist es
nun mal. Es gibt immer welche, die sich für was Besseres halten als andere.« Boris starrte kommentarlos auf den Fußboden, und sowohl Flora als auch Vivian fragten sich, ob der Junge wohl immer so griesgrämig war, oder ob es nur daran lag, daß man ihn vom Fernseher oder möglicherweise von seinen Hausaufgaben weggeschleift hatte – obwohl es schwerfiel, sich vorzustellen, daß Boris sklavisch der Algebra ergeben war. »Weckt wirklich jede Menge Erinnerungen, hier zu stehen.« Edna Smith ging klackend durch den Laden, auf hohen Absätzen, die an einer Frau ihres untersetzten Körperbaus gefährlich unpassend wirkten. »Was Mabel auch sagen mag, Mum und Dad haben uns hier unten die schönste Kindheit beschert, die man sich vorstellen kann, mit all dem Trödel, im Grunde genommen überwiegend Ramsch, und oben auch – obwohl man in der Wohnung kaum Luft holen konnte, ohne gleich wer weiß was vom Kaminsims zu schmeißen.« »Ich bin sicher, Ihre Eltern haben Ihre Sache sehr gut gemacht.« Flora spürte die Wärme, die sich jedesmal einstellte, wenn sie einer verwandten Seele begegnete. »Was hab’ ich hier für glückliche Momente erlebt, wenn Mum und Dad am Tresen alle Hände voll zu tun hatten und ich ihnen aushalf.« Edna betupfte sich die Augen und verteilte Wimperntusche auf ihren dick mit Rouge geschminkten Wangen. »Die meiste Zeit ließen sie mich so tun, als schmökere ich in einem Bilderbuch, was ganz Leichtes, weil ich nie ein sogenannter Überflieger war. Jedenfalls spielte es keine Rolle, ob es nur Der gestiefelte Kater war, denn in Wahrheit war ich dazu da, Wache zu halten, damit keiner was klauen konnte. Ich kam mir ja so ungeheuer wichtig vor. Und Sie können mir glauben« – von einem kehligen Lachen begleitet – »es waren nicht die Teds mit ihren Koteletten und Lederjacken, auf die man aufpassen mußte, ganz bestimmt
nicht! Oft waren es die kleinen alten Damen, die vor lauter Lavendelwasser zum Himmel stanken und die Porzellanaschenbecher mit der Aufschrift ›Ein Souvenir aus Blackpool‹ in ihre Taschen stopften.« Edna Smith unterbrach sich in ihren Reminiszenzen, um in den Taschen ihres Eidechsenmantels zu kramen. »Was sagt man dazu, ich wollte Teebeutel mitbringen, damit Sie wenigstens einen schönen heißen Tee trinken können, aber nach dem ganzen Hin und Her« – ihr Blick glitt zu ihrem Enkel »habe ich sie vergessen. Macht nichts! Boris kann eben schnell nach Hause laufen. Wir wohnen drüben in der Sozialsiedlung, und der Schlüssel steckt in seiner Tasche.« »Ich will nicht.« Der Junge erwachte mit einer Heftigkeit zum Leben, die Flora und Vivian verblüffte, und sie versicherten, es sei nicht nötig, daß er die Teebeutel holte, da noch reichlich Orangensaft übrig sei und daher niemand verdursten müsse. Flora erwähnte nicht, daß sie weder einen Kessel noch Tassen hatten, damit Edna sich nicht gedrängt fühlte, diese Dinge zu besorgen. »Was ist denn in dich gefahren, Boris, so frech zu werden!« Sie sah wütender aus, als angemessen erschien. »Ich hab’ dir gesagt, daß ich nicht mitkommen und sie besuchen will.« Der Junge wies mit dem Daumen auf Flora, und prompt gab Grandma ihm einen Klaps auf die Hand. »Es ist dunkel draußen, und es regnet auch, so hört es sich jedenfalls an.« Flora hoffte, daß dies nicht nach Kritik an Mrs. Smith klang. Aus irgendeinem Grund sah der arme Junge aus, als habe er Todesangst. Die Sommersprossen hoben sich von seinem blassen Gesicht ab, als sei er von den Masern befallen. »Überaus liebenswürdig von Ihnen, Mrs. Smith«, sagte Vivian und wandte sich Flora beinahe so zu, als seien sie ein Paar. »Aber wir haben beide Verständnis für Boris’ Zögern, nach – «
»Ich hab’ keine Angst, falls Sie das meinen!« Die erhobene Stimme des Jungen zitterte, und er reckte nach Art eines Boxers, der dem mörderischen Hieb seines Gegners entgegensieht, das Kinn vor. »Die Dunkelheit macht mir überhaupt keine angst, nicht die Spur. Ich finde es bloß stupide, für ein paar blöde Teebeutel nach Hause zu gehen und wieder herzukommen.« »Das ist kein Grund, dieses Wort zu gebrauchen«, wies ihn seine Großmutter zurecht. »Ich hab’ bloß gesagt – « »Und ich habe dir gesagt, du sollst nicht ›stupide‹ sagen, das klingt eingebildet. Aber ich schätze, so kommt’s zwangsläufig, wenn man sie auf die Privatschule schickt.« Edna sprach jetzt zu Flora und Vivian gewandt. »Natürlich bezahlen wir nicht dafür, daß er dort hingehen kann. Boris kriegt eine Art Stipendium. Deshalb muß ich auch geheimhalten, daß wir hin und wieder einen Untermieter haben. Oh, die Schulleitung weiß schon, daß ich Friseuse bin, aber sollte sie Wind davon bekommen, daß ich noch ein bißchen nebenher verdiene, könnte man mich eventuell dazu verdonnern, zumindest für einen Teil der Unterrichtsgebühren selbst aufzukommen. « »Ich verrate niemandem etwas«, versprach Flora. »Jedenfalls« – Edna sprach zu Vivian – »ist der Gentleman, der im Moment bei uns wohnt, so was wie ein Verwandter. Ein entfernter Cousin in fortgeschrittenem Alter mit den üblichen Zipperlein, und es hat mir nichts ausgemacht, ihm das hintere Schlafzimmer zu geben. Ich sorge dafür, daß er regelmäßig etwas zu essen bekommt. Ein netter Mensch, dieser Mr. Phillips, meinst du nicht auch, Boris?« »Ja, Grandma.« Dies kam mit spürbarem Mangel an Begeisterung heraus, doch man konnte nicht sagen, ob es an Boris’ übler Stimmung lag oder an einer lebhaften Abneigung gegen Edna Smiths männlichen Freund. »Wie war’s, wenn ich
jetzt das Bett aufblase? Deswegen sind wir doch gekommen, oder nicht?« »Das ist wirklich lieb.« Flora wagte nicht, Vivian Gossinger anzusehen, aus Furcht, sie würde ihn dabei ertappen, wie er ein Lächeln zu unterdrücken versuchte, und dann würde sie endgültig losprusten. Es war nicht nett, sich auch nur insgeheim über Boris zu amüsieren, denn der Junge sah aus, als wünsche er sich nichts sehnlicher als ein Paar Boxhandschuhe und einen Freiwilligen, der ihm erlaubte, ihm eins auf die Nase zu geben. »Wie wär’s mit einem Schokoladenkeks«, bot sie ihm an, »bevor du dich an dem Bett zu schaffen machst?« »Vielen Dank, Miss.« Boris wirkte plötzlich beinahe fröhlich. »Aber das kann ich unmöglich annehmen, wenn Grandma da ist.« Er verneigte sich spöttisch vor Edna. »Sie hat mir immer eingeschärft, ich soll von Fremden ja keine Süßigkeiten annehmen – und ich schätze, da sind Kekse inbegriffen.« »Um so mehr bleibt für uns übrig«, sagte Vivian mit einem Lächeln zu Flora, während er einen Arm um ihre Schultern legte. »Und ich hab’ jetzt endgültig genug von deinen Frechheiten, Bürschchen.« Edna nahm dem hämisch grinsenden Boris das aufblasbare Bett ab und klatschte es mehrmals auf sein Hinterteil, um ihn in den hinteren Teil des Ladens zu scheuchen. »Du bringst das hier jetzt nach oben in eins der Schlafzimmer, wenn du weißt, was gut für dich ist. Du bläst es auf und pflanzt deinen Hintern dann auf den Fußboden, bis ich soweit bin, dich wieder nach unten zu rufen.« »Soll ich es richtig schön belastbar machen?« Boris streckte den Kopf um die Ecke und zwinkerte Vivian übertrieben zu, bevor dumpfes Poltern und Krachen auf der Treppe davon kündete, daß der Junge auf dem Weg nach oben Himmel und Hölle spielte.
»Ich bin zu alt für dieses Spiel.« Edna zog ihre Pumps aus, klemmte sie sich unter den Arm und humpelte zum Tresen, um ihren müden Rücken zu stützen. »Ich meine, um Großmutter zu sein. Aber was sollte ich anderes tun, als ihn aufzunehmen, als seine Mum – das ist meine Tochter Lisa – das Weite suchte? Und sein Dad ist vom ersten Tag an nicht in Erscheinung getreten.« »Armer Boris.« Flora löste sich aus Vivians wohltuender Umarmung und ging zu der geplagten älteren Frau hinüber. »Ich hatte solches Glück…« Sie wollte sagen, weil sie einen Großvater gehabt hatte, der sie so liebevoll und auf magische Weise dafür entschädigt hatte, daß sie keine Eltern mehr hatte. Aber es wäre nicht gerade taktvoll gewesen angesichts der Tatsache, daß Edna ihre Schuhe abgestreift hatte, als seien selbst sie eine unerträgliche Bürde für eine Frau, der ein Elfjähriger alle Lebensgeister geraubt hatte. Außerdem fragte Flora sich plötzlich – und dabei steckte ihr ein Kloß in der Kehle –, ob sie selbst nicht manchmal eher eine Last als ein Segen gewesen war. Hatte Grandpa immer die Wahrheit gesagt, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wenn er beteuerte, sie sei ein einziger Lichtblick im Leben eines alten Mannes? Was war mit dem Tag, als sie ihm vorschwindelte, ein Mann sei durchs Fenster in ihr Zimmer eingestiegen und habe alles durchwühlt, nachdem sie gerade wie angewiesen Ordnung geschafft hatte? In der Rückschau konnte sie sich äußerst glücklich schätzen, daß Grandpa damals nicht auf der Stelle tot umgefallen war. Er hätte einen Herzanfall bekommen können… Der Kloß in ihrer Kehle löste sich auf und explodierte zu kleinen Partikeln des Kummers, die sich vom Kopf bis zu den Zehen in ihrem Körper ausbreiteten. So oder so mußte Grandpa viele Nächte schlaflos dagelegen und sich gesorgt haben, daß sie von einer gemeinen Lüge zur nächsten taumeln würde, bis sie schließlich als Hochstaplerin endete.
»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen. Warten Sie eine Sekunde, dann bringe ich Ihnen was.« Vivians Stimme hüllte Flora ein wie eine warme Wolldecke, und es war völlig unwichtig, daß er Edna meinte. Er war da und schlug eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit; und das hatte sie ebenso bitter nötig wie Edna das Glas, das er ihr in die Hand drückte. »Orangensaft«, sagte er fröhlich. »Es gibt nichts Besseres, um ein Lächeln auf Ihre Lippen und ein Lied in Ihr Herz zu zaubern.« »Sie sind wohl ein ziemlicher Draufgänger, wie?« Das Funkeln in Ednas Augen war das Ergebnis reiner Entschlossenheit, es reichte jedoch, um die Spuren der Wimperntusche in den tiefen Mulden über ihren Wangenknochen zu überstrahlen. »Längst nicht so aufgeblasen, wie ich nach Mabels Briefen dachte. Ich hab’ mir jeden auf Gossinger Hall schrecklich eingebildet vorgestellt. Nicht nur Sir Henry und sein verschrobenes altes Tantchen, sondern sogar auch diesen Butler, der mit dem silbernen Teetablett zur einen Tür reinkommt und zur anderen wieder rausgeht. Oje, typischer Fall von Elefant im Porzellanladen.« Edna sah aus, als wünsche sie, die Erde möge sich auftun und sie in China wieder ausspucken. »Sieht mir ähnlich, daß ich mal wieder ins Fettnäpfchen trete!« »Ist schon gut«, sagte Flora. »Es würde mir nicht gefallen, wenn es keiner mehr wagte, Grandpas Namen in den Mund zu nehmen. Er würde mir noch unerreichbarer vorkommen.« »Sie armer kleiner Schatz sind jetzt ganz allein auf der Welt. Ich habe tiefes Mitgefühl mit Ihnen, Liebling. Und wenn ich irgendwas tun kann, damit Sie sich weniger schutzlos fühlen, während Sie versuchen, Ihren Weg zu machen, denken Sie dran, Sie brauchen die alte Edna nur zu rufen. Sie müssen mal zum Tee zu mir rüberkommen, ‘nem richtigen Tee mit viel
leckerem Brot und Butter – nicht dieses Zeug mit abgeschnittener Kruste. Und Sie auch.« Sie sah Vivian hoffnungsvoll an. »Das würde Mabel doch ordentlich in der Nase kitzeln, oder? Sie in meiner Sozialwohnung mit einer Tasse Tee auf den Knien?« »Es würde mir großen Spaß machen, ich meine, Sie zu besuchen, Mrs. Smith.« Vivians Lächeln wirkte ein wenig nachdenklich. »Wie wär’s mit übermorgen, falls es Ihnen paßt?« »O ja, bitte!« Es war völlig lächerlich, doch als Flora seinen Blick auffing, fühlte sie sich wie Alice, als sie in den Kaninchenbau eingeladen wurde, das Tor zu einem Land, wo die Wunder niemals aufhörten. »Ich hätte diesen Witz über Mabel nicht machen dürfen«, fuhr Edna zerknirscht fort. »Man kann sagen, was man will, aber sie hat sich dieses Jahr zum ersten Mal seit weiß Gott wie langer Zeit an meinen Geburtstag erinnert. Hat mir an dem Tag ein Geschenk geschickt, durch Boris.« Sie legte den Kopf in den Nacken und führte das Glas Orangensaft zum Mund. »Nun gut! Ex und hopp, wie die Schauspielerin zum Bischof sagte.« »An welchem Tag war das?« fragte Vivian. »Da, ich hab’s schon wieder getan, oder? Kann die Klappe einfach nicht halten.« Edna trank noch einen Schluck, vielleicht hoffte sie, ihre Nerven beruhigen zu können, und leerte das Glas. »Ich hatte beschlossen, so wahr ich hier stehe, kein Wort darüber zu verlieren, daß Boris an dem Tag auf Gossinger Hall war, als Ihr Großvater diesen entsetzlichen Unfall hatte. Und ja, eben an jenem Tag schickte Mabel ihn mit meinem Geburtstagsgeschenk nach Hause.« Ihr trauriger Blick begegnete dem Floras. »Sie meinen« – Flora nahm sanft das Glas an sich, bevor Edna es fallen lassen konnte – »Sie meinen, Boris war einer der Jungs auf dem Schulausflug? Ich war froh, als ich erfuhr, daß
der Bus schon losgefahren war oder gerade losfuhr, als man Grandpa fand. Aber natürlich hat man sie später befragen müssen. Ach, der arme Boris! Glauben Sie, deshalb verhält er sich so sonderbar?« »Es ist mir ein Rätsel.« Edna rieb sich die Augen. »Ich hätte nämlich nie gesagt, daß Boris das ist, was man ein sensibles Kind nennt.« »Die meisten Elfjährigen sind üble kleine Monster«, warf Vivian aufmunternd ein. »In diesem Alter hätte ich es für ein großes Abenteuer gehalten, in irgendeiner Weise mit einem plötzlichen Tod zu tun zu haben, und ich hätte vor jedem damit angegeben, der mir zuhören wollte.« Er wollte nach Floras Hand greifen, ließ den Arm jedoch wieder sinken. Jetzt wünschte er, sie hätte ihr Haar nicht abgeschnitten. Sie sah so verfroren aus ohne es – wie ein Kind, das ein verantwortungsloser Erwachsener mitten im Winter allein an einer Straßenecke zurückgelassen hat. »Aber genau das ist so sonderbar«, murmelte Edna. »Was denn?« fragte Vivian. »Daß Boris nicht wie gewohnt damit angibt, daß er sozusagen mitten im Geschehen steckte. Er will kein Wort über jenen Tag verlieren, außer daß er seine Tante Mabel gesehen hat. Und das habe ich auch nur aus ihm herausgekriegt, weil ich ihr Geschenk in seiner Manteltasche fand. Fragen Sie mich nicht, was ihm über die Leber gelaufen ist, weil ich nämlich nicht die geringste Ahnung habe. Aber eins kann ich Ihnen versichern, ich würde alles für meinen Kleinen tun, einfach alles… na ja, so sind Großeltern nun mal, hab’ ich nicht recht, Schatz?«
Kapitel 11 Als Flora am nächsten Morgen aufwachte, hörte sie jemanden die Stufen hochkommen. Da sie noch vom Schlaf benommen war, dachte sie, es sei ihr Großvater, und sein Tod sei nur ein böser Traum gewesen. Doch als sie sich im Bett aufsetzte und sich die Augen rieb, sah sie, daß sie sich in dem größeren der beiden Schlafzimmer in ihrer neuen Wohnung befand und daß nicht ihr Großvater, sondern Vivian Gossinger in der Tür stand und etwas in den Händen hielt. »Frühstück«, verkündete er. »Mögen Sie Bagels? Ich habe welche in dem Laden ein paar Häuser weiter geholt und dazu einen Becher Kaffee für jeden von uns.« »Das ist nett von Ihnen.« Flora wußte, daß sie sich blöd anhörte und auch genauso aussah mit der bis ans Kinn hochgezogenen Decke, die sie im Trockenschrank gefunden hatte. Außerdem stand das, was von ihrem Haar geblieben war, wild von ihrem Kopf ab. Aber wenn sie ihn angelächelt hätte, dann hätte er vielleicht den Eindruck gewonnen, sie wolle die Situation ausnutzen. Seltsamerweise dachte sie nicht über die Umkehrung ihres bisherigen Verhältnisses nach, daß Vivian nämlich ihr das Frühstück ans Bett brachte statt andersherum. »Nur ein kleines Zeichen meiner Dankbarkeit, weil ich die Nacht auf dem Fußboden des Gästezimmers verbringen durfte. Ich hatte es sehr bequem mit der Reisedecke aus meinem Auto.« Vivian stellte das Tablett auf dem Boden ab und reichte ihr einen der Pappbecher. »Sie konnten ja nichts dafür, daß Ihr Wagen nicht angesprungen ist.« »Nett, daß Sie das sagen.« Vivian reichte ihr ein Bagel. »Aber wenn Onkel Henry hier wäre, würde er darauf hinweisen, daß ich in technischen Dingen immer schon furchtbar schlampig
war, wozu auch gehört, daran zu denken, den Tank an der Benzinpumpe zu füllen. Und wie Sie sehen, bin ich nicht besser, wenn es darum geht, eine Mahlzeit auf den Tisch zu zaubern, oder sollte ich sagen auf den Fußboden? Schauen Sie, ich habe vergessen, Ihnen eine Serviette mitzubringen.« Er ging zur Tür. »Bin gleich wieder da. Im Picknickkorb muß noch eine Papierserviette sein.« »Ich komme auch runter.« Flora schlug die Decke zurück, als sich die Tür hinter ihm schloß. Es spornte sie nicht nur an, daß sie widersinnigerweise hier lag wie die auf ihrer Barke entschwebende Lady of Shalott, während Vivian ihr zuliebe durch die Gegend düste. Durch den Spalt zwischen den ausgefransten Vorhängen kam genug Licht herein, um sie erkennen zu lassen, daß der Tag längst begonnen hatte. Gestern abend hatte sie ihre Armbanduhr nicht abgelegt, die Zeiger standen auf neun Uhr. Sie öffnete die Tür und rief nach unten: »Ich nehme schnell ein Bad und ziehe mich an, wenn Sie also schon mal gehen und einen Kanister Benzin besorgen wollen, Mr. Gossinger…« »Ausgezeichnet!« Seine Stimme drang zu ihr hinauf. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, ich werde eine ganze Weile brauchen. Ich will noch kurz nach Hause, um zu duschen und mich zu rasieren.« »Seien Sie vorsichtig.« »Damit ich das Benzin nicht verschütte?« »Ich meinte, wenn Sie die Straße überqueren. Es gibt so viel Verkehr.« Flora spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, zog sich schnell wieder ins Zimmer zurück und holte ein Handtuch aus ihrem Koffer. Sie mußte sich Vivians Lachen eingebildet haben, denn in der Wohnung war das anhaltende Summen des Verkehrs zu hören, nur manchmal in seinem gleichmäßigen Fluß von einem besonders lauten Rattern, einer Explosion schnarrender Hupen oder dem Kreischen von
Bremsen unterbrochen. Ich muß damit aufhören, dachte sie, während sie ihren Koffer nach etwas durchwühlte, das sie anziehen konnte. Ich muß mir immer wieder sagen, daß er als Vertreter der Familie Gossinger hier ist. Er tut nur, was er als seine Pflicht ansieht, denn so verhalten sich Männer von Stand Leuten gegenüber, die für sie gearbeitet haben. Als sie im Bad stand, das nicht viel größer war als eine Eierschachtel und von einem behelfsmäßigen Duschkopf mit lauwarmem Wasser bespritzt wurde, beschlich sie erneut jenes Gefühl – das Gefühl, das erklärte, warum sie nicht in Panik ausgebrochen war, als Vivian Gossinger ihr das Frühstück ans Bett gebracht hatte. Ihr war zumute, als hätten sie zusammen Schiffbruch erlitten, und nachdem sie sich an ein Wrackteil – kaum groß genug für eine, geschweige denn für zwei Personen – geklammert hatten, waren sie ans Ufer einer einsamen Insel gespült worden, auf der niemand war außer ihnen. Der Kontakt zur Außenwelt beschränkte sich auf den gelegentlichen Anblick einer Schiffssilhouette, die fern am blauen Horizont dahinglitt. »Du fliehst bewußt vor der Realität«, redete sie sich ins Gewissen, als sie sich abtrocknete und mit den Fingern durch ihr Haar fuhr. »Viele würden das angesichts des Schocks von Grandpas Tod wohl begreiflich finden. Aber ich lasse nicht zu, daß du dich komplett lächerlich machst. Du gehst jetzt nach unten und bedankst dich sehr höflich bei Mr. Gossinger, weil er in die Bresche gesprungen ist, und anschließend läßt du ihn seiner Wege gehen. Und keine sehnsüchtigen Blicke, wenn er zur Tür hinausgeht, hast du mich verstanden?« Doch als Flora die enge kleine Küche hinter dem Laden betrat, schien Vivian sich ganz und gar heimisch zu fühlen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß er nicht hierhergehörte. Er saß auf einem Hocker an der Spüle und sah genauso aus wie das Modell zu Rodins berühmter Skulptur.
»Ich hab’ das hier draußen an der Hintertür gefunden.« Er klopfte auf die hölzerne Sitzfläche. »Der Schaden des Müllmanns ist unser Gewinn. Ich habe nachgedacht«, fügte er hinzu, »und zwar über Tante Mabels arme Mutter, die jede Mahlzeit, die sie hier unten kochte, nach oben in die Wohnung schaffen mußte. Wenn Sie mich fragen, mußte sie wohl erst sterben, um verschnaufen zu können.« »Vermutlich haben sie oft hier unten gegessen«, sagte Flora. »Wie bitte?« Vivian hob den Kopf. »Standen sie mit dem Löffel in der Hand rings um den Herd?« »So schlimm muß es nicht gewesen sein. Vielleicht konnten sie noch einen Tisch in die Küche zwängen.« »Wo denn?« »Da drüben an der Wand.« Flora zeigte auf den freien Raum zwischen Abtropfständer und Treppenaufgang. »Es ist genug Platz für einen kleinen Klapptisch, und wenn sie Klappstühle benutzt haben, die nicht im Weg stehen, wenn man sie gerade nicht braucht, müßte es gehen.« »Ach ja?« Flora erriet, was er dachte, und sprach in schärferem Ton, als sie beabsichtigt hatte. »Es hat keinen Sinn, sich schuldig zu fühlen, nur weil Sie von Geburt an mehr hatten als die meisten anderen Menschen. So ist es nun mal, und es ist Zeitverschwendung, sich deswegen selbst zu kasteien. Andere Menschen – meinesgleichen, könnte man sagen – sind es gewohnt, eng zusammenzurücken. Manchmal entsteht so eine besondere Nähe. Ich weiß noch…« Ihre Stimme schwankte ein wenig. »… als ich klein war, gefiel es mir tagsüber sehr, wie groß Gossinger war, aber es war auch immer wunderschön, abends mit Grandpa behaglich in unserer kleinen Wohnung zu sitzen, die Vorhänge waren gegen die Dunkelheit fest zugezogen, und die Uhr tickte auf dem Kaminsims. Diese Uhr war wie ein Familienmitglied, mischte sich mit ihren Schlägen
immer in alles ein, ohne gefragt worden zu sein… das hat Grandpa immer gesagt. « Vivian saß still auf dem Küchenhocker. Er wollte etwas sagen, merkte jedoch, daß Flora noch nicht fertig war. »Manchmal, am Sonntag«, sagte sie, »tranken wir in unserem Wohnzimmer zusammen Tee, Grandpa und ich, Mr. Tipp und Mrs. Bellows – sie war die Haushälterin, die ich am liebsten hatte. Sie erzählte mir immer Geschichten über die Königin. Später ist sie in einen Ort namens Ilford umgezogen…« »Ich erinnere mich an sie.« »Ja, natürlich.« Flora stand am Herd und konzentrierte sich auf einen Sprung in der Emaille zwischen den vorderen Kochplatten. »Mrs. Bellows hat die Kopfverletzung verarztet, die Sie sich eines Abend zuzogen, als Sie auf dem Weg nach Gossinger gegen einen Laternenpfahl fuhren.« »Und Sie haben Tee für mich gekocht.« »Das meiste davon landete auf der Untertasse, weil ich erst ungefähr sieben war und solche Angst hatte, Sie würden sterben. Ihr Gesicht war so weiß wie das Spülbecken… so drückte sich Mrs. Bellows aus. Wie dem auch sei.« Flora wandte sich entschlossen vom Herd ab und sah Vivian mit einem Lächeln in den Augen an. »Zurück zu den Sonntagnachmittagen. Es war immer ziemlich eng, wenn wir vier, Mrs. Bellows, Mr. Tipps, Grandpa und ich, uns um den Teetisch versammelten, der nicht viel größer war als der Sekretär einer Dame, aber wir hatten trotzdem oft unseren Spaß. Manchmal lächelte selbst Mr. Tipps, und Mrs. Bellows sagte dann, das müsse sie sich im Kalender anstreichen. Der arme Mr. Tipps! Hoffentlich muß er Gossinger nicht allzulang fernbleiben, um sich um seinen kranken Cousin zu kümmern. Er ist vorher noch nie weggefahren, nicht soweit ich mich erinnern kann, und ich fürchte, er wird sich fühlen wie ein Fisch auf dem Trockenen.«
Vivian war in diesem Augenblick nicht sonderlich an Mr. Tipps interessiert. »Was ist aus dem Tisch geworden?« fragte er. »Dem in unserem Wohnzimmer?« »Genau. Haben Sie veranlaßt, daß er Ihnen hierher nachgeschickt wird?« »Er gehörte uns nicht«, sagte Flora. »Keines der Möbelstücke gehörte uns, weder die Uhr noch der Eckschrank, noch Grandpas Sessel am Kamin. All das war schon vor seiner Zeit auf Gossinger. Überbleibsel von dem Butler vor ihm vielleicht, oder es könnte auch sein, daß man einen Teil der Sachen vom Speicher geholt hat; es hat mich immer erstaunt, was da oben alles war, wenn ich auf Entdeckungsreise ging. Einmal, als Miss Doffit mich begleitete, fanden wir eine hübsche Brosche aus verschiedenfarbigen Steinen. Sie steckte seitlich in einem alten Brokatsofa. Sie war nicht wertvoll – bloß aus Glas, vermute ich –, aber es machte Spaß, so zu tun, als hätte sie der Gemahlin von Sir Rowland Gossinger gehört. Und er hielt sie bei Wasser und Brot auf dem Speicher gefangen, weil sie nicht in die Scheidung einwilligen wollte, damit er seine wahre Liebe heiraten konnte.« »Hat es Ihnen leid getan, sie nicht mitnehmen zu können?« Vivian hatte sich immer noch nicht vom Fleck gerührt. »Die Brosche?« Flora fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als hingen durchsichtige Spinnweben vom Speicher an ihr. »Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.« »Ich meinte die Möbel in Ihrem Wohnzimmer, vor allem den Tisch.« »Ihn zurückzulassen war fast so, als müßte ich mich von einem alten Freund verabschieden; aber es macht nichts, er hat ja noch die Uhr und Grandpas Sessel zur Gesellschaft.« Flora lächelte. »Und wenn Mr. Tipps nach Hause kommt, belohnt Sir Henry ihn ja vielleicht für seine langjährigen treuen Dienste,
indem er ihn zum Butler macht. Und in dem Zimmer wird es wieder Sonntagstees und andere fröhliche Zusammenkünfte geben. Sie machen ein Gesicht, als täte ich Ihnen leid, Mr. Gossinger, und das liegt daran, daß ich Ihnen einen völlig falschen Eindruck vermittelt habe. Es stimmt, daß alle größeren Gegenstände – die Möbel und so weiter – nicht Grandpa gehörten. Aber als ich größer wurde und mich für Flohmärkte interessierte, brachte ich oft tolle Funde mit nach Hause. Alle erdenklichen Dinge – ein Kissen, mit Tasse und Unterteller bestickt, Kerzenhalter aus Kandiszucker für den Kamin, und einmal einen frühen viktorianischen Fotorahmen, damit Grandpa das Bild meiner Mutter auf die Kommode in seinem Schlafzimmer stellen konnte. Auf diese Weise wurden die Zimmer allmählich wirklich zu unserem Heim, auch wenn wir die Möbel oder die Tapete nicht auswechseln konnten. Und bevor ich wegging, packte ich die meisten dieser Erinnerungsstücke in meinen großen Koffer, zusammen mit Grandpas Silberpolitur.« »Ich staune, daß Sie überhaupt noch Platz für Kleider hatten«, sagte Vivian. »Na ja, Sie sehen selbst, daß alles, was ich mitgebracht habe, furchtbar zerknittert ist.« Flora blickte bedauernd auf ihr pflaumenblaues, knöchellanges Kleid, ebenso wie ihre klobigen Schuhe ein Schnäppchen vom Flohmarkt. »Ich hätte kurz mit dem Bügeleisen drübergehen sollen, aber ich wollte Sie nicht warten lassen, da… da es Zeit ist, auf Wiedersehen zu sagen und Ihnen für alles zu danken, was Sie für mich getan haben, damit ich mich in meinem neuen Heim wohl fühle, Mr. Gossinger.« »Tut mir leid.« Vivian stand auf und schubste den Hocker unter das Spülbecken. »Aber so war es nicht geplant. Ich möchte kein Pedant sein, Flora, aber ich denke, Sie haben gestern abend ein wenig zuviel Orangensaft getrunken. Sonst
würden Sie sich daran erinnern, daß Sie mir versprochen haben, sich den Flohmarkt von mir zeigen zu lassen, auf dem ich arbeite.« »Aber…« Flora hätte sich einen Tritt geben können, weil sie mit ihrer Schatzsuche auf Flohmärkten geprahlt hatte, und zugleich überkam sie ein großes Glücksgefühl. Vivian gab sich entmutigt. »Ich glaube, Sie nehmen meine Bemühungen, etwas aus mir zu machen, nicht ernst. Sie halten mich für einen typischen Angehörigen der prasserischen Spezies, einen Apfel vom Stamme meines Vorfahren Sir Rowland, der nur so tut, als wolle er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen.« »Das stimmt nicht!« erwiderte Flora überraschend heftig»Dann machen Sie sich Sorgen, was Ihr Großvater sagen würde, weil Sie den Tag mit mir zusammen verbringen wollen.« »Na ja…« Einmal das, und außerdem fragte sie sich, wie viele Minuten, geschweige denn Sekunden ein Tag enthielt und wie sich die Zeit gleich einem Regenbogen am Himmel wohl ins Unendliche dehnen ließe. »Und das ist barer Unsinn«, sagte Vivian zu ihr, »weil Hutchins ein ganz und gar vernünftiger Mensch war und als solcher verstanden hätte, daß ich mit Ihnen über Angelegenheiten reden muß, die den Ruf der Familie Gossinger betreffen.« »Was meinen Sie damit?« Vor Schreck trat Flora dicht zu ihm, und ohne zu merken, was sie tat, streckte sie die Hand aus und strich den Kragen seiner Jacke glatt. Bis sie endlich dazu kam, rot zu werden, war es zu spät, weil es soviel anderes zu bedenken gab. »Dieser Junge, Boris, der Enkel von Edna Smith…« sagte Vivian. »Was ist mit ihm?«
»Es ist doch klar, daß er seit dem Schulausflug nach Gossinger nicht mehr der alte ist, oder?« »Und?« Vivian griff nach Floras Hand, ohne daß sie beide es richtig registrierten. »Ich denke, daß Boris an jenem Nachmittag vielleicht etwas in Zusammenhang mit dem Tod Ihres Großvaters gesehen oder gehört hat, was ihn ins Nachdenken brachte, ob er nicht vielleicht etwas hätte tun können, um das Unglück zu verhindern. Wir sprechen über all das später, wenn wir draußen an der frischen Luft sind«, sagte Vivian beschwichtigend, während er sie durch den Durchgang in den Laden lotste. »Nein, ich finde, wir sollten es jetzt gleich besprechen.« »Auf gar keinen Fall. Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen.« »Das kommt nur daher, daß es hier drinnen furchtbar stickig ist.« Flora entwand sich ihm. »Die Fenster sind bestimmt nicht geöffnet worden, seit die letzten Bewohner ausgezogen sind.« »Kein Wunder, daß mir Flecke vor den Augen tanzen«, sagte Vivian, als sie den Laden durchquerten, und dann klingelte die Glocke und jemand schob von außen die Tür auf. »Wie dumm von mir!« Er verzog das Gesicht. »Ich habe vergessen, hinter mir abzuschließen.« »Hallo miteinander! Ich bringe Grüße für unsere neue Nachbarin!« Ihr Gast, der auf der Türschwelle stand und sie anstrahlte, war ein mittelgroßer Mann mit brauner Haut, wie man sie in England nur durch Gene bekommen kann, die aus einem wärmeren Klima stammen. »Banda Singhh, freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Der Fish & Chips-Laden die Straße runter, der beste seiner Art weit und breit. Sie müssen mal vorbeikommen und unser Essen probieren, auf Kosten des Hauses.«
»Das tue ich gern.« Flora beeilte sich, Mr. Singhhs ausgestreckte Hand zu schütteln, und hatte plötzlich das Gefühl, daß die Welt ein ganzes Stück weniger einschüchternd war. »Wie nett von Ihnen, vorbeizukommen.« »Ja, das ist wahr.« Vivian schüttelte Mr. Singhh ebenfalls kräftig die Hand, während er Floras Versäumnis nachholte und sie beide vorstellte. »Meine Frau wäre auch gekommen, aber sie reinigt gerade die Frittenkörbe und hat mich zur Tür hinausgescheucht. Ich soll Ihnen sagen, daß es Ihnen hier in der Wishbone Street bestimmt gefallen wird.« Mr. Singhhs Lächeln wurde noch strahlender. »Wir sind direkt aus Pakistan hergezogen, und es gefällt uns sehr gut hier. Viele angenehme Leute, wie eine große glückliche Familie, wenn man Mr. Grundy nicht berücksichtigt, der einem höchstens mal guten Tag sagt. Armer Kerl.« Mr. Singhh machte ein trauriges Gesicht. » Er hat einen schlimmen Rücken und eine Tochter, die ihn verachtet, weil er in seinem Laden ›unanständige‹ Wäsche verkauft. Man muß ja irgendwie leben, sage ich ihm immer wieder, und jetzt muß ich zurück in die Tretmühle, bevor ich noch arbeitslos werde. Emel, meine Frau, duldet keine Schlampereien, verstehen Sie?« »Vollkommen«, sagte Vivian, während Flora nickte. »Aber vergessen Sie nicht.« Mr. Singhh ging munter zur Tür hinaus und winkte ihnen noch einmal zu. »Zögern Sie nicht, sich an uns zu wenden, wenn Emel und ich Ihnen irgendwie helfen können. Ob groß oder klein, wir tun Ihnen gern jeden Gefallen.« »Was für ein netter Mann«, sagte Flora, als sich seine Schritte entfernten. »Mit einer gestandenen Frau, wie es klingt«, erwiderte Vivian, der Emel Singhh förmlich vor sich sah, wie sie Töpfe
und Pfannen scheuerte und dabei mit den Armen bis zu den Ellbogen in Spülwasser steckte. »Ich glaube, er hatte den Eindruck, daß wir beide hier wohnen«, sagte Flora, als erneut die Türglocke ging und Mr. Singhh den Kopf in den Laden streckte. »Verzeihen Sie, wenn ich noch einmal störe.« Er strahlte immer noch. »Aber Emel würde mir mit einer Flasche unseres besten Malzessigs eins über den Schädel geben, wenn ich zurückkomme, ohne gefragt zu haben, was für einen Laden Sie hier eröffnen wollen, um unserem fröhlichen Viertel Ehre zu machen.« »Den Laden habe ich nicht gemietet.« Flora rechtfertigte sich unwillkürlich. »Nur die Wohnung oben. Das Haus gehört der Tante von Mr. Gossinger.« »Sie hieß früher Mabel Bowser«, teilte Vivian Mr. Singhh mit, »und ist mit ihrer Schwester Edna – jetzt Mrs. Smith – hier aufgewachsen, als Ihre Eltern den Laden führten.« »Ja, ich weiß Bescheid!« Der Gentleman wirkte so erfreut, als habe man ihn zum Oberbürgermeister von London ernannt. »Emel kennt diese Mrs. Smith, eine Friseuse, recht gut, glaube ich. Sie haben letzte Woche auf dem Kirchbasar zusammengearbeitet. Wir gehen nicht in die Kirche – eine methodistische Gemeinde, glaube ich –, aber wir legen Wert auf gute Beziehungen, verstehen Sie. Wir alle hoffen doch darauf, einmal an denselben Ort zu gelangen, ist es nicht so? Aber bitte nicht so bald!« Mr. Singhh legte mit seelenvoller Miene die Hände aneinander, und Flora mußte lachen. »Denken Sie darüber nach, ob Sie den Laden wiedereröffnen wollen«, sagte er zu ihr, »und Sie, Sir« – er verbeugte sich vor Vivian – »reden Sie liebenswürdigerweise mit Ihrer Tante. Sagen Sie ihr, daß die Wishbone Street mit einem ausgeschlagenen Zahn nicht ihr bestes Gesicht zeigen kann.
Und jetzt gehe ich endlich, bevor Sie sich noch ärgern und sagen, ich solle nie wieder herkommen und Ihre Zeit verschwenden.« »Warten Sie bitte noch einen Moment.« Flora folgte Mr. Singhh nach draußen auf die Straße. »Erstens sollen Sie wissen, daß Sie mir nie lästig fallen könnten, und dann ist da noch etwas…« Sie hob die Stimme, als ein Bus vorbeirumpelte. »Wissen Sie zufällig noch, wie der Laden hieß, als Mr. und Mrs. Bowser ihn führten?« »Ah, diese Frage sollten Sie besser meinem Sohn stellen. Er ist Historiker und arbeitet im Britischen Museum. Ein Vater muß hin und wieder mit seinen Sprößlingen angeben können, verstehen Sie?« Mr. Singhh verneigte sich mit gefaltenen Händen, als sich eine Mutter mit zwei Kleinkindern im Schlepptau an ihm vorbeizwängte. »Damals war es ein Trödelladen«, half Flora nach. »Verzeihen Sie meinen trägen Verstand! Das war vor meiner Zeit, wissen Sie. Und Geschäfte wechseln so häufig den Besitzer, wie unsere Freundin Mrs. Smith Haare schneidet.« Mr. Singhh preßte die Finger an die Stirn und biß die Zähne aufeinander. »Ah ja, jetzt erinnere ich mich wieder, glaube ich. Damals hieß er ›Die silberne Teekanne‹.« Flora wollte ihn am liebsten küssen, fürchtete jedoch, das könne gegen seine Religion verstoßen – übrigens gehörte er der anglikanischen Kirche an. Sie sah ihm noch nach, als er sich entfernte, dann ging sie wieder in den Laden, wo Vivian gerade die Türschlösser überprüfte. » Sie wundern sich vermutlich, daß ich Edna Smith gestern abend nicht nach all diesen Dingen gefragt habe«, sagte sie. »Aber da habe ich noch nicht daran gedacht. Sicher, morgen bin ich zum Tee bei ihr eingeladen, aber plötzlich schien es mir wichtig, es jetzt schon zu wissen. Denn wenn man in einem
Haus mit einem Namen aufwächst, neigt man dazu, ein sehr persönliches Verhältnis zu Orten aufzubauen. Und es schien mir – nun ja, fast unhöflich, an mein neues Heim nur in Form einer Hausnummer zu denken.« »Aber der Laden hat wahrscheinlich mehrmals den Namen gewechselt, seit die Bowsers hier lebten. Was bringt Sie auf den Gedanken« – Vivian ließ von den Türschlössern ab und lächelte sie an – »daß er immer noch ›Silberne Teekanne‹ heißen will?« »Ich weiß nicht.« Flora sah in die Runde, auf die kahlen Wände, als könne sie dort eine Aufschrift von Feenhand lesen. »Es kommt mir nur merkwürdig vor, wie Zauber, daß er diesen Namen getragen hat, als Ihre Tante Mabel hier als Mädchen lebte, und daß sie später nach Gossinger kam, wo Silber von den Tagen Sir Rowlands an bis heute eine solch wichtige Rolle gespielt hat.« Als sie sich umdrehte, sah Vivian sie sehr nachdenklich an, und sie fügte hinzu: » Damit meine ich, daß das Gossinger-Silber ja immer noch als Talisman gegen schlechte Zeiten gilt. Und es funktioniert, das müssen Sie zugeben. Die Leute bezahlen vor allem Geld für die Besichtigung, weil sie das Silber sehen wollen, was auch der Grund ist, warum…« Ihre Stimme klang plötzlich dünn. »… warum Grandpa immer so eigen war mit dem Putzen des Silbers und seine eigene Politur herstellte. Ach, ich bin dumm! Plappere Ihnen etwas über Ihr eigenes Haus vor… oder was zumindest eines Tages Ihr Haus sein wird.« »Solche Gespräche haben die Wirkung, daß ich mich alt fühle, und es ist noch nicht mal Mittag«, sagte Vivian ein wenig kurz angebunden. »Verschwinden wir von hier, bevor noch jemand kommt. Fortuna lächelt.« Er zog die Tür hinter ihnen zu, als sie auf das Pflaster traten. »Es ist ziemlich warm, Sie brauchen im Augenblick also keinen Mantel, und wenn die Temperatur fällt, können Sie meine Jacke haben. Um
eventuelle Wertminderung brauchen Sie sich nicht zu sorgen, sie ist bezahlt.« »Worum ich mich sorge« – Flora blieb zwei Schritte hinter ihm stehen – »ist eher, daß ich den Schlüssel nicht mitgenommen habe.« »Er ist hier.« Vivian klopfte auf seine Tasche. »Und ich habe meine Handtasche oben gelassen…« »Dann werden Sie sich eben mal nicht die Nase pudern können.« »Das ist nicht das Problem.« Flora ging im Zickzack um eine Menschentraube herum, um Vivian einzuholen. »Ich habe kein Geld für den Bus, und ich habe keine Ahnung, wie weit es ist.« »Wenn wir da sind, wissen wir, wie weit es ist«, sagte er leichthin und schob ihren Arm unter seinen, als sie an einem Ladeninhaber vorbeikamen, der die Markise über seinem Eingang herunterließ. »Mit anderen Worten, Flora Hutchins, Sie und ich verbummeln den Tag und sehen uns die Stadt an.« »Aber ich dachte, wir wollten zu Ihrem Flohmarkt gehen.« »Das werden wir auch tun, wir nehmen nur die landschaftlich reizvollere Strecke. Wollen Sie nicht Westminster und den Buckingham-Palast sehen?« »Ich will nicht, daß Sie gefeuert werden.« »Mein Boß ist sehr verständnisvoll.« Vivian strich sich das Haar glatt, das der Wind immer wieder durcheinanderbrachte. »Er rechnet erst mit mir, wenn er mich sieht, das ist seine Devise. Na los, kommen Sie schon, wer zögert, den bestraft das Leben.« Die Ampel zeigte Grün, bis sie vom Gehsteig traten; Flora fühlte sich belebt, als sie zur anderen Straßenseite rannten. Nicht nur Vivian, das Leben selbst zog sie mit sich, und sie beschloß, daß dies der falsche Moment war, um zurückzublicken. Sie würde sich in den nächsten Stunden erlauben, an so gut wie gar nichts zu denken. Grandpa würde
es gutheißen. Er würde nicht wollen, daß ich jede Minute des Tages an meinen Kummer denke, dachte sie, oder daß ich mich schuldig fühle, weil ich merke, daß die Sonne scheint. Und bestimmt würde er auch das mit Mr. Gossinger verstehen. »Sie müssen aufhören, mich so zu nennen«, sagte Vivian, als sie in der U-Bahn saßen. »Ich komme mir vor wie hundertfünf Jahre alt, und außerdem ergibt es absolut keinen Sinn, nachdem wir die Nacht zusammen verbracht haben.« »Würden Sie bitte leiser sprechen.« Flora bewegte nur die Mundwinkel, da sie sehr wohl merkte, daß die Frau neben ihr die Ohren spitzte. »Außerdem könnte ich das unmöglich tun.« »Mich beim Vornamen nennen?« Jetzt hörte der Mann neben Vivian hinter der Deckung seiner Zeitung zu. »Genau.« »Warum denn nicht?« »Weil – « »Weil Sie sich die alberne Idee in den Kopf gesetzt haben, daß es nicht geht, weil wir von unterschiedlichem Stand sind?« »Das würde keine Rolle spielen, zumindest keine so große, wenn Grandpa und ich nicht für Ihre Familie gearbeitet hätten.« Flora stand auf und glättete die Falten ihres langen Rocks, als der Zug sich Oxford Circus näherte. »Und außerdem gibt es da noch eine andere Komplikation.« Sie folgte Vivian durch den Mittelgang. »Und zwar?« »Daß es so wäre«, sagte Flora, während sich die Türen öffneten und sie auf den Bahnsteig sprang, »als nenne man den Märchenprinzen Charlie.« »Das habe ich nicht mitbekommen.« Vivian schloß sich ihr an, nachdem er einer älteren Dame den Vortritt gelassen hatte. »Gut so! Ich meine, es war nicht wichtig.« Sie mußte wirklich mit diesem überdrehten Benehmen aufhören, bevor sie sich noch komplett lächerlich machte. Es war keine
Entschuldigung, daß ihre Welt völlig auf den Kopf gestellt war. Es gab vieles, wofür sie dankbar sein konnte: ein Platz, an dem sie wohnen konnte, die Verheißung freundlicher Nachbarn und sogar die Hoffnung, die liebe Mrs. Bellows wiederzusehen, denn als sie die auf dem Plan im Zug aufgeführten Stationen überflog, hatte sie entdeckt, daß Ilford, wo die alte Haushälterin jetzt lebte, ganz in der Nähe lag. »Na schön«, sagte Flora, als sie mit Vivian auf die Treppen zusteuerte, »ich höre auf, Mr. Gossinger zu Ihnen zu sagen, wenn Sie es unbedingt wollen. Aber Sie müssen mir versprechen – « »Es nicht Tante Mabel und Onkel Henry weiterzusagen?« »Nein, daß Sie sich nach dem heutigen Tag nicht mehr verpflichtet fühlen, mich unter Ihre Fittiche zu nehmen.« »Sie glauben, Sie können selbst auf sich aufpassen, ja?« Vivian warf einen Blick über die Schulter auf das Gedränge hinter ihnen, als sie auf der Rolltreppe nach oben zum Ausgang fuhren. »Ich möchte Sie warnen.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sprach an ihrem Ohr. »In London hat das Leben die Eigenart, schnell kompliziert zu werden; vor nicht langer Zeit war ich in der Gegend des Palasts, ging unschuldig meiner Wege und fand mich plötzlich inmitten einer antiroyalistischen Kundgebung wieder. Gott sei Dank ist mein Foto nicht in den Zeitungen gelandet, sonst hätte Onkel Henry als der glühende Monarchist, der er ist, mir verboten, jemals wieder sein Haus zu betreten.« »Ja, das hatten er und Grandpa gemeinsam – ihre Treue zur Königin.« »Die beiden hatten eine ganze Menge gemeinsam.« Vivian widerstand dem Impuls, sich erneut umzudrehen, doch das Gefühl, daß jemand sie beobachtete, während dieser Jemand sich selbst sorgfältig verborgen hielt, wollte nicht vergehen. Er sagte sich, daß seine Phantasie nur Schabernack mit seinem
gesunden Menschenverstand trieb, daß er vermutlich auf nichts weiter als seine eigene Nervosität und den Eindruck reagierte, daß zu viele Leute in der U-Bahn sich hinter einer Zeitung verkrochen hatten. Dennoch mußte er sich zusammenreißen, um nicht schützend Floras Schultern zu packen. »Jetzt sagen Sie mal, steht der Buckingham-Palast nach unserem Streifzug über die Oxford Street ganz oben auf Ihrer heutigen Liste?« »Er stand dort, aber im Augenblick will ich nicht, daß das hier jemals aufhört – ich meine die Fahrt auf der Rolltreppe. Ich war bisher nur einmal in London, mit fünf oder sechs Jahren, als Grandpa mich mitnahm, um den Weihnachtsmann in Selfridge’s zu sehen. Ich weiß noch, ich trug ein königsblaues Kleid mit dazu passendem Hut, und Grandpa hatte seinen Schirm dabei. Und das Schönste am ganzen Tag« – Flora blickte auf die Leute, die an ihnen vorbeiglitten – »war die Fahrt auf der Zaubertreppe – so nannte ich es damals. Weil ich so klein war, schien es ewig zu dauern. Als wir schließlich doch oben ankamen, ließ Grandpa mich gleich wieder runterfahren. Mehrmals.« »Ist es das, was Sie jetzt gern tun würden?« fragte Vivian, sobald sie festen Boden unter den Füßen hatten. Und seine Belohnung war nicht nur ihr bezauberndes Lächeln, sondern auch die Erkenntnis, daß, wenn ihnen tatsächlich jemand folgte, dieser Jemand sich vielleicht fragen würde, ob er nicht allmählich den Bezug zur Realität verlor, weil sie unaufhörlich die Rolltreppen am Oxford Circus rauf- und runterfuhren.
Kapitel 12 »Leider ist es nicht der Buckingham-Palast«, sagte Vivian, als er und Flora in einem überfüllten, allerdings wenig vornehmem Café in einer Seitenstraße saßen. Es hatte sich dadurch empfohlen, daß sie in der Nähe aus dem Bus gestiegen waren, nachdem sie sich ausgiebig die Stadt angesehen hatten. »Es ist perfekt«, beteuerte sie und griff zu Messer und Gabel. »Ich liebe Cafés, in denen man Wurst und Kartoffelbrei mit Zwiebelsauce kriegen kann.« »Aber etwas stört Sie doch.« »Sie werden lachen.« Flora spießte einen Wurstzipfel auf. »Ich denke gerade, wie leid mir die Queen tut. Ich glaube nicht, daß sie jemals richtiges Essen in lebendigen Cafés wie diesem hier genießen kann. Und wenn Sie es genau wissen wollen, Westminster Abbey und das Parlament haben mir sehr gefallen, aber den Buckingham-Palast mag ich überhaupt nicht. Natürlich habe ich ihn schon im Fernsehen gesehen, aber das ist ja nicht das gleiche, wie an Ort und Stelle zu sein, oder? Ich fand, er sieht aus wie ein Gefängnis, als wären die Wachen dazu da, daß niemand hinaus- statt hineingelangt. « Vivian hob seine Teetasse. »Darauf, daß man ihn innen hoffentlich ordentlich renoviert hat. Es ist erstaunlich, was ein oder zwei Teppichrollen bewirken können.« »Ich finde, wir sollten einen Toast auf Mrs. Much ausbringen.« »Stimmt ja, sie arbeitet jetzt dort, nicht wahr? Und hoffen wir ihr zuliebe, daß sie nicht der unstillbare Drang überkommt, die königlichen Gobelins zu waschen. Onkel Henry hat mir gestanden, daß er zutiefst erschrocken war, als er entdeckte, daß sie dem William Rufus auf der Jagd im New Forest eine kräftige Abreibung verpaßt hatte.« Vivian lachte leise.
»Tja.« Flora schluckte einen Bissen Kartoffelpüree mit Röstzwiebeln hinunter. »Ich glaube nicht, daß er wütender gewesen sein kann als Grandpa. Sogar Mr. Tipp machte ganz große Augen, als er hörte, was Mrs. Much angerichtet hatte. Auf tragische Weise war es ein Glück für sie, daß Grandpa nicht mehr da war, als die Frage ihrer Referenzen anstand. Sir Henry hat sich immer an Grandpas Einschätzung orientiert, wissen Sie.« Flora legte ihr Besteck hin und sah zu, wie Vivian ein Stück von seinem Pilzomelett abschnitt. »Noch mal zu dem Tag, an dem Grandpa starb.« Es gelang ihr, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Wir haben noch nicht über Boris gesprochen, was es sein könnte, das ihn so verstört hat. Und es ist doch merkwürdig, wenn man bedenkt, daß sich normalerweise kein Kind derart über den Tod eines älteren Mannes aufregt, den es nicht mal gekannt hat. Ehrlich gesagt, könnte ich es sogar verstehen, wenn eine Gruppe Schuljungen es für witzig hält, daß ein Butler in bester makabrer Tradition in einer mittelalterlichen Toilette eingeschlossen wird und dort ums Leben kommt. Überlegen Sie nur, wie viele Leute, darunter viele Erwachsene, sich angenehm gruseln, wenn sie das Schreckenskabinett von Madame Tussaud’s besichtigen. Also könnten Sie durchaus recht damit haben, daß Boris auf Gossinger etwas gesehen oder gehört hat, das ihn auf den Gedanken bringt, er hätte etwas tun können, um Grandpa zu helfen.« »Und ich glaube, ich habe aus einer Mücke einen Elefanten gemacht«, sagte Vivian, der plötzlich keine Lust mehr hatte, sein Omelett aufzuessen. »Soviel wir wissen, könnte Edna Smith sich auch nur herausgeredet haben, als sie behauptete, Boris sei seit dem Besuch auf Gossinger völlig verändert, weil sie sich wie jede Großmutter gestern abend seiner Frechheit wegen geschämt hat. Oder wenn dem Jungen wirklich etwas zu
schaffen macht, könnte es ganz einfach sein, daß er Probleme mit seinem Lehrer hat.« »Mr. Ferncliffe. Ich erinnere mich so gut an seinen Namen, weil ich ihn im Zug nach King’s Cross wiedergetroffen habe. Das Leben ist voller Zufälle, nicht wahr?« »Völlig richtig«, pflichtete Vivian ihr bei. »Genau das ist der Punkt. Boris’ Stimmung muß nicht unbedingt etwas mit dem Tod Ihres Großvaters zu tun haben. Vielleicht ist das, was ihn so mitgenommen hat, wenn überhaupt, nur zufällig am selben Tag passiert.« »Das glauben Sie wirklich?« Flora rückte mit ihrem Stuhl zur Seite, als sich eine Kellnerin mit einem vollbeladenen Tablett vorbeizwängte. »Nein, tue ich nicht.« Vivian warf ihr einen beunruhigten Blick zu. »Ich rede einfach so drauflos, weil ich das Thema beenden und Sie wieder lächeln sehen möchte. Sie haben Ihren Kummer doch eine Weile vergessen, oder nicht?« »O ja!« Flora legte ihre Hand auf seine, ohne daran zu denken, daß sie erneut die unsichtbare Linie übertrat. »An den heutigen Tag werde ich mich mein Leben lang erinnern. Es war ein Tag von der Sorte, die man in Seidenpapier einwickelt und in eine parfümierte Schublade legt, damit man ihn später noch ebenso frisch und schön wieder hervorholen kann. Ich kann Ihnen nicht genug danken für Big Ben und St. Paul’s und vielleicht am meisten dafür, daß Sie sich im Bus mit mir aufs Oberdeck gesetzt haben. Wenn ich heute an Grandpa gedacht habe, dann in glücklicher Stimmung, ich habe mich daran erinnert, wie er sogar gewöhnliche Ausflüge zum Fischhändler oder ins Schuhgeschäft in Forschungsexpeditionen verwandeln konnte.« »Da bin ich froh.« Vivian bedeckte ihre Hand mit seiner freien Hand. »Wie wär’s also, wenn wir es dabei belassen und uns weiter amüsieren?«
»Nein, jetzt habe ich einmal angefangen, über Boris nachzudenken, da kann ich ihn leider nicht in eine Schublade verbannen.« Flora schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vergessen, wie es ist, in seinem Alter etwas Furchtbares auf dem Gewissen zu haben. Angenommen, er wußte, daß Grandpa in höchster Not war, und tat nichts, um ihm zu helfen? So was kann leicht dazu führen, daß man Alpträume bekommt. Und daher auch die frechen Sprüche, weil er so zornig auf sich ist, daß er unbedingt bestraft werden will, wenn auch nur für sein Verhalten seiner Großmutter gegenüber.« »Überlegen wir mal folgendes.« Vivian goß ihnen beiden noch eine Tasse Tee ein. »Was ist, wenn Boris sich an jenem Nachmittag heimlich vom Rest der Truppe entfernt hat? Vielleicht hat er Hutchins gehört, dem es plötzlich schlechtging und der gegen die Tür der Garderobe hämmerte, um Hilfe zu rufen.« »So kann es nicht gewesen sein.« Flora stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände, um sich besser konzentrieren zu können. »Sie glauben nicht, daß Ihrem Großvater schlecht wurde?« »Doch, natürlich. Wie wäre das Vorgefallene sonst zu erklären, wenn ihm nicht schwindelig oder schwarz vor Augen wurde und er sich über das… das Loch beugen und sich seitlich am Sitz festhalten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren? Nein, ich meinte, er hätte niemals gegen die Tür gehämmert, nicht einmal, um andere wissen zu lassen, daß er Hilfe brauchte. Das hätte überhaupt nicht zu ihm gepaßt.« »Flora-« »Ich weiß, es klingt unsinnig. Es wird Ihnen sicher schwerfallen, es zu verstehen, aber er war überzeugt, einer der Hauptgründe für seine Existenz sei es, der Familie Gossinger zu dienen. Alles, was Grandpa tat, war nur dem einen Ziel gewidmet – Sir Henry und Mylady das Leben so angenehm wie
möglich zu machen. Ich weiß noch, wie Mrs. Bellows einmal den Kessel fallen ließ und ihn mit kochendem Wasser bespritzte, und er machte sich größere Sorgen, ob der Tee auch nicht zu spät auf den Tisch kam, als über seine Verbrühungen. Ich mußte den Arzt ins Haus schmuggeln, als Grandpa gerade nicht aufpaßte. Sie sehen also, es hätte gegen alles verstoßen, woran er glaubte, hätte er die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem er gegen die Tür der Garderobe hämmerte.« Flora blickte Vivian fest in die Augen. »Selbst wenn er dachte, daß er sterben würde.« »Sie kannten ihn besser als jeder andere.« »Nicht so gut wie meine Großmutter natürlich, oder vielleicht auch meine Mutter, aber sie sind schon so lange tot, seit Jahren gab es nur noch uns beide. Und ich will nur eines vermeiden.« Flora nahm die Arme vom Tisch und drehte ihre Tasse auf dem Unterteller. »Sie sollen nicht denken, Sir Henry hätte Grandpa nicht geschätzt oder ihn nicht wie ein menschliches Wesen mit Gefühlen behandelt, weil es nämlich einfach nicht wahr ist.« »In diesem Punkt will ich Ihnen nicht widersprechen«, sagte Vivian. »Ich weiß mit Bestimmtheit, daß Onkel Henry sehr großen Respekt vor Ihrem Großvater hatte, weit größeren Respekt als ein Arbeitgeber normalerweise einem Angestellten entgegenbringt, der seit langer Zeit für ihn arbeitet.« »Und Mylady hat sich auch hin und wieder sehr anerkennend gezeigt.« Flora gab sich Mühe, fair zu sein. »Einmal sagte sie zu mir, sollte ich in Grandpas Fußstapfen treten, so könnte noch viel aus mir werden. Und ich glaube, es hat ihr wirklich leid getan, als er starb.« Vivian wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Seit etwa einer Woche war er hin und her gerissen: einmal hielt er sich für einen Dummkopf, weil er auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, Lady Gossinger könne bei Hutchins’ Tod die Hand im Spiel gehabt haben, dann wieder hielt er sich für einen
noch größeren Spinner, weil er auch nur einen Augenblick geglaubt hatte, Hutchins’ Tod sei ein Unfall gewesen. Es kam einfach zu gelegen, daß er von der Bildfläche entfernt wurde, bevor Onkel Henry sein Testament ändern konnte. Bestimmt war er nicht der einzige, der Verdacht geschöpft hatte. Vivian griff nach der Rechnung, die die Kellnerin im Vorbeigehen auf den Tisch legte. Onkel Henry mochte eine alte Schildkröte sein, aber er war kein Dummkopf. Cousine Sophie übrigens ebensowenig. Ihnen mußte klar sein, daß die Polizei die Angelegenheit in völlig anderem Licht gesehen hätte, wären die Beamten über das Gespräch im Turmzimmer informiert worden und darüber, daß Tante Mabel außer sich gewesen war vor Zorn bei der Aussicht, Hutchins werde Gossinger Hall erben. »Sie sind so still geworden«, bemerkte Flora. »Pardon. Ich habe nachgedacht.« »Worüber?« »Dies und jenes.« Vivian wollte ihr nur zu gern sagen, daß er gestern abend in die Wishbone Street gekommen war, um sie über alles ins Bild zu setzen, was er wußte: daß Sir Henry den Plan gefaßt hatte, sein Testament zu ändern, und dadurch vielleicht Hutchins’ Tod heraufbeschworen hatte. Er wollte ihr erklären, daß er beschlossen hatte, den Mund zu halten, weil sie so müde und vergrämt aussah. Aber nur bis zum nächsten Morgen. Er hatte fest vorgehabt, heute morgen alles mit ihr zu besprechen und ihr das Versprechen abzunehmen, daß sie auf der Hut sein würde, denn seit ihr Großvater tot war, sprach Onkel Henry davon, Flora das Haus zu hinterlassen. Damit war jetzt sie die Person, die zwischen Mylady und ihren Hoffnungen stand, nach Sir Henrys Tod auf Gossinger Hall das Zepter zu schwingen. Doch als der Morgen kam, hatte Vivian erneut einen Rückzieher gemacht. Was würde es
nützen, Flora in Angst und Schrecken zu versetzen? Wäre es nicht sinnvoller, sie einfach im Auge zu behalten, bis er zum Beispiel herausfinden konnte, ob Boris Smith etwas wußte, das für Tante Mabels Schuld sprach? »Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?« Flora lachte, doch ihr Blick war besorgt. »Ich denke an den Jungen.« Vivian konzentrierte sich wieder auf ihr Gesicht und spürte, wie sein Kopf klar wurde. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Es gab vieles, was er tun konnte, ohne Flora in Panik versetzen zu müssen. Nein, er war noch nicht bereit, zur Polizei zu gehen; er hatte keine Beweise, und es war unwahrscheinlich, daß man Tante Mabel auf bloßen Verdacht hin einsperren würde. Erneut kamen ihm heftige Zweifel. Zog er voreilige Schlüsse, weil er den genialen Privatschnüffler spielen wollte? Verdammte er mir nichts, dir nichts eine Frau, die immer nett zu ihm gewesen war? Eine Frau, die, recht überlegt, auf den Schlag, den Onkel Henry ihr versetzt hatte, nicht anders reagiert hatte, als jede Ehefrau es tun würde, wenn ihr Mann ihr mitteilte, daß er den Familienstammsitz dem Butler hinterlassen wolle. »Was ist mit Boris?« fragte Flora. Einen Augenblick lang verstand Vivian gar nichts mehr. »Ach ja, stimmt, ich sprach gerade über Boris. Na schön, wir haben beschlossen, daß er nicht gehört hat, wie Hutchins… Ihr Großvater gegen die Tür der Garderobe hämmerte. Dennoch bleibt die Möglichkeit, daß er etwas gehört oder gesehen hat, bestehen.« »Nämlich?« »Er könnte ein Stöhnen gehört haben.« » Schon möglich…« »Oder er hat vielleicht einen Blick in die Garderobe geworfen und gesehen, wie Ihr Großvater sich vornübergebeugt an dem Sitz festklammerte.«
»Und warum hat Boris dann keine Hilfe geholt?« Vivian wollte dieses Gespräch beenden. »Vielleicht begriff er nicht, daß Ihr Großvater in ernsten Schwierigkeiten steckte. Falls er ein Stöhnen gehört hat, könnte er gedacht haben, daß jemand – einer seiner Klassenkameraden vielleicht – ein Gespenst spielte. Und falls er etwas gesehen hat, könnte er angenommen haben, daß…« »Daß Grandpa zum Mittagessen verdorbenen Fisch gegessen hatte.« Flora preßte die Hände aneinander. »Ja, ich kann verstehen, daß Boris zu diesem Zeitpunkt vor allem verlegen war, weil er verbotenerweise in die Garderobe platzte. Und daß er hinterher Angst hatte und sich mies fühlte. Besonders wenn ein anderer Junge bei ihm war oder mehrere Jungs, die alles ausplaudern könnten.« »Ja, ich sehe förmlich vor mir, wie er sich nachts bibbernd unter seiner Bettdecke verkriecht«, pflichtete Vivian ihr bei, »halbverrückt vor Angst, daß es an der Tür klopfen wird, gefolgt von den schweren Schritten der Polizei, die kommt, um ihn zu verhaften.« »Der Ärmste!« Flora trank den Rest ihres Tees aus. »Wie wäre es, wenn ich Kontakt mit Mr. Ferncliffe aufnehme, um ihn auszuhorchen, nur für den Fall, daß er etwas weiß? Denn wenn Boris etwas bedrückt, müssen wir es aus ihm hervorlocken, schon um seinetwillen. Außerdem gebe ich zu, daß ich alles über Grandpas Tod in Erfahrung bringen will, was ich kann. Wissen Sie, ich dachte immer, in seiner letzten Stunde würde ich bei ihm sein, ihm die Hand halten und sagen, jetzt wäre ich an der Reihe, ihm eine Gutenachtgeschichte zu erzählen.« »Nicht weinen.« Vivian beugte sich zu ihr. »Tue ich gar nicht.« Flora fuhr sich schnell mit der Hand über die Augen. »Vielleicht sollten Sie jetzt die Rechnung bezahlen.
Die drei Frauen da drüben warten auf einen Tisch und durchbohren uns schon mit Blicken.« »Einverstanden.« Vivian stand auf, und bei seiner Rückkehr von der Kasse entdeckte er Flora draußen vor der Glastür. Sie blickte lächelnd zu ihm auf. »Ein wenig frische Luft ist alles, was ich brauche. Ein-, zweimal tief durchatmen, und ich bin wieder die alte.« »Ich glaube nicht, daß die Londoner Luft sich an die Vorschriften des Gesundheitsamts hält, was ihre Zusammensetzung betrifft.« Vivian legte die Hand auf ihren Rücken und führte sie an einem Kino und einem Pfandhaus vorbei zu einer Ampel, an der bereits eine Gruppe von Fußgängern wartete. »Da haben Sie unrecht.« Flora streckte die Zunge heraus. »Ich schmecke alle möglichen Vitamine und Mineralien. Ich glaube tatsächlich« – sie lächelte ihn spitzbübisch an – »daß ich London sehr mögen werde. Ich möchte alles in mich einsaugen, die Geschichte, von der die Gegenwart hier überall durchdrungen ist. Also, wohin gehen wir jetzt? Zu Ihrem Flohmarkt, oder hat der schon geschlossen?« »Nicht, wenn wir uns beeilen.« Vivian schaute auf seine Uhr, während sie die Straße überquerten. »Es ist erst halb fünf, und wenn wir den richtigen Bus erwischen – « Er griff nach ihrer Hand. »Da hält er gerade. Wie sind Sie im Hundertmeterlauf? « »Fangen Sie mich, wenn Sie können.« Flora rannte voraus, unbehindert durch ihren langen Rock, und erreichte knapp vor ihm das Ende der Warteschlange. Einen Augenblick lang befürchteten sie, nicht einsteigen zu können, weil es im Bus bereits nur noch Stehplätze gab. Aber zwei Frauen mit prallgefüllten Einkaufstaschen unmittelbar vor ihnen beschlossen plötzlich, auf die Nummer 98 zu warten, weil sie auf direkterem Wege zu ihrem Ziel fuhr. Daher konnten Flora und Vivian sich doch noch in den Bus zwängen.
»Das macht Spaß«, sagte sie, als der Bus losfuhr und sie schwankend im Mittelgang standen. »Ich gewöhne mich schon an den Seegang.« »Tja, übertreiben Sie’s mal nicht damit, wir steigen an der übernächsten Haltestelle aus. Ich schlage vor, wir zählen bis fünfzig und fangen dann an, uns nach vorn durchzukämpfen. Machen Sie sich keine Gedanken, wenn Sie auf dem Weg jemanden zu Tode trampeln, so läuft es in der Großstadt eben – töten oder getötet werden.« Vivian bedauerte diesen Witz sogleich, weil dadurch all die Zweifel wiederkamen, die ihn hinsichtlich Hutchins’ Tod plagten, verstärkt durch das Gefühl, das ihn bereits am Oxford Circus beschlichen hatte: daß jemand, ein unauffälliger, anonymer Jemand, sie hinter der Deckung einer Zeitung oder riesengroßen Einkaufstasche beobachtete. »Hier«, sagte er, nahm Floras Hand und schob sie nach vorn zum Busfahrer. »Es ist soweit.« »Das klingt ja, als sollten wir ins Meer getrieben werden!« Sie wandte ihm lachend das Gesicht zu. »Na schön, es soll keiner sagen, daß ich ein Feigling bin. Ich halte mir die Nase zu und springe.« Den Worten ließ sie Taten folgen, und wenig später stand Vivian neben ihr auf dem Pflaster. »Tut mir leid, aber wir müssen uns sputen, wenn ich heute noch zur Arbeit erscheinen will.« Vivian bog rasant um eine Ecke und ging kreuz und quer durch Straßen und eine zwischen hohen Gebäuden eingekeilte Gasse, bis sie inmitten des Flohmarkts herauskamen. Zu beiden Seiten der Fahrbahn reihten sich Stände unter grünen Zeltplanen aneinander, und einige Händler, so erklärte Vivian ihr, tätigten ihre Geschäfte in der überdachten Passage. Die Luft war erfüllt von fröhlichem Stimmengemurmel, denn die Verkäufer unterhielten sich oder versicherten ihren
Kunden, daß sie bald dichtmachen könnten, wenn sie auf Dauer zu diesen Niedrigstpreisen verkauften. »Ich liebe Flohmärkte.« Flora blieb vor einem auf Bierkrüge spezialisierten Stand stehen. »Was haben Sie gesagt?« Vivian wurde von zwei Frauen abgedrängt, die darüber stritten, ob ein spezielles Stück nun authentisch sei oder ob die spinnwebartigen Sprünge in der Glasur die Imitation bewiesen. »Frühes Woolworth, behaupte ich«, beharrte die Frau mit der kirschroten Wollmütze. »Ich nehme ihn trotzdem, nur weil ich die Farben mag. Im übrigen wird meine Schwiegertochter – für die will ich ihn kaufen – den Unterschied überhaupt nicht bemerken.« »Ich sagte« – Flora ließ sich von Vivian weiterziehen -»ich bin froh, daß Sie mich mitgenommen haben. Können wir an einem anderen Tag noch mal wiederkommen, wenn wir mehr Zeit zum Stöbern haben?« »Sie haben vergessen, was mir vorschwebt. Ich will Ihnen doch einen Job bei meinem Boß verschaffen, wenn Sie ihn erträglich genug finden, um sich hier den ganzen Tag die Beine in den Bauch zu stehen und die Leute dazu zu bringen, in Tortenständer und Traubenscheren zu investieren.« »Ich hab’s nicht vergessen«, erwiderte Flora, als sie an einem Stand mit einem reizvollen Sortiment aus Art-deco-Hutnadeln und Stiefelknöpfern mit Elfenbeingriff vorbeikamen, an dem eine junge Frau in kariertem Mantel mit nachlässig aufgestecktem Haarwust und einer Stimme wie ein Nebelhorn präsidierte. »Oh, der hier sieht aber interessant aus!« Sie blieb stehen, fasziniert von einem blauen Emailletisch, der zwischen geblümten Nachttöpfen und Türklopfern aus Messing stand. »Man weiß doch nie, was man unter all dem Ramsch an solchen Ständen so finden kann.«
»Wie es der Zufall will«, sagte Vivian, »ist dies der Stand, an dem ich arbeite, vorausgesetzt, ich denke daran, mich hier blicken zu lassen.« »Jetzt reicht’s allmählich«, krächzte eine unfreundliche Stimme. Flora sah einen Hünen mit völlig kahlem Kopf und rotem Gesicht von einem der anderen Stände herüberschlendern. Er stellte sich hinter den Nachttöpfen auf. Sie glaubte auch ein leises Knurren zu hören, aber das konnte daran liegen, daß der kahlköpfige Mann entschieden so aussah, als habe er vor, jemanden zu beißen. Er zeigte mit seinem Riesendaumen auf Vivian. »Ich weiß nicht, warum ich den Kerl nicht achtkantig rausschmeiße. Meiner Gesundheit zuliebe bestimmt nicht, weil mir jedesmal die Galle überläuft, wenn ich nur seine dämliche Visage sehe.« »Ich arbeite hart, wenn ich hier bin«, erwiderte Vivian fröhlich. »Komm schon, George, gib’s zu – du liebst mich wie deinen Bruder.« »Und ob.« Der große Mann holte ein Sahnebonbon aus seiner Hemdtasche, wickelte es aus und schob es sich mit der Miene eines Menschen in den Mund, der schnell eine Tablette einwirft, um keinen Herzanfall zu kriegen. »Mein Bruder Bert ist das Allerletzte, hat sich mit einer Frau verlobt, mit der ich ging, und war noch so dreist, mich zu fragen, ob ich ihm das Geld für die Hochzeitsreise leihen würde. Nicht, daß sie ein großer Verlust gewesen wäre!« George sprach undeutlich, das Sahnebonbon steckte in seiner Backe. »Pah! Wer braucht schon Frauen? War nicht persönlich gemeint, Sie verstehen schon.« Er zwinkerte Flora zu. »Da ist mir ein Vierbeiner allemal lieber.« »War das ein Hund, den ich da vorhin gehört habe?« Sie riß den Blick von dem verlockenden Warenangebot los. »Na, ich war’s bestimmt nicht. Hab’ nicht etwa gegurrt, um Kunden anzulocken.« George tauchte hinter dem Stand ab, und
als er wieder zum Vorschein kam, hielt er ein sich windendes Bündel im Arm, einen kleinen Hund mit struppigern Fell, der aufmerksam die Ohren spitzte. »Das hier ist Nolly, einziger Sohn meiner kleinen Samantha, die heute zu Hause geblieben ist.« »Oh, ist der aber niedlich!« Flora streckte spontan die Arme aus. »Ist er ein Norfolk-Terrier?« George blickte Vivian finster an. »Da hast du dir ja ‘ne ganz Clevere angelacht. Mit anderen Worten, du wirst sie nicht lange behalten. Offen gestanden, Miss« – er reichte ihr den kleinen Hund, der erwartungsvoll die Pfoten ausstreckte – »sein Vater war ein gewöhnlicher Straßenköter, aber Samantha ist ein Norfolk, ich hab’ Papiere, die es beweisen. Sie hat drei Junge bekommen. Zwei Hündinnen, für die ich im Nu ein neues Heim gefunden hatte, und unseren Nolly hier. Ich habe beschlossen, ihn zu behalten, damit seine Mum auf ihre alten Tage ein wenig Gesellschaft hat. Das Problem ist nur, sie vertragen sich nicht, jedenfalls nicht mehr, seit er in der Pubertät ist.« »Oh, sagen Sie bloß nicht, er hat was angestellt!« Flora schmiegte das Gesicht in das Fell des Hundes. »Man kann ihm nicht über den Weg trauen.« George schüttelte den Kopf. »Ist ständig vorlaut, kommt und geht, wann er will, treibt sich mit den falschen Leuten rum.« »Trägt eine Lederjacke und fährt Motorrad«, fügte Vivian zu der Liste der Vergehen des kleinen Kerls hinzu. »Für ihn spricht nur, daß er zumeist pünktlich zur Arbeit erscheint.« »Ich muß ihn mitnehmen, weil er unmöglich sich selbst überlassen bleiben kann.« George verschränkte die Arme, und sein Gesicht wurde noch finsterer. »Das letztemal hat er drei Polsterkissen und ein Seifenstück aufgefressen. Und da er mit seiner Mum nicht auskommt, muß sie jetzt zu Hause bleiben und sich die Seifenopern in der Glotze reinziehen.«
»Was für eine tragische Geschichte«, sagte Flora, während sie sich das Gesicht abschlecken ließ und einen bestimmten Gegenstand auf dem Tisch näher in Augenschein nahm. »Könnte schlimmer sein.« Vivian reichte ihr ein Papiertaschentuch. »Wenigstens hat George mir nicht das kleine Ungeheuer als Ersatz für meinen Lohn aufgeschwatzt.« »Oh, ich bin sicher, Daddy würde sich niemals von dir trennen.« Flora benutzte das Taschentuch, um Nollys Augen abzutupfen, in denen Tränen zu glitzern schienen. »Das würde ich durchaus tun« – George machte jetzt ein nachdenkliches Gesicht – »wenn ich ein gutes Frauchen für ihn finden könnte. Ich glaube, zumindest ein Teil des Problems ist, daß er eher zu einer Frau paßt. Läßt sich gern verzärteln und verhätscheln, und wie Sie sich sicher denken können, liegt mir das nicht besonders. Bloß keine Mätzchen, so lautet mein Wahlspruch.« Floras Augen leuchteten. »Ist das Ihr Ernst? Sie würden ihn wirklich hergeben, wenn sie die Richtige finden?« »Die Frau gefällt mir, eine Spontankäuferin«, sagte der kahlköpfige Hüne und zwinkerte Vivian von Mann zu Mann zu. »Es ist nicht spontan, ich hab’ mir immer schon einen Hund gewünscht! Sir Henry sagte Grandpa, er solle mir einen kaufen, als ich klein war, aber Mrs. Bellows hatte Todesangst vor Hunden, deshalb ging es nicht. Oh, wenn Sie mich nicht nur auf den Arm genommen haben, bitte geben Sie ihn mir! Ich werde so gut zu Nolly sein, und Sie können ihn so oft besuchen, wie Sie wollen!« »Klingt, als wäre heute mein Glückstag.« »Flora, denken Sie noch mal darüber nach«, wandte Vivian ein, der zwischen Belustigung und Sorge schwankte. »George sagt, man kann Nolly nicht allein lassen, ohne daß einem wer weiß was blüht. Was soll werden, wenn Sie arbeiten gehen?«
Er wandte sich an seinen Boß. »Ich hab’ mir überlegt, daß du sie hier vielleicht brauchen könntest. Die Referenzen sind kein Problem, ich kann sie wärmstens empfehlen, und sie weiß eine Menge über Antiquitäten. Silber ist ihr Fachgebiet.« »Ach ja?« George kratzte sich am Kinn. »Er übertreibt. Ich bin bloß umgeben von antikem Silber aufgewachsen, im Haus von Mr. Gossingers Onkel, und interessiere mich dafür. Zum Beispiel« – Flora verlagerte Nolly auf ihren rechten Arm – »gefällt mir diese Teekanne hier. Sie ist authentisch, nicht wahr? Frühgeorgianisch, würde ich sagen. Und, na ja, sie hat mich auf eine glänzende Idee gebracht.« »Und die wäre?« Vivian hob eine Augenbraue. »Wissen Sie noch?« Flora wandte sich ihm zu, und ihr Gesicht war voller Sonnenschein, obgleich der Himmel jetzt zum größten Teil von Wolken bedeckt war. »Mr. Banda Singhh hat uns doch erzählt, daß der Laden in der Wishbone Street früher ›Die silberne Teekanne‹ hieß, als Lady Gossinger und ihre Schwester Mrs. Smith noch dort wohnten. Na ja, am liebsten würde ich zu Hause bleiben, Nolly leistet mir Gesellschaft, und ich eröffne einen neuen Trödelladen gleichen Namens. Hört sich das nicht toll an?«
Kapitel 13 »Ich fühle mich mies«, sagte Flora, als sie und Vivian durch die Gasse am Flohmarkt gingen. Nolly trottete fröhlich zwischen ihnen an seiner Leine. »Ich hätte nie damit gerechnet, daß George mir unseren Freund hier zum Geschenk macht. Aber als Mann hat Ihr Boß vermutlich gedacht, ich müsse völlig mittellos sein, da ich ohne Handtasche kam.« »Oder aber eine trockengelegte Kauf süchtige.« »Das ist aber nicht nett. Ich gebe zu, bei Nolly war es wie ein innerer Zwang, aber in der Regel bin ich eine sehr disziplinierte Käuferin.« »Das glaube ich Ihnen sogar. Schließlich haben Sie die Teekanne nicht gekauft.« »Na ja, ich konnte sie mir nicht leisten.« Flora hob Nolly auf, der angefangen hatte, einen Pudel anzukläffen – lauter unfreundliche Bemerkungen über seinen Haarschnitt –, was seinen Besitzer zwang, einen großen Bogen um sie zu machen. »Eigentlich schade, sie wäre ein tolles Maskottchen für den Laden gewesen.« »Geschieht Ihnen nur recht«, sagte Vivian mitleidlos, »weil Sie George gesagt haben, was sie wert ist; bis dahin hatte er keinen Schimmer. Wieviel hat er verlangt?« »Dreißig Pfund, aber es wäre Diebstahl gewesen, sie dafür zu kaufen, vor allem nachdem er mir Nolly geschenkt hatte«, sagte Flora bestimmt. »Und eine gute Tat muß belohnt werden, obgleich ich wetten mochte, daß George das bessere Geschäft gemacht hat.« »Seien Sie vorsichtig, Sie sprechen von meinem Augapfel.« Flora setzte den kleinen Hund wieder ab und ließ sich von ihm zu einem Laternenpfahl ziehen, wo er prompt seine Besitzansprüche geltend machte.
»War nicht böse gemeint. Ich glaube Ihnen aufs Wort, daß er ein Ausbund an Tugend ist.« Vivian wich geschickt zur Seite aus, als Nolly mit zutiefst beleidigtem Blick auf ihn zukam. »Ich bin überzeugt, er wird zu einer Stütze der Gesellschaft heranreifen, vielleicht in die Politik gehen und schließlich einen Sitz im Oberhaus bekommen.« »Oh, ich glaube nicht, daß er derlei Ambitionen hat.« Flora packte die Leine fester. »Schließlich stammt er väterlicherseits aus der arbeitenden Bevölkerung. Und wenn er es zu weit in der Welt bringen würde, müßte er sich Sorgen machen, daß die reinrassigen Hunde die Nase über ihn rümpfen.« »Sie müssen aufhören, in diesen Bahnen zu denken.« »Wieso?« »Weil ich dann große Lust habe, Ihnen eins mit meinem Schirm und meiner Melone über den Schädel zu geben, und ich habe beide zu Hause gelassen«, sagte Vivian, während sie an Läden vorbeigingen, in denen überall wie aus dem Nichts »Geschlossen«-Schilder auftauchten, bevor kurz darauf die Lichter ausgingen und die Eisengitter hinunterrasselten. »Außerdem glaube ich, Sie sollten all Ihre Denkprozesse darauf richten, wie Sie Ihren Laden ausstatten wollen.« »Die Silberne Teekanne, klingt das nicht toll?« Floras Mundwinkel gingen in die Höhe, als sie lächelte, und auf ihrer linken Wange erschien ein Grübchen, doch gleich darauf wurden ihre Augen wieder ernst. »Ach, das ist vermutlich nur Wunschdenken. Und frech obendrein, weil ich darüber noch nicht mal mit Lady Gossinger gesprochen habe.« »Es war ja auch nicht viel Zeit, wenn man bedenkt, daß die Idee erst eine halbe Stunde alt ist. Nur ein Vollidiot würde Ihnen den Vorwurf machen, Sie rissen sich nicht gerade ein Bein aus, um sich mit Tante Mabel in Verbindung zu setzen, obschon ich darauf hinweisen muß, daß da drüben an der Ecke eine Telefonzelle war.«
Nolly ließ ein leises Ächzen vernehmen, um zu zeigen, was er von diesem erbärmlichen Witz hielt, und schmiegte sich an Floras Fußknöchel, was heißen sollte, daß er mit Leib und Seele der ihre war. »Ich war so Feuer und Flamme«, sagte sie, »ich bin überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, daß es Lady Gossinger nicht gefallen könnte, den Laden einer blutigen Anfängerin zu vermieten.« »Das sind Sie beileibe nicht.« Vivian trat auf Nollys andere Seite und legte den Arm um Floras Schultern. »Onkel Henry hat immer davon gesprochen, welch tolle Arbeit Sie im Geschenkshop von Gossinger geleistet haben.« »Ich habe nur Mrs. Warren geholfen.« »Das ist jetzt absolut nicht der Zeitpunkt für falsche Bescheidenheit. Der Shop hat erst richtig Geld eingebracht, seit Sie mit von der Partie waren. Mal abgesehen von den anderen Dingen, die Sie eingeführt haben, denken Sie an all die Silberpolitur, die Sie verkauft haben. Onkel Henry sagte, es sei unmöglich, die Regale schnell genug wieder aufzufüllen.« »Das zählt nicht, weil sich die Politur praktisch von selbst verkauft«, sagte Flora. »Die Leute kamen wieder und wieder und schleppten ein halbes Dutzend Fläschchen auf einmal ab, wenn sie eine lange Anfahrt hatten. Es gibt nichts Vergleichbares auf dem Markt, wenn es darum geht, Flecken zu entfernen, ohne daß dieses gräßliche weiße Zeug zurückbleibt. Und natürlich konnten die Besucher sich mit eigenen Augen davon überzeugen, welch herrlichen Glanz man erhält, wenn sie sich die Silbersammlung von Gossinger ansahen.« »Sehen Sie, Sie sind die geborene Verkäuferin! Ich nehme das Abonnement, ob es nun Mengenrabatt gibt oder nicht.« Vivian ging langsamer. Trotz der Wolken, die den Himmel bedeckten, war es nicht zu kalt für ihren Spaziergang. »Ich habe zwei ältere Tanten, und ich weiß nie, was ich ihnen zum Geburtstag
oder zu Weihnachten schenken soll. Sie würden es bestimmt zu schätzen wissen, wenn sie zur Abwechslung mal nicht die gewohnten Lavendelwasserflakons und Badesalztiegel kriegen. Aber zurück zu Tante Mabel. Warum lassen Sie mich nicht mit ihr sprechen?« »Weil ich mich nicht hinter Ihnen verstecken will.« Flora streckte das Kinn vor. »Es würde ihr vielleicht schwerfallen, ›nein‹ zu Ihnen zu sagen, und das wäre nicht fair. Ich muß wie ein Profi an die Sache herangehen und kann nur hoffen, daß sie nicht zuviel Miete haben will.« »Dann nehmen wir mal an, alles klappt«, erwiderte Vivian fröhlich, »wie wollen Sie es anstellen, die Waren für die Silberne Teekanne zu beschaffen? Ich weiß, Sie haben gesagt, daß Sie ein wenig Geld von Ihrem Großvater geerbt haben, aber wird es ausreichen?« »Waren Sie jemals in einem Trödelladen?« »Natürlich!« »Es soll kein exklusives Antiquitätengeschäft werden«, teilte Flora ihm kurz angebunden mit. »Eher so etwas wie Oxfam, mit dem Unterschied, daß die Erlöse nicht an eine karitative Organisation gehen, sondern in diesem Falle ich die glückliche Nutznießerin sein werde. Ich werde folgendes tun: mit Leuten wie George sprechen und die Namen von Zulieferern preiswerter, aber schöner Sachen in Erfahrung bringen – wie zum Beispiel Öllampen und Porzellanhunde. So komme ich über die Runden, bis ich mich mit den Dingen beschäftigen kann, die mir wirklich Spaß machen.« »Zum Beispiel Silber?« »Das wäre das Höchste.« Flora bückte sich, um Nolly zu streicheln, der plötzlich an der Leine zerrte und in die andere Richtung laufen wollte. »Oje, meinen Sie, er hat schon Heimweh? Was tut eine Mutter in diesem Fall?«
»Fragen Sie ihn, ob er eine Portion Fish & Chips haben möchte.« »Ich glaube nicht, daß es richtig ist, leere Versprechungen zumachen.« »Flora, er ist ein Hund. Aber wenn Sie unbedingt Rücksicht auf seine Gefühle nehmen wollen, bin ich bereit mitzuziehen, obwohl es doch sein könnte, daß er lieber indisch essen will, oder?« Nolly machte erneut einen Ausfall zur Seite und knurrte, und Vivian sagte schnell: »Also Fish & Chips.« »Oh, gut!« Flora strahlte sie beide an. »Das Gespräch über die Hochfinanz hat mich nämlich heißhungrig gemacht, und ich erinnere mich, daß Sie Ihr Omelett nicht aufgegessen haben, Vivian. Wollen Sie da reingehen?« Sie zeigte auf einen Fish & Chips-Imbiß drei Häuser weiter. »Oder möchten Sie lieber warten, bis wir in Bethnal Green sind, und zu Mr. Singhh gehen?« »Der hier ist in Ordnung.« Vivian verschwand in der Tür und ließ Flora mit Nolly auf dem Gehsteig warten. »Was darf es sein?« Er streckte den Kopf wieder nach draußen. »Schellfisch oder Kabeljau?« »Schellfisch, bitte.« »Warum nicht? Wenn man bedenkt, daß Sie das Essen als Spesen steuerlich absetzen können. Essig auf die Fritten?« »Hmmm.« Flora dachte darüber nach. »Sagen Sie ja nicht, Sie müssen erst Nolly fragen, sonst reiße ich mir die Haare aus.« »Essig, bitte.« Wenig später erschien Vivian wieder auf dem Gehsteig und reichte ihr eines der beiden in Zeitungspapier eingewickelten Pakete. »Stimmt was nicht?« fragte er, als sie mit dem seitwärts tänzelnden Nolly auf eine Bank an der Bushaltestelle zusteuerten. Die Bank war durch einen Baum abgeschirmt,
dessen Zweige über eine Mauer hingen. »Kommen Sie schon, ich merke doch, daß Sie etwas bedrückt«, hakte er nach, als sie sich setzten. »Hinter Ihrem Lächeln verbirgt sich ein Stirnrunzeln.« »Am Essen liegt’s nicht.« Flora wickelte ihr Paket aus und sog das köstliche Aroma in siedendheißem Öl gebratenen panierten Fischs und dicker Fritten ein, an denen knusprige goldene Krusten von früheren Bratgängen hingen. »Das wird ein richtiges Fest!« Sie brach ein Stück Schellfisch ab, pustete, um es abzukühlen, und hielt es Nolly hin, der es ohne viel Federlesens hinunterschlang. Er hatte schlechte Manieren wie ein Mann, der sich in einem hochvornehmen Restaurant die Serviette in den Kragen stecken würde. Anschließend verlegte sich Nolly wieder darauf, sich umzusehen, und Flora folgte seinem Blick, während sie zu Vivian sagte, er werde sie bestimmt für blöd halten, aber… »Geht es um den Laden?« »Nein, obwohl Sie auch in dieser Beziehung recht hätten. Nein, ich glaube nur, Nolly ist nicht aufgeregt, weil er unbedingt zum Flohmarkt und zu George zurückwill. Ich weiß, es klingt prahlerisch, aber ich glaube wirklich, daß er mich auf Anhieb ins Herz geschlossen hat.« »Wer könnte es ihm verdenken?« Vivian reichte ihr eine Fritte. »Aber ich verstehe nicht ganz. Was hat Nolly dann?« »Ich glaube, sein Beschützerinstinkt ist geweckt.« »Inwiefern?« »Er hat sich die alberne Idee in den Kopf gesetzt« – Flora bot Nolly noch ein Stück Fisch an – »daß uns jemand folgt. Sie haben doch keine eifersüchtige Freundin, Vivian? Tut mir leid – das hätte ich nicht sagen sollen.« »Macht nichts.« Vivians Stimme klang ausgesprochen kurz angebunden, denn jetzt war wiederum sein Beschützerinstinkt geweckt, und er sah sich auf der Straße um. »Warum schenken
Sie einem Hund soviel Beachtung? Vor allem einem, der aussieht, als hätte er statt eines Gehirns nur heiße Luft im Kopf?« »Weil ich kurz vor dem Fish & Chips-Imbiß das gleiche Gefühl hatte. Sie wissen doch, wie man manchmal einen Schatten aus den Augenwinkeln sieht, und kaum dreht man sich um, flitzt er in die andere Richtung. Nichts Handfestes, keine erkennbare Gestalt, aber es reicht, um einen auf den Gedanken zu bringen, daß jemand da ist…« Nolly gab ein zustimmendes Wuff von sich, doch Vivian wollte Floras Ahnungen keinen großen Wert beimessen. Er hatte nichts Verdächtiges bemerkt, nicht seit heute morgen am Oxford Circus, und jetzt entschied er, daß er sich dort nur aufgrund seiner Sorge um Flora etwas eingebildet hatte. Warum um alles in der Welt sollte Tante Mabel – selbst wenn sie Hutchins ermordet hatte – Flora quer durch London nachschleichen? Nein, es ergab keinen Sinn. »Sie denken, ich bin völlig überreizt und anfällig für alle möglichen verrückten Ideen. Und da haben Sie wohl auch recht.« Flora machte sich wieder über ihre Fish & Chips her, wobei sie darauf achtete, daß Nolly seinen gerechten Anteil bekam. »Ich freue mich, daß Sie Ihren Appetit nicht verloren haben«, sagte Vivian, und sie aßen eine Weile in ein vernehmlichem Schweigen, bis ein Bus um die Ecke bog. Vivian stand hastig auf, knüllte ihr Einwickelpapier zusammen und warf es in einen in der Nähe angebrachten Mülleimer. »Da ist unser Bus«, sagte er. »Von unserer Haltestelle aus haben wir nur noch ein kurzes Stück bis zur Wishbone Street zu gehen.« »Hoffentlich mag Nolly Busse.« Flora nahm den Hund hoch und stolperte beinahe über die schleifende Leine, als sie in den Bus kletterte. »Sollen wir vorn sitzen, damit wir schnell aussteigen können, wenn ihm übel wird?«
»Ich könnte den Busfahrer fragen, ob er einen dieser kleinen Beutel da hat, die bei Notfällen im Flugzeug verteilt werden.« Vivian setzte sich neben sie und senkte die Stimme. »Auf mich wirkte er allerdings nicht wie ein Tierfreund.« Diesem Mangel wurde durch eine Frau abgeholfen, die sich ein halbes Dutzend Einkaufstüten zwischen Knie und Kinn geklemmt hatte und der es trotz dieses Hindernisses gelang, an Nolly gerichtete Locklaute von sich zu geben. Prompt versteckte der Hund seinen Kopf in Floras Röcken. »Wir« – der Plural entschlüpfte ihr automatisch – »haben ihn heute erst bekommen«, sagte Flora zu der Frau, während sie Nolly streichelte. »Deshalb ist er begreiflicherweise noch ein bißchen scheu.« »Das sind sie immer, wenn man sie gerade bekommen hat«, gab die Frau freundlich zur Antwort. »Ich hatte während meiner ganzen Ehe Hunde, und in den ersten Tagen denkt man, sie könnten kein Wässerchen trüben. Aber kaum sind sie sicher, daß du sie behältst, sind die Flitterwochen vorüber und sie fangen an, deine Geduld auf die Probe zu stellen, genau wie Kinder. Haben Sie was Kleines zu Hause?« »Nein.« Flora wagte es nicht, Vivian anzusehen. »Ich hatte mir gerade die fröhlichen kleinen Gesichter und die riesengroßen Augen vorgestellt, wenn Sie mit Ihrer Überraschung zur Tür hereinkommen.« »Wir sind nicht…« Der Bus fuhr in großem Bogen um eine Ecke, fast hätte er mehrere Wagen niedergemäht; Flora mußte Nolly packen, damit er ihr nicht vom Schoß flog. »Wir sind noch nicht soweit«, beendete Vivian den Satz für sie. »Unser erstes Kind kommt erst in einigen Monaten, aber wir können es kaum erwarten. Deshalb haben wir gedacht, wir holen uns den Hund, um uns schon mal einzugewöhnen, ist es nicht so, Schatz?«
»Ein Baby, wie schön!« rief die Frau und rückte ihre Pakete zurecht. »Ich bin auch überrascht.« Mehr brachte Flora nicht heraus. »Ihr hat nie jemand gesagt, woher die Babys kommen«, sagte Vivian fröhlich, während er aufstand. Von der Frau erntete er ein Lachen, von der vermeintlichen werdenden Mutter einen finsteren Blick. »Halt dich an mir fest, Flora.« Er streckte ihr die Hand hin. »Wir wollen doch nicht, daß du fällst, wenn der Bus plötzlich abbremst.« »Sie sind wirklich unmöglich«, sagte sie zu ihm, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Nolly bedeutete ihr mit einem Wuff, er wolle hinuntergelassen werden. »So was! Dieser netten Frau solche Lügen aufzutischen. Sehen Sie, sie winkt uns durchs Fenster zu.« »Sie wollte, daß wir ein Paar sind, voller Träume für die Zukunft, warum sie also enttäuschen? Wäre mehr Zeit gewesen, hätte sie uns bestimmt noch nach unserer Adresse gefragt und uns selbstgestrickte Babyschühchen geschickt.« Flora zog an der Leine und marschierte hocherhobenen Hauptes voraus. »Komm, Nolly. Jetzt werden wir Mr. Gossinger nie mehr ein Wort glauben können, und es ist schrecklich, wenn das Vertrauen zwischen zwei Menschen zerstört ist.« »Mit anderen Worten, die Schwangerschaft ist abgeblasen?« »Ganz genau.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als Vivian sie einholte. Sie waren gerade an der Sozialsiedlung vorbeigekommen, in der Edna Smith und ihr Enkel Boris wohnten, da ließ sich hinter ihnen plötzlich die Stimme eines Mannes vernehmen. »Pardon.« Die Stimme glich einem sanften Schulterklopfen. »Dürfte ich kurz mit Ihnen sprechen?« »Mit mir oder mit der Dame?« Vivian fuhr zu dem Sprecher herum, was genaugenommen eigentlich Nollys Aufgabe war,
doch der unglückselige Hund wedelte statt dessen zur Begrüßung mit dem Schwanz. »Kennen wir uns?« Flora sah in das Gesicht des Mannes. Er kam ihr flüchtig bekannt vor, dann entglitt ihr die Erinnerung wieder. Der Gentleman – denn das Gegenteil mußte sich erst noch erweisen – trug eine Tweedmütze und eine Art Sportsakko, dazu eine senffarbene Krawatte. Ansonsten ließ sich nicht viel über ihn sagen; er war in jeder Hinsicht durchschnittlich. So könnte ich ihn auch nur der Polizei beschreiben, dachte sie und nahm Nolly auf die Arme, wenn er plötzlich ein Messer oder eine Pistole zöge und Vivian und ich um unser Leben kämpfen müßten. Sie wünschte dringend, sie trüge einen ihrer Topfhüte aus den zwanziger Jahren, so daß sie eine Hutnadel ziehen könnte, vorzugsweise eine verrostete, sollte er auf dumme Gedanken kommen. »Moment mal.« Vivian trat mit geballten Fäusten vor sie. »Sind Sie uns schon den ganzen Tag gefolgt?« »Um Himmels willen!« Die Antwort wurde in recht vergnügtem Ton vorgebracht. »Wenn es Sie nicht beleidigt – das heißt, noch mehr beleidigt, als ich es offenbar bereits getan habe –, hatte ich Besseres mit meiner Zeit anzufangen. Ich habe einen ehrlichen Arbeitstag auf dem Rennplatz hinter mir. Habe, nebenbei bemerkt, eine Stange Geld verdient, und um mein Glück zu feiern, würde ich Miss Hutchins gern zu einem Glas und auf ein Schwätzchen in den Pub einladen. Hier in der Nähe gibt es ein ganz anständiges Lokal.« »Dann sind wir uns schon mal begegnet?« fragte Flora. »Zweimal, wie ich zu meiner Freude sagen kann.« Der Gentleman lächelte und zeigte Zähne, die gewiß nicht so aussahen, als gehörten sie dem großen bösen Wolf. »Tut mir leid… Sie müssen mir schon sagen, wo und wann ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe.«
»Flora« – Vivian nahm sie am Arm und versuchte, sie mit sich zu ziehen – »er will Sie mit dem abgedroschensten Spruch, den es gibt, aufs Glatteis führen.« »Aber er kennt doch meinen Namen«, wandte Flora ein. »Was natürlich rein gar nichts bedeutet«, sagte der Mann gelassen, bevor Vivian es tun konnte. »Ich könnte von einem Nachbarn oder Ladeninhaber erfahren haben, wer Sie sind, Miss Hutchins. Nichts leichter als das.« »Jetzt versucht er, Sie durch scheinbare Aufrichtigkeit davon zu überzeugen, daß er in Ordnung ist, und ich kaufe ihm das nicht ab.« »Aber es geht um mich«, sagte Flora, »und ich finde nichts dabei, mit ihm in den Pub zu gehen. Gewöhnlich ist man unter Menschen sicher, und ich muß zugeben, ich bin neugierig…« »Er hat Ihnen nicht mal seinen Namen gesagt.« Vivian gefiel es nicht, daß er sich aufführen mußte wie ein überbesorgter Vater. »Ich weiß, und ich verstehe auch, warum Sie sich Sorgen machen.« Flora trat näher zu ihm. »Aber wissen Sie, ich habe tatsächlich das Gefühl, ihm schon mal begegnet zu sein – « »Warum kann er dann nicht auf der Stelle sagen, wer er ist?« Vivian funkelte den Mann an. »Anstatt ein Geheimnis daraus zu machen, nur um Sie in irgendeinen Pub zu locken? Wenn es wirklich das ist, was er vorhat.« »Weil es bei dem, was ich Miss Hutchins zu sagen habe, nicht nur um uns, sondern um noch eine dritte Person geht«, sagte der Mann. »Und sie wird vielleicht einen Drink brauchen.« »Ach ja?« Der häßliche Verdacht, der Vivian seit Hutchins’ Tod quälte, hielt ihn jetzt an der Kehle gepackt. Konnte dieser Mann ein Polizist in Zivil sein? Der gekommen war, um Flora Informationen zu entlocken, die ihm bei seinen Ermittlungen weiterhelfen würden? Vivian verwünschte sich, weil er sie nicht darauf vorbereitet hatte, indem er ihr von seinen
Befürchtungen erzählte. Statt dessen hatte er den Ritter in schimmernder Rüstung gespielt. Er war nicht nur ein Vollidiot, er war ein Mistkerl! Und Flora würde ihn auf ewig hassen, wenn sie erst das Entsetzen überwunden hatte, das sie ergreifen würde, wenn sie von Tante Mabels Reaktion auf Onkel Henrys Testament erfuhr. »Sie kommen doch mit, ja?« Sie sah ihn mit ihren schimmernden rauchblauen Augen bittend an, während sie Nolly an ihr Kinn drückte. »Was haben Sie denn gedacht?« sagte er und wünschte, er könnte sie gleich hier mitten auf der Straße küssen, unter den Augen der Passanten und des – das war er mit Sicherheit – Polizisten. »Mir wäre es wirklich lieber, wenn ich mit Miss Hutchins allein sprechen könnte«, warf der Mann ein. »Was ich ihr zu sagen habe, ist streng vertraulich.« »Tja, zu schade.« Flora richtete sich so hoch auf, wie es ihr ohne Hut möglich war. »Denn wenn Mr. Gossinger nicht mitkommen kann, komme ich auch nicht. Und damit basta! Es gibt nichts, rein gar nichts, was Sie mir nicht in seiner Gegenwart erzählen könnten, Mr. Fragezeichen.« »Die Dame entscheidet.« Der Mann breitete in einer Geste der Kapitulation die Arme aus, und wenig später betraten sie das Blue Anchor, wo die Luft zu drei Fünfteln nach verschüttetem Bier und zu zwei Fünfteln nach abgestandenem Zigarettenqualm roch. Man konnte sich nur seitlich durch die lärmende Gästeschar schieben und hoffen, daß man nicht in die Damen- oder die Herrentoilette abgedrängt wurde und dort bis zur Sperrstunde festsaß. Insofern gab es keine Gelegenheit, sich die Einrichtung anzusehen, aber Flora hatte nicht das Gefühl, ins Boy and Fish zurückversetzt zu sein, in das sie manchmal sonntags nachmittags auf ein Glas Apfelwein mit ihrem Großvater gegangen war.
»Warum suchen Sie beide nicht schon mal einen Tisch für uns«, sagte der Mann, »während ich die Getränke hole. Was darf es sein?« »Ein Bitterlemon«, sagte Flora, und Vivian schloß sich ihr an. »Da drüben.« Flora zog an seinem Arm. »Die Leute stehen gerade auf. Nolly hat ihnen einen bösen Blick zugeworfen, und das hat Ihren Aufbruch vielleicht beschleunigt. Kommen Sie, ehe sich jemand anders den Tisch schnappt.« »Ich wate durch die Menge, so schnell ich kann«, sagte Vivian zu ihr. Um ein Haar hätte er einen Faustschlag aufs Auge kassiert, als einer der Gäste einen Humpen schwenkte, während er mit lauter, bierseliger Stimme an ein unsichtbares Geistwesen gerichtet »Happy Birthday« sang. »Liegt es an mir, oder haben Sie auch das Gefühl, Sie würden komprimiert, um mit der Post befördert werden zu können?« »Ich sitze.« Floras Stimme drang zu ihm herüber. »Nur noch zwei Schritte rechts von Ihnen.« »Gott sei Dank, ich hatte schon Angst, ich würde Sie nie wiedersehen.« Vivian nahm neben ihr unter einem breiten, mit Messingtöpfen vollgestellten Fenstersims Platz. »Und hoffentlich beanspruchen diese Pflanzen nicht mehr als ihren Anteil von dem wenigen Sauerstoff, der hier kursiert.« »Ich glaube, sie sind aus Plastik.« »Nein, es sind echte, denen man nur eingeredet hat, sie wären künstlich, um den Betrachter zu täuschen.« »Also werden die Leute vergessen, sie zu gießen, und sich neue kaufen müssen?« Flora lachte. »Genau«, erwiderte Vivian, der einfach drauflosredete, um sich von dem Gedanken an den endlosen Alptraum um Hutchins’ Tod abzulenken. »Als ich Tante Mabel zum Geburtstag eine Pflanze kaufen wollte, hat das Paar aus der Gärtnerei gegenüber von Gossinger mir erzählt, es würde
immer schwieriger, mit den wirklich guten Kunstblumen zu wetteifern.« »Hat es Sie je gestört, daß das Witwenhaus und das dazugehörige Grundstück verpachtet werden?« fragte Flora. Vivian wollte erwidern, er bedaure es nur deshalb, weil es nach dem Tod ihres Gatten eine alternative Wohnmöglichkeit für Lady Gossinger hätte sein können – ein heikles Thema. Doch er wurde von dem Dritten im Bunde (Nolly nicht mitgerechnet) daran gehindert, der jetzt mit den Getränken erschien. »Da wären wir!« Er stellte die Gläser ab und ließ sich ihnen gegenüber nieder. »Auf unser aller Wohl.« »Und auf die Wahrheit, bitte«, sagte Flora. »Also, wo haben wir uns schon mal gesehen?« Vivian rechnete fast damit, daß der Mann, der mit einem Finger an seinem schäumenden Glas Bier entlangfuhr, plötzlich die professionelle Haltung eines Polizisten annehmen und erklären würde, er habe Flora bei der gerichtlichen Untersuchung zum Tode ihres Großvaters gesehen, vielleicht sogar mit ihr gesprochen. Was er tatsächlich sagte, war fast ebenso bestürzend. »Ich bin der, den Sie am Tag der Beerdigung Ihres Großvaters liebenswürdigerweise im Wagen mitgenommen haben«, sagte der Mann. »Jetzt springen Sie nicht gleich an die Decke«, fügte er hinzu und trank gelassen von seinem Bier. »Ich habe mich gebessert.« »Seit Sie die Bank in Maidenbury ausgeraubt haben?« Flora umklammerte mit beiden Händen ihr Glas Bitterlemon, während Nolly ganz still auf ihrem Schoß saß und dachte – da er manchmal ein Hund von Verstand war –, daß dies nicht der Moment war, um auch nur mit dem allerkleinsten Wuff zu unterbrechen.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte der Mann, als Vivian den Mund öffnete, »aber glauben Sie mir, diese Sache zählt nicht. Ich habe nur mein eigenes Geld abgehoben, und es stammte, wenn es Sie beruhigt, aus grundehrlicher Quelle. Ein liebes altes Tantchen, die mir alles in der Hoffnung hinterließ, ich würde mich endlich benehmen, wenn ich das nötige Kleingeld besitze. Leider wurde mein Vermögen durch raffinierte Tricks seitens der Anwälte gesperrt, während ich Gast Ihrer Majestät war. Und ja, ich gestehe meinen Fehler offen ein, für den Behördenkram fehlt mir die Geduld.« »Sie sind ein Gauner!« Vivian schloß die Lücke von zwei oder drei Zentimetern zwischen sich und Flora. Zur Belohnung schnappte Nolly nach ihm. »Ex-Gauner.« Der Mann lächelte verbindlich. »Ja, ich habe sogar ernsthaft daran gedacht, mich der Kirche zuzuwenden, aber nach einem Tag Probezeit merkte ich, daß ich diese engen Kragen und glänzenden schwarzen Anzüge nicht ausstehen kann.« »Das waren Sie!« rief Flora. »Sie waren der Priester im Zug nach King’s Cross! Er saß neben Mr. Ferncliffe«, erklärte sie Vivian, »dem Lehrer von Boris Smith, der den Schulausflug nach Gossinger beaufsichtigte.« »Ein langweiliger Bursche«, sagte der Bankräuber alias Gottesmann, »überhaupt nicht Ihr Typ, Miss Hutchins. Ich bin überzeugt, Ihr Freund hier hat nichts zu befürchten.« »Sie sind derjenige, der sich fürchten sollte.« Vivian beugte sich über den Tisch. »Die Polizei wird es hochinteressant finden, wenn Flora und ich auf dem Revier unser Treffen mit Ihnen schildern.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Keine sehr christliche Einstellung. Da bin ich wieder mal froh, daß ich mich gegen die Kirche entschieden habe. Hier sitze ich und verlasse meine Deckung, weil ich Miss Hutchins einen Dienst erweisen will.
Ich war heilfroh, daß sie mich an jenem Tag mitgenommen hat, und dies ist der Dank, Sir.« »Welchen Dienst?« fragte Flora ihn. »Es hat mit einem Freund von mir zu tun.« »Sagen Sie schon«, forderte Vivian, der unfähig war, seine Neugier zu bezähmen, ihn auf. »Ich spreche von einem Mann, den ich kennenlernte, als wir beide hinter Gittern unserem Vaterland dienten.« Wieder lächelte er verbindlich. »Wir sahen es so, daß zwei Jobs, ob legal oder nicht, für die Arbeitslosen frei wurden. Mein Freund und ich waren in derselben Branche tätig, Kleinbetrug, bevor wir in den Bau gingen. Wir nahmen den Reichen, um uns Armen zu helfen, so sahen wir es. Doch nach etwa achtzehn Monaten waren wir es leid, über die Arbeit zu fachsimpeln, und wir hatten beide kein Interesse an Tischlerei; also gingen wir automatisch zu persönlichen Angelegenheiten über. Und da erzählte mir mein Freund – wir wollen ihn Reggie nennen, so heißt er nämlich –, daß er früher mit einem tollen Mädchen verheiratet war, das jedoch starb. Komplikationen nach einem Asthmaanfall, glaube ich. Jedenfalls war Reggie manchmal sehr niedergeschlagen und gab sich die Schuld an ihrem Tod. Er war überzeugt, daß ihr Herz nicht mehr mitmachte, als sie erfuhr, was er angestellt hatte.« »Warum erzählen Sie mir das?« fragte Flora ihn mit erstickter Stimme. »Weil es ein Kind gab.« »Und Sie sind jemand, der gern Ärger macht.« Vivian kämpfte gegen den Impuls, dem Mann mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. »Es war ein kleines Mädchen. Nach dem Tod ihrer Mutter zog sie zu ihrem Großvater mütterlicherseits, dem Butler in einem Haus namens Gossinger Hall, das ich zufällig kannte, weil mein altes Tantchen – das Tantchen, das starb und mir das
Geld hinterließ – nicht weit von Maidenbury lebte, dort gern einkaufte und« – er lächelte wieder – »ihre Bankangelegenheiten regelte.« »Und Sie sind mit Ihrem Freund in Kontakt geblieben?« Flora suchte Wärme bei Nolly. »Er kam vor mir raus, schrieb mir jedoch und besuchte mich manchmal. Ich sagte ja bereits, Reggie war in Ordnung, der Typ, der zu seinen Freunden steht.« »Aber nicht der Typ, der zu seiner Tochter steht«, rutschte es Vivian heraus. »Oder war es so« – Flora biß sich auf die Lippe – »daß der Großvater des Mädchens darauf bestand, er solle ihr fernbleiben, weil er dachte, es sei das beste für sie?« »Nein, so war’s nicht. Wie Reggie mir erzählt hat, dachte der alte Mann, das Mädchen habe ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren und selbst zu entscheiden, ob sie Kontakt zu ihrem Vater wollte oder nicht. Er hielt Geheimnisse für gefährlich. Doch Reggie hatte seiner Frau, als sie wieder ihren Mädchennamen annahm, das Versprechen gegeben, sich von ihrer gemeinsamen Tochter fernzuhalten, damit sie nie erfahren müßte, daß er gesessen hatte.« »Und warum sind Sie dann hier?« Flora griff nach ihrem Bitterlemon, um zu beweisen, daß ihre Hände nicht zitterten. »Weil ich, nachdem Sie und ich uns begegnet waren, Reggie aufsuchte, um ihm zu sagen, daß der Großvater verstorben sei und es an der Zeit sein könne, ein unter Druck gegebenes Versprechen zu vergessen und die verlorene Zeit nachzuholen. Er sagte, er glaube nicht, daß Sie ihn kennenlernen wollten, und ich erbot mich, zu kommen und…« »Sie auszuforschen?« Vivian sah Flora an und erhielt keine Reaktion, weil sie in ihr Glas schaute, als sei es ein Brunnen ohne Boden.
»Das war die Idee«, sagte der Vermittler. »Reggie möchte, daß Sie frei entscheiden, Miss Hutchins, ob Sie ihn sehen wollen oder nicht, wie Sie es für richtig halten, aber ich soll Ihnen auch sagen, daß er immer an Sie gedacht hat, und Ihnen Grüße ausrichten.« »Werden Sie uns jetzt Ihren Namen sagen?« Flora brauchte Zeit, um sich zu fangen. »Meine Freunde nennen mich Snuffy.« »Hoffentlich ist das keine Anspielung auf Snuff-Filme, weil Sie den Ruf haben, reihenweise Menschen umzubringen.« Es gelang ihr, einen strengen Ton aufzusetzen. »Welch schlimmer Gedanke!« Er sah aufrichtig gekränkt aus. »Zu dem Namen bin ich gekommen, weil ich in meiner Jugend eine Vorliebe für Schnupftabakdosen hatte. Habe ich übrigens immer noch, aber ich schwöre, ich habe meine Sammlung schon seit langer Zeit nicht mehr auf ungesetzlichem Wege ergänzt.« »Haben Sie auch silberne Schnupftabakdosen?« Flora merkte, wenn sie ihre Gedanken streng nach vorn richtete, konnte sie den Schock über das Auftauchen ihres Vater in einen abgetrennten Winkel ihres Kopfes verbannen. Später, wenn sie nicht mehr das Gefühl hatte, einen Schlag auf den Kopf erhalten zu haben, könnte sie ihn ja zu näherer Betrachtung wieder hervorholen. »Wie es der Zufall will« – Snuffy zupfte den Knoten an seiner senffarbenen Krawatte zurecht – »besitze ich zwei bemerkenswert schöne Silberdosen aus dem Regency. Habe sie von einer Hehlerin, die ich früher mal kannte. Einer Expertin in sämtlichen Bereichen des Handels mit Silber. Arbeitete mal in einem Museum, glaube ich. Aber ich habe gehört, sie ist neuerdings clean, so wie ich und Reggie.« Vivian drückte Floras Schulter. »Vielleicht ist er es, Ihr Vater, meine ich. Ich kann nicht glauben, daß er ein herzloser Schuft
ist, nicht wenn Sie seine Tochter sind. Könnte doch sein, daß das Gefängnis und der Tod Ihrer Mutter ihn auf die richtige Bahn gebracht haben. Ich habe nie zu denen gehört, die an das Sprichwort glauben ›Die Katze läßt das Mausen nicht‹.« Doch Flora stand auf. »Ich glaube, ich möchte jetzt nach Hause. Danke für die Einladung, Snuffy, und daß Sie mich freundlicherweise aufgesucht haben, um dieses Gespräch mit mir zu führen…« »Noch eine Frage«, sagte Vivian zu dem Mann, während er ebenfalls aufstand. »Woher wußten Sie, wo Sie sie finden könnten?« »Das war kinderleicht.« Snuffy bemühte sich, bescheiden zu wirken. »Miss Hutchins sprach gestern im Zug davon, sie werde in Bethnal Green wohnen, in einer Wohnung über einem unvermieteten Laden. Also brauchte ich nur ihre Witterung aufzunehmen und ihrer Fährte zu folgen.« »Sie sind ihr also doch gefolgt!« »Das war gar nicht nötig, mein lieber Freund. Eine Frage hier, eine andere dort, und der Rest ergab sich wie von selbst.« Vivian glaubte ihm nicht, entschied jedoch, nicht darauf zu beharren und Streit anzufangen. Flora wollte offenbar unbedingt gehen und Nolly, wie es aussah, ebenso. Tatsächlich sauste er zum nächstbesten Laternenpfahl, kaum daß sie den Pub verlassen hatten. Snuffy begleitete sie bis zur Ecke Wishbone Street. »Also«, sagte er, als sie auf Grün warteten, »was soll ich meinem Freund Reggie bestellen, Miss Hutchins?« »Bitten Sie ihn, mich morgen zu besuchen. Tagsüber, das wäre am besten, vielleicht am Mittag, weil ich um drei zum Tee eingeladen bin. Es sei denn« – sie bückte sich, um Nolly daran zu hindern, sie auf die Fahrbahn zu ziehen – »er arbeitet zu dieser Zeit.«
»Ich bin sicher, er kann sich notfalls freimachen.« Snuffy tippte an seine Tweedmütze und war dann plötzlich nur noch ein Rücken von vielen, als er sich unter die anderen Fußgänger mischte, die am frühen Abend auf die U-Bahn-Station zusteuerten. »Ich will nicht darüber reden«, sagte Flora zu Vivian. »Noch nicht.« Eigentlich wünschte sie sogar, er würde gehen. Denn solange er bei ihr war, mußte sie sich zwangsläufig fragen, wie er darüber dachte, daß sie die Tochter eines Ex-Knackis war. Es war das eine, zu glauben, sie und Vivian könnten trotz ihrer unterschiedlichen Beziehung zu Gossinger Hall Freunde sein, doch dies veränderte alles. Als sie vor ihrer Tür standen, fragte sie sich, ob Sir Henry und Mylady wohl über ihre Herkunft Bescheid wußten. Nein, unmöglich. Sie hatte absolutes Vertrauen zu ihrem Großvater. Er hätte ihr furchtbares Geheimnis niemals mit anderen geteilt, während sie im dunkeln tappte. »Ich hab’ die Tür gleich auf.« Vivian hatte den Schlüssel hervorgeholt und steckte ihn ins Schloß. »Sie brauchen nicht mit reinzukommen.« Flora schaffte es, sich ein Lächeln abzuringen, obgleich ihr Gesicht sich anfühlte, als ob es zerreißen wollte. »Wirklich, es wäre mir lieber so. Sie müssen wieder Ihr eigenes Leben leben. Und ich möchte gern allein sein, bis ich mich an den Gedanken gewöhnen kann, keine Waise zu sein.« »Tut mir leid, so leicht werden Sie mich nicht los«, sagte Vivian zu ihr. »Irgendwie – und Sie mögen diese Arroganz meiner unglücklichen Herkunft zuschreiben – glaube ich, daß wir in einem Boot sitzen.« »Sie haben wirklich eine übertriebene Vorstellung von Ihrer eigenen Wichtigkeit.« Flora sah ihn durch ihre plötzlich feuchten Wimpern an.
»Daran ist nichts Übertriebenes«, sagte er, während er im Laden Licht machte und sie sanft durch die Tür schob. »Sie brauchen mich dringend.« »Wie meinen Sie das?« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Sie scheinen vergessen zu haben, daß Nolly nicht von Luft leben kann. Er muß fressen. Und ich halte es für unwahrscheinlich, daß Sie in einem Ihrer Koffer zufällig Hundefutter mitgebracht haben.« »Ach, armer Liebling, was bin ich doch für eine schlechte Mutter!« rief Flora. Sie ging in die Knie und schloß das beinah verhungerte Tier in die Arme. »Ich verdiene es nicht, die Besitzerin eines Haustieres zu sein. Glauben Sie, daß noch irgendwo ein Geschäft offen hat?« fragte sie Vivian. »Überlassen Sie das mir. Wenn nicht, muß ich vielleicht einen kleinen Einbruch inszenieren, was zumindest den Vorteil hätte, daß Sie mir nicht vorwerfen, ich verachtete Ihren Vater.« »Ich habe nichts dergleichen angedeutet«, sagte Flora betroffen. »Das brauchen Sie auch nicht.« Vivian berührte mit dem Finger ihre Wange. »Ich kann Ihre Gedanken lesen, mein Schatz.« Was gab es da noch zu sagen? »Danke«, murmelte sie, als Vivian nach draußen zu seinem Wagen ging. »Achten Sie auf Ihren Benzinstand, und vergessen Sie nicht, die Handbremse anzuziehen, wenn Sie parken.« »Das hat er für mich getan«, sagte Flora und schloß die Tür, als seine Rücklichter die Straße hinunter verschwanden. »Das Hundefutter war bloß ein praktischer Vorwand, um für eine Weile zu verschwinden und mir Zeit zum Nachdenken zu geben. Ist er nicht der tollste Mann auf der ganzen Welt, Nolly? Nein, antworte nicht darauf! Sag mir, daß es mir nicht
zusteht, in dieser Weise an ihn zu denken, daß es unmöglich ist, sich als kleines Mädchen in einen Mann zu verlieben und als Erwachsene festzustellen, daß er noch wunderbarer ist als der Prinz ihrer Träume. Solche Dinge gibt es nur im Märchen, und mein Leben ist nicht so. Wie findest du das als kleine Kostprobe von Selbstmitleid?« Nolly saß mit schräggestelltem Kopf da, seine Ohren waren zu niedlichen Dreiecken gespitzt, und sein Herz sprach aus seinen Augen. »Ich weiß, was du sagen willst«, fuhr Flora fort. »Ich soll dir endlich einen Napf Wasser und ein paar Käsecracker aus dem Picknickkorb holen. Und danach soll ich darüber nachdenken, was ich zu meinem Vater sagen will, sollte er morgen auftauchen. Oh, du denkst, ich soll mich an dir orientieren. Wenn du nach seinem Hosenbein schnappst, soll ich daraus entnehmen, daß man ihm nicht trauen kann. Und wenn du ihn begeistert beschnüffelst und ihn abschleckst, ist das ein Tip, daß ihm aufrichtig leid tut, was geschehen ist, und alles vergeben und vergessen ist. Hab’ ich nicht recht?« Flora hatte keinen Napf, sie grub jedoch ganz hinten in einem der Küchenschränke einen verbeulten Kochtopf aus. Während sie diesen mit Wasser füllte und auf den Fliesenboden stellte, damit Nolly trinken konnte, dachte sie an ihre Mutter, etwas, das sie sich eigentlich vor langer Zeit abgewöhnt hatte. War sie furchtbar unglücklich gewesen, als sie starb, und war es fair, daß ihre Mutter Reggie solch ein Versprechen abgenommen hatte? Ach, warum habe ich Grandpa bloß nicht nach ihr ausgefragt, als es noch möglich war? Arme Mummy! Flora spürte die Tränen, die in ihren Wimpern hingen. Wie kann ich auch nur daran denken, ihr irgendwelche Vorwürfe zu machen? Sie wollte mich nur beschützen, doch was gutgemeint ist, muß nicht immer klug sein. Andererseits hatte sie ja vielleicht auch recht. Flora war einen Augenblick entsetzt bei dem Gedanken,
daß ihr eigener Vater sie ihrem Großvater hätte wegnehmen können. »Ach, du Dummi!« sagte sie laut. »Statt zu jammern wie ein verwöhntes Baby, solltest du deinem Glücksstern für deine wunderbare, unbeschwerte Kindheit danken. Nie hat jemand mehr Liebe erfahren als du.« Flora ging wieder in das leerstehende Geschäft. Vor ihrem geistigen Auge zog ein Bilderbuch der Erinnerungen vorüber. Ich hatte nicht nur Grandpa, dachte sie. Eine Zeitlang hatte ich auch noch die liebe Mrs. Bellows, die mich umhegte und umpflegte und mir Gutenachtgeschichten erzählte, wenn er verhindert war, weil Sir Henry Gäste zum Abendessen hatte. Diese wunderschönen Geschichten über die Königin. Mrs. Bellows ließ sie immer so real erscheinen – so daß ich verstand, wenngleich ich als kleines Mädchen ein wenig eifersüchtig auf sie war, warum Grandpa glaubte, die Sonne gehe mit Ihrer Majestät auf und unter. Und dann war da Sir Henry… Er war nie anders als freundlich, gab mir Sahnebonbons und ermutigte mich, sein Heim zu meiner Burg zu machen. Und ich darf die alte Miss Doffit nicht vergessen, die zu Besuch kam und mit mir nach oben auf den Speicher ging, sich ebenso begeistert verkleidete wie ich und so tat, als sei sie eine Herzogin in Samtcape und Federboa. »Ich war ungerecht.« Flora stand auf und sprach zu Nolly, von dessen Nase noch das Wasser tropfte. »Es war sehr ungerecht von mir, Lady Gossinger die Schuld zu geben, weil sich, als sie kam, alles änderte. Schließlich konnte ich nicht mein Leben lang durchs Haus tollen und Sahnebonbons lutschen. Wenn sie mich nicht besonders mochte, dann habe ich es nur mir selbst zuzuschreiben…« Weiter kam sie nicht damit, sich ins Gewissen zu reden, denn die Tür zum Laden öffnete sich, und Vivian trat mit einer Tragetasche aus Papier herein. »Was haben Sie gemacht?«
fragte er. »Haben Sie sich entschieden, wohin Sie die Regale stellen wollen und was draufstehen soll, wenn Sie Ihr Geschäft eröffnen?« »Nein, ich bin in Ihrer Abwesenheit gründlich in mich gegangen. Und ich bin zu dem Schluß gelangt, daß es nicht das Ende der Welt ist, einen Vater zu haben, der mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Vielleicht werde ich ihn mögen, vielleicht auch nicht, aber so oder so ist es nicht so furchtbar wichtig, weil er mich nicht aufgezogen hat.« »Und er vermag nichts daran zu ändern, wer Sie sind.« »Nur in den Augen Außenstehender, aber dagegen kann ich ja ohnehin nichts tun, oder? Also warum Zeit mit derlei Überlegungen verschwenden, wenn Nolly schon halbverhungert sein muß. Sie haben nicht zufällig daran gedacht, einen Napf zu kaufen? Der alte Topf, den ich aufgetan habe, ist ziemlich widerlich.« »Ich habe an alles gedacht.« Vivian breitete seine Einkäufe bereits auf dem Verkaufstresen aus. »Drei verschiedene Dosen Gourmet-Hundefutter, ein Dosenöffner, Hundekuchen, ein Ball, Leder zum Kauen und sogar ein Fläschchen Vitamine für Hunde.« »Sie sind unschlagbar. Wieviel schulde ich Ihnen?« »Noch eine Nacht Unterkunft. Die traurige Wahrheit ist, Flora, daß ich in meiner Bude nicht sehr glücklich bin…« »Sie reden wieder mal Unfug. Sie haben die fixe Idee, daß ich nicht allein bleiben darf. Anscheinend denken Sie, mein Vater könnte mitten in der Nacht hier aufkreuzen.« »Wir haben nur Snuffys Wort, daß es überhaupt einen Vater gibt.« Vivian hatte auf der Heimfahrt von seiner Einkaufsexpedition erschöpfend über diesen Punkt nachgedacht. »Aber warum sollte er solch eine Geschichte erfinden?«
»Das ist die große Frage.« Vivian machte sich mit dem Dosenöffner zu schaffen. »Aber ich habe die Absicht, morgen hier zu sein, um Reggie auf den Zahn zu fühlen. Hier, Nolly.« Er hielt ihm den Napf hin, und der kleine Hund warf dem roten Ball einen letzten Blick zu, als warne er ihn, sich ja nicht zu rühren, während er ihm den Rücken zukehrte. Dann wandte er sich seinem Abendessen zu. »Einen Moment noch.« Flora nahm Vivian den Napf aus der Hand. »Ich finde, wir sollten noch ein wenig von dem Hundekuchen darüber streuen.« »Wieso? Wollen Sie Shepherd’s Pie daraus machen?« »Nein, Dummerchen, weil ich es im Fernsehen so gesehen habe, in einer Sendung, wo Leute – richtige Hundenarren, wissen sie, Züchter und Prominente – erklären, wie man Champions aufzieht.« »Ich wage zu bezweifeln, daß Nolly solch eine Zukunft bevorsteht.« »Ja, da haben Sie wohl recht.« Flora lachte und stellte den Napf auf den Boden. »Aber vielleicht kann ich ihm beibringen, Männchen zu machen.« »Ein anderes Mal.« Vivian griff nach ihrer Hand. »Sie waren noch nicht oben, oder?« »Nein, warum fragen Sie?« »Ich möchte, daß Sie mir sagen, wie Sie die Wohnung einzurichten gedenken. Und seien Sie ja nicht unlustig, oder ich werfe sie über meine Schulter und trage Sie nach oben.« »Ich glaube nicht, daß ich viel daran tun kann, wenn ich den Laden wiedereröffnen will – dabei fällt mir ein« – Flora wich ihm aus und lief voraus zur Treppe – »ich sollte heute abend Mylady vom Münztelefon an der Ecke anrufen, bevor ich noch kneife. Sie glauben doch nicht, daß es schon zu spät ist, oder? Eines werde ich mir auf jeden Fall leisten müssen, eine Uhr für das…«
»Was ist los?« Vivian trat hinter sie, als sie wie angewurzelt in der Tür zum Wohnzimmer stehenblieb. »Ich fass’ es nicht!« »Was denn?« »Die Uhr! Die Uhr, die Grandpa und ich auf Gossinger in unserem Wohnzimmer hatten, sie steht hier auf dem Kaminsims, und…« Wie benommen durchquerte sie den Raum, »…da ist sein Sessel, das Sofa, die Bücherregale und der Eckschrank, und das da unter dem Fenster ist unser Klapptisch! Ich begreife nicht… wie ist das alles hierhergekommen?« »Da ist noch mehr, wie Sie sehen werden, wenn Sie in die Schlafzimmer schauen. Gestern abend, als Sie schon im Bett waren, habe ich Onkel Henry angerufen, und er hat heute zwei Männer vorbeigeschickt. Sie haben die Sachen gebracht. Heute morgen dann, als Sie noch schliefen, habe ich einen Ersatzschlüssel zum Laden anfertigen lassen und ihn bei Mrs. Smith hinterlegt, und sie hat sich bereit erklärt, hier zu warten, um die Männer zur vereinbarten Zeit hereinzulassen. Ich weiß, Sie werden sagen, daß ich eine furchtbare Nervensäge bin, die sich in alles einmischt, Flora…« »O nein, das werde ich nicht tun!« Sie drehte sich zu ihm um, blind von den Tränen in ihren Augen. »Sie haben mir ein großes Stück meines Lebens wiedergegeben, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen jemals danken soll.« »Sie könnten mir erlauben«, sagte Vivian lächelnd, »heute nacht in dem neueingerichteten Gästezimmer zu schlafen.«
Kapitel 14 »Was ist los, meine Liebe? Du siehst furchtbar niedergeschlagen aus!« Sir Henry Gossinger legte seine Sportzeitschrift beiseite, um seiner Gattin das ihr zustehende Maß an Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. »War halb eingeschlafen, als die neue Haushälterin – vergesse immer wieder ihren Namen – hereinkam und sagte, du würdest am Telefon verlangt. Hoffentlich keine schlechten Nachrichten.« »Ich weiß nicht recht, als was ich es bezeichnen soll.« Lady Gossinger ließ sich auf einen Stuhl fallen und starrte in die Ferne. »Ah, ich hab’s!« Ihr Mann wirkte plötzlich sehr heiter. »Mrs. Frost, so heißt die Frau. Nuschelt immerzu, kann nicht die Hälfte von dem verstehen, was sie sagt. Aber ich kann mir denken, manch einer würde das gleiche über mich sagen. Tut vermutlich ihr Bestes; das Problem ist, ohne Hutchins wird es nie mehr so sein wie früher. Es ist das Ende einer Ära.« Sir Henrys Gesicht legte sich in Kummerfalten. »Vermisse den Mann mit jedem Tag mehr. Wie es wohl der kleinen Flora ergehen mag?« »Sie war gerade am Telefon.« »Ach, ja?« Sir Henry richtete sich in seinem Stuhl auf. »Hat wohl angerufen, um zu sagen, daß die Möbel gut angekommen sind, ja? Muß sagen, es war verflixt anständig von Vivian, sich um alles zu kümmern. Hätte selbst dran denken sollen.« »Henry, würdest du ausnahmsweise mal damit aufhören, Selbstgespräche zu führen und deine eigenen Fragen zu beantworten?« Mylady schlug mit der Faust auf ihr in Tweed gehülltes Knie. »Pardon, meine Liebe. Einen gefühllosen Burschen hast du da geheiratet, hast was Besseres verdient, weißt du.« Sir Henry
hätte nicht zerknirschter sein können. Man brauchte sie nur anzusehen, die Ringe unter ihren Augen und die tiefen Einbuchtungen unter ihren Wangenknochen, um zu erkennen, daß Mabel nicht sie selbst war. Nicht seit Hutchins’ Tod. »Hätte merken müssen, daß du nicht auf der Höhe bist«, sagte er. »Zu allem Übel mußte Tipp sich auch noch davonmachen. Konnte ja nichts dafür, daß sein Cousin oder wer auch immer krank wurde, aber verflixt rücksichtslos, sich nicht zu melden, um uns wissen zu lassen, wann er voraussichtlich zurückkommt. Ich hole dir ein Glas Sherry, während du mir erzählst, was die kleine Flora zu sagen hatte.« »Ich wünschte, du würdest aufhören, sie so zu nennen!« Lady Gossinger flüchtete sich in Wut, das Gefühl, das ihr in diesen Tagen noch am verläßlichsten erschien. »Du klingst so albern.« »Du hast recht, meine Liebe, sie ist eine erwachsene Frau.« »Und eine schlaue Person obendrein! Wie sich herausstellt, war sie nicht zufrieden damit, ein Jahr lang mietfrei die Wohnung zu bekommen. Jetzt will sie den Laden wiedereröffnen, Trödel verkaufen. Und ob du’s glaubst oder nicht, sie hat es irgendwie geschafft, Jung-Vivian einzuwickeln. Er war bei ihr, als sie mich anrief. Ich konnte ihn im Hintergrund hören, bevor er selbst den Hörer nahm, um mir zu sagen, welch tolle Idee es sei.« »Ist es das nicht?« Sir Henry stand mit der Sherrykaraffe in der Hand am Schrank. »Mir scheint, Flora würde einen Riesenerfolg aus solch einem Laden machen. Habe immer gedacht, daß sie hier in unserem Geschenkshop verkümmert. Hutchins hat sich auch Sorgen gemacht, hat es mir selbst gesagt. Wollte, daß sie flügge wird. Aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, es sei nicht richtig, ihn allein zu lassen.« »Auf jeden Fall holt sie die verlorene Zeit jetzt gründlich auf!« Mylady fiel auf ihrem Stuhl zurück, der wie die meisten Möbelstücke hier nicht für maximale Bequemlichkeit
geschaffen war. »Ach, gib mir schon den Sherry, Henry, und achte nicht auf mein Geschimpfe. Ich will eigentlich gar nicht solch ein Ungeheuer sein.« Es war die Wahrheit; sie machte alles nur noch schlimmer, indem sie ihren Ärger an Flora ausließ. Schließlich hatte Henry in letzter Zeit nichts von einer Testamentsänderung gesagt. Vermutlich war er zu dem Schluß gelangt, es habe keine Eile damit, doch sie hatte nicht den geringsten Zweifel, daß er dem Mädchen Gossinger Hall nach wie vor hinterlassen wollte. Doch diese Sorge mußte erst einmal warten. Was sie Tag und Nacht quälte – so sehr, daß sie weder richtig essen noch schlafen konnte –, war die Furcht, daß ans Licht kommen würde, was sie getan hatte. Henry mochte in vielerlei Hinsicht ein Softie sein; er hatte sich nie auch nur den geringsten Verdacht anmerken lassen, daß sie Hutchins in die Garderobe gesperrt haben könnte. Aber es gab Dinge, die er niemals verzeihen würde. Und mit dem Versuch, ihren möglicherweise fatalen Fehler ungeschehen zu machen, war sie kläglich gescheitert. Mylady packte die Armlehnen ihres Stuhls und phantasierte, wie sie einer gewissen Person mit einem massiven Gegenstand eins über den Schädel gab. »Hier ist dein Sherry, meine Liebe.« Sir Henry drückte ihr das Glas in die Hand und blieb neben ihr stehen. Ihm fiel auf, daß sie seit fast vierzehn Tagen anscheinend die gleichen Kleider trug, und mit ihrem Haar stimmte etwas nicht, es stand an Stellen ab, wo es hätte anliegen sollen, und war platt gedrückt, wo es sich hätte wellen sollen. Sir Henry empfand den ungewohnten Impuls, sich zu bücken und seine Frau auf die Wange zu küssen. Statt dessen tätschelte er ihre Schulter, bevor er sein Sherryglas nahm und zu seinem Platz zurückging. »Das tut gut.« Lady Gossinger kippte die Hälfte ihres Sherrys hinunter. »Es gibt doch nichts Besseres, oder? Ich meine, daß wir beide hier sitzen und uns aussprechen. Du hast recht, altes
Haus, wie fast immer. Es hat keinen Sinn, den Laden leerstehen zu lassen, und es wäre unmöglich, ihn zu vermieten, solange Florie oben wohnt und die Küche benutzen muß, um für sich zu kochen. Viel besser, ihr die Chance zu geben, sich erfolgreich etwas aufzubauen.« »Genau mein Gedanke, meine Liebe. Das Mädchen braucht etwas, eine Herausforderung, wenn du so willst, die ihr über Hutchins’ Tod hinweghilft. Furchtbarer Schlag.« Sir Henry schüttelte den Kopf. »Komme immer noch nicht darüber hinweg, daß er kerngesund war und plötzlich tot ist. Bringt einen ins Nachdenken, wie?« »O ja.« Mylady trank ihren Sherry aus. »Du hast ja keine Ahnung, Henry, wie sehr ich mir wünsche, ich hätte nicht solch ein Theater gemacht, weil du deinem Butler Gossinger Hall hinterlassen wolltest. Irgendwie kommt mir das Vorgefallene wie eine Vergeltung vor.« Sir Henry konnte das nicht ganz nach vollziehen, da es ja Hutchins war, der den Preis hatte bezahlen müssen, doch es gelang ihm, aufmunternde Laute von sich zu geben. »Und dann muß ich es auch noch an Flora auslassen.« Lady Gossinger stand auf und goß sich noch einen Sherry ein, ohne mehr als ein paar Tropfen zu verschütten. »Also wirklich, ich muß das größte Scheusal der Welt sein. Ich hätte es verdient, ins Gefängnis gesperrt zu werden. Aber die Wahrheit ist, Henry, ich war immer eifersüchtig auf sie.« »Na so was.« Sir Henry sah erschrocken aus. »Du willst doch nicht andeuten, altes Mädchen, daß ich jemals – weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll – ein Auge auf das Mädchen geworfen habe?« »Nein, natürlich nicht.« Mylady setzte sich wieder. »Nein, du neigtest nur dazu, sie wie eine Tochter zu behandeln. Und das war mir ein Dorn im Auge, da ja keine Hoffnung bestand, daß wir eigene Kinder haben würden.«
»War doch klar, daß ich sie gern hatte – sie kam mit drei Jahren zu uns und wuchs hier auf. Lief immer im Haus herum, ein putzmunteres kleines Ding. Konnte Hutchins nie was über ihren Vater entlocken, aber ich versichere dir, Mabel, ich wollte dich nie verletzen, indem ich zu viel Wind um Flora mache.« Seine Frau seufzte. »Ich weiß ja. Du bist viel zu gut, als daß du hättest merken können, welch unfreundliche Gedanken mir durch den Kopf gingen. Aber genug davon. Ich habe Flora gesagt, ich wollte erst mit dir über den Laden sprechen, also warum rufst du sie nicht an? Sag ihr, wir freuen uns beide über ihre Pläne, und wir nehmen kein Geld von ihr, bis sie sich etabliert hat.« »Bist du sicher, daß du das willst?« »Völlig sicher. Sie wird sich freuen, von uns zu hören, und während du telefonierst, ruhe ich mich ein bißchen aus.« Lady Gossinger schloß die Augen. »Ich habe keine Ahnung, warum ich mich in letzter Zeit so erschöpft fühle, aber es ist so. Ich werde allmählich alt, schätze ich.« »Völliger Quatsch, meine Liebe, du bist im besten Alter; würde jederzeit wetten, daß du neunzig Jahre alt wirst!« Doch als Sir Henry das Zimmer verließ, fiel ihm ein, daß er das gleiche über Hutchins gedacht hatte. Man konnte nie wissen, oder? Statt sich zu freuen, weil sie einen Augenblick allein war und in Ruhe nachdenken konnte, empfand Lady Gossinger einen Anflug von Panik, als sich die Tür leise hinter ihrem Mann schloß. Die Wänden schienen näherzurücken, bis es ihr die Luft abschnürte, und sie hatte den unvernünftigen Impuls, aufzuspringen und alle Fenster zu öffnen. Ob ich allmählich den Verstand verliere? dachte sie. Als ich heute mit Mrs. Frost sprach, war ich überzeugt, sie sei als Haushälterin hergeschickt worden, um mich im Auge zu behalten, weil die Polizei nicht
wirklich glaubt, daß Hutchins eines natürlichen Todes gestorben ist… Lady Gossinger kämpfte erneut gegen eine Welle krankhaften Mißtrauens an, als die Tür sich ebenso leise öffnete, wie sie sich zuvor geschlossen hatte, und Miss Doffit ins Zimmer trat. »Ich bin’s nur, liebe Mabel.« Für eine Frau ihres fortgeschrittenen Alters ging sie recht energisch auf ihre Verwandte zu. »Ich finde, wir müssen miteinander reden. Mir ist klar, daß du so nicht weitermachen kannst, und ich möchte dir helfen, weil ich dir dankbar dafür bin, daß du mich auf Gossinger bleiben läßt, während andere Frauen längst meine Koffer gepackt und vor die Tür gestellt hätten.« »Du bist die letzte, mit der ich reden kann.« Lady Gossinger vergrub das Gesicht in den Händen. »Du würdest sofort zu Henry rennen. Ich muß allein tun, was zu tun ist.« »Nicht in deinem Zustand, Mabel«, sagte Miss Doffit, schüttelte ein Kissen auf und schob es vorsichtig hinter Myladys Kopf. »Du mußt mir schon vertrauen, meine Liebe, weil du mich nämlich brauchst, und einer Frau in meinem Alter gefällt nichts so sehr, wie gebraucht zu werden. Du schüttest mir dein Herz aus, und ich gieße uns beiden ein Glas Sherry ein.«
Kapitel 15 »Das Gute an der Einladung zum Tee bei Mrs. Smith ist«, sagte Flora zu Vivian, »daß ich mir nicht den Kopf zu zerbrechen brauche, ob ich für das Treffen mit meinem Vater richtig oder falsch angezogen bin. Falls er auftaucht, erkläre ich ihm, daß ich ausgehen will, dann wird er nicht denken, ich sei übereifrig oder andererseits nicht begeistert genug. Er wird einsehen, daß mein Aufzug nichts mit seinem Besuch zu tun hat.« »Ich hab’s begriffen«, versicherte Vivian ihr. »Wer es nicht versteht, ist Nolly; allerdings bin ich ohnehin zu dem Schluß gelangt, daß er ein sehr selbstsüchtiger Hund ist, der nur wirklich versteht, wenn man über ihn redet.« »Das ist nicht wahr.« Flora begutachtete sich in dem Wandspiegel im Wohnzimmer. Er war eines der Möbelstücke, die man am Vortag gebracht hatte. Und sie liebte ihn ebensosehr wie die Uhr auf dem Kamin und den Sessel, vielleicht sogar noch mehr, da sie als kleines Mädchen an die Zauberkraft von Spiegeln geglaubt hatte, nachdem sie ein Buch über einen Spiegel gelesen hatte, der die Fähigkeit besaß, das Gesicht eines geliebten Menschen aus dem in ihm gespeicherten Schatz an Spiegelbildern zu beschwören. Jetzt glaubte Flora beinahe, sie würde, wenn sie genau im richtigen Augenblick den Kopf wandte, ihren Großvater sehen, ein wenig verschwommen vielleicht, doch gut zu erkennen, wie er in ihrem Wohnzimmer auf Gossinger eine der Aufgaben erfüllte, die zu seiner täglichen Routine gehört hatten. Er sorgte dafür, daß nachts die Tür zum Garten verschlossen war, erstickte das Feuer oder faltete die Servietten so, wie er es gern hatte. Erinnerungen der besten Art, Alltagserinnerungen,
die sich tief ins Herz eingraben – für immer in dem glänzenden, silbrigen Glas bewahrt. Was ihr eigenes Spiegelbild betraf, könnte es durchaus noch verbessert werden, dachte Flora. Ihr kurzes Haar gefiel ihr, obschon es sicherlich noch ein wenig begradigt werden mußte. Vielleicht könnte sie das beim Tee mit Edna Smith arrangieren. Doch die Frage blieb: Würde es blöd aussehen, wenn sie einen Hut trug? Sie hatte Nolly nach seiner Meinung gefragt, und er hatte den Kopf auf die Seite gelegt und die Angelegenheit erwogen, als wäre sie von größerer Bedeutung als sein roter Ball oder sein mittäglicher Imbiß aus Hundekuchen. Flora beschloß, Vivian jetzt die gleiche Frage zu stellen. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, wies sie ihn an und verschwand in ihrem Schlafzimmer, um mit einem schwarzen Filzhut aus den zwanziger Jahren wiederzukommen, der an einer Seite mit einer einzelnen Blume aus dem gleichen Stoff geschmückt war. »Was halten Sie davon? Wie Sie sehen, paßt das Schwarz zu dem Besatz an meinem Halsausschnitt und den Manschetten. Ich liebe die Kombination aus Schwarz und Flaschengrün, Sie nicht auch?« »Ich kann nicht behaupten, daß ich bisher eingehend über diese Frage nachgedacht hätte.« Vivian stand mit verschränkten Armen da, um seinen Mund spielte ein Lächeln. »Offen gestanden, bin ich nicht ganz sicher wegen des Huts. Wie wär’s, wenn Sie sich mir aus einem anderen Blickwinkel präsentieren, damit ich mich abschließend entscheiden kann?« »Sehen Sie es sich in Ruhe von allen Seiten an.« Flora drehte eine langsame Pirouette, den langen Rock hochgerafft, so daß man ihre schwarzen Strümpfe und Stiefeletten sah. »Aber seien Sie ehrlich!« »Ich fürchte, der Hut wird verschwinden müssen«, sagte Vivian zu ihr. »Damit sehen Sie viel zu…« »Blöd aus?«
»Hinreißend ist das Wort, nach dem ich gesucht habe. Aber tun Sie nur, was Sie für richtig halten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, auf der Straße von Männern angestarrt zu werden, geht es in Ordnung.« »Sie wollen nur nett sein«, sagte Flora. »Aber ich liebe Hüte sehr. Sie geben mir das Gefühl, als sollte ich in einem alten offenen Zweisitzer über nach Geißblatt duftende Straßen brausen, und ich sitze neben einem jungen Mann mit Schutzbrille und Mütze, und hinter ihm flattert sein Schal im Wind.« »Ich besitze zwar eine Schutzbrille«, sagte Vivian, »aber nur von der Sorte, wie man sie beim Schwimmen benutzt.« »Hören Sie sich Nolly an.« Flora konnte das Glücksgefühl, das sie durchströmte wie die Verheißung des Frühlings, nicht bezähmen. »Dieses kurze Bellen soll uns sagen, daß er auch dabeisein will. Damen, die in solchen Autos fuhren, hatten gewöhnlich einen kleinen Hund auf dem Schoß.« »Ich bezweifle keineswegs, daß Sie recht haben«, sagte Vivian und ging zur Tür, »bis auf das Bellen. Ich glaube, Nolly hört jemanden draußen vor dem Laden. Und da geht auch schon die Türglocke. Möchten Sie, daß ich in eines der Schlafzimmer verschwinde, wenn Sie Ihren Vater hereinbitten?« »Das würde alles zu einer Farce machen, meinen Sie nicht auch?« Flora fuhr mit ihren plötzlich feuchten Händen über ihre Hüften. »Stellen Sie sich vor, Reggie öffnet eine Tür, hinter der er die Toilette vermutet, und findet Sie in Ihrem Versteck. So soll es nicht sein, wenn man zum ersten Mal seinen langvermißten Vater trifft.« Sie folgte Vivian auf den Treppenabsatz. »Außerdem sagten Sie doch, Sie wollten ihn sich ansehen und mich beraten, ob er glaubwürdig ist.« »Ich weiß«, sagte Vivian, als Nolly an ihnen vorbei zur Treppe flitzte und aus Leibeskräften bellte. »Nur denke ich
allmählich, daß ich ein furchtbar grober Klotz bin, weil ich mich in eine vermutlich sehr aufwühlende Begegnung hineindrängen will. Wenn Sie mich allerdings bitten zu bleiben, bin ich nicht gezwungen, an der Tür zu horchen.« Er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sie einerseits zu beschützen und andererseits ihr Glück keinen Augenblick lang zu schmälern. »Na schön, ich sag’s! Ich will, daß Sie dabei sind. Warum gehen Sie nicht runter und lassen ihn herein, während ich hin und her laufe und zu erraten versuche, wie er wohl aussieht? Bisher fällt mir nicht mehr ein als der Schnurrbart eines Schurken und eine Hand, die einen Blumenstrauß hält. Na los.« Flora gab Vivian einen kleinen Schubs. »Ehe er noch auf den Gedanken verfällt, daß ich nicht daheim bin, und wieder geht. Ich will dieses Herzklopfen nicht zweimal durchmachen müssen.« Sie ging wieder ins Wohnzimmer und stellte die Kerzenhalter um, die sie in einem ihrer Koffer mitgebracht hatte. Die Uhr schlug die halbe Stunde und ließ sie zusammenfahren, erinnerte sie jedoch gleichzeitig daran, daß sie von ihr wohlgesonnenen Gegenständen umgeben war – die Bronzevase mit den Mohnblumen aus Seide, die sie ihrem Großvater einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, die kleine Figur des schottischen Dudelsackpfeifers, die bestickten Kissen auf dem vertrauten Sessel. All diese Dinge sagten ihr, daß sie nicht in unbekannten Gewässern dahintrieb; sie war fest in ihrer Vergangenheit verankert. Daher war sie beinahe gefaßt, als sie Stimmen und Schritte auf der Treppe hörte, und dazu ein Wuff von Nolly. Vivian führte einen ziemlich großen Mann herein. Er hielt einen Blumenstrauß in der Hand, und er hatte auch einen bleistiftdünnen Schnäuzer, doch der Eindruck eines Ganoven verflog, als er lächelte, da er eine auffallende Lücke in der
oberen Zahnreihe hatte. Er erinnerte Flora an jemanden. Ja, richtig! Er sah diesem Schauspieler ähnlich, Terry-Thomas, den Mrs. Bellows früher so gemocht hatte. Flora war nicht versucht, »Daddy!« zu rufen und Hals über Kopf in seine Arme zu stürzen, dachte jedoch, wenn er ein Lump war, dann einer von der einnehmenden Sorte. Und sie ahnte, warum ihre Mutter sich in diesen Mann hatte verlieben können. »Hallo«, sagte sie. »Na so was! Du bist eine kleine Schönheit geworden!« Als er sie strahlend anlächelte, erschienen Fältchen auf seinen Wangen, und man sah die Zahnlücke in all ihrer Pracht. »Der alte Snuffy hat es mir gegenüber angedeutet, aber, du meine Güte, darauf war ich nicht vorbereitet! Würde es dich stören, wenn ich mich einen Augenblick hinsetze, um mich zu sammeln? Versteh mich nicht falsch – ich will dich nach der langen Zeit nicht auf den Knien schaukeln, ich möchte nur dasitzen und dich ansehen.« »Soll ich Ihnen die Blumen abnehmen?« fragte Vivian. »Die sind nicht für Sie, alter Junge.« »Wie schade! Stiefmütterchen sind meine Lieblingsblumen.« »Meine auch«, sagte Flora und drehte den Sessel herum, damit ihr Vater Platz nehmen konnte. »Grandpa hat mir erzählt, Reggie – ist es in Ordnung, wenn ich dich so nenne?« »Möcht’ ich doch meinen! Und ich weiß genau, was dir durch den Kopf geht, wegen der Blumen, meine ich. Grace – deine Mutter – nannte Stiefmütterchen immer Feengesichter.« Seine Miene wurde traurig. »Wunderschönes Mädchen, weiß nicht, was sie an mir fand. Donnerwetter, dein Anblick bringt sie wieder zurück!« »Dann sehe ich wirklich aus wie sie?« Flora setzte sich aufs Sofa und breitete ihren Rock über ihre Knie, während Vivian auf der Suche nach einer Vase durchs Zimmer ging und sich schließlich mit einem winzigen Krug begnügte, auf den eine
italienische Landschaft gemalt war. Er verließ den Raum, um Wasser zu holen. »Grace hatte helles Haar, ziemlich lockig, und braune Augen. Aber du hast bestimmt Fotos gesehen. Kann nicht anders sein. Also wäre es ein bißchen übertrieben zu sagen, daß du ihr wie aus dem Gesicht geschnitten bist. Aber um den Mund herum und wie du dich bewegst, da bist du ihr sehr ähnlich. Du erinnerst dich wohl nicht gut an sie?« »Ich weiß noch, wie sie mein Haar streichelte, und manchmal kann ich ihre Stimme hören, wenn sie mir eine Geschichte vorlas. Ansonsten ist es nur ein verschwommener Eindruck, ich kann ein Zimmer mit hellen Wänden und blaßgelben Vorhängen sehen und das Bild eines Gartens…« »Erstaunlich!« In Reggies Lächeln spiegelten sich widerstreitende Empfindungen. »Das war unsere Wohnung. Famose kleine Bude. Der einzige Mißton war diese verflixt unangenehme Hauswirtin, klopfte andauernd an die Tür und wollte die Miete kassieren. Na so was, wo ist denn der kleine Hund geblieben? Soll doch kein Hinweis sein, daß er mit einem Kerl wie mir nichts zu schaffen haben will?« »Nolly?« rief Flora, und er kam zu ihr getrottet. »Na so was! Famose Nummer! Du hast ihn gut erzogen, wie ich sehe.« »Leider ist das sein einziges Kunststück«, gab Flora zu. »So soll es auch sein.« Reggie strahlte sie ermutigend an. »Verflixt noch mal, sage ich immer zu meinen Klienten, ein Hund ist doch keine Aufziehpuppe. Sollte doch sonnenklar sein, daß die kleinen Kerlchen auch ein Recht auf Würde haben, so wie wir. Das ist mein derzeitiges Betätigungsfeld: denen, die keine Stimme im menschlichen Sinne haben, Seelenfrieden zu schenken.« »Du bist Hundepsychiater?« »Tiergesundbeter.«
»Für Tiere aller Art?« Flora stellte sich einen Gorilla vor, der seine Krücken wegwarf, weil man ihm gesagt hatte, er solle aufstehen und gehen, und hob Nolly auf, der keineswegs zum Meister gelaufen war, um sich ihm zu Füßen zu setzen. »Auch Löwen und Tiger?« »Was hab’ ich verpaßt?« fragte Vivian, der wieder ins Zimmer kam und den Krug mit den Blumen auf das Bücherregal stellte. »Reggie ist Tiergesundbeter.« »Na ja, ich schätze, das ist ebenso sinnvoll wie die Variante mit Menschen.« »Ich habe gerade gefragt, ob er mit wilden Tieren arbeitet.« »Klasse Idee! Würde ich gern mal irgendwann ausprobieren.« Reggie wirkte nicht hundertprozentig begeistert. »Bisher allerdings beschränkt sich mein beruflicher Umgang auf die domestizierten Spezies. Ich bin oft die letzte Anlaufstelle, wenn traditionelle Methoden wie Sterilisation oder Kastration versagen und den Hund oder die Katze nicht von ihren schlechten Angewohnheiten kurieren können.« Nolly wählte diesen Augenblick, um unter dem Sofa zu verschwinden. »Ihr würdet staunen, wie viele Menschen sich vollends von ihren Haustieren einschüchtern lassen. Eine Form der Mißhandlung, die in diesem Land rasend schnell um sich greift. Verflixt schlimme Sache, aber so ist es!« Flora und Vivian konnten nur fasziniert zuhören. »Im Augenblick arbeite ich mit einer Herzogin, die sich fürchtet, ihre Perlen anzulegen, weil ihr ihre Siamkatze jedesmal, wenn sie die Kette trägt, an die Kehle geht. Ihre Gnaden handelte folgerichtig und kaufte der Katze ein mit Edelsteinen besetztes Halsband, aber ohne Erfolg.« »Und du konntest helfen?« Flora wagte es nicht, Vivian anzusehen.
»Oh, das möcht’ ich doch meinen!« Reggie ließ sein Zahnlückenlächeln sehen. »Ohne Prahlerei, ihr versteht schon, ich bin ein absolutes As in dem, was ich tue. Meditation, das ist der Schlüssel – bring ihnen das bei, und die Miezen schnurren dir den ganzen Tag lang was vor. Haben mehr Talent dazu als Hunde, aber sogar Hunde kapieren es letztendlich. Hunde lassen sich in ihre früheren Leben zurückführen.« »Es sind vielleicht nicht so viele wie bei Katzen«, sagte Vivian. »Manche halten Hunde für beeinflußbarer«, erwiderte Reggie, und Flora wußte nicht zu sagen, ob er sich selbst ernst nahm oder nicht, »aber meiner Erfahrung nach stehen sie in besserem Kontakt zu ihren Gefühlen und gehen auf dem Weg zu wahrer Selbsterkenntnis mehr Risiken ein.« Ein Hundegähnen wehte von Floras Füßen herauf. »Das alles klingt überaus beeindruckend«, beeilte sie sich zu sagen. »Meinen Sie nicht auch, Vivian?« »Keine Frage.« »Verflixt noch mal, mir liegt nichts daran, für jedermann ein Begriff zu sein. Letzten Sommer hab’ ich einen ziemlichen Dämpfer erhalten.« Reggie sah plötzlich geknickt aus. »War ‘ne ziemlich harte Nuß, und ob. Ein Freund von mir, ein wahnsinnig netter Kerl, hat mir eine Eintrittskarte zu einer der Gartenpartys im Buckingham-Palast gegeben. Schien eine einmalige Chance zu sein, mit der Queen über die Corgis zu plaudern. Nach allem, was man hört, könnte sie meine Hilfe brauchen, um sie auf Linie zu bringen. Doch als ich die Vorteile des Gesundbetens schilderte und Ihrer Majestät meine Karte geben wollte, erschienen wie aus dem Nichts zwei Männer und trugen mich zum Tor hinaus. Am nächsten Tag standen sogar ein paar Zeilen darüber in der Times. Zum Glück habe ich nicht viele Klienten verloren, obwohl die Zeitung
ausgegraben hatte, daß ich im Gefängnis war, aber man verliert doch den Glauben an die Royais.« »Oh, armer Reggie!« rief Flora gerührt. »Was für eine schlimme Erfahrung! Aber ich finde, du solltest Ihrer Majestät keine Schuld geben. Sie hätte sich bestimmt gern mit dir unterhalten, wenn diese aufdringlichen Sicherheitsbeamten dich nicht hinausbefördert hätten.« »Apropos hinausbefördern.« Vivian blickte auf die Uhr. »Möchten Sie, daß ich Edna Smith anrufe, Flora, und ihr sage, daß wir später kommen?« »Oh, na so was.« Reggie stand auf. »Snuffy sagte mir, daß ihr heute nachmittag irgendwo zum Tee eingeladen seid, und ich sitze hier, rede unentwegt und halte euch auf.« »Aber du kannst noch nicht gehen«, protestierte Flora. »Ich hab’ dir nicht mal was zu trinken angeboten.« »Du hast nicht zufällig irgendwo einen guten Malt Whisky versteckt? Nein, ich sehe schon. Tja, vielleicht ein andermal. Es hat mir wahnsinnig gut gefallen, meine Liebe. Hätte es um nichts in der Welt missen mögen, und hoffentlich läßt du mich mal wiederkommen. Ich verspreche, daß ich dir nicht lästig fallen werde. Aber« – er griff erneut in seine Tasche – »ich muß dir noch meine Karte geben. Nein, habe anscheinend keine bei mir. Leider geht mein Telefon momentan nicht, aber das müßte bald behoben sein.« »Bleib bitte noch einen Augenblick«, sagte Flora. »Meine Kamera ist im Schlafzimmer, und ich möchte, daß Vivian ein Bild von dir und mir macht, Reggie, um unsere Wiedervereinigung festzuhalten.« »Famose Sache, hoffentlich gibst du mir später einen Abzug.« Vivian schoß das Vater-und-Tochter-Foto. Als das erledigt war, dachte Flora erst daran, Reggie zum Abschied einen Kuß auf die Wange zu geben, begnügte sich dann aber damit, ihm
die Hand zu schütteln. Als sie sich an der Ladentür trennten, war sie sowohl erleichtert als auch ein wenig traurig»Sie sehen besorgt aus«, bemerkte Vivian, als sie unter dem grauen, von Wolken bedeckten Himmel zu Edna Smith’ Siedlung schlenderten. »Ich lasse Nolly ungern allein, aber ich weiß, daß ich damit irgendwann anfangen muß. Und er ist ja nicht zum Tee eingeladen.« »Das war ein kluger Schachzug, das Foto zu machen.« »Ich will es Mrs. Bellows zeigen, wenn ich sie besuche, falls meine Mutter irgendwann mal mit meinem Vater auf Gossinger war. Mag sogar sein, daß sie auf der Hochzeit dabei war und ihn und Reggie als ein und dieselbe Person identifizieren kann. Und wenn Mrs. Bellows nicht helfen kann, spreche ich mit Sir Henry und zeige ihm das Foto. So dumm bin ich nicht, in blindem Vertrauen jemanden zu akzeptieren, der aus heiterem Himmel bei mir auftaucht. Aber irgend etwas in mir sagt, daß Reggie tatsächlich mein Vater ist.« »Ich glaube, Sie haben recht, Flora. Wenn er ein Betrüger wäre – und ich muß erst noch herausfinden, warum er es sein könnte –, hätte er vermutlich seine Hausaufgaben gemacht und das Gespräch mit überzeugenden Details gespickt, die Sie wiedererkennen würden. Zum Beispiel hätte er gefragt, ob Ihr Großvater immer noch seinen wunderbaren Schokoladenkuchen backt, oder ob Sie noch den PatchworkTeddy haben.« »So was, daß Sie sich an Buttons erinnern!« »Als Sie klein waren, habe ich Sie nie ohne ihn gesehen. Eine Zeitlang dachte ich, ihr wärt siamesische Zwillinge.« »Was halten Sie von ihm?« »Buttons?« »Nein, Dummerchen! Reggie.«
»Er hat mir ganz gut gefallen, aber man sollte ihn mit Vorsicht genießen. Und Sie?« »Mir ging’s genauso.« Flora trat von der Straße zurück, als ein Bus vorbeibrauste. »Er tat mir irgendwie leid. Es muß manchmal furchtbar ermüdend sein, sich allein mit Köpfchen durchs Leben zu schlagen, aber ich schätze, er hat nichts anderes gelernt, als ein Gauner zu sein.« »Wenn Sie gleich noch ›Armer Daddy!‹ sagen« – Vivian nahm ihren Arm – »dann werde ich Ihren bezaubernden Hut unter den nächsten Lastwagen werfen.« »Das würden Sie nicht wagen.« Flora entwand sich ihm und rannte zur nächsten Ecke. »Ich würde gern noch intensiver mit Reggie über meine Mutter sprechen«, sagte sie, sobald er sie eingeholt hatte, »aber ich habe den Eindruck, er hat sie nicht wirklich gekannt. Und um Ihre unausgesprochene Frage zu beantworten, Sir, nein, mir ist nicht zumute, als hätte ich ein Erdbeben überstanden. Also wo wohnen Edna Smith und Boris noch mal? Hat sie dritte oder vierte Etage gesagt?« »Folgen Sie mir«, sagte Vivian. »Vergessen Sie nicht, ich war gestern schon mal hier, um ihr den Ersatzschlüssel zum Laden zu bringen. Dabei fällt mir ein: Ich muß ihn wieder mitnehmen.« »Ich finde, wir sollten ihn bei ihr lassen, für Notfälle«, erwiderte Flora, während sie die zu beiden Seiten von Steinmauern umschlossene Treppe erklommen. »Oh, Gott sei Dank, wir sind da.« »Ja. Ich hatte allmählich auch schon Höhenangst bekommen.« Vivian drückte auf die Türklingel, und im Nu wurden sie in einen schmalen Flur eingelassen. Die Tapete hatte ein flimmerndes geometrisches Muster, von dem einem die Augen weh taten. Rockmusik drang durch eine der Türen, und der Duft von Geröstetem zog von der Küche am Ende des Flurs zu ihnen herüber.
»Wie schön – ich habe schon am Fenster Ausschau nach Ihnen gehalten!« Edna Smith, in einem mit Pflaumen bedruckten Baumwollkleid, das Haar zu elektrisierten Ringellocken aufgedreht, ging voran ins Wohnzimmer. Es war in Schwarz und Grau gehalten, mit viel Gold und so vielen Spiegeln geschmückt, daß man sich fast wie in einem Spiegelkabinett vorkam. »Setzen Sie sich – wir legen hier keinen Wert auf Förmlichkeit. Die Sessel sind wirklich bequem. Haben mich ein Stück ärmer gemacht, aber alles hat seinen Preis, sag’ ich immer.« »Wie gemütlich«, sagte Flora und wählte den schwarzen Ledersessel zur Linken des kleinen, jedoch knallheißen Elektroheizgeräts. »Wir haben uns schon auf den Nachmittag gefreut, nicht wahr, Vivian?« »Den ganzen Tag.« »Ach, kommen Sie.« Edna gab ihm zum Spaß einen Schubs. »Wer’s glaubt. Und jetzt tun Sie, was ich Ihnen sage, und bewegen Ihren Hintern zu dem Sessel Ihrer Freundin gegenüber.« »Ach, ich muß Ihnen noch was sagen«, stieß Flora schnell hervor, während ihr die Hitze des Ofens ins Gesicht stieg. »Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie gestern wegen der Möbel ausgeholfen haben, die Möbelpacker reingelassen und Ihnen wohl auch gezeigt haben, wo sie alles hinstellen sollen.« »Na, solche Dinge kann man ja schlecht den Männern überlassen.« Edna Smith stellte an jedes Ende des schwarzen Couchtischs mit der Spiegelplatte eine Schale mit Erdnüssen. »Um ein Zimmer einzurichten, braucht es die Hand einer Frau, und dabei fällt mir ein – Boris wird gleich meine Hand zu spüren bekommen, wenn er seinen CD-Player nicht leiser dreht. Ich habe ihn heute zu Hause bleiben lassen, obwohl ich ihm die Bauchschmerzen nicht abgenommen habe, trotz allen Stöhnens und Ächzens, aber ich habe ihm gesagt, er soll keinen
Lärm machen und Mr. Phillips nicht ärgern, das ist der Untermieter, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er ist zwar genügsam, aber das heißt nicht, daß der arme Mann es ertragen muß, wenn ihm die Trommelfelle platzen.« Ednas Miene ließ erkennen, daß sich hinter ihrer wohlgepolsterten Hülle und der dicken Make-up-Schicht ein eiserner Wille verbarg. »Ich habe beschlossen, Boris’ schlechte Laune nicht länger zu dulden, also warum machen Sie beide es sich nicht richtig bequem, während ich kurz zu ihm gehe und ihm den Kopf zurechtsetze, bevor ich den Tee bringe? Sie können schon mal mit den Erdnüssen anfangen. Und vielleicht möchten Sie ja einen Blick in die Zeitung werfen.« Sie legte die Daily Mail auf den Couchtisch. »Es steht eine Meldung drin – falls Sie sie finden können –, daß die Königin nach Bethnal Green kommt, um den neuen Flügel des Kinderkrankenhauses einzuweihen. Ich weiß nicht mehr, welches Datum angegeben ist, aber es ist irgendwann in allernächster Zeit.« »So laut spielt Boris seine Musik doch gar nicht«, sagte Flora, als Edna den Raum verließ und die Tür hinter sich schloß. »Meinen Trommelfellen geht es bestens«, erwiderte Vivian. »Aber nachdem ich ihn neulich kennengelernt habe, kann ich verstehen, daß die Geduld seiner Großmutter allmählich erschöpft ist.« »Oder vielleicht ist der Untermieter ein elender alter Brummbär. Was eigentlich schade ist, weil ich nämlich schon überlegt habe, ob er nicht in Wahrheit Ednas ehemaliger Freund ist, der sie wiederhaben will, statt ein Verwandter.« »Sie sind eine solche Romantikerin! Ich vermute, das einzige Feuer, das dieser Mann entzünden will, ist das unter seinem Abendessen. Wissen Sie denn nicht, daß wir Männer alle gleich sind und immer den bequemsten Weg wählen? Ich hab’ auch schon überlegt, daß Sie sicherlich eine exzellente Köchin sind, Flora.« Vivian nahm die Zeitung.
»Das bin ich tatsächlich, aber was hat das mit dem Teepreis in China zu tun?« Flora hoffte, daß sie nicht rot wurde. »Warum suchen Sie nicht die Meldung über die Queen und die Einweihung in Bethnal Green heraus?« »Sie denken an den Brief, den Sie Ihrer Majestät geschrieben haben, um das königliche Patent für die Silberpolitur Ihres Großvaters zu erhalten. Sie denken doch nicht, einer der Corgis könnte ihn gefressen haben? Weil ich nämlich sicher bin, daß Sie eine Antwort bekommen werden.« Vivian blätterte die Zeitung durch und hatte gerade besagte Notiz gefunden, als Boris Smith hereinkam, stämmig, mit frischem Gesicht und abstehendem dunkelblondem Haar, als habe er auf Befehl seiner Großmutter den Kopf unter laufendes Wasser gehalten und ihn anschließend trockengerubbelt. Seine Sommersprossen und Pausbacken gaben ihm etwas Einnehmendes, trotz seiner finsteren Miene, die sie bereits von ihrer letzten Begegnung mit ihm kannten. »Hallo, Freunde und Nachbarn«, sagte er und ließ sich auf das kleine Sofa fallen. »Grandma hat gesagt, ich soll herkommen und nett zu Ihnen sein. Ich soll sagen, daß mir mein unhöfliches Verhalten von neulich leid tut.« »Und ist es so?« fragte Flora. »Eigentlich nicht.« Boris nahm eine Handvoll Erdnüsse und warf eine in seinen Mund. »Manchmal ist es einfach stark, mies drauf zu sein. Es hatte nichts mit Ihnen zu tun, wirklich nicht.« »Nichts mit deinem Besuch auf Gossinger?« Vivian legte die Zeitung hin. »Mit Ihnen hab’ ich nicht geredet.« Boris mampfte die Erdnüsse und wischte sich die Hände an den Knien ab. »Also, es tut mir leid« – er fing Floras Blick auf, dann wandte er sich ab – »daß der alte Knacker, der Ihr Großvater war, abgedankt hat, aber was hat das mit mir zu tun?«
»Hast du dich an dem Tag zufällig selbständig gemacht und dich vom Rest der Gruppe entfernt?« fragte Vivian. »Wer hat Ihnen das erzählt?« Boris klammerte sich an seinen Trotz wie an einen Schild. »Waren Sie in der Schule bei Mr. Ferncliffe?« »Ich habe ihn zufällig im Zug nach London getroffen«, sagte Flora. Dieser Junge weiß etwas, dachte sie betroffen. Vielleicht hat er Geräusche aus der Garderobe gehört – Laute, die darauf hindeuteten, daß jemand in Not war, aber er ging nicht rein und sah nach, und jetzt ist er ganz krank vor Reue. »Alte Wollperücke – so nennen wir Mr. Ferncliffe – kann Ihnen gar nichts erzählt haben.« Boris gab sich alle Mühe, cool zu wirken. »Weil es nämlich nichts zu erzählen gibt, außer daß ich mich nach oben geschlichen habe, um meiner Großtante Mabel hallo zu sagen, und warum sollte ich nicht? Ich wollte einen Fünfer bei ihr abstauben, wenn Sie’s unbedingt wissen müssen. Aber die alte Vogelscheuche kriegte einen Anfall, als ich in dieses Turmzimmer kam, deshalb bin ich schnell wieder abgehauen. Großmutter sagt« – er wandte sich an Vivian – »Sie sind Sir Henrys Neffe.« Boris atmete ein wenig leichter. Er hielt es für clever, daß er das gesagt hatte, da er auf keinen Fall preisgeben durfte, daß er Mr. Gossinger an jenem Tag gesehen und sein Gespräch mit seinem Onkel belauscht hatte. Das würde nur weitere Fragen provozieren, was zur Katastrophe führen könnte. Bei dem Gedanken, was alles passieren könnte, brach Boris erneut in Schweiß aus, so wie vorhin, als er zwangsläufig den Kopf unter laufendes Wasser hatte halten müssen, bevor er ins Wohnzimmer ging. Ob man ihm erlauben würde, so überlegte er, seinen CD-Player ins Gefängnis mitzunehmen? »Deine Großmutter sagt, Tante Mabel hätte dir ein Geschenk für sie mitgegeben.« Vivian war nicht entgangen, daß das
Gesicht des Jungen glänzte und wie er sich immer wieder die Hände an den Hosenbeinen abwischte. »Es war nicht für mich, und außerdem war es ein stupides Geschenk. Großmutter hat es dem Kirchenbasar gespendet.« »Da wären wir!« Edna stieß die Tür auf und erschien mit einem Tablett, das ihr unverzüglich von dem stets höflichen Vivian abgenommen wurde. »Ich hab’ schnell noch ein paar Hefeteilchen geröstet. Die anderen, die ich schon vorbereitet hatte, bevor Sie kamen, waren steinhart geworden. Haben Sie sich nett unterhalten?« Ihr Blick ging zu Boris, der sich noch Erdnüsse nahm. »Wir haben über die Königin gesprochen.« Flora entschied, die Wahrheit ein wenig zu frisieren, einmal wegen Boris – seine finstere Miene, die nicht zu den Pausbacken und den Sommersprossen passen wollte, ging ihr ans Herz –, und weil sie, wenn sie weiter über den letzten Tag im Leben ihres Großvaters nachdachte, die Teeparty schließlich noch verderben würde. »Nachdem Sie sagten, daß Ihre Majestät nach Bethnal Green kommen soll, haben Vivian und ich von dem Brief gesprochen, den ich ihr vor einigen Wochen geschrieben habe. Nein, wir sind keine Busenfreundinnen oder so.« Flora lachte über Ednas erstaunte Miene. »Es ging um die Silberpolitur meines Großvaters.« Und sie erklärte die Sache mit dem königlichen Patent, während Edna die Teetassen verteilte. »Was für eine schöne Idee, um Ihrem Großvater eine Freude zu machen«, sagte Edna mit einem bedeutungsvollen Blick zu Boris. »Und ich bin sicher, Sie werden schon in Kürze eine ermutigende Antwort erhalten, meine Liebe. Ich war immer überzeugt, daß die Königin ein wirklich gutes Herz hat; nur ihr Haar läßt sie so streng erscheinen. Ich würde es liebend gern mal in die Finger kriegen, es ein wenig auflockern. Sie war ein so hübsches Mädchen!« Edna setzte sich neben Boris aufs
Sofa. »Ich weiß noch, wie sie aussah, als sie nach dem Tod ihres Vaters aus Afrika zurückkam und aus dem Flugzeug stieg. Ihre Augen waren ganz verschleiert und traurig, und alle wußten, daß sie nie wieder jung sein würde. Erst fünfundzwanzig Jahre alt, man mag gar nicht daran denken. Und ich glaube kein Wort davon, wenn manche Leute behaupten, sie hätte nie wie eine richtige Mum mit ihren Kindern gespielt, zum Beispiel im Bad Seifenblasen gemacht, weil für sie immer die Hunde an erster Stelle standen.« Flora lächelte. »Sie sind wie mein Großvater. Mrs. Bellows, die Haushälterin auf Gossinger Hall, als ich klein war, sagte immer, in Grandpas Augen käme Gott erst an zweiter Stelle hinter Ihrer Majestät. Sie werden’s nicht glauben, aber ich war als kleines Mädchen richtig eifersüchtig auf seine Ergebenheit gegenüber der Königin. Ich weiß noch, wie ich Zeter und Mordio schrie, als sie einmal im Fernsehen gezeigt wurde und Grandpa die Partie Ludo unterbrach, die wir gerade spielten, um sich anzusehen, wie sie in einer offenen Kutsche zur Parlamentseröffnung fuhr.« »Hat er Sie ins Bett geschickt?« Boris wurde ein wenig munterer. »An den Rest erinnere ich mich nicht mehr, nur daran, daß ich offenbar ein schlimmes Kind war.« »Aber das weiß die Queen ja nicht.« Vivian nahm sich ein Hefeteilchen von dem Teller, den Edna herumreichte. »Und wenn keiner von uns hier über Ihre Vergangenheit auspackt, dürfte es Sie nicht daran hindern, in den Genuß des königlichen Patents zu kommen.« »Ich fürchte«, sagte Flora kopfschüttelnd, »mein Brief wird nichts nützen. Viel besser wäre es, ich ließe der Queen ein Fläschchen von der Politur zukommen. Nur weiß ich nicht wie, außer ich schleiche mich heimlich in den Buckingham-Palast. Und ich möchte um keinen Preis so enden wie Reggie und von
Sicherheitsbeamten mit Schimpf und Schande hinausbefördert werden.« Warum hatte sie das nur wieder gesagt? Jetzt mußte sie Edna erklären, wer Reggie war. Im Prinzip machte es ihr nichts aus, sie hatte nur allmählich den Eindruck, daß sie zu diesen schrecklichen Leuten gehörte, die immer das Gespräch an sich rissen, um sich wichtig zu machen. »Igitt!« Boris zeigte mehr Interesse an seiner Tasse als an der Kurzversion der Geschichte um Floras langvermißten Vater. »In meiner Tasse schwimmen Teeblätter, die wie tote Fliegen aussehen!« Vivian und Flora hatten ebenfalls hin und wieder auf etwas Festes gebissen und tranken jetzt vorsichtiger. »Oder sind es etwa Fliegen?« Boris tauchte einen Finger hinein, um ihn anschließend zu inspizieren. »Du bist unmöglich!« Edna stand auf. »Blamierst mich vor meinen Gästen! Ich hätte dir schon vor zehn Minuten eine Ohrfeige geben und dich rausschicken sollen. Und spiel deine Musik nicht mehr so laut. Ach so, Mr. Phillips möchte, daß du ihm eine Tasse Tee bringst, das habe ich ganz vergessen. Aber ist ja auch kein Wunder, daß ich neuerdings ein Gedächtnis wie ein Sieb habe, bei deinem ungezogenen Verhalten. « »Ich hasse diesen elenden alten Mistkerl!« Boris knallte seine Tasse hin und verpaßte dem Couchtisch obendrein einen Tritt. »Das reicht. Denk dran, er hilft uns, die Miete zu bezahlen.« »Ich wünschte, er wäre tot!« »Und untersteh dich, in seinen Tee zu spucken.« »Nein, ich tue lieber Gift rein.« »Wer möchte heutzutage Großmutter sein?« seufzte Edna, als die Tür hinter ihrem Enkel zuknallte. »Ich sag’ Ihnen, jeden geschlagenen Tag muß ich mein Haar nachtönen, damit das Grau nicht durchkommt.« »Bitte seien Sie nicht so niedergeschlagen«, sagte Flora.
»Es ist schwer, nicht zu verzweifeln, und es tut mir leid wegen des Tees. Mir sind die Beutel ausgegangen, wissen Sie, und ich mußte mir was von dem losen Zeug von einer Nachbarin leihen. Und obwohl ich überall gesucht habe, konnte ich mein Teesieb nicht finden. Das ist wohl die Strafe dafür, daß ich das Sieb, das Mabel mir geschenkt hat, der Kirche gespendet habe. Aber in dem Augenblick war ich so durcheinander. Es war ein schrecklich schmutziges altes Ding, schwarz wie das Innere eines Schornsteins. Also wirklich, dachte ich, Mabel hat vielleicht Nerven, mir so was durch Boris zu schicken. Sie dachte wohl, ich würde es für antik halten und mir vor Freude ins Hemd machen.« »Wie sah es aus?« Die Hitze des Ofens machte Flora zu schaffen, sie fühlte sich angegriffen. »Ich meine, welche Form hatte es?« »Es war rund«, sagte Edna. »Oh!« sagte Flora. Allmählich erholte sie sich wieder. »Ich meine, das Innere des Filters und die Auffangschale waren rund. Durch die Henkel an den Seiten wirkte es eher oval. Das kam auch noch dazu«, fuhr Edna empört fort, »es war wie ein Vogel geformt, und Mabel weiß, daß ich Vögel nicht ausstehen kann.« »War es…« Flora wußte, ohne hinzusehen, daß Vivian sich ebenfalls gespannt aufgesetzt hatte. »… War es zufällig ein Schwan?« »Ja, stimmt, würde ich schon sagen«, erwiderte Edna. »Gibt es etwas, das ich über dieses Teesieb wissen sollte?« »Regen Sie sich nicht auf«, sagte Vivian. Er stand auf und griff nach Floras Hand. »Wenn es das Sieb ist, das wir meinen, gilt es bereits seit zweihundert Jahren als vermißt.«
Kapitel 16 »Ich begreife nicht, warum Lady Gossinger das Teesieb ihrer Schwester geschickt hat. Es sei denn, sie wußte nicht, daß es das Sieb war, das Königin Charlotte gehörte und dessen Verschwinden für soviel Wirbel sorgte.« Flora und Vivian gingen am späten Nachmittag im Nieselregen zur Wishbone Street zurück. »Natürlich wußte sie es! Sie muß hundertmal gehört haben, wie Onkel Henry es beschrieb.« Vivian glaubte genau zu wissen, warum Mylady diesen Verrat inszeniert hatte. Mabel war außer sich gewesen vor Zorn über Onkel Henrys Pläne mit Gossinger und hatte auf kleinliche Weise Rache genommen, eine Rache, die besonders süß war, weil ihr Mann nichts davon ahnte. »Was für eine Gelegenheit, sich jedesmal ins Fäustchen zu lachen, wenn er das Thema des entwendeten Teesiebs anschnitt!« »Aber wie ist es in ihren Besitz gelangt?« Flora schlang die Arme um ihren Oberkörper, um sich zu wärmen. Wie dumm von ihr, daß sie nicht an eine Jacke gedacht hatte. Im Gehen zog Vivian seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. »Ja, das ist die entscheidende Frage. Die Familie hat Gossinger Hall in den letzten zweihundert Jahren immer wieder von oben bis unten durchkämmt, um das Stück zu finden. Ich weiß noch, wie ich es als Kind selber getan habe.« »Ich auch«, sagte Flora. »Und jetzt, da wir wissen, daß es tatsächlich noch existiert, ist es erneut verschwunden, auf dem Kirchenbasar von jemandem käuflich erworben, der vermutlich ein Pfund dafür bezahlt hat und nicht die geringste Ahnung hat, wie wertvoll es ist. Oder daß es rechtmäßig der königlichen Familie gehört.«
»Ich bin so sauer«, stieß Vivian hervor, »daß ich gerade beinahe vor den Bus gelaufen wäre. An den schwindelerregend lauten Verkehrslärm gewöhnt man sich, und ich habe weder nach links noch nach rechts geschaut. Sie wären auch dran gewesen. Tut mir leid.« »Irgend etwas muß uns doch entgangen sein.« Flora schob die Arme in die Ärmel seiner Jacke und hielt sie vor der Brust zusammen, so daß sie den Blick, den Vivian ihr zuwarf, nicht mitbekam. »Vielleicht hat Lady Gossinger Edna das Teesieb irrtümlich geschickt. Könnte es nicht sein, daß sie es gerade gefunden hatte und es einpackte, um Sir Henry später damit zu überraschen? Aber sie hatte noch ein anderes Päckchen etwa von der gleichen Größe, das sie ihrer Schwester schicken wollte, und dann verwechselte sie die beiden einfach?« »Sie glauben tatsächlich noch an Märchen, wie?« »Ich verurteile nur nicht gern jemanden, ohne sämtliche Fakten zu kennen«, erwiderte Flora, als sie in die Wishbone Street einbogen. »Und Edna hat uns schließlich erzählt, daß Lady Gossinger anrief, um nachzufragen, ob Boris ihr das Geschenk gegeben habe, und Edna sagte ihr, sie habe es dem Basar gespendet. Vielleicht wollte Mylady sie bitten, es ihr zurückzugeben, weil sie ihren folgenschweren Fehler bemerkt hatte.« »Wir können nichts anderes tun als hoffen«, sagte Vivian, »daß der Käufer nicht dachte, es sei Ramsch, wie es so oft passiert, wenn man mit einem Schnäppchen nach Hause kommt, und es in den Mülleimer geworfen hat.« »Wir müssen positiv denken«, pflichtete Flora ihm bei. »Aber das ist vermutlich nicht so einfach, wenn man bis auf die Haut durchnäßt ist. Möchten Sie Ihre Jacke nicht wiederhaben?« »Wir sind fast da.« »Versprechen Sie mir wenigstens, daß ich Ihnen bei der Suche nach dem Teesieb helfen darf?«
»Natürlich. Die Legende ist ebenso ein Teil Ihres Erbes wie meines. Ja, sogar noch mehr.« »Weil Grandpa so sehr an der Silbersammlung von Gossinger hing?« Flora spürte, wie ihre Liebe zu dem Mann an ihrer Seite aufging wie eine Blume, und es fiel ihr schwer, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Es ist wirklich nett von Ihnen, so zu denken, Vivian, aber wir wissen beide, daß es nicht stimmt. Was ist los? Sie gucken so komisch.« »Da steht eine Frau vor dem Laden.« »Na und?« Flora konnte nicht so weit sehen. Es regnete heftiger, so daß ihre Hutkrempe keinen Schutz mehr bot. »Vermutlich stellt sie sich unter, bis der Regen ein wenig nachläßt.« »Oder sie wartet auf unsere Rückkehr.« Vivian ging schneller. »Ja, ich hatte recht! Es ist Cousine Sophie, und zu ihren Füßen steht ein Koffer.« »Miss Doffit? Was will sie denn hier?« »Noch eine interessante Frage«, entgegnete Vivian. »Gott sei Dank seid ihr zurück, ihr beide, obwohl ich eigentlich nur mit Flora gerechnet hatte«, rief Miss Doffit. »Zum Glück warte ich erst seit fünf Minuten. Aber da drin ist ein Hund, der mich fortwährend anbellt. Und wie ihr seht, sind die Federn an meinem wunderschönen taubenblauen Hut klatschnaß, was weniger schlimm wäre, wenn sie von einem der Vögel stammten, die schwimmen können.« »Apropos.« Vivian brachte den Schlüssel zum Vorschein und steckte ihn ins Schloß. »Ich habe den bösen Verdacht, daß ich weiß, was dich hierherführt, Cousine Sophie. Es hat zumindest teilweise mit einem Teesieb in Form eines Schwans zu tun. Obwohl ich mir nicht im mindesten erklären kann, warum meine Tante nicht selbst gekommen ist.« Er hielt den beiden Frauen die Tür auf, damit sie vor dem Regen ins Haus flüchten konnten.
»Willst du damit sagen, du hast es? Daß Mabel sich ohne Grund in heillose Panik hineingesteigert hat?« Miss Doffit mußte schreien, um sich Gehör zu verschaffen, denn Nolly war ganz aufgeregt vor Freude darüber, aus dem Gefängnis entlassen zu werden und wieder mit Flora vereint zu sein. Ihr altes Gesicht legte sich verwirrt in Falten, und hätte Vivian nicht in eben diesem Augenblick ihren Koffer genommen, hätte sie sich vermutlich darauf niedergelassen. »Nein, wir haben es nicht.« Er schaltete das Licht ein. »Aber setzen wir dieses Gespräch im Trockenen fort, ja?« »Vivian, du solltest nicht so gereizt sein. Du ziehst voreilige Schlüsse…« Flora bildete mit Nolly auf dem Arm das Schlußlicht. »Oh, ist schon gut, meine Liebe.« Miss Doffit sprach leiser, sobald sie alle im Laden standen. »Man kann die Katze nicht wieder in den Sack stecken, wenn sie erst hinausgeschlüpft ist, und ich bin sicher, es ist besser so. Ich wäre nicht so alt geworden, ohne die Tatsache zu akzeptieren, daß man sich manchmal ins Unrecht setzt, indem man das Richtige zu tun versucht. Der springende Punkt ist folgendes, Vivian. Ihr müßt verstehen, daß die arme Mabel wegen dieser Sache ganz krank geworden ist. Sie hat entsetzliche Angst, daß Henry ihr nie verzeihen wird, wenn er herausfindet, was sie getan hat, obgleich ich nicht weiß, wie er es jemals erfahren sollte. Nicht, wenn wir alle versprechen, kein Sterbenswort zu verraten.« »Da ist noch ihre Schwester«, sagte Vivian grimmig. »Aber sie weiß nicht – « »Seit heute nachmittag schon.« »Das war meine Schuld.« Floras Lippen zitterten. »Ich habe ausgeplaudert, daß das Teesieb eine langvermißte Kostbarkeit ist. Aber ich glaube eigentlich nicht – auch wenn ihre Beziehung zu Lady Gossinger ziemlich abgekühlt ist –, daß Edna Smith es Sir Henry verraten würde. Ihr Leben ist schon
kompliziert genug. Wie dem auch sei, falls wir das Teesieb zurückbekommen können, ist die Sache damit doch bestimmt ausgestanden?« »Dann stünde nur noch das Wort der Schwester gegen Mabels Wort, daß sie das Teesieb bekommen hat und so undankbar war, es an den Kirchenbasar wegzugeben.« Miss Doffit nahm ihren durchnäßten Hut ab und drückte ihn aus. »Ich weiß noch, wie meine Mutter einmal dem Frauenverein für das Sommerfest ein Diadem spendete. Was zum Teil erklärt, warum wir letztlich ohne Geld dastanden und ich mein Leben lang, so wie eine Frau ohne Land, bei anderen Leuten unterschlüpfen mußte.« »Du brichst mir gleich das Herz«, sagte Vivian. Cousine Sophie lächelte ihn an, und ihre Falten vermehrten sich um das Hundertfache. »Ich schätze, wenn es hart auf hart kommt, könnte Mabel sagen, daß sie ihrer Schwester zwar ein Teesieb geschenkt hat, es jedoch nicht das von Königin Charlotte war.« Flora setzte Nolly ab, um sich besser auf die Verteidigung Ednas konzentrieren zu können. »Ich finde das wirklich unfair. Ich halte Mrs. Smith für eine ehrenwerte Person, der all das vermutlich ebenso schwer im Magen liegt wie Lady Gossinger. Vielleicht sogar noch mehr, weil sie sehr königstreu ist und weiß, daß sie – Mrs. Smith, meine ich – etwas weggeben hat, das Ihrer Majestät gehört. Die Ärmste, ich glaube nicht, daß sie heute nacht ein Auge zutun kann.« »Das ist einer von Floras größten Reizen«, schwärmte Vivian. »Ihr Vertrauen in die menschliche Natur ist grenzenlos.« »Ich finde, sie hat viele Reize«, entgegnete Cousine Sophie, »was nicht heißen soll, daß Henry recht damit hatte, sie – «, sie hielt gerade noch rechtzeitig inne und schlug geschickt einen Haken, »- sie so zu verwöhnen, als sie klein war. Aber ich war fast genauso schlimm, kann ich mir denken. Wir hatten viel
Spaß, nicht wahr, Flora, als wir oben auf dem Speicher Verkleiden spielten? Einer der Gründe, warum ich nie geheiratet habe, war der, daß mir nie ein Herzog einen Antrag gemacht hat. Daher war es sehr amüsant, so zu tun, als sei ich die Herzogin von Devon. Ich glaube, das war meine Rolle. Und ich glaube mich zu erinnern, daß Sie nichts weiter als eine Lady sein wollten, im Sinne eines Titels. Und in Erinnerung an jene vergnügliche Zeit habe ich gehofft, meine Liebe, daß Sie mich ein paar Tage lang bei sich aufnehmen, wenngleich ich die Schatzsuche mit Freuden euch überlasse. Daran liegt mir nun wirklich nichts, obwohl Mabel mir das Geld für etliche Taxifahrten gegeben hat.« »Ich quartiere dich in einem ausgezeichneten Hotel ein, Cousine Sophie«, sagte Vivian. »Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee wäre.« Die Miene der alten Dame wurde stur. »Was ist, wenn ich nachts stürze und niemand mich hören kann? Und ich möchte dann eine Tasse Tee trinken, wenn mir danach ist. Das ist in meinem Alter doch nicht zuviel verlangt, oder?« »Natürlich können Sie hierbleiben«, sagte Flora schnell. »Zu der Wohnung oben gehören zwei Schlafzimmer, und beide sind möbliert, weil Vivian so liebenswürdig war, Sir Henry zu bitten, den Inhalt der Räume, die mein Großvater und ich auf Gossinger bewohnten, herbringen zu lassen.« »Das Bett in dem kleineren Zimmer ist extrem hart«, sagte Vivian. »Flora, ich muß mit Ihnen reden.« »Wir reden doch.« »Ich meine allein. Nichts für ungut, Cousine Sophie, aber es ist wichtig und außerdem privat.« »Natürlich, mein Lieber.« »Wie war’s dann, wenn ich dich nach oben begleite, damit du dich im Bad abtrocknen und umziehen kannst? Anschließend kannst du dich im Wohnzimmer am Kamin aufwärmen. Es ist
ein elektrisches Feuer. Ich schalte den Ofen für dich ein«, sagte Vivian zu seiner Cousine. »Und in der Zwischenzeit gehe ich mit Nolly raus«, sagte Flora. »Ich gehe nicht weit, und wenn ich zurückkomme, gebe ich ihm sein Futter.« Sobald Vivian und Miss Doffit nach oben gegangen waren, holte Flora die Hundeleine und befestigte sie an Nollys Halsband. Sie fühlte sich eigenartig unruhig, sagte sich jedoch, daß ein Hefeteilchen eben nicht reichte, um die Zeitspanne zwischen Mittagessen und Abendbrot zu überbrücken. Und wenn das nicht der Grund war, dachte sie, als sie mit Nolly in den Regen hinaustrat und auf den nächstbesten Laternenpfahl zusteuerte, dann mußte es daran liegen, daß es ein anstrengender Tag gewesen war – die Begegnung mit Reggie, vom Rest des Nachmittags ganz zu schweigen. Doch sie hatte sich Vivians angespannte Miene, als er sagte, er müsse mit ihr reden, nicht nur eingebildet. Und sie glaubte nicht, daß er sich nur sorgte, weil ihr Kosten entstehen würden, wenn Miss Doffit bei ihr wohnte. Das war zu banal. Nein, da war noch etwas, und während ihr Verstand ihr sagte, es könne nichts Bedrohliches sein, sagte ihr Herz ihr etwas anderes. Sie war wieder im Laden und hatte gerade erst Nollys Futter und Wasser in Näpfe gefüllt, als Vivian nach unten kam. »Ich wünschte, wir könnten nach oben in die Wohnung gehen«, sagte er zu ihr, »aber dann könnte Cousine Sophie uns hören. Und es ist wichtig, daß sie es nicht mitbekommt. Setzen wir uns doch auf den Fußboden, wie am Abend des Picknicks. Flora, jener Abend scheint eine Ewigkeit zurückzuliegen. So vieles ist passiert. Sie… sind passiert.« »Wollen Sie, daß ich mich setze, weil Sie glauben, ich könnte das, was Sie zu sagen haben, im Stehen nicht verkraften? Also ja. Sie machen mir angst, Vivian.«
»Wollen Sie nicht?« Er zeigte mit schwungvoller Geste auf den Fußboden. »Nein.« Flora ballte die Hände zu Fäusten. »Bitte spannen Sie mich nicht auf die Folter.« »Ich hätte es Ihnen schon an jenem ersten Abend sagen sollen; ich hatte es auch vor – es war der Grund, warum ich zu Ihnen kam, aber ich habe es mir ausgeredet, obwohl ich wußte, daß es richtig gewesen wäre.« »Vivian, bitte seien Sie nicht traurig.« Ihre Hand glitt wie ohne ihr Zutun zu seiner Wange. »Sie sind mein Freund. Ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas sagen könnte, aber ich muß es einfach tun.« Wie eine unbeteiligte Zuschauerin sah sie ihn ihre Hand in seine nehmen und ihre Handfläche küssen. »Ich vertraue Ihnen«, sagte sie, »und ich weiß, daß Sie getan haben, was Sie für das beste hielten. Jetzt sagen Sie’s mir.« »Es hat mit dem Tag zu tun, an dem Ihr Großvater starb…« »Ja?« Ihr Herz pochte zweimal heftig und verstummte dann. »Wir saßen oben im Turmzimmer – Onkel Henry, Tante Mabel, Cousine Sophie und ich – und warteten auf den Tee.« »Ich hatte mich verspätet.« »Genau.« Vivian drückte ihre Hand ein letztes Mal. »Als Sie gegangen waren, rückte Onkel Henry mit der Neuigkeit raus, er habe beschlossen, sein Testament zu ändern.« »Aber inwiefern hängt das mit…?« »Mit dem Tod Ihres Großvaters zusammen? In jeder Hinsicht, glaube ich, denn er hatte entschieden, Gossinger Hall Hutchins zu hinterlassen.« »Ich begreife das nicht!« Flora griff hinter sich, als taste sie nach der Rückenlehne eines unsichtbaren Stuhls. »Wieso sollte er so etwas tun?« »Das Haus ist kein unveräußerliches Erbgut, insofern gibt es keine rechtlichen Hindernisse. Seine Argumentation war in meinen Augen sehr schlüssig, sie basierte auf dem Gossinger-
Silber.« Vivian kam sich vor, als sage er einen einstudierten Text auf. »Die Sammlung wurde eines Nachts in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts von der Tochter eines ortsansässigen Silberschmieds ins Haus gebracht. Dieser Mann war mit den Geschichten über den Schweinehirten von Stowe aufgewachsen, dem Mann, der seine Lebensersparnisse der Kathedrale von Lincoln vermacht hatte. Der Schmied wünschte seinen Nachlaß ähnlich zu regeln. Also bat er sie, alle unverkauften Stücke aus seiner Werkstatt am Tage seines Todes nach Gossinger zu bringen. Sie sollte darum bitten, daß der junge Sir Rowland die Stücke mitnahm, wenn er das nächste Mal mit dem Wagen nach Lincoln fuhr, um sie der Kathedrale zu übergeben.« »Also so ist es nach Gossinger gelangt.« Flora sprach mit steifen Lippen. »Aber es lief nicht so, wie der Silberschmied es geplant hatte. Als das Mädchen dort ankam, saß Sir Rowland mit seinen Zechgenossen am Spieltisch. Er hatte schon den ganzen Abend eine Pechsträhne, und um sich vor dem finanziellen Ruin zu retten, setzte er in einem letzten verzweifelten Gebot alles auf eine Karte – sein Einsatz war Gossinger. Er muß es für göttliche Fügung gehalten haben, als das Mädchen mit den Körben voll Silber auftauchte. Beim nächsten Blatt war das Silber sein Einsatz. Und sein Glück wendete sich. Er bekam nicht nur Gossinger zurück, sondern gewann noch ein kleines Vermögen hinzu. Laut Familienlegende gab er dieses Geld, das damals weit mehr gewesen sein mag, als das Silber wert war, der Kathedrale von Lincoln. Von dem Silber wollte er sich nicht trennen, da er wie jeder Spieler abergläubisch war und dachte, solange das Silber im Haus blieb, wäre Gossinger gegen jedes Unglück gefeit. Was das Mädchen betrifft, so wird berichtet, daß sie und Sir Rowland sich ineinander verliebten. In anderen Quellen heißt es, daß sie ihn, von Wut verzehrt,
verfluchte und ihr Geist bis zum heutigen Tag auf Gossinger umgeht.« »Aber warum« – Flora wollte sich im Gespinst der Geschichte verlieren, wurde jedoch unerbittlich in die Gegenwart zurückbefördert – »warum hatte Sir Henry beschlossen, Gossinger meinem Großvater zu hinterlassen?« »Weil er weiß, daß Hutchins ein Abkömmling der Familie des Silberschmieds war.« Vivian rieb sich die Stirn. »Onkel Henry glaubt, daß Sir Rowland eine große Sünde beging, indem er sich den Wünschen eines Sterbenden widersetzte, und daß er als Wiedergutmachung, wie verspätet auch immer, das Silber zusammen mit Gossinger, das der Familie ohne die Sammlung nicht mehr gehört hätte, dem rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben sollte.« »Und mein Großvater war der nächste noch lebende Nachkomme?« »Ja. Ein ähnlicher Fall wie mit dem Teesieb. Wo es all die Jahre auch gesteckt haben mag, soll die Familienehre wiederhergestellt werden, muß es dahin zurück, wo es hingehört. Sie begreifen doch, was all dies bedeutet, oder, Flora?« »Natürlich begreife ich es! Ich bin ja nicht völlig blöd!« Sie nahm Nolly hoch, der geduldig dagesessen hatte und sich den Anschein zu geben suchte, als sei es ihm gleichgültig, nicht in dieses bedeutsame Gespräch einbezogen zu werden. »Sie haben mir gerade das Motiv für die Ermordung meines Großvaters geliefert. Werden Sie mir jetzt auch noch sagen, wer ihn ermordet hat?« »Sie glauben doch nicht…?« Vivian wurde blaß. »Daß Sie -?« Floras Augen brannten. »Wie können Sie nur annehmen, daß ich so etwas denke?« »Weil Gossinger mir zugefallen wäre.«
»Aber es bedeutet Ihnen nichts!« »Das stimmt zwar, aber es könnte mir ja ebensowenig gefallen haben, daß ein Außenstehender es erben soll. Seien wir realistisch: Ich hätte es verkaufen und von dem Erlös recht bequem leben können.« »Wir vergeuden unsere Zeit«, sagte Flora ungeduldig. »Glauben Sie, Miss Doffit war die Mörderin?« Bei dem Gedanken, daß die alte Dame, die in diesem Augenblick so zufrieden wie eine Katze am Feuer saß, eine kaltblütige Mörderin war, lief Flora ein Schauer über den Rücken. »Ist das der Grund, warum Sie sie hier nicht einquartieren wollten?« »Nein, ich glaube nicht, daß sie Ihren Großvater getötet hat. Allein bei dem Gedanken ist mir unwohl, denn ich habe Cousine Sophie immer furchtbar gern gehabt…« »Wenn sie es nicht war und Sir Henry es offensichtlich auch nicht war, dann bleibt nur noch eine Person übrig. Lady Gossinger!« »Tante Mabel war außer sich, als Onkel Henry die Neuigkeit bezüglich seines Testaments verkündete. Er wußte, daß es so kommen würde, deshalb wollte er es ihr in meinem und Cousine Sophies Beisein mitteilen. Manche würden vielleicht sagen, daß das feige von ihm war, aber seine Entschlossenheit, seinem Gewissen zu folgen, macht ihn in meinen Augen zu einem Helden. Und es kommt noch dicker, Flora. Jetzt, da Ihr Großvater tot ist, spricht Onkel Henry davon, Gossinger statt dessen Ihnen zu hinterlassen. Ja, vielleicht hat er diesen Plan sogar schon in die Tat umgesetzt.« Flora preßte einen Augenblick die Finger auf ihre Lippen, um wieder zu Atem zu kommen. »Unterstehen Sie sich, mich zu fragen, ob ich begreife, was das bedeutet! Na schön, ich spreche es für Sie aus. Sie haben Angst, Lady Gossinger könnte mich als nächste aus dem Weg räumen. Deshalb sind Sie hiergeblieben. Ich habe Ihnen nie abgenommen, daß Ihnen
neulich abends das Benzin ausgegangen ist. Jetzt ist alles klar, selbst mir Volltrottel. Jetzt verstehe ich, warum Sie so sicher waren, daß Boris Smith etwas gesehen oder gehört hätte, das ihm solche Angst einjagte, daß er seither nicht mehr er selbst ist.« »Ich möchte herausfinden, was es war.« Vivian ballte die Hände zu Fäusten. »Denn das Problem ist, ich weiß nicht, wie wir ohne Anhaltspunkte irgend etwas beweisen wollen. Es ist alles reine Spekulation, und offen gestanden glaube ich die meiste Zeit, daß ich völlig durchgedreht bin. Daß allein ich es bin, der aus dem Tod Ihres Großvaters einen Kriminalroman machen will.« »Sie hätten der Polizei von dem Testament erzählen und die Beamten ihre eigenen Schlüsse ziehen lassen können. Hatte mein Großvater nicht wenigstens das verdient?« Floras Stimme klang steif. »Und wenn sie nichts Konkretes hätten finden können? Tante Mabel hätte in aller Ruhe abwarten können, bis Sie, siehe da, einen Unfall haben. Ich gebe zu, daß ich andererseits immer noch nicht glauben kann, daß sie eine Mörderin ist. Ich fand sie immer sehr liebenswert, trotz ihrer Fehler. Aber keine derartige Überlegung hätte mich davon abgehalten, offen zu sprechen, hätte ich gedacht, daß es zur Klärung der Angelegenheit führen würde.« »Meinen Sie, Sir Henry hat sie in Verdacht?« Flora setzte Nolly ab. Er wurde unerträglich schwer. »Nein, ganz sicher nicht. Er ist ein ganz und gar argloser Mensch.« »Womit wir wieder bei Miss Doffit angelangt wären.« »Ich denke, Cousine Sophie könnte sich entschlossen haben, Tante Mabel zu helfen, um sicherzustellen, daß man sie nie aus Gossinger Hall hinauswerfen kann. Und sie könnte zumindest hier sein, um herauszufinden, ob Sie Verdacht geschöpft
haben. Im schlimmsten Fall… Darüber möchte ich eigentlich lieber nicht nachdenken. Auf Tante Mabel würde jedenfalls kein Verdacht fallen, da sie sich ja augenscheinlich auf Gossinger aufhält, wenn Ihnen etwas Unvorhergesehenes zustieße.« »Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, daß Miss Doffit mich vor einen Zug stößt.« »Nein, aber sie könnte hergekommen sein, um eine Vereinbarung mit jemandem zu treffen, der gegen die entsprechende Bezahlung zu allem bereit ist.« »Ach, das wird ja langsam lächerlich.« »Ich weiß«, sagte Vivian. »Wenigstens verstehe ich jetzt, warum Sie mich nicht für komplett bescheuert gehalten haben, als ich sagte, Nolly spüre, daß uns jemand folgt. Sie denken… Sie denken doch nicht, daß Snuffy – und auch Reggie – in die Sache verwickelt sein könnten?« »Der Gedanke ist mir natürlich gekommen, aber es gibt einen Punkt, an dem man nicht mehr sagen kann, wo der Verfolgungswahn anfängt und wo er aufhört. Ich dachte, wenn wir einen Schritt nach dem anderen machen, könnten wir – « »Aber genau das haben Sie nicht getan! Es gab die ganze Zeit kein ›wir‹. Es war mein Großvater, der ermordet wurde, nicht Ihrer! Und es ist mein Leben, das jetzt, wie Sie selbst sagen, auf dem Spiel stehen könnte!« In Floras Augen funkelten Tränen. »Sie hatten kein Recht, mich wie ein Kind zu behandeln. Wenn ich mich manchmal wie eins verhalte, geht das nur mich was an. Nein« – sie hob die Hand – »rühren Sie mich nicht an. Das Mädchen, das gesagt hat, es vertraue Ihnen, ist nicht mehr hier. Es ist sogar noch viel schlimmer, als ich zugegeben habe! Ich habe es zugelassen, daß ich mich in Sie verliebe! Können Sie das noch fassen? Ich kann es nämlich nicht!«
»Flora, Sie sollen wissen – « »Ich möchte, daß Sie gehen, Vivian. Ich möchte, daß Sie Ihre Cousine Sophie samt Koffer nehmen und in drei Minuten das Haus verlassen haben, oder ich hetze Ihnen beiden Nolly auf den Hals! Und nein, ich werde mich morgen früh nicht dafür hassen.«
Kapitel 17 Als Flora am nächsten Morgen aufwachte, dröhnte ihr der Kopf, und ihre Augen fühlten sich an, als hätte man sie mit Sand eingerieben. Zuerst befürchtete sie, sie hätte einen Kater. Mit siebzehn hatte sie einmal einen dicken Kater gehabt, als sie mit ein paar Freunden von der Schule tanzen ging und zu einer – wie die damalige Haushälterin sagte – gottverlassenen Zeit nach Hause kam. Als Grandpa sie sah, sagte er nur, er sei froh, daß sie ein Taxi genommen habe. Jetzt fühlte sie sich genauso unwohl und benommen wie damals. Glücklicherweise hatte sie keine Erinnerung an den gestrigen Abend, doch nur, bis sie sich aufsetzte und dadurch ihr Gleichgewicht aufs Empfindlichste gestört wurde. Da kehrte sie mit voller Wucht zurück, so daß ihr Kopf sich erst recht anfühlte, als wolle er platzen. Sie mußte ins Bad wanken, um sich ein Glas Wasser zu holen, das sie auf dem Rand der Badewanne sitzend trank. Dem Himmel sei Dank für Nolly, dachte Flora, als der kleine Hund zu ihr kam und sich an ihre Füße schmiegte. Ihm zuliebe muß ich funktionieren, mich anziehen und vor dem Frühstück noch mit ihm Gassi gehen. Und es war erstaunlich, stellte sie fest, wieviel man schaffen konnte, wenn man nur ein Zehntel seiner Gehirnkapazität benutzte. Auf dem Spaziergang mit Nolly legte sie einen Zwischenstopp im Lebensmittelgeschäft vier Häuser weiter ein und plauderte mit den Inhabern – einem Ehepaar, das aus Middlesex stammte. Die beiden verkauften ihr nicht nur das Allernotwendigste für die nächsten Tage, sie liehen ihr außerdem einen Kessel und einen Kochtopf. Nette Leute. Das dachte jedenfalls Nolly, als er einen Keks bekam. Sie fütterte Nolly und kochte für sich selbst ein Ei, dann räumte sie die Lebensmittel weg und spülte das Geschirr und
das Besteck, das zusammen mit den Möbeln aus Gossinger eingetroffen war. Und in eben diesem Augenblick, als sie die Hände in Seifenlauge tauchte, löste sich ein Gedanke aus dem Nebel in ihrem Kopf. »Ich glaube es nicht, Nolly!« Flora schüttelte das Wasser von ihren Händen. »Vielleicht wirst du sagen, daß ich ein Feigling bin und der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen will, aber so ist es nicht. Ich kann einfach nicht glauben, daß Lady Gossinger ein solches Ungeheuer ist und Grandpa ermordet hat! Ja, ich kann nachvollziehen, daß sie sich an Sir Henry rächen wollte, als sie das Teesieb verschenkte. Das paßt zu ihr. Aber der Rest – nein, und wenn du wissen willst, warum ich meiner Sache so sicher bin, Nolly –, der Grund ist, daß Grandpa sie mochte. Oh, er gewann sie nie so lieb wie Sir Henry; das war auch nicht zu erwarten. Aber er ärgerte sich oft über mich, weil ich ihre guten Seiten nicht sehen wollte. Und wenn er jetzt hier wäre, würde er sagen, daß es vollkommen verständlich war, daß Mylady – wie es übrigens jeder Ehefrau ergehen würde – außer sich war, als sie hörte, daß ihr Heim einem Außenstehenden vermacht werden sollte. Hätte Sir Henry…« Flora brach einen Selleriestengel ab, um daran zu knabbern. »Hätte Sir Henry ihm erzählt, was er vorhatte, dann wäre Grandpa mit Sicherheit entsetzt gewesen bei dem Gedanken, daß Gossinger eines Tages ihm gehören sollte. Es hätte seine Welt auf den Kopf gestellt und seinen lebenslangen Dienst an der Familie irgendwie herabgesetzt. Du findest mich albern« – Flora nahm Nolly hoch und schmiegte die Wange an ihn, wobei sie seine Ohren platt drückte – »aber ich muß mich an das halten, was Grandpa mir sagt, auch wenn du ihn nicht sehen kannst. Weil Grandpa der verständigste Mensch auf der ganzen Welt war. Und er sagt mir, daß man Lady Gossinger nicht die Schuld an dem geben soll, was ihm zugestoßen ist. Und wo stehe ich folglich, Nolly?«
Der kleine Hund signalisierte, daß er, so sehr er auch mit ihr litt, lieber mit seinem roten Ball spielen wollte. Also setzte Flora ihn ab und machte sich daran, das Geschirr abzutrocknen. Sie stellte den Topf weg, den das Paar aus dem Lebensmittelgeschäft ihr geliehen hatte, und stopfte den ekligen alten Topf in eine der Einkaufstüten, die sie als behelfsmäßigen Mülleimer unter das Spülbecken stellte. Und während sie all dies tat, gab sie sich große Mühe, nicht an Vivian zu denken. Aber es funktionierte nicht. Denn ein Blick in den Laden, und sie spürte, daß er so leer war wie nie zuvor. Er hatte ihr Unrecht getan, sagte sie sich; doch den Worten fehlte die Überzeugungskraft von gestern abend. Sie versuchte es noch einmal. Die ganze Zeit, in der wir zusammen waren, sagte sie sich, und ich dachte, ich wüßte genau, was in seinem Kopf vorgeht, hatte ich in Wahrheit nicht den leisesten Schimmer. Und dann meldete sich in ihrem Hinterkopf eine andere Stimme zu Wort: Ist es das, worum es bei deinem Zorn auf ihn geht? Verletzte Eitelkeit? Denn dir sollte inzwischen klar sein, du albernes Gänschen, warum Vivian nicht wußte, was er eigentlich hätte tun sollen. Wenn du schon nicht glauben kannst, daß Lady Gossinger Grandpa ermordet hat, dann überleg mal, wie Vivian erst bei diesem abscheulichen Verdacht zumute gewesen sein muß! Und gleichzeitig fragte er sich, ob nicht nur seine Phantasie mit ihm durchging und er überall Gespenster sah. Flora kam nicht dazu zu entscheiden, was sie mit Vivian machen sollte, denn in diesem Moment ging die Glocke an der Ladentür. Sie hatte vergessen abzuschließen, als sie von ihrem Spaziergang mit Nolly zurückkam. Sie sah Mrs. Much eintreten. »Sie haben wohl nicht mit meinem Besuch gerechnet. Aber da bin ich«, sagte Mrs. Much. »Ich wollte sehen, wie Sie allein zurechtkommen.«
»Schön, daß Sie mich besuchen.« Flora ging ihr entgegen. »Woher wußten Sie, wo Sie mich finden können?« »Das war nicht schwer, meine Liebe.« Mrs. Much hielt ihre Handtasche in beiden Händen, als sie sich umsah. »Gestern abend habe ich in Gossinger angerufen, um zu fragen, ob ich dort ein Buch vergessen hätte, das meine frühere Arbeitgeberin Mrs. Frome mir geschenkt hatte. Und die neue Haushälterin stellte mich zu Sir Henry durch, also habe ich selbstverständlich nach Ihnen gefragt, und er gab mir die Adresse. Sieht so aus, als hätten Sie jede Menge Arbeit vor sich, Flora. Die Wände müssen neu gestrichen werden.« Sie ging näher heran, um sie zu begutachten. »Drei Schichten, wenn Sie mich fragen. Und wenn Sie Weiß wählen, würde ich genau auf den richtigen Farbton achten. Keinen Graustich, oder durch die Schatten vom Fenster wird vor allem diese Wand hier schmuddelig aussehen. Mrs. Frome, die Dame, die ich gerade erwähnte, zog stets ein Mattweiß mit einem Stich ins Blaue vor. Oh, es war ein Geschenk, für sie zu arbeiten, Gott sei ihrer Seele gnädig.« »Wie wär’s mit einer Tasse Tee?« schlug Flora vor, um die Lobeshymne auf die verstorbene Mrs. Frome abzukürzen. »Nein danke, meine Liebe, ich habe eben erst welchen getrunken.« »Wie wär’s dann, wenn wir nach oben gehen und Sie mir erzählen, wie Ihnen Ihre neue Stellung gefällt.« Das ist gut, dachte Flora. Vielleicht fügen sich all die Einzelteile, die mir im Kopf herumgehen, zu einem logischen Muster zusammen, bis Mrs. Much wieder geht. »Sie haben alles genauso gestaltet wie auf Gossinger«, bemerkte Mrs. Much, als sie die Wohnung betraten und sie auf dem Sessel am Kamin Platz nahm. »Wollten Sie nicht ganz neu anfangen, sich vielleicht eine hübsche Sitzgarnitur im modernen dänischen Stil zulegen?«
»Nein, ich bin gern unter alten Freunden«, erwiderte Flora. »Die sind im Buckingham-Palast Legion.« Auf Mrs. Muchs Gesicht spiegelte sich äußerste Mißbilligung. »Sämtliche Möbel sind steinalt, und Teppichboden habe ich auch noch keinen gesehen. Man fragt sich doch, warum Ihrer Majestät noch keiner ihrer Spezis ins Ohr geflüstert hat, sie solle sich mal mit einem modern denkenden Maler zusammensetzen. « Flora ließ sich ihr gegenüber nieder. »Sie scheinen nicht allzu glücklich zu sein.« »Nun ja, es ist nur ein Job, oder nicht?« »Läuft es nicht so glatt, wie es sollte?« »Manchmal erwarte ich wohl zuviel Dankbarkeit.« Mrs. Much holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schneuzte sich die Nase. »Man versucht, sein Bestes zu geben, und es wird ganz falsch aufgefaßt. Sie erinnern sich doch noch an den Wirbel auf Gossinger, als ich diese schmutzigen Wandteppiche gewaschen hatte.« »Ja, sicher.« »Neulich ist so ziemlich das gleiche passiert. Sie wissen, wie eigen ich bin, wenn es um Toiletten geht, Flora. Nun, Sie hätten mal das Theater hören sollen, als herauskam, daß ich eines dieser Hygienemittelchen in einen der Spülkästen getan hatte. Sie wissen schon, die Dinger, von denen das Wasser so eine hübsche königsblaue Farbe kriegt. Oh, man hätte meinen können, ich hätte einen Mord begangen, so wie mein Supervisor mich zusammengestaucht hat. Ich mußte mir immer wieder ›ja, Sir, nein, Sir, Sie können mich am Abend besuchen, Sir‹ vorsagen, um den Mund zu halten und meinen Job nicht zu verlieren. Wenn es nicht ungehörig wäre, so schnell wieder abzuspringen, würde ich mich schon morgen nach einer neuen Stellung umsehen.« »Oh, das tut mir so leid!«
»Tja, genug von mir alter Frau; ich bin eigentlich gekommen, um zu sehen, wie Sie mit dem Tod Ihres Großvaters fertig werden. Es wird eine Weile dauern, bis Sie darüber hinweg sind, aber ich bin überzeugt, er würde nicht wollen, daß Sie allzu lange Trübsal blasen. Also, wie war der Stand der Dinge, als Sie Gossinger verlassen haben? Wie geht’s Mr. Tipp? Ich habe ihm meine neue Adresse gegeben und hatte gehofft, er würde sich melden, aber bisher habe ich noch nichts von ihm gehört.« »Er kümmert sich im Augenblick um einen Cousin, der krank geworden ist.« »Na, das ist ja ‘n Ding.« Mrs. Much steckte ihr Taschentuch ein. »Ich bin sicher, er hat mir erzählt, er hätte keine Menschenseele auf der Welt, die zu ihm gehört, aber Männer neigen ja dazu, an dein Mitgefühl zu appellieren, wenn du eine alleinstehende Frau bist. Und ich wäre nicht überrascht, wenn er allmählich ein wenig wunderlich wird. Ich erinnere mich an einen Tag – es war ein Nachmittag –, als er viel mehr sprach als gewöhnlich, und im nachhinein muß ich sagen, es war bloß ein Haufen Blödsinn.« »Ich hoffe doch, es geht ihm gut.« Flora war wirklich sehr froh, als Nolly, der von seinem roten Ball nicht einmal abgelassen hatte, um Mrs. Much zu begrüßen, ins Zimmer kam und sich behaglich auf dem Kaminvorleger ausstreckte. »Viel wichtiger ist doch, meine Liebe, geht es Ihnen gut?« »Ich richte mich hier allmählich ein, und ich habe vor, den Laden im Erdgeschoß wiederzueröffnen. Lady Gossinger« – es fiel ihr ein wenig schwer, den Namen auszusprechen – »sagte, ich könne ihn haben, was sehr lieb von ihr war.« »Und was werden Sie dort verkaufen?« »Zunächst Trödel, aber irgendwann würde ich mich gern auf Silber spezialisieren.«
»Da erinnern Sie mich an was«, sagte Mrs. Much. »Ich hatte gehofft, Sie haben vielleicht etwas von der Politur Ihres Großvaters hier. Denn wie Sie sehr gut wissen, gibt es nichts Gleichwertiges in den Regalen der Supermärkte.« »Natürlich, ich kann Ihnen etwas mitgeben. Die Fläschchen stehen auf dem Fenstersims in meinem Schlafzimmer. « »Könnten Sie mir zwei Stück geben, meine Liebe?« »Ich hole sie eben schnell.« »Besten Dank.« Als Flora mit einem Fläschchen Silberpolitur in jeder Hand zurückkam, griff Mrs. Much in ihre Handtasche. »Wieviel bin ich Ihnen schuldig?« »Nichts.« »Oh, ich kann sie unmöglich umsonst annehmen.« »Sie können mich bezahlen, indem Sie den Leuten erzählen, daß es nichts Besseres gibt, um Silber zu putzen, und sie dann hierher schicken, weil ich nämlich nach Grandpas Anleitungen Nachschub herstellen und die Politur im Laden verkaufen will.« »Nun, das ist gut zu wissen.« »Und ich habe sogar noch ehrgeizigere Pläne.« Flora nahm wieder Platz und klopfte auf ihren Schoß, damit Nolly sich zu ihr setzte. »Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis, Mrs. Much: Ich habe der Königin einen Brief geschrieben, um sie zu fragen, ob sie der Gossinger Silberpolitur eventuell ein königliches Patent verleihen würde. Bisher habe ich noch nichts gehört, aber ich drücke mir fest die Daumen.« »Also, das bringt mich auf eine Idee.« »Was meinen Sie?« »Daß ich ein Fläschchen von der Politur mit zur Arbeit nehmen werde, wenn ich heute nachmittag meine Schicht antrete.« »In den Buckingham-Palast?« Flora war plötzlich ganz aufgeregt. »Aber ich möchte auf keinen Fall, daß Sie
Schwierigkeiten bekommen, nicht nach dem Ärger mit dem blauen Toilettenwasser.« »Ach, da besteht keine Gefahr! Ich gebe meiner Cousine eines dieser Fläschchen. Sie hat mir die Stellung verschafft – Glynis heißt sie – und ist für einen Teil des Silbers verantwortlich. Überlassen Sie es nur mir, Flora. Und wer weiß – vielleicht kriege ich am Ende sogar eine Gehaltserhöhung!« »Wenn Sie wirklich sicher sind…« »Völlig sicher, und ich melde mich wieder bei Ihnen, um sie wissen zu lassen, was sich daraus ergeben hat. Also, meine Liebe, dann gehe ich jetzt mal lieber, sonst verderbe ich noch alles, indem ich zu spät zur Arbeit komme. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie von Mr. Tipp hören. Der Ärmste. Vielleicht würde es ihm ja guttun, wenn er auf der Heimfahrt einen Tag nach London kommt und ich ihm die Stadt zeige.« Mrs. Much plauderte weiter, während sie nach unten gingen, sie wollte wissen, was Flora bisher von der Hauptstadt gesehen hatte, und unterbreitete ihr zahlreiche Vorschläge»John Lewis hat eine wunderbar gemütlich Möbelabteilung«, sagte sie gerade, als jemand an die Ladentür pochte. Flora empfand einen Augenblick Panik, vermischt mit Hoffnung, aber natürlich würde Vivian niemals derart an die Tür hämmern. Als sie aufmachte, blickte Boris Smith zu ihr auf. »Großmutter hat mich gezwungen zu kommen.« Er wich ihrem Blick aus. »Sie sagte, wenn ich schon noch einen Tag in der Schule fehle, soll ich vorbeikommen und fragen, ob Sie irgendwas brauchen.« Seine Sommersprossen wurden von dem Sonnenlicht hervorgehoben, das in schrägem Winkel auf die Hausdächer fiel. Ich werde diesem Lehrer schreiben, dachte Flora, auch wenn ich nicht glaube, daß Lady Gossinger etwas mit Grandpas Tod zu tun hatte, muß ich herausfinden, ob dieser Junge etwas über die Vorfälle in der Garderobe weiß.
»Hallo, Boris«, sagte sie. »Dies ist eine Freundin von mir. Sie heißt Mrs. Much.« »Wie nett.« Er dachte nicht daran, seinen Mangel an Begeisterung zu verhehlen. »Mrs. Much hat gerade versprochen, mir einen Riesengefallen zu tun. Sie nimmt heute nachmittag ein Fläschchen von der Silberpolitur meines Großvaters mit zur Arbeit.« »Und wo arbeitet sie?« »Im Buckingham-Palast.« »Ach wirklich?« Boris wurde hellhörig. »Sehe ich aus wie eine Lügnerin?« Mrs. Much gab Flora einen flüchtigen Kuß auf die Wange, dann ging sie davon, um ihren Bus noch zu erwischen. Boris sah ihr kurz nach, bevor er sich wieder an Flora wandte. »Das sagt meine Großmutter auch immer, und sie lügt oft, wissen Sie.« »Das ist aber nicht nett von dir, so was zu sagen.« »Selbst wenn es stimmt?« »Dann mußt du mit ihr darüber reden.« Flora wünschte plötzlich, sie wäre bedeutend älter und verstünde Kinder besser. »Möchtest du nicht reinkommen?« fragte sie. »Nein.« Boris trat mit einem Fuß gegen den anderen. »Ich muß los.« »Wir könnten uns unterhalten.« »Trotzdem danke.« Boris schlurfte bereits davon. »Mir ist gerade eingefallen, daß ich noch was zu erledigen habe. Bis später dann.« Flora wollte gerade wieder ins Haus gehen, als sie Mr. Banda Singhh draußen vor seinem Geschäft mit einem Lieferanten sprechen sah, und auf einmal, als wäre eine Taschenlampe in ihrem Kopf aufgeflammt, fiel ihr wieder ein, was Mr. Singhh über seine Frau Emel gesagt hatte – sie habe auf dem Kirchenbasar mit Edna Smith zusammengearbeitet. Flora holte
rasch ihren Schlüssel und versicherte Nolly, sie werde nicht lange bleiben, dann trat sie wieder nach draußen auf die Straße und eilte zu Mr. Singhhs Imbiß. Der Transporter des Lieferanten stand nicht mehr dort. Als sie die Tür des Fish & Chips-Imbisses aufstieß, schlug ihr der durchdringende Geruch heißen Öls entgegen. Sie sah eine Frau mit graumeliertem schwarzem Haar, das im Nacken zusammengefaßt war, hinter dem Tresen stehen. »Guten Morgen«, sagte die Frau. »Die erste Lage Chips ist so gut wie fertig, und wir haben heute einen guten Rochen da.« »Klingt köstlich!« Flora lächelte sie an. »Aber eigentlich bin ich zum Plaudern hergekommen. Mr. Singhh war so liebenswürdig, vorgestern vorbeizukommen, und – « Die Frau wischte sich die Hände an ihrem weißen Overall ab, bevor sie die Rechte über den Tresen streckte. »Also Sie sind die junge Dame aus dem leerstehenden Geschäft! Banda hat sich so gefreut, Sie kennenzulernen. Leider haben Sie ihn gerade verpaßt. Er ist zur Post gegangen. Ich bin seine Frau, Emel. Na, dann sagen Sie doch mal, wenn’s recht ist, wie es Ihnen bisher in der Wishbone Street gefällt?« »Sehr gut«, erwiderte Flora. »Nicht zuletzt Ihr Mann hat mich davon überzeugt, daß ich hier glücklich sein werde. Würden Sie ihm bitte ausrichten, daß ich mich entschlossen habe, den Laden unter meiner Wohnung wiederzueröffnen?« »Gern.« »Er hat erzählt, daß Sie auf dem Kirchenbasar mit Edna Smith zusammengearbeitet haben.« »Banda« – auf das Gesicht seiner Frau trat ein strahlendes Lächeln, bei dem ihre wunderschönen, gleichmäßigen Zähne sichtbar wurden – »entgeht nichts; und er vergißt auch so gut wie nie etwas.« »Ich erwähne es aus einem ganz bestimmten Grund.« Flora hoffte, sich kurz fassen zu können, ohne den Eindruck zu
erwecken, daß sie eine furchtbare Klatschbase war. »Gestern war ich mit einem Freund bei Mrs. Smith zum Tee eingeladen, und sie sagte, sie hätte dem Basar ein Teesieb gespendet, das, wie sich herausgestellt hat – « »Ihr Freund war vor knapp einer halben Stunde selbst hier!« Als sie Floras überraschtes Gesicht sah, fügte Emel Singhh rasch hinzu: »Er muß es gewesen sein, weil er ebenfalls sagte, er sei gestern bei Mrs. Smith gewesen. Und als er, genau wie Sie, nach dem Teesieb fragte, konnte ich ihm sagen, daß ich es selbst verkauft habe, an eine Frau, die ich recht gut kenne. Sie wohnt hier ganz in der Nähe. Das habe ich ihm erzählt. Schauen Sie, da ist er.« Emel zeigte zum Fenster. »Nein, Sie haben ihn verpaßt. Er ist gut zu Fuß. Aber laufen Sie nur los, dann holen Sie ihn noch ein.« Flora war zur Tür hinaus, noch bevor Mrs. Singhh ausgesprochen hatte. Welche Richtung? Sie wollte keine Zeit verlieren, indem sie auch nur den Kopf in die falsche Richtung drehte. Aber sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie entdeckte ihn sogleich, nur wenige Meter zu ihrer Rechten, und ohne nachzudenken rief sie: »Vivian!« Er drehte sich sofort um. »Ich habe das Teesieb gesucht.« »Und haben Sie es gefunden?« »Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen, um es Ihnen zu zeigen.« »Und ich war in dem Fish & Chips-Imbiß.« »Große Geister denken gleich.« Vivian stand da und sah sie an, und die Sonne zauberte goldene Flecke auf sein braunes Haar. »Das ergibt ein tolles Team«, sagte Flora leise und sah alles, was sie wissen mußte, in seinen Augen. »Gehen wir rein, damit Sie mir das Teesieb zeigen können. Haben Sie es wirklich?« »In meiner Tasche«, versicherte er ihr, während er ihr in den Laden folgte. »Flora, wir müssen noch mal über gestern abend
sprechen. Mein Gedanke war, wenn ich Ihnen dies gebe« – er holte das kleine, in Papier eingewickelte Päckchen hervor – »dann könnten Sie es vielleicht übers Herz bringen, mir zu verzeihen.« »Es gibt nichts zu verzeihen.« Flora bückte sich, um Nolly zu streicheln und ihm seinen Ball zuzuwerfen. »Ich habe heute morgen nachgedacht, und ich bin froh, daß Sie nicht mit der Polizei über Lady Gossinger gesprochen haben. Ich kann nicht glauben, daß sie mehr getan hat als vielleicht ein paar Teller zu zerschmeißen, nachdem Sir Henry ihr von dem Plan erzählt hatte, diese dumme Änderung in seinem Testament vorzunehmen.« »Flora, ich bin glücklich, daß Sie nicht mehr ärgerlich sind, aber – « »Ich weiß, was Sie sagen wollen, nämlich daß es reines Wunschdenken ist, aber das glaube ich nicht. Vivian, es tut mir leid, was ich gestern abend gesagt habe, einschließlich der Behauptung, ich hätte mich in Sie verliebt. Das habe ich nur gesagt, um Ihnen noch mehr Schuldgefühle zu machen, was extrem kindisch von mir war. Sie sehen also« – sie schenkte ihm ein spitzbübisches Lächeln – »Sie brauchen keine Angst zu haben, wenn Sie mit mir allein sind. Also, zeigen Sie mir jetzt dieses Teesieb, oder muß ich es Ihnen erst entreißen?« »Ich möchte, daß Sie es auswickeln.« »Sie haben es sich schon angesehen?« »Wofür halten Sie mich?« Vivian lachte – ein Lachen, in dem eine Wärme, ein Glück zum Ausdruck kamen, die er seines Wissens noch nie zuvor empfunden hatte. »Ich mußte der Frau, die es gekauft hatte, richtig Geld bezahlen, obwohl ich ihr gesagt habe, das Teesieb hätte lediglich sentimentalen Wert für meine Familie.« »Und Sie haben keinerlei Zweifel, daß es das richtige ist?« »Sehen Sie selbst.«
»Meine Hände zittern.« »Na schön, dann entferne ich das Papier. Jetzt nehmen Sie schon.« »Oh!« Flora starrte auf das Teesieb in ihren Händen. Jemand, vermutlich die Frau, die es auf dem Basar erstanden hatte, hatte versucht, es zu putzen, aber dennoch war kaum Silber unter der Patina zu sehen, die an manchen Stellen kupferfarben und an anderen ein stumpfes Schwarz war. »Was für ein Prachtstück!« »Sowohl der Entwurf als auch die Ausführung sind wahrhaft erlesen, meinen Sie nicht auch?« Vivian beugte sich vor, als bewundere er ein Neugeborenes. »Ich könnte heulen.« Sie wischte sich die Augen. »Warten Sie nur, bis wir es geputzt haben und es in seinem vollen Glanz zu sehen bekommen.« »Aber das könnten wir doch jetzt gleich tun, oben habe ich Grandpas Silberpolitur.« »Dann holen Sie sie.« Flora reichte ihm das Teesieb, dann rannte sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch. Sie kam mit einem Fläschchen in der einen und mehreren wehenden Staubtüchern in der anderen Hand zurück, ehe Vivian sich die Hemdsärmel hatte aufkrempeln können. »Wie gut, daß ich daran gedacht habe, die Tücher zum Einpacken der zerbrechlichen Teile zu benutzen«, sagte sie, als er zu ihr in die Küche kam. »Jetzt vergessen Sie nicht, daß ich nicht über Grandpas magische Kräfte verfüge, wenn es darum geht, besonders komplizierte Stellen zu putzen, aber bei diesem Produkt«- sie schüttelte das Fläschchen kräftig -»würde nur ein so strenger Kritiker wie er den Unterschied bemerken. Das Geheimnis beim Silberputzen«, fuhr sie fort, während sie ein Staubtuch auf dem Abtropfständer ausbreitete – »ist eine feste, jedoch liebevolle Hand.«
»Mir ist danach, eine Flasche Champagner auf Eis zu legen.« Vivian trat zurück, damit sie genug Platz hatte. »Ja, es ist so, als warte man darauf, daß Dornröschen nach dem Kuß des Prinzen endlich erwacht.« Flora gab ein wenig von der Politur auf ihr weichstes Staubtuch und machte sich ans Werk. »Schauen Sie, wie es sich bereits verändert! Treten Sie zurück, ich will Ihre Augen sehen, wenn ich es Ihnen zeige. Geduld – solche Dinge darf man nicht überstürzen. Oh, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich das von Grandpa gehört habe! Und wie sehr ich wünschte, er könnte in diesem Augenblick hier sein!« »Ich auch, Flora.« »Ich sollte traurig sein, aber ich bin es nicht, weil ich mich ihm so nahe fühle, obwohl er tot ist. Es ist, als stünde er hier bei uns im Zimmer, und er sieht mir zu und sagt: ›So habe ich es dir beigebracht, Flora.‹« »Er hat es Ihnen hervorragend beigebracht«, sagte Vivian, als Flora sich umdrehte und die Hände ausstreckte: das unansehnliche Teesieb von vorhin hatte sich in einen strahlenden Silberschwan verwandelt. »Ich bin sprachlos.« »Meinen Sie, Ihre Majestät wird sich freuen?« »Bevor wir zum Telefon stürzen, um im Buckingham-Palast anzurufen, möchte ich gern herausfinden, wo es hergestellt wurde, und wie der Name des Silberschmieds lautet. Auf diese Weise könnten wir es mit sämtlichen Referenzen versehen losschicken.« »Das wäre wunderbar«, sagte Flora. »Nicht, daß der geringste Zweifel bestünde, daß es sich um das Teesieb handelt, das Königin Charlotte nach Gossinger mitbrachte, aber es wäre sehr schön, es auch beweisen zu können. Oh, Mist! Da ist jemand an der Tür.« Sie legte das Teesieb vorsichtig in das Nest aus Staubtüchern auf dem Abtropfständer.
Vivian verzog das Gesicht. »Hoffentlich ist es nicht wieder Cousine Sophie. Sie hat bei mir übernachtet, und ich hatte gehofft, sie würde sich nicht von der Stelle rühren, bis ich zurückkomme. Allerdings habe ich vergessen, sie anzubinden.« »Tja, sie wird sich bestimmt über die wohlbehaltene Rückkehr des verschwundenen Schwans freuen.« Doch als Flora die Tür öffnete, stand nicht Cousine Sophie vor ihr, sondern ihr Vater, auch bekannt als Reggie. »Na so was.« Er kam leichtfüßig herein und schenkte ihr sein Zahnlückenlächeln. »Falle dir ungern zur Last, aber ich wollte fragen, ob ich aus irgendeinem verflixten Zufall gestern meine Brieftasche hier vergessen habe. Leider steckten meine letzten zwanzig Pfund drin.« »Du flunkerst, Reggie«, sagte Flora, und Nolly pflichtete ihr bei, indem er mit seinem Schwanz auf den Boden klopfte. »Klasse!« Reggies Lächeln wurde noch strahlender. »Bewundere Frauen, die mich auf Anhieb durchschauen. Dachte bloß, ich probier’s mal, bin ein bißchen knapp bei Kasse, weißt du, aber ich zwitschere schon wieder ab.« »Nicht weglaufen«, sagte Vivian. »Sie sind zufällig in einem günstigen Moment gekommen. Ich habe gerade über etwas nachgedacht«, sagte er und sah Flora an, »etwas, das unser Freund Snuffy gesagt hat.« »Ach ja?« Reggie zog eine Braue hoch. »Er erwähnte eine frühere Bekannte – eine ehemalige Hehlerin, Expertin für Silber. Ist ja auch logisch, oder? Jemand, der sich in dieser Branche betätigt, muß den exakten Wert einer Ware bestimmen können. Und jetzt frage ich mich, ob Sie als Gegenleistung für ein Darlehen über zwanzig Pfund« – Vivian zückte seine Brieftasche – »bereit wären, bei Snuffy anzurufen und ihn zu bitten, uns mit dieser Frau in Kontakt zu setzen.«
»Na so was.« Reggie blickte von Vivian zu Flora. »Ihr laßt euch doch nicht auf irgendwelche krummen Dinger ein?« »Es ist nichts dergleichen«, sagte sie zu ihm. »Wir sind lediglich daran interessiert, die Ansicht eines Experten über ein kleines Stück aus Silber einzuholen.« »Famose Sache! Zeigt mir das Telefon. Ich rufe kurz bei Snuffy durch. Mal sehen, ob ich ihn erreichen kann.« »Ich habe es erst gestern morgen installieren lassen«, sagte Flora, als er den Hörer abnahm. Kurz darauf reichte er ihn Vivian, der mit einer Frau sprach, die auf den Namen Lucy hörte und der Geschichte des Teesiebs mit unverhohlenem Interesse lauschte. »Sie sagt, sie kann uns jetzt gleich empfangen.« Er hielt eine Hand über die Sprechmuschel. »Paßt Ihnen das?« »Perfekt.« Floras Gesicht leuchtete. »Meine Freundin Miss Hutchins freut sich sehr auf das Gespräch mit Ihnen«, sagte Vivian zu Lucy. »Sie stammt von einem Silberschmied aus Lincolnshire ab und hat vor, selbst ein Geschäft für Silberwaren zu eröffnen.« Er legte auf. »Ich mußte ein bißchen hochstapeln«, erklärte er. »Wie wär’s, wenn Sie jetzt Ihren Hut aufsetzen, und ich begleite Reggie nach unten?« Flora wußte, warum er das vorschlug, und sprach es fünf Minuten später, als sie in Vivians Wagen stiegen, an. »Sie haben Reggie gefragt, ob er noch mehr braucht als zwanzig Pfund, oder?« »Es liegt an dieser Zahnlücke.« »Ich weiß, er wirkt wie ein vorwitziger Schuljunge.« »Und es ist gut angelegtes Geld«, sagte Vivian, während er schaltete. »Wird es zumindest sein, wenn Lucy ihrem Ruf gerecht wird. Halten Sie Ihren Hut fest, es geht los!« Und damit fädelte sich der Wagen blitzschnell in den Verkehr ein. »Wo wohnt sie denn?« »Earl’s Court, dürfte nicht lange dauern.«
»Nicht bei diesem Tempo. Fahren wir unter dem Lkw hindurch oder über ihn hinweg?« »Sie haben das Teesieb doch eingesteckt?« »Nein, ich hab’s Nolly zum Spielen gegeben!« »Na schön, ich stelle keine Fragen mehr.« »Weil wir bereits da sind?« »Geben Sie mir noch eine Viertelstunde.« Wegen einer Abkürzung, die nicht hielt, was sie versprach, dauerte es ein wenig länger als eine Viertelstunde, bis sie das Apartmenthaus erreichten, in dem Lucy wohnte. Von außen sah es nicht viel anders aus als die Siedlung, in der Edna Smith lebte. Doch im Eingang stand ein Portier, der sie zum Aufzug führte und mit ihnen die drei Etagen zu Lucys Wohnung hochfuhr. An der Tür empfing sie ein Mädchen in adrettem Marineblau und Weiß, die sie durch einen mit weichem Teppich ausgelegten und mit einer Mischung aus traditioneller und moderner Kunst dekorierten Korridor führte. Sie gelangten in ein großes, in ruhigen Blau- und Grüntönen eingerichtetes Wohnzimmer. Auf gegenüberstehenden Sofas saßen zwei Frauen. Eine hatte graues Haar und wirkte matronenhaft. Die andere… Flora blieb stehen und starrte sie an. Die andere war die »Hexe«, die sie flüchtig auf der Beerdigung ihres Großvaters und später an jenem Nachmittag gegenüber von Gossinger gesehen hatte! »Ich bin Lucy.« Die Matrone streckte die Hand aus. »Verzeihen Sie, daß ich nicht aufstehe, ich habe Gicht, und die macht mir seit einer Woche das Leben zur Hölle.« »Guten Tag.« Flora merkte, daß sie sich wie Vivians Echo anhörte. »Und dies ist Evangeline, eine Freundin von mir«, sagte Lucy. »Hoffentlich stört es Sie beide nicht, daß ich Sie angerufen habe, nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte, Mr. Gossinger. Ich wußte, daß sie an Ihrem Teesieb sehr
interessiert sein würde. Evangeline ist ebenfalls Expertin für Silber. Sie stammt ebenso wie Sie – ein interessanter Zufall, nicht wahr – von einem Silberschmied aus Lincolnshire ab.« »Sie waren auf der Beerdigung meines Großvaters.« Flora ging einen Schritt auf die schwarzhaarige Frau mit den langen purpurroten Nägeln zu, deren Zigeunerrock um ihre Beine wirbelte, als sie aufstand. »Er war ein entfernter Cousin von mir.« Evangeline hatte eine rauchige Stimme. »Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Es war meine Schuld. Ich hätte mich melden sollen, als Ihre Mutter starb, aber ich habe mich geschämt, wie ich zu meiner Schande gestehen muß. Ihr Großvater hatte mir einmal eine ziemlich große Geldsumme geliehen, damit ich ein Geschäft für Silberwaren eröffnen könnte. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich etabliert hatte, und als ich es ihm zurückzahlen konnte – nun, es gibt keine Entschuldigung, ich bin einfach nie dazu gekommen. Und wenn ich hin und wieder Gewissensbisse bekam, rief ich mir in Erinnerung, daß er damals gesagt hatte, er erwarte nicht, daß ich ihm das Geld zurückgebe.« »Er hatte eine große Vorliebe für Silber«, sagte Flora. »Das liegt in der Familie«, erwiderte Evangeline. »Ich wollte auf der Beerdigung mit Ihnen sprechen, aber Sie waren verschwunden, ehe sich mir die Gelegenheit dazu bot. Und hinterher machte ich einen Spaziergang bis Gossinger und sah Sie im Garten, aber Sie unterhielten sich mit diesem Gentleman hier« – sie zeigte auf Vivian – »und ich beschloß, Sie nicht zu stören. Allmählich schien es mir, daß es uns nicht bestimmt wäre, miteinander zu reden. Neulich habe ich Sie noch einmal in King’s Cross gesehen, wie Sie in der U-Bahn in einen anderen Wagen stiegen. Aber jetzt sind wir ja hier.« »Das ist alles sehr interessant«, sagte Lucy, »aber darf ich jetzt mal einen Blick auf das Teesieb werfen?«
»Flora hat es.« Vivian stupste sie sanft an. »Wir würden gern ungefähr wissen, wann es hergestellt wurde.« »Ich gebe keine ungefähren Schätzungen ab.« Lucy zog ein Paar Baumwollhandschuhe an und nahm ein Vergrößerungsglas vom Couchtisch. »Wenn ich Ihnen auch nicht den Monat nennen kann, so doch mit Sicherheit das Jahr. Geben Sie es mir schon, ich brenne nicht damit durch! Ah ja!« rief sie. »Sie haben recht, Mr. Gossinger, es ist ein kleines Meisterwerk. Ich denke, du solltest es dir anschauen, Evangeline.« »Wenn ich darf?« »Selbstverständlich«, erwiderte Vivian. »Es besteht keinerlei Zweifel.« Evangelines Stimme klang noch heiserer. »Es ist das Teesieb, das Königin Charlotte auf dem Weg nach Gossinger Hall von unserem gemeinsamen Vorfahren erstand, Flora. Sein Name, wenn Sie es nicht bereits wissen, lautete Thomas White. Eines Tages, wenn Sie es wünschen, zeige ich Ihnen seine Unterlagen. Sie enthalten eine detaillierte Beschreibung dieses Teesiebs. Er hat nur eines dieser Art hergestellt.« »Ich muß mich hinsetzen«, murmelte Flora. »Das ist zuviel für mich…« »Oh, ich kann Ihnen noch viel mehr erzählen, und fast alles habe ich nach meinem letzten Besuch bei Ihrem Großvater herausgefunden. Ich bin ziemlich sicher, Mr. Gossinger, daß er nicht wußte, daß die Tochter von Thomas White nicht Sir Rowland Gossingers Mätresse war, wie vermutet wurde. Und sie belegte ihn auch nicht mit einem Fluch. Sie wurde seine erste Gattin. Eine heimliche Heirat, aus der jedoch ein Sohn hervorging, und laut meinen genealogischen Forschungen würde das bedeuten, daß mein Cousin – Floras Großvater – der rechtmäßige Erbe des Titels war, den Ihr Onkel trägt. Ach, und noch ein interessanter Umstand.« Evangeline legte das Teesieb
wieder in Floras zitternde Hände. »Der Name des Mädchens, das das Silber nach Gossinger Hall brachte und das Herz von Sir Rowland eroberte, war… Vivian.« In eben diesem Augenblick feierlicher Stille war eine Männerstimme zu hören, die rief: »Mutter, ich bin wieder da!« Und Lucy lehnte sich mit geschlossenen Augen auf dem Sofa zurück, als Mr. Ferncliffe hereinkam, Mann der Wissenschaften und Lehrer elfjähriger Jungen.
Kapitel 18 »Ob Mr. Ferncliffe weiß, daß seine Mutter früher mal der Unterwelt angehörte?« sagte Flora. »Das ist das dritte Mal, daß Sie mir diese Frage stellen, seit wir wieder hier sind.« Vivian lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er sah zu, wie sie aufstand, um die Vorhänge im Wohnzimmer zu schließen, die vor nicht allzu langer Zeit noch auf Gossinger gehangen hatten. »Tut mir leid.« »Nicht nötig. Ich weiß, was Sie tun. Sie suchen krampfhaft nach Gesprächsstoff, damit ich nicht darüber nachdenke, was Ihre Cousine Evangeline uns über den Familienstammbaum erzählt hat. Es wirft ein neues Licht auf Onkel Henrys Motive, nicht wahr?« »Auf die Entscheidung, sein Testament zu ändern?« Flora ließ sich wieder ihm gegenüber nieder. »Oder die Behauptung, daß er es tun würde, was nicht das gleiche ist. Mir gefällt nicht, was ich da denke, Flora, denn Onkel Henry ist wie ein Vater für mich. Aber was ist, wenn er doch wußte – und wenn Evangeline die Information ausgraben konnte, dann konnte auch er es –, daß der Titel und alles andere in Wahrheit Ihrem Großvater zustanden? Wer kann wissen, ob Evangeline oder irgend jemand anders sich nicht in Kontakt mit Onkel Henry gesetzt und ihm gedroht hat, den wahren Stand der Dinge zu enthüllen? Das würde so manchem durchaus als plausibles Motiv meines Onkels erscheinen, das einzige Hindernis für den Erhalt seines Reichtums und seines Rangs zu beseitigen. Und wie schlau von ihm, jeden Verdacht von sich abzulenken, indem er verkündete, er wolle aus reiner Herzensgüte Gossinger Hall seinem treuen Butler hinterlassen!« Vivian zog sich vom Stuhl hoch und begann auf
und ab zu gehen, oder besser gesagt, um Nolly herum, der ihm im Weg war. »Ich kann mich selbst nicht leiden, weil ich ihn verdächtige, Flora, aber allmählich kommt es mir reichlich merkwürdig vor, daß Onkel Henry mich und Cousine Sophie dabeihaben wollte, als er Tante Mabel ins Bild setzte.« »Haben Sie gestern nacht auch genug geschlafen?« »Nicht sehr viel.« »Das habe ich mir gedacht, weil Sie nämlich einen Haufen Unsinn reden«, sagte Flora. »Natürlich mußte Sir Henry Ihnen sagen, was er vorhatte. Sie sind sein Erbe. Grandpa hing an Sir Henry, und seine Zuneigung beruhte auf seiner Überzeugung, daß Sir Henry ein durch und durch guter Mensch ist. Und eines kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Mein Großvater war kein Dummkopf.« »Ich muß der brutalste Kerl auf der ganzen Welt sein«, sagte Vivian, »weil ich Ihnen schon wieder einen Abend mit diesem schmerzlichen Thema zumute.« »Es regt mich nicht auf, nicht heute abend. Ich habe heute ganz stark empfunden, daß Grandpa nicht wirklich fort ist; er wird immer da sein, wenn ich ihn am meisten brauche. Mit all seiner Wärme, wie mein Schutzengel, genauso wie im Leben.« Sie wandte den Kopf, als das Telefon läutete. »Wer kann das sein?« Nolly bekundete seinen Unwillen über die laute Störung, indem er auf die Schnur losging, und Flora mußte über ihn hinwegsteigen, um den Hörer abzunehmen. Er kläffte die ganze Zeit, während sie mit dem Anrufer sprach. »Das war Mrs. Much«, sagte sie zu Vivian, als sie auflegte. »Irgendwas Wichtiges?« »Eigenartig, milde gesagt. Ich habe vergessen, Ihnen zu erzählen, daß sie heute morgen vorbeigekommen ist. Sie sagte, sie wolle ein Fläschchen von Grandpas Silberpolitur in den
Buckingham-Palast mitnehmen, wenn sie nachmittags zur Arbeit ginge.« »In der Hoffnung, daß Ihre Majestät von dem neuen Glanz ihres Silbers geblendet sein und sich erkundigen würde, ob eine neue Politur benutzt wird?« spekulierte Vivian. »Was wiederum ihr Gedächtnis bezüglich einer kürzlichen Bewerbung um das königliche Patent auffrischen würde?« »Das war ungefähr die Idee. Aber wie sich herausstellt, verstauchte Mrs. Much sich den Knöchel, als sie aus dem Bus stieg, so daß sie heute nicht zur Arbeit gehen konnte. Merkwürdig ist nur, daß jemand im Buckingham-Palast angerufen hat, um zu sagen, eine Angehörige des Personals werde eine angeblich mit Silberpolitur gefüllte Flasche mitbringen, in der in Wahrheit Sprengstoff enthalten sei. Daraufhin gab es ein Riesentheater, Sprengstoffexperten der Polizei stellten den ganzen Palast auf den Kopf. Mrs. Much hat durch ihre Cousine, die ebenfalls dort arbeitet, Wind davon bekommen.« Flora schlug die Hand vor den Mund und setzte sich auf die Armlehne des Sofas. »Ach du meine Güte, bin ich begriffsstutzig! Boris!« »Was ist mit ihm?« Vivian ging zu ihr. »Er war hier, als Mrs. Much aufbrach, und ich habe ihm von der Politur erzählt.« »Also nein, dieser boshafte kleine Teufel!« »Das zeigt doch, daß er wirklich gestört ist, oder?« »Und ob!« »Arme Edna, ich werde es ihr sagen müssen.« Flora fühlte sich elend. »Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben.« Vivian zog sie hoch und legte den Arm um sie. »Kopf hoch, vielleicht war das ja nötig, um dem Jungen zu helfen. Und apropos aktiv werden, ich habe beschlossen, morgen Onkel Henry und Tante Mabel zu besuchen, um zu sehen, ob ich nicht Licht in die ganze
Affäre bringen kann.« Vivian ging jetzt wieder um Nolly herum auf und ab. »Das Problem ist, es ist das alte Lied, daß man seinen Beruf niemals an seinen Verwandten praktizieren sollte.« »Ich verstehe nicht«, sagte Flora. »Es gibt noch etwas, das ich Ihnen nie erzählt habe.« »Und das wäre?« Flora war ganz und gar verwirrt. »Daß ich doch eine Art Vollzeitjob habe. Ich arbeite für eine Privatdetektei, die zwei Verwandten von mir gehört. Ich glaube, ich habe Sie Ihnen gegenüber schon mal flüchtig erwähnt. Es sind ältere Damen – « »Denen Sie zu Weihnachten immer Lavendelwasser schicken?« »Genau. Sie sind Schwestern. Und die Detektei trägt den Namen Flowers Detection, weil sie Hyacinth und Primrose heißen. Seit etwa einem Monat arbeiten sie an einem Fall in der Schweiz. Oder ich hoffe wenigstens, daß sie sich dort aufhalten. Es ist schwer, mit ihnen in Kontakt zu treten, wenn sie undercover arbeiten, weshalb ich unsere Lage auch nicht mit ihnen erörtern konnte. Und das ist jammerschade, denn sie haben bereits die Antworten parat, wenn ich noch die Fragen stelle«, fügte er niedergeschlagen hinzu. »Also war Ihr Job bei George auf dem Flohmarkt nur Tarnung?« »Eine Frau hatte sich darauf verlegt, die Nippsachen ihrer Mutter zu verscherbeln. Nichts von großem pekuniärem Wert, aber der Rest der Familie war stinksauer, daher wurde ich engagiert, um sie in flagranti zu ertappen. Solche Aufträge erledige ich meistens«, sagte Vivian. »Die Sachen, bei denen die Polizei keinen Wert darauf legt, als erste am Zug zu sein. Mein Auftritt bei Macho Man, der Kosmetikfirma für den Mann, war ein wenig interessanter. Dort wurde ich von der ExFrau des Aufsichtsratsvorsitzenden eingeschleust, um
herauszufinden, ob er bezüglich der Höhe seines Einkommens log.« »Macht es Ihnen Spaß?« fragte Flora. »Privatdetektiv zu sein?« »O ja. Zum Glück bin ich nicht auf meinen Verdienst angewiesen, denn im Augenblick bin ich noch nicht allzuviel wert. Ich muß Hyacinth und Primrose erst noch dazu bringen, mich auf einen richtig großen Fall anzusetzen.« »Nun, ich denke, Sie werden sie schon bald mit Ihrer Brillanz in Erstaunen versetzen«, sagte Flora entschieden. »Also sind Sie nicht sauer, weil ich es Ihnen nicht schon eher erzählt habe?« Vivian wollte nur zu gern ihr Gesicht in seine Hände nehmen. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Flora. »Wir lernen uns gerade erst kennen, und die Vorstellung, daß Sie nach so kurzer Zeit jedem beliebigen Mädchen Ihr Herz ausschütten, würde mir nicht gefallen.« »Da gibt es einen wichtigen Unterschied. Nicht jedes Mädchen läßt mich nach der ersten Verabredung bei sich schlafen.« »Offenbar bin ich eine sehr leichtsinnige Person.« »Ich finde Sie wunderbar.« »Das sagen Sie nur« – Flora bekam nur mit Mühe Luft -»weil Sie wollen, daß ich noch mal leichtsinnig bin.« »Ich finde allmählich Gefallen daran, hier ein eigenes Zimmer zu haben.« »Ach, Quatsch!« Flora warf ein Kissen nach ihm, um die entspannte Stimmung von vorhin wieder herzustellen. »Gehen wir raus, Fish & Chips essen, Nolly ist es leid, Dosenfutter vorgesetzt zu bekommen.«
Kapitel 19 Als Flora am nächsten Morgen am Wohnzimmerfenster stand und zusah, wie Vivian wegfuhr, entdeckte sie die Fahnen, die überall in der Wishbone Street von den Häusern hingen, und fragte sich, was los war, bis ihr wieder einfiel, was Edna Smith erzählt hatte. Die Königin sollte kommen, um den neuen Flügel des Kinderkrankenhauses zu eröffnen. Flora hatte angenommen, es werde erst in ein oder zwei Wochen soweit sein. Und sie hatte nicht damit gerechnet, daß Ihre Majestät durch die Wishbone Street fahren würde. Aber die Fahnen waren ein deutlicher Hinweis darauf, daß es nicht nur möglich, sondern beschlossene Sache war. Flora dachte über Edna nach, während sie ihr Bett machte (Vivian hatte sein Zimmer bereits aufgeräumt), und nachdem sie die Kissen im Wohnzimmer aufgeschüttelt hatte, beschloß sie, das Gespräch über Boris nicht länger aufzuschieben, und rief bei ihr an. Es läutete mehrmals, und als Edna sich schließlich meldete, schnaufte und keuchte sie, weil sie bereits auf der Treppe gewesen war, auf dem Weg zu ihrem Friseurladen, als sie das Telefon hörte und noch einmal umkehrte. »Ich dachte, es sei jemand von Boris’ Schule«, sagte Edna, »der wissen wollte, warum er seit ein paar Tagen nicht am Unterricht teilnimmt. Ich weiß, ich sollte nicht erlauben, daß er zu Hause bleibt. Aber ich muß Ihnen sagen, Flora, ich befürchte, daß der Junge einfach weglaufen wird, wenn ich hart durchgreife. Seine Mutter war ein As in solchen Spielchen. Nun ja, deshalb ziehe ich ihn ja auch groß, während sie sich weiß Gott wo rumtreibt. Manchmal denke ich, ich bin am Ende meiner Weisheit angelangt.«
Es wird nicht leicht werden, dachte Flora. Und Miss Doffit macht sich Sorgen, Edna könnte ihre Schwester in der Sache mit dem Teesieb erpressen wollen! Als hätte die arme Frau noch die Energie dazu. »Ich tue Ihnen das nur ungern an, Edna, glauben Sie mir«, sagte sie, »aber ich rufe wegen Boris an. Gestern ist etwas vorgefallen, und Sie sollten es erfahren.« Sie schilderte die Angelegenheit mit Mrs. Much und der Silberpolitur. »Du lieber Himmel! Der Junge wird noch im Gefängnis landen, ich kann es mir langsam nicht mehr anders vorstellen. Und noch vor wenigen Wochen hätte ich auf einen ganzen Bibelstapel geschworen, daß er nicht schlimmer ist als jeder andere Junge in seinem Alter.« »Es ist ja nicht so, als wäre durch ihn jemand zu Schaden gekommen…« Flora fragte sich plötzlich, ob sie nicht zuviel in einen harmlosen Streich hineingedeutet hatte. »Aber im Buckingham-Palast anzurufen und die arme Königin zu erschrecken! Ich glaube nicht, daß ich Ihr jemals ins Gesicht sehen kann, wenn Sie im Fernsehen erscheint, ganz zu schweigen davon, mich heute mittag an die Straße zu stellen und zu warten, bis sie vorbeifährt. Ach, und ich hatte mich so darauf gefreut, ich habe mir einen neuen Mantel und Schuhe gekauft… Aber es hat keinen Zweck, sich darüber aufzuregen. Ich gehe jetzt mal los und zerre Mr. Boris aus dem Bett. Ich werde versuchen, den Jungen zum Reden zu bringen. Mal sehen, ob ich ihm irgendwie Vernunft beibringen kann.« Flora legte den Hörer auf und streifte eine Zeitlang lustlos durch die Wohnung. Als sie wieder in besserer Stimmung war, setzte sie sich hin, um eine Liste der Dinge aufzustellen, die sie zu erledigen hatte. Als erstes notierte sie »Nähmaschine«. Sie nähte gern, seit Mrs. Bellows es ihr beigebracht hatte, und es würde Spaß machen, ein Tuch für die Auslage im Laden zu schneidern. Ihr Bleistift flog über das Papier. Einen
Zimmermann suchen, mit George vom Flohmarkt über Lieferanten sprechen, eine Registrierkasse kaufen – vorzugsweise eine von den reizenden alten Modellen aus Messing. Die Liste ging auf der Rückseite weiter, und danach war es an der Zeit, Mrs. Bellows einen Brief zu schreiben, um sie zu fragen, wann Flora sie in Ilford besuchen kommen konnte. Als sie auf die Uhr sah, war es fast elf. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah, daß die Leute bereits an der Straße standen und warteten, um einen Blick auf die Königin zu erhaschen. Sie mußte jetzt gleich mit Nolly Gassi gehen, später wäre kein Durchkommen mehr. Wie sich herausstellte, genoß Nolly das Bad in der Menge, vielleicht weil es ihn an sein Leben mit George auf dem Flohmarkt erinnerte. Flora hatte Mühe, ihn davon abzubringen, den Angeber zu spielen und wieder mit ihr in den Laden zurückzukehren. »Als nächstes hättest du noch Geld für dein Autogramm verlangt«, schimpfte sie, als sie ihm die Leine abnahm. »Ich denke, wir halten vom Wohnzimmerfenster aus Ausschau nach der Königin. Auf diese Weise kannst du mich nicht blamieren, wenn – Ach, vergiß es, da geht das Telefon. Hoffentlich ist es Vivian, er hat versprochen anzurufen.« Es war Vivian, und ihr Herz vollführte wieder einmal einen dieser komischen Saltos. »Lassen Sie mich raten«, sagte er, »Sie und Nolly sind gerade von einem Spaziergang zurückgekommen.« »Richtig, aber so schwierig war das auch wieder nicht, da es hier im Moment eigentlich nicht viel zu tun gibt. Und Sie?« »Nachdem ich Onkel Henry wiedergesehen habe, bin ich zu dem Schluß gelangt, daß meine Verdächtigungen von gestern abend mich als einen tobsüchtigen Irren abstempeln. Was Tante Mabel betrifft, sieht sie furchtbar aus. Onkel Henry sagt,
in der letzten Zeit sei ihr ziemlich oft übel, vor allem morgens. Wenn sie nicht schon so alt wäre, würde ich einen Besuch vom Klapperstorch prophezeien. Und, Flora…« »Ja?« »Hier ist noch etwas vorgefallen. Gestern wurde eine Leiche unter dem Komposthaufen der Gärtnerei gefunden.« »Die Leiche eines Menschen?« Flora sank auf die Armlehne des Sofas. »Ich meine… nicht von einem Hund oder einer Katze?« »Es war ein Mann.« »Vivian?« »Ja?« »Ich frage mich« – es fiel Flora schwer, es auszusprechen »ob es Mr. Tipp sein könnte? Als Mrs. Much gestern hier war, erwähnte sie, er hätte ihr erzählt, daß er keine Verwandten mehr hat. Wie kann er da zu seinem erkrankten Cousin gefahren sein?« »Mrs. Much könnte ihn falsch verstanden haben.« »Ja, sie sagte, so könne es sein; ich denke nur plötzlich, daß ich nicht immer nett zu Mr. Tipp war. Ich mag ihn, aber als Kind habe ich manchmal hinter seinem Rücken Flippi zu ihm gesagt, weil sein Vorname Philip war, und ich fand, daß Philip Tipp so albern klang.« »Flora, ich bin sicher, es geht ihm gut.« »Ja… natürlich, bestimmt.« »Ich bin zurück, bevor Sie richtig merken, daß ich weg war.« »Bitte rasen Sie nicht.« »Versprochen.« »Bis später.« Flora drückte auf die Gabel, weil sie den Hörer nicht sofort loslassen wollte. Als sie schließlich doch auflegte und sich erhob, merkte sie, daß sie auf ihrem Hut gesessen hatte. Widerwillig ging sie nach unten, glättete ihn mit dem Kessel und war mit dieser Aufgabe fast fertig, als es an der Tür
läutete. Während sie zur Tür ging, dachte sie, daß dies in letzter Zeit sehr häufig vorkam – sie begann mit einer Arbeit und wurde mittendrin unterbrochen. Wer würde es dieses Mal sein: Edna? Boris? Reggie? Hoffentlich Mr. oder Mrs. Singhh! Die beiden waren so nett und unkompliziert. Es war Miss Doffit. »Ich habe mir Sorgen um Vivian gemacht«, sagte sie ohne Einleitung und trat energisch ein. Sie sah aus, als ginge sie zu einer Gartenparty – sie war in weiches Mauve und Blau gehüllt und trug dazu einen ihrer schicksten Federhüte. »Ich bin furchtbar besorgt, weil er gestern nacht nicht nach Hause gekommen ist.« »Aber er hat doch angerufen«, wandte Flora ein. »Ich war dabei, als er mit Ihnen gesprochen hat.« »Ach, das erklärt alles!« Auf Miss Doffits Puttengesicht erschien ein Lächeln. »Deshalb klang seine Stimme so komisch; ich dachte, es läge daran, daß seine Kidnapper mit einer Waffe hinter ihm stehen.« »Das kann nicht sein!« »Ich mache nur Spaß, meine Liebe. Da ich eine alte Dame bin, sehe ich es nur zu gern, wenn eine junge Liebe erblüht. Sie sind sich sicher im klaren, daß Henry und Mabel anfangs ein wenig überrascht sein werden. Henry wird es natürlich positiv aufnehmen. Er hat Sie immer schon so gern gemocht. Genau wie ich. Aber Mabel wird ein Mordstheater machen. Und natürlich wird es Gerede im Dorf geben und in den Kreisen, in denen Vivian sich bewegt. Es gibt immer Leute, die es nicht gern sehen, wenn ein Mädchen wie Sie aufsteigt. Aber dazu bin ich ja da, um Ihnen nach Kräften den Weg zu ebnen, und es wird meine letzten Jahre auf Erden mit zu den glücklichsten meines Lebens machen, weil ich es so sehr liebe, gebraucht zu werden.« »Miss Doffit«, sagte Flora, während sie die Tür abschloß, »Sie glauben, daß wir wieder oben auf dem Speicher von
Gossinger sind und Verkleiden spielen. Dies ist das wirkliche Leben, kein Märchen. Vivian und ich sind nur Freunde. Das ist alles. Ich weiß, es scheint eigenartig, daß er so oft hier ist, aber es gibt Gründe – Gründe, die ich jetzt lieber nicht vertiefen möchte –, die rein gar nichts mit Romantik zu tun haben.« Miss Doffit machte ein enttäuschtes Gesicht. »Oh, mein liebes Mädchen, Sie sind doch hoffentlich nicht so deprimiert wegen Ihres lieben Großvaters, daß Sie auf dumme Gedanken kommen?« »Nicht im geringsten.« »Welche Erleichterung. Denn ich freue mich ja schon so sehr darauf, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Sie werden mir erlauben, Sie bei der Auswahl Ihrer Aussteuer zu beraten, meine Liebe? Meine liegt immer noch für mich bereit. Ich bin kürzlich erst wieder darauf gestoßen, als ich ein paar Sachen durchsah, die ich eingelagert habe. Erstaunlich, was man bei solchen Gelegenheiten alles wiederfindet.« Miss Doffit wirkte nachdenklich. »Meine Eltern warfen mit Geld um sich, als gäb’s kein Morgen, und doch horteten sie Dinge, die die meisten Leute schon vor Jahren losgeworden wären. Aber ich bin anscheinend nicht besser als sie, denn seit sie tot sind, bezahle ich enorm hohe Lagergebühren. Und ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten, Flora.« »Was denn?« Flora hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie mußte immer wieder an die Leiche denken, die man gegenüber von Gossinger gefunden hatte. Sie wurde das unheimliche Gefühl nicht los, das in dem Augenblick Besitz von ihr ergriffen hatte, als sie den Hörer auflegte und endgültig von Vivian getrennt war. »… Es geht um das Teesieb.« »Was?« »Das Geheimnis, das ich Ihnen erzählen will.« »Oh. Ich höre.«
»Es erklärt, warum ich so erleichtert war, als Vivian gestern abend anrief und sagte, Sie hätten es gefunden. Denn, sehen Sie, ich war diejenige, die es ursprünglich gefunden hat, und ich habe es Mabel gegeben. Ich wußte, sie wäre entzückt, wenn sie es Henry überreichen und ein echtes Lächeln auf sein Gesicht zaubern könnte. Sie wollte ihn zu seinem Geburtstag damit überraschen. Das war meine Idee. Furchtbar romantisch, meinen Sie nicht auch? Henry ist kein Mensch, der seine Gefühle zeigt. Ich bin sicher, er hat Mabel unwahrscheinlich gern, aber wie die meisten Männer muß man ihn hin und wieder daran erinnern, daß seine Gattin eine begehrenswerte Frau ist. Doch – und das meine ich nicht böse – die liebe arme Mabel hat ja nicht die Figur für Spitzennegliges und dergleichen. Dennoch dachte ich, wenn sie mit dem Teesieb in den Händen vor Henry stünde, selbst in einem ihrer unförmigen Pullis und Tweedröcke, könnte er nicht umhin, sie unwiderstehlich zu finden. Ich habe mir vorgestellt« – in Miss Doffits Augen trat ein verträumter Ausdruck – »wie sie Hand in Hand auf das Teesieb schauen, während ihre Liebe von neuem erblüht. Und wie könnte Mabel angesichts all dessen nicht erkennen, wie sehr sie mich braucht? Das heißt, ich würde mir nie wieder Sorgen zu machen brauchen, weil ich gelegentlich mal ins Fettnäpfchen trete. Nie wieder brauchte ich Angst zu haben, daß man mir eines Tages die Tür weist.« »Aber wo war das Teesieb in all den Jahren?« fragte Flora. Ihre Neugier verdrängte die vage Beklommenheit, die sie einhüllte wie der Nebel am Tag der Beerdigung ihres Großvaters. »Ich kann Ihnen nur sagen, meine Liebe, wo ich es gefunden habe. Und zwar in einem Lackkästchen am Grund einer alten Teekiste, die ich zusammen mit den übrigen Sachen meiner Eltern eingelagert hatte. Meine Vermutung ist, daß einer meiner Vorfahren an dem Tag, als Königin Charlotte zum Tee
kam, anwesend war und es an sich nahm. Ich würde gern glauben, daß es der harmlose Streich eines Kindes war, obgleich ich zugeben muß, daß meine Familie nicht ganz unbescholten ist. Einer meiner Brüder mußte die Bank von England verlassen, weil er sich ohne die nötige Vollmacht eine Gehaltserhöhung bewilligte.« »Miss Doffit, wenn Vivian hier wäre, würde er sagen, Sie sind ein Goldschatz!« Und Flora konnte nicht anders, sie mußte die alte Dame drücken. »Danke sehr, meine Liebe. Meinen Sie nicht, wir sollten langsam nach oben gehen? Sie wollten mich doch einladen, vom Fenster aus einen Blick auf die Königin zu werfen? Oder hatten Sie vor, nach draußen zu gehen? Ich fürchte, in Menschenmengen fühle ich mich nicht mehr allzu wohl, aber ich will Ihnen den Spaß nicht verderben.« »Ich wollte im Haus bleiben«, beteuerte Flora, »denn bei den vielen Menschen sieht man vom Fenster aus bestimmt mehr.« »Oh, gut. Wissen Sie, der Anblick Ihrer Majestät entzückt mich jedesmal aufs neue. Ich glaube, es liegt daran, daß so viele Leute sagen, ich sähe ihrer Mutter so ähnlich. Deshalb fühle ich mich unserer lieben Königin besonders nahe.« Miss Doffit wirkte geradezu ausgelassen, als sie Flora durch den Laden folgte. Flora ging voraus ins Wohnzimmer, wo Nolly zu ihr getrottet kam und darauf bestand, daß sie seinen Rücken tätschelte, weil er während ihrer Abwesenheit so brav gewesen war. »Er ist kein großer Wachhund, nicht wahr?« sagte Miss Doffit, die sich am Fenster postiert hatte und etwas aus ihrer blauen Lederhandtasche holte. »Wenigstens nicht, wenn Sie hier sind. Er hat zwar gebellt, als ich neulich abends draußen vor dem Laden wartete, aber anscheinend fühlt er sich vollkommen sicher, wenn seine Mummy zu Hause ist.«
Wieso hatte Flora sogleich das Gefühl, daß sie nie in ihrem Leben weniger sicher gewesen war? Weil Nolly leise winselte, als sie sich bückte, um ihn aufzuheben? Ihr fiel ein, daß er an dem Tag, als Reggie kam, ähnlich Laut gegeben hatte. Als Mrs. Much erschien, hatte er hingegen keinen Ton von sich gegeben. Flora hatte es sich damit erklärt, daß er sich inzwischen an sein neues Heim gewöhnt und viel größeres Interesse an seinem roten Ball oder einem Nickerchen hatte als daran, wer gerade kam oder ging. Aber stimmte es wirklich, daß Frauen seinen Beschützerinstinkt prinzipiell nicht weckten? Jetzt ging er schnüffelnd zur Tür, und dort wurde sein Winseln zu einem Knurren. Es war nicht das spielerische Knurren, womit er dem roten Ball oder seinem übrigen Spielzeug bedeutete, wer der Boß war. Es war echt. Er wollte ihr sagen, daß jemand – ein ausgesprochen unwillkommener Jemand – draußen vor der Tür war und die Stufen hochschlich. Nicht, daß er es Flora noch zu sagen brauchte, denn sie hörte bereits ein leises Knarren, das Flüstern einer Holzplanke, gefolgt von einer Pause, in der die Zeit stillzustehen schien, so daß Miss Doffit ihr überlebensgroß vorkam… Sie stand am Fenster, mit einer Brille in der rechten Hand, und die blauen und malvenfarbenen Federn an ihrem Hut bewegten sich im Wind. »Es muß Vivian sein«, sagte Flora, doch ihre Lippen wollten die Worte kaum formen; denn natürlich wußte sie, daß es nicht Vivian war – selbst wenn er fliegen könnte, wäre er unmöglich so schnell hier. »Himmel, warum stehe ich hier wie festgewachsen?« Sie stürzte zur Tür, doch es war zu spät: ehe sie den Schlüssel im Schloß drehen konnte, wurde die Tür von jemandem nach innen aufgestoßen. Dieser Jemand betrat den Raum. Es war Mr. Tipp, der noch skelettartiger aussah als in ihrer Erinnerung. Aber er war keineswegs tot. Ja, trotz seiner
gebeugten Haltung, seiner dünnen Haare und eingefallenen Wangen hielt Mr. Tipp die Waffe, mit der er auf Flora zielte, völlig ruhig in seiner behandschuhten Hand. »Na, was will der denn hier?« fragte Miss Doffit mit einer Stimme, die ebenfalls erstaunlich gefaßt klang. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie hier sind, Madam.« Mr. Tipp besaß den Anstand zusammenzuzucken, als er ein Mitglied der Familie sah. »Tut mir leid, daß es so kommen mußte.« »Nun, lassen wir Ihre Gefühle mal aus dem Spiel«, erwiderte die tapfere alte Dame knapp. »Denken Sie an meine Gefühle und die der armen Flora, und stecken Sie dieses alberne Ding weg.« »Tut mir furchtbar leid, aber das geht nicht, Madam.« »Dann muß ich eben den Kopf zum Fenster hinausstrecken und Zeter und Mordio schreien.« »Wenn Sie das tun – verzeihen Sie meine Offenheit –, muß ich Ihnen in den Hinterkopf schießen. Ich will keineswegs behaupten, daß mir dies ebensoviel Spaß machen würde, wie mit Mrs. Much über die Möglichkeit zu fachsimpeln, daß Hutchins ermordet wurde, und mir dabei eins ins Fäustchen zu lachen. Aber es würde mir auch nicht den Schlaf rauben, wenn ich Ihnen eine Kugel verpassen müßte, Miss Doffit. Es ist ja nicht so, als trügen Sie den Namen Gossinger. Und für mich ist das alles, was zählt.« »Ich denke, er meint es ernst, Flora.« Die alte Dame sprach mit fester Stimme. »Kein Wunder, meine Liebe, daß Henry ihn nie gemocht hat.« »Grandpa auch nicht.« »Das wußte ich«, sagte Mr. Tipp, »und deshalb hat es mir ein irrsinniges Vergnügen bereitet, ihn aus dem Weg zu räumen. Nicht, daß ich es nicht getan hätte, wenn ich anders empfunden hätte, denn, sehen Sie – ich schätze, man könnte sagen, daß ich
zumindest in einer Hinsicht wie Hutchins war: Ich mußte an das Wohl der Familie denken. Meine Vorfahren lebten und arbeiteten mehrere hundert Jahre lang auf Gossinger. Ich bin ein Teil des Hauses, so wie Hutchins und Sie, Flora, es nie hätten sein können. Um dann hören zu müssen, daß Sir Henry das liebe alte Haus ihm hinterlassen wollte – das konnte ich unmöglich zulassen.« »Er hat immer schon an der Tür gehorcht«, sagte Miss Doffit. »Das hat Sir Henry erzählt.« »Es hat mir nichts ausgemacht, was Sir Henry über mich dachte. Er hatte das Recht dazu. Er ist der Herr über Gossinger.« Mr. Tipp trat näher an Flora heran. »Ich muß zugeben, daß ich noch nicht wußte, wie genau ich Hutchins beseitigen sollte, bis ich diesen Schuljungen aus dem Turmzimmer kommen sah.« »Boris?« Flora wünschte, sie hätte den Mut, Nolly auf die Arme zu nehmen, der zitternd zu ihren Füßen stand. »Genau. Er war reingegangen, um mit Mylady zu sprechen, weil sie die Schwester seiner Großmutter war. Sie befahl ihm zu verschwinden, und er war so wütend, wie es nur die lieben Kleinen sein können. Er sagte, jemand solle die alte Hexe in die Garderobe stopfen. Und irgend etwas an der Art, wie er es sagte, brachte mich auf den Gedanken, daß er etwas angestellt hatte. Und ob er das hatte. Er und ein anderer Junge – Edward Sowieso. Als ich ihn am Ohr zur Garderobe zerrte, sah ich, daß die kleinen Racker Hutchins in der Garderobe eingeschlossen hatten.« »Er… Boris… hat nicht gesehen, was Sie Grandpa angetan haben?« »Er schob ab. Anschließend tat ich, was getan werden mußte, um Gossinger dem rechtmäßigen Erben zu sichern. Mr. Vivian.«
»Haben Sie Grandpa gezwungen, diesen Zettel zu schreiben, auf dem stand ›God save the queen‹?« Flora redete nicht nur, um Zeit zu gewinnen und auf ein Wunder zu hoffen; sie wollte soviel über die letzten Augenblicke ihres Großvaters wissen, wie dieser Wahnsinnige ihr sagen würde. »Nein, das habe ich geschrieben.« Mr. Tipps Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Ich konnte Sie nie leiden, Flora. Als kleines Mädchen haben Sie so getan, als gehörte das Haus Ihnen. Auf dem Speicher mit der guten Doffit hier Verkleiden gespielt, als wären Sie Sir Henrys eigen Fleisch und Blut. Deshalb dachte ich, es wäre doch ein netter kleiner Seitenhieb, diese Worte aufzuschreiben und Sie in dem Glauben zu lassen, Hutchins’ letzter Gedanke hätte Ihrer Majestät gegolten, nicht seiner kostbaren Enkelin. « »Das hätte ich wissen müssen.« »Aber es gab noch einen anderen Zettel, einen, den Hutchins geschrieben und unter der Tür hindurchgeschoben hatte, auf dem stand, zwei Jungs hätten ihn eingeschlossen und man solle ihn befreien. Das war typisch für ihn, und ich muß sagen, diesen Teil von ihm habe ich bewundert. Er machte keinen großen Aufstand, wenn es eine andere Alternative gab. Und da Mrs. Much, Sie, Flora, und auch ich so oft an der Garderobe vorbeikamen, bestand eine gute Chance, daß er schnell befreit worden wäre. Wenn es ein Trost für Sie ist« – Mr. Tipps Züge schienen weicher zu werden, wodurch sein Gesicht jedoch nur noch unangenehmer wirkte – »als ich die Tür zur Garderobe öffnete, hatte Hutchins keinen Kampfgeist mehr. Die stickige Luft hatte ihm offenbar zugesetzt, und er war nicht allzu sicher auf den Beinen. Als ich ihn packte, wurde er ohnmächtig, was meine Arbeit zu einem Kinderspiel machte. Und der Rest war auch nicht schwieriger.« »Was meinen Sie damit?« Flora und Miss Doffit stellten die Frage gleichzeitig.
»Diesen Jungen, Boris Smith, davon zu überzeugen, daß er und sein Kumpel die Schuld an Hutchins’ Tod trugen. Ich behielt den Zettel, auf den Hutchins geschrieben hatte, man habe ihn eingesperrt, und benutzte ihn, als ich herausfand, daß Sir Henry immer noch nicht zur Besinnung gekommen war und daran dachte, Ihnen Gossinger zu vermachen, Flora. Nun, selbst Sie können sich ausrechnen, daß ich das nicht zulassen konnte, also machte ich Boris ausfindig, kinderleicht, da er ja mit Lady Gossinger verwandt war. Und ich zog bei ihm und seiner Großmutter ein, um jederzeit die Schrauben anziehen und ihn zwingen zu können, mir bei der Ausführung meines restlichen Plans zu helfen.« »Und das war?« Flora streckte die Hand aus, weil sie hoffte, Nolly werde hochspringen und sich von ihr streicheln lassen, sah jedoch von jeder weiteren Bewegung ab, als Mr. Tipp mit der Waffe noch ein Stückchen näherkam. »Zunächst dachte ich, daß ich mir all die Arbeit sparen könnte, Sie beseitigen und neben Hutchins begraben lassen zu müssen.« Mr. Tipp schüttelte den Kopf, vermutlich über seine eigene Naivität. »Mein Plan war, Boris Smith etwas ausschnüffeln zu lassen, das in Sir Henrys Augen ein schlechtes Licht auf Sie werfen und ihn dazu bewegen würde, seine Meinung zu ändern. Ich war nicht etwa besorgt, die Leute könnten Verdacht schöpfen, wenn es so kurz hintereinander zwei Todesfälle gab, denn ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß man Lady Gossinger für die Drahtzieherin halten würde. Und das störte mich wenig, weil sie im engeren Sinne nicht zur Familie gehörte. Wie viele andere habe ich immer gedacht, Sir Henry hätte sich eine ebenbürtigere Gefährtin suchen sollen.« »Das ist alles sehr interessant«, sagte Miss Doffit. »In meinem Alter ist man nicht mehr an soviel Aufregung gewöhnt, nicht in einem Jahr, geschweige denn an einem Tag.«
»Ich wußte nicht genau, wie ich weiter vorgehen würde«, teilte Mr. Tipp ihr mit, »bis unsere Flora hier und Mr. Vivian Gossinger neulich zu Mrs. Smith zum Tee kamen. Ich ließ mir hinterher von Boris alles wiederholen, was gesagt worden war – daß Sie an die Königin geschrieben hatten, Flora, um sie zu bitten, Ihnen diese Genehmigung für Hutchins’ Silberpolitur zu erteilen, wofür auch immer das gut sein sollte, und daß Sie noch keine Antwort bekommen hatten. Daß Sie früher eifersüchtig auf Hutchins’ Wertschätzung für Ihre Majestät waren. Und um die Sache abzurunden, schickte ich Boris gestern hierher, um zu sehen, was er sonst noch über Sie in Erfahrung bringen könnte. Bei seiner Rückkehr erzählte er mir, daß Mrs. Much ein Fläschchen mit der Politur in den Palast mitnehmen wollte. Ja, ich glaube, es war die Krönung meiner Aktivitäten, als ich dort anrief und sagte, die Flasche enthalte Sprengstoff«, schloß er selbstgefällig. »Mrs. Much ist gestern nicht zur Arbeit gegangen.« »Macht nichts, kommt letztlich auf dasselbe heraus. Denn wenn Sie die Königin erschießen, liegt bereits eine feingeknüpfte Indizienkette vor – nur gut, daß ich mir immer die Krimis im Fernsehen ansehe. Man wird sogar annehmen, daß Sie die Waffe von Ihrem Vater, dem Exknacki, oder von einem seiner zwielichtigen Freunde bekommen haben.« »Die Königin erschießen?« stieß Flora hervor. Ihr war plötzlich eiskalt, doch ebenso war sie eisern entschlossen. »Dazu können Sie mich nicht zwingen. Sie müssen zuerst mich erschießen.« »Mich auch«, sagte Miss Doffit bestimmt. »Oh, ich glaube doch, daß ich Sie zwingen kann.« Von Mr. Tipps Lächeln ging ein unheimliches Strahlen aus. »Ich war immer schon extrem dünn, aber ich bin auch immer noch ein bemerkenswert zäher alter Vogel.« Und mit diesen Worten
packte er Flora am Arm und zerrte sie zum Fenster, während er Miss Doffit mit seiner Waffe in Schach hielt. »Völlig unnötig, solch ein Theater zu machen, Flora. Ich werde hinter dem Vorhang stehen, Ihren Arm halten und Ihnen beim Abdrücken helfen. Aber auf dem Abzug werden nur Ihre Fingerabdrücke sein. Anschließend werde ich gezwungen sein, Miss Doffit zu erschießen. Und wenn die Polizei das Haus stürmt…« »Wird man Ihre Handschuhe in Ihren Taschen finden und klarsehen.« »Nein, wird man nicht, weil ich Sie in diese Kommode da legen werde, und jeder, der sie findet, wird denken, sie gehörten Ihnen. Es ist doch ein Glück, nicht wahr, wenn es auch eigentlich keine Rolle mehr spielt, daß ich sehr kleine Hände habe, nicht größer als Ihre.« »Das können Sie nicht tun.« Flora bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Wie können Sie die Gossinger-Familie für bedeutender halten als die Königin – sie ist der Ruheanker dieser Nation! Großbritannien könnte ohne sie zerfallen!« »Was ich gern wüßte«, sagte Miss Doffit, als Rufe unten von der Straße die bevorstehende Ankunft des königlichen Wagens ankündigten und Mr. Tipp sie zur Seite stieß, »ja, ich bin sogar extrem neugierig zu erfahren, wie Sie hier hereingekommen sind, obwohl die Tür zum Laden verschlossen war.« »Ich habe den Ersatzschlüssel benutzt, den Mr. Vivian Gossinger bei Mrs. Smith hinterlassen hat.« »Genau, das haben Sie verdammt noch mal getan!« schrie eine Stimme hinter ihnen. »Als wäre es nicht genug, daß Sie meinem armen Boris solche Angst eingejagt haben, daß er nicht mehr klar denken konnte – Oh, es ist mir gerade erst gelungen, ihm alles aus der Nase ziehen, und jetzt sind Sie an der Reihe damit, vor Angst zu schlottern. Sie haben es hier mit einer Großmutter zu tun, Mr. Ekelpaket Phillips! Und wenn ich
denke, daß ich Ihnen zuliebe vorgelogen habe, Sie seien ein Verwandter, weil Sie sagten, sonst würden die Nachbarn vielleicht denken, wir hätten ein Techtelmechtel! Dir werd’ ich’s zeigen, du kleiner Mistkerl!« Edna stand in der Mitte des Zimmers und schien in Floras verzerrter Wahrnehmung anzuschwellen, bis sie die Höhe und Breite eines zähnefletschenden Grizzlybären angenommen hatte. »Los, kommen Sie her«, kreischte Mr. Tipp und fuchtelte wild mit der Waffe herum, weil selbst ihm in seinem Wahnsinn klar war, daß er den richtigen Moment leicht verpassen könnte. Es würde nur Sekunden dauern, bis der Wagen der Königin sicher unter dem Wohnzimmerfenster vorbeigeglitten war. »Und ob ich komme!« Edna Smith stürzte sich bereits auf ihn und schlug mit etwas aus, das wie eine Peitsche aussah. Mr. Tipp, der blitzschnell nach unten blickte, erkannte, daß, wenn er jetzt schoß, alles sinnlos war. Der königliche Wagen würde kurz vor dem Gefahrenpunkt anhalten. Die Waffe schwankte in seiner Hand und ging dann los. Die Kugel traf die Zimmerdecke, als Edna Smith, Friseuse mit Leib und Seele, die Schnur des Lockenstabs, den sie aus der Tasche ihres Overalls hervorgeholt hatte, um seinen Hals wickelte. »So ist’s brav«, krächzte sie triumphierend, als sie ihn binnen Sekunden auf den Fußboden befördert hatte. Flora kam hinzu, um ihr Werk zu vollenden, indem sie ihm eins mit einem der Kerzenhalter vom Kaminsims über den Schädel gab. »Man weiß nie, was man nicht irgendwann einmal gut gebrauchen kann, nicht wahr?« Edna sprang flink wie ein Schulmädchen auf. Unterdessen, um nicht zurückzustehen, lehnte sich Miss Doffit aus dem Fenster und rief um Hilfe. Wenig später erschienen zwei königliche Beine in der Tür der Limousine, und die Stimme Ihrer Majestät ertönte. Sie duldete keinen Widerspruch von den Leibwächtern oder sonst jemandem. »Es
versuche niemand, mich aufzuhalten. Ich gehe da rein! Sie haben Mummy da drinnen! Sie haben die Königinmutter in ihrer Gewalt!«
Epilog »Ihre Majestät war wunderbar«, sagte Flora am Abend zu Vivian, als sie sich auf sein Drängen auf das Sofa legte. Er beugte sich besorgt über sie. »Sie hat alle beruhigt, einschließlich ihrer Sicherheitsbeamten.« »Die Hand, die das Empire erzittern läßt.« »Das ist der Eindruck, den sie erzeugt. Daß sie nicht nur die Königin, sondern die Mutter all ihrer Untertanen ist. Sie stellte genau die richtigen Fragen, und ob du’s glaubst oder nicht, Vivian, sie hat mir mit großem Interesse zugehört, als ich ihr erklärte, welche Rolle Grandpas Silberpolitur in all dem spielte! Sie hat mich um eines der Fläschchen auf dem Fenstersims gebeten und gesagt, ›Gossinger’s Polish‹ habe genau den richtigen Klang für eines ihrer Patentsiegel, solange es meiner Begeisterung wirklich gerecht werden würde.« »Das klingt überaus ermutigend«, pflichtete Vivian ihr bei. »Mir scheint, in Zukunft wirst du dich in so erlauchten Kreisen bewegen, daß du für mich keine Zeit mehr hast. Und ich könnte es dir nicht einmal verdenken, weil ich dir keine besonders große Hilfe war.« »Das ist nicht wahr«, rief Flora. »Du hast dich mit Edna Smith in Verbindung gesetzt, um sie vor Mr. Tipp zu warnen, und du hast sie gebeten, mir sofort Bescheid zu sagen. Es war meine Schuld, daß du mich nicht erreichen konntest, weil ich den Hörer nicht richtig aufgelegt hatte.« Vivian rieb sich die Stirn. »Als ich am Telefon mit dir sprach, machtest du dir noch solche Sorgen, der Leichnam, den man gefunden hatte, könne Mr. Tipp sein. Erst kurz bevor ich Gossinger verließ, erfuhr ich, daß es sich um die Überreste eines älteren obdachlosen Mannes handelte. Dann fiel mir ein, daß du mir erzählt hattest, Mr. Tipps Taufname sei Philip. Was
mich an zweierlei denken ließ: daß Mrs. Smith’ Untermieter angeblich Phillips hieß und daß Onkel Henry den guten Mann nie leiden konnte und ihn nur aus einem Gefühl der Verpflichtung bei sich behielt. Ebenso hielt dein Großvater sehr wenig von Tipp. Und wie du gestern sagtest, das Urteil des einen Menschen über den anderen muß manchmal ernsthaft in Betracht gezogen werden.« Vivian lächelte sie an. »Aber reden wir nicht mehr davon. Es sei denn, du möchtest es?« »Nein, ich glaube, jetzt muß sich alles erst einmal ein wenig setzen. Und du mußt immer noch von der Nachricht erschüttert sein, daß Lady Gossinger tatsächlich ein Baby erwartet.« »Stell dir vor, wie Onkel Henry erst zumute sein muß! Er konnte kaum zusammenhängend reden, als er eben anrief, um zu berichten, heute nachmittag wäre der Arzt bei Tante Mabel gewesen, und er hätte gesagt, sie sei seit fast drei Monaten schwanger. Du weißt, was das bedeutet, Flora – es steht fiftyfifty, daß ich weder Gossinger noch den Titel am Hals haben werde.« »Es macht dir wirklich nichts aus?« »Wenn zutrifft, was Evangeline uns erzählt hat, leben wir Gossingers seit zweihundert Jahren unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in dem alten Haus. Außerdem bin ich viel lieber ein Selfmademan.« Vivians Lächeln zeigte ihr, daß er es ernst meinte. »Und jetzt erzähl mal, was du morgen vorhast.« »Ja!« Flora setzte sich auf und stützte das Kinn in die Hände. »Es ist herrlich zu wissen, daß es ein Morgen gibt. Evangeline hat angerufen, kurz bevor du kamst. Sie will mir das Geld zurückzahlen, das Grandpa ihr geliehen hat, zuzüglich der Zinsen. Ich war überrascht, wieviel es war. Genug, um Silber einzukaufen, einschließlich der Teekanne, die dein Freund George im Angebot hat, und den Laden meinen Vorstellungen entsprechend aufzuziehen. Statt Trödel verkaufen zu müssen.
Und Evangeline hat angeboten, meine Ausbildung zu vollenden, mit der mein Großvater damals begonnen hat.« »Apropos deine neuen Verwandten…« Vivian griff nach Floras Hand. »Du weißt doch, daß du und ich nach allem, was sie uns erzählt hat, ebenfalls verwandt sind.« »Sehr entfernt.« »Wie gut, daß es so ist«, sagte er, setzte sich neben sie aufs Sofa und hob ihre Finger an seine Lippen. »Es hätte mir überhaupt nicht gefallen, erfahren zu müssen, daß wir Cousins ersten Grades sind.« »Nein, das wäre eine Katastrophe gewesen«, sagte Flora und wandte ihm ihr Gesicht zu, das nicht vom Schein des Feuers leuchtete, sondern von der Entdeckung, daß die Welt glänzte und funkelte wie das Gossinger-Silber, wenn sie ihrem Großvater geholfen hatte, es zu putzen – in jenen magischen Tagen, als sie noch ein kleines Mädchen war und wußte, daß sie alle ewig leben würden.