Stuart M. Kaminsky
CSI:NY Der Tote ohne Gesicht
Aus dem Amerikanischen von Frauke Meier
VGS
Erstveröffentlichung b...
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Stuart M. Kaminsky
CSI:NY Der Tote ohne Gesicht
Aus dem Amerikanischen von Frauke Meier
VGS
Erstveröffentlichung bei Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc. New York 2005. Titel der amerikanischen Originalausgabe: »CSI:NY – Dead of Winter« Das Buch »CSI: NY – Der Tote ohne Gesicht« entstand auf Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Anthony E. Zuiker, ausgestrahlt bei VOX. © 2006 CBS Broadcasting Inc. and Alliance Atlantis Productions, Inc. CSI:NY in USA is a trademark of CBS Broadcasting Inc. and outside USA is a trademark of Alliance Atlantis Communications Inc. All Rights Reserved. CBS and the CBS Eye design™ CBS Broadcasting Inc. ALLIANCE ATLANTIS with the stylised »A« design™ Alliance Atlantis Communications, Inc. Based on the hit CBS television series »CSI: NY« Produced by CBS PRODUCTIONS, a business unit of CBS Broadcasting Inc. and Alliance Atlantis Productions, Inc. Executive Producers: Jerry Bruckheimer, Anthony E. Zuiker, Ann Donahue, Carol Mendelsohn, Andrew Lipsitz, Danny Cannon, Pam Veasy, Jonathan Littman Series created by: Anthony E. Zuiker, Ann Donahue, Carol Mendelsohn
© des VOX-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung 1. Auflage 2006 © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH Alle Rechte vorbehalten. Redaktion: Sabine Arenz Lektorat: Ilke Vehling Produktion: Susanne Beeh Umschlaggestaltung: Danyel Grenzer, Köln Senderlogo: © VOX 2006 Titelfoto: © 2006 CBS Broadcasting Inc. and Alliance Atlantis Productions, Inc. Satz: Achim Münster, Köln Printed in Germany ISBN 3-8025-3533-2 Ab 01.01.2007: ISBN 978-3-8025-3533-8 www.vgs.de
Ganz New York liegt wie erstarrt unter einer Schneedecke, während das CSI-Team in einem ungewöhnlichen Fall ermittelt: Im Fahrstuhl eines vornehmen Appartementgebäudes wird die Leiche von Charles Lutnikov entdeckt. Als sich Aiden Burn und ihr Kollege Mac Taylor bei den Nachbarn umhören, führen alle Spuren zu der Krimiautorin Louisa Cormier. Könnte es sein, dass die Lösung des Falles in ihren Büchern verborgen liegt? Gleichzeitig arbeiten Stella Bonasera und Don Flack an einem mysteriösen Mordfall: Der Drahtzieher des organisierten Verbrechens von New York, Anthony Marco, steht vor Gericht. Aber eines Morgens wird Alberta Spanio, die Kronzeugin der Staatsanwaltschaft, tot in ihrem Hotelzimmer gefunden. Ein offenes Badezimmerfenster legt die Vermutung nahe, dass der Mörder von außen eingedrungen ist. Beobachtet wurden allerdings zwei Männer, die sich in dem Raum über Alberta eingemietet hatten. Somit scheint die Lösung des Rätsels nahe, aber eines wissen CSI-Ermittler: Wenn es um Mord geht, ist nichts einfach.
Mein Dank gilt Bruce Whitehead und der Crime Scene Investigation Unit des Büros des County Sheriffs von Sarasota, Florida, sowie Lee Lofland, Denene Lofland und Dr. D. P. Lyle, die mich an ihrem forensischen Wissen teilnehmen ließen. Außerdem danke ich Hugo Parrilla, Detective im Ruhestand und ehemals Mitglied der 24. Squad des NYPD, für seine Unterstützung.
Prolog
Eine Nacht zum Träumen. Es war Anfang Februar, in New York die kälteste Zeit des Jahres. Vergessen Sie die Berichte über Januarstürme, plötzlich auftretende Regenfälle oder kalte Winde aus Kanada von Anfang November bis Mitte März. Sie können damit rechnen, dass der Februar der unangenehmste Monat in New York ist. Und diesmal war er ganz besonders unangenehm. Die Temperatur ließ die Quecksilbersäule auf minus achtzehn Grad sinken. Der Wind wütete durch geisterhaft einsame Straßen. Der Schnee fiel unablässig und war wirklich nicht geeignet für Schneeballschlachten und Schlittenfahrten an einem Samstagmorgen. Die städtischen Schneepflüge tuckerten einzeln oder in Konvois über die Straßen und bemühten sich, die Pfade freizuschaufeln. Der Müll, der nicht abtransportiert worden war, wurde unter Schneemassen begraben und würde erst dann wieder zum Vorschein kommen, wenn das Tauwetter einsetzte. Es war vier Uhr morgens. Mac Taylor drehte sich im Bett auf die linke Seite. Er hatte einen Wecker, doch er stellte ihn nie. Er wachte stets wenige Minuten vor der Zeit in tiefer Dunkelheit auf. Eine Stunde lang lag er dann da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und sah zur Decke empor. Er beobachtete das Scheinwerferlicht der vorüberfahrenden Fahrzeuge, das sich zusammen mit dem Licht der Sterne und dem Licht des Mondes an der Decke seines Schlafzimmers widerspiegelte. Doch in dieser Nacht gab es keinen Verkehr, keine Sterne und keinen Mond am Himmel,
sondern nur Schnee. Er blickte in die Dunkelheit hinauf, darum bemüht, nicht zu denken. In einer Stunde würde er aufstehen müssen, und er hoffte, dass diese Stunde schnell vorbeiging. Stella Bonasera hatte einen fiebrigen Traum. Nachdem sie aufgestanden war, um zwei Paracetamoltabletten und einen in der Mikrowelle erhitzten Tee zu sich zu nehmen, war sie gleich wieder eingeschlafen. In ihrem Traum hing der gewaltige, aufgedunsene Körper einer Frau wie ein Fesselballon über ihrem Bett. Stella wollte den Körper daran hindern, aus dem offenen Fenster zu schweben, aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie hoffte, der Körper wäre zu groß, um durch das Fenster zu passen. Auf dem Körper der Frau saß eine Katze, eine graue Katze, die Stella mit starren Augen anblickte. Dann endete der Traum – und Stella schlief friedlich weiter. Aiden Burn war gegen zwei Uhr morgens eingeschlafen, als sie versucht hatte, sich an den Namen ihrer Mathelehrerin aus dem zweiten Jahr an der Highschool zu erinnern. Mrs Farley oder Farrell oder Furlong? Sie konnte das Gesicht der Frau vor sich sehen und ihre Stimme hören, die zum fünfhundertsten Mal die Klasse darauf hinwies, dass selbst kleinste Fehler zum falschen Ergebnis führten. »Ihr überschaut vielleicht das große Ganze, aber schon ein einziger Moment der Unachtsamkeit macht alles falsch.« Aiden hatte nichts aus ihrer Highschoolzeit so deutlich vor Augen wie diese Lehrerin und hatte sich auch nach der Highschool darum bemüht, ihren Rat zu befolgen. Doch immer wieder holten sie die Worte ihrer Lehrerin ein – vor allem dann, wenn der Wind an den Fenstern rüttelte und eine eisige Kälte sich trotz der zischenden Radiatoren im Zimmer ausbreitete. Danny Messer griff nach seiner Brille und warf einen Blick auf die rot leuchtenden Zahlen seines Weckers. Wenige Minuten nach vier. Er berührte sein Gesicht. Wenn er aufgestanden war, würde er sich rasieren müssen. Das würde er unter der
Dusche erledigen. Er drehte sich auf die linke Seite, fand eine bequeme Lage und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf. Sheldon Hawkes lag auf einer Pritsche in seinem Labor und las ein Buch über eine archäologische Ausgrabung in Israel. Auf einem Foto war ein Schädel abgebildet, der dort gefunden worden war. In dem Text, verfasst von jemandem, dessen Name er nicht kannte, hieß es, der Schädel sei etwa dreitausend Jahre alt und durch eine Naturkatastrophe beschädigt worden. Hawkes schüttelte den Kopf. Das Loch in dem Schädel musste das Ergebnis eines Schlags gewesen sein, der mit einem scharfkantigen Stein ausgeführt worden war. Es war der einzige Schaden an diesem Fund. Keine Kratzer, keine Brüche. Der Schädel war beinahe perfekt erhalten. Hätte ein Naturereignis dieses Loch verursacht, dann hätte es Anzeichen für weitere, schwächere Verletzungen geben müssen. Für eine sichere Aussage musste man natürlich den Schädel selbst untersuchen, aber in Hawkes’ Augen gab es keinen Zweifel daran, dass dieser vor langer Zeit verstorbene Bursche durch einen Schlag mit einem Stein getötet worden war. Aufgrund verschiedener Hinweise in der Nähe des Fundortes vermutete man eine königliche Abstammung. Hawkes fragte sich, wer ihn wohl ermordet hatte und warum. Wenn er das Buch zu Ende gelesen hätte, würde er dem Archäologen eine E-Mail schicken. Hawkes las weiter. Die vier Stunden Schlaf, die er benötigte, hatte er bereits hinter sich. Er war zufrieden. Er war in seinem Labor in der Nähe seiner Leichen und las ein gutes Buch. Don Flack hatte vielleicht geträumt, aber er erinnerte sich nicht mehr daran, was ihm ganz recht war, denn der Detective hatte schon eine Menge gesehen, was genügend Stoff für Albträume abgegeben hätte. Um sieben Uhr würde der Wecker klingeln, und er würde sofort wach sein. Das war schon immer so gewesen, auch als er ein kleiner Junge war, und er hoffte, es würde auch für den Rest seines Lebens so bleiben.
Die Brüder Marco schliefen die halbe Stadt weit voneinander entfernt. Anthony, der auf Riker’s Island in Haft saß, hatte nur einen leichten Schlaf. Denn im Gefängnis gab es nachts fürchterliche Geräusche: abgehacktes Husten, Schnarchen, Leute, die im Schlaf Selbstgespräche führten, und die Schritte der Wachen. Gefängnisse waren Orte, an denen man zu jeder Zeit damit rechnen musste, dass sich jemand von hinten heranschlich. Obwohl Anthony sich nicht fürchtete, wusste er nicht, ob er vielleicht nicht auch jemanden gekränkt oder beleidigt hatte. Draußen besaß der Name Anthony Marco vielleicht Gewicht, doch hier drinnen war er nur ein alter weißer Idiot, der morgen vor Gericht stehen würde. Aber wenn es gut lief, fiel der Prozess zu seinen Gunsten aus. Und das war für Anthony Marco selbstverständlich. Anthonys Bruder Dario war wach. Hyposomnie. Das Geschnarche seiner Frau. Sein schlimmer Magen. Er stand auf und ging ins Badezimmer, wo er sich setzte und die Entertainment Weekly las. Er war nervös. Heute Nacht, etwa jetzt, war es so weit. Er hatte vor fünf Stunden angerufen, um den Plan zu ändern. Seine Tochter hatte ihn überzeugt, dass es besser so wäre, und deshalb hatte er den Anruf getätigt. Doch es konnte schief gehen. Wenn man sich auf Idioten verließ, ging man ein Risiko ein, selbst wenn die Idioten loyal waren. Marco hatte eine Theorie. Nur auf die Loyalität von Idioten konnte man wirklich zählen. Schlaue Köpfe dachten zu viel und waren mehr an ihrem eigenen Wohl interessiert. Marco wusste das. Er war selbst einer der schlauen Köpfe. Zum Teufel damit. Er ging zurück ins Bett und stupste seine Frau an, in der Hoffnung, sie würde sich auf die Seite drehen und aufhören zu schnarchen. Sie grunzte und drehte sich, aber das Schnarchen wurde lauter. Er legte sich ein Kissen über den Kopf und wusste, dass er, wenn er in den nächsten fünf oder sechs Minuten nicht einschlafen würde, endgültig aufstehen müsste.
Steve Guista träumte von Wasser, nur Wasser, eine ausgedehnte Wasserfläche. Er wusste, dass es kalt war und er nicht hinein wollte, aber es sah wunderschön aus. Er wollte nichts weiter, als es noch etwas betrachten. Dann war da auf einmal so ein Gefühl. Etwas näherte sich von hinten. Er wollte sich nicht umdrehen, um nachzusehen. Er wollte in das Wasser springen. Aber er fürchtete sich, in das Wasser zu springen. Wie erstarrt stand er am Ufer des Sees – oder was auch immer das war – und wünschte sich, er könnte aufwachen. Jacob Laudano war, verflucht noch mal, schon wieder auf einem Pferd. Er wusste, dass er träumte, aber er konnte nicht aufwachen, und er konnte das Pferd nicht dazu bringen, stehen zu bleiben oder langsamer zu laufen. Er beugte sich vor, klammerte sich fest und wusste durch die Position der anderen Pferde, dass er verlieren oder, schlimmer noch, stürzen würde. Acht Jahre war er Jockey gewesen, und er hasste jeden einzelnen Tag davon. Er hasste die Hungerkuren, und er hasste jeden Augenblick auf dem Rücken dieser dummen Tiere, deren bloße Existenz er kaum ertragen konnte. Er mochte sie nicht. Sie mochten ihn nicht. Er war ein lausiger Jockey gewesen. Er war ein durchschnittlicher Dieb. Wenn er doch nur aufwachen könnte, um etwas zu trinken – Wasser, Whiskey, irgendwas. Danach würde er wieder einschlafen. Er war erst vor einer Stunde in sein Appartement zurückgekommen. Er hatte getan, was getan werden musste. Es war leicht gewesen. Er hatte sein Geld. Also, warum zum Teufel hatte er Albträume? Vor allem diesen Traum, in dem er auf einem verdammten Pferd sitzen musste und wusste, dass er verlieren würde. Er gab sich Mühe, rief laut im Schlaf, kämpfte und strampelte, und erwachte plötzlich in eisiger Finsternis. In seinem Traum hatte er das Johlen der Zuschauer gehört, doch es war bloß das Pfeifen des Windes. Die Zugluft, die er an seinen Beinen gespürt hatte, kam von der Kälte, die durch die schlecht isolierten Fenster he-
reindrang, und der Schweiß auf seiner Stirn stammte nicht von der Strapaze des Rennens, sondern von einem Gefühl wachsender Angst. Und so kam es, dass Jacob, der Jockey, sich fürchtete, wieder einzuschlafen. Sie hatte drei Namen. Den ersten hatte sie mit ihrer Geburt erhalten, den zweiten durch die Heirat mit diesem Mistkerl, der sich eines Nachts einfach davongeschlichen hatte, und den dritten hatte sie sich selbst zugelegt. Es war ein Pseudonym, aber auch ihr respektabler Name. Helen Grandfield war im Alter von dreißig geboren worden, nachdem sie ihre Identität als Stripperin hinter sich gelassen hatte und es ihr nicht gelungen war, berühmt zu werden – oder durch ihren verdorbenen Ruf ihren Vater zu erzürnen. Der alte Mann hatte sie einfach ignoriert. Solange sie den Familiennamen nicht benutzte, war ihm alles egal. Er hatte andere Kinder, die nicht versuchten, ihn zum Wahnsinn zu treiben, und er hatte zu viele andere Dinge im Kopf – beispielsweise am Leben zu bleiben und nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Irgendwann hatte sie sich plötzlich verändert. Einfach so. Von einem Moment zum anderen. Hatte Wirtschaftskurse bei Fordham belegt und Buchhaltung gelernt. Nun war sie für ihren Vater von praktischem Nutzen. Und für sich selbst auch. Denn tief in ihrem Inneren glaubte sie, dass, wenn die Dinge so gut liefen, wie sie es gerade taten, sie irgendwann ihren Ehemann finden würde. Dann endlich würde sie die Gelegenheit bekommen, diesem Mistkerl die Kehle durchschneiden zu lassen – vorzugsweise, während sie dabei zusah. Helen Grandfield schlief friedlich. Ed Taxx und Cliff Collier hatten nicht geschlafen und sie hatten es auch gar nicht erst versucht. Denn sie sollten nicht schlafen. Sie saßen im Hotelzimmer. Ed las einen Kriminalroman von Jonathan Kellerman, und Cliff sah sich die Videoaufnahme eines Hockeyspiels an, das bereits Stunden vorher statt-
gefunden hatte. Deshalb hatte er sich auch die Nachrichten auf ESPN nicht angesehen. Er wollte nicht erfahren, wie das Spiel ausgehen würde. Im Augenblick lagen die Rangers am Anfang des dritten Drittels mit 3:1 in Führung. Cliff arbeitete an einer Diätcola. Ed hatte eine Dr. Pepper. Keiner der Männer war wirklich müde. Ihnen ging zu viel im Kopf herum. Wie auch immer, ein kräftiger Schluck Koffein konnte nicht schaden. Taxx sah auf seine Armbanduhr. Zwei Stunden bis zur Dämmerung. Er hatte Schwierigkeiten, sich auf das Buch zu konzentrieren. Cliff hatte angeboten, den Ton abzudrehen, aber Ed hatte ihm gesagt, das würde ihn nicht stören. Er mochte Hockey nicht, aber er wusste, wie es ausgehen würde. Ed richtete sein Schulterhalfter und lehnte sich mit dem Buch auf der Brust zurück. Der Name des Mädchens war Lilly. Sie war elf, ein bisschen klein für ihr Alter, aber nicht allzu sehr. Etwas weckte sie. Von ihrem Bett aus sah sie sich zu ihrer Mutter um, die so atmete, wie sie es immer tat, wenn sie schlief. Lilly war einigermaßen überzeugt davon, dass der Wind sie geweckt haben musste. Sie kletterte aus dem Bett, ging ins Wohnzimmer und schaltete die Lampe in der Ecke ein. Da war er, der Hund. Er sah nicht übel aus, aber er war auch kein schöner Hund. Sie fragte sich, ob sie ihn mit Braun und Gold hätte bemalen sollen, statt einfach nur mit Weiß. Noch war es nicht zu spät. Aber sie wusste, sie würde es nicht tun. Sie war zu müde. Sie würde vielleicht einen Fehler machen. Das wäre dann noch schlimmer. Der Hund würde wohl weiß bleiben. Sie hoffte, er würde ihm gefallen, obwohl er ein wenig wackelte. Sie hatte ein Hinterbein zu kurz gemacht. Lilly holte sich ein Glas aus dem Küchenschrank, ging dann zum Kühlschrank und schüttete sich Kakao ein. Mit dem Kakao und einem Schokoladenkeks setzte sie sich an den Tisch und fuhr fort, den Hund zu untersuchen. Sie beschloss, ihn Spark zu nennen. Oder vielleicht irgendwie anders.
Lilly aß ihren Keks und trank das Glas aus, stellte es vor sich auf den Tisch und lehnte sich zurück. Sie konnte den Schnee sehen, der auf das Fenster fiel. Sie wollte nicht zurück ins Bett, sie war einfach zu faul. Dann schlief sie ein.
1
Der tote Mann lehnte zusammengesunken an der hinteren Wand des holzgetäfelten Fahrstuhls. Sein Kopf war auf die linke Schulter gefallen, und seine gefalteten Hände lagen auf seiner Brust. Über der rechten Hand war ein Blutfleck zu sehen, und sein linkes Bein ragte aus dem Fahrstuhl heraus. Der Fuß in dem Pantoffel war das Erste, was Detective Mac Taylor sah, als er über die Marmorfliesen schritt, mit denen die Lobby des Appartementgebäudes an der York Avenue ausgelegt war. Mac Taylor ging an zwei uniformierten Beamten vorbei und blieb vor der offenen Fahrstuhltür stehen. Aiden Burn, seine Kollegin, war gerade dabei, die Leiche im Inneren des Fahrstuhls zu fotografieren. Der tote Mann trug einen grauen Jogginganzug, der in Brusthöhe zwei Löcher aufwies. Es waren eindeutig die Spuren eines Verbrechens. »Schneit es noch?«, fragte Burn, als Mac Taylor einen Blick auf die Uhr warf. Es waren wenige Minuten nach zehn. Er zog ein Paar Latexhandschuhe an. »Es werden noch knapp acht Zentimeter mehr erwartet«, antwortete Mac und kniete sich neben die Leiche. In der kleinen Fahrstuhlkabine war gerade genug Platz für die beiden Tatortermittler und den Toten. »Wer ist er?« »Sein Name ist Charles Lutnikov. Appartement sechs, dritter Stock.« Lutnikov war etwa fünfzig, hatte spärliches schwarzes Haar und einen Bierbauch.
»Der Jogginganzug hat keine Taschen«, stellte Mac fest und drehte den Leichnam vorsichtig zuerst nach rechts und dann nach links. »Wer hat ihn identifiziert?« »Der Pförtner«, murmelte Burn und sah sich zu dem uniformierten Streifenpolizisten um, der unverhohlen ihren Hintern bewunderte. »Sind Sie verheiratet?«, fragte sie den Cop. »Ich?«, grinste der Cop und deutete auf sich selbst. »Sie«, entgegnete Aiden. »Ja.« »Hier liegt ein toter Mann«, sagte sie. »Vermutlich ermordet. Sehen Sie sich ihn an, und denken Sie über ihn nach – und nicht über meinen Arsch. Schaffen Sie das?« »Ja«, antwortete der Cop, der nun nicht mehr grinste. »Gut. Meine Ausrüstung ist draußen neben der Tür. Bringen Sie sie her und stellen Sie sie so ab, dass ich sie erreichen kann.« »Schlecht geschlafen?«, fragte Mac. »Ich hatte jedenfalls schon bessere Nächte«, erwiderte Aiden und fotografierte weiter, als der Cop mit ihrer Ausrüstung zurückkehrte. Macs Augen fixierten die Brust des toten Mannes. »Sieht nach zwei Einschusslöchern aus. Keine Pulverspuren.« Mac studierte die Wände, den Boden und die Decke der kleinen, holzgetäfelten Fahrstuhlkabine. Dann beugte er sich vor und zog den Leichnam vorsichtig hoch. »Keine sichtbaren Austrittswunden«, stellte er fest und ließ die Leiche wieder zu Boden gleiten. »Dann sind die Kugeln noch in ihm.« »Nein, ich glaube nicht.« Mac nahm ein Lederetui aus seiner Tasche und holte ein dünnes, stählernes Werkzeug heraus, das an ein Zahnarztinstrument erinnerte. Vorsichtig zog er das Hemd des toten Mannes hoch, um sich die Wunden genauer anzusehen.
»Ein Schuss«, sagte er laut zu sich selbst, während er jedes Loch genau untersuchte. »Das hier ist die Eintrittswunde. Kleines Kaliber. Sie hat sich beinahe wieder geschlossen. Das daneben ist die Austrittswunde. Sie ist größer, unsauberer, und die Haut ist nach außen aufgerissen.« »Dann sollte irgendwo Blut zu finden sein«, antwortete Aiden. »Und da ist es schon.« Mac blickte hinab auf die dunklen Flecken am Boden. Er stand auf und steckte sein Werkzeug weg. Danach zog er die Latexhandschuhe aus, ließ sie in einen Beutel gleiten und holte ein neues Paar aus der Tasche. Wenn Blut im Spiel war, musste man die Handschuhe jedes Mal wechseln, wenn man etwas Neues berührte. Keine Kontamination. Kriminalisten auf der ganzen Welt hatten diese Regel spätestens seit dem peinlichen Fehler im Fall O. J. Simpson zum obersten Gebot erhoben. »Keine Waffe?«, fragte Mac. »Keine Waffe«, antwortete Aiden. »Keine Kugel.« »Körpertemperatur?« »Er ist noch keine zwei Stunden tot, vermutlich sogar weniger als eine. Der Pförtner hat die Leiche gefunden und 9-1-1 gerufen.« Mac warf noch einen letzten Blick auf den toten Mann und sagte: »Fotografiere seine Unterschenkel. An diesem hier ist ein Bluterguss.« Mac deutete auf das Bein, das aus der Fahrstuhltür heraushing. »Dann …« »Untersuchen wir die Wände, den Boden, den Jogginganzug?«, fragte Aiden. Mac nickte und fügte hinzu: »Das volle Programm.« Zum vollen Programm gehörte auch die Untersuchung der Umgebung mithilfe einer Alternate Light Source, abgekürzt ALS. Dieses spezielle Licht macht Körperflüssigkeiten wie Sperma,
Speichel und Urin, aber auch Fingerabdrücke und sogar Betäubungsmittelspuren sichtbar. Aiden besaß eine eigene ALS, die so klein war, dass sie in einem Behälter von der Größe eines Brillenetuis Platz fand. Sie ließ sich an jede Steckdose anschließen. Aiden benutzte sie, um die Sauberkeit von Hoteloder Motelzimmern zu prüfen, in denen sie übernachten musste, wenn sie beruflich unterwegs war. Mac verließ den Fahrstuhl und ging an zwei Polizisten vorbei. Er wollte zu dem Pförtner, der in seiner purpurfarbenen Uniform neben den Beamten stand und ihnen bei der Arbeit zuschaute. Der Mann war klein, schwarz und sehr nervös. Er hatte keine Ahnung, was er mit seinen Händen anstellen sollte, also versuchte er, sie in die Taschen zu stecken, um sie dann gleich wieder herauszuziehen. Mac baute sich vor ihm auf. »Er ist tot«, begann der Pförtner. »Ich weiß es. Ich konnte es sehen.« »Wann haben Sie Ihren Dienst angetreten, Mr …?« »McGee, Aaron McGee. Aber alle nennen mich Mr Aaron. Ich meine, die Hausbewohner tun das. Weiß auch nicht warum.« »Wann haben Sie Ihren Dienst angetreten, Mr McGee?« »Um fünf Uhr morgens.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Vor fünf Stunden. Fünf Stunden und zehn Minuten. Hab zwei Stunden gebraucht, um bei dem Schnee hierher zu kommen.« »Wer hatte vor Ihnen Dienst?« »Ernesto, Ernesto … lassen Sie mich nachdenken. Er ist schon seit fünf, sechs Jahren hier. Ich kenne seinen Nachnamen. Ich hab ihn gleich.« Mac nickte. »Haben Sie eine Besucherliste?«, fragte er. McGee nickte. »Ich schreibe den Namen jedes Besuchers auf und frage jedes Mal bei den Hausbewohnern nach, ehe ich
jemanden reinlasse. Die Bewohner trage ich nur ein und sage ›Guten Morgen‹ oder ›Gute Nacht‹ oder so was. Während der Feiertage letzten Monat hab ich ›Frohe Weihnachten‹ zu denen gesagt, die Christen sind wie ich, und ›Frohes Chanukka‹ zu den Juden. Zu den Melvoys sage ich gar nichts. Das sind Atheisten, aber sie schenken mir trotzdem eine Kleinigkeit zu Weihnachten.« »Hatte Mr Lutnikov heute Morgen irgendwelche Besucher?« »Nicht einen«, antwortete der Pförtner und schüttelte bekräftigend den Kopf. »Kein Besuch für ihn. Für niemanden in diesem Haus. Heute sollten nur die Computerleute kommen, um Rabinowitz’ Rechner zu reparieren.« »Haben heute Morgen schon irgendwelche Bewohner das Haus verlassen?« »Die Shelbys um zehn«, wusste der Pförtner und gab Mac ein Zeichen, ihm zur Vordertür der Belvedere Towers zu folgen. »Sie haben ihren Hund ein paar Minuten ausgeführt und sind dann wieder zurückgekommen. Zu kalt da draußen für das kleine Ding, aber er hat sein Geschäft gemacht. Mrs Shelby hatte eine von diesen kleinen durchsichtigen Tüten dabei. Sie sind schnell wieder hier gewesen.« Mac nickte. »Und Ms Cormier«, fuhr McGee fort. »Die geht jeden Morgen los – Regen, Sonnenschein, Schnee, macht alles keinen Unterschied. Sie geht spazieren. Acht Uhr, jeden Morgen. Sagt immer ›Hallo, Aaron‹ zu mir. Bleibt vielleicht eine halbe Stunde weg. Sogar heute Morgen.« »Hatte sie irgendetwas bei sich?«, fragte Mac. »So wie immer«, entgegnete McGee. »Eine von diesen großen Tüten aus dem Buchladen mit dem Bild von diesem bärtigen Kerl drauf. Wie ist bloß der Name von dem Laden?« »Barnes and Noble?«
»Das ist er«, bestätigte McGee. »Jeden Tag die gleiche Tüte.« McGees Bewegungen waren ein wenig schwankend. Der Mann musste mindestens siebzig sein, vermutlich sogar älter. »Manchmal gehen auch die Glicks samstags Früh weg«, sagte er. »Sie wohnen in Nummer zwei, aber seitdem er diese Chemotherapie bekommt, bleiben sie meistens zu Hause.« Vor dem Pförtnertresen rechts neben der Eingangstür blieben sie stehen. Durch die Tür drang die Kälte des Februars herein. Der Schnee lag inzwischen mindestens sechzig Zentimeter hoch, und obwohl es schon vor Stunden aufgehört hatte zu schneien, fiel die Temperatur weiter. Mac war überzeugt, dass es inzwischen etwa achtzehn Grad unter Null sein musste. Sein Wagen parkte einen Block entfernt direkt vor einem Delikatessengeschäft mit heruntergeklappter Sonnenblende, sodass die C.S.I.-Plakette zu erkennen war. Der Weg vom Wagen zum Appartementhaus hatte ungefähr fünf Minuten gedauert. Normalerweise hätte er nicht mehr als ein oder zwei Minuten erfordert. Das alles erinnerte Mac an einen heftigen Schneesturm vor etwa sechs Jahren in Chicago. Nach diesem Sturm hatten die Leute über kleine, ungleichmäßige, aber sehr glatte Schneehügel hinwegklettern müssen. Mac und seine Frau hatten damals in einem Bezirk gewohnt, dessen Abgeordneter nicht zu den Demokraten gehörte – und was wiederum bedeutete, dass dieser Stadtteil stets zuletzt von den Schneepflügen besucht wurde. Bis sie ihren Wagen aus der Garage hätten fahren können, wären Tage, wenn nicht sogar Wochen vergangen. Also hatten sie die Herausforderung angenommen und sich kletternd und rutschend, gleitend und stürzend auf den Weg zu der vier Blocks entfernten Hauptstraße gemacht und dort tatsächlich einen geöffneten Supermarkt gefunden. Als Mac auf dem Heimweg auf einem Schneehügel ausgerutscht und mit dem Hintern im Schnee versunken war, hatte
Claire gelacht. Um ihn herum hatten sich Lebensmittel verteilt, die im Schnee ihre Abdrücke hinterließen. Mac hatte nicht darüber lachen können. Er hatte mit einem übertriebenen Stirnrunzeln aufgeblickt, doch die Falten waren bald einem Lächeln gewichen. Claire stand bis zu den Knöcheln im Schnee – ihre Ohren glühten rot, und ihre blaue Rollmütze hatte sie tief in die Stirn gezogen. An ihren Händen trug sie rote Strickhandschuhe, mit denen sie die Einkaufstaschen umklammerte. Sie lachte. Er konnte es noch vor sich sehen: dunkle Straße, weißer Schnee, glimmende Straßenlaternen – und seine Frau, die lachte. »Sehen wir vorsichtshalber noch einmal nach«, meinte McGee. »Es ist Samstag, also überlegen es sich die Leute dreimal, ob sie bei so einem Wetter einen Fuß auf die Straße setzen, und es ist noch früh, also …« Er sah in sein Buch. »Nichts«, stellte er fest. »Niemand sonst ist rein, niemand sonst ist raus.« »Wann beginnt Ernestos Schicht?«, fragte Mac, der sich wieder gefangen hatte und sich nun wieder auf die Ermittlung konzentrierte. »Von Mitternacht bis fünf, wenn ich komme.« McGee sah erneut in sein Buch und kniff die Augen zusammen. »Keine Einträge während Ernestos Schicht. Gar nichts. Niemand rein, niemand raus.« Ein Ambulanzfahrzeug hielt vor der Tür. Die Sirenen schwiegen. Zwei Sanitäter, unter den blauen Jacken weiß gekleidet, stiegen aus, öffneten die hintere Tür des Fahrzeugs und zogen eine Rolltrage und einen Leichensack heraus. Der Pförtner hielt inne, um ihnen zuzusehen, wie sie das Haus betraten. »Ich habe gar keine Namen von Ihnen und all den anderen Polizisten«, überlegte er. »Vielleicht sollte ich …«
»Das ist schon in Ordnung«, fiel ihm Mac ins Wort. »Erzählen Sie mir von Mr Lutnikov.« »Tut mir Leid, Taylor, wir sind spät dran«, grüßte der erste Sanitäter, ein Bodybuilder mit einem Kindergesicht. »Wetter.« Mac nickte und sagte: »Bringen Sie ihn so schnell wie möglich ins Labor, aber seien Sie vorsichtig da draußen.« »Roger«, entgegnete der Bodybuilder und ging zusammen mit seinem Partner an Mac und dem Pförtner vorbei. »Wo waren wir?«, fragte McGee, während er zusah, wie die beiden Sanitäter noch mehr Schnee in die Lobby trugen. »Mr Lutnikov«, half ihm Mac auf die Sprünge. »Ist meistens für sich allein geblieben«, erklärte McGee. »Netter Mann. Kurz angebunden, aber das war er immer. Hat mir einen Fünfzigdollarschein gegeben zu Weihnachten. Jedes Jahr zu Weihnachten.« »Hatte er viel Geld?«, fragte Mac. »Weiß nicht. Das ist Weihnachten normal. Alle Hausbewohner geben mir zu den Feiertagen Geld. Wollen Sie wissen, wie viel ich diese Weihnachten zusammengekriegt habe? Dreitausendvierhundertundfünfzig Dollar. Hab’s gleich auf die Bank gebracht.« Aus der Nähe des Fahrstuhls hörte man Geräusche. Mac schaute sich um. Das Bein des Toten war noch immer zu sehen. »Sie haben die Leiche gefunden«, begann Mac wieder. »Hab ich«, sagte McGee und deutete den Korridor entlang. »Hab gehört, dass der Fahrstuhl anhält, und habe hingeguckt, ob jemand aussteigt. Aber da war niemand. Die Glocke hat immer wieder Dingdong gemacht, also bin ich hingegangen, und raten Sie mal, was ich gesehen habe.« »Ein Bein, das heraushing, und eine Tür, die ständig dagegenstieß«, antwortete Mac.
»Stimmt genau, stimmt genau. Das ist eine automatische Tür. Wenn etwas im Weg liegt, schlägt sie immer wieder dagegen und macht dieses Dingdong.« »Kommt der Fahrstuhl automatisch herunter?« »Nein, Sir. Man muss den Knopf drücken – oder er bleibt dort, wo er ist.« »Sind die beiden anderen Fahrstühle genauso klein wie dieser hier?« »Nein, Sir«, erklärte der Pförtner. »Die sind viel größer. Fahrstuhl drei ist so klein, weil er nur vom sechzehnten Stock bis zum Penthouse fährt – und natürlich bis hier unten in die Lobby.« Ein Windstoß rüttelte an der gläsernen Vordertür und zog die Aufmerksamkeit des Pförtners auf sich. »Sieht wirklich schlimm aus da draußen. Hab gehört, es soll ziemlich kalt sein. Zwanzig Grad minus oder so.« »Mr Lutnikov hat im dritten Stock gewohnt«, sagte Mac. »Haben Sie eine Ahnung, warum er in einem Fahrstuhl war, der in seinem Stockwerk gar nicht hält?« McGee schüttelte den Kopf. »Vom sechzehnten Stock an aufwärts gibt es nur noch ein Appartement pro Etage. Vier, fünf Zimmer, mit Balkon. Ms Louisa Cormier hat in ihrem Appartement sogar ein richtiges kleines Kino mit Plüschsesseln und einem riesigen Bildschirm. Die Leute da oben haben ’ne Menge Geld.« »Wenn Lutnikov Fahrstuhl drei benutzen wollte …«, überlegte Mac. »Dann musste er in die Lobby kommen, in Fahrstuhl drei steigen und nach oben fahren«, entgegnete der Pförtner. »Kennt Mr Lutnikov jemanden von den Leuten, die im sechzehnten Stock wohnen oder darüber?«, fragte Mac. »So was weiß ich nicht«, antwortete der Pförtner. »Ist ein nettes Gebäude, aber die Leute haben kaum etwas miteinander zu tun. In der Lobby sagen sie hallo, lächeln höflich, aber sonst …«
Die Sanitäter gingen mit der Trage, auf der in einem verschlossenen Leichensack der Tote lag, an ihnen vorbei. Währenddessen beobachtete Mac, wie Aiden Burn gerade die Fahrstuhltür mit Absperrband sicherte. »Ich mache Ihnen die Tür auf.« McGee hastete an den Sanitätern vorbei und stieß die Tür auf. Der Wind trug eine Lawine Schnee und einen Schwall eisiger Luft herein. Mac spürte, wie die Kälte von seinem Körper Besitz ergriff. Aiden kam zu ihm. Sie streifte die Handschuhe ab und ließ sie in ihre Tasche fallen. Als die Kälte sie traf, zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, auf deren Rückseite »Crime Scene Unit« stand. »Er wollte sicher nicht in Hausschuhen nach draußen«, stellte Mac fest, als er zusah, wie die Leiche in das Ambulanzfahrzeug geladen wurde. »Aber wo wollte er überhaupt hin?«, fragte Aiden. »Oder woher ist er gekommen?« »Von irgendwo zwischen dem Sechzehnten und dem Zweiundzwanzigsten«, antwortete Aiden. »Denn abgesehen von diesen Etagen kann man mit diesem Fahrstuhl nur noch die Lobby und den Keller erreichen. Für die Garage und die Stockwerke bis zum Sechzehnten gibt es keine Knöpfe.« »Du übernimmst den Keller. Ich fange mit dem Sechzehnten an«, entschied Mac. »Wer auch immer unser Opfer erschossen hat, stand außerhalb der Kabine«, sagte Aiden. »Keine Pulverspuren auf seinem Hemd. Aber der Fahrstuhl ist zu klein, um einen Schuss abzugeben, ohne Pulver zu hinterlassen.« Mac nickte. »Und«, fügte sie hinzu, »er oder sie war ein guter Schütze. Die Eintrittswunde liegt in einer Linie mit dem Herzen.« »Kann ich Fahrstuhl drei wieder in Betrieb nehmen?«, fragte der Pförtner, der zu ihnen gekommen war.
»Nein«, antwortete Mac. »Das ist ein Tatort. Gibt es eine Treppe?« McGee nickte. »Das ist Gesetz.« »Die Hausbewohner werden bis zum fünfzehnten Stock die Treppe benutzen müssen, und dort können sie entweder in einen anderen Fahrstuhl umsteigen oder zu Fuß weitergehen.« »Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte McGee kopfschüttelnd. »Das wird ihnen gar nicht gefallen. Kann ich sie anrufen und ihnen Bescheid sagen?« »Erst nachdem Sie mir die Namen von den Bewohnern ab Etage sechzehn gegeben haben«, sagte Mac. »Ich schreibe sie für Sie auf.« McGee griff nach seinem Kugelschreiber, der auf dem braunen Tresen lag, und drückte mit dem Daumen den Knopf am oberen Ende herunter.
2
Ed Taxx stellte den Thermostat in Zimmer 614 des Brevard Hotels neu ein. Achtzehn Grad wurden angezeigt, aber das Brevard war alt, die Heizungsanlage wenig verlässlich und das Wetter draußen eisig. Taxx konnte auf fünfundzwanzig Jahre Erfahrung im Dienst der Sicherheitsabteilung des Bezirksstaatsanwalts zurückblicken. Noch ein Jahr, und seine Tochter würde wegziehen, um in Boston das College zu besuchen. Dann, so sagte Ed immer zu seiner Frau, würden sie beide nach Florida gehen und den New Yorker Winter endlich vergessen können, ein für alle Mal. Ed war auf Long Island aufgewachsen. Damals war er ein Draufgänger gewesen, der mit halb erfrorenen Fingern und Ohren im Stanton Park Hockey gespielt und sich immer auf den winterlichen Schnee gefreut hatte – auf die Schneeballschlachten und die Schlittenfahrten auf dem Maryknoll Hill. Als er vierzig wurde, hatte er aufgehört, sich auf den Winter zu freuen. Ihn nervte das Auto, das nicht anzuspringen drohte, der Schnee, der ihn stundenlang in einem überhitzten Wagen festhielt und ihn zwang, die Spur zu halten und sich auf die Fahrbahn zu konzentrieren. Am schlimmsten aber waren die langen, grauen Tage. Er würde die Stadt nicht vermissen, wenn er erst einmal im Ruhestand war. Er sah sich zu Cliff Collier um, der den Eindruck machte, als würde er überhaupt nicht frieren. Collier war zweiunddreißig und stark wie ein Bulle. Er war sechs Jahre lang unifor-
mierter Beamter gewesen und seit zwei Jahren Detective im NYPD. In zwei Stunden würde ein anderes Team die Überwachung von Alberta Spanio, die zu diesem Zeitpunkt im abgeschlossenen Schlafzimmer nebenan ruhte, übernehmen. Vor zwei Nächten hatten Cliff und Ed ihren Dienst angetreten, als sie ihrerseits zwei Kollegen ablösten. Wie jeden Abend mussten sie Alberta kurz vor Mitternacht in ihr Schlafzimmer bringen und zuhören, wie sie die Tür verriegelte. Danach schaute Collier in der Regel fern. Doch die Filme wurden ständig von Wetterberichten unterbrochen, die erzählten, wie dick die Schneedecke inzwischen geworden war. Taxx sah ein wenig zu, griff aber zwischendurch immer wieder zu seinem Kriminalroman und las darin. Die beiden Männer brachten einander weder Sympathie noch Antipathie entgegen. Sie hatten außer ihrem Job wenig gemeinsam. Nachdem Alberta ihre Tür verschlossen hatte, waren sie mit Jay Lenos Stimme im Hintergrund nach einem zehnminütigen Geplauder wieder einmal ins Schweigen verfallen. Das Brevard Hotel zählte nicht zu den üblichen Sicherheitsmaßnahmen für das Zeugenschutzprogramm des NYPD oder der Bezirksstaatsanwaltschaft. Doch bei Alberta Spanio wollte der Staatsanwalt kein Risiko eingehen. Immerhin war es nicht ausgeschlossen, dass es im Department eine undichte Stelle gab. Das jedenfalls hatte man den beiden Männern und den Leuten aus den anderen zwei Schichten erzählt. Sie alle hatten genug Erfahrung in diesem Job und wussten, wie schnell die Leute, vor denen sie Alberta Spanio beschützen sollten, herausbekommen konnten, wo sie war. Hätte Alberta, klein, hübsch, blondiertes Haar und verständlicherweise sehr furchtsam, gebeten, einen Telefonanruf tätigen zu dürfen, hätten Ed und Cliff ihr ein höfliches »Nein« entgegengebracht – das gleiche höfliche »Nein«, das sie auch gehört
hätte, hätte sie sich ein Schinkensandwich gewünscht. Kein Zimmerservice. Keine Bringdienste. Frisches Essen gab es nur, wenn ein Schichtwechsel anstand. Die Ablösung, die binnen zwei Stunden eintreffen sollte, würde etwas zum Frühstück mitbringen, vermutlich Egg McMuffins und Kaffee – das war zumindest am Vortag das Frühstück ihrer Wahl gewesen. »Es ist acht«, sagte Taxx mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Wir sollten sie lieber wecken.« »Ich könnte mal aufs Klo gehen.« Collier erhob sich von der Couch, ging Richtung Schlafzimmer und klopfte laut an die Tür. »Aufwachen, Alberta.« Keine Antwort. Collier klopfte erneut. »Alberta!« Erst rief er, dann fragte er: »Alberta?« Taxx war neben ihn getreten. Auch er klopfte und brüllte: »Aufwachen!« Immer noch keine Antwort. Die beiden Männer sahen sich an. Taxx nickte Collier zu, und der verstand. »Öffnen Sie, oder wir brechen die Tür auf«, rief Taxx mit lauter, aber ruhiger Stimme. Taxx sah auf die Uhr, zählte fünfzehn Sekunden ab und trat aus dem Weg, damit der jüngere und größere Beamte sein Gewicht gegen die Tür stemmen konnte. Collier warf sich mit der Schulter gegen die Tür, wie sie es in der Akademie gelernt hatten. »Benutzt den muskulösen Teil des Arms, nicht den knochigen der Schulter. Werft euch nicht schon beim ersten Anlauf mit aller Kraft hinein, wenn ihr nicht sofort reinmüsst. Schlagt hart zu, bis das Holz nachgibt. Kämpft gegen das Holz, nicht gegen das Schloss«. Als Collier die Tür traf, hinterließ er einen Riss, aber die Tür öffnete sich nicht. Das Schloss hielt. Collier wich ein paar Schritte zurück und warf sich erneut gegen die Tür. Diesmal flog sie auf, begleitet von dem Geräusch splitternden Holzes. Collier stolperte voran und wäre fast gestürzt.
Im Raum herrschte Eiseskälte. Taxx betrachtete das Bett, einen Berg aus Decken. Das Fenster auf der anderen Seite des Zimmers war geschlossen, aber durch die offene Badezimmertür drang Zugluft herein. »Badezimmerfenster«, rief Taxx und stürmte zum Bett. Collier richtete sich auf und rannte die zweieinhalb, drei Meter durch den Raum zum Badezimmer. Das Fenster stand offen, weit offen. Collier stieg in die Badewanne, um aus dem Fenster über den Berg aus Schnee hinauszublicken. Er dachte daran, das Fenster zu schließen, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Dann kletterte er aus der Wanne und ging über den gefliesten Boden zurück zur Tür. Taxx stand neben dem Bett. Er hatte die Decken zurückgeschlagen. Collier konnte die Leiche von Alberta Spanio sehen, die mit geschlossenen Augen und blassem Gesicht auf der Seite lag. Ein Messer mit einem langen Griff steckte tief in ihrem Hals. Ed Taxx und Cliff Collier hatten Alberta Spanio nicht gekannt, aber das Wenige, was sie von ihr kannten, hatte ihnen nicht gefallen. Sie hatte keine Strafakte, keine Gefängnisaufenthalte. Sie hatte auch keinen Handel mit der Staatsanwaltschaft abgeschlossen. Aber sie war drei Jahre lang Anthony Marcos Geliebte gewesen, und sie hatte Angst vor ihm gehabt. Sie hatte aussteigen wollen, und als Marco wegen Mordes verhaftet worden war, hatte sie im Büro des Bezirksstaatsanwalts angerufen. Nachdem sie alles erzählt hatte, was sie wusste, verwandelte sie sich in eine mürrische, verbissene und reizbare Person, deren Launen den Umgang mit ihr unerträglich machten. Taxx und Collier fühlten keine Trauer, aber sie hatten versagt. Sie hatten es nicht geschafft, die wichtigste Zeugin im Mordprozess gegen einen der wichtigsten Drahtzieher des organisierten Verbrechens zu schützen, und das würde Konsequenzen haben und sich auf ihre Karrieren auswirken.
Im Schlafzimmer gab es kein Telefon. Es war entfernt worden, um Alberta Spanio daran zu hindern, jemanden anzurufen. Collier musste durch die aufgebrochene Tür zurück in das andere Zimmer, um dort die Polizei anrufen zu können. Don Flack, Detective der Mordkommission, kannte Cliff Collier – nicht gut, aber gut genug für die Anrede mit dem Vornamen. Manchmal trafen sie sich auf den Gängen des Departments, blieben stehen, plauderten miteinander oder tranken zusammen eine Tasse Kaffee aus dem Automaten. Sie hatten gemeinsam die Akademie besucht. Collier gehörte zur Staatsanwaltschaft und seine Fälle reichten von betrügerischer Prostitution bis hin zu Bandenkriminalität. Dank seiner Größe wirkte Collier recht Furcht erregend. Und dank seines Charakters war er es auch. Flack wusste, dass Colliers Ehre verletzt war, denn schon sein Vater und sein Onkel waren Cops gewesen. Taxx kam ihm in Bezug auf das, was geschehen war, gelassener vor. Immerhin hatten sie eine wichtige Zeugin für einen Prozess verloren. Die Tote hätte in zwei Tagen aussagen sollen. Solche Fehler würden einen Beamten nicht die Pension kosten, aber die Karriere. Doch Taxx hatte keine beruflichen Ambitionen mehr. Was geschehen war, würde in seiner Akte vermerkt werden. Und? Ihn interessierte keine Beförderung oder Gehaltserhöhung mehr. Aber er war verantwortlich für das, was geschehen war. Er war schließlich im Dienst gewesen, als die Person, die er hätte schützen sollen, ermordet wurde – nicht direkt vor seinen Augen, aber doch in seiner unmittelbaren Nähe. Flack hielt sein Notizbuch in der Hand und hatte den Kragen seiner Lederjacke zum Schutz vor der Kälte hochgeschlagen. Da die Tür kaputt und das Badezimmerfenster immer noch offen war, wurde es in dem Raum, in dem sie standen, trotz des Heizlüfters mit jeder Sekunde kälter.
Neben dem Bett im Schlafzimmer stand Detective Stella Bonasera. Sie hatte sich gerade über die Leiche gebeugt und Fotos gemacht, als Danny Messer, der das Badezimmer untersuchte, rief: »Keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen.« Stella hustete und fühlte ein leichtes Kratzen im Hals. Womöglich hatte sie sich eine Erkältung zugezogen. Sie würde, sobald sie die Gelegenheit dazu bekam, ein paar Aspirin nehmen. Sie hielt die Kamera in der Hand und blickte auf den vor ihr liegenden toten Körper. Sie musste sich zusammennehmen, um dem Impuls zu widerstehen, eine Locke des blonden, an der Wurzel dunklen Haares aus dem Gesicht der toten Frau zu streichen. Alberta Spanio hatte sich große Mühe gegeben, die Brooklyn-Schönheit zu erhalten, die sie vor zehn oder zwölf Jahre gewesen sein mochte. Nun hatte sie den Kampf verloren. Das Blut war über ihren Hals und auf das Kissen gelaufen, auf dem sie nun ruhte. Es war nicht viel Blut, jedenfalls nicht im Vergleich zu der Menge, die Stella erwartet hätte. Sie steckte die Kamera in die Tasche und griff in den Koffer, der ihre Tatortausrüstung enthielt. Sie nahm die Magnetpulverschachtel heraus, öffnete sie und zog den Puderpinsel hervor. Dann untersuchte sie den glatten Griff des Messers, der im Hals der Frau steckte. Sauber. Keine Fingerabdrücke. Auf dem Tisch neben dem Bett lagen zwei interessante Gegenstände. Das eine war ein offenes Fläschchen, in dem noch zwei Pillen waren. Auf der Schachtel stand Aleppo, was, wie Stella wusste, ein Generika von Sonata war. Sheldon Hawkes würde ihr später verraten können, wie viel von dem Medikament er im Körper der toten Frau gefunden hatte. Stella untersuchte die Schachtel auf Fingerabdrücke. Es gab einen. Mit zwei Fingern, die in Latexhandschuhen steckten, hob sie das Pillenfläschchen hoch und ließ es zusammen mit dem De-
ckel, der in der Nähe gelegen hatte, in einen Plastikbeutel fallen. Dann versiegelte sie ihn und legte ihn in den Ausrüstungskoffer. Der andere Gegenstand war ein Null-Komma-Zwei-LiterGlas mit einer kleinen Menge bernsteinfarbener Flüssigkeit. Stella beugte sich vor und roch an dem Glas. Alkohol. Hawkes würde ihr auch erzählen können, wie viel Alkohol die tote Frau konsumiert hatte. Eine Kombination aus Schlaftabletten und Alkohol konnte tödlich sein, aber das Messer in Alberta Spanios Hals schloss diese Möglichkeit als Todesursache wohl aus. Stella goss die Flüssigkeit in einen Plastikbehälter mit Schraubverschluss und untersuchte dann das Glas auf Fingerabdrücke. Sie fand drei. Das Glas wurde vorsichtig in einem Plastikbeutel verstaut und versiegelt. »Willst du hier mal einen Blick drauf werfen?«, rief Danny, der in der Tür zum Badezimmer stand. Er hatte den Türgriff auf der Innenseite bereits eingepudert und die Abdrücke vorsichtig abgenommen. »Komme«, antwortete Stella, während sie vom Bett zurücktrat. Sie ging in das Badezimmer und betrachtete das offene Fenster. »Wann ist sie gestorben?«, fragte Danny. Stella zuckte mit den Schultern. »Der Körper ist kalt, also können wir das nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht kann Hawkes die Zeit eingrenzen. Sie weist keine Spuren von Frost auf. Ich würde sagen, in den letzten drei Stunden. Höchstens.« »Wann hat es aufgehört zu schneien?«, fragte Danny. »Ich weiß nicht. Vor vier oder fünf Stunden. Das finden wir heraus.« »Der Mörder muss klein gewesen sein«, stellte Danny fest und sah zu dem offenen Badezimmerfenster. »Ist mithilfe einer Leiter oder einem Seil reingeklettert. Da draußen gibt es keine
Feuertreppe. Eine verdammte Zirkusnummer bei all dem Wind und Schnee.« Stella holte ein frisches Paar Latexhandschuhe aus der Tasche und zog sie an. Dann trat sie ans Fenster, streckte die Hand aus und strich mit dem Finger über den hölzernen Rahmen. Sie tastete auch den äußeren Rahmen des Fensters ab. Die Kälte brannte noch auf ihren Wangen, als sie zurück in den Raum glitt. »Wir müssen das Fenster ins Labor bringen«, entschied sie. »Gut.« Danny nickte. »Und überprüf auch die Toilette«, fügte Stella hinzu, während sie sich gleichzeitig verbot, sich vorzustellen, welche unangenehmen Dinge Danny dort erwarten würden. »Hab ich schon. Nichts«, lautete die nüchterne Antwort ihres Kollegen. »Dann lass uns im anderen Raum weitermachen. Ich untersuche die Leiche, das Bett und den Tisch. Du kümmerst dich um Boden und Wände.« »Nachdem ich das Fenster ausgebaut habe?«, fragte er. »Das Fenster kann warten bis wir fertig sind.« Im Nebenzimmer hörte man Taxx’ Stimme: »Sehen Sie es sich selbst an.« Zusammen mit Flack ging er zum Fenster und blickte hinaus. Collier aber blieb mitten im Raum stehen und stierte unruhig durch die offene Tür ins Badezimmer. »Sieben Stockwerke hoch«, sagte Taxx zu Flack. »Keine Feuertreppe.« »Auch nicht vor dem Badezimmerfenster?«, hakte Flack nach. Taxx schüttelte den Kopf. »Nur eine Ziegelmauer. Vergewissern Sie sich ruhig.« »Das werde ich«, sagte Flack. »Und Sie haben die ganze Nacht keine Geräusche aus dem Schlafzimmer gehört?«
»Nichts«, sagte Taxx. »Nichts«, stimmte ihm Collier zu. »Als sie ins Bett gegangen ist … Erzählen Sie mir, was passiert ist«, forderte Flack ihn auf. Das Ganze hatte sich, wie die beiden Beamten übereinstimmend berichteten, an allen drei Abenden nach demselben Muster abgespielt. Alberta Spanio trug einen Drink in das Schlafzimmer, nahm zwei Schlaftabletten, sagte »Gute Nacht« und verriegelte die Tür. Die Männer vermuteten, dass sie gleich ins Bett ging. Es gab einen Fernseher in dem Raum, aber sie hatten ihn nie gehört. Sie hatten auch kein Wasser in die Wanne laufen hören, nichts. Obwohl es Alberta bestimmt nicht geschadet hätte, denn die letzte Dusche hatte sie vor zwei Nächten genommen. Das Einzige, was die Männer tatsächlich gesehen hatten, war die Einnahme der Schlaftabletten zusammen mit einem großen Schluck Scotch. Demzufolge musste Alberta bereits eine Minute, nachdem sie im Schlafzimmer verschwunden war, tief geschlafen haben. »Was zum Teufel ist passiert?«, fragte Collier und starrte in Richtung Badezimmer. Er stellte sich vermutlich gerade vor, wie er den Rest seines Lebens als kleiner Cop verbringen würde. Flack lieferte ihm keine Antwort. Er wusste aber auch, dass Collier keine erwartete. Er klappte sein Notizbuch zu.
3
Lutnikovs Appartement war klein – ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Singleküche in einer Nische. Das Wohnzimmer erinnerte an eine Bibliothek. An drei Seiten des Raums standen deckenhohe Regale voller Bücher. Auf einem großen hölzernen Schreibtisch in der Mitte des Raums thronte eine Schreibmaschine. Der Schreibtisch war mit einem wirren Durcheinander aus Notizblättern, Zeitungsausschnitten und Zeitschriften übersät, und einige der Papierstapel drohten auf den Boden zu fallen. Der Tisch stand vom Fenster abgewandt, sodass das Licht bei der Arbeit über die Schulter fiel. Nicht weit von dem Schreibtisch entfernt sah man einen Lehnsessel und einen kleinen Tisch mit einer Stehlampe. Gegenüber dem Sessel stand ein Sofa, das weich, braun, reparaturbedürftig, aber nicht alt genug war, um als Antiquität aus den Fünfzigern durchzugehen. Der einzige andere Raum in dem Appartement, das der Hausmeister für Aiden und Mac aufgeschlossen hatte, war Lutnikovs Schlafzimmer. Es enthielt noch mehr Bücherregale, diesmal auch Zeitschriften, außerdem einen Kleiderschrank, eine Schubladenkommode, auf der ein weißer Sony-Fernseher seinen Platz gefunden hatte, und ein Doppelbett, das militärisch korrekt bezogen war. Es bildete einen scharfen Kontrast zu dem Chaos des restlichen Appartements. »Die Küche ist da drüben«, erklärte der Hausmeister, ein Mann namens Nathan Gremold. Er war in den Sechzigern, mit einer breiten, silbernen Krawatte um den Hals, die seine Auto-
rität unterstreichen sollte. Gremold war Chefhausmeister bei Hopwell and Freed, der drittgrößten Gebäudeverwaltungsgesellschaft von Manhattan, die sich auf gehobene Appartementgebäude spezialisiert hatte. Er bemühte sich, sich sein Missfallen bezüglich Lutnikovs offensichtlicher Gleichgültigkeit gegenüber seiner erstklassigen Behausung nicht anmerken zu lassen. Das, worauf Gremold gerade deutete, war keine Küche, sondern eine Nische, und der Hinweis darauf war absolut unnötig. Aiden und Mac folgten Nathan Gremold durch das Wohnzimmer, vorbei an dem Schreibtisch, zu der Singleküche. Die Kochnische war makellos sauber. Sie war mehr als sauber. Sie war klinisch rein. Der winzige Küchentresen war vollkommen leer – bis auf ein Salz- und Pfefferset. Mac öffnete die Schränke. Sämtliche Dosen waren ordentlich aufgereiht. Ein Fach diente ausschließlich der Aufbewahrung von Kartons mit biologisch wertvollen Getreideprodukten. »Der Mann hatte eine Vorliebe für gesunde Zutaten«, stellte Aiden fest. Mac zog einen Karton hervor, untersuchte ihn kurz und legte ihn zurück. Der Kühlschrank war gut ausgerüstet, aber nicht übertrieben voll. Eine kaum aufgebrauchte Tüte Sojamilch befand sich im obersten Fach neben einem sauber verpackten, halben Laib Brot aus Vollkornmehl. Sie kehrten in das Wohnzimmer zurück, in dem Nathan Gremold auf sie gewartet hatte. »Wir kommen allein zurecht«, sagte Mac. »Wir werden die Tür abschließen, wenn wir fertig sind. Nur noch zwei Fragen«, fügte er hinzu, als Aiden bereits an den Schreibtisch trat und anfing, sich die Papierstapel und die Schreibmaschine anzusehen.
Gremold zögerte. »Ja?« »War Mr Lutnikov der Eigentümer dieses Appartements?« »Nein«, sagte Gremold. »Er hatte es nur gemietet.« »Wie hoch ist die Miete?« »Dreitausend im Monat. Das ist eines unserer wenigen preisgünstigen Appartements.« »Wie hat er bezahlt?« »Mit Scheck. Am Ersten. Immer pünktlich.« »Wissen Sie, womit er seinen Lebensunterhalt verdient hat?« »Ich habe mir seine Bewerbung angesehen, als die Polizei sich bei uns meldete. Wenn Sie übrigens eine Kopie wollen …« »Wollen wir.« »In der Bewerbung hat Mr Lutnikov angegeben, er sei Texter, Werbetexter, hauptsächlich für Möbelkataloge der gehobenen Klasse.« »Einkommen?« »Wenn ich mich recht erinnere, sagte er, er verdiene durchschnittlich einhundertdreißigtausend im Jahr.« »Hatte er Referenzen?« »Ganz sicher hatte er die, aber aus dem Stand …« »Danke«, unterbrach Mac, zog eine Karte hervor und reichte sie Gremold. »Bitte faxen Sie eine Kopie der Bewerbung an mein Büro.« »Natürlich«, sagte Gremold, zog ein Notizbuch aus der Jackentasche und steckte die Karte hinein. Als er weg war, widmete Mac seine Aufmerksamkeit wieder dem Appartement. »Das meiste von dem Zeug«, sagte Aiden mit einem Blick auf den Stapel auf dem Schreibtisch, »sieht nach Notizen aus. Manche davon sind mit der Maschine geschrieben.« »Was für Notizen?« Mac blickte neugierig auf das Bücherregal links von ihm.
»Solche wie die hier.« Aiden hielt ein Blatt hoch. Die hingekritzelten Wörter auf dem blauen Post-it lauteten: »Gifte überprüfen. Irgendwas, das nicht entdeckt werden kann?« »Er hätte sich an uns wenden sollen«, kommentierte Mac den Fund. »Komische Notiz für einen Kerl, der Katalogtexte verfasst«, meinte Aiden und wandte sich wieder dem Stapel zu. »Der ganze Kerl ist komisch. Sein Bett macht er wie ein Drill Sergeant bei den Marines, seine Küche ist so sauber wie ein Operationssaal, und sein Arbeitsplatz ist ein einziges Chaos.« »Ein Chaos, stimmt«, sagte Aiden, während sie einen Stapel Zeitschriften in Augenschein nahm. »Aber sauber. Müsste er nicht einen Computer haben?« »Regression«, erwiderte Mac ohne aufzusehen. Er trat zurück und sah sich um, als suche er irgendetwas. Da er es nicht fand, machte er sich auf einen langsamen Rundgang durch das Appartement. Etwa die Hälfte der Bücher in den Regalen waren Kriminalromane. Der Rest umfasste ein umfangreiches Wissensspektrum, zu dem Geschichte, Geografie, Wissenschaft und Kunst im Allgemeinen gehörten. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, durchsuchte Aiden gerade die Schreibtischschubladen. »Ist dir irgendwas aufgefallen, was nicht hier sein sollte?«, fragte er. Aiden hielt inne, schaute sich um, schüttelte den Kopf und schaute ihn an. »Wie ist es mit etwas, das da sein sollte, aber nicht da ist?«, hakte er nach. Wieder sah sie sich um, und dann bemerkte sie es auch. »Er hat Gremold doch erzählt, er würde seinen Lebensunterhalt mit Werbetexten für hochwertige Kataloge verdienen«, sagte sie.
»Siehst du irgendwelche Kataloge in diesem Appartement?« Sie schüttelte den Kopf. »Der Mann scheint auf seine Arbeit nicht gerade stolz gewesen zu sein.« »Oder er hat seinen Lebensunterhalt doch nicht mit Werbetexten verdient«, überlegte Mac. Ausgestattet mit der Namensliste, die ihm der Pförtner Aaron McGee gegeben hatte, machte sich Mac im sechzehnten Stock an die Arbeit. Mit einer tragbaren ALS, in der Art einer Taschenlampe, zu der eine bernsteinfarbene Schutzbrille gehörte, untersuchte er sorgfältig den kleinen Korridor vor dem Fahrstuhl. Alles konnte von Nutzen sein: Spuren von Blut, Speichel oder dergleichen. Er hielt auch nach der Mordwaffe oder der Kugel Ausschau, wenngleich er nicht damit rechnete, sie zu finden. Der Mörder hatte wahrscheinlich beides an sich genommen, aber man konnte ja nie wissen. Aus langjähriger Erfahrung wusste Mac, dass schon merkwürdigere Dinge passiert waren. Diese Suche würde er nun auf jeder Etage wiederholen. Vermutlich hätten die Bewohner der oberen sieben Stockwerke die Schüsse nur dann gehört, wenn sie auch auf ihrer Etage abgefeuert worden wären. Doch die Appartements waren alt und hatten dicke Wände. Vielleicht hätten die Bewohner einen Schuss gehört, wenn sie direkt vor dem Fahrstuhl gestanden hätten. Aber das wäre, so schloss er, davon abhängig gewesen, wie viele Stockwerke entfernt der Schuss abgefeuert worden war. Sechs der Bewohner überwinterten laut Auskunft des Pförtners in Florida, einschließlich der Galleghers auf der siebzehnten Etage und der Galleghers auf der achtzehnten. Die Galleghers im siebzehnten Stock waren Sohn, Schwiegertochter und Enkelkinder der Galleghers im achtzehnten. Mason und Tess Cooper aus dem Zwanzigsten waren in Palm Springs in Kalifornien. Cooper hatte McGee mehr als einmal erzählt, dass das
Haus, das er in Palm Springs bewohnte, gleich neben dem Haus stand, das einmal Danny Thomas gehört hatte. Damit blieben der sechzehnte, neunzehnte, einundzwanzigste und zweiundzwanzigste Stock übrig. Evan und Faith Taft schliefen noch, als Mac den Messingklopfer an ihrer Tür betätigte. Evan, in den Fünfzigern, gekleidet in einen blauen Morgenrock, der seinen Bauch doch nicht verbergen konnte, öffnete die Tür mit zerzaustem braunen Haar. Er blinzelte, als Mac ihm seine Marke zeigte. »Was gibt es?« »In Ihrem Fahrstuhl wurde jemand ermordet, Mr Taft.« »In unserem Fahrstuhl?« »Haben Sie heute Morgen Schüsse oder irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche gehört?« »Jemand wurde in diesem Gebäude erschossen? In unserem Fahrstuhl?« »Ja«, bestätigte Mac. »Haben Sie etwas gehört?« »Nein«, sagte Taft. »Ich werde meiner Frau davon erzählen müssen. Oh, so ein Mist. Sie hat Herzprobleme. Vermutlich werden wir das Appartement verkaufen und umziehen müssen. Sie wird nie wieder freiwillig in den Fahrstuhl steigen. Wissen Sie, wie es auf dem Wohnungsmarkt in dieser Stadt aussieht?« Mac wartete, während Evan Taft sein Klagelied fortsetzte. »Vielleicht können wir in unserer Wohnung auf Long Island unterkommen. Falls wir es überhaupt schaffen, da hinzukommen bei all dem Schnee.« »In diesem Gebäude wohnt auch ein Charles Lutnikov. Kennen Sie ihn?« »Der Name sagt mir nichts. Hat er jemanden umgebracht?« »Nein, er war das Opfer.« »In welchem Stockwerk hat er gewohnt?« »Im dritten. Stämmiger Mann, beginnende Glatze, vielleicht ein wenig ungepflegt.«
»Ich weiß nicht, vielleicht. Klingt irgendwie vertraut, aber …« »Ich werde später jemanden mit einem Foto von ihm vorbeischicken«, sagte Mac. »Wie gut kennen Sie Ihre übrigen Nachbarn? Die, die ebenfalls diesen Fahrstuhl benutzen?« »Nicht gut«, antwortete Taft. »Die Wainwrights wohnen im Neunzehnten. Er ist der Wainwright von Rogers and Wainwright, den Börsenmaklern. Er kümmert sich um einen Teil unserer Investitionen. Die anderen kennen wir gerade gut genug, um hallo zu sagen, wenn wir uns im Fahrstuhl oder in der Lobby begegnen. Die Barths im Einundzwanzigsten sind im Ruhestand, gehören zu Redwear, haben Pappkartons in North Carolina hergestellt. Und die Coopers aus dem Zwanzigsten – kennen Sie die Daisy-Ice-Cream-Kette im Süden?« »Nein«, gestand Mac. »Nun ja, die gehört der Familie Cooper«, erklärte Evan, strich sich das Haar zurück und blickte sich über die Schulter um, um nachzusehen, ob seine Frau sich näherte. »Große Familie.« »Oberstes Stockwerk? Louisa Cormier?« »Unsere Prominente«, sagte Taft. »Sie ist schon wieder in der Bestsellerliste der Times. Eine ziemlich nette Dame. Aber Sie kennen das, alles nur Fahrstuhlerfahrungen. ›Wie geht es Ihnen‹ und so was in der Art. Sie lebt ziemlich zurückgezogen.« »Ja«, sagte Mac. »Haben Sie heute Morgen irgendwelche Geräusche gehört, vermutlich kurz vor acht Uhr?« »Geräusche?« »So etwas wie einen Schuss.« »Nein. Unser Schlafzimmer liegt im hinteren Teil des Appartements. Sonst noch etwas?« »Nein«, antwortete Mac. »Dann gehe ich besser zurück und überlege mir, wie ich das am besten meiner Frau beibringe.«
Mac nickte, und Taft schloss die Tür. In den anderen Stockwerken hatte Mac auch nicht mehr Glück. Aiden stieß im zweiundzwanzigsten Stock zu ihm. Zusammen untersuchten sie den Korridor vor dem Fahrstuhl, so wie es bereits auf den vorangegangenen Stockwerken geschehen war. Als sie fertig waren, saugte Aiden den Fußboden und verstaute die Ausbeute in einem separaten Plastikbeutel. Als hier die ALS-Lampe zum Einsatz kam, entdeckte Mac kleine, aber unverkennbare Spuren von Blut. Er stand vor Louisa Cormiers Tür. Dann griff er zu dem schimmernden Messingklopfer.
4
Dr. Sheldon Hawkes, schlank, dunkelhäutig, gekleidet in Jeans und T-Shirt, auf dessen Rückseite die Buchstaben »CSI« zu lesen waren, befand sich im Autopsiesaal. Zwei Leichen lagen für die Autopsie bereit, und zwischen den beiden Leichen stand Stella Bonasera. Sie wartete auf Hawkes’ Ergebnisse der Untersuchung. Die einzige helle Lichtquelle hing unter der Decke und tauchte den kargen Raum in grelles Weiß. Die beiden Stars des Tages waren Alberta Spanio, in deren Hals immer noch das Messer steckte, und Charles Lutnikov, in dessen Brust die beiden Einschusslöcher nun deutlich sichtbar waren. Beide Leichen lagen unbekleidet auf Stahltischen und verließen die Welt so, wie sie sie betreten hatten – nackt. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Köpfe ruhten auf kleinen Blöcken. Hawkes hatte die Temperatur beider Leichen in dem Moment gemessen, in dem sie bei ihm angekommen waren, und sie mit der Rektaltemperatur verglichen, die Stella und Aiden gemessen hatten. Der Zeitpunkt des Todes ließ sich nie mit hundertprozentiger Genauigkeit feststellen, es sei denn, ein Zeuge stand daneben und man vertraute ihm und seiner Armbanduhr. Rigor mortis hatte noch bei keiner der Leichen eingesetzt, was die Vermutung nahe legte, dass der Tod vor weniger als acht Stunden eingetreten war. »Vermutung« war die maßgebliche Vokabel, da Stella Alberta Spanios Leichnam in einem Raum untersucht hatte, in dem eine Temperatur von minus fünfeinhalb Grad geherrscht hatte.
Der Fachbegriff »Rigor mortis« bezeichnet die Versteifung und Kontraktion der Muskeln, die durch chemische Prozesse in den Muskelzellen ausgelöst wird. »Rigor mortis« kann in den unterschiedlichsten Ausprägungen vorkommen. Normalerweise fängt die Leichenstarre im Gesicht an und arbeitet sich durch jeden einzelnen Muskel hindurch, bis schließlich die Zehen des Toten in Mitleidenschaft gezogen werden. Im Allgemeinen setzt die Leichenstarre achtzehn bis sechsunddreißig Stunden nach Eintritt des Todes ein und hält zwei Tage vor, bis die Muskeln sich wieder entspannen und der Verfallsprozess einsetzt. Hitze beschleunigt diesen Prozess. Hawkes erinnerte sich aber auch an Fälle, in denen die Leichenstarre erst nach einer Woche eingesetzt hatte. Bei mageren Personen konnte sie unabhängig von der Temperatur sehr schnell, bei korpulenten Personen hingegen viel langsamer ablaufen. Noch ehe er mit der Autopsie begann, wusste Hawkes, dass der Todeszeitpunkt, den die C.S.I.-Detectives an den jeweiligen Tatorten ermittelt hatten, einigermaßen korrekt war. Die normale Körpertemperatur liegt bei 36,7°C. Der Körper passt sich der Umgebungstemperatur mit etwa 0,833°C in der Stunde an, es sei denn, die Umgebung, in der die Leiche gefunden wird, ist extrem heiß oder extrem kalt. Berücksichtigte man die 22°C im Fahrstuhl und die Körpertemperatur des toten Mannes, so ließ sich Charles Lutnikovs Todeszeitpunkt recht einfach bestimmen. In Bezug auf Alberta Spanio war das schwerer, deutlich schwerer. Aufgrund der extrem niedrigen Temperatur musste ihre Körpertemperatur sehr schnell gefallen sein. Hawkes konnte den Zeitpunkt ihres Todes besser einschätzen, wenn er sich ihr zuerst widmete und anfing, ihren Körper und ihre Organe genauestens zu untersuchen. Er fing mit dem Messer an, das in ihrem Hals steckte.
»Von oben nach unten geführt«, sagte er, als er das Messer vorsichtig herauszog. »Tief. Der Täter war stark. Und er hatte Glück, oder er wusste, wo die Halsschlagader sitzt. Sie hat geschlafen. Kein Kampf. Keine Bewegung. Nicht einmal, nachdem sie erstochen wurde. Das Messer ist ein Springmesser, das direkt aus Die Saat der Gewalt oder West Side Story hätte entsprungen sein können, was beweist, wie gut ich mich mit modernen Filmen auskenne. Billig und scharf.« Hawkes ließ das blutige Messer in eine Stahlpfanne fallen und gab sie Stella. Sie würde sie der Sammlung hinzufügen, zu der bereits das Pillenfläschchen, der Deckel und das Glas mit Alkohol zählten. Wenn Hawkes mit der Leiche fertig wäre, würde vermutlich auch das Badezimmerfenster, das im Labor auf sie wartete, dazugehören. Routiniert machte Hawkes mit der Autopsie weiter. Es hatte immer wieder etwas Heiliges an sich, denn es war der erste Schritt, um ein Verbrechen aufzuklären und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sorgsam setzte Hawkes zu dem Y-Schnitt an, einem Schnitt in den Leichnam, der von beiden Schultern aus zum Brustbein führte und danach über den Bauch zum Becken weitergezogen wurde. Die inneren Organe lagen nun offen vor ihm. Hawkes benutzte eine gewöhnliche Astschere, um Rippen und Brustbein zu durchtrennen. Dann hob er die Rippen an, um das Herz und die anderen Organe freizulegen, einzeln herauszuholen und zu wiegen. Danach mussten aus allen Organen Flüssigkeitsproben entnommen werden. Im Anschluss wurden Magen und Darm aufgeschnitten, um den Inhalt zu analysieren. Als die Untersuchung des Torsos abgeschlossen war, widmete sich Hawkes Albertas Kopf. Zuerst schaute er sich die Augen an. Vielleicht gab es Hinweise auf Blutungen, und das Opfer war erst erstickt worden, bevor es erstochen worden war.
Dann schnitt er vorsichtig mit einem scharfen Messer durch die Kopfhaut, zog sie über das Gesicht und legte den Schädel frei. Mit einer Hochgeschwindigkeitssäge öffnete er den Knochen und spaltete ihn schließlich mit einem Meißel. Dann nahm er das Gehirn aus der Schädeldecke, um es ebenfalls zu wiegen und zu untersuchen. Während er einen Schritt nach dem anderen durchführte, diktierte er das, was er tat und sprach in ein Mikrofon. Auch dieses Tonband würde bald zu der Sammlung von Beweisstücken gehören. »Fertig«, sagte er endlich. »Ich bringe die Proben ins Labor.« »Sag ihnen, sie sollen sich beeilen«, bat Stella. Es passierte in New York oft genug, dass die Laborberichte in einem Mordfall Wochen oder sogar Monate auf sich warten ließen. Hawkes nickte und ging zu dem Waschbecken in der Ecke, wo er den blutigen Kittel auszog, die Handschuhe abstreifte und sich wusch. Stella fühlte sich ein wenig benommen, und das war ihr offenbar anzusehen, denn Hawkes fragte: »Alles in Ordnung mit dir?« »Bestens.« Was an ihr zehrte, war nicht die Autopsie oder der Anblick des geschundenen Leichnams. Dass was ihre Energie raubte, war diese verdammte Grippe. Sie verfluchte ihre Schwäche. Sie dankte Hawkes für seine Nachfrage und machte sich auf den Weg. »Und jetzt«, rief Hawkes ihr hinterher, »werde ich mich mal ein bisschen mit Mr Lutnikov unterhalten.« Zu Stellas Glück war Lutnikov Aidens und Macs Fall. Sie fragte sich, warum keiner der beiden bei der Autopsie dabei war.
Detective Don Flack hatte Rücksprache mit der Hotelrezeption gehalten und herausgefunden, wer in den Zimmern ein Stockwerk über und unter Alberta Spanios Raum gewohnt hatte. Um sicher zu sein, hatte er auch die Zimmer zwei Stockwerke höher und tiefer überprüft. Der möglicherweise interessanteste Raum war, wie sich herausstellte, der direkt über dem Badezimmer. Er war von einem Wendell Lang bewohnt worden, der schon zwei Tage zuvor speziell nach diesem Raum gefragt hatte. Damals musste er abgewiesen werden, weil genau dieser Raum belegt gewesen war. Er hatte also zunächst ein anderes Zimmer genommen, war aber sofort umgezogen, als der Raum über Alberta Spanio frei geworden war. Mr Lang hatte das Hotel um sechs Uhr an diesem Morgen verlassen. Unglücklicherweise war der Portier, der bei Wendells Einchecken dabei gewesen war und eine Personenbeschreibung hätte abliefern können, gerade nicht im Dienst. Flack nahm das Buchungsformular von Wendell vorsichtig an sich und ließ es in einen kleinen Plastikbeutel fallen, den er in seine Tasche steckte. Dann, mit einem Schlüssel, den ihm der Manager überlassen hatte, ging er hinauf in das Zimmer, das Wendell Lang gemietet hatte. Das Zimmer war klein, und das Zimmermädchen hatte bereits sauber gemacht. Im Korridor fand er das Mädchen mit seinem Handwagen. Er zeigte ihr seine Marke und fragte sie, ob sie im Zimmer gesaugt hätte. Die Frau, Estrella Gomez, war pausbäckig, hellhäutig und in den Dreißigern. Sie sprach mit einem schwachen Akzent, als sie sagte: »Zimmer 704. Der Mülleimer war leer. Keine Zeitungen, kein gar nichts im ganzen Zimmer. Hat die Handtücher nicht benutzt. Hat nicht einmal in dem Bett geschlafen. Ich habe staubgesaugt. Das war alles.« Flack wies Estrella Gomez an, zur Rezeption zu gehen und den Leuten zu sagen, sie sollten niemanden in das Zimmer las-
sen, da es sich um einen möglichen Tatort handeln könnte. Dann kehrte er in den Raum zurück, ging zum Fenster, öffnete es und blickte in die Tiefe. Freier Fall und zwei Probleme. Das Fenster war von jedem, der von der 51. Straße hochschaute oder aus einem der Bürogebäude gegenüber sah, leicht zu erkennen. Die Chance, dass jemand aus diesem Fenster hinausstieg und die Fassade hinunterkletterte, ohne dabei beobachtet zu werden, war erbärmlich – sogar in der Dunkelheit der Nacht. Nach Hawkes’ Untersuchung würde Flack wissen, wann Alberta Spanio ermordet wurde. Sollte die Sonne bereits geschienen haben, hätte jemand, der aus einem sechsstöckigen Hotel herauskletterte, entdeckt werden müssen. Als er den Kopf wieder zurückzog, sah Flack etwas in der Mitte der Fensterbank, eine kleine Kerbe, die sich wie ein schmales Band durch das weiße Holz zog. Die Vertiefung sah neu aus, das bloßgelegte Holz sauber. Er berührte es, um sich zu vergewissern, dass der Schaden neu war. Dann zog er sein Mobiltelefon hervor und rief Stella an. Als er gerade an Louisa Cormiers Tür klopfen wollte, klingelte Macs Mobiltelefon. Die Nummer des Anrufers, die auf dem Display angezeigt wurde, war ihm nicht bekannt. Er stutzte einen Moment, doch dann nahm er schließlich ab. »Ja«, meldete er sich, während er die hohe Tür aus poliertem dunklen Holz musterte, die mit geschnitzten Blütenranken verziert war. »Mr Taylor?«, erklang eine weiche Frauenstimme. Gleich neben ihm stand Aiden mit ihrem Aluminiumkoffer in der Hand und wartete. »Ja.« »Hier spricht Wanda Frederichson. Wir würden die Angelegenheit gern verschieben, bis das Wetter besser ist, und wir genug Schnee wegschaffen können.«
Mac sagte nichts. »Wenn Sie das natürlich unbedingt am Montag erledigen möchten, dann werden wir unser Bestes tun, aber wir raten dazu …« »Montag«, sagte Mac. »Es muss am Montag sein. Tun Sie einfach, was Sie können.« »Und Sie wollen immer noch alles so haben, wie wir es besprochen haben?« »Ja. Der Wetterbericht sagt, nach morgen soll es mindestens eine Woche lang keinen Schneefall mehr geben.« »Aber«, wandte Wanda Frederichson ein, »die Temperatur soll noch mindestens sieben Tage lang bei etwa zwanzig Grad minus liegen.« Mac spürte, dass die Frau ihn gern überzeugt hätte zu warten, aber warten kam nicht in Frage. Es musste Montag sein. »Und Sie sagten, es werden keine Gäste da sein?«, hakte Wanda Frederichson zur Sicherheit noch einmal nach. »Keine Gäste. Nur ich.« »Dann am Montag um zehn«, beendete Wanda Frederichson das Gespräch mit einem resignierten Unterton. Mac klappte sein Mobiltelefon zu. Sein Blick traf den Aidens. Sollte sich hinter ihren braunen Augen eine Frage formuliert haben, so verbarg sie es. Sie war klug genug, den Mund zu halten. Mac bewegte den Klopfer und pochte an die kunstvolle Tür. Aus dem Inneren des Appartements konnte er einen Klingelton hören. »Phantom der Oper«, sagte er. »Hab ich nie gesehen«, entgegnete Aiden. Die Tür wurde geöffnet. Eine kleine Frau in den Fünfzigern, gekleidet in weißer Bluse und blauem Rock, stand vor ihnen. Ihr Haar war kurz, lockig und honigblond, die Augen blau. Sowohl die Farbe der Haare wie auch die der Augen war un-
echt, künstlich, aber nahezu perfekt. Sie war nicht wirklich hübsch, aber sie besaß eine zarte Eleganz und ein beinahe trauriges Lächeln, das den Blick auf perfekte weiße Zähne freigab. »Louisa Cormier?«, fragte Mac. Die Frau sah Mac und Aiden an. »Die Polizei, stimmt’s? Ich habe Sie bereits erwartet. Mr McGee hat mich von unten angerufen. Bitte, kommen Sie herein.« »Ich bin Detective Taylor«, stellte Mac sich vor. »Das ist Detective Burn. Sie wird hier draußen auf mich warten.« Louisa Cormier sah Aiden an. »Sie wäre mir sehr willkommen …«, setzte Louisa an, doch dann fiel ihr Blick auf Aidens Jacke. »Tatortermittlung. Die junge Dame will sich mein Foyer ansehen.« Mac nickte. »Ich habe absolut nichts dagegen«, sagte Louisa lächelnd. »Nicht, dass ich etwas dagegen tun könnte, wenn es anders wäre. Hier hat ein Mord stattgefunden, und als die Hausbewohnerin, die am weitesten weg von der Lobby wohnt, bin ich sehr daran interessiert, dass Sie so schnell wie möglich herausfinden, wer das getan hat. Bitte, kommen Sie herein.« Sie trat zurück, um Mac hineinzulassen. Als er drin war, schloss sie die Tür. Der Raum war mehr als nur ein Raum. Es war eine dunkle, mit Marmor ausgelegte Halle mit einem Essbereich, der allein schon größer war als Macs Wohnung. Hier stand ein massiver Holztisch mit sechzehn Stühlen. Außerdem gab es einen Wohnbereich, der beinahe einem Tennisplatz glich, möbliert mit antiken Möbeln, die neu gepolstert und mit leuchtend farbigen Stoffen bezogen waren. Glasschiebetüren führten hinaus auf einen Balkon, der in nördlicher Richtung einen Panoramablick über die Stadt bot. »Groß, nicht wahr?«, sagte Louisa, die Macs Blick gefolgt war. »Das ist der Teil, den ich den Leuten von Architectural
Digest überlasse – das hier und die Küche und meine Kombination aus Arbeitszimmer und Bibliothek. Der Zutritt zu meinem Schlafzimmer jedoch …« Sie deutete auf eine Tür im Wohnbereich, »ist Architectural Digest verwehrt geblieben, aber Ihnen nicht.« »Ich würde mir gern alle Räume ansehen«, sagte Mac. »Ich verstehe. Sie tun nur Ihre Pflicht. Kaffee?« »Nein, danke. Nur ein paar Fragen.« »Über Charles Lutnikov?«, fragte sie, ging zum Wohnbereich voran und lud ihn mit einem zarten Wink ein, Platz zu nehmen. Mac setzte sich in einen hohen Polstersessel mit aufrechter Lehne. Louisa nahm ihm gegenüber auf einem Sofa Platz. »Sie kannten Mr Lutnikov?« »Ein wenig«, sagte sie lächelnd. »Der arme Mann. Ich habe ihn kennen gelernt, als er eingezogen ist. Er hatte eines meiner Bücher bei sich und wusste gar nicht, dass ich hier wohne. Ich habe mir den Ruf, nicht gern über meine Arbeit zu reden, wohl verdient, aber als ich Charles einige Wochen später in der Lobby begegnet war, hatte er schon wieder eines meiner Bücher bei sich. Eitelkeit.« »War er eitel?« »Nein«, entgegnete sie mit einem Seufzen, »das ist der Titel des Buchs und bezieht sich auf die Hauptfigur. Aber ich erlag meiner Eitelkeit, als ich Charles mit einem meiner Bücher sah. Ich fragte ihn, ob es ihm gefiele, und er sagte, er sei ein großer Fan davon. Dann habe ich ihm erzählt, wer ich bin. Für einen Moment hat er mir nicht geglaubt, bis er das Buch aufgeschlagen und sich die Fotografie auf der Innenseite des Umschlags angesehen hat. Ich weiß, was Sie denken. Sie glauben, er hätte die ganze Zeit gewusst, wer ich bin, aber das hat er nicht. Ich konnte es ihm ansehen. Meine einzige Sorge war, dass er sich womöglich zu einem überschwänglichen Verehrer entwickeln
könnte. Ich hätte nicht mit so einem Menschen im selben Gebäude leben wollen. Ich hätte Angst davor gehabt, ihm zufällig zu begegnen und mich mit ihm unterhalten zu müssen, wissen Sie. Die Leute in diesem Gebäude haben meine Privatsphäre stets so respektiert wie ich die ihre.« »Also …?« »Also haben wir Regeln festgelegt«, erzählte sie. »Ich würde seine Bücher signieren, und er würde mich nicht mit Fragen oder Kommentaren belästigen, wenn wir einander begegneten. Wir würden uns einfach zulächeln und hallo sagen.« »Und es hat funktioniert?« »Perfekt.« »War er je hier?« »Hier oben? Nein. Haben Sie je eines meiner Bücher gelesen?« »Nein, tut mir Leid«, gestand er. »Das ist nicht nötig. Aber Millionen haben sie gelesen.« Sie lächelte breit. »Jemand in unserer Einheit ist auch ein Fan von Ihnen«, verriet Mac. »Ich habe ihn mit Ihren Büchern gesehen. Haben Sie heute Morgen einen Schuss gehört?« »Um welche Zeit?«, fragte sie. »Vermutlich gegen acht.« »Um acht Uhr war ich nicht da«, sagte sie ernsthaft. »Ich gehe jeden Morgen aus.« »Wo waren Sie heute Morgen?« »Nun, bei gutem Wetter gehe ich in den Central Park, aber heute ist nicht der richtige Tag für so etwas«, erklärte sie. »Ich habe mir eine Zeitung gekauft, bin zu Starbucks gegangen, um einen Kaffee zu trinken und habe mich dann auf den Weg nach Hause gemacht. Bitte folgen Sie mir.« Sie erhob sich und ging zu dem Raum, den sie sowohl Arbeitszimmer als auch Bibliothek genannt hatte.
»Kommen Sie«, sagte sie. »Ich werde für Ihren Kollegen ein Buch signieren – das neue. Wer dem Tod huldigt. Es kommt in etwa einem Monat heraus.« Mac erhob sich, um ihr zu folgen. »Haben Sie heute Morgen irgendwelchen Lärm gehört?« »Nein.« Sie öffnete die Tür zu ihrem Büro. »Nein, aber ich hätte vermutlich nicht einmal etwas gehört, wenn jemand direkt vor meiner Tür geschossen hätte. Ich war hier in meinem Arbeitszimmer, von sechs bis acht, und habe hinter verschlossener Tür geschrieben, und dann bin ich rausgegangen.« »Haben Sie den Fahrstuhl benutzt?« »Sie meinen: Habe ich im Fahrstuhl einen toten Mann gesehen?«, gab sie zurück. »Nein, habe ich nicht. Ich habe den Fahrstuhl nicht benutzt. Ich bin zu Fuß hinuntergegangen.« »Zweiundzwanzig Stockwerke«, bemerkte Mac. »Einundzwanzig«, korrigierte sie. »Hier gibt es kein dreizehntes Stockwerk. Ich gehe jeden Morgen die Treppe hinunter, und nach meinem Spaziergang gehe ich sie wieder hinauf. Diese Treppen und mein Spaziergang sind wirklich meine einzige körperliche Ertüchtigung.« Das Bibliotheksbüro war groß, nicht so groß wie der Rest des Appartements, aber groß genug für einen reich verzierten Ebenholzschreibtisch mit gekrümmten Beinen und Elfenbeineinlegearbeiten, sowie einem dazu passenden Stuhl. Vor zwei Wänden standen Bücherregale. Es waren nicht ganz so viele wie in Lutnikovs Wohnung, aber die Anzahl war durchaus beachtlich. An der anderen Wand befand sich eine deckenhohe Vitrine mit einer wirren Sammlung der verschiedensten Gegenstände. »Meine Sammlung«, erzählte Louisa Cormier lächelnd. »Dinge, die ich für die Recherchen zu meinen Büchern gebraucht habe. Ich versuche, die entscheidenden Gegenstände selbst zu benutzen oder wenigstens zu berühren, damit ich weiß, wovon ich schreibe.«
Mac betrachtete die Sammlung, zu der auch ein altes ArvinRadio aus den Vierzigern zählte, außerdem eine Pfadfinderaxt, ein großer Kristallaschenbecher, ein gewaltiges Buch mit einem roten Stoffeinband, eine Art-déco-Statue von Erté, die auf etwa dreißig Zentimetern Höhe eine schnittig gekleidete und frisierte Frau darstellte, ein Schreinerhammer mit einem dunklen Holzgriff, ein blaues, dekoratives Kissen mit gelben Troddeln und den aufgedruckten Worten New Yorker Weltausstellung auf der Vorderseite, ein sechzig Zentimeter langer Krummsäbel mit goldenem Heft, eine Coke-Flasche aus den Vierzigern – und Dutzende anderer seltsamer Sachen. »Man hat mir gesagt«, erzählte Louisa, »die Sammlung wäre annähernd eine Million Dollar wert, wenn ich die Stücke signieren und bei Ebay versteigern würde.« »Keine Waffen«, stellte Mac fest. »Wenn ich über Waffen schreibe, gehe ich in einen Waffenladen oder auf einen Schießstand«, sagte sie. »Ich sammle sie nicht.« An der Wand hinter dem Schreibtisch stand ein Set aus sechs Aktenschubfächern. Über den Aktenschränken hingen vierzehn gerahmte Auszeichnungen und ein achtundzwanzig mal sechsunddreißig Zentimeter großes Schwarzweißfoto von einem hübschen jungen Mädchen, das vor einem Reinigungsgeschäft stand. »Das war ich«, sagte sie. »Mein Vater war der Geschäftsführer in diesem Laden. Ich habe nach der Schule und an den Samstagen dort gearbeitet. Das war damals in Buffalo. Wir waren alles andere als wohlhabend, was sich im Nachhinein als Segen herausstellte, denn ich weiß mein Geld zu schätzen und gebe es mit Freuden aus. Da ist es.« Sie stand vor einem Regal in der rechten Ecke des Raums, zog ein Buch heraus, schlug es auf der Titelseite auf und fragte: »Für wen ist es?«
»Sheldon Hawkes.« Sie schrieb ein wenig verschnörkelt, schlug das Buch zu und reichte es Mac. »Danke«, sagte er und nahm es an sich. Auf dem Tisch stand ein Computer, ein Macintosh, und ein Drucker, aber kein Scanner oder ein anderes technisches Accessoire. »Gibt es sonst noch etwas?«, fragte sie und faltete die Hände. Ihr Lächeln war breit und warmherzig. »Im Augenblick nicht«, antwortete Mac. »Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.« Sie führte ihn zur Wohnungstür und öffnete. Aiden stand, den Metallkoffer in einer Hand, auf dem Flur. »Falls ich Ihnen noch irgendwie helfen kann …«, sagte Louisa Cormier. »Haben Sie irgendwelche Hausangestellten?« »Nein, aber alle drei Tage kommt eine Putztruppe und macht sauber.« »Sekretärin?«, hakte Mac nach. Louisa legte den Kopf leicht auf die linke Seite wie ein neugieriges Vögelchen. »Ann Chen. Sie führt meinen persönlichen und meinen geschäftlichen Kalender, beschützt mich vor Reportern, Fans und neugierigen Gaffern und kümmert sich um meine Korrespondenz und meine Homepage.« »Arbeitet sie hier?« »Gewöhnlich nicht. Normalerweise arbeitet sie zu Hause in ihrer Wohnung im Village. Meine Telefonnummer steht nicht im Telefonbuch, aber irgendwie machen die Leute sie immer wieder ausfindig. Die Anrufe werden an Ann umgeleitet, die einfach auf einen Knopf drückt, um sie zu mir weiterzuleiten, wenn sie sie überprüft hat.« Sowohl Aiden als auch Mac konnten sehen, dass Louisa erwog, eine Frage zu stellen, sich aber dann dagegen entschied.
»Ist das alles?«, fragte sie stattdessen. Aiden öffnete die Tür zum Treppenhaus. Der abgesperrte Fahrstuhl war immer noch im Erdgeschoss. »Für den Moment, ja«, erwiderte Mac mit einem Lächeln. »Ich bin sicher, Sheldon wird sich über das Buch freuen.« Mac hielt es hoch, als er Aiden durch die Tür folgte und sie eine lächelnde Louisa hinter sich zurückließen. Als die Tür ins Schloss gefallen war, fragte Aiden: »Hawkes liest Krimis?« »Keine Ahnung«, antwortete Mac und machte sich an den Abstieg. »Gib mir eine große Tüte. Ich möchte die Fingerabdrücke unserer berühmten Autorin überprüfen. Hast du Proben von dem Blut auf dem Teppich?« Aiden nickte. »Also«, sagte Mac, »dann sehen wir mal, ob sie zu Charles Lutnikovs Blutgruppe passen.« »Weiß sie etwas?«, fragte Aiden, und ihre Stimme hallte von den Wänden wider, als sie langsam die Treppe hinunterstiegen. Mac zuckte mit den Schultern. »Sie weiß etwas. Sie hat zu viel geredet und immer wieder das Thema gewechselt. Sie hat sich alle Mühe gegeben, sich als fürsorgliche Gastgeberin zu zeigen, die nichts zu verbergen hat.« »Aber sie hat gelogen«, schlussfolgerte Aiden. Mac hatte ein Gespür für Unwahrheiten. Alle, die mit ihm zusammenarbeiteten, hatten schnell, und manchmal auf die harte Tour, gelernt, Mac niemals anzulügen. »Jeder lügt, wenn er mit der Polizei spricht«, hatte er einmal zu ihr gesagt. »Hast du noch irgendetwas Wichtiges entdeckt?«, fragte er sie. Als sie die Lobby betraten, zog Aiden ein kleines Plastikdöschen aus der Jackentasche und reichte es Mac. Er hielt es hoch ins Licht, um sich den Inhalt anzusehen.
»Was ist das?« »Sechs kleine Papierfetzen. Weiß. Wie Konfetti. Hab sie auf dem Teppich vor Louisa Cormiers Wohnungstür gefunden.«
5
Auf dem Tisch vor Stella und Flack lagen das Pillenfläschchen, das Badezimmerfenster und das Glas aus dem Hotelzimmer, in dem Alberta Spanio ermordet worden war. Stella hatte die Beweismittel auf Fingerabdrücke untersucht. Saubere Abdrücke fanden sich nur auf dem Glas und dem Pillenfläschchen. Auf dem Badezimmerfenster hatten sie keine Abdrücke gefunden, aber Stella hatte das Fenster nicht deshalb mitgenommen. Was sie wollte, waren vor allem vernünftige Antworten. »Das ist die Außenseite des Fensters. Siehst du das Loch?«, fragte sie Flack. Sie deutete auf eine Stelle des Fensters. Es war kaum zu übersehen. Ein zweieinhalb Zentimeter langer Einschnitt in der Form eines Kometen und der Farbe unbehandelten Holzes. »Ich habe die Innenseite des Lochs untersucht«, sagte sie. »Es sind Gewindespuren. Etwas ist in dieses Fenster geschraubt und herausgerissen worden, und diese Schramme ist zurückgeblieben.« Stella hatte einen Abdruck angefertigt, auf dem gleichmäßige, kleine Riefen zu sehen waren. Danny Messer, bekleidet mit einem weißen Laborkittel, kam herein und hielt zwei Objektträger in der Hand. Er reichte sie Stella und sagte: »Das sind die Proben, die ich aus dem Schraubenloch des Fensters gekratzt habe. Bitte sehen Sie sich das an.« Stella legte den ersten Objektträger unter das Mikroskop und untersuchte ihn, als Danny bereits fortfuhr: »Das ist Eisen-
oxid. Ganz eindeutig. Was auch immer da eingeschraubt war, war aus Eisen und so gut wie neu.« Stella ging zur Seite, um Flack einen Blick auf die Probe zu gewähren. Er sah durch das Mikroskop und erkannte kleine dunkle Splitter, die sich in unspezifischer Anordnung über den Objektträger verteilten. Als er sich wieder von dem Mikroskop entfernte, legte Stella den zweiten Objektträger ein, auf dem die Probe aus dem Raum über Alberta Spanios Zimmer zu sehen war. Ein paar Sekunden betrachtete sie die Probe, dann machte sie Platz für Flack. Weitere Splitter, aber diese sahen anders aus als die auf dem ersten Objektträger. »Stahl«, erklärte Danny. »Das sind die Partikel, die Detective Flack entnommen hat, und zwar aus den Riefen des Fensters über Alberta Spanios Badezimmer. Die Proben passen nicht zusammen.« »Und was sagt uns das?«, fragte Flack. »Nichts weiter, nur, wer immer das Stahlding aus dem Fenster gehängt hat, ließ etwas Schweres daran baumeln, denn sonst wären nicht solche Kerben entstanden.« »Ein Kind?«, fragte Flack. »Jemand hat ein Kind zu dem Fenster runtergelassen, damit es einbricht und Alberta Spanio ein Messer in den Hals rammt?«, fragte Stella. »Ich habe auf der Straße schon Kinder kennen gelernt, die so etwas für ein paar Hundert Dollar erledigen würden«, gab Flack zurück. »Aber vielleicht war es ja auch eine Frau – dünn, vielleicht von Drogen ausgezehrt und bereit, ihr Leben zu riskieren, um sich Geld für weitere Drogen zu beschaffen.« »Wie wäre es damit?«, fragte Danny. »Jemand lässt eine Kette mit einem Haken aus dem Fenster über Spanios Badezimmer gleiten. Der Haken passt genau in einen anderen Haken oder Ring, der in Spanios Badezimmerfenster eingeschraubt
ist. Er zieht das Fenster hoch, und zwar so heftig, dass sich der Haken löst und dieses Loch hinterlässt.« »Und dann ist jemand an der Kette runtergeklettert?«, fragte Flack. »Möglich«, gab Danny zu. »Oder es wurde eine andere Person hinuntergelassen.« »An einer Stahlkette runterzuklettern ist verdammt gefährlich.« Flack schüttelte den Kopf. »Vor allem in einem Schneesturm«, stimmte ihm Danny zu. »Und um sich dann auch noch durch ein Fenster zu schwingen.« Flack überlegte die Möglichkeiten. »Einem Kind oder einem Junkie dürfte das ziemlich schwer fallen.« Stella fühlte sich schwach und müde. Sie wollte am liebsten ihren Kopf auf den Tisch legen und eine Stunde schlafen. Doch stattdessen sagte sie: »Gehen wir noch einmal hin und sehen uns etwas genauer den Raum über Spanios Badezimmerfenster an.« Ausgebreitet auf dem Edelstahltisch vor Dr. Sheldon Hawkes lag der Leichnam von Charles Lutnikov. Von einer Stelle, kurz unter dem Hals des Toten bis knapp über seinen Bauch hinaus, befand sich ein sauberer Schnitt. Der durch den Schnitt entstandene Gewebelappen war umgeschlagen und hing dunkelrot über den frei gelegten Rippen. Der Brustraum war aufgebrochen, und die Eingeweide lagen offen vor ihm. Das Licht über der Leiche vertrieb jeden Schatten und offenbarte den Verlauf des Dickdarms, der Knochen und Arterien. Die Raumluft fühlte sich nach Macs Empfinden etwas kühler an als üblich, was ihm nur recht war. Das Aroma, von was auch immer der tote Mann heute Morgen oder in der Nacht zuvor gegessen hatte, trieb durch den Raum. Mac sah Hawkes an, der beide Hände auf den Tisch gelegt hatte.
»Der Mann hatte eine Pizza zum Frühstück«, sagte Hawkes. »Fleischkloß, Aubergine und Zwiebel.« »Interessant.« »Wir fangen mit den einfachen Sachen an«, sagte Hawkes. »Was wissen wir über unseren Mann?« »Seine Fingerabdrücke wurden in der Datenbank des Militärs gefunden«, berichtete Mac. »Lutnikov hat vier Jahre bei der Militärpolizei der United States Army gedient. Und er hat im ersten Golfkrieg gedient. Purple Heart.« Hawkes deutete auf eine Narbe am Bein des Toten, gleich oberhalb des Fußgelenks. »Vermutlich eine Landmine«, sagte er. »Da sind immer noch ein paar Fragmente von dem Schrapnell. Der Arzt, der ihn operiert hat, wird vermutlich beschlossen haben, sie dort zu lassen, um nicht bei der Entfernung noch mehr Traumen auszulösen. Wahrscheinlich eine gute Entscheidung.« »Was ist mit dem Schuss, der ihn umgebracht hat?« Hawkes beugte sich vor und schloss die linke Seite des Brustkorbs, als würde er ein Buch zuklappen. »Die Wunde, die ihn getötet hat, stammt von einer Pistole. Ein kleines Kaliber, vermutlich eine .22er. Die Kugel ist beinahe senkrecht ins Herz eingedrungen. Er hat direkt vor dem Schützen gestanden, der entweder genau gewusst hat, worauf er oder sie zielen musste, oder verdammt viel Glück gehabt hat.« Mac nickte und beugte sich ebenfalls vor, um die Wunde zu untersuchen. »Aiden hat einen Blutstropfen vom Boden des Fahrstuhls untersucht. Das Blut aus der Wunde ist einen Meter siebenunddreißig tief gefallen.« »Der Tote ist knapp ein Meter achtzig«, sagte Hawkes. »Das bedeutet, dass Lutnikov gestanden haben muss, da die Kugel senkrecht eingedrungen ist«, stellte Mac fest.
»Und …?« »Falls der Schütze mit der Waffe in der Hand auch stand …«, fuhr Mac fort. »Dann war der Schütze etwa ein Meter fünfundfünfzig bis ein Meter achtundfünfzig groß«, übernahm Hawkes. »Willst du etwas über den Weg wissen, den die Kugel genommen hat?« Mac nickte. »Die Kugel ist durch das Herz gegangen, abgebogen, hat eine Rippe getroffen, kehrtgemacht und ist nur einige Zentimeter von der Eintrittswunde entfernt wieder rausgekommen.« Wie ein Magier zauberte Hawkes einen dünnen, biegsamen Metallstab zur Untersuchung des Schussverlaufs herbei und führte ihn in die Eintrittswunde. »Wie ich bereits sagte, ist sie direkt von vorn eingedrungen, was ihr durch die Verteilung der Blutspritzer bestätigen könnt.« Hawkes ergriff einen zweiten Metallstab, den er in einem scharfen, aufwärts gerichteten Winkel in die Austrittswunde einführte, und demonstrierte damit den Verlauf der Kugel. Als Hawkes damit fertig war, zog er die Stäbe wieder heraus und fragte: »Ihr habt keine Kugel gefunden?« »Bisher nicht«, gestand Mac. »Hast du noch etwas für uns?« Hawkes griff unter den Tisch und zog einen kleinen, durchsichtigen, wieder verschließbaren Plastikbeutel hervor und überreichte ihn Mac. Der hielt ihn hoch und sah Hawkes an. »Stammt aus Wunde eins«, sagte Hawkes. »Kleine Fetzen blutverschmierten Papiers.« »Aiden hat ähnliche Fragmente am Tatort gefunden. Die Kugel muss durch Papier gegangen sein, bevor sie Lutnikov getroffen hat.« »Durch eine Menge Papier«, verbesserte Hawkes. »Wenn wir davon ausgehen, dass ein Teil des Papiers sofort verbrannt ist, dann sind anscheinend immer noch genügend Fetzen übrig geblieben, die von Aiden und mir gefunden werden konnten.«
»Ein Buch?«, fragte Mac. »Das musst du beantworten«, sagte Hawkes und öffnete den Brustkorb wieder. »Aber auf einigen dieser Fragmente sind Tintenspuren zu sehen. Oh, ja, Lutnikovs Blut und die Probe, die ihr vor Louisa Cormiers Appartement entnommen habt – Volltreffer.« Fünf Minuten später klingelte Mac Taylors Mobiltelefon. Mac beugte sich gerade über Aidens Schulter, während sie im Labor die blutigen Papierfragmente unter dem Mikroskop untersuchte. »Taylor«, sagte er. »Mr Taylor, Wanda Frederichson noch einmal. Tut mir Leid, Sie stören zu müssen, aber ich habe im Büro mit Mr Melvin gesprochen, und er sagt, Montag ist unmöglich. Wir werden keine Mannschaft zusammenstellen können, um den Schnee zu räumen, und die Fahrwege werden …« »Was, wenn jemand stirbt?«, entgegnete Mac. Aiden blickte von ihrem Mikroskop auf. Mac trat zurück und ging quer durch den Raum. »Pardon?« »Was tun Sie, wenn zwischen heute und Montag jemand stirbt?«, fragte Mac. »Wollen Sie wirklich …?« »Ja.« »Wir kühlen die Leiche.« »Was ist mit den Juden?«, hakte Mac nach. »Juden?« »Sie müssen ihre Toten in einer Zeitspanne von ein oder zwei Tagen beerdigen, nicht wahr?« »Um derartige Fragen kümmert sich unser jüdischer Geschäftsführer, Mr Greenberg«, sagte sie. »Ich würde gern mit Mr Greenberg sprechen«, sagte Mac. »Bitte, Mr Taylor«, entgegnete Wanda Frederichson in geduldigem Ton. »Ich weiß …«
»Detective Taylor«, korrigierte er. »Haben Sie die Nummer von Mr Greenberg?« »Ich kann Sie mit ihm verbinden«, erwiderte sie mit einem Seufzen. »Danke«, sagte Mac und sah sich zu Aiden um, die so tat, als höre sie nicht zu. Ein Doppelklingeln, dann noch ein Doppelklingeln und die Stimme eines Mannes ertönte. »Arthur Greenberg, kann ich Ihnen helfen?« Mac erklärte ihm die Situation, und Greenberg hörte schweigend zu. »Lassen Sie mich mal nachsehen«, bat Greenberg. »Ich brauche ein paar Sekunden, um auf meine Daten im Computer zugreifen zu können. Normalerweise wäre ich am Sabbat gar nicht hier, aber wir hatten einen … Sehen wir mal. Wir hatten nie … Ja. Mr Taylor, ich sehe mir gerade den Sachverhalt in Ihrer Angelegenheit an. Wir kriegen das hin.« Mac gab Greenberg die Nummer seines Mobiltelefons, dankte ihm, klappte das Telefon zu und ging zu Aiden zurück. Sie blickte zu ihm auf, offenbarte ihre Neugierde, aber er ignorierte sie. »Was haben wir?«, fragte er stattdessen. »Alles in Ordnung?« »Bestens«, antwortete er. »Was haben wir?« »Was wir nicht haben, ist eine Waffe oder eine Kugel«, sagte sie. »Was wir haben, sind einige Partikel eines Materials für den gehobenen Anspruch: weißes Hartpostpapier, A4-Format, 80g/m2, säurefrei, nicht löschbar. Das stimmt mit dem Papier in Lutnikovs Appartement überein.« »Und auf einem Teil des Papiers, das Hawkes gefunden hat, war Tinte. Was ist mit den Papierfragmenten, die du vor Louisa Cormiers Appartement entdeckt hast?«
Aiden nickte und sagte: »Stimmt überein. Das beweist nicht, dass sie ihn erschossen hat, aber es deutet darauf hin, dass der tödliche Schuss vor Louisa Cormiers Fahrstuhltür abgefeuert wurde. Aber es gibt viele Möglichkeiten, wie diese sechs Fragmente auf den Teppich in Louisa Cormiers Foyer gekommen sein könnten. Sogar wir hätten sie unter unseren Sohlen dorthin tragen können.« »Nein«, sagte Mac. »Nein«, stimmte Aiden zu. »Aber«, sagte Mac, »ein guter Anwalt …« »Und Louisa Cormier kann sich den besten leisten«, fügte Aiden hinzu. Mac nickte. »Ein guter Anwalt könnte einen ganzen Haufen Erklärungen finden. Sieh mal, ob du eine Übereinstimmung zwischen diesen Tintenspuren und Lutnikovs Schreibmaschine findest.« Einige Sekunden stand er schweigend da, ehe er erneut das Wort ergriff. »Wie groß, denkst du, ist Louisa Cormier?« Aiden blickte auf, dachte einen Augenblick nach und sagte: »Vielleicht ein Meter achtundfünfzig. Warum?« Ehe er antworten konnte, sagte sie: »Die Blutspritzer.« »Die Blutspritzer«, bestätigte er und erzählte ihr von seinem Gespräch mit Sheldon Hawkes und von seinen Erkenntnissen. »Lutnikov hat das Papier getragen, als auf ihn geschossen wurde. Die Kugel ging durch das Papier, das er an seine Brust gepresst hatte.« »Zum Schutz?«, fragte Aiden. »Vor einer Kugel?«, fragte Mac. »Das war alles, was er hatte.« »Vielleicht hat er aber auch versucht, das zu schützen, was er geschrieben hat«, wandte Mac ein. »Vielleicht wurde er deshalb umgebracht.«
»Wo ist dann das, was er geschrieben hat?«, fragte sie. »Und wo ist die Kugel …?« »Und die Waffe«, fügte Mac hinzu. »Du weißt, was wir als Nächstes tun müssen.« Aiden erhob sich. »Ich ziehe meinen Mantel an, bahne mir einen Weg durch den kalten Norden und komme mit einem Farbband aus einer Schreibmaschine zurück.« »Und …«, fing Mac an. »Weiteren Papierproben aus Lutnikovs Appartement«, beendete sie den Satz. »Proben von beschriebenem Papier.« »Nimm einen Staubsauger mit«, sagte Mac, »und such noch einmal den Boden in jedem Stockwerk vor dem Fahrstuhl ab.« »Das haben wir doch schon getan.« »Aber jetzt wissen wir, wonach wir suchen müssen.« Aiden nickte. »Die Mordwaffe, die Kugel und was immer Lutnikov an seine Brust gepresst hielt, als er erschossen wurde, und …« »Ein Motiv«, sagte Mac. »Ich mache mich besser auf den Weg.«
6
Das Zimmermädchen hatte bestätigt, dass das Bett von dem Mann, der das Hotelzimmer für die Nacht gemietet hatte, nicht benutzt worden war und sie es deshalb an diesem Morgen nicht beziehen musste. Während Danny Messer auf allen vieren über den Boden krabbelte, untersuchte Stella Bonasera das Bett, bis sie überzeugt davon war, dass dieser Mann höchstwahrscheinlich noch nicht einmal darauf gesessen hatte. Die beiden Ermittler hatten die wenigen Möbelstücke in dem Raum genau unter die Lupe genommen – Bett, Stuhl, einen kleinen Tisch, einen Schrank mit drei Schubladen, auf dem ein kleiner Farbfernseher stand, Kleiderschrank, und sogar die Kleiderstange und die Innenwände des Kleiderschranks. Aber sie hatten nichts gefunden. Stella ging zum Fenster. Don Flack hatte die übrigen Hotelangestellten befragt, auch den Portier, der am Vortag, als Wendell Lang sich eingecheckt hatte, seinen Dienst angetreten war. Der Mann hatte im Voraus bezahlt und zweihundert Dollar extra draufgelegt, für Telefon oder die Getränke aus der Minibar. Aber er hatte keine Anrufe getätigt, auch nichts aus der Bar genommen und sich auch nicht seine zweihundert Dollar zurückgeholt. Er hatte sich einfach elektronisch abgemeldet und war verschwunden. Deshalb war der Portier auch nicht im Stande gewesen, ihnen eine ausreichende Personenbeschreibung zu liefern. »Es hat gestürmt«, hatte er Flack erzählt. »Er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und einen Schal um das Kinn ge-
wickelt. Er war groß, das kann ich Ihnen sagen. Sehr groß. Mindestens hundertzehn Kilo, wahrscheinlich noch ein gutes Stück mehr. Der andere Mann war klein. Sehr klein.« »Der andere Mann?«, fragte Flack. »Ja«, sagte der Portier. »Ich denke, die gehörten zusammen. Der andere Mann ist im Hintergrund geblieben, hatte die Hände in den Manteltaschen. Hatte den Kragen hochgeschlagen und einen dieser alten Hüte auf, den er tief ins Gesicht gezogen hatte.« »Aber dieser Wendell Lang, der den Raum gemietet hat, hat nur sich selbst eingetragen? Nur eine Person?«, hakte Flack nach. »Ja, aber das war nicht wichtig. Der Preis für das Zimmer bleibt gleich, egal, ob es einfach oder doppelt belegt ist. Es ist ein Einzelzimmer. Ein Bett. Sie waren ein komisches Paar, einer riesig, der andere klein.« Einer, der nicht viel wog, und einer, der das Gewicht eines kleinen Mannes am Ende einer Stahlkette hätte halten können, überlegte Don. Er war sofort zurück in das Zimmer gegangen und hatte Stella davon berichtet. Sie nickte anerkennend und arbeitete weiter. Stella untersuchte den Fenstersims, auf dem Don Flack die Probe von dem Stahlspan gefunden hatte. Sie verteilte Puder auf der Innenseite des Fensters und auf dem Griff, um nach Fingerabdrücken zu suchen. Dann öffnete sie das Fenster. Sie beugte sich hinaus in die eisige Luft und pinselte auch die Außenseite des Fensters ein. Danach zog sie die Klebebänder mit den Spuren der Fingerabdrücke wieder ab und schloss das Fenster. »Ich werde den Teppich entfernen müssen«, sagte Danny, der noch immer auf dem Boden kniete. Stella drehte sich zu ihm um. Danny, der sich die Hände rieb, blickte auf, als würde er beten.
»Mach das«, sagte sie. Danny nickte, stand auf, ging zu seinem Werkzeugkoffer, der an der Wand neben der Tür stand, zog einen Hammer heraus und machte sich an die Arbeit. Weder er noch Stella rechneten damit, unter dem Teppich etwas zu finden, aber sie suchten nach etwas Besonderem – oder zumindest nach einem Beweis, der verriet, dass das, was sie suchten, nicht existierte. »Ich werde ins Labor zurückfahren, um die Fingerabdrücke zu überprüfen. Außerdem werde ich versuchen, herauszufinden, was genau die Kerbe in der Fensterbank verursacht hat.« Dann wandte sie sich an Flack. »Willst du mitkommen?« Flack lehnte ab und sagte, er wolle zunächst alle Spuren im Hotel weiterverfolgen. Danny nickte Stella zu. In seiner Hand hielt er bereits den Hochleistungssauger, der die Beweisspuren nicht in einem normalen Staubbeutel auffing, sondern in einem sterilen Einwegplastikbeutel. Der Raum war nicht groß. Stella wusste, dass er, wenn er Glück hatte, nicht mehr als eine Stunde brauchen würde, um den Teppich herauszulösen. An einem normalen Tag würde er danach wohl die Zeit haben, nach Hause zu gehen und eine Dusche zu nehmen, aber der Schnee und der schwerfällige Verkehr würden ihn heute mindestens eine weitere Stunde kosten. Als der erste Streifen Teppich abgezogen wurde und eine Sammlung toten Ungeziefers einschließlich einer platt gedrückten schwarzen Kakerlake zum Vorschein kam, sagte Stella: »Ruf mich an, wenn du mehr weißt, egal was.« »Genau«, grunzte er. Aiden und Mac trafen im Whitney’s im Village auf eine höchst aufgewühlte Ann Chen. Sie war nicht schwer auszumachen. Die Asiatin betrat das fast leere Kaffeehaus kurz nach ihnen.
Als sie zur Tür hereinkam, blickte sie sich um und sah die beiden C.S.I.-Ermittler in der Ecke an einem Tisch. Vor beiden stand jeweils ein Becher Kaffee. Mac hielt eine Hand hoch, und Ann Chen antwortete mit einem Nicken. Sie nahm die Wollmütze ab und zog den Mantel aus. Ein großer, weißer Wollsweater mit Rollkragen kam zum Vorschein. Sie legte Mantel und Mütze auf den freien Platz neben Aiden. »Kaffee?«, fragte Mac. »Espresso, doppelt«, erwiderte sie. Ohne seinen Platz zu verlassen, bestellte Mac bei dem jungen Mann, der nicht weit entfernt hinter dem Tresen bediente. Ann Chen war dünn, etwa dreißig, hübsch, aber nicht schön. Außerdem war sie offensichtlich nervös und rutschte immer wieder auf ihrem Stuhl herum. »Normalerweise schlafe ich am Wochenende länger«, sagte sie, »es sei denn, Louisa braucht mich.« »Braucht sie Sie oft am Wochenende?« »Eigentlich nicht«, sagte Ann. »Mr Lutnikov ist wirklich tot?« »Kannten Sie ihn?«, fragte Aiden. Ann zuckte mit den Schultern, als der junge Mann ihr den doppelten Espresso servierte. Mac reichte ihm drei Dollarnoten. »Ich bin ihm manchmal im Haus oder draußen begegnet«, sagte Ann und umfasste den Becher mit ihren schlanken Fingern. »Ist er je vor Ms Cormiers Appartement aufgetaucht?« Ann blickte zu Boden und sagte: »Ich muss Ihnen sagen, dass ich mich mit dieser Sache nicht wohl fühle. Louisa war immer so gut zu mir, dass … ich fühle mich einfach nicht wohl dabei.« »Hat sie Sie heute Morgen angerufen?«, fragte Mac. Ann nickte.
»Sie hat gesagt, ich solle damit rechnen, dass sich die Polizei bei mir meldet. Dann haben Sie angerufen.« »Hat sie Sie gebeten, uns irgendetwas nicht zu erzählen?«, fragte Mac. »Nein«, sagte Ann mit Nachdruck. »Was tun Sie für Louisa?«, erkundigte sich Aiden. »Korrespondenz, ich arrangiere Interviews für Radio und Fernsehen und für die Printmedien. Außerdem plane ich Autogrammstunden und Tourneen«, erklärte Ann. »Und ich kümmere mich um die Bezahlung ihrer Rechnungen und beantworte die E-Mails, die auf der Homepage eingehen.« »Sie arbeiten nicht an ihren Manuskripten?«, hakte Mac nach. »Doch, wenn sie fertig sind. An manchen Tagen komme ich in ihr Appartement und sie sagt so etwas wie ›Das Neue ist fertig.‹ Dann gibt sie mir eine Diskette, und ich lege sie an den Computer, der sich im hinteren Bereich der Wohnung befindet, noch hinter der Küche. Dann fange ich an, den Text zu redigieren. Normalerweise sind die Manuskripte aber ziemlich gut, also gibt es nicht viel zu tun. Trotzdem ist es aufregend, die erste Person zu sein, die einen neuen Krimi von Louisa Cormier zu lesen bekommt.« »Und dann?«, fragte Aiden. »Dann sage ich Louisa, dass ich fertig bin und dass mir das Buch sehr gefällt, weil das immer so ist.« »Und wie reagiert sie?«, fragte Mac. »Meistens lächelt sie und sagt: ›Danke, meine Liebe‹, oder so was in der Art und nimmt die Diskette wieder an sich«. Nach kurzem Zögern fügt sie hinzu: »Ich habe in Bennington Englisch im Hauptfach studiert.« Ann Chen nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Und ich habe selbst zwei Romane verfasst. Ich habe die letzten drei Jahre damit verbracht, mir zu überlegen, ob ich Louisa bitten
soll, sie zu lesen. Womöglich gefallen sie ihr nicht. Oder sie könnte denken, ich hätte den Job bei ihr nur angenommen, um meiner eigenen Karriere als Schriftstellerin auf die Sprünge zu helfen. Ich habe ein paarmal versucht, ihr einen Hinweis zu geben, dass ich selbst auch gern schreiben würde, aber sie ist nicht darauf eingegangen.« »Wie groß sind Sie?«, fragte Aiden. Ann sah verwundert aus. »Wie groß? Etwa ein Meter achtundfünfzig.« »Hat Ms Cormier eine Waffe?«, wollte Mac wissen. »Ja, ich habe eine in ihrer Schreibtischschublade gesehen«, sagte Ann. »Das Einzige, was mir an der Arbeit für Louisa wirklich zu schaffen macht, sind die vielen Verrückten, die hier herumlaufen. Sie glauben gar nicht, was die Fans ihr schreiben. Sie schicken E-Mails oder Geschenke mit Grußkarten und erzählen ihr, sie würden sie lieben, und wollen, dass sie Knoblauch an den Fenstern anbringt, um außerirdische Eindringlinge zu vertreiben, und so was in der Art. Das mit dem Knoblauch und den Außerirdischen hat wirklich jemand geschrieben. Das habe ich mir nicht ausgedacht.« »Können Sie uns sonst noch etwas über Louisa erzählen?«, fragte Aiden. »Zum Beispiel?« »Irgendetwas.« »Sie geht jeden Morgen spazieren, bei Wind und Wetter«, sagte Ann und überlegte. »Wenn sie an einem Buch arbeitet, schließt sie sich manchmal in der letzten Arbeitswoche ein und kommt gar nicht mehr raus.« »Sie kümmern sich um ihr Bankkonto?« »Die Konten, richtig.« »Hat sie je größere Summen in bar abgehoben?«, fragte Aiden. »Ja, wenn sie ein Buch beendet hat, hebt sie fünfzigtausend Dollar von ihrem persönlichen Konto ab. In bar.«
»Was macht sie dann damit?« »Sie spendet es den Wohltätigkeitsorganisationen, die ihr am Herzen liegen«, sagte Ann Chen lächelnd. »Steckt es in Briefumschläge und geht persönlich hin, um es unter der Tür durchzuschieben. Bei der NAACP, der Heilsarmee, dem Roten Kreuz.« »Haben Sie beobachtet, dass sie so etwas tut?«, fragte Aiden. »Nein. Nie. Sie hat das immer allein getan. Anonym.« »Kümmern Sie sich um ihre Steuern?« »Ja und nein«, antwortete Ann. »Mein Bruder hat einen Hochschulabschluss in Betriebswirtschaft von der NYU. Er unterstützt mich dabei.« »Und«, hakte Aiden nach, »gibt sie ihre Spenden in der Steuererklärung an?« »Nein«, sagte Ann. »Ich habe sie gedrängt, es zu tun. Mein Bruder hat gesagt, es sei idiotisch, das nicht zu tun, aber Louisa weigert sich, ihre Spenden dafür zu benutzen, ihre Steuerlast zu senken. Ich sage Ihnen, sie ist ein guter Mensch, aber ich glaube, Sie denken, sie könnte Mr Lutnikov ermordet haben.« »Hat sie?«, fragte Mac. »Nein«, entrüstete sich Ann. »Sie kommt dafür nicht mehr infrage als ich selbst.« »Also schön«, sagte Aiden. »Haben Sie Charles Lutnikov getötet?« »Was? Nein, warum sollte ich? Das ist wirklich alles, was ich Ihnen sagen kann. Es gefällt mir nicht, mich Louisa gegenüber wie eine Verräterin zu fühlen.« Ann Chen erhob sich. »Danke für den Kaffee«, verabschiedete sie sich, als sie in ihren Mantel schlüpfte. Kaum war sie fort, sagte Aiden: »Ich spreche mit der NAACP und den Niederlassungen der Heilsarmee in der Um-
gebung von Louisa Cormiers Wohnung und erkundige mich, ob irgendjemand Umschläge mit Bargeld unter ihren Türen durchschiebt, wenn ein neues Buch von Ms Cormier erscheint.« »Noch einen Kaffee?«, fragte Mac. »Entkoffeiniert, halb Sahne, halb Milch, kein Zucker«, bat sie. Mac bestellte Kaffee für sie und für sich selbst und zog einen Kunststoffbeutel aus seinem Koffer, der unter dem Tisch stand. Während er seine Latexhandschuhe überstreifte, sah der junge Mann hinter dem Tresen ihm staunend zu. Mac deponierte Anns benutzte Tasse in dem Beutel, versiegelte ihn und verstaute ihn in seinem Koffer. »Sie sind von der Polizei, richtig?«, fragte der junge Mann, als er ihren Kaffee brachte. »Ja.« »Cool«, antwortete Kellner. »Wie viel kostet die Tasse?«, fragte Mac. »Nichts, es merkt so oder so keiner, wenn die weg ist. Und falls doch, sage ich, ein Gast hätte sie zerbrochen.« Der junge Mann sah Aiden an. »Sind Sie auch bei der Polizei?« »Bin ich«, bestätigte sie. »Man weiß nie, wen man vor sich hat, was?«, sagte er und verzog sich hinter seinen Tresen, als ein junges Paar lachend zur Tür hereinkam. Etwas mehr als eine Stunde später saß Danny neben Flack auf dem Beifahrersitz und rückte seine Brille zurecht, während er Stella anrief. »Der Hotelmanager will wissen, wer den Teppich bezahlt«, antwortete er. »Sag ihm, er soll die Rechnung an die Stadt schicken«, entgegnete sie. »Das habe ich getan.«
Der Wagen hielt vor einer roten Ampel an, bog nach rechts ab und blieb wenige Zentimeter von einem kleinen, weißen Lieferwagen entfernt stehen. Der Fahrer sah Danny an. Er schnappte nach Luft, weil er einen Zusammenstoß erwartet hatte, und nachdem das nicht passiert war, wurde er wütend. Sogar durch das mit Eisblumen überzogene Fenster konnte Danny den Mann in einer Sprache brüllen hören, die definitiv skandinavisch klang. Don Flack zog gemächlich seine Brieftasche aus der Jackentasche, griff an Danny vorbei und hielt seine Marke an das Fenster. Er konnte sich den Anflug eines Lächelns nicht verkneifen. Der Skandinavier, der eine Rasur hätte vertragen können, sah die Marke und wedelte mit der Hand, um deutlich zu machen, dass es ihm egal war, ob Flack ein Polizist, der Bürgermeister, der Papst oder Robert DeNiro war. »An dieser Ecke gibt es eine Videokamera«, sagte Flack und steckte die Brieftasche wieder ein. »Ich schätze, jemand sollte den Wikinger beruhigen, bevor es mit ihm durchgeht und jemand verletzt wird.« Danny nickte. »Danny?«, fragte Stella nervös, aber geduldig. »Am Boden war nichts«, berichtete Danny. »Keine Löcher, die größer waren als die, die ich verursacht habe, als ich die Nägel herauszog.« Das hatte Stella erwartet. Danny drückte auf eine Taste, um ihre Stimme auf die Freisprechanlage umzuleiten, sodass Flack ihr Gespräch mithören konnte. Dieser hatte in der Zwischenzeit die Videoüberwachung über den rotgesichtigen Wikinger informiert, der, kaum dass die Ampel umgeschaltet hatte, aufs Gas getreten war. Flacks Wagen hatte er dabei nur um Haaresbreite verfehlt und fuhr nun im Zickzack vor ihnen her. »Die Fingerabdruckanalyse hat uns einen Treffer geliefert«, hörten sie Stella sagen. »Steven Guista alias Big Stevie, frühere
Festnahmen wegen diverser Delikte von Einschüchterung über tätlichen Angriff bis hin zu Mord. Zwei Verurteilungen, für die er im Gefängnis gesessen hatte. Eine wegen Meineids, eine wegen Erpressung. Offiziell arbeitet er als LKW-Fahrer für Marco’s Bakery, deren Eigentümer …« „… Darius Marco heißt«, beendete Danny den Satz. »Der Bruder von Anthony Marco, gegen den Alberta Spanio morgen hätte aussagen sollen«, fügte sie hinzu. »Weiß Mac Bescheid?«, fragte Flack, während er langsam weiterfuhr und zusah, wie sich der Wikinger in dem Transporter rutschend der nächsten Ampel näherte. »Ich will ihn jetzt anrufen.« »Und was soll ich tun?«, wollte Danny wissen. »Komm zurück und werde zu einem Kettenspezialisten.« »Peitschen auch?«, fragte er spontan. Sie legte auf. Big Stevie saß in Toolie Prines Bar an der 9. Avenue und gurgelte mit einem kalten Sam Adams. Den weißen Buchstaben am Fenster zufolge hieß die Bar Terry Malloy’s, benannt nach der Rolle, die Marlon Brando in Stevies Lieblingsfilm gespielt hatte. Offiziell gehörte die Bar Toolies Schwester, Patricia Rhondov, weil Toolie als ehemaliger Strafgefangener keine Lizenz bekam. Offiziell war Toolie Barkeeper. Offiziell musste er sich einmal in der Woche im Büro seines Bewährungshelfers melden. Jeder, der das wusste, aber auch die, die es nicht wussten, nannten den Laden trotzdem Toolie Prines Bar. Big Stevies Hinterteil ragte deutlich über den Barhocker hinaus. Stevie war stark, das hatte er in den Genen. Er hatte nie trainiert. Sein alter Herr war schon stark gewesen, hatte auf den Docks gearbeitet. Stevie hätte Schauermann werden können wie sein Vater. Dann wäre er jetzt Stevie, der Schauermann, nicht einfach nur Big Stevie.
Außer Steve waren keine Gäste in Toolies Bar, doch er saß gern allein im Dunkeln und beobachtete durch das Fenster die Wagen und die Leute, die sich auf der Straße durch den Schnee quälten. Stevie war zufrieden mit sich. Er hatte den Job erledigt, der ihm aufgetragen worden war. Es war leicht gewesen – bis auf die Stelle, an der er beinahe aus dem Fenster gefallen wäre –, und er hatte zehn Porträts von Benjamin Franklin in seiner Brieftasche, ohne dass er vorher jemandem das Gesicht lädiert oder das Knie gebrochen hatte. Aber er hatte sich vier Stunden lang das Gejammer des Jockeys anhören müssen. Jake, der Jockey, war kein schlechter Kerl, aber er war ein Jammerlappen. Er jammerte über den Film im Fernsehen und über die Größe des Apparats. Er jammerte über die Hitze im Raum. Er jammerte über das Gyros, das sie gegessen hatten und das, nach Stevies Empfinden, sogar besonders gut gewesen war. Stevie hatte zwei Portionen verdrückt. Der Job war gut gelaufen, und darum hatte Mr Marco ihm heute freigegeben und morgen – Montag, Stevies Geburtstag – auch. Er sollte irgendetwas tun, um das zu feiern, statt einfach nur in Toolies Bar rumzusitzen und eimerweise Sam Adams in sich hineinzuschütten. Aber er wusste einfach nicht, was ihm Spaß machen könnte, abgesehen davon, Sandrine anzurufen und ihr zu sagen, sie solle ihm ein Mädchen in sein Zweizimmerappartement schicken, vorzugsweise Maxine. Er mochte zierliche Mädchen. Vielleicht später, falls er bis dahin nicht zu viel getrunken hatte. Das Telefon klingelte, und Toolie hob ab. »Ja.« Dann reichte Toolie das Telefon an Big Stevie weiter, der ebenfalls »Ja« sagte. Stevie lauschte aufmerksam. »Verstanden«, sagte er dann und gab Toolie das Telefon zurück.
Big Stevie hatte einen neuen Auftrag zu erledigen. Er fragte sich, ob er für diese Art der Arbeit nicht allmählich ein bisschen zu alt wurde. Morgen würde Big Stevie Guista einundsiebzig Jahre alt werden. Aiden Burn hatte in den Büros der NAACP und der Heilsarmee angerufen. Bei NAACP hatte sie niemanden erreicht, aber es gab eine Notfallnummer. Sie rief die Notfallnummer an und geriet an eine Frau namens Rhoda James, die sagte, sie hätte in dem Büro gearbeitet, würde sich aber nicht an Spenden erinnern, die irgendwann in den letzten vier Jahren anonym unter der Tür hindurchgeschoben wurden. Bei der Heilsarmee wurde ihr Anruf sofort entgegengenommen. Ein Captain Allen Nichols sagte ihr, er erinnere sich vor allem an eine Spende vor etlichen Jahren, es war ein Umschlag mit einer Einhundertdollarnote gewesen, und man hatte ihn im Briefkasten entdeckt. Wie stets kurz vor Weihnachten landeten alle Spenden, ob es nun ein paar Cent oder mehrere Tausend Dollar waren, in einem großen Topf. Und sie waren alle anonym. Aiden hatte Mac die Information zukommen lassen, ehe sie zu Charles Lutnikovs Appartement zurückgekehrt war. Dort fotografierte sie zunächst sämtliche Frontansichten von Lutnikovs Bücherregalen. Sie stand nah genug davor, um später Fotoabzüge im Format zwanzig auf fünfundzwanzig anfertigen zu können, worauf sie alles würde lesen können. Im Schlafzimmer blieb sie vor einem Regal stehen, in dem in zwei Fächern völlig unberührte Bände standen. Es waren ausschließlich Louisa Cormiers Bücher. Aiden legte die Kamera weg und nahm eines mit dem Titel Ah, Mord in die Hand. Sie schlug es auf und sah sich das Titelblatt an. Louisa Cormier hatte es nicht signiert. Sie überprüfte sämtliche Bü-
cher der Autorin und stellte sie wieder zurück, als sie fertig war. Ihr Eindruck, das keines davon gelesen worden war, wurde bestätigt. Als sie in den Seiten von Ah, Mord blätterte, klebten zwei Seiten an den Rändern noch zusammen. Weder Lutnikov oder sonst jemand hätte dieses Buch lesen können. Aiden nahm ihr Notizbuch zur Hand und schrieb ihre Entdeckung auf. Eigentlich brauchte sie eine derartige Gedankenstütze gar nicht, aber es konnte auch nicht schaden, und es entsprach außerdem den Dienstvorschriften. Die Untersuchung von ein paar Dutzend anderer Bücher, die sie willkürlich aus den vielen Hundert herausgriff, ergab, dass diese wirklich gelesen worden waren. Hier waren die Einbände abgenutzt, die Rücken eingerissen oder aufgelöst, Seiten durch Kaffeeflecken verfärbt oder mit Toast- oder Doughnutkrümeln übersät. Nach den Bücherregalen widmete sich Aiden der Schreibmaschine. Sie hob den grauen Metalldeckel hoch und beugte sich vor, um das schwarze Farbband in Augenschein zu nehmen. Etwa ein Drittel des Bands befand sich auf der rechten Spule, und zwei Drittel waren auf der linken. Das Band auf der rechten Spule war das, was sie interessierte. Vorsichtig löste sie die Metallklammern, die die Spulen fixierten, und hob sie heraus. Sie tütete das Farbband der Schreibmaschine ein, schloss ihren Ausrüstungskoffer, sah sich ein letztes Mal im Raum um und öffnete dann die Tür. Als sie sich unter dem Tatortabsperrband hinwegduckte, warf sie einen prüfenden Blick zurück – dann zog sie die Tür hinter sich ins Schloss. Mac saß im Labor, vor ihm lagen mehrere Stapel Dias und Abzüge von Fingerabdrücken, die aus dem Fahrstuhl gesichert worden waren. Für Mac hatten Fingerabdrücke eine große Bedeutung, und waren mehr wert als DNS-Proben oder ein Geständnis. Er hatte
sie studiert, hatte Notizen über die Entwicklungsgeschichte dieser Wissenschaft gesammelt und zu Hause in einem Aktenschrank archiviert. Es waren Notizen, die er eigentlich zu einem Buch hatte verarbeiten wollen, doch von diesem Plan war er an jenem Tag abgerückt, an dem seine Frau gestorben war. Fingerabdrücke konnten schlicht und einfach nicht lügen. Geschickte Kriminelle mochten versuchen, mit den Abdrücken zu tricksen, aber Tatsache war: Es gab keine zwei identischen Fingerabdrücke auf der Welt. Ein persischer Arzt hatte das bereits im 14. Jahrhundert herausgefunden, und wirklich niemand hatte jemals zwei identische Fingerabdrücke gefunden. Selbst eineiige Zwillinge, die sich sonst so verblüffend ähnlich sahen, hatten unterschiedliche Fingerabdrücke. Mac hatte einmal eine Predigt von einem Polizeikaplan gehört, der angedeutet hatte, dass Gott diese mikroskopische Wahrheit geschaffen hatte, um die Größe seiner Schöpfung zu demonstrieren. Über solche Spekulationen machte sich Mac keine Gedanken. Für ihn war nur wichtig, dass diese Tatsache existierte. Im Jahr 1882 wurden in den Vereinigten Staaten von Gilbert Thompson, einem Vermessungsbeamten in New Mexico, erstmals Fingerabdrücke benutzt, um die eigene Identität zu legitimieren. Er setzte seinen Fingerabdruck unter ein Dokument, um Fälschungen vorzubeugen. Und schon zu Mark Twains Zeiten auf dem Mississippi im Jahr 1883, wurde ein Mörder anhand seiner Fingerabdrücke überführt. Doch die erste aktenkundige Identifikation eines Verbrechers im Jahr 1892 geht auf Juan Vucetich zurück, einen argentinischen Polizeibeamten. Er identifizierte eine Frau namens Rojas, die ihre beiden Söhne ermordet und sich selbst einen Schnitt in die Kehle beigebracht hatte, um den Verdacht auf einen unbekannten Dritten zu lenken. Vucetich fand einen blutigen Fingerabdruck von Rojas an einer Tür und entdeckte, dass
der Abdruck dort hinterlassen worden war, noch bevor sie sich selbst verletzt hatte. 1897 wurde in Kalkutta in Indien, als das Land unter britischer Regentschaft stand, das erste Fingerabdrucklabor eingerichtet. Es arbeitete mit der Klassifikation, die von zwei indischen Experten entwickelt wurde und bis heute benutzt wird. 1905, acht Jahre später, benutzte die Armee der Vereinigten Staaten Fingerabdrücke, um ihre Soldaten zu identifizieren. Navy und Marine Corps schlossen sich bald darauf an. Heute setzt das FBI ein Computerprogramm ein, das mehr als sechsundvierzig Millionen Fingerabdrücke von bekannten Verbrechern verwaltet. Es heißt AFIS: AutomatischesFingerabdruck-Identifikations-System. Jeder Staat hat seine eigene Fingerabdruckdatei, und New York bildet da keine Ausnahme. Nach drei Stunden stellte Mac abschließend fest, dass die Fingerabdrücke von Ann Chen, Charles Lutnikov und Louisa Cormier neben denen vieler anderer Personen überall in dem Fahrstuhl verteilt waren, in dem Lutnikov getötet worden war. Mac fragte sich, wann der Fahrstuhl das letzte Mal sorgfältig gereinigt worden war. Er bezweifelte stark, dass das in jüngster Zeit stattgefunden hatte. Er betrachtete die Fingerabdrücke von Lutnikov und den beiden Frauen. Vielleicht erwies sich der Fahrstuhl als Sackgasse, aber da war immer noch eine Mordwaffe, die darauf wartete, gefunden zu werden. Vielleicht hatten sie noch nicht an allen Stellen nachgesehen. Mac setzte sich mit schmerzendem Rücken auf. Er versuchte, sich vorzustellen, wie die Rojas damals ihre Kinder ermordet und sich selbst in die Kehle geschnitten hatte. Doch dafür reichte seine Fantasie nicht aus. Aber wie Juan Vucetich die Fingerabdrücke gefunden hatte, sah er klar vor sich. Das war ein Moment der forensischen Geschichte, den Mac zu gern miterlebt hätte.
»Kein Problem«, sagte der Mann, der am Tresen im Woo Ching’s an der Second Avenue an seinem Kaffee nippte. Seine Frühlingsrolle, von der er nur zweimal abgebissen hatte, lag vor ihm. Er war nicht hungrig. Rechts von ihm saß eine Frau, nicht alt, nicht jung, einst schön, jetzt immer noch gut aussehend mit kurzem, platinblondem Haar. Sie war schlank, sehr gepflegt und trug eine pelzgefütterte Lederjacke und eine Pelzmütze. Sie hatte ein paarmal an dem grünen Tee genippt, den sie bestellt hatte. Es war elf Uhr morgens an einem Sonntag, zu kalt für Laufkundschaft, abgesehen von den wenigen, die bei einem Kaffee oder einem Tee, einer Wan-Tan-Suppe oder einem Teller Ei »Foo-Yung« Zuflucht vor dem Wetter suchten. Folglich waren die einzigen anderen Gäste drei Frauen, die in einer Nische am Fenster saßen. Der Mann hatte nicht gewusst, wer ihn treffen und mit ihm reden wollte, er hatte nur gewusst, dass er ins Woo Ching’s gehen und dort etwas essen sollte. Als sie schließlich eingetreten war, hatte er sie erkannt. »Details«, sagte sie, wärmte ihre Hände an der Tasse und ignorierte die kleine Schale mit gebratenen Nudeln, die vor ihr stand. Lächelnd schüttelte er den Kopf, doch in dem Lächeln lag keine Spur von Fröhlichkeit. »Was ist denn so lustig?«, fragte sie. Sie hatten einander nicht direkt angesehen, und sie würden es auch während ihrer weiteren Konversation nicht tun. Sie war fünf Minuten, nachdem er bestellt hatte, eingetroffen, hatte ihm gegenüber Platz genommen und ihren Tee bestellt. »Schnee«, sagte der Mann. »Was ist an Schnee lustig?«, fragte sie und warf einen Blick zur Uhr. Er erklärte ihr, wie der Schnee ein Problem hervorgerufen hatte, mit dem sie nicht gerechnet hatten.
»Aber es geht in Ordnung?«, fragte sie. »Es wird in Ordnung gehen«, sagte er, streckte die Hand nach seinem gebratenen Reis mit Schweinefleisch aus, dann überlegte er es sich noch einmal und widmete sich wieder der Frühlingsrolle. »Das restliche Geld.« »Hier«, sagte sie, zog einen dicken Umschlag aus der Handtasche und schob ihn über den Tresen in seine Richtung. Er war ein Profi, und er hatte alles aufs Spiel gesetzt – sein Leben und die Sicherheit seiner Familie. Sie erhob sich, zog ein paar Dollar aus der Jackentasche und suchte einen Fünfdollarschein heraus. Dann legte sie ihn neben ihre Teetasse und ging zur Tür. Der Mann sah ihr nicht nach. Er wartete, bis er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, ehe er sich hastig umsah und dabei so tat, als würde er die Frauen in der Nische und den Verkehr vor dem Fenster mustern. Zufrieden stellte er fest, dass er nicht beobachtet wurde, und plötzlich fühlte er sich hungrig. Schnell schlang er den Rest seiner Frühlingsrolle mit großen Bissen hinunter. Er genoss den Geschmack, obwohl die Frühlingsrolle inzwischen schon ein wenig aufgeweicht war. Auf der anderen Straße musste der Mann in dem Wagen mit den getönten Fensterscheiben eine Entscheidung treffen. Entweder folgte er der Frau, oder er blieb bei dem Mann, der in dem chinesischen Restaurant am Tresen saß. Er entschied sich für die Frau. Er wusste, wo er den Mann später wiederfinden würde. Er nahm an, dass die Frau zur U-Bahn-Station an der 86. Straße wollte, und er behielt Recht. Außerdem war er überzeugt, dass der Mann, den sie im Woo Ching’s getroffen und dem sie etwas übergeben hatte, auch mit dem Mord an diesem Morgen zu tun hatte. Und er hatte die Absicht herauszufinden, wie es zusammenhing, ehe die Leute anfingen, mit Anschuldigungen um sich zu werfen, von denen einige auch ihn treffen würden.
Er knöpfte seine Jacke zu, legte seine Ohrenschützer an und folgte der Frau die Straße hinunter. Stella stand an einem Tisch und blickte hinab auf die neun Meter lange Kette. Sie hatte sie direkt neben dem Fensterbrett ausgebreitet, das aus dem Hotelzimmer stammte, in dem Alberta Spanio ermordet worden war. Mac, die Arme vor der Brust verschränkt, musterte die Kette ebenfalls. Danny stand direkt neben ihm. »Könnte das ein Kabel gewesen sein?«, fragte Mac, deutete auf die Kerbe im Holz und griff nach einer Lupe. »Sieh es dir genau an«, empfahl Stella. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Mac untersuchte die Kerbe sorgfältig und nickte. »Ein Kabel hätte eine glattere Kerbe hinterlassen, sauberer, ebenmäßiger«, sagte sie. »Die Kerbe misst eineinviertel Zentimeter in der Breite. Die Ketten sind eineinviertel Zentimeter dick.« Mac richtete sich auf und blickte sie an. »Falls der Mörder an einer eineinviertel Zentimeter dicken Kette zu dem Badezimmer runtergeklettert ist, muss er oder sie sehr leicht gewesen sein«, fuhr Stella fort. »Oder sehr mutig«, wandte Danny ein. »Oder dumm oder verzweifelt.« Stella überlegte. »Er oder sie hätte sich durch das Fenster des Badezimmers schwingen müssen, ohne dabei den Schnee zu berühren. Bedenkt man dann noch die Größe des Fensters, dann hätte diesen Job nur ein Supermodel übernehmen können.« »Oder ein Kind«, sagte Mac. Stella zuckte mit den Schultern und dachte nach, wie klein der Mann sein mochte, der bei Stevie Guista gewesen war, als dieser das Zimmer im Brevard gemietet hatte. »Es bleibt eine wichtige Frage offen«, sagte sie. »Wer war in dem Raum und hat die Kette gehalten?«
»Sie war nicht am Boden festgeschraubt oder um irgendein Möbelstück geschlungen worden?«, fragte Mac und griff nach einem Kettenglied. »Nein. Danny hat den Teppich entfernt. Keine Löcher. Keine Kettenspuren und keine einschlägigen Kratzer in den Möbelstücken«, sagte Stella. »Also hat, wer immer in dem Raum war, die Kette gehalten«, sagte Mac. »Oder sich selbst um den Leib gewickelt«, fügte Stella hinzu. »Die Person muss sehr stark gewesen sein, wenn sie jemanden halten kann, der an der Kette herunterklettert und Schwung holt, um in ein Fenster einzusteigen«, wandte Mac ein. »Ich habe die stärksten Ketten untersucht, die zu den Spuren auf der Fensterbank passen würden«, sagte Stella. »Selbst eine gerade vierzig Kilo schwere Person am Ende der Kette würde vermutlich reichen, damit sie reißt, besonders, wenn die Person damit hin und her schaukelt.« »Klingt nach einer echten Zirkusnummer«, sagte Mac. »Meinst du?« »Nein«, sagte er. »Such in der Datenbank nach Größe und Gewicht.« »Können wir das?«, fragte Danny. »Wir können.« »Kannst du dir vorstellen, dass ein Mann oder ein Junge dumm genug ist, sich während eines Schneesturms aus einem Fenster im siebten Stock an einer Kette herunterzulassen?«, fragte Danny. »Er muss furchtbar dämlich oder furchtbar mutig sein.« »Und eine Menge Vertrauen zu demjenigen haben, der die Kette gehalten hat«, fügte Mac hinzu. »Und was dieses Loch im Holz an der Unterseite des Badezimmerfensters von Alberta Spanios Appartement betrifft«, sagte Stella. »Das ist nicht von einer Kette. Es stammt von einer großen Schraube.«
»Also«, sagte Mac. »Was haben wir bisher sicher?« »Einen Fingerabdruck von Steven Guista«, sagte Stella. »Auch bekannt als Big Stevie.« »Hast du die Adresse?« »Ja, aber er könnte unterwegs sein und feiern.« Stella reichte Mac ein Telefax, auf dem Big Stevies Foto nebst seiner Akte aufgeführt war. »Heute ist sein Geburtstag.« »Ich frage mich, was er letzte Nacht gefeiert hat«, sagte Mac. »Gehen wir los und bringen ihm ein Geschenk.« Es fühlte sich falsch an. Schal. Detective Don Flack spürte es. Kein Beweis. Nur ein Bauchgefühl. Er hatte die Tür zu dem Schlafzimmer überprüft, in dem Alberta Spanio ermordet worden war. Er hatte ein Zimmermädchen gebeten, in das Zimmer zu gehen und zu schreien, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Das Zimmermädchen Rosa Martinez war eine Mexikanerin, legal in den Staaten. Sie wollte nicht in das Zimmer gehen, in dem die Frau wenige Stunden zuvor gestorben war. »Sie schließen die Tür nicht ab?«, fragte sie. Als sie die Frage stellte, kannte sie die Antwort bereits. Die Tür konnte nur von innen abgeschlossen werden. Rosa ging hinein, schloss die Tür und schrie. Dann öffnete sie die Tür wieder. »Gehen Sie zum Bett, stellen Sie sich neben das Bett, und schreien Sie noch einmal«, bat Flack. Sie wollte ganz bestimmt nicht zu dem Bett gehen, in dem die Frau gestorben war, aber sie tat es, und Flack schloss die Tür. Sie schrie erneut und beeilte sich dann sehr, die Tür wieder zu öffnen und das Zimmer zu verlassen. »Okay?«, fragte sie. »Nur noch eines«, sagte Flack. »Gehen Sie in das Badezimmer, öffnen und schließen Sie das Fenster und schreien Sie noch einmal.«
»Dann kann ich gehen?« »Dann können Sie gehen«, versprach er. Rosa kehrte in das Schlafzimmer zurück, schloss die Tür, ging ins Badezimmer und öffnete das Fenster. Dann schrie sie einmal, schloss das Fenster und hastete durch das Hotelzimmer hinaus in den Raum, in dem der Detective wartete. »Okay«, sagte er. »Danke.« Rosa verschwand eilends. Als sie das erste Mal geschrien hatte, hatte Flack sie gehört, aber nur leise. Der zweite Schrei neben dem Bett war noch leiser gewesen, aber der Schrei im Badezimmer und das Öffnen oder Schließen des Fenster, konnte er gar nicht hören. Er zog sein Mobiltelefon hervor und rief Stella an. Es gab Neuigkeiten zu berichten.
7
Aiden Burn betrat das Labor etwa fünf Minuten, nachdem Mac und Stella gegangen waren. Sie hatte das Labor für sich allein. Der Kühlschrank in der Ecke summte, und durch die geschlossene Glastür sah sie einen verlassenen Korridor. Sie setzte ihren Koffer ab, nahm vorsichtig die Dinge heraus, die sie brauchte, platzierte sie in der Nähe des Mikroskops und machte sich auf die Suche nach einer Tasse Kaffee. Von Adelson im Schusswaffenlabor hätte sie einen ordentlichen Kaffee bekommen können, aber dafür hätte sie sich auch mindestens fünf Minuten lang lahme Witze anhören müssen. Dafür war sie nicht in der Stimmung. Sie entschied sich für den Automaten. Mit einer Menge Sahne und einem der Päckchen Stevia, die sie in ihrer Tasche hatte, war er erträglich. Sie trug den Kaffee zurück ins Labor und stellte ihn auf einen Platz, der ein gutes Stück entfernt von dem Tisch war, an dem sie arbeiten wollte. Keine Flecken. Sie würde sich eben bewegen müssen, wenn sie trinken wollte. Zuerst wollte sie sich das Farbband aus Lutnikovs Schreibmaschine ansehen. Dazu würde sie es auf einen Lichtkasten legen, der in den Labortisch eingelassen war. Sie trank etwas Kaffee. Er war immer noch heiß, aber nicht zu sehr. Vorsichtig wickelte sie das Band ab. Sie brauchte knapp fünf Minuten, um zum Anfang zu kommen. Dann legte sie es flach auf den Lichtkasten, und die Buchstaben erstrahlten
durch das schwarze Band hindurch in einem hellen Weiß. Jetzt konnte sie mit dem Lesen beginnen. … die dritte Tür, die letzte, die einzige auf der linken Seite. Er, es, musste hinter dieser Tür sein. Peggy hatte zwei Möglichkeiten. Weglaufen oder, mit dem Schürhaken in der Hand, die letzte Tür öffnen. Es war beinahe dunkel, aber noch nicht vollkommen finster. Etwas Licht drang durch das Flurfenster des kleinen Hauses. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Licht in dem kleinen Raum war. Aber sie hatte eine Ahnung, was sie dort finden würde – einen Mörder, die Person, die auf grausame Weise drei junge Frauen und einen schwulen Transvestiten zerstückelt hatte. Der Mörder würde sein Arbeitswerkzeug in der Hand halten, ein sehr scharfes Messer oder ein Skalpell. Der Mörder konnte hinter der Tür warten, bereit, sie anzugreifen. Peggy wusste, sie würde den Schürhaken benutzen. Alles, was sie tun musste, war, sich an die Bilder der Opfer zu erinnern, die man ihr gezeigt hatte, besonders an das ihrer eigenen Nichte Jennifer. Den Schürhaken in der rechten Hand, griff Peggy nach dem Türknauf. Sie konnte immer noch kehrtmachen und flüchten, aber wenn sie das tat, würde der Mörder, den man den Schnitzer nannte, davonkommen und wieder zuschlagen. Sie musste sich keine Mühe geben, leise zu sein. Er wusste, dass sie im Haus war. Gewiss hatte er ihre Schritte auf dem Holzboden gehört. Peggy drehte den Knauf herum und stieß die Tür auf. Eine Hand schoss hervor und packte ihr Handgelenk, als sie ausholte. »Er ist tot, Peggy«, sagte Ted und ließ ihren Arm los. Sein Gesicht blutete aus einer Schnittwunde über dem rechten Auge. Sie ließ den Schürhaken auf den Boden fallen und sank in seine Arme.
Aiden blickte auf, trank etwas von dem Kaffee, der inzwischen lauwarm geworden war, und griff zu ihrem Telefon. Es blieb noch eine Menge Farbband übrig, aber sie musste Mac anrufen. Nach dem zweiten Klingeln hob er ab. »Ja«, sagte er. Sie erzählte ihm, was sie gefunden hatte, und er sagte: »Lass es abschreiben und in einer Datei erfassen. Sobald du es zurückbekommst, leg mir Band und Datei auf den Schreibtisch. Ich hole sie später ab.« »Ich kümmere mich darum«, antwortete sie, dann legte sie auf. Stella und Mac trafen kurz vor drei Uhr vor Steven Guistas Appartement ein. Sie hatten sich in einem Eckladen ein paar Sandwichs gekauft und diese im Wagen auf dem Weg nach Brooklyn gegessen. Mac hatte Hühnchen mit Salat, Stella Eiersalat. »Haben wir nicht gestern schon das gleiche Zeug zum Mittagessen gegessen?«, fragte sie. Mac saß am Steuer. »Ja, warum?«, fragte er. »Abwechslung ist die Würze des Lebens«, erklärte sie, während sie einen kleinen Bissen von ihrem Sandwich nahm. »Wir haben genug Abwechslung«, gab er zurück. Macs Frau hatte, wie er sich erinnerte, Hühnchen mit Salat gemocht, und das war vermutlich auch der Grund dafür, dass er es nun aß. Der Geschmack, der Geruch, all das erinnerte ihn an sie. Es war ein bisschen, als kitzelte er damit seinen Geschmacksnerv, um sich zu erinnern, obwohl es ihm keine große Freude machte. Er hatte seit Wochen nicht anständig gegessen. Heute hatte er vorgehabt, sich am Abend ein paar koschere Hotdogs und eine Diätcola zu holen. Der Termin rückte schnell näher. Nur noch ein paar Tage. Und je näher er kam, desto
stärker fühlte Mac es tief in seinem Inneren. Der Himmel war dunkel, und er ahnte weiteren Schneefall. Er würde sich den Weather Channel ansehen, wenn er nach Hause käme. Kurz überlegte er, ob er Arthur Greenberg anrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Mac klopfte an die Tür von Appartement 4G in dem dreistöckigen Vorkriegsziegelbau. Im Korridor war es dunkel, aber einigermaßen sauber. Er erhielt keine Antwort. »Steven Guista«, rief Mac. »Polizei! Öffnen Sie die Tür!« Nichts. Mac klopfte noch einmal. Die Tür auf der anderen Seite des Korridors wurde geöffnet. Eine schlanke Frau in den Fünfzigern stand auf der Schwelle. Ihr Haar war dunkel und kraus. Sie trug eine Kellnerinnenuniform und hatte sich einen Mantel über den Arm geworfen. Neben ihr stand ein Mädchen, ganz die Tochter ihrer Mutter und genauso ernst. Sie konnte nicht älter als elf sein. »Er ist nicht zu Hause«, sagte die Frau. Mac zeigte ihr seine Marke und fragte: »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« »Gestern, irgendwann am Vormittag.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Er war die ganze Nacht nicht zu Hause«, sagte das Mädchen. Die Frau sah ihre Tochter an, und ihr Blick machte deutlich, dass sie der Polizei so wenig Informationen wie möglich zukommen lassen wollte. Aber das Mädchen schien nichts davon zu merken. »Er hat um zehn nach mir gesehen«, sagte das Mädchen. »Aber letzte Nacht und heute Morgen nicht.« »Ich arbeite in der Spätschicht, manchmal auch in der Nachtschicht«, erklärte die Frau. »Steve ist so lieb, dann nach Lilly zu sehen.«
»Manchmal gucken wir zusammen fern«, erklärte Lilly. »Manchmal.« »Hat er gesagt, ob er heute zu einer Party wollte oder ob er vorhatte, sich mit Verwandten oder Freunden zu treffen?« Beide, Mädchen und Frau, schien die Frage in Erstaunen zu versetzen. »Heute ist sein Geburtstag«, erklärte Mac. »Das hat er uns nicht gesagt«, entgegnete die Frau. »Ich hätte ihm einen Kuchen besorgt. Vielleicht sollte ich irgendwo ein Geschenk kaufen. Steve war gut zu uns, vor allem zu Lilly.« »Er sieht schaurig aus«, sagte das Mädchen. »Aber er ist sehr nett.« »Da bin ich sicher.« Stella sah in Gedanken Stevie Guistas Strafakte vor sich. »Ich muss los«, sagte die Frau und bückte sich, um ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn zu drücken. »Schließ die Tür ab«, sagte sie zu dem Mädchen. »Das mache ich immer«, entgegnete Lilly. Die Mutter lächelte und drehte sich zu den beiden Tatortermittlern um. »Sollen wir Steve sagen, dass Sie ihn suchen?« Mac zog eine Karte aus der Tasche und reichte sie der Frau, die sie an ihre Tochter weitergab. »Hat er etwas Böses getan?«, fragte Lilly. »Wir wollen nur mit ihm reden«, beruhigte Stella sie. »Worüber?« Mord, dachte Mac, aber er sagte: »Er könnte Zeuge eines Verbrechens gewesen sein.« »Was für ein …?«, fing das Mädchen an, aber ihre Mutter fiel ihr ins Wort. »Lill, es ist Zeit, reinzugehen. Und für mich ist es Zeit, zur Arbeit zu gehen.« Das Mädchen verabschiedete sich von Stella und Mac, ging hinein und verriegelte die Tür.
Als die Tür geschlossen war, sagte die Frau: »Ich weiß von seiner Vergangenheit. Aber Steve ist heute ein guter Kerl.« Mac nickte und reichte ihr eine zweite Karte. »Bitte geben Sie ihm das, wenn Sie ihn sehen, und bitten Sie ihn, mich anzurufen.« Die Frau nahm die Karte an sich, betrachtete sie kurz und steckte sie in die Manteltasche. Die Frau mit dem Platinhaar und der Pelzmütze war in der UBahn-Station an der 86. Straße in die Linie 6 eingestiegen. Der Mann, der ihr folgte, nahm den Wagon hinter ihr. Das Wetter hatte dafür gesorgt, dass das Gedränge in der Bahn größer war als üblich, aber das konnte dem Mann, der die Frau durch ein Fenster beobachtete, nur recht sein. Trotz ihrer zusammengekniffenen Lippen war die Frau hübsch. Der Mann vermutete, dass sie älter war, als sie aussah. Es war die Art, wie sie sich bewegte, aber wahrscheinlicher war, dass sie mit plastischer Chirurgie nachgeholfen hatte. Er war ein geschulter, erfahrener Beobachter, und er war hier, um seinen Arsch und seinen Job zu retten. Er würde die Frau nicht verlieren. Der Mann war ihr zu Woo Ching’s gefolgt und hatte gesehen, wie die Frau dem Mann neben sich etwas übergeben hatte. Er war zu weit entfernt gewesen, um zu erkennen, was es gewesen war. Aber eine Spur führte zur anderen, und derzeit folgte er der Spur der Frau. Er hoffte, sie würde ihn schließlich zu jemand anderen führen, und wenn er Glück hätte, war das das Ende des Weges. Wenn nicht, würde er eine weitere Spur finden, der er folgen konnte. Immer wieder ermahnte er sich, geduldig zu sein, allerdings war Geduld nicht eine seiner Stärken. Als sie in Castle Hill in der Bronx aus dem Zug stieg, folgte er ihr mit genügend Abstand, um sicher zu sein, nicht entdeckt
zu werden. Jetzt hatte er eine Vorstellung davon, wohin sie ging. Beinahe hätte er zufrieden gelächelt. Beinahe, denn noch war es zu früh, um zufrieden zu sein. Die Frau betrat den Eingang eines großen, einstöckigen Backsteingebäudes, dessen Farbe sich im Laufe eines knappen halben Jahrhunderts verändert hatte und nun völlig schwarz war. Nur ein Hauch der alten, schmutzig gelben Farbe schimmerte noch durch. Als die Frau durch die Tür verschwand, trat der Mann näher. Er wusste, wohin sie ging und wen sie aufsuchen wollte. Er musste nur dieser Spur bis zum Ende folgen. Er ging durch die Holztür und fand sich in einem dunklen Korridor wieder. Ein angenehmer Geruch, der seiner Ansicht nach nur von frisch gebackenem Brot stammen konnte, erfüllte die Luft und erinnerte ihn einen Augenblick lang an seine Kindheit, an einen Feiertag, vielleicht auch an mehrere, an denen es ähnlich gerochen hatte. Die Frau war nirgends zu sehen. Er ging weiter und überlegte sich eine passende Geschichte, sollte ihm jemand begegnen, der wissen wollte, was er hier zu suchen hatte. Er fühlte das beruhigende Gewicht der Waffe, die unter seinem Arm durch das Holster an seinen Körper gepresst wurde. Dann passierte es. Keine Zeit, die Waffe zu ziehen. Keine Zeit, irgendetwas zu tun, außer nach dem Arm des Mannes zu greifen, der blitzschnell aus der offenen Tür gekommen war und seinen kräftigen Unterarm um die Kehle des Mannes geschlungen hatte. Als der Mann unter seine Jacke griff, schlug der Riese, der ihn würgte, seine Hand fort und brach ihm mit einem einzigen tödlichen Ruck das Genick. Der Körper von Detective Cliff Collier sackte zu Boden. Der Mörder sah sich um, ehe er die annähernd neunzig Kilo schwere Leiche mühelos hochhob. Er trug den toten Mann in das abgedunkelte Büro, stieß die Tür ins Schloss und ging zum Fenster.
Er öffnete es und sah sich um, obwohl das eigentlich unnötig war. Er wusste, dass die Straße verlassen war und dass dort nur der kleine Transporter stand. Er hievte den Leichnam durch das Fenster und ließ ihn auf einen Schneehaufen fallen. Dann kletterte er hinterher, wobei er nicht vergaß, im letzten Moment noch das Fenster zu schließen. Als er die Leiche auf die geöffnete Ladefläche des Transporters schob, fiel sein Blick auf die Waffe im Holster des Mannes. Er suchte nach der Brieftasche und erlebte eine Überraschung. Es war ein Cop. Niemand hatte ihm gesagt, dass er einen Cop umbringen würde – nicht, dass das wirklich von Bedeutung gewesen wäre, aber für einen Moment dachte er, er hätte darüber informiert werden müssen. Denn einen Cop zu töten war etwas Besonderes. Er hätte es gerne vorher gewusst. Er schloss die Türen des Transporters und glitt auf den Fahrersitz. Noch nie zuvor hatte Big Stevie einen Cop umgebracht. Nicht, dass er Bedauern verspürte, nein, im Grunde nicht, aber es wäre nett gewesen, hätte man es ihm gesagt. Langsam fuhr er die Gasse hinunter und überlegte, wo er die Leiche abladen sollte. Mac hatte es Stella und Don überlassen, Big Stevie aufzuspüren, und fuhr nun so schnell, wie das Wetter und der Verkehr es erlaubten, zu dem noblen Appartementhaus, in dem Charles Lutnikov ermordet worden war. Aiden hatte ihn angerufen, als sie das Farbband ins Labor geschickt hatte. Dort wurde der Text erfasst und in einer Datei abgespeichert. Ein Anruf von Mac würde die Laborarbeit vorantreiben, trotzdem konnte es noch eine Weile dauern, bis sie die Diskette mit dem Text wieder zurückerhielten. Deshalb hatte Mac im Büro angerufen und erklärt, wie wichtig die Sache war.
Aiden wartete in der Lobby auf ihn. Vor dem Eingang stampfte er mit den Füßen auf, um seine Stiefel vom Schnee zu befreien. Dann betrat er das Gebäude und wurde mit einem dankbaren Nicken von Aaron McGee, dem Portier, empfangen. »Die Leute stellen einen Haufen Fragen«, begann McGee. »Ich kann ihnen keine vernünftigen Antworten geben. Was soll ich ihnen sagen?« »So wenig wie möglich«, antwortete Mac. »Das hat die Lady auch gesagt.« Mit dem Kopf deutete McGee auf Aiden. »Ich weiß sowieso nicht viel.« Mac und Aiden gingen zum Fahrstuhl. Über der offenen Tür hing immer noch das Absperrband. Sie duckten sich, um darunter hindurchzukriechen. »Jeder Quadratzentimeter wurde auf Fingerabdrücke untersucht. Es gibt Abdrücke von beinahe jedem Bewohner aus diesem Teil des Gebäudes.« Aiden seufzte. Mac drückte auf den Knopf, der den Fahrstuhl in Bewegung setzte, und sie fuhren nach oben. Als die Kabine sich schloss, ging Mac in die Knie und untersuchte den schmalen Metallrand an der Vorderseite des Lifts. Zwischen der Kabine und der Tür befand sich ein kleiner Zwischenraum von vielleicht zweieinhalb Zentimetern Breite. Er blickte auf. »Möglich«, sagte Aiden, die genau wusste, woran er dachte. »Ich werde dich begleiten«, versprach er. Sie hatten beide schon seltsamere Dinge entdeckt als eine einfache Kugel, die durch einen schmalen Spalt gefallen und irgendwo stecken geblieben war. Das konnte eine schmutzige Angelegenheit werden. Aiden unterdrückte ein Seufzen und wünschte sich eine Tasse Kaffee. Der Fahrstuhl hielt sanft an, und die Türen glitten lautlos auseinander. Mac trat vor und griff nach dem Türklopfer.
Sowohl Aiden als auch Mac merkten, dass hinter der Tür jemand war, der sie durch den Spion beobachtete. Dann wurde geöffnet. »Haben Sie ihn geschnappt?«, fragte Louisa Cormier. »Den Mann, der den armen Mr Lutnikov erschossen hat?« »Es könnte auch eine Frau gewesen sein«, gab Aiden zurück. »Natürlich.« Louisa Cormier lächelte. »Ich hätte mich präziser ausdrücken sollen. Bitte, kommen Sie herein.« Sie trat zur Seite. Die Frau war nicht ganz so modisch schick und zwanglos gekleidet wie beim letzten Mal. Ihr Haar saß beinahe perfekt, aber ein paar Löckchen hatten ihren richtigen Platz verfehlt, und ihre Augen wirkten müde. Sie trug eine Designerjeans und einen weißen Kaschmirpullover, dessen Ärmel hochgekrempelt waren und eine juwelenbesetzte Armbanduhr offenbarten. »Bitte«, sagte sie und ließ ihre perfekt weißen Zähne aufblitzen. Sie deutete mit nach oben gerichteter Handfläche auf einen kleinen Holztisch am Fenster. Um den Tisch herum standen drei Stühle, die einen wunderbaren Panoramablick auf die Stadt gestatteten. »Kaffee? Tee?«, fragte Louisa Cormier. »Kaffee«, bat Aiden. »Danke.« »Sahne? Zucker?« »Nein«, entgegnete Aiden. »Kaltes Wasser«, bat Mac. »Ich habe Ann ein paar Tage freigegeben«, erzählte Louisa Cormier, als die beiden Beamten Platz genommen hatten. »Sie war wirklich beunruhigt wegen dieser Schießerei. Ich werde den Kaffee holen. Ich habe gerade eine frische Kanne aufgesetzt. Offen gestanden, denke ich, sie fürchtet sich herzukommen, solange der Mörder nicht festgenommen wurde. Ann ist ein Juwel. Ich würde sie nur ungern verlieren.«
Und mit diesen Worten eilte sie aus dem Zimmer. »Gibt es schon irgendetwas im Mordfall Alberta Spanio?«, erkundigte sich Aiden leise. »Irgendetwas gibt es immer«, murmelte Mac und sah zum Fenster hinaus. Monet hatte London gemalt, hell und glitzernd, dunstig vom Nebel, feucht vom Regen, dachte er. Hatte er je New York gemalt? Was hätte Monet gesehen, hätte er an diesem Tag aus diesem Fenster gesehen? Ehe Louisa Cormier zurück war, erzählte Aiden Mac, dass sie Lutnikovs Appartement noch einmal durchsucht hatte. »Kein Hinweis darauf, dass er Prosa geschrieben hat«, sagte sie. »Keine Manuskripte, keine Papierstapel in den Schubladen, nur das, was auf dem Farbband ist.« Mac nickte, doch gleichzeitig wanderte sein Blick über die Dächer der grauen Stadt. Louisa kam mit dem Kaffee und einem Glas Eiswasser zurück. Für sich hatte sie nichts mitgebracht. Als sie Platz genommen hatte, fuhr sie sich mit den Fingern durch das Haar. »Lange Nacht«, erklärte sie. »Ich habe eine Deadline für den neuen Pat-Fantome-Roman. Falls Sie je eines meiner Bücher lesen, werden Sie feststellen, dass ich nichts mit Pat gemeinsam habe – es sei denn, dass ich sie erschaffen habe. Ich lasse Pat in meinem Büro, wenn ich den Computer ausschalte und für die übrige Welt wieder Louisa Cormier werde. Eine Ausnahme sind natürlich Autogrammstunden oder Talkshows. Dann, denke ich, überlasse ich größtenteils Pat Fantome das Feld. Ich bin Pat dankbar, aber es ist nicht leicht, mit ihr zu leben. Sie ist eine Getriebene. Ich dagegen …« Sie winkte ab und ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. Aiden nippte an ihrem Kaffee. Er war heiß und gut. Mac wirbelte die Eiswürfel in seinem Glas herum und sah, wie sie aneinander schlugen.
»Oh, nein«, sagte Louisa Cormier mit einem Lachen, als sie ihre Mienen sah. »Ich bin nicht verrückt. Es gibt natürlich keine Pat Fantome. Nicht in der Wirklichkeit. Das ist nur eine Art zu denken, derer ich mich bediene, wenn ich schreibe. Es gibt ein paar Übereinstimmungen zwischen Pat und mir, doch die Unterschiede überwiegen bei weitem. Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um über mich oder Pat zu sprechen. Sie haben Fragen in Bezug auf den armen Mr Lutnikov?« Endlich trank Mac einen Schluck Wasser, hielt dann kurz inne und fragte: »Besitzen Sie eine Waffe?« Louisa Cormier sah erschrocken drein, fuhr mit der rechten Hand hoch und berührte die dünne Goldkette an ihrem Hals. »Äh … ja«, sagte sie. »Eine Walther. Sie ist im Schreibtisch meines Büros. Möchten Sie sie sehen?« »Bitte.« »Verdächtigen Sie mich des Mordes an Mr Lutnikov?«, fragte sie amüsiert. »Wir überprüfen jeden, der diesen Fahrstuhl benutzt«, erklärte Aiden. »Was könnte sich eine Krimiautorin Schöneres wünschen als so eine Situation. Der Stoff liegt vor der eigenen Tür. Ich hole sie.« Louisa Cormier, nun unzweifelhaft interessiert, eilte zu der geschlossenen Bürotür. Macs Telefon klingelte, und er nahm ab. »Ja«, sagte er und wartete einen Augenblick, bis er weitersprach. »Ich komme so schnell ich kann. In einer halben Stunde.« Er legte auf, als Louisa Cormier gerade aus dem Büro zurückkam. Die Waffe hielt sie am Lauf und streckte sie Mac entgegen. Er bat sie, sie auf den Tisch zu legen. »Irgendwo habe ich auch die Erlaubnis dafür«, sagte Louisa. »Ann kann sie heraussuchen, wenn …« »Ich denke, das wird nicht nötig sein«, unterbrach Mac sie.
Aiden zog ein frisches Paar Handschuhe an und griff nach der Waffe. Louisa Cormier sah ihr fasziniert zu. Nachdem sie die Waffe untersucht hatte, sagte Aiden: »Eine Walther P22 mit einem Sechsundachtzig-Millimeter-Lauf. Wurde in letzter Zeit nicht abgefeuert.« »Ich glaube nicht, dass sie je abgefeuert wurde«, sagte sie. »Sie liegt in dieser Schublade, um den Wunsch meiner Agentin zu befriedigen, die mich, wie ich glaube, sehr mag. Aber ihre fünfzehn Prozent liebt sie noch mehr als mich.« »Ein paar Fragen noch«, sagte Mac, als Aiden Louisa Cormier die Waffe zurückgab. Zuvor hatte sie natürlich das Magazin überprüft und festgestellt, dass es in der Tat voll war. Louisa legte die Waffe auf den Tisch, beugte sich interessiert vor und faltete die Hände im Schoß. »Waren Sie je in Charles Lutnikovs Appartement?«, fragte Mac. »Nein. Lassen Sie mich nachdenken. Nein, ich denke nicht.« »War er je in Ihrem Appartement?« »Ein paarmal. Eigentlich kommt oder vielmehr kam er jedes Mal herauf, wenn ein neues Buch von mir erschienen ist und er fast schüchtern um ein Autogramm bitten wollte.« »Agent Burn hat Ihre Bücher in Mr Lutnikovs Appartement gefunden«, sagte Mac. »Sie waren ungelesen.« »Das überrascht mich nicht«, sagte sie. »Er war ein Sammler. Signierte, ungelesene Erstausgaben. Er hat sich zum Lesen ein zweites Buch gekauft. Darüber hat er ganz offen gesprochen.« »Wir haben keine weiteren Ausgaben Ihrer Bücher in seinem Appartement gefunden«, wandte Aiden ein. »Er hat sie an andere Bewohner weitergegeben, wenn er sie gelesen hatte. Er hatte ja noch die unberührten Erstausgaben. Mein Gott, ist das faszinierend.« »Hat Lutnikov Ihnen je etwas von dem gezeigt, was er geschrieben hat?«, fragte Mac.
»Geschrieben? Ich dachte, er hätte Werbetexte für Kataloge verfasst. Warum um alles in der Welt sollte er mir so etwas zeigen?« »Keine Prosa?«, hakte Aiden nach. »Kurzgeschichten? Gedichte?« »Nein. Und um die Wahrheit zu sagen, hätte er das getan, so hätte ich ihn höflich darauf aufmerksam gemacht, dass ich viel zu beschäftigt bin, um seine Arbeiten zu lesen, und dass ich selten irgendwelche Prosa lese – nicht einmal, wenn sie von meinen engsten Freunden verfasst wurde. Hätte er mich gedrängt, wie es manche tun, hätte ich ihm erklärt, dass meine Agentin und mein Herausgeber mir eingetrichtert haben, ich solle niemals ein unveröffentlichtes Manuskript lesen, weil man mich anderenfalls später des geistigen Diebstahls bezichtigen könnte. Sie würden staunen, wie viele unseriöse Klagen gegen mich eingereicht werden, was auch der Grund ist, warum ich die Lobby für eine Reform des Schadenersatzrechts maßgeblich unterstütze.« »Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen Buch?«, fragte Mac. »In etwa einer Woche sollte ich fertig sein.« »Sie arbeiten an Ihrem Computer?« »Ich kenne ein paar Autoren, Dutch Leonard, Loren Estleman, die immer noch Schreibmaschinen benutzen, aber ich verstehe nicht, warum.« »Welche Art Papier benutzen Sie?«, fragte Aiden. »In meinem Drucker?« »Ja.« »Das weiß ich wirklich nicht. Irgendwas Gutes. Ann kauft es in dem Schreibwarenladen an der 44. Straße.« »Dürften wir einen Bogen davon haben?«, bat Mac. »Einen Bogen meines Druckerpapiers … ja, natürlich. Ist das alles?« »Ja«, sagte Mac. »Für den Moment sind wir fertig.«
Er erhob sich, und die beiden Frauen folgten seinem Beispiel. Louisa Cormier, die Waffe in der rechten Hand, unternahm einen Abstecher in ihr Büro und kehrte mit einigen Bögen Papier zurück, die sie Mac überreichte. Die Waffe hatte sie nicht mehr bei sich. »Sie sollten wissen, dass ich meinem Verleger keine gedruckte Fassung meiner Manuskripte gebe«, erklärte sie. »Das tue ich schon seit Gott weiß wie vielen Jahren nicht mehr. Ich schicke ihm das fertige Manuskript einfach per EMail, und sie drucken es selbst aus und geben es zum Lektorat.« »Dann haben Sie alle Ihre Manuskripte als Datei auf Ihrer Festplatte gespeichert?«, fragte Mac. Louisa Cormier sah ihn neugierig an. »Ja. Außerdem habe ich Sicherheitskopien auf Disketten, die ich in meinem feuersicheren Wandsafe aufbewahre.« »Danke«, sagte Mac. »Nur noch ein oder zwei abschließende Fragen. Besitzen Sie noch eine weitere Waffe?« Louisa Cormier sah leicht amüsiert aus. »Nein.« »Haben Sie je eine Waffe abgefeuert?« »Ja, im Zuge meiner Nachforschungen. Meine Figur, Pat Fantome, ist eine Expolizistin, die sehr zielsicher schießen kann. Ich denke, es ist hilfreich, zu wissen, wie es sich anfühlt, eine Waffe abzufeuern. Dafür gehe ich zu Drietch’s Range an der Achtundfünfzigsten.« »Das werden wir finden«, meinte Mac. »Noch eine Frage. Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wie Lutnikovs Blut auf den Teppich gekommen ist, der sich vor dem Fahrstuhl auf Ihrem Stockwerk befindet?« »Nein. Ich bin wirklich eine Verdächtige, nicht wahr?« Die Vorstellung schien sie zu erfreuen. »Ja«, sagte Mac. »Aber das gilt auch für all Ihre Nachbarn.«
»Danke für den Kaffee«, sagte Aiden und griff nach ihrer Ausrüstung. »Sie dürfen mich jederzeit wieder besuchen«, sagte Louisa, als sie sie zur Tür begleitete. »Ich würde zu gern erfahren, wie es mit Ihren Ermittlungen weitergeht. Jetzt werde ich meine Agentin anrufen und ihr von alldem erzählen.« Als sie wieder im Aufzug waren, fragte Aiden: »Keller?« »Da musst du allein hin«, gestand Mac. »Stella hat gerade Cliff Collier tot aufgefunden.« »Collier? Der Cop, der Alberta Spanio bewachen sollte?« »Ja, er ist erdrosselt worden.« »Wo?« »In einer kleinen Straße in Chinatown.« Aiden erstickte mit zusammengepressten Lippen ein Seufzen und nickte. Sie würde sich allein auf die Suche nach der Kugel machen müssen. Sie hatte sich schon öfter auf dem Boden eines Fahrstuhlschachtes umgesehen, und die Erfahrung war stets interessant gewesen. Aber angenehm nie. Mac betrachtete die Papierbögen, die Louisa Cormier ihm gegeben hatte. Er und Aiden dachten beide das Gleiche. »Durchsuchungsbefehl?« Er schüttelte den Kopf. Aiden und Mac wussten, dass Louisa Cormier gelogen hatte, aber sie wussten nicht, über was. Sie vermuteten, dass es um die Blutspuren ging. Doch ein Verdächtiger sagte meistens in irgendeinem Punkt die Unwahrheit, selbst dann, wenn er absolut unschuldig war. »Keine ausreichenden Gründe«, sagte Mac. »Wir könnten sie lieb bitten«, schlug Aiden vor. »Und sie kann lieb nein sagen und ihren Anwalt anrufen.« »Also?« »Also müssen wir mehr Beweise finden.«
8
»Erledigt?«, fragte der Mann. »Erledigt«, antwortete Big Stevie Guista. Big Stevie hatte aus einer Bar, eine Straße vom Zabar’s entfernt, angerufen. Er hatte eine ganze Einkaufstüte mit Lebensmittel bei sich – Würste, Brötchen, Käse, ein großes Stück Gorgonzola, seinen Lieblingsbrotaufstrich, Limonade und mit Puderzucker bestäubte Kekse. Sein Plan lautete, sich eine Mini-Geburtstagsparty mit Lilly zu gönnen, dem kleinen Mädchen, das in der Wohnung gegenüber wohnte. Ihre Mutter arbeitete zurzeit. Hätte Big Stevie je geheiratet und Kinder bekommen, dann wären seine Enkel jetzt in Lillys Alter. Vielleicht. Sie war ein gutes Kind. Er würde mit ihr feiern und vielleicht ein bisschen fernsehen. Seinen Sex würde er sich morgen holen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Stevie. Aber er beklagte sich nicht. »Gut«, sagte die Stimme am anderen Ende. Beide, der Mann und Stevie, waren klug genug, kein weiteres Wort zu verlieren. Dann legten sie auf. Stevies Lieferwagen parkte im Halteverbot vor einem Feuerhydranten, dessen Spitze gerade noch aus einem Schneeberg hervorlugte. Aber Stevie hatte keinen Strafzettel bekommen. Den bekam er nie. Die Polizei und alle anderen Leute, die den geparkten Transporter sahen, dachten, er würde etwas ausliefern, und genau das hätte er auch behauptet, wäre ihm jemand in die Quere gekommen. Doch es gab nicht viele Leute, die bereit waren, Big Stevie in die Quere zu kommen.
Stevie setzte vorsichtig rückwärts aus der Parklücke und sah sich über die Schulter um. Die Ladefläche des kleinen Lieferwagens war leer, die Drahtgestelle sauber. Er hatte die Leiche des Cops schon vor über zwei Stunden in der Nebenstraße abgeliefert. Da war kein Geruch des Todes, nur der vertraute, schwächer werdende Duft von ehemals frischem Brot. Stevie mochte diesen Geruch. Er mochte ihn noch mehr, wenn das Brot noch ganz frisch war. Alles in allem mochte Stevie seine Arbeit. Die Leiche lag hinter einem Müllcontainer, der zum Hinterhof des Ming Lo’s Dim Sum in Chinatown gehörte. Cliff Collier lag auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, die Arme grob über der Brust verschränkt, den Kopf verdreht, als hätte er im Moment seines Todes direkt nach hinten geblickt. Stella hatte mindestens ein Dutzend Mal im Ming Lo’s gegessen, immer an einem Sonntagmorgen, immer mit Verwandten, die nach New York gekommen waren, um ein bisschen was von der Stadt zu sehen. Der Eingang zu Ming Lo’s, der auf der anderen Seite des Gebäudes an der Mott Street lag, war hell erleuchtet. Hinter den Glastüren war eine breite Rolltreppe zu erkennen, an deren oberen Ende sich ein großer Raum voller Tische befand. Die chinesische Bedienung versorgte die Kundschaft, fast ausschließlich Chinesen, mit Dim-Sum-Karten. Es gab Dutzende von Wahlmöglichkeiten, und alle Gerichte konnten entweder mit Stäbchen oder mit den Fingern gegessen werden. Stellas Verwandtschaft zeigte sich regelmäßig beeindruckt. Sie fragte sich, wie beeindruckt ihre Verwandtschaft wohl beim Anblick des toten Mannes in der Seitenstraße gewesen wäre. »Das ist mein Job«, sagte sie und stellte sich vor, sie würde sich mit einer Tante oder Cousine unterhalten. »Ich stelle toten Leuten Fragen.«
Der Gedanke an Dim Sum, das sie normalerweise sehr mochte, verursachte ihr heute Bauchweh. In ihrem Magen brodelte es. Stella ging neben der Leiche in die Knie. Sie hatte furchtbare Krämpfe auf einmal. Danny hatte bereits Fotos von dem toten Mann, der Mauer und dem Müllcontainer geschossen. Don Flack stand neben der Hintertür des chinesischen Restaurants und sprach mit dem Küchengehilfen, der die Leiche entdeckt hatte. Der sichtlich verängstigte, dickleibige Mann antwortete auf Chinesisch, und eine junge Frau in einem Seidenkleid übersetzte. Während sie sprach, zitterte sie. Flack zog den Mantel aus und wickelte ihn der jungen Frau um die Schultern. Sie nickte ihm dankbar zu. Der dicke Mann sprach hastig und aufgeregt. »Er wusste, dass der tote Mann kein Obdachloser war«, übersetzte die junge Frau. »Er war zu gut gekleidet und sein Haar war geschnitten.« Flack, das Notizbuch in der Hand, nickte. »Hat er irgendjemanden gesehen, irgendwas gehört?« Die junge Frau übersetzte. Der dicke Mann schüttelte nachdrücklich den Kopf. Flack drehte sich zu der Leiche um und sah sie sich genauer an. Er hatte Collier gekannt, nicht sehr gut, aber gut genug, um sich gegenseitig nach ihren Angehörigen zu erkundigen, ohne dass es peinlich gewesen wäre. Don erinnerte sich, dass Collier nicht verheiratet war, aber dass er Eltern hatte, die in Queens lebten. Danny, Stella und Don fiel der Geruch gleichermaßen auf, eine Mischung aus scharfen und süßen chinesischen Gewürzen. Danny hätte gern gebackene Wan Tan bestellt oder irgendwas anderes, was ebenso gut war. Vielleicht konnte er Stella überreden, wenn sie hier fertig waren, mit der Befragung drinnen weiterzumachen und dabei etwas zu essen.
Flack hingegen fiel der Geruch nicht auf. Nicht, dass er chinesisches Essen nicht gemocht hätte, aber der tote Mann beherrschte derzeit seine Gedanken und ließ keinen Platz für derartige Dinge. »Danke«, sagte er zu der jungen Frau. Das musste sie nicht übersetzen. Der dicke Mann warf einen Blick auf die Leiche und hastete zurück ins Restaurant. Das Mädchen gab Flack den Mantel zurück, und ihre Blicke trafen sich. Vielleicht hätte sich daraus etwas ergeben können, aber er hatte kein Interesse – nicht jetzt, nicht hier, nicht, während Colliers Leiche da herumlag. Als das Mädchen in das Restaurant zurückging, machte Flack kehrt und sah Mac Taylor die Straße heraufkommen. Er bewegte sich langsam und hatte die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben. Mac blieb neben Danny stehen und blickte auf die Leiche und auf Stella, die neben ihr kniete. Macs Lippen waren fest zusammengekniffen, doch mit seinen Augen registrierte er alles, was in dieser schmalen Gasse herumlag. »Genickbruch«, stellte Stella fest. Sie drehte die Leiche auf die Seite. Sie hatte nicht viel Platz, und der tote Mann war schwer. Natürlich hätte sie um Hilfe bitten können, aber sie wollte so wenig wie möglich am Tatort verändern. Es gab schon zu viele Kontaminierungen. »Die Seitenstraße ist voller Fußabdrücke«, sagte Danny. »Mindestens sechs verschiedene Personen. Ich habe die Abdrücke gesichert.« Danny hatte die Fußabdrücke mit Sprühwachs im Schnee konserviert. Dann hatte er Wasser in einen Gipsbeutel gefüllt, den Beutel durchgeknetet und alles in den Abdruck gegossen, um so einen verwertbaren Gipsabdruck zu erhalten. Außerdem hatte er, um den Aushärtungsvorgang zu beschleunigen, dem Gips etwas Salz zugesetzt.
»Irgendein auffallend großer Abdruck?«, fragte Mac. »Ja«, sagte Danny. »Da drüben haben wir einen.« Danny wusste, warum Mac ihn nach großen Abdrücken gefragt hatte. Collier war über ein Meter achtzig groß und mehr als neunzig Kilo schwer. Er hatte eine gute Kondition. Wer immer Collier umgebracht hatte, musste stärker und mindestens genauso groß gewesen sein wie der Detective. Vorausgesetzt, es handelte sich um einen Einzeltäter. Hawkes würde die Leiche wiegen müssen, damit sie sich ein genaues Bild machen konnten. Danny deutete auf drei Fußabdrücke, die zum Container hinführten, sowie auf zwei andere, die etwa genauso groß waren und vom Müllbehälter wegführten. Die Abdrücke, die sich entfernten, waren nicht so tief wie die, die sich dem Container näherten. Damit war klar, dass jemand die Leiche auf seinen Schultern zum Müllcontainer getragen und sie dort abgeworfen hatte. »Miss die Schneedichte«, sagte Mac. »Wir werden eine Formel aufstellen, um mathematisch nachzuweisen, dass die Leiche von jemanden getragen wurde. Schau nach der Brieftasche und finde heraus, welches Gewicht in Colliers Papieren eingetragen ist.« Danny nickte. Niemand zweifelte daran, dass die Fußabdrücke demjenigen gehörten, der Colliers Leiche zum Müllcontainer getragen hatte, aber vor Gericht brauchte man stichhaltige Beweise. Und sie alle wollten auf Nummer sicher gehen. Flack stand bei Danny und Mac und sah Stella bei der Arbeit zu. Keiner musste es aussprechen, denn alle vier Mitglieder der C.S.I.-Einheit ahnten die Verbindung zwischen der Ermordung des Detectives und dem Mord an Alberta Spanio, der Frau, die von diesem Detective beschützt werden sollte. Stella hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet und war dabei, ihre Handschuhe auszuziehen.
Mac konnte die Stellen erkennen, an denen der Müllcontainer auf Fingerabdrücke untersucht worden war. Da waren etliche Spuren, aber es schien eher unwahrscheinlich, dass darunter auch Fingerabdrücke von der Person waren, die Colliers Leiche hier abgelegt hatte. »Er wurde nicht hier getötet«, sagte Stella. Mac nickte. »Keine Fußabdrücke hinter der Leiche«, fuhr sie fort. »Wenn er hier umgebracht worden wäre, hätte er umgedreht werden müssen, aber dafür gibt keine Hinweise.« »Keine Anzeichen für einen Kampf?«, fragte Mac. »Auch das nicht.« »Wir haben nur Fußabdrücke«, sagte Danny. Stella nickte. Hier war nichts mehr zu tun – den Rest mussten sie im Labor erledigen. Jeder von ihnen hatte eine Theorie, und jeder von ihnen war bereit, augenblicklich von ihr abzurücken, wenn ein neuer Beweis auftauchte und die Karten neu gemischt wurden. Flacks erster Gedanke war, dass Collier den Mörder von Alberta Spanio aufgespürt und verfolgt hatte, und dann entdeckt und getötet worden war. Danny überlegte. Collier hatte vielleicht etwas im Zusammenhang mit dem Mord gesehen oder sich an etwas erinnert, das er der falschen Person gegenüber erwähnte. Vielleicht hatte der Mörder auch gemerkt, dass ein wichtiges Indiz direkt mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte. Stella kam zu dem Schluss, Collier könnte in den Mord an Alberta Spanio verwickelt sein und wurde ermordet, um den oder die Mörder zu schützen. »Ed Taxx.« Mac drehte sich zu Flack. »Sprich mit ihm. Er könnte auch auf der Liste des Mörders stehen. Sollte Collier etwas gesehen oder gewusst haben, dann könnte Taxx über das gleiche Wissen verfügen.«
Flack nickte. »Und wir müssen Stevie Guista finden«, fügte er hinzu, als er einen Blick auf die Leiche warf und den Sanitätern zunickte, die gerade eingetroffen waren. Mac sah auf seine Armbanduhr. »Jemand hungrig?«, fragte er. »Ja.« Danny rieb sich die Hände, während er von einem Bein aufs andere trat, um die Taubheit aus seinen Füßen zu verscheuchen. »Ich passe«, sagte Stella. Don schüttelte den Kopf und sah zu, wie die Sanitäter den Müllcontainer wegschoben und den toten Mann in einen schwarzen Sack hüllten. Das Quartett rührte sich nicht. Schweigend verfolgten sie das Geschehen. Macs Blick fiel auf drei eingepackte Glückskekse, die dort, wo der Müllcontainer gestanden hatte, im Schnee lagen. Er ging hin, bückte sich und hob sie auf. Mac und seine Frau waren auch einmal im Ming Lo’s gewesen. In jener Nacht hatte es ebenfalls Glückskekse gegeben, aber er erinnerte sich nicht, was sie prophezeit hatten. Nach einigen Sekunden ließ er die ungeöffneten Kekse in den Müllcontainer fallen. Dann drehte er sich zu den anderen um und fragte: »Dim Sum?« Big Stevie klopfte an die Tür und wartete, bis Lillys Stimme ertönte: »Wer ist da?« »Ich, Stevie«, antwortete er. Als sie die Tür öffnete, gab er ihr die Einkaufstüte von Zabar. Sie war zu schwer, und das Mädchen schleifte sie über den Boden. »Ich habe Geburtstag«, sagte er. »Was hältst du von einer Geburtstagsparty?« Er trat ein und schloss die Tür hinter sich.
»Ich weiß, dass du Geburtstag hast«, sagte sie, ging in die kleine Küche und fing an, all die Leckereien aus der Tüte zu holen. Dabei hielt sie immer wieder inne, um daran zu riechen. »Ich habe ein Geschenk für dich gemacht.« Darauf war Stevie nicht vorbereitet, und wie es schien, hatte sich seine Rührung auf seinen Zügen niedergeschlagen. »Es ist nichts Besonderes«, sagte Lilly. »Ich gebe es dir, wenn wir gegessen haben.« Er zog Mantel und Schuhe aus, legte den Mantel über einen Stuhl in der Nähe der Tür und stellte die Schuhe gleich auf eine Fußmatte. »Wie wäre es vor dem Essen?«, schlug er vor und versuchte, sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal ein Geburtstagsgeschenk bekommen hatte. Bestimmt nicht mehr, seit er ein Junge gewesen war, ein »junger« Junge. Ein »kleiner« Junge war er nie gewesen. »Okay«, sagte Lilly, als sie die letzte Packung aus der Einkaufstüte zog. Sie ging in das Schlafzimmer und kam Sekunden später mit einem kleinen Päckchen zurück. Es war unbeholfen in rotes Papier gewickelt und mit einem rosafarbenen Band verschnürt worden. Sie legte das kleine Päckchen in seine riesige Hand. »Mach auf«, sagte sie. Er tat es, sorgsam darauf bedacht, weder das Papier noch das Band zu zerreißen. Es war ein kleines, hosentaschengroßes Tierchen. Lilly hatte es aus Ton oder so etwas in der Art gemacht und weiß angemalt. »Das ist ein Hund«, klärte sie ihn auf. »Ich wollte dir ein Pferd machen, aber das war zu schwer. Magst du ihn?« »Ja«, sagte er und stellte den Hund auf den Tisch. Er schwankte ein wenig, fiel aber nicht um. »Darf ich ihm einen Namen geben?«, fragte Lilly. »Klar.«
»Rolf, wie der Hund in der Sesamstraße.« »Rolf«, sagte er. »Klingt wie ein Bellen.« »Ich glaube, das soll es auch.« »Also«, sagte er, »wollen wir essen?« Lilly besorgte Teller, Messer, Gabeln, Papierservietten und Gläser. »Haben die Leute dich gefunden?«, fragte sie, während sie eine Wurstpackung öffnete. »Welche Leute?«, fragte Stevie. »Ein Mann und eine Frau. Die waren hier, als Mom zur Arbeit gehen wollte.« »Haben sie gesagt, wer sie sind?«, fragte er, als Lilly mit großer Sorgfalt eine Scheibe Wurst auf das Brötchen legte, das sie vorher aufgeschnitten hatte. »Ich glaube, sie waren von der Polizei«, sagte sie, gab ihm das Sandwich, das sie zubereitet hatte, und holte die Karte, die ihre Mutter ihr gegeben hatte, bevor sie gegangen war. Stevie schwieg. Er las die Visitenkarte mit Mac Taylors Namen und Telefonnummer und gab sie dem Mädchen zurück. Dann nahm er das Sandwich entgegen und stierte es an, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. »Ich glaube, einer von denen wartet in deiner Wohnung auf dich«, sagte sie und kaute auf ihrem eigenen Sandwich herum. Stevie steckte den Tonhund ein und drehte sich auf dem Stuhl herum, um zur Tür zu schauen, als könne er, wenn er sich nur genug Mühe gab, durch sie hindurch und bis in seine eigene Wohnung hineinsehen. Stevie musste nachdenken. Das brauchte seine Zeit. Denken war nicht gerade eine seiner Stärken. Er nahm einen großen Bissen von dem Sandwich. Der Geschmack war angenehm vertraut.
Jacob Laudano fing an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Es war alles viel zu leicht gewesen, und jetzt erhielt er einen Telefonanruf, der ihn darüber aufklärte, was er zu sagen hatte, wenn die Polizei bei ihm auftauchte. Warum zum Teufel sollte die Polizei bei ihm auftauchen? Okay, sie hatten immer einen Grund, ihn zu suchen, aber er konnte ihnen aus dem Weg gehen – vorausgesetzt, sie hatten nicht vor, ihn festzunageln. Sie hatten keinerlei Beweise gegen ihn. Sie konnten keine haben. Jacob Laudano, genannt der Jockey, war gerade ein Meter siebenundvierzig groß, wog dreiundvierzig Kilo, gute zwei Kilo zu viel, um noch an Pferderennen teilnehmen zu können. Doch dafür, dass er vor acht Jahren das letzte Mal auf einem Pferd gesessen hatte, war es eine beachtliche Leistung von ihm gewesen, seinen Lebensstandard halten zu können. Er hatte sein Gewicht im Griff, Essen auf dem Tisch, ein Einzimmerappartement in East Side und noch genug Geld für Klamotten und Drinks. Er musste nicht bezahlen, damit Frauen zu ihm kamen. Im Gegensatz zu Big Stevie, denn keine wollte von Stevies Massen erdrückt werden oder aufblicken und in sein Gesicht sehen. Jake dagegen besaß aus irgendeinem Grund eine Anziehungskraft, die er sich selbst nicht erklären konnte, die er jedoch ohne Murren akzeptierte. Er wusste, dass es etwas mit seiner Größe zu tun hatte. Er sah nicht schlecht aus, aber das Gesicht, das ihn jeden Morgen aus dem Spiegel im Badezimmer ansah, gehörte auch nicht gerade Tom Cruise. Jake war blass, seine Nase ein wenig zu spitz und seine Augen zu schmal. Er ging auf die Fünfzig zu, wurde aber meist jünger geschätzt. Wieder ein Verdienst seiner Größe. Pferde hatte er nie gemocht, es sei denn, um auf sie zu wetten, und das hatte ihn in Schwierigkeiten gebracht. Für eine Weile war es gut gelaufen. Er hatte auf seine eigenen Rennen
gewettet und alle Tricks angewandt, um dafür zu sorgen, dass der Favorit nicht siegte. Das war keine sehr angesehene Kunst, und am wenigsten angesehen war sie unter den anderen Jockeys, die ihn schließlich ans Messer lieferten. Mit sechsundzwanzig Jahren war für Jake in dem Geschäft nichts mehr zu holen gewesen, und so hatte er sich mit seiner Behändigkeit und seinem mangelnden Respekt vor dem Gesetz dem traditionellen Familiengeschäft zugewandt und war Einbrecher geworden. Auf diese Weise hatte er sich über mehrere Jahre lang recht gut durchschlagen können. Doch dann hatte er die unterste Schublade einer Kommode aufgebrochen – dort, wo die Leute gern kleinere Wertgegenstände versteckten –, als plötzlich jemand die Wohnungstür öffnete. Wirklich dumm gelaufen. Jake war zum Fenster geflüchtet, weil der Kerl ihn dorthin geprügelt hatte. Dort hatte er ihm den Weg versperrt und ihm Hiebe gegen die Brust versetzt, die härter waren als alles, was er bis dahin erlebt hatte, und auch härter waren als das, was er später in den zwei Jahren im Knast erleben sollte. Der Kerl war, wie sich herausstellte, Third Baseman bei den Mets gewesen. Dumm gelaufen. Jake knüpfte im Knast Kontakte, die für die Zeit nach seiner Entlassung nützlich waren. Sie brachten Arbeit und Geld, sicherten ihm sein Auskommen. Er war immer noch verdammt gut darin, dorthin zu kommen, wo niemand sonst hinkam, und erst recht seine Auftraggeber, die großen, dicken und oftmals alten Leute. Als ihm zum ersten Mal jemand zehntausend Dollar für einen Mord angeboten hatte, hatte er bloß genickt. Seitdem hatte er noch drei weitere Menschen umgebracht, alle zum Standardpreis von zehntausend Dollar. Jake, der Jockey, hatte einen Ruf. Er versuchte nicht, mehr Geld herauszuschlagen, wen immer er auch ermorden sollte.
Jakes bevorzugte Methode war ein Stich in den Hals mit einem langen, scharfen Messer, während die Zielperson schlief. Er richtete seine Krawatte vor dem Spiegel und zog den Knoten nach, bis er perfekt saß. Jemand hatte ihn mal als schick bezeichnet, das hatte ihm gefallen. Das Telefon klingelte. Jake arbeitete weiter an seiner Krawatte, als er das Bad verließ und den Hörer abhob. »Ja«, sagte er. Und dann lauschte er. »Alles gut gelaufen«, sagte Jake. »Wie ich es Ihnen gesagt habe. Rein, raus. Keine Fragen … Ja, sie haben mich gesehen, aber nicht mein Gesicht … Wenn er das tut, mach ich das, aber er wird nicht herkommen … Okay, okay, ich rufe an.« Dann war die Leitung tot. Er legte den Hörer auf und starrte ihn einige Sekunden lang an. War irgendetwas schief gegangen? Im Fahrstuhlschacht war es dunkel. Deshalb hatte Aiden ihre große Taschenlampe auf einer Metallstrebe abgelegt. Sie trug Handschuhe und hatte eine Packung Beweismittelbeutel griffbereit an ihrer Seite. In dem Schacht war nicht so viel Müll, wie sie befürchtet hatte, aber es war immer noch genug, um ihr die Arbeit zu vermiesen. Es war eine Herausforderung. Sie fand zerknittertes Zeitungspapier aus den Fünfzigern. Auf einer abgerissenen Seite las sie das Wort »Ike«. Sie wühlte sich durch vergammelte Briefumschläge, deren Absender und Empfänger ihr unbekannt waren. Sie fand eine Verpackung von einem Baby-Ruth-Schokoriegel, eine Reihe Schrauben, Reißnägel und andere Metallgegenstände. Unter einem nicht identifizierbaren Haufen feuchten Unrats fand sie zwei tote Ratten. Eine der Ratten war schon lange tot, und man sah ihr Skelett, die andere war frischeren Datums und höchst übel riechend.
Sie wühlte fünfundvierzig Minuten dort herum und beendete ihre Suche mit einem ausgetrockneten, in Aluminiumfolie gewickelten Kondom. So viel zu Appartementgebäuden zu finden. Das wusste sie nun so sicher, wie sie wusste, dass sie eine Dusche brauchte. Sie machte sich daran, aus dem Schacht zurück in den Keller zu klettern. Als sie ein Knie bereits auf dem Betonboden hatte, sah sie sich noch einmal um und leuchtete mit ihrer Taschenlampe die Ecken aus. Sie schaute zu dem Boden des über ihr hängenden Fahrstuhls, den sie außer Betrieb gesetzt hatte, ehe sie heruntergeklettert war – und dann sah sie es plötzlich. Das Projektil oder das, was davon übrig war, lag dunkel und schwer auf einer Metallstützstrebe. Es war gar nicht bis zum Boden des Schachts gefallen. Aiden kletterte mit einer Pinzette und einem Kunststoffbeutel wieder zurück in den Schacht, schoss drei Fotos und sicherte die Beweismittel.
9
Hawkes blickte auf Colliers Leichnam hinunter. Mac und Stella standen neben ihm. »Der Mörder war größer als das Opfer«, sagte Hawkes. »Seht euch die Blutergüsse an.« Er deutete auf den Hals des Toten. »Er wurde erst zurück und dann nach oben gerissen, um die Hebelwirkung zu verstärken. Die Blutergüsse fangen am Adamsapfel an und führen nach oben. So etwa.« Hawkes stellte sich hinter Mac und zeigte ihm, was er meinte. Mac fühlte, wie Hawkes’ Arm ihn umfasste und sich locker aufwärts bewegte. »Vermutlich hat er das Opfer einfach hochgehoben.« Hawkes trat zurück und sah erneut den Leichnam an. »Der Tote wiegt fünfundneunzig Kilo und ist ein Meter siebenundachtzig groß«, erklärte er weiter. »Euer Mörder ist mindestens ein Meter sechsundneunzig, vielleicht ein Meter achtundneunzig oder sogar zwei Meter groß und sehr stark. Der hat nicht lang gefackelt. Er hat dem Opfer von hinten einfach einen Arm um den Hals gelegt und ihm mit einem kräftigen Ruck das Genick gebrochen. Ein Kampf hat gar nicht stattgefunden.« »Und?«, fragte Stella. »Der Mörder ist Rechtshänder«, sagte Hawkes. »Der überwiegende Teil der Quetschungen an der Speiseröhre des Opfers befindet sich auf der rechten Seite.« »Wenn wir also einen linkshändigen Riesen finden, ist der unschuldig«, sagte Mac mit ausdrucksloser Miene.
»Linkshändige Riesen kommen nicht infrage«, bestätigte Hawkes. »Er hat das schon öfter gemacht«, sagte Stella. »Dann wusste er genau, was er tat«, sagte Hawkes. »Mögt ihr übrigens Opern?« »Hab nie eine gesehen«, sagte Stella. Im Gegensatz zu Mac. Seine Frau hatte die Oper geliebt. Und Mac hatte sich an die fremdartigen, albernen Geschichten gewöhnt, an die übertriebene Darstellung und die mehr oder weniger pompöse Ausstattung. Vor allem hatte er gern zugesehen, wenn Claire sich für einen großen Abend zurechtmachte. Sie hatte stets voller Vorfreude gelächelt. Und Mac lernte, die Musik und den Gesang zu lieben. »Ich habe zwei Karten für die morgige Don-GiovanniAufführung«, sagte Hawkes. »Donatelli aus der Mordkommission hat sie mir gegeben. Er hat einen Cousin, der im Chor singt. Aber seine Frau hat Grippe, und er sagt, er sei ihr irgendwas schuldig.« »Gehst du nicht hin?«, fragte Stella. »Ich ziehe CDs vor. Willst du es dir ansehen?« »Nein, danke«, sagte Stella. »Mac?«, fragte Hawkes. Mac dachte nach und sah Stella an. Ihre Wangen waren gerötet, aber unter der OP-Lampe war schwer zu erkennen, ob sie wirklich rot waren. Ihre Augen waren ein wenig glasig, und er hatte den Eindruck, dass sie etwas wacklig auf den Beinen stand. »Nimm sie«, sagte Stella. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er. »Nur eine Erkältung.« Mac streckte die Hand aus, und Hawkes zog zwei Karten aus seiner Tasche. Mac sah sie an. Gute Plätze, Orchester. »Danke«, sagte er und steckte sie ein.
Auf dem Korridor in dem kalten, grauen Licht, das durch die Fenster fiel, fragte Stella: »Magst du Opern wirklich? Weißt du, du musst die Karten nicht nehmen.« Beinahe hätte er gesagt: »Wir haben sie sehr gemocht.« Aber dann besann er sich schließlich eines Besseren und sagte stattdessen: »Kommt auf die Oper an. Don Giovanni sehe ich mir sehr gerne an.« Die C.S.I.-Ermittler machten sich auf den Weg ins Labor. Danny Messer stand vor einem großen Tisch, auf dem eine sechzig Zentimeter lange Stahlkette lag. »Wo fangen wir an?«, fragte er und schaute zu Stella und Mac. Mac deutete mit dem Kinn auf die Kette. »Gut«, sagte Danny. »Standardausführung. Auf manchen Gliedern sind kleine Nummern, die einen Hinweis auf den Hersteller geben. Eines steht fest: Diese Kette passt zu den Spuren, die wir in dem Hotelzimmer gefunden haben. Ich habe den Hersteller angerufen. Sie garantieren, dass die Kette fünfundvierzig Kilo trägt. Die Frau, mit der ich gesprochen habe, sagt, wenn mehr als fünfundvierzig Kilo an der Kette hängen, würden vermutlich ein oder mehrere Glieder reißen.« »Colliers Klamotten?«, fragte Mac. Danny lächelte und ging zum Mikroskop. Neben dem Mikroskop lagen ordentlich nummerierte Objektträger. Danny legte einen davon unter das Mikroskop, stellte es scharf und trat zurück. »Ich habe die weiß-braunen Flecken untersucht«, sagte er. »Mehl. Nur auf der Rückseite der Jacke.« Stella schaute sich die Substanz auf dem Objektträger durch das Mikroskop an. »Colliers Leiche wurde also in einem Fahrzeug transportiert, in dem Mehl war«, stellte Mac fest. »Jedenfalls ist die Jacke von hinten beinahe vollständig mit einer dünnen Schicht Mehl überzogen«, sagte Danny.
»In dem Mehl sind Insektenteile«, sagte Stella und blickte vom Mikroskop auf. »In den anderen Proben auch?« »Yep«, machte Danny. »Die Federal Drug Administration erlaubt einen bestimmten Anteil davon in jedem Mehl, das die Bäckereien benutzen«, erklärte Mac. »Ich werde daran denken, wenn ich mir später ein Sandwich zum Abendessen bestelle«, sagte Danny. »Vielleicht überlege ich es mir aber noch einmal.« Stella trat zur Seite, und Mac sah durch das Mikroskop. »Die Insekten unterscheiden sich von Bäckerei zu Bäckerei.« »Und«, fügte Danny hinzu, »das Mehl hat jeweils unterschiedliche Zusätze. Ich bin gerade dabei, den Hersteller von diesem Mehl hier zu ermitteln und mir eine Kundenliste geben zu lassen. Dann können wir mithilfe des Mehls ermitteln, mit welcher Bäckerei wir es zu tun haben.« »Vielleicht …« Stella zögerte. »Vielleicht?«, fragte Danny. »Vielleicht fängst du am besten mit Marco’s Bakery an«, beendete Stella ihren Satz. Sie alle wussten, warum. Der Fingerabdruck in dem Hotelzimmer über Alberta Spanios Schlafzimmer stammte von Steven Guista – und das war ein großer Mann mit einem langen Vorstrafenregister, der als Fahrer für Marco’s Bakery arbeitete. Einer Bäckerei, die Dario Marco gehörte, dem Bruder jenes Mannes, gegen den Alberta Spanio hätte aussagen sollen. »Hat Flack sich gemeldet?«, fragte Mac. »Noch nicht«, sagte Danny. »Er wartet in Guistas Wohnung. Richter Familia hat einen Haftbefehl ausgestellt.« Mac sah Stella besorgt an, die ein Schniefen unterdrücken musste. »Ich hole meine Ausrüstung«, sagte sie.
Sie würden zwanzig Minuten brauchen, um Guistas Wohnung zu erreichen. Zwanzig Minuten, in denen eine Menge passieren konnte. Don Flack durchsuchte Guistas kleine Wohnung sorgfältig und lauschte dabei auf Schritte im Hausflur. Hier hätte ebenso gut ein Mönch wohnen können. In dem kleinen Wohnzimmer gleich hinter der Tür zum Korridor stand ein fleckiger grüner Lehnsessel. Das schmutzige Möbelstück wies eine tiefe Mulde auf. Es war höchstwahrscheinlich der Platz, auf dem Guista den größten Teil seines Lebens zubrachte. Eine traurige Vorstellung. Ein Farbfernseher der Marke Zenith stand auf einer alten Kommode mit drei Schubladen, die wiederum direkt vor dem Sessel stand. Auf der Armlehne des Sessels lag eine Fernbedienung. In der Küche stand ein Resopaltisch mit Aluminiumbeinen und drei passenden Stühlen mit Sitzflächen und Lehnen aus blauem Plastik. Außerdem registrierte Flack einen fast leeren Kühlschrank und einen Geschirrschrank. In dem Geschirrschrank gab es drei Tassen, vier Teller und ein paar Gläser. Unter der Spüle standen ein Topf und eine angeschlagene, teflonbeschichtete Pfanne. Das Schlafzimmer war winzig. Ein großes, sauber bezogenes Bett mit einer grünen Decke und vier Kissen füllte den größten Teil des Raums aus. Es gab keine Bücher oder Zeitschriften auf dem Nachttisch. An der Wand am Fuß des Bettes hing ein Bild, das drei grasende Pferde auf einer ausgedehnten, hügeligen Weide zeigte. In dem kleinen Bad stand eine alte, große Badewanne mit Klauenfüßen und Porzellanarmaturen. Was Flack in der Wohnung am meisten auffiel, war, dass sie makellos sauber war, beinahe antiseptisch – fast, als wäre sie unbewohnt. In den Schubladen und Schränken waren nicht vie-
le Kleidungsstücke zu finden. Guista schien eine Vorliebe für Grün zu haben, soweit es seine Socken und Hemden und einen Teil seiner Möbel betraf. Don ging zurück in den Wohn- und Küchenbereich und setzte sich auf einen der Stühle an dem Resopaltisch – der Tür zugewandt. Don war darauf vorbereitet, den Rest des Tages und die ganze Nacht in der kleinen Wohnung zu verbringen. Auf der anderen Seite des Korridors feierten Big Stevie und Lilly Geburtstag. Sie aßen zusammen und sahen die Wiederholung einer alten Schwarzweißfolge von Rauchende Colts, in der noch Dennis Weaver den Chester gespielt hatte. Stevie wollte bleiben. Er hatte für einen Tag genug getan, mehr als genug, und er hoffte, sein Einsatz würde auf Anerkennung stoßen. Er rechnete nicht mit einem Sonderbonus. Ein kleines Zeichen der Anerkennung würde vollkommen genügen. Dieser Tag war schließlich sein Geburtstag gewesen. Aber im Augenblick musste er nachdenken. Da war jemand in seiner Wohnung, ein Mann, und wartete auf ihn, durchsuchte seine sauber zusammengefalteten Kleider, seine gleichmäßig angeordneten Unterhosen, Hemden und Jacken, seine Kaffeetassen und Küchendosen und brachte vermutlich alles durcheinander. Big Stevie wusste, dass er verschwinden sollte, aber es fühlte sich richtig an, mit Lilly hier zu sitzen, den Rest des Kuchens zu essen und Orangen-Mandarinen-Saft zu trinken. Vermutlich war das ein Cop in seiner Wohnung. Aber so schnell konnten sie ihn nicht finden. Im Grunde rechnete er überhaupt nicht damit, entdeckt zu werden. Und doch waren sie hier. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Er versuchte, ihn zu verscheuchen, doch es ging nicht. Was, wenn es nicht die Cops waren? Was, wenn Mr Marco dachte, Big Stevie sollte abgelöst
werden? Was, wenn Mr Marco dachte, Big Stevie wäre allmählich zu alt für den Job? Nein, das konnte nicht sein. So was würde nicht passieren. Aber wer weiß …? Stevie musste in seine Wohnung gehen und es herausfinden. Er musste sich die paar Dinge schnappen, die ihm wichtig waren, er musste mit Marco sprechen und irgendwohin gehen – nach Detroit oder Boston vielleicht. Er kannte sich gut aus in Detroit und Boston. »Ich habe keine Angst«, sagte Lilly. »Was?« »Der Mann in der Scheune wird Marshall Dillon nicht töten«, erklärte sie. »Er könnte, aber wenn er Marshall Dillon töten würde, gäbe es keine neuen Folgen mehr, und wir wissen, dass es ganz viele davon gibt.« »Du bist ein kluges Mädchen«, sagte Stevie und berührte ihr Haar mit seiner breiten Hand. »Klüger als der klügste Durchschnittsbär«, sagte sie. Stevie verstand kein Wort. Die Folge von Rauchende Colts ging zu Ende, Marshall Dillon erschoss den Bösen in der Scheune. Stevie stand auf. Er musste sich vergewissern. »Du bleibst hier«, sagte er zu Lilly. »Vielleicht wirst du Lärm auf dem Flur hören, aber du bleibst hier drin. Schließ die Tür hinter mir ab.« »Musst du schon gehen?« »Geschäfte«, sagte er. »Der Mann in deiner Wohnung?«, fragte sie. »Ja.« »Kommst du zurück, wenn du mit ihm fertig bist?« »Heute nicht.« Er steckte die Hand in die Tasche und zog den bemalten Hund hervor, den sie für ihn gemacht hatte. »Danke«, sagte er und hielt ihn hoch.
»Magst du ihn wirklich?« »Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe«, sagte er und steckte den Hund wieder in die Tasche. Er drehte den Fernseher leiser, ging zur Tür und öffnete sie leise. Lilly sah ihm zu. »Abschließen«, flüsterte er. Sie nickte, folgte ihm zur Tür und schloss hinter ihm ab. Im Korridor blieb Stevie einige Sekunden lang stehen, ehe er sich leise zu seiner Wohnungstür schlich. Hatte der Mann in seiner Wohnung die Tür abgeschlossen? Vermutlich. Sicher wollte er hören, wenn Stevie seinen Schlüssel in das Schloss steckte und ihn herumdrehte, und genau deshalb warf sich Stevie höchstpersönlich gegen die Tür. Don hätte vorbereitet sein müssen, aber der große Mann, der mit der geborstenen Tür in die Wohnung geflogen kam und sich auf ihn stürzte, bewegte sich so schnell, dass der Detective keine Chance hatte, seine Waffe zu ziehen. Er versuchte, von seinem Stuhl aufzustehen, aber der große Mann stürmte auf ihn zu und landete mit seinem ganzen Gewicht auf Don. Beide stürzten zu Boden. »Polizei«, keuchte Don. Der große Mann lag auf dem Detective, dem sich zu allem Unglück auch noch ein Metallbein des Stuhls in den Rücken bohrte. Stevie war erleichtert. Also hatte Marco niemanden geschickt, um ihn umzubringen. Mit der Polizei würde Stevie fertig werden. Das tat er schon sein ganzes Leben lang. Anthony Korncoff, der die Hälfte seines Lebens in der Zelle zugebracht hatte, hatte gesagt, Stevies mangelnde Intelligenz sicherte ihm das Überleben. »Du bestehst nur aus animalischen Instinkten«, hatte Korncoff gesagt.
Stevie hatte das als Kompliment verstanden. Er hielt eben alles gern einfach. Er musste. Stevie konnte keine Lügen erzählen, und tat er es doch, so konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen, weil er nicht mehr wusste, was er gesagt hatte. Er ließ sich besser auf nichts ein. Auch jetzt nicht. »Was wollen Sie?«, fragte er. »Gehen Sie von mir runter, und beantworten Sie mir ein paar Fragen«, sagte Don, während er sich bemühte, den Schmerz zu ignorieren. »Fragen? Worüber?« Der Detective zögerte. Dieser Mann, der Don am Boden festhielt, hatte wenige Stunden zuvor höchstwahrscheinlich Cliff Collier ermordet. Unzweifelhaft hatte er auch etwas mit dem Mord an Alberta Spanio zu tun. Dieser große Mann würde Don vielleicht ermorden, wenn er irgendetwas preisgab. »Lassen Sie mich erst mal Luft schnappen«, keuchte Don. Steve dachte nach und ließ von ihm ab. Das war ein Fehler. Don griff nach seiner Waffe und zog sie aus dem Holster. Im gleichen Moment legten sich Stevies Finger um seinen Hals. Don fühlte, wie sich die dicken Daumen in seine Haut gruben, gleichmäßig und schnell. Er schoss. Er war nicht sicher, wohin die Waffe zielte. Er hoffte nur, dass sie auf Stevie Guista gerichtet war. Stevie grunzte, und der Druck seiner Daumen lockerte sich ein wenig. Don schlug dem großen Mann den Lauf seiner Waffe auf die Nase. Mit wackeligen Beinen erhob sich Stevie. Blut floss aus dem fleischigen Oberschenkel seines linken Beins und aus seiner gebrochenen Nase. Don rutschte hastig auf dem Boden nach hinten. Er wollte den Mann immer noch verhaften, aber er würde kein Risiko mehr eingehen. Er zögerte. In dem Augenblick stieß Big Stevie mit dem Fuß gegen die Waffe in seiner Hand, sodass sie in einem hohen Bo-
gen durch die Luft flog und klappernd in der Küchenspüle landete. Stevie musste nun eine Wahl treffen. Das war jetzt lebensnotwendig. Ein Schuss war gefallen. Jemand könnte ihn gehört haben. Sollte er den Polizisten töten? Hatte er genug Kraft, ihn zu töten? Würde das den Schmerz verschlimmern? Und was hatte er davon, wenn er noch einen Cop umbrachte? Es gab keine Wahl. Stevie stampfte durch die offene Tür hinaus in den Korridor. Hinter sich konnte er hören, wie der Cop versuchte, sich aufzurichten. Es schien ihm große Mühe zu bereiten. Die Tür der Wohnung gegenüber wurde geöffnet. Lilly stand auf der Schwelle und sah ihn an. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Geh wieder rein. Und schließ die Tür ab.« »Du bist verletzt«, sagte sie und zeigte auf die Wunde in seinem Bein. Sie fing an zu weinen. Er sah sich zu seiner Wohnung um und hörte, wie Don darum kämpfte, aufzustehen. »Um mich hat noch nie jemand geweint«, sagte er. Er lächelte unter dem Blut, das sein Gesicht bedeckte, und seine Zähne färbten sich rot. Hastig stolperte Stevie den Gang hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen. Seine Hand tastete nach dem bemalten Hund in seiner Tasche. Er umfasste ihn fest, aber nicht so fest, dass er hätte zerbrechen können. Mac und Stella verpassten Stevie um höchstens drei Minuten. Sie sahen das Blut auf der Treppe, als sie die Stufen hochstiegen. Sie wussten nicht, wessen Blut das war, aber sie konnten erkennen, dass, wer immer hier geblutet hatte, die Treppe hin-
unter- und nicht hinaufgegangen war. Sie verfolgten die Blutstropfen zurück zu Stevies Wohnung. Als sie in der offenen Tür standen, hatte Mac bereits seine Waffe gezogen. Was sie jedoch sahen, war ein am Boden liegender Don Flack mit einem schmerzverzerrten Gesicht und ein kleines Mädchen, das neben ihm kniete. »Eine oder zwei Rippen sind wohl gebrochen, schätze ich«, sagte Flack. »Guista kann noch nicht weit gekommen sein. Ist nur ein paar Minuten her. Hab auf ihn geschossen.« Stella blieb bei dem verwundeten Flack, während Mac sich umdrehte und den Blutstropfen folgte. Die Frau, groß, hübsch, kurzes platinblondes Haar, vermutlich Mitte vierzig, trug ein graues Kostüm, eine weiße Bluse und eine Kette aus falschen Perlen. Inmitten der Bäckerei erweckte sie den Eindruck von Klasse. Aus der Backstube jenseits der Doppeltüren am Ende des Korridors hörte man leise Stimmen. Danny wollte seine Brille richten, hielt sich aber zurück. Irgendwie glaubte er, die Bewegung könne die Frau alarmieren. »Weshalb wollen Sie mit Mr Marco sprechen?«, fragte sie und sah den uniformierten Officer hinter Danny an. Der Officer war breitschultrig, dunkelhäutig und erfahren. Sein Name lautete Tom Martin. Er begegnete dem Blick der Frau ohne das kleinste Blinzeln. Eine der ersten Lektionen, die er vor einundzwanzig Jahren in der Akademie gelernt hatte, war, dass man, wenn man eine harte Nuss vor sich hatte, niemals blinzeln darf. Wörtlich und im übertragenen Sinne. Sein Ausbilder, ein erfahrener und vielfach ausgezeichneter Mann, hatte vorgeschlagen, sich die Augen von Filmstars anzusehen. »Charlton Heston, Charles Bronson«, hatte der Ausbilder gesagt. »Die blinzeln nicht. Das ist ein Teil ihres Geheimnisses. Macht es zu einem Teil eures Geheimnisses.«
Martin wusste, wo sie waren und warum. Sie rechneten nicht mit Schwierigkeiten, aber er hatte schon mehr als einmal scheinbar harmlose Türen geöffnet und sich unversehens in einem Horrorszenario wiedergefunden. So war er an die rosarote Narbe an seinem Kinn gekommen – und an eine Menge Erfahrungen. »Mr Marco ist beschäftigt«, sagte die Frau, die sich nicht vorgestellt hatte. »Ich möchte nur einen Blick in die Backstube werfen und ein paar Fragen stellen«, erklärte Danny. »Ich kann Ihre Fragen beantworten«, entgegnete sie. »Ist Steven Guista hier?« »Er hat heute und morgen frei. Sein Geburtstag. Mr Marco kennt die Geburtstage aller Leute, die ihm gegenüber loyal sind.« Danny nickte. »Ist sein Lieferwagen hier?« »Nein«, erwiderte sie. »Mr Marco hat ihm den Wagen überlassen, damit er Sachen für seinen Geburtstag transportieren kann. Sie haben die Wahl. Das überlasse ich ganz Ihnen.« »Einen Laster?«, fragte Danny. »Einen kleinen Lieferwagen«, korrigierte sie ihn. »Ich möchte jetzt die Backstube und Mr Marco sehen«, verkündete Danny. »Oder ich komme mit einem Durchsuchungsbefehl zurück.« »Es tut mir Leid, aber …«, fing sie an. »Sie verkaufen Brot?« »Das ist unser Geschäft.« »Dann hätte ich gern einen frischen Laib«, sagte Danny. Sie drehte den Kopf leicht zur Seite und überlegte, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. »Welche Sorte?«, fragte sie schließlich. »Was immer Guista ausliefert.«
»Wir haben acht verschiedene Brotsorten«, sagte sie. »Einen Laib von jeder Sorte«, sagte Danny. »Ich zahle auch dafür.« »Warten Sie hier.« Die Frau eilte den Korridor hinunter zur Backstube. Ihre flachen Absätze klapperten auf den ausgetretenen Bodenplatten. Die Bürotür befand sich links von den beiden Männern. Dario Marcos Name stand in goldenen Lettern auf der Vorderseite. Danny sah Martin an – der nickte und öffnete die Tür. Die beiden Männer gingen hinein und fanden sich in einem kleinen holzgetäfelten Vorzimmer wieder. Auf einem Schreibtisch stand ein Namensschild: Helen Grandfield. Jenseits des Schreibtischs war eine weitere Tür. Hinter der Tür erklang die Stimme eines Mannes. Danny und Martin gingen hin und klopften. Danny öffnete die Tür, ohne eine Reaktion abzuwarten. Dario Marco trug eine graue Hose und ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf offen war. Er stand vor seinem Schreibtisch und telefonierte, als sich ihm die beiden Männer in den Weg stellten. Verdutzt starrte er sie einen Augenblick lang an, dann legte er auf und schaute verärgert in ihre Richtung. »Ich erinnere mich nicht, Sie hereingebeten zu haben«, sagte er. Er war Anfang sechzig, schlank, und sein Haar war unzweifelhaft gefärbt. Vermutlich hatte er als junger Mann auf eine geheimnisvolle Weise gut ausgesehen, aber nun war er alt und seine Züge waren schlaff geworden. Was auch immer er mit seinem Leben angestellt hatte, es lastete schwer auf seinen Schultern. »Tut mir Leid«, fing Danny an. »Was wollen Sie?« »Wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihrem Bruder gesprochen?«, fragte Danny.
Marco schaute dem Polizisten in die Augen, doch der hielt dem Blick stand und gewann das Kräftemessen. Er war besser ausgebildet. Marco blinzelte, drehte sich zu Danny um und musterte den C.S.I.-Ermittler in einer Weise, die zum Ausdruck bringen sollte, dass er keineswegs beeindruckt war. »Welchen?« »Anthony.« Marco schüttelte den Kopf. »Anthony ist das schwarze Schaf in der Familie. Wir reden nicht miteinander. Ich habe ihn nicht einmal im Gefängnis besucht.« Der Blick, mit dem er Danny ansah, war eine glatte Herausforderung. Alle wussten, dass es zahlreiche Möglichkeiten gab, um jemanden im Knast zu kontaktieren. »Überprüfen Sie seine Telefonate und die Besucherlisten«, schlug Dario vor. »Das haben wir bereits«, sagte Danny. »Was wollen Sie dann noch?« »Steven Guista.« »Der ist nicht hier. Sein Geburtstag. Ich habe ihm zwei Tage freigegeben. Seit dieser Low-Carb-Diät-Mist angefangen hat, musste ich sieben Bäcker entlassen und die Produktion um die Hälfte runterfahren. Brot ist plötzlich an allem Schuld. Können Sie sich das vorstellen? Was wollen Sie von Stevie? Hat er was angestellt?« »Wir würden gern selbst mit ihm reden und einen Blick in seinen Lieferwagen werfen«, erklärte Danny. »Mit dem ist er unterwegs.« »Ich weiß. Das hat uns Ihre Sekretärin schon erzählt.« »Helen ist meine Assistentin«, korrigierte Marco. In dem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und die Frau kam mit einer großen weißen Papiertüte in das Zimmer. »Es tut mir Leid«, sagte sie zu Marco.
Zerknirscht klang sie allerdings nicht. Marco zuckte nur mit den Schultern. Sie reichte Danny die Tüte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern selbst in die Backstube gehen und mir mein Brot aussuchen«, sagte er. »Denken Sie, ich habe mich rausgeschlichen und es auf der Straße gekauft?«, fragte sie. Danny zuckte mit den Schultern und konnte dem Bedürfnis, seine Brille zurechtzurücken, nicht länger widerstehen. »Schon gut«, sagte Marco. »Zeig den Herren die Backstube, und dann zeigst du ihnen den Ausgang.« An Danny gerichtet sagte er: »Keine Fragen mehr. Wenn Sie noch einmal herkommen wollen, dann besorgen Sie sich eine richterliche Anordnung.« Helen Grandfield führte die beiden Männer zur Tür hinaus. Sie folgten ihr den Korridor hinunter in die Backstube. Der Geruch des frischen Brotes war angenehm und wohltuend. »Nehmen Sie sich, was Sie wollen«, sagte Helen, als etwa ein Dutzend Bäcker und Bäckergehilfen in weißen Schürzen und weißen Papiermützen aufblickten und sie beobachteten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Danny stellte die Papiertüte, die er von Helen bekommen hatte, auf den Boden ab und begann damit, verschiedene Brötchen und Brote zusammenzusuchen und sie in einer neuen Papiertüte zu verstauen. Danach wischte er etwas Mehl von einem Backtisch, auf dem meterweise der Brotteig lag, und ließ es ebenfalls in eine frische Tüte rieseln. »Danke«, sagte er und reichte Martin seinen Koffer. Er selbst griff nach den Papiertüten. Der C.S.I.-Ermittler hielt die Tüten mit seinen Fingerspitzen am oberen Rand fest. Danny Messer achtete darauf, Helen Grandfields Fingerabdrücke nicht zu verwischen. »War das alles?«, fragte sie. »Das war alles«, bestätigte Danny.
Mit Martin an seiner Seite ging er zum Ausgang der Backstube. Helen Grandfield folgte ihnen nicht. Auf dem Weg hinaus musterte Danny automatisch die Wände und den Boden – er lauschte und schnüffelte. Sie waren den Korridor bereits einige Meter entlanggegangen, als Danny plötzlich stehen blieb und zu Boden sah. Martin beobachtete ihn, wie er in die Hocke ging. Da waren zwei dunkle Linien zu erkennen, etwa dreißig Zentimeter lang und fünfzehn Zentimeter voneinander entfernt. Danny öffnete seinen Koffer und machte Fotos von den Spuren, ehe er vorsichtig einige Partikel von dem Boden aufhob und in einen Beweismittelbeutel fallen ließ. Als er beinahe fertig war, wurde die Backstubentür am anderen Ende des Korridors geöffnet. Danny und Martin sahen sich um und erblickten Helen Grandfield. Aus der Ferne sah sie Danny direkt in die Augen. Ihm machte es nichts aus, als Erster zu blinzeln. Es ging nicht darum, die Gegnerin niederzustarren. Seine Gedanken drehten sich um die dunklen Schmierspuren am Boden, bei denen es sich vielleicht, aber nur vielleicht, um die Hinterlassenschaften eines Schuhabsatzes handeln konnte.
10
Mac war gerade rechtzeitig wieder auf der Straße, um zu sehen, wie ein kleiner weißer Lieferwagen mit der Aufschrift Marco’s Bakery aus einer Ladezone eines Feinkostgeschäfts herausgefahren kam. Obwohl er beinahe auf dem Schnee ausgerutscht wäre, erreichte er die Ladezone noch früh genug, um zu beobachten, wie der weiße Lieferwagen an der nächsten Ecke, etwa hundert Meter entfernt, schlingernd nach rechts abbog. Während er dem Wagen nachsah, war Stella zu ihm gestoßen. Beide Ermittler wussten, dass es sich nicht lohnen würde, die Verfolgung aufzunehmen. Bis sie in ihrem Wagen säßen, wäre Guista längst verschwunden. Mac ging zu dem Platz, an dem der Transporter geparkt hatte und begann mit der Arbeit. Dort, wo die Fahrertür gewesen sein musste, fand er einen Blutfleck so groß wie ein Handballen. Guista blutete stärker. Die Rennerei zu seinem Wagen hatte sich negativ auf seine Verwundung ausgewirkt. Stella, die für Notfälle immer eine Ausrüstung parat hatte, kniete sich neben den Blutfleck und nahm mit einem Tupfer eine Probe. Danach versiegelte sie ihn in einem Plastikbeutel und wiederholte den Vorgang nochmals. Ein paar Passanten blieben stehen, um zu sehen, was da los war, aber niemand blieb länger stehen als ein paar Sekunden. Es war wieder einmal, wie so oft in New York, einfach zu kalt.
»Und jetzt?«, fragte Stella. Als sie sich erhob, bemühte sie sich, sich die Schmerzen in Armen und Beinen nicht anmerken zu lassen. »Wir rufen die Krankenhäuser an«, sagte Mac, als ein Wagen mit nicht zugelassenen Schneeketten an ihnen vorbeiratterte. »Und wir rufen den Lieferwagen zur Fahndung aus.« »Er blutet ziemlich stark«, sagte Stella mit einem Blick auf das dunkelrote Blut. »Vielleicht schafft er es nicht mehr bis ins Krankenhaus.« »Vielleicht versucht er es auch gar nicht«, erwiderte Mac. »Wie geht es Flack?« »Gebrochene Rippen. Guista hat auf seinem Brustkorb gesessen. Aber er kommt wieder in Ordnung«, beruhigte ihn Stella. »Ich rufe jetzt einen Krankenwagen.« »Ich geh zu ihm«, entschied Mac. »Du fährst ins Labor, erledigst die Telefonanrufe, und ich …« Macs Telefon klingelte. Er zog es aus der Tasche und drückte auf den Verbindungsknopf. Stella eilte an ihm vorbei zu ihrem Wagen, den sie einen Block weiter geparkt hatte. »Ja«, sagte Mac. »Hab die Kugel im Schacht gefunden«, berichtete Aiden. »Du hattest Recht.« »Ich komme so schnell ich kann.« »Das ist nicht alles«, fuhr Aiden fort. »Danny hat etwas für dich, das du dir bestimmt anhören solltest.« »Sag ihm, ich komme so schnell wie möglich.« Als sie sich wieder sahen, waren mindestens zwei Stunden vergangen. Es war bereits kurz vor sieben. Aiden hatte immer noch nicht geduscht und zwei Tüten voller Brot und Brötchen aus Marco’s Bakery standen unberührt auf dem Tisch. Im Krankenhaus wurde Flack geröntgt und mit einem Verband um seine Rippen versorgt. Mac, der ihn begleitet hatte,
ging währenddessen in ein nahe gelegenes griechisches Restaurant und bestellte für sich und sein Team Gyros. Außer Stella, die bloß an einem Pitabrot nagte, aßen alle mit großem Appetit. »Die Absatzspuren im Korridor der Bäckerei stammen definitiv von Colliers Schuhen.« Danny war der Erste, der von dem aktuellen Ermittlungsstand berichtete. »Ich habe es überprüft. Er muss in der Bäckerei umgebracht worden sein.« Die gemeinsame Lagebesprechung wurde fortgeführt. Mac warf Aiden einen auffordernden Blick zu. Sie erwiderte ihn und sagte: »Die Kugel, die Lutnikov getötet hat, war eine ‚22 er.« »Louisa hat eine ‚22er«, sagte Mac. »Aber aus der wurde nicht geschossen«, erinnerte ihn Aiden. »Vielleicht hat sie noch eine«, sagte Mac. »Oder sie hat die Waffe, aus der geschossen wurde, verschwinden lassen und durch die ersetzt, die sie uns gezeigt hat.« »Um sich von dem Verdacht zu befreien?« »Sie ist immerhin Krimiautorin.« »Wir hätten die Registrierung der Waffe überprüfen sollen, die sie uns gezeigt hat«, sagte Aiden. »Haben wir genug für einen Durchsuchungsbefehl?« »Nein«, antwortete Mac. »Sind dir Louisa Cormiers Hände aufgefallen, als wir mit ihr gesprochen haben?« »Sauber.« »Sauber geschrubbt«, korrigierte Mac. »Ihre Hände waren rot. Warum?« Mac sah sich um und wartete. »Erinnert an Lady Macbeth«, meinte Danny. »Schmauchspuren«, wusste Stella. »Sie hat Angst, dass wir etwas finden könnten.« Mac, der von Aiden einen Bericht über Schussrückstände erhalten hatte, erzählte Stella und Danny, worum es dabei ging.
Bei der Entladung einer Feuerwaffe werden Gase freigesetzt, die Rückstände auf der Hand und den Kleidern des Schützen zurücklassen – vorwiegend Blei, Barium und Antimon. »Sie kann nicht alles weggewaschen haben«, erklärte Aiden. Die C.S.I.-Ermittler mussten Proben von Louisa Cormiers Haut beschaffen, um sie mithilfe einer Atomabsorptionsspektrometrie analysieren zu können. »Vielleicht weiß sie gar nicht, dass sie es nicht vollständig abwaschen kann«, sagte Mac. »Sie schaut einfach ins Internet, liest dort die üblichen Informationen, und schrubbt ihre Hände. Vermutlich verbrennt sie auch noch sämtliche Kleidungsstücke, die sie zum Zeitpunkt des Mordes getragen hat.« »Und weiter?«, fragte Danny. »Können wir sie zwingen, ihre Hand mit einem Hautwiderstandsmessgerät untersuchen zu lassen?« »Nicht mit den Beweisen, die wir bisher haben«, sagte Aiden. »Aber wir könnten ihr Angst einjagen, damit sie einen Fehler begeht.« »Wie?« »Wir belügen sie«, schlug Aiden vor. »Mac ist der beste Lügner, den ich kenne.« »Danke«, entgegnete Mac. »Dann werde ich das gleich morgen Früh mal ausprobieren. Gibt es etwas Neues von Guista?« »Bis jetzt nicht«, sagte Stella. »Wie geht es Don?«, erkundigte sich Danny. »Er hat das Krankenhaus verlassen«, sagte Mac. »Der Arzt hat ihm gesagt, er solle nach Hause gehen, und hat ihm Schmerzmittel gegeben. Vermutlich liegt er inzwischen in seinem Bett.« Aber da irrte sich Mac.
Don Flack kämpfte gegen das Zittern, während er vor einem Haus in Flushing, Queens, stand und auf den Klingelknopf drückte. Es war nach neun. Die langsam aufziehende Nacht ließ die Temperatur auf minus zwanzig Grad fallen und alles schien zu erstarren. Im Haus brannte Licht. Er klingelte erneut und bemühte sich, nicht zu tief einzuatmen. Der Arzt, der ihm den Verband angelegt hatte, Dr. Singh, hatte ihm gesagt, er solle eine der Hydrocodeintabletten schlucken und ins Bett gehen. Don hatte nur einen Teil des Rates in die Tat umgesetzt. Er hatte eine Tablette genommen, bevor er das Krankenhaus verlassen hatte. Mehr nicht. Die Tür wurde geöffnet. Die Wärme des Hauses strömte ihm entgegen, und er sah sich einem hübschen brünetten Mädchen im Teenageralter gegenüber, das ein Buch in der Hand hielt. »Ja?«, fragte sie. »Ist Mr Taxx zu Hause?« »Ja«, sagte das Mädchen. »Ich hole ihn. Kommen Sie rein.« Flack trat ein und schloss die Tür hinter sich zu. »Alles in Ordnung?«, fragte ihn das Mädchen. »Alles bestens«, gab er zurück. Sie nickte, ging den Korridor entlang, bog nach rechts in einen Raum und rief: »Dad, da ist jemand, der dich sprechen will.« Kaum einen Moment später war das Mädchen schon wieder da. Die Wärme des Hauses, der stechende Schmerz und das Hydrocodein machten dem Detective zu schaffen. Er spürte, dass er ein wenig schwankte. »Sind Sie krank?«, fragte das Mädchen. »Mir geht es gut«, log er. Ed Taxx kam aus dem Zimmer heraus, in dem das Mädchen Sekunden vorher verschwunden war. Er trug Jeans mit hoch-
gekrempelten Hosenumschlägen und ein New-York-JetsSweatshirt. »Flack, alles in Ordnung?« »Bestens. Können wir uns unterhalten?« »Sicher«, sagte Taxx. »Kommen Sie rein. Möchten Sie Kaffee, Tee, irgendwas?« »Kaffee«, sagte Flack, der, als er ihm folgte, mühsam ein Zucken unterdrückte. »Kannst du Detective Flack eine Tasse Kaffee bringen?«, bat Flack das Mädchen. Das Mädchen nickte. »Sahne, Zucker, beides?«, fragte sie. »Schwarz«, sagte Flack, bevor das Mädchen verschwand. Taxx und er standen in einem kleinen, sauberen Wohnzimmer. Die Möbel waren nicht neu, aber hell, ordentlich, ein Raum für Frauen. Zwei Sofas, die beinahe zusammenpassten, standen einander gegenüber. Zwischen ihnen war ein niedriger grauer Tisch platziert, auf dem nebeneinander die neuesten Ausgaben von Entertainment Weekly und dem Smithsonian Magazine lagen. Taxx machte es sich auf einem der beiden Sofas bequem, Flack setzte sich ihm gegenüber. »Cliff Collier ist tot«, begann Flack das Gespräch. »Man hat mich angerufen«, sagte Taxx und schüttelte den Kopf. »Irgendwelche Hinweise auf den Mörder?« »Ich habe auf ihn geschossen. Aber er ist noch irgendwo da draußen. Er konnte entkommen.« »Ich kannte Collier nicht besonders gut«, sagte Taxx. »Nur dienstlich aus diesen zwei Nächten. Waren Sie ein Freund von ihm?« »Wir waren zusammen auf der Akademie«, erklärte Flack, bemüht, sich nicht zu rühren, denn er wusste genau, dass jede Bewegung zu einem neuen stechenden Schmerz in seiner Brust führen würde.
Das Mädchen kam mit zwei gelben Bechern und Korkuntersetzern zurück und stellte die Getränke vor den beiden Männern auf den Tisch. »Danke, Liebes.« Taxx lächelte seiner Tochter zu. »Ich gehe wieder in mein Zimmer«, sagte sie. »Es sei denn …« »Geh nur«, sagte Taxx. Das Mädchen sah sich noch einmal um und ging langsam aus dem Raum hinaus – vermutlich, so dachte Flack, in der Hoffnung, einen Teil des Gesprächs zwischen ihrem Vater und dem unerwarteten Besucher belauschen zu können. »Meine Frau ist bei Nachbarn zum Bridgespielen«, sagte Taxx. Dann schwiegen sie und tranken ihren Kaffee. »Haben Sie Probleme bekommen?«, fragte Flack. Taxx zuckte mit den Schultern. »Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Ich werde vermutlich einen Tadel kassieren, und da ich in etwa einem Jahr in den Ruhestand gehe, werde ich wohl nie mehr im Außendienst arbeiten dürfen. Ich kann nicht behaupten, dass mir das allzu viele Sorgen bereitet. Jemand muss nun mal die Verantwortung dafür übernehmen, dass wir unsere Hauptzeugin verloren haben.« Flack trank. Der Kaffee war heiß, aber nicht dampfend. »Ich schätze, die Medienleute werden behaupten, dass die Ermordung von Cliff darauf hindeutet, dass er in den Mord verwickelt war und daher zum Schweigen gebracht werden musste«, sagte Don. »Ich glaube nicht, dass das der Fall war.« Taxx trank einen Schluck Kaffee. »Ich kannte ihn zwar nicht so gut, aber ich war dort. Er hatte nichts mit dem Mord zu tun.« »Dann hat derjenige, der ihn ermordet hat, angenommen, Cliff hätte etwas gesehen«, sagte Flack. »Oder herausgefunden. Ich vermute, dass Cliff eigenmächtig eine Spur verfolgt hat und dabei ertappt worden ist.«
»Klingt nachvollziehbar«, sagte Taxx. »Wer es auch war, könnte jetzt hinter Ihnen her sein.« Taxx nickte und sagte: »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber ich wüsste nicht, warum.« Flack bat Taxx, die Geschehnisse im Hotel noch einmal mit ihm durchzugehen. »Ich habe es Ihnen doch schon erzählt«, sagte Taxx. »Wir haben an die Tür geklopft.« »Wir?« »Ich glaube, Collier war derjenige, der geklopft hat. Ich habe Albertas Namen gerufen. Keine Reaktion. Collier hat die Hand an die Tür gelegt und mich angesehen. Dann hat er mir ein Zeichen gegeben, seinem Beispiel zu folgen. Die Tür war kalt.« »Wessen Idee war es, die Tür aufzubrechen?« »Wir haben nicht darüber diskutiert. Wir haben es einfach getan. Als wir drin waren, ist Collier ins Badezimmer gelaufen und ich zum Bett.« »Warum ist er ins Badezimmer gegangen?« »Der Windzug kam von dort«, sagte Taxx. »Wir haben uns nur kurz abgestimmt. Mit einem Nicken oder so. Sie wissen, wie das geht, wenn man bei einem Einsatz ist.« »Ja«, gab Flack zu. »Warum ist er ins Badezimmer gegangen und Sie zu der Leiche?« Taxx hielt die Tasse Kaffee in der Hand. »Ich weiß es nicht. Es ist eben so gelaufen. Ich habe ihn ins Badezimmer rennen sehen, damit blieb für mich nur das Bett.« »Wie lange war er dort?« »Fünf, zehn Sekunden«, sagte Taxx. »Flack, was ist los mit Ihnen? Sie sehen …« »Der Kerl, der Cliff umgebracht hat, saß auf meinem Brustkorb und hat mir die Rippen gebrochen.« »Mussten Sie weit fahren, um herzukommen?«
»War nicht schlimm.« »Möchten Sie über Nacht hier bleiben?«, fragte Taxx. »Wir haben ein Gästezimmer.« »Nein, danke«, lehnte er ab. »Ich komme zurecht. Wie ist das abgelaufen, als Alberta Spanio in dieser Nacht ins Bett gegangen ist?« »Genauso wie in den Nächten vorher. Wir haben die Fenster überprüft, ob sie abgeschlossen waren.« »Wer hat das gemacht?« »Wir beide.« »Wer hat das Badezimmerfenster kontrolliert?« »Collier. Danach haben wir Alberta allein gelassen, und sie hat die Tür verriegelt. Wir haben gehört, wie das Schloss einrastete.« »Und in der Nacht gab es keine Geräusche?«, hakte Flack nach. »Aus ihrem Zimmer? Nein.« »Von irgendwoher?« »Nein.« »Vielleicht sollte man Ihr Haus unter Beobachtung stellen, bis wir den Kerl geschnappt haben, der Cliff ermordet hat.« »Ich bin bewaffnet«, sagte Taxx. »Und ich weiß, wie man eine Waffe benutzt.« »Möglicherweise sollten Sie sie bei sich tragen und nachts neben dem Bett aufbewahren.« Taxx zog sein Jets-Sweatshirt hoch, und darunter kam ein kleines Holster mit einer Waffe am Gürtel zum Vorschein. Dann ließ er das Sweatshirt wieder herunter. »Auf den Gedanken bin ich auch gekommen, als ich erfahren habe, was mit Collier passiert ist, aber bei meinem Leben, ich weiß nicht, was Collier oder ich gehört oder gesehen haben könnten, das Marco veranlassen könnte, uns einen Auftragskiller auf den Leib zu hetzen. Er muss doch wissen, dass, wenn
mir irgendetwas zustößt, die Zeitungen voll davon wären und man ihn fertig machen würde. Noch Kaffee?« »Nein, danke«, sagte Flack und erhob sich vorsichtig. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht hier übernachten wollen?« »Nein, danke«, wiederholte er. »Ganz, wie Sie meinen«, sagte Taxx und begleitete ihn zur Haustür. »Versuchen Sie zu überlegen, ob es irgendetwas gibt, das Sie übersehen oder vergessen haben könnten«, riet der Detective ihm. »Das habe ich bereits. Bin alles noch einmal durchgegangen, aber … Ich werde es weiter versuchen.« Taxx öffnete die Haustür. »Seien Sie vorsichtig da draußen.« Flack ging hinaus in die Nacht. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und schnitt ihn damit von dem letzten bisschen Wärme ab. Etwas stimmte nicht. Er wusste es. Er fühlte es. Nun würde er nach Hause fahren, vorsichtig, wohl wissend, dass der Schmerz gewonnen hatte – zumindest für den Augenblick, bis er zu Hause angekommen wäre und eine weitere Hydrocodeintablette genommen hätte. Am Morgen würde er mit Stella sprechen und sich erkundigen, ob sie inzwischen etwas Neues herausgefunden hatte. Was er sonst noch am Morgen tun würde, hing ganz davon ab, ob Stevie Guista bis dahin geschnappt worden war. Er stieg in seinen Wagen und griff in die Jackentasche. Die Bewegung jagte einen hämmernden Schmerz in seinen Brustkorb. Er zog ein Pillenfläschchen hervor und wollte es gerade öffnen, als er es sich anders überlegte. Der Heimweg kostete ihn beinahe zwei Stunden. Die Frau am Videomonitor der Überwachungsanlage für die Ampelkreuzungen des Wohnviertels hieß Molly Ives. Sie war untersetzt, schwarz, studierte tagsüber Jura – und war zudem
hellwach. Ihre Schicht, die Nachtschicht, hatte vor fünfzehn Minuten angefangen. Sie entdeckte den Transporter der Bäckerei vor einer roten Ampel an der Sechsundneunzigsten, Ecke Dritte. Sie war zunächst nicht sicher, ob es der Wagen war, auf den sie laut Anweisung achten sollte. Sie war es erst, als die Ampel auf Grün schaltete und sie auf der Rückseite den Schriftzug Marco’s Bakery erkennen konnte. Molly Ives benachrichtigte die Telefonzentrale des NYPD, welche einen Streifenwagen losschickte. Fünf Minuten später schnitt der Streifenwagen dem Transporter den Weg ab, und zwei Polizisten sprangen heraus. Mit den Waffen in den Händen näherten sie sich dem kleinen Lieferwagen, ein Officer auf jeder Seite. »Kommen Sie raus«, rief einer der Beamten. »Mit erhobenen Händen.« Die Tür des Lieferwagens wurde geöffnet, und der Fahrer kletterte langsam heraus. Big Stevie hatte die Blutung gestoppt. Er hatte bei laufender Heizung auf der Ladefläche seines Transporters gesessen, hatte sein T-Shirt ausgezogen und oberhalb seines rechten Knies auf die Wunde gepresst. Als er die Rückseite seines Beins abtastete, fand er eine Austrittswunde. Die blutete weniger, aber das Loch war größer. Knochen waren anscheinend nicht gebrochen. Er wickelte das T-Shirt fest um sein Bein. Den Lieferwagen würde er aufgeben müssen. Und er musste einen Arzt oder eine Krankenschwester aufsuchen. Wer konnte schon wissen, was in seinem Bein vorging? Womöglich hatte er innere Blutungen oder eine Embolie oder so was in der Art. Und er würde Geld brauchen, um aus der Stadt verschwinden zu können. Steven Guistas Not war groß, und er kannte nur einen Ort, an dem man sie lindern konnte.
Er fuhr weiter, dachte daran, die Brücke nach Manhattan zu nehmen, entschied sich aber dagegen und steuerte die Gegend an, in der er sich am besten auskannte. Die provisorische Bandage hielt einigermaßen, aber ein bisschen Blut sickerte immer noch durch. Er fuhr zu einem öffentlichen Münzsprecher, der vor einem Lebensmittelgeschäft stand, das vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. Hier hatte er schon ein paar Dutzend Mal gehalten. Er parkte den Wagen und humpelte zum Telefon. »Ich bin’s«, sagte er, als die Frau den Hörer abnahm. Er nannte ihr die Nummer des Telefons, von dem er sprach und legte auf. Zitternd und benommen stand er da und wartete. Die Frau rief nach zehn Minuten zurück. »Wo sind Sie?«, fragte sie. »Brooklyn«, sagte er. »Bin nach Hause gegangen, doch da hat ein Cop auf mich gewartet und geschossen.« Die Pause, die nun eintrat, hielt so lange vor, dass Stevie fragte: »Sind Sie noch da?« »Ja, ich bin noch da. Wie schlimm sind Sie verletzt?« »Bein«, sagte er. »Muss zum Arzt.« »Ich gebe Ihnen eine Adresse. Können Sie sich das merken?« »Hab keinen Stift bei mir.« »Dann wiederholen Sie sie leise für sich. Und lassen Sie den Wagen stehen. Nehmen Sie ein Taxi.« Sie nannte ihm den Namen einer Frau, Lynn Contranos, und die Adresse. Er wiederholte beides und sie bestätigte. »Ich rufe sie an und sage ihr, dass Sie kommen.« Die Frau legte auf. Stevie wühlte ein paar Münzen aus der Tasche hervor, rief die Auskunft an und ließ sich die Nummer eines Taxiunternehmens geben. Dann bestellte er einen Wagen und wartete. Währenddessen wiederholte er immer wieder den Namen der Frau, die er aufsuchen sollte: Lynn Contranos, Lynn Contranos …
Sein Geburtstag würde in wenigen Stunden vorbei sein, aber darüber wollte er nicht nachdenken. Stattdessen musste er sich zwingen, immer wieder den Namen der Frau zu wiederholen. Seine Hose klebte inzwischen an seinem Bein, und sein Blut gefror in der Kälte. Unentwegt wiederholte er sein Mantra, während er wartete. Er hatte nur einen einzigen Gedanken, er musste diese Frau aufsuchen. Keinen Schritt weiter. Vielleicht würde er diese Geschichte doch noch überstehen. Fünfzehn Minuten später war immer noch kein Wagen da, und Big Stevie setzte sich wieder in den Transporter, schaltete die Heizung ein und wartete. Regungslos starrte er auf die Straße. Wenn das Taxi in zehn Minuten nicht hier ist, dachte er, dann fahre ich. Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich an den Namen und an die Adresse der Frau zu erinnern. Immer wieder verhaspelte er sich, als er die Worte wiederholte und auf einen Wagen wartete, der vielleicht nie kommen würde. Mac saß in seinem Wohnzimmer in dem abgenutzten braunen Sessel. Seine Frau hatte ihn damit verwöhnt. Er hatte den Sessel geliebt, fühlte sich noch heute von ihm angezogen, aber die Liebe war fort. Es war nur noch ein Ort, an dem man sitzen und arbeiten oder die Fernsehübertragung eines Spiels anschauen konnte. Heute Abend trug er einen sauberen grauen Jogginganzug und arbeitete. Auf dem leicht zerkratzten Holztisch neben ihm lagen zwei Stapel Bücher, neue Bücher, die einen frischen Geruch verströmten. Außerdem ruhten dort noch siebenundzwanzig ordentlich getippte Bögen Papier, die von einer Büroklammer zusammengehalten wurden. Auf einem kleinen Holzbrett, das gerade so groß war wie eines der Bücher, stand ein Becher Kaffee. Er hatte ihn in der Mikrowelle erhitzt.
Zu seinem Pensum gehörten auch eine Menge Buchkritiken, teils älteren, teils jüngeren Datums, die er im Internet recherchiert und ausgedruckt hatte. Sie bezogen sich alle auf Louisa Cormiers Pat-Fantome-Krimis. Es war kurz vor zehn. Die Bücher von Louisa Cormier hatte er in chronologischer Reihenfolge geordnet. Die Besprechungen ihres Erstlingswerks waren wohlwollend, mehr nicht. Aber der Verkaufserfolg war phänomenal. Beim vierten Buch behaupteten die Kritiker, Louisa Cormier hätte erfolgreich die Kurve genommen und gehöre nun zu den Krimiautoren der gehobenen Klasse. Von da an verglich man sie mit Autorinnen wie Sue Grafton, Mary Higgins Clark, Marcia Muller, Faye Kellerman und Sara Paretsky. Mac trank einen Schluck von seinem Kaffee. Er war nicht mehr heiß genug, aber er wollte nicht noch einmal aufstehen und die Mikrowelle anstellen. Stattdessen trank er etwas mehr und hoffte, er würde in Louisa Cormiers Werken auf etwas Interessantes stoßen. Ehe er das erste Buch aufschlagen konnte, klingelte das Telefon. Es war kurz nach zehn Uhr abends. Stella blickte Danny über die Schulter, als sich das Bild auf dem Computermonitor im Labor langsam aufbaute. Stellas Augen brannten. Sie hatte keinerlei Zweifel mehr, dass sie eine Krankheit ausbrütete. Etwas, das ihre Augen tränen ließ und ein Kratzen in ihrem Hals verursachte. Sie gab sich Mühe, beides zu ignorieren. Das Bild auf dem Monitor sah aus, als wäre es ein Ausschnitt aus einem jener computergenerierten Spiele, für die im Fernsehen so oft geworben wurde und in denen sich Menschen, die gar nicht mehr wie Menschen aussahen, mit den brutalsten
Waffen niedermetzelten – begleitet von ohrenbetäubenden Soundeffekten. Tatsächlich aber war es so, dass Danny mit einem speziellen Computerprogramm versuchte, die Tatortsituation und den möglichen Tathergang zu simulieren. Auf dem Schirm zeigte sich eine Ziegelmauer, in der sich ein einzelnes Fenster befand. »Wie weit über dem Badezimmerfenster war Guistas Hotelzimmer?«, fragte er. »Drei Meter fünfundsechzig«, sagte Stella. Dannys Finger hüpften über die Tasten und bewegten die Maus. Das Bild verschob sich, und plötzlich tauchte ein zweites Fenster auf. »Verkleinere es, damit wir beide Fenster sehen können.« Danny tat es. Die Fenster waren nun direkt übereinander. »Es war Nacht«, erinnerte sie ihn. Danny ließ es Nacht werden. »War das Badezimmerlicht eingeschaltet?«, fragte er. Stella zog ihre Notizen und ein kleines Päckchen Taschentücher hervor. Sie blätterte und sagte: »Sie hat mit eingeschaltetem Badezimmerlicht geschlafen.« Und schon leuchtete ein gelber Lichtschein in dem unteren der beiden Fenster auf. »Dann kommt jetzt die Kette, die aus Guistas Zimmer herunterbaumelte.« Stella putzte sich die Nase. »Ketten, Ketten, Ketten, Ketten«, wiederholte Danny leise, schob die Brille hoch und klickte auf eine Maustaste. »Hier. Such dir eine Kette aus.« Er führte den Cursor abwärts. »Diese ist der, die tatsächlich benutzt wurde, recht ähnlich«, sagte er. »Kannst du sie aus Guistas Zimmer herunterhängen lassen?«, fragte Stella.
»Du brütest eindeutig etwas aus.« Danny schaute sie mitleidig an. »Wenn er die Kette dazu benutzt hat, jemanden abzuseilen«, sagte Stella, statt auf seine Bemerkung einzugehen, »dann muss dieser Jemand klein und mutig gewesen sein und gehofft haben, dass das Badezimmerfenster offen ist.« »Oder gewusst haben, dass es offen ist«, fügte Danny hinzu. »Kannst du eine Person an das Ende der Kette hängen?« Eine Figur, männlich und gekleidet wie ein Ninja, tauchte auf. »Mach ihn kleiner.« Danny machte die Figur kleiner. »Kannst du das Fenster öffnen?« »Wie breit war das Fenster in geöffnetem Zustand?« Sie blätterte erneut in ihren Notizen. »Etwa fünfunddreißig Zentimeter.« Danny öffnete das Fenster in entsprechender Weise. »Eng«, sagte er. »Soll ich den Ninja noch kleiner machen?« »Klar«, sagte sie. »Erledigt.« »Wenn du das ins Verhältnis setzt, wie schwer dürfte er oder sie höchstenfalls sein?«, fragte Stella. Danny lehnte sich zurück, überlegte und sagte: »Vielleicht fünfundvierzig Kilo. Maximal fünfzig.« »Er musste das Fenster öffnen und sich hineinschwingen«, überlegte Stella. »Und er musste auch wieder durch das Fenster hinausklettern«, erinnerte sie Danny. »Ein Akrobat? Vielleicht sollten wir Turner und Zirkusakrobaten überprüfen.« Stella überlegte kurz. »Kannst du dort, wo wir an dem Badezimmerfenster von Alberta Spanio das Schraubenloch entdeckt haben, irgendwas platzieren?« »Irgendwas?« »Ein rundes Stück Metall.«
»Durchmesser?« »Fang groß an, sagen wir zwölfeinhalb Zentimeter.« Danny suchte. Ein Kreis erschien am unteren Rand des Badezimmerfensters. »Kannst du es senkrecht zum Fenster drehen?«, fragte sie. »Ich kann es versuchen.« Er bewegte den Kreis, sodass er als dreidimensionaler Ring erkennbar war. Beide schauten auf den Monitor und kamen zum gleichen Schluss. »Sagst du es oder soll ich?«, fragte er. »Schmeiß den Ninja raus«, sagte sie. »Gemacht«, sagte Danny, und der Ninja war verschwunden. »Verbinde das Ende der Kette mit dem Ring und …« Noch bevor sie den Satz beenden konnte, war es erledigt. »Guista hat die Kette mit dem Ring verhakt und gezogen, bis der Ring mit der Schraube abgesprungen ist«, sagte Danny und führte das Geschehen am Monitor vor. »Das ist passiert. Das erklärt auch, warum er eine Metallkette statt eines Seils benutzt hat. Ein Seil hätte der Kraft des Windes nicht widerstanden. Mit einer Kette und einem Haken war der Ring besser zu greifen. Und dann hat er die Person runtergelassen, die Alberta Spanio ermordet.« »Warum konnte der Mörder das Fenster nicht einfach öffnen und hineinklettern?«, fragte Stella, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Warum dieser Aufwand mit Ring und Kette? Vielleicht ist der Mörder gar nicht durch das Fenster gekommen.« »Warum sollte jemand sich so viel Mühe geben, ein Fenster zu öffnen, wenn er es gar nicht benutzen will?«, konterte Danny. »Vielleicht, um die Temperatur im Schlafzimmer unter den Gefrierpunkt sinken zu lassen, damit wir den Todeszeitpunkt nicht exakt ermitteln können.« »Wozu denn das?«
Stella zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollten sie es nur so aussehen lassen, als wäre jemand durch das Fenster gekommen«, schlug Danny vor. »Aber der Schnee war dabei im Weg.« »Wir übersehen immer noch etwas«, sagte Stella und nieste. »Erkältung.« Danny sah sie an. »Vielleicht auch eine Grippe.« »Allergie«, entgegnete Stella. »Wir müssen Guista finden und ein paar Antworten aus ihm herauskitzeln.« »Falls er noch lebt«, sagte Danny. »Falls er noch lebt«, wiederholte Stella. »Ich habe Vitamin-C-Tabletten in meinem Koffer. Willst du eine?« »Gib mir drei.« Danny erhob sich, musterte dabei aber immer noch das Bild auf dem Monitor. »Was?«, fragte Stella. »Vielleicht irren wir uns«, sagte er. »Vielleicht ist doch jemand an dieser Kette runtergeklettert.« »Der kleine Mann, den der Portier in Guistas Begleitung gesehen hat?«, fragte sie. »Zurück zum Anfang?«, fragte Danny. »Vielleicht finden wir ja etwas in der Datenbank«, überlegte Stella. »Also doch die Suche nach dem kleinen Mann«, sagte Danny. »Gehen wir heim und fangen morgen noch einmal an.« Normalerweise hätte Stella etwas gesagt wie ›Geh nur, ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen.‹ aber nicht heute Abend. Sie bestand nur noch aus einem großen Schmerz, und ›heimgehen‹ klang in ihren Ohren ausgesprochen verlockend. Beide fuhren nach Hause. Vielleicht würden am nächsten Morgen schon wieder neue Beweise auftauchen und ihre Theorien über den Haufen werfen.
Die beiden schwarzen Jugendlichen, die aus dem Lieferwagen der Bäckerei sprangen und die Hände hoch in die Luft streckten, konnten nicht viel älter als fünfzehn Jahre sein. Die Polizistin, eine schwarze Frau namens Clea Barnes, hielt ihre Waffe auf den Fahrer gerichtet. Ihr Partner, Barney Royce, war zehn Jahre älter als Clea und kein annähernd so guter Schütze. Auf dem Schießplatz war er immer nur durchschnittlich gewesen. Glücklicherweise hatte er in seinen sechsundzwanzig Dienstjahren nie auf jemanden schießen müssen. Clea, die gerade vier Jahre dabei war, hatte bereits auf drei Verbrecher geschossen. Keiner von ihnen war gestorben. Barney nahm an, dass Punks und Säufer Clea für eine leichte Gegnerin hielten. Aber da irrten sie sich gewaltig. »Weg von dem Laster«, befahl Barney. »Wir haben nichts getan«, schrie der Fahrer auf eine Art, die den beiden Polizisten nur allzu vertraut war. Die beiden Jungs, beide in schwarzen Wintermänteln ohne Mützen oder Schals, sahen den Lieferwagen an, als hätten sie ihn gerade erst bemerkt. »Meinen Sie diesen Laster?«, fragte einer von ihnen, als Barney näher trat, um die beiden Jungs nach Waffen abzusuchen. Sie waren sauber. »Genau«, sagte Clea geduldig. »Ein Freund hat uns damit fahren lassen«, behauptete der Fahrer. »Dann erzählt uns mal von eurem Freund«, forderte Barney sie auf. »Nur ein Freund«, gab einer der Jungs mit einem Schulterzucken zurück. »Name, Hautfarbe.« »So ein weißer Kerl. Den Namen hab ich nicht verstanden.« »Ihr kennt seinen Namen nicht, aber er lässt euch mit seinem Wagen fahren?«, hakte Barney nach.
»Genau«, sagte der Junge. »Eine Chance habt ihr noch«, sagte Clea. »Wir packen euch ein, nehmen eure Fingerabdrücke und lassen euch dann wieder laufen, wenn ihr uns die Wahrheit erzählt. Jetzt. Und keinen weiteren Blödsinn mehr. In Ordnung?« Der Junge, der den Wagen gefahren hatte, schüttelte den Kopf und sah seinen Kumpel an. Der zweite Junge machte den Mund auf. »Wir waren in Brooklyn«, sagte er. »Haben Freunde besucht. Auf dem Weg zur U-Bahn haben wir diesen großen, alten, weißen Kerl rumlaufen sehen. Ist vor so einem Lebensmittelladen rumgehumpelt. Das war nicht gerade die Gegend, in der man damit rechnet, dass irgendwelche Weißen rumspazieren, egal wie groß sie sind.« »Also habt ihr beschlossen, ihn auszurauben?«, fragte Barney. »Das habe ich nicht gesagt. Aber während wir uns unterhalten haben, ist ein Taxi gekommen, und er ist eingestiegen. Wir haben uns den Lieferwagen angesehen, als er weg war. Der Schlüssel steckte noch.« »Und ihr habt ihn genommen?«, fragte Clea. »Schneller als die U-Bahn«, kommentierte der erste Junge. »Wo ist dieser Laden in Brooklyn?«, fragte Barney. »Flatbush Avenue«, verriet ihnen der zweite Junge. »J.V.’s Deli.« »Also«, sagte Clea, »die große Frage, die euch den Hals retten wird, falls ihr nicht wegen irgendetwas gesucht werdet, lautet: Was war das für ein Taxi, und um welche Zeit ist der weiße Mann da eingestiegen?« Der zweite Junge lächelte und sagte: »Es war eine Limousine von einem Taxiunternehmen. Green Cab Nummer 4304. Hat ihn ein paar Minuten nach neun abgeholt.«
Aiden hatte ihre Dusche bekommen, sich die Haare gewaschen, ihren wärmsten Pyjama angezogen und das Fernsehgerät in ihrem Schlafzimmer eingeschaltet. The Daily Show würde in einer halben Stunde anfangen. In der Zwischenzeit schaltete sie um auf CNN, legte sich mit einem Schreibblock ins Bett und warf bisweilen einen Blick auf den Nachrichtenticker am unteren Rand des Bildschirms. Auf den Block schrieb sie: Erstens: Cormiers Agentin anrufen. Nach der .22er fragen, die sie ihr angeblich gegeben hat. Und nach den Manuskripten, die Cormier geliefert hat. Auf Diskette? Ausgedruckt? Zweitens: Haben wir genug, um einen Durchsuchungsbefehl für Cormiers Appartement zu beantragen? Mit Mac absprechen. Drittens: Alle Bewohner, die den Lift benutzt haben, überprüfen, ob jemand eine .22er besitzt. Vielleicht irren wir uns in Bezug auf Cormier. Glaube ich aber nicht. Von der Kugel war nicht mehr viel übrig, aber es war genug, um sie mit der Waffe zu vergleichen, sollte je eine gefunden werden. Während sie mit halbem Ohr der Daily Show lauschte, versuchte sie, darüber nachzudenken, ob sie irgendetwas übersehen hatte. Sie machte sich noch ein paar weitere Notizen, als die Show vorbei war, dann schaltete sie um auf ABC, um sich anzusehen, was Nightline zu bieten hatte. Es ging um die Frage, ob Serienmörder böse sind. Als Gäste waren ein Anwalt, ein Profiler des FBI, ein Psychologe und ein Psychiater geladen. Aiden schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus. Sie wusste, dass das Böse existierte. Sie hatte es gesehen, hatte ihm gegenüber am Tisch gesessen. Es gab einen Unterschied zwischen einer Person, die einfach nur verrückt war, und einer, die tatsächlich böse war.
Aber das war keine wissenschaftliche Diagnose und kein nachvollziehbarer Grund dafür, warum einige Menschen mordeten. Für solche Fälle gab keine klinische Beschreibung, nichts, das man ihnen hätte zuordnen können. Es gab Dutzende von psychologischen Definitionen, in die Serienmörder eingeteilt wurden – brutale Ein- oder Zweifachtäter, Kinderschänder – aber nichts von alldem entsprach einer Person, die einfach nur böse war. Sie wollte die Gedanken so kurz vor dem Schlafen nicht weiterführen, wollte nicht schon wieder die Argumente für oder gegen die Todesstrafe durchgehen. Wenn jemand tatsächlich böse war, dann gab es für ihn oder sie keine Therapie und keine Behandlung auf der ganzen Welt. So eine Person schloss man entweder für immer weg oder exekutierte sie. Sie schaltete das Licht aus und schlief beinahe auf der Stelle ein. Big Stevie gab dem Fahrer nicht die exakte Adresse. Er wollte nicht, dass er sie notierte oder sich erinnern konnte. Stattdessen nannte er ihm eine Straße, die einen Block entfernt war. Lieber wären ihm zwei Blocks gewesen, aber er traute seinem pulsierenden Bein nicht mehr zu. Es gab nur ein Problem. Stevie hatte die Adresse in Gedanken ständig wiederholt und fürchtete, er könnte sie vergessen, wenn er dem Fahrer eine andere nannte. Doch er musste vorsichtig sein. Mr Marco würde es auch so wollen. Als der Wagen hielt, bezahlte Stevie den Fahrer und gab ihm ein bescheidenes Trinkgeld, nicht zu viel, nicht zu wenig. Dann versuchte er, seinen Schmerz zu verbergen. Unter größter Anstrengung stieg er aus dem Wagen und lief über die Straße. Er verzog keine Miene – niemandem sollte etwas auffallen. Der Fahrer fuhr weiter, kaum dass Stevie die Tür geschlossen hatte. Er fragte gar nicht, ob er warten solle. Stevie fand
sich in einem ihm vage vertrauten Bereich von Brooklyn Heights wieder. Es gab keinen Bürgersteig, aber es fuhr sowieso kein Auto die schmale Straße, die von den dreistöckigen Backsteingebäuden gesäumt war, hinunter. Zusammen mit den Schneemassen stapelte sich der Müll seitlich der Fahrbahn und erinnerte fast an eine Befestigungsmauer. Stevie befand sich auf der Straßenseite, die seinem Zielort gegenüberlag. Er humpelte wieder, wurde mit jedem Schritt schwächer und wusste, dass die Blutung wieder eingesetzt hatte. Er hatte vermutlich Blut auf dem Sitz des Taxis hinterlassen. Nicht zu ändern. Er wollte gerade die Straße überqueren, als ihm ein Fahrzeug auffiel. Es parkte wenige Meter vor ihm auf der gleichen Straßenseite. Die Fenster waren beschlagen, und der Motor brummte leise im Leerlauf. Er dachte, er würde zwei Gestalten auf den Vordersitzen erkennen, aber die beschlagenen Scheiben verhinderten die Sicht. Beobachteten sie den Eingang zu dem Gebäude, in das er wollte? Cops? Nein, unmöglich. Vielleicht warteten die gar nicht auf ihn. Vielleicht warteten sie auf jemand anderen oder sie hatten angehalten, um irgendetwas zu besprechen oder … Stevie glaubte nicht daran. Was ihm heute widerfahren war, hatte ihn zum Denken gezwungen. Dabei zog er es vor, andere für sich denken zu lassen, Leute, denen er trauen konnte wie Marco. Aber das war jetzt ein Problem. Er fing an, Marco zu misstrauen. Denk nach, sagte er sich, als er in den Schatten eines dunklen Hauseingangs trat, aus dem heraus er die beiden Leute in dem Wagen einige Zeit lang beobachten wollte. Ich habe den Job im Hotel erledigt. Ich habe einen Cop umgebracht. Ich habe einen anderen Cop in die Mangel genommen. Marco könnte besorgt sein. Er könnte befürchten, dass ich
rede, sollte ich geschnappt werden. Er sollte es besser wissen, aber er könnte besorgt sein. Kann ich ihm das vorwerfen? Ja. Er konnte nicht länger warten. Stevie musste irgendwohin gehen, wo er wieder zusammengeflickt werden würde. Er blutete, und das nicht zu knapp. Sollte er das Risiko mit Lynn Contranos eingehen? Er kannte sie nicht. Oder sollte er sich überlegen, wohin er sonst gehen könnte? Er hatte eigentlich keine Wahl. Naja, vielleicht eine, aber die wollte er nach Möglichkeit meiden. Er überquerte die Straße und steuerte das Backsteingebäude an. Er sah sich nicht um, aber er hörte, wie hinter ihm die Wagentür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er fand den Namen auf dem Kunststoffschild. Lynn Contranos, Massagetherapie. Er drückte auf den Knopf, fühlte, wie sich zwei Personen von hinten näherten. Keine Reaktion. Er drückte noch einmal auf den Knopf, und die Stimme einer Frau erklang aus dem kleinen Lautsprecher. »Ja?« »Steven Guista«, sagte er. »Bin gleich da.« Die Stimme der Frau klang gedämpft, und sie unterbrach die Verbindung mit einem leisen Klicken. Kannte er diese Stimme? Stevie war nicht sicher. Ein paar Sekunden später hörte er ein metallisches Summen, das von der Eingangstür kam. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus und spürte, dass die beiden Personen nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt waren. Statt die Tür zu öffnen, drehte sich Big Stevie abrupt um und überraschte die beiden Männer, die sehr viel jünger waren als er. Und keiner von ihnen war so groß wie er. Einer der Männer hielt eine Waffe in der rechten Hand. Stevie kannte beide. Einer war Bäckergehilfe in Marco’s Bakery. Der andere war dort Sicherheitsangestellter. Er war auch derjenige, der die Waffe hielt. Stevie zögerte nicht. Seine Faust donnerte tief in den Bauch des Mannes, der daraufhin nach vorn zusammenklappte.
Gleichzeitig streckte Stevie die freie Hand nach dem Hals des anderen Mannes aus. Stevie vergaß den Schmerz in seinem Bein und konzentrierte sich ganz einfach darauf, sein Leben zu retten.
11
»Wer?«, fragte Danny am nächsten Morgen, nachdem Stella die E-Mail laut vorgelesen hatte, die gerade auf dem Bildschirm vor ihr angezeigt wurde. Danny hatte nicht gut geschlafen. Er hatte von einer Kette geträumt, die im kalten Wind hin und her baumelte und davon, wie er versucht hatte, daran herabzuklettern. Immer wieder waren seine Hände abgeglitten und ein Stück tiefer gerutscht. Er wusste, dass er irgendwann am Ende der Kette ankommen und in die unter ihm liegende Finsternis stürzen würde. Er hatte um Hilfe gerufen, aber durch das Pfeifen des Windes konnte ihn niemand hören. Um fünf Uhr morgens war er froh gewesen, aus dem zu Bett klettern und zur Arbeit gehen zu können. »Jacob Laudano«, sagte Stella. Danny blickte über ihre Schulter auf den Bildschirm und las laut vor: »Jacob, der Jockey?« »So wird er genannt«, sagte sie. »Er ist Jockey?« »War«, korrigierte sie. »Was bedeutet …«, setzte Danny an. »Dass er vermutlich ziemlich klein ist«, ergänzte Stella den Satz. »Sehen wir mal …« Sie benutzte die Maus und drückte ein paar Tasten. »Zum letzten Mal wurde er im August festgenommen, und da war er ein Meter siebenundvierzig groß und hat einundvierzig Kilo gewogen. Sieh dir sein Strafregister an.«
Danny folgte ihrer Aufforderung. Die Liste war lang und umfasste auch einen tätlichen Angriff auf eine Prostituierte und fünf Festnahmen wegen Kneipenschlägereien, und jedes Mal war ein Messer im Spiel gewesen. »Laudano ist bereits als Partner von Steven Guista bekannt«, sagte Stella. »Und was jetzt?«, fragte Danny. »Wir hängen ein Einundvierzig-Kilo-Gewicht an die Kette«, sagte sie, »lassen sie drei Meter und fünfundsechzig Zentimeter weit herunterhängen und sehen, ob sie hält.« »Dafür brauchen wir ein längeres Stück Kette.« »Brauchen wir«, stimmte Stella zu. »Aber das kann warten. Guistas Transporter wurde gestern Nacht gefunden. Er steht in einer Verwahrungsstelle auf Staten Island.« »Dann gehen wir da zuerst hin?«, fragte Danny. Stella schüttelte den Kopf. »Nein, zuerst fahren wir nach Brooklyn.« »Brooklyn«, wiederholte Danny. »Warum?« »Guista hat sich letzte Nacht in Brooklyn von einem Taxi abholen lassen«, erklärte sie, griff nach einem Bericht, der neben ihrem Schreibtisch lag, und reichte ihn an Danny weiter. »Wir müssen das Taxiunternehmen überprüfen. Herausfinden, wohin er gefahren ist. Sollte kein Problem sein. Einer der beiden Jungs, die sich Guistas Lieferwagen für eine Spritztour ausgeliehen haben, hat sich an das Fahrzeug und die Uhrzeit erinnert.« »Das wird ein arbeitsreicher Tag«, sagte Danny. »Was ist mit Laudano, dem Jockey?« »Flack ist schon dran.« »Er sollte eigentlich im Bett sein.« »Er sollte eigentlich im Krankenhaus sein«, erwiderte Stella. »Aber da ist er nicht. Er ist auf der Straße. Also gehen wir.« »Da wir gerade vom Krankenhaus sprechen, du siehst keine Spur besser aus als gestern.«
»Mir geht es gut.« »Dein Gesicht ist rot. Du hast Fieber.« Stella ignorierte seine Worte, schaltete den Computer auf Stand-by und heftete einen kleinen Stapel Berichte in einem Aktenordner ab. Dann erhob sie sich. »Der Jockey«, sagte Danny beinahe im Selbstgespräch. »Wer hätte das gedacht. Das ergibt keinen Sinn.« »Warum nicht?«, fragte Stella, als sie zur Labortür voranging. »Ein betrügerischer Gewerkschaftsboss mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen heuert einen Zirkusartisten an, um eine Zeugin zu ermorden? Ein starker Mann und ein …« »Kleiner Kerl«, ergänzte Stella. »Warum?«, fragte Danny. »Sie mussten doch auffallen.« Stella schnappte sich mit der linken Hand ihren Koffer und mit der rechten den Aktenordner. Danny übernahm ihren Platz am Computer. »Vielleicht sollen wir ja tatsächlich auf eine falsche Fährte gelockt werden«, überlegte sie. »Sie könnten uns an der Nase herumgeführt haben«, meinte Danny. »Meine juckt jedenfalls«, sagte sie lächelnd. Danny ächzte. Stella verließ das Labor und ging zum Fahrstuhl. Sie hustete heiser und mühevoll. »Warum?«, fragte Michelle King. Sie war eine nervöse Frau Ende vierzig und Louisa Cormiers Agentin. Wie Louisa war auch sie sehr gepflegt, schlank und in ein schwarzes Kostüm und eine weiße Bluse gekleidet. Sie verfügte nicht über das gute Aussehen ihrer Klientin, aber das machte sie mit einer angenehmen, von Selbstbewusstsein getragenen Ernsthaftigkeit wett. Der Raum roch nach Zigaretten und Blumenduft aus der Sprühflasche.
Aiden saß auf einem der Stühle in Kings Büro an der Madison Avenue. King spielte mit einem Stift und tippte immer wieder ungeduldig auf die Tischplatte ihres Mahagonischreibtischs. »Warum?«, fragte Michelle King noch einmal. Mac sah sie zehn Sekunden lang an und sagte: »Wir können Sie zum Revier mitnehmen und darüber diskutieren. Ich glaube nicht, dass es Ihnen dort gefallen wird. Leichen und Beweisstücke, die die meisten Leute nicht anrühren würden und am liebsten nie zu Gesicht bekämen.« »Ich habe Louisa geraten, sich eine Waffe zuzulegen und sie geladen in ihrem Appartement zu verwahren«, gab Michelle King zu und griff nach einer Zigarette aus dem Päckchen in ihrer Schreibtischschublade. »Macht es Ihnen etwas aus?«, fragte sie und hielt mit zittriger Hand die Zigarette hoch. »Wir werden Sie deswegen nicht festnehmen, falls Sie sich darüber Sorgen gemacht haben«, sagte Mac. Rauchen war nur in städtischen Gebäuden verboten. »Viele, mit denen wir es zu tun bekommen, rauchen«, fuhr er fort. »Wir akzeptieren das. Das ist eben eines von unseren Berufsrisiken.« »Passivrauchen?«, fragte Michelle King, als sie sich die Zigarette mit einem versilberten Feuerzeug anzündete. »Das ist ein Mythos, den die fanatischen Rauchgegner erfunden haben, weil sie nichts Besseres zu tun haben.« »Und aktiver Mord?«, erwiderte Mac. »Ist das auch nur ein Mythos?« Die Agentin sah Aiden an. Diese schwieg, was die Agentin mehr aus der Fassung brachte als Macs Frage. »Also schön«, sagte King. »Ich habe ihr geraten, sich eine Waffe anzuschaffen. Ich habe ihr eine empfohlen, die ich auch besitze.« »Können wir Ihre Waffe sehen?«
»Denken Sie, ich habe den Mann erschossen?«, fragte sie empört, stieß eine Rauchwolke hervor und hörte vorübergehend damit auf, mit dem Stift zu pochen. »Wir wissen nur, dass er tot ist«, sagte Mac. »Warum um alles in der Welt sollten Louisa oder ich diesen Mann umbringen wollen, wer auch immer er war?« »Sein Name war Charles Lutnikov«, sagte Aiden. »Er war Autor.« »Nie von ihm gehört.« Michelle King drückte ihre Zigarette aus. »Ihr Name und ihre Telefonnummer stehen aber in seinem Adressbuch.« »Mein …« »Er hat in der letzten Woche dreimal in Ihrem Büro angerufen«, sagte Aiden. »Das steht in der Abrechnungsliste der Telefongesellschaft.« »Ich habe nie mit ihm gesprochen«, beharrte King. »Ihre Sekretärin vielleicht?«, schlug Mac vor. »Warten Sie, bei dem Namen klingelt etwas«, sagte King. »Ich glaube, das könnte der Name dieser Person sein, die ständig ihre Telefonnummer hinterlassen hat. In der Nachricht, die mir Amy, meine Assistentin, hinterlassen hatte, hieß es, er habe mir etwas Wichtiges zu sagen.« »Aber Sie haben nicht zurückgerufen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Amy sagte, er hätte einen nervösen Eindruck gemacht, sei sehr hartnäckig gewesen und … naja, ich bin Agentin. Ich werde ständig von irgendwelchen Spinnern angesprochen, die mit mir über ihre tollen Buchideen reden wollen. Eine von Amys Aufgaben ist es, mir diese Leute vom Hals zu halten.« »Aber dieser Spinner lebte im selben Appartementgebäude wie eine Ihrer wichtigsten Klientinnen«, sagte Aiden. »Meine wichtigste«, korrigierte King. »Das war mir nicht bewusst.«
Sie griff in ihre Schreibtischschublade und brachte plötzlich eine kleine Waffe zum Vorschein. Sie hielt sie auf Aiden gerichtet, doch diese zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Meine Waffe«, sagte King und schob sie über den Tisch. Mac nahm sie an sich und reichte sie an Aiden weiter, die kurz danach verkündete: »Wurde nie abgefeuert.« »Sie ist nicht einmal geladen«, sagte King. »Das ist wie mit der Chenilledecke, die ich hatte, als ich ein kleines Mädchen war. Ich hatte sie zu meiner Beruhigung immer bei mir. Sie hat mir ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, das ich mir selbst vorgegaukelt habe und von dem ich glaubte, es sei real.« »Was passiert mit Luisa Cormiers Manuskripten, nachdem Sie sie bekommen haben?«, fragte Mac. »Sie gibt mir ihre Manuskripte nicht«, sagte King. »Sie schickt sie mir per E-Mail. Ich lese sie und schicke sie weiter an ihren Lektor. Louisas Werke erfordern wenig Nachbearbeitung – sowohl ich als auch der Lektor haben kaum etwas zu beanstanden. Sie arbeitet immer sehr gewissenhaft .« King griff erneut zu dem Stift, und machte Anstalten, wieder auf die Tischplatte zu klopfen. Dann überlegte sie es sich anscheinend anders und warf ihn zur Seite. »Was ist mit den ersten drei Büchern?«, fragte Mac. King musterte ihn misstrauisch. »Die ersten drei Bücher waren … ein bisschen ungeschliffen«, gab sie zu. »Sie mussten überarbeitet werden. Woher wissen Sie das?« »Ich habe sie gestern Abend gelesen, ebenso wie das vierte und fünfte Buch. Etwas hat sich verändert.« »Mit Erfahrung und zunehmendem Selbstvertrauen wurde Louisas Arbeit, wie ich mit Freuden berichten kann, ständig besser.« »Haben Sie die Bücher auf Ihrer Festplatte?«, fragte Mac. »Ja. Außerdem habe ich natürlich noch Disketten und Ausdrucke sämtlicher Bücher.«
»Wir würden uns die Disketten gern ausleihen.« »Ich werde Amy sagen, sie soll Kopien für Sie anfertigen«, sagte King. »Aber warum wollen Sie …?« »Wir werden Ihre Zeit nun nicht länger in Anspruch nehmen.« Mac erhob sich. Aiden folgte seinem Beispiel. King blieb sitzen. »Wir bleiben in Verbindung«, sagte Mac auf dem Weg zur Tür. »Ich hoffe aufrichtig, dass das nicht der Fall sein wird«, erwiderte die Agentin und griff nach ihren Zigaretten. Als sie das Vorzimmer passiert hatten und auf den Korridor hinaustraten, sagte Aiden: »Sie lügt.« »Worüber?« »Diese ersten drei Bücher«, sagte sie. Mac nickte. »Sie beschützt ihr goldenes Kalb.« »Also?«, fragte Aiden. »Gehen wir Louisa Cormier besuchen.« Stella bemerkte Blutflecken auf dem verschneiten Gehweg gleich neben einem schwarzen Kunststoffmüllbeutel. Der Fahrer, ein Nigerianer namens George Apappa, hatte ihr gezeigt, wo der Mann, der auf seiner Rücksitzbank geblutet hatte, ausgestiegen war. Das Blut hatte George entdeckt, kaum dass er zu Hause in Jackson Heights angekommen war. Er hatte es nicht übersehen können. Es war eine kleine Pfütze auf dem Boden und eine dunkle, immer noch feuchte Schliere auf dem Sitz. Die Blutflecken zu entfernen hatte George beinahe eine Stunde gekostet. Gegen zwei Uhr morgens war er mit seiner Frau zu Bett gegangen. Um sechs hatte das Telefon geklingelt – seine Zentrale forderte ihn auf, sofort in der Garage des Taxiunternehmens zu erscheinen. Er hatte Stella all das im Tonfall
eines Mannes erzählt, der fest vorgehabt hatte, bis mittags zu schlafen, sich aber stattdessen mit der vagen Befürchtung, gefeuert zu werden, wenn er nicht in der Garage einträfe, aus dem Bett gequält hatte. Stella wusste, dass ein Zwanzigdollarschein ihm helfen würde, über den Schlafmangel hinwegzukommen. Stella spürte, wie George Apappa sie aus seinem Taxi heraus beobachtete. Sie schnäuzte sich die Nase und machte ein Foto von dem Schneehaufen, ehe sie mit einer Schaufel eine kleine Probe davon in einem Plastikbeutel verschwinden ließ. Dann fing sie an, langsam den Gehsteig entlangzugehen. Alle paar Schritte blieb sie stehen, um ein weiteres Foto zu machen. Der Spur des gefrorenen Bluts zu folgen, war nicht schwer. Da bisher nur wenige Fußgänger unterwegs waren, war der vereiste Gehweg fast noch unberührt. Stella fühlte ihre Stirn. In ihrem Koffer hatte sie ein Thermometer, doch sie brauchte es nicht herauszuholen, um zu wissen, dass sie Fieber hatte. Außerdem gehörte es zu ihrer Ausrüstung und war für die Toten reserviert. Bevor sie losgefahren war, hatte sie im Labor noch drei Aspirin mit einem Glas Orangensaft getrunken. Aber die Hoffnung, dass das in irgendeiner Weise helfen würde, hatte sie inzwischen aufgegeben. Sie folgte weiter den Blutspuren und kam nach vier Minuten zu der Eingangstür. Hier waren die Blutspritzer nicht sehr groß, aber trotzdem gut sichtbar. Auf der Schwelle war außer dem Blut noch etwas Gelblich-Braunes, das aussah wie Erbrochenes. Sie machte einige Fotos, nahm eine Probe von der gelblich braunen Pampe und wollte sich gerade wieder aufrichten, als sie etwas Weißes in dem Riss einer Betonstufe aufblitzen sah. Sie ging wieder in die Knie und erkannte einen Zahn. Einen blutigen Zahn. Sie tütete ihn ein und erhob sich wieder. Als Nächstes schrieb sie die Namen der Hausbewohner von den Klingelschildern ab, um sie später im Büro überprüfen zu können. Die Namen sagten ihr nichts, aber man konnte nie wissen.
Was immer hier passiert war – es war, laut dem Fahrtenbuch des Taxifahrers, kurz vor zehn passiert. Es war möglich, dass jemand im Haus etwas gehört hatte und vielleicht wusste, warum sich jemand übergeben und einen gesunden Zahn verloren hatte. Stella rieb die Hände aneinander und rief Danny Messer im Labor an. »Überprüf doch mal diese Namen«, bat sie. »Hast du einen Stift?« »Du hörst dich furchtbar an.« »Ich weiß, ich höre mich furchtbar an«, stimmte sie ihm zu. »Hier sind die Namen.« Dann schaute sie auf die Liste und buchstabierte jeden einzelnen Namen. »Verstanden«, sagte er. »Solltest du etwas herausfinden, dann ruf mich an. Vielleicht wollte Guista letzte Nacht eine dieser Personen aufsuchen, und irgendetwas ist schief gegangen.« »Was?« »Keine Ahnung. Ich schicke alles, was ich habe, mit einem Taxi zu dir«, sagte sie. »Zahl du den Fahrpreis. Trinkgeld habe ich dem Fahrer schon gegeben.« Stella versuchte, ein Husten zu unterdrücken, aber sie schaffte es nicht. »Stella …«, fing Danny an, aber sie fiel ihm ins Wort. »Ich muss weitermachen. Bitte. Tu alles so, wie ich es gesagt habe« Sie beendete das Gespräch und ging zu dem Wagen, in dem George Apappa saß, den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen. Sie öffnete ihren Koffer und ließ die Fotodisk, die Blutproben, den blutigen Zahn und die Probe des Erbrochenen – alles einzeln eingetütet – in einen wieder verschließbaren Beutel fallen. Dann öffnete sie die Fahrertür.
George wachte auf. Er hatte den Beutel in die Hand gedrückt bekommen, noch bevor er den Mund aufmachen und Fragen stellen konnte. Sie gab ihm die Adresse des C.S.I.-Büros und wies ihn an, den Beutel an Daniel Messer zu übergeben, der auf ihn warten würde. Messer, so sagte sie, würde die Rechnung für die Fahrt übernehmen. Zusätzlich gab sie ihm noch einen Zehndollarschein. Einen Herzschlag lang konnte sie George ansehen, dass er fragen wollte, was das alles zu bedeuten habe, aber er tat es nicht. Er legte den Beutel auf den Beifahrersitz, und Stella schloss die Fahrertür. Als Louisa Cormier dieses Mal die Tür für Mac und Aiden öffnete, wirkte sie nicht so strahlend und übersprudelnd wie bei den Besuchen vorher. Sie sah aus, als hätte sie nicht geschlafen, und trug etwas, das aussah wie ein übergroßer geblümter Kittel. Ihre Frisur saß gut, ihr Make-up ebenfalls, aber nicht so perfekt wie am Vortag. Sie trat zurück und ließ die Ermittler hinein. »Meine Agentin, Michelle, hat mich angerufen, um mir zu sagen, dass ich mit Ihrem Besuch rechnen müsste.« Mac und Aiden erwiderten nichts. »Sie verdächtigen mich, den Mann im Fahrstuhl ermordet zu haben«, sagte sie ruhig. Mac und Aiden verzogen keine Miene. »Bitte, setzen wir uns doch«, sagte Louisa. »Kaffee? Gute Manieren sind nicht totzukriegen. Keine glückliche Wortwahl, aber …« »Nein, danke«, lehnte Mac für sich und Aiden ab. Die drei standen direkt hinter der Wohnungstür. »Nun, ich war gerade dabei, einen Kaffee zu trinken, wenn Sie also nichts dagegen haben …« Luisa Cormier ging in die Küche. »Nehmen Sie Platz.«
Mac und Aiden nahmen am Tisch vor dem Fenster Platz. Kalter Nebel hatte sich über Manhattan gelegt. Abgesehen von ein paar Lichtern im dichten Grau und den Dächern der Hochhäuser über den Wolken war nicht viel zu sehen. »Es tut mir Leid«, sagte Louisa Cormier, als sie sich mit einer dampfenden Tasse Kaffee in Händen auf denselben Stuhl setzte, auf dem sie schon am Vortag gesessen hatte. »Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Michelle hat Ihnen vielleicht erzählt, dass ich mein Buch bis Ende der Woche fertig stellen muss – nicht, dass mein Verleger mir auf die Füße treten würde, sollte ich mich verspäten, aber ich verspäte mich niemals. Wenn man sich seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben verdient, dann ist das ein Job wie jeder andere auch. Ich halte es für unangemessen, mich zu verspäten. Entschuldigen Sie, ich schweife ein wenig ab. Ich bin müde, und man hat mir gerade erklärt, ich sei eine Mordverdächtige.« »Schmauchspuren«, sagte Mac. »Ich weiß, was das ist«, sagte sie. »Partikel, Rückstände von Pulver, die beim Abfeuern einer Waffe zurückbleiben.« »Sie lassen sich nur schwer entfernen«, erklärte Aiden. Beide Ermittler sahen Louisa Cormiers Hände an. Sie waren rot geschrubbt. »Sie wollen meine Hände auf Schmauchspuren untersuchen?«, fragte sie. »Schmauchspuren können von den Händen einer Person auf andere Gegenstände übertragen werden, wenn diese von der Person angefasst worden sind«, erklärte Mac. »Interessant«, entgegnete Louisa und trank einen Schluck Kaffee. »Als wir gestern hier waren, haben Sie einige Dinge berührt«, fuhr Mac fort. Nun wirkte Louisa sehr wachsam.
»Sie haben etwas aus meinem Appartement gestohlen?«, fragte sie. Mac ignorierte die Frage. Er würde ihr so wenig wie möglich verraten. Weder er noch Aiden hatten etwas mitgenommen. »Sie haben kürzlich eine Waffe abgefeuert«, sagte Aiden. Mac glaubte, die Spur eines Lächelns auf den Lippen der Autorin gesehen zu haben. »Das können Sie nicht wissen«, sagte Louisa. »Sie haben meine Hände nicht untersucht, und ich bezweifle, dass Sie ohne richterliche Verfügung irgendein Kleidungsstück von mir mitgenommen hätten.« Aiden und Mac antworteten nicht. »Wie dem auch sei«, sagte Louisa, »Sie können das gern tun. Ich denke, Sie werden einen Rückstand an meiner rechten Hand finden. Ich habe vor zwei Tagen auf einem Schießstand in der Nähe eine Waffe abgefeuert, kurz vor dem Sturm. Ich denke, ich sollte meinen Anwalt anrufen.« Louisa lächelte immer noch. »Sie haben Recht, Sie sollten einen Anwalt anrufen, ehe sie weitere Fragen beantworten«, sagte Mac. Louisa Cormier zögerte. »Ich habe Ihnen erzählt, dass ich eine Waffe abgefeuert habe«, sagte sie. »Ich probiere alle Waffen aus, die ich in meinen Büchern verwende. Gewicht, Klang, Rückschlag, Größe. Vor zwei Tagen war ich auf dem Schießstand. Auch das habe ich Ihnen gesagt. Es war Drietch’s Range an der Achtundfünfzigsten. Ich gebe Ihnen die Adresse. Sie können gern mit Mathew Drietch sprechen.« »Was war das für eine Waffe?«, wollte Aiden wissen. »Eine .22er«, sagte sie. »Wie die in Ihrem Schreibtisch«, stellte Mac fest. »Exakt. Ich hatte mich entschlossen, über eine Waffe zu schreiben, die der entspricht, die in meinem Besitz ist«, sagte sie.
»Lutnikov wurde mit einer .22er getötet«, sagte Mac. »Ich habe eine Kugel am Fuß des Fahrstuhlschachts gefunden«, fügte Aiden hinzu. »Und wir werden auch eine Waffe finden, die zu dieser Kugel passt. Sie haben gesagt, Sie besäßen keine andere Waffe als die, die Sie uns gestern gezeigt haben?« »So ist es«, antwortete Louisa. »Mathew Drietch hat genau die gleiche Waffe wie ich. Er hat Hunderte von Waffen. Sie können frei wählen, welche Sie benutzen wollen. Mr Drietch hat sie mir mit Vergnügen zur Verfügung gestellt.« »Sie wissen nicht zufällig, wo diese .22er jetzt ist, oder?«, fragte Mac. »Ich nehme an, sie ist sicher im Waffenschrank des Schießstands eingeschlossen«, sagte Louisa. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Ihr Appartement durchsuchen?«, fragte Mac. »Wir können uns auch einen Durchsuchungsbefehl holen.« »Ja, ich habe etwas dagegen, wenn Sie mein Appartement durchsuchen«, gab sie zurück. »Aber wenn Sie sich den Durchsuchungsbefehl holen und sich hier umsehen, werden sie keine andere Waffe finden als die, die ich in meinem Schreibtisch habe, und von der Sie bereits wissen, dass sie in jüngster Zeit nicht benutzt worden ist.« »Nur noch eine Frage«, sagte Mac. »Keine Fragen mehr«, entgegnete Louisa durchaus höflich. »Der Name meines Anwalts lautet Lindsey Terry. Er steht im Telefonbuch. Es tut mir Leid, wenn ich ein bisschen gereizt wirke, aber ich habe nicht geschlafen, und …« »Ich habe letzte Nacht einige Ihrer Bücher gelesen«, sagte Mac. »Oh«, machte Louisa. »Welche?« »Der Albtraum einer anderen, Frau im Dunkel, Der Platz einer Frau«, zählte Mac auf.
»Meine ersten drei Bücher«, sagte Louisa. »Haben Sie Ihnen gefallen?« »Nach diesen drei wurden die Bücher besser.« »Ich dachte immer, meine ersten drei wären die besten.« Louisa lächelte. »Haben Sie die anderen denn auch gelesen?« »Zwei davon.« »Sie lesen schnell.« »Ich habe einiges überflogen. Ich werde einen Linguistikprofessor an der Columbia bitten, einen Blick auf Ihre Bücher zu werfen.« »Warum um alles in der Welt tun Sie das?«, fragte Louisa. »Ich denke, das wissen Sie.« Mac schaute sie an. »Sie haben den Namen meines Anwalts«, sagte Louisa mit Nachdruck. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich habe ein Buch zu Ende zu schreiben und muss mich ausruhen.« Als Aiden und Mac wieder in dem kleinen Korridor vor dem Fahrstuhl standen, sagte Aiden: »Sie war es.« Sie gingen durch die Lobby zur Vordertür, und ihre Schritte hinterließen ein dumpfes Echo. Vor ihnen, etwa zwanzig Meter entfernt, stand ein schlanker Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Der ordentlich rasierte, blasse Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht trug Jeans, ein blaues T-Shirt und eine Eddie-Bauer-Daunenjacke. Er hielt die Hände vor dem Leib gefaltet und sah zu, wie Aiden und Mac sich ihm näherten. Als die Ermittler nur noch wenige Meter von ihm entfernt waren, trat er ihnen in den Weg. »Sie untersuchen den Mord an Charles Lutnikov«, sagte er langsam und mit ruhiger Stimme. »Das ist richtig«, erwiderte Mac. »Ich habe ihn umgebracht«, verkündete der Mann. Er zitterte.
»Wie kommst du voran?«, fragte Stella, wobei sie sich ein paar Schritte von Danny entfernt hielt, um ihn nicht anzuatmen. Sie war krank, daran bestand kein Zweifel. Temperatur, Schüttelfrost, leichte Übelkeit. Aber Übelkeit war den C.S.I.-Ermittlern nicht fremd, und Stella war da keine Ausnahme. Sie trug nur selten am Tatort eine Maske, ganz egal, wie schlimm der Gestank auch war, egal wie lange eine Leiche in einer Badewanne gelegen hatte, und egal wie aufgebläht sie war und ihren fauligen Geruch verströmte. Das letzte Mal musste Stella ihren Magen mühsam bändigen, als sie und Aiden vor zwei Wochen die Wohnung einer Katzenhalterin in einem Gebäude an der East Side aufgesucht hatten. An der Tür wartete ein uniformierter Beamter, der seine angewiderte Miene nicht verbergen konnte. Stella und Aiden waren hineingegangen und beinahe erschlagen worden von dem Gestank, dem Geheul Dutzender Katzen und der drückenden Hitze, die die Radiatoren verströmten. Der dunkle Raum hatte nach Tod, Urin und Fäkalien gestunken. »Lass uns nicht die Helden spielen«, hatte Stella gesagt. Aiden hatte genickt. Sie hatten die Masken aus ihren Koffern genommen und angelegt, ehe sie sich ihren Weg in das Schlafzimmer bahnten, wo sie die Leiche der alten Frau in einem geblümten Kleid vorfanden. Auf ihrer Brust lag Erbrochenes, das schon eingetrocknet war. Ihre aufgerissenen Augen starrten zur Decke empor. Eine große, orange-rote Katze hockte auf ihrem aufgeblähten Bauch und fauchte die beiden Frauen an. »Sprich mit dem Officer«, sagte Stella. »Sollte er das Tierheim noch nicht angerufen haben, dann sorg dafür, dass er es jetzt tut.« Ihre Worte und der Klang ihrer eigenen Stimme erinnerten Stella daran, dass das, was sie tat, getan werden musste und dass sie darin besser war als jeder andere, den sie kannte.
Und so hatte sie eine Stunde in dem Dreck verbracht, der sich schon lange vor dem Tod der Frau in der Wohnung angehäuft hatte. Eine Untersuchung der Leiche hatte ergeben, dass die Frau, die aussah, als wäre sie erdrosselt worden, an einem gewöhnlichen Herzanfall gestorben war, der dazu geführt hatte, dass sie an ihrem Erbrochen erstickt war. Danny hatte Stella den Rücken zugekehrt. Er hielt ein verkorktes Reagenzglas mit einer gelben Flüssigkeit hoch. »Zum letzten Mal«, sagte er, »du bist krank. Du gehörst ins Bett.« »Das ist nur eine Erkältung«, antwortete sie. Er schüttelte den Kopf. »Ich achte auf mich. Außerdem habe ich schon einen Tee getrunken«, beharrte sie. »Ein kleiner Schritt für die Menschheit.« Danny schüttelte missbilligend den Kopf. Stella ignorierte die Bemerkung. »Was hast du herausgefunden?« »Wer immer das erbrochen hat, sollte seine Ernährung ändern«, sagte Danny. »Er benutzt seinen Magen, um Fett zu lagern. Er hatte Peperoni und eine Art Wurst, außerdem größere Mengen Pasta mit einer würzigen Soße, die für eine Skala von eins bis zehn nicht ausreichen würde.« »Danny«, mahnte Stella mit kaum verhohlener Ungeduld. »Mehl«, sagte Danny. »Unbearbeitet. Ungebleicht. Der Kerl hat Mehl eingeatmet.« »Hast du das Mehl untersucht?«, fragte sie und unterdrückte ein Niesen. »Spuren im Erbrochenen. Marco’s Bakery. Passt perfekt zu unserer Probe.« »Und die Gummispuren auf dem Korridor der Bäckerei passen definitiv zu Colliers Schuhabsätzen?« »Alle Spuren führen zu Marco’s Bakery«, sagte er.
Danny legte das Reagenzglas weg und drehte sich um. »Macht es dir etwas aus, wenn ich ein medizinisches Urteil abgebe?«, fragte er, wartete jedoch keine Antwort ab. »Deine Nase ist so rot wie eine Maraschinokirsche.« »Stella, die rotnasige C.S.I.-Ermittlerin«, sagte sie und versuchte ein Grinsen. »Das ist nicht lustig«, mahnte Danny. »Du solltest …« »Ich dachte, du wärest endlich damit fertig, Doktor zu spielen«, fiel sie ihm ins Wort. Danny zuckte mit den Schultern. »Möchtest du wissen, was die Blutspuren ergeben haben?« Er nickte. »Wie erwartet stammt ein Teil der Proben, die wir auf dem Gehsteig und vor der Tür gefunden haben, von Guista«, sagte sie. »Er hat eine Menge Blut verloren. Falls er nicht schon tot ist, wird er es bald sein, wenn er keinen Arzt aufsucht. Aber da war auch Blut von einer anderen Person.« Stella ließ sich langsam auf einen Hocker gleiten und rekonstruierte die Geschehnisse. »Guista wurde von Flack angeschossen«, sagte sie. »Er hat seinen Transporter nach Brooklyn gefahren, hat ihn vor einem Lebensmittelgeschäft stehen gelassen und ein Taxi genommen. Nachdem er ausgestiegen ist, ist er einen halben Block weit marschiert. Jemand hat auf ihn gewartet.« »Und jemand hat ihn überrascht«, fügte Danny hinzu. »Meine Vermutung: Guista hat kräftig zugeschlagen. Der Kerl übergibt sich, blutet und verliert einen Zahn. Guista läuft wieder davon. Oder sagen wir, er humpelt davon.« Stella nickte und sagte: »So etwas in der Art. Die Jugendlichen, die den Wagen geklaut haben, haben gesagt, er hätte telefoniert. Hast du den Anruf überprüft?« Danny schüttelte den Kopf. »Das werde ich jetzt machen. Du gehst nach Hause.«
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, veranlasste Danny, seine Gedanken über Stellas Gesundheit sofort einzustellen. Und zwar endgültig. »Hast du die Namen der Leute überprüft, die in dem Gebäude wohnen?« »Ich dachte schon, du würdest nie fragen. Bis auf eine Person haben alle ein Vorstrafenregister.« »Und …?«, hakte Stella nach. »Die Person ohne Vorstrafenregister ist eine Lynn Contranos.« »Deine innere Befriedigung quillt dir ja förmlich aus sämtlichen Knopflöchern.« Stella musste grinsen. »Meine was …?« »Das stammt aus einem Hitchcock-Film«, erklärte sie und schnäuzte sich die Nase. »Was ist mit ihr?« »Lynn Contranos alias Helen Grandfield ist Dario Marcos zuverlässige Assistentin.« Stella nickte. »Aber das ist noch nicht alles«, erklärte er und richtete seine Brille. »Helen Grandfields Name lautete, bevor sie Stanley Contranos geheiratet hat, der übrigens zehn bis zwanzig Jahre für Mord zweiten Grades aufgebrummt bekam, Helen Marco. Sie ist eine Nichte von Anthony Marco, der, während wir uns hier unterhalten, vor Gericht steht. Also ist Dario Marco ihr Vater.« »Alle Straßen führen zu Marco’s Bakery«, stellte Stella fest. »Statten wir ihm doch einen Besuch ab.« »Nehmen wir ein paar Uniformierte mit?«, fragte Danny. Stella nickte und suchte in ihrer Tasche nach dem kleinen Tablettenfläschchen, das Sheldon Hawkes ihr vor knapp einer Stunde gegeben hatte. »Das könnte dich müde machen«, hatte Hawkes gesagt, aber es lindert die Beschwerden. Sie öffnete das Plastikfläschchen.
Der Name des jungen Mannes, der den Mord an Charles Lutnikov gestanden hatte, lautete Jordan Breeze. Er wohnte im zweiten Stock des Belvedere Towers in einer Einzimmerwohnung. Breeze, Absolvent der Drexel University, arbeitete als Computerprogrammierer für ein indisches Unternehmen an der Fünfundfünfzigsten. Sein Job war es, Software für die Kartografierung des Universums zu entwickeln. Mac schaute von dem Ordner in seinen Händen auf, geradewegs in Jordan Breezes Augen, ehe er den Blick wieder in die Papiere senkte. Breeze hatte nie Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt und gehörte keiner radikalen Gruppe an. Aus der Befragung seiner Nachbarn schloss Mac, dass er ein ruhiger Mieter war, der seinen Nachbarn stets einen guten Morgen gewünscht hatte. Allerdings war er in den letzten paar Monaten immer seltener gesehen worden. Andere Hausbewohner hatten ihn zwei Straßen weiter im Starbucks gesehen, wo er bei einem Grande Latte an seinem Computer gearbeitet hatte, aber auch das war schon eine Weile her. Mac schaltete das Diktiergerät an. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen Anwalt wollen?«, fragte er. »Ganz sicher.« »Warum haben Sie ihn umgebracht?« »Er hat mich als Tunte bezeichnet, nicht nur einmal. Viele Male. Immer, wenn ich am Morgen meine Wohnung verlassen habe oder am Abend zurückgekommen bin, hatte ich Angst, ihm zu begegnen. Ich sehe Ihnen an, dass Sie eine Frage haben.« »Die lautet?« »Sie wollen wissen, ob ich schwul bin.« Mit diesen Worten setzte sich Breeze aufrecht hin. »Das bin ich nicht, aber einige meiner Freunde sind schwul, und ich will nicht unter homophoben Idioten leiden müssen. Ich habe das beinahe ein ganzes Jahr ertragen.«
»Und dann«, sagte Mac, »haben Sie ihn umgebracht. Wie?« »Mit einer Schusswaffe. Er war im Fahrstuhl. Ich hätte ihm aus dem Weg gehen können, wenn ich die Treppe genommen hätte, aber er hatte mich da bereits gesehen.« »Sie hatten die Waffe dabei?«, hakte Mac nach. »Hatte ich.« »Hatten Sie geplant, ihn umzubringen, wenn er Ihnen wieder zu nahe treten würde?« »Ja. Ich bin in den Fahrstuhl gestiegen. Die Türen schlossen sich. Er fing an … Er hat mich eine dürre Arschfotze genannt«, sagte Breeze nach kurzem Zaudern. »Die Waffe war in der Außentasche meiner Notebooktasche. Es gibt ein paar Dinge, die ich einfach nicht ertragen kann.« Mac nickte, warf erneut einen Blick auf die Akte und sah dann wieder Jordan Breeze an. »Woher hatten Sie die Waffe?«, fragte er. »Sie gehörte meinem Vater«, erklärte Breeze. »Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Krebs.« »Was für eine Waffe ist das?« »Eine .22er.« »Was wollten Sie in dem Fahrstuhl, der doch nur zu den oberen Etagen fährt?« »Ich bin Lutnikov gefolgt, als er ausgestiegen ist und den Fahrstuhl gewechselt hat. Er wirkte überrascht, schien das aber amüsant zu finden.« »Dann sind Sie in den Fahrstuhl gestiegen, weil Sie vorhatten, ihn zu töten?« »Ja.« »Was haben Sie mit der Waffe gemacht, nachdem Sie Charles Lutnikov ermordet haben?« »Ich bin aus dem Fahrstuhl ausgestiegen und hab ihn nach oben geschickt. Dann bin ich vergnügt durch den Schnee zum East River spaziert und hab sie hineingeworfen. Sie ist durch
eine dünne Eisschicht gebrochen. Die Lederhandschuhe, die ich getragen habe, habe ich auch in den Fluss geworfen. Ich befürchte, Sie werden mich wegen Mordes und wegen Gewässerverschmutzung anklagen müssen.« Breeze lächelte. »Wie oft haben Sie auf Lutnikov geschossen?« »Zweimal«, sagte Breeze. »Einmal, als er vor mir stand, und dann noch einmal, als er zu Boden fiel.« »Der Portier erinnert sich nicht daran, dass Sie das Haus verlassen haben«, sagte Mac. »Ich habe bis zum Nachmittag gewartet, und da sind viele Leute ein- und ausgegangen.« »Wie gut kennen Sie Louisa Cormier?« »Hab sie nie getroffen«, sagte Breeze. »Ich wüsste es nicht einmal, sollte ich ihr im Haus begegnet sein. Ich weiß, dass sie im Penthouse wohnt. Aber so lange wohne ich hier noch nicht.« »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns in Ihrem Appartement umsehen?«, fragte Mac. »Wir können uns auch einen Durchsuchungsbefehl holen.« »Bitte«, antwortete Breeze. »Durchsuchen Sie mein Appartement und auch den Vorratsschrank im Keller.« Breeze trug ein ruhiges Lächeln zur Schau, das beinahe aussah wie das Lächeln eines Sektenangehörigen, der überzeugt war, die Wahrheit des Lebens zu kennen, und sich ihr demütig beugte. Mac schaltete das Diktiergerät aus, erhob sich und ging zur Tür. Als er öffnete, stand auch Breeze mit zitternden Beinen auf. Nachdem Jordan Breeze abgeführt worden war, betrat Aiden das Verhörzimmer. Mac hatte wieder Platz genommen und pochte mit dem dünnen Ordner auf den Tisch. »Du glaubst nicht, dass er es getan hat, oder?«, fragte sie. »Ich werde der Sache nachgehen. Falls er es nicht getan hat, hat ihm jemand eine Menge Informationen über den Mord ge-
geben. Auf jeden Fall sollten wir die Ermittlungen in Bezug auf Louisa Cormier nicht nur fortsetzen, sondern auch intensivieren.« »Du könntest dich irren«, sagte sie. »Ich könnte«, stimmte Mac zu.
12
Bei dem ersten Wagen, den er starten wollte, scheiterte Stevie. Seit er zum letzten Mal versucht hatte, ein Auto zu knacken, waren beinahe fünfzig Jahre vergangen. Anscheinend konnte man auch Rad fahren verlernen. Der Wagen war ein grüner Ford Escort, der einen halben Block von der Stelle entfernt war, an der er den beiden Männer aus der Bäckerei begegnet war. Als er sie das letzte Mal sah, lag der eine vor Schmerzen zusammengekrümmt auf dem Boden, und der andere war mit dem Versuch beschäftigt, sein Nasenbluten zu stoppen. Stevie war überzeugt davon, dass die beiden zu schwer verletzt waren, um ihn zu verfolgen. Er hatte überlegt, sie umzubringen, aber dann hätte er zwei Leichen zurückgelassen. So konnten sie selbst davonkriechen. Das Problem war nur, dass auch Stevie sich nur noch kriechend fortbewegen konnte. Er verlor mehr und mehr Blut. Mühsam versuchte er, sich zu überlegen, wohin er gehen könnte. Eine der hinteren Türen des Escort war offen gewesen, das Schloss kaputt. Normalerweise hätte es ganz einfach sein müssen. Aber Stevie hatte keinerlei Werkzeug bei sich. Nichts, was er benutzen konnte, um den Wagen zu stehlen. Er war wieder aus dem Wagen ausgestiegen und hatte sich zu dem Haus umgesehen, vor dem er die beiden Männer zurückgelassen hatte. Stevie hatte dem einen, den er zuerst überwältigt hatte, die Waffe abgenommen. Später hatte er seine Fingerabdrücke abgewischt und sie über eine Ziegelmauer ge-
worfen. Er wollte sich zusätzlichen Ärger vom Hals schaffen. Seine Hände wusste er zu gebrauchen, eine Waffe nicht. Dafür brauchte man Verstand. Man musste überlegen, Dinge beachten und so weiter. Das war nicht Stevies Art. Für ihn mussten die Dinge einfach ablaufen. Der zweite Wagen, den er zu stehlen versuchte, ein weißes 1992er Oldsmobile Cutlass Calais, ließ beinahe seinen Glauben an Gott wieder aufleben. Das Fenster konnte er mit etwas Druck so weit herunterschieben, dass er hineingreifen und die Tür öffnen konnte. Dann glitt er auf den Fahrersitz und überlegte, was zu tun war. Er öffnete das Handschuhfach auf der Suche nach einem passenden Werkzeug. Nichts, aber da war ein kleines schwarzes Münztäschchen aus Leder. Er klappte es auf. Ein Schlüssel. Ein Schlüssel mit einem Kunststoffgriff. Ein OldsmobileSchlüssel. Der Wagen sprang beinahe auf Anhieb an, und Stevie war unterwegs. Wohin? Der Jockey. Er war nicht sicher, ob er Jake Laudano trauen konnte. Die Beziehung zwischen ihnen, dem langsamen, starken großen Kerl und dem nervösen kleinen Mann, war eher geschäftlicher als freundschaftlicher Natur. Keiner der beiden war besonders flink im Kopf. Aber Stevie hatte, wie er dachte, kaum eine Wahl. Entweder der Jockey oder das Krankenhaus, vorausgesetzt er schaffte es bis zur Wohnung des Jockeys. Nein, so beschloss er, während er fuhr, es gäbe keine Wahl. Er würde es schaffen. Die nächsten vierzig Minuten gingen einfach verloren. Als er wieder erwachte, drang gedämpftes Tageslicht durch die Fensterscheibe, und er lag auf einem abgenutzten Sofa, das viel zu klein für ihn war. Langsam setzte er sich auf. Sein Bein war bandagiert. Das Pulsieren war erträglich. Und sein Selbstvertrauen wieder erwacht. Er befand sich in einer kleinen Einzimmerwohnung.
Das Sofa stand an der einen Wand – ein Schrankbett, das derzeit zugeklappt war, an der anderen. Plötzlich öffnete sich die Wohnungstür. Stevie versuchte, auf die Beine zu kommen, aber sein verwundetes Bein hielt ihn zurück. Der Jockey kam mit einer Papiertüte in einer Hand zur Tür herein. »Hab dir Kaffee geholt«, sagte er. »Und ein paar Doughnuts.« »Danke«, sagte Stevie, warf einen Blick in die Tüte, die Jake ihm gegeben hatte, und nahm den Kaffee heraus. Ihm war mulmig. Der Kaffee und die Doughnuts konnten ihm vielleicht helfen. Er war tatsächlich hungrig. Er griff nach einem Doughnut und lachte. »Was ist so lustig?«, fragte Jake. »Gestern war mein Geburtstag.« »Ehrlich wahr?«, fragte der Jockey. »Herzlichen Glückwunsch.« Anders Kindem, außerordentlicher Professor für Linguistik an der Columbia University, hatte nur noch den Hauch eines norwegischen Akzents. Mac hatte über ihn in einem Artikel in der New York Times gelesen. Kindem hatte wohl endgültig bewiesen, dass William Shakespeare, nicht Christopher Marlowe, Sir Walter Raleigh oder John Grisham war. Kindem, noch keine vierzig, trug glattes blondes Haar, wirkte ein wenig unbeholfen und lächelte ständig. Er war kaffeesüchtig und nahm seine Droge aus einem übertrieben großen weißen Becher zu sich, auf dem in den verschiedensten Farben das Wort »Worte« zu lesen war. Eine Tasse desselben lauwarmen Gebräus sah Mac neben einem der vier Computermonitore stehen. Kindem braute seinen Kaffee aus selbst gemahlenen
Bohnen, die er in einer grünen Dose neben der Kaffeemaschine aufbewahrte. In dem Raum gab es insgesamt vier Rechner auf jeweils zwei gegenüberstehenden Schreibtischen. Der Professor saß zwischen den vier Computern auf einem Drehstuhl. Mac sah zu, wie er hin und her rollte, sich um seine eigene Achse drehte und wieder zurückfuhr. Er erinnerte dabei an einen Musiker, der an einem wertvollen Konzertflügel hochkonzentriert ein schwieriges Stück einspielte. Sein wissenschaftliches Ansehen wurde durch die Jeans und das grüne Sweatshirt mit den hochgerollten Ärmeln stark beeinträchtigt. Auf der Vorderseite des Sweatshirts standen zudem in großen weißen Lettern die Worte ›MAN MUSS NUR WISSEN, WO MAN SUCHEN MUSS‹. Noch bevor Mac Kindems Büro betreten hatte, hatte er die Musik gehört. Als Kindem ihn sah, verringerte er die Lautstärke und sagte: »Detective Taylor, wie ich annehme.« Mac schüttelte ihm die Hand. »Stört Sie die Musik? Mir hilft sie, mich zu konzentrieren.« »Bach«, stellte Mac fest. »Synthesizer.« »Switched On Bach«, bestätigte Kindem die Vermutung. Mac schaute sich um. Jetzt sah er, dass noch ein dritter Schreibtisch mit einem Computer in dem Raum stand und die Stühle drum herum alle auf den Monitor ausgerichtet waren. An den Wänden hingen gerahmte Zeugnisse und Auszeichnungen, die von dem wissenschaftlichen Ehrgeiz des Hochschuldozenten zeugten. Kindem folgte dem Blick des Detectives und sagte: »Ich leite kleine Seminare, eigentlich handelt es sich eher um Diskussionsrunden für die Studenten im Aufbaustudium, die ich betreue.« Mit einem Nicken deutete er auf die drei Stühle.
»Sehr kleine Seminare. Und der ganze Wandschmuck? Nun, was soll ich sagen. Ich bin ehrgeizig und besitze einen kleinen Hauch akademischer Eitelkeit. Möchten Sie mir jetzt die Disketten geben?« Mac fand ein freies Plätzchen an einem der Schreibtische. Er öffnete seine Aktentasche und zog die Disketten heraus, auf denen die Dateien von Louisa Cormiers Büchern abgespeichert waren. Jede einzelne steckte in einem separaten Schutzumschlag, der exakt etikettiert worden war. Er reichte sie dem Professor. »Sie werden sie wohl erst lesen wollen«, sagte Mac. »Rufen Sie mich an, wenn Sie mir irgendetwas darüber sagen können.« Mac gab Kindem eine Karte. Kindem hatte die Disketten zwischen den beiden Computern auf einem der Tische abgelegt. »Ich muss sie nicht lesen und will es auch nicht. Erst recht nicht auf einem Monitor. Ich verbringe schon mehr als genug Zeit damit, alles Mögliche auf dem Monitor zu lesen. Wenn ich einen Roman lesen möchte, will ich ihn als Buch zwischen meinen Händen halten.« Mac konnte ihm nur zustimmen, sagte aber nichts. Kindem lächelte. »Ein paar Dinge kann ich Ihnen ganz schnell verraten, falls es sich um einfache Fragen handelt. Sollten sie eine vollständige Analyse benötigen, so müssen Sie mir einen Tag Zeit lassen. Ich werde dann einen meiner Studenten damit beauftragen, einen Bericht anzufertigen, den er ihnen per E-Mail zuschicken wird.« »Klingt gut«, sagte Mac. »Okay«, sagte Kindem und schob die Disketten in einen Tower zwischen den Monitoren. Jede der Disketten glitt mit einem Klicken und einem leisen Summen in den Schacht. »Also«, sagte er, »wonach suche ich?«
»Ich möchte wissen, ob alle Bücher von derselben Person geschrieben wurden«, erklärte Mac. »Und?«, fragte Kindem weiter. »Alles, was Sie mir sonst noch über den Autor erzählen können.« Kindem machte sich an die Arbeit und demonstrierte seine Kunstfertigkeit an der Tastatur. Er drehte nebenbei die Lautstärke der CD wieder auf und glich danach einem Musiker, der sein Instrument im Takt der Musik spielt. »Worte, ganz einfach«, sagte Kindem, als er zwischen den Computern hin und her rollte und Befehle eintippte. »Aber sagen Sie das nicht dem Leiter des Fachbereichs. Der hält das für schwer. Er tut so, als würde er das hier verstehen. Ich verzichte darauf, ihn auf seine zahlreichen Fehler aufmerksam zu machen. Worte sind leicht. Musik ist schwerer. Geben Sie mir zwei Musikstücke, und ich gebe sie in den Computer ein und sage Ihnen, ob sie von derselben Person geschrieben wurden. Hätten Sie gedacht, dass Mozart von Bach geklaut hat?« »Nein«, sagte Mac. »Hat er auch nicht«, sagte Kindem. »Ich habe das einem angeblichen Gelehrten nachgewiesen, der mit diesem akademischen Beschiss eine Professur in Leipzig ergattern wollte.« So ging es noch etwa zehn Minuten lang weiter. Er redete ununterbrochen, trank Kaffee und wechselte von einem Monitor zum anderen. »Ausrufezeichen«, sagte er. »Ein guter Punkt für den Anfang. Ich mag sie nicht, und ich benutze sie auch nicht. Keine Ausrufezeichen in wissenschaftlichen und akademischen Schriften. Zeigt nur einen Mangel an Vertrauen in die eigenen Worte. Das Gleiche gilt für die Fiktion. Der Autor vertraut den Worten nicht, also versucht er, ihre Wirkung zu verstärken. Interpunktion, Vokabular, Wortwiederholungen, Anzahl der Adverben und Adjektive. Es ist wie mit den Fingerabdrücken.«
Mac nickte. »Die ersten drei Bücher«, sagte Kindem. »Überladen mit Ausrufezeichen. Über zweihundertfünfzig in jedem der Bücher. Dann, in allen späteren Büchern, verschwinden sie. Der Autor ist erleuchtet worden, oder …« »Wir haben es mit einem anderen Autoren zu tun«, sagte Mac. »Sie haben es begriffen«, sagte Kindem. »Und da ist noch viel mehr. In den ersten drei Büchern taucht das Wort ›sagte‹ durchschnittlich dreißigmal pro Buch auf. Ich werde das noch überprüfen, aber es scheint, als würde der Autor das Wort ›sagte‹ vermeiden wollen und ständig nach anderen Möglichkeiten suchen, den Dialog zu skizzieren. So schreibt der Autor statt ›sagte sie‹ beispielsweise ›rief sie‹ oder ›keuchte sie‹. In den späteren Büchern taucht das Wort ›sagte‹ aber durchschnittlich zweihundertsechsundachtzigmal auf. Zunehmendes Selbstvertrauen? Vielleicht. Wollen Sie noch mehr?« Mac nickte. »Das Satzgefüge in den ersten drei Bänden ist weitaus komplizierter, die Sätze sind länger.« Kindem sah auf den Monitor. »Ein unerfahrener Leser wird das bewusst vielleicht gar nicht wahrnehmen, aber unbewusst … Sie sollten mit jemandem von der psychologischen Fakultät sprechen.« »Sonst noch was?« »Eine Menge«, sagte Kindem. »Das Vokabular. Beispielsweise taucht das Wort ›vergelten‹ in jedem der ersten drei Bücher durchschnittlich elfmal auf. In den anderen Büchern gar nicht.« »Könnte die Veränderung nach den ersten drei Büchern darauf zurückzuführen sein, dass der Autor beschlossen hat, den Stil zu ändern, oder dass er tatsächlich besser geworden ist?« »Nicht bei einer so umfassenden Veränderung«, wandte Kindem ein. »Und ich denke, ich werde noch mehr finden, wenn Sie mir ein paar Stunden Zeit lassen.«
»Das Schema ist in allen Büchern ziemlich ähnlich«, sagte Mac. »Frau, verwitwet oder noch nicht verheiratet, obwohl sie bereits Mitte dreißig ist, hat ein Kind oder ist für eines verantwortlich, das durch einen rachsüchtigen Verwandten, die Mafia oder einen Serienkiller in Gefahr gerät. Die Hilfe der Polizei ist nicht ausreichend. Die Frau muss sich und das Kind schützen. Und irgendwo auf den letzten dreißig Seiten tritt die Frau dem Bösen gegenüber und gewinnt durch die Hilfe eines neuen Mannes, den sie im Laufe der Geschichte irgendwann getroffen hat, die Oberhand.« »Was bedeutet, dass derjenige, der diese Bücher geschrieben hat, stets dem gleichen Schema folgt«, sagte Kindem. »Es bedeutet nicht, dass es immer dieselbe Person war.« Nun war Mac endgültig überzeugt. Louisa Cormier hatte die ersten drei Bücher geschrieben. Charles Lutnikov alle anderen. Aber warum sollte sie ihn erschossen haben, fragte sich Mac. Ein Streit? Weshalb? Geld? »Wollen Sie die Ergebnisse in gedruckter Form?« »E-Mail«, antwortete Mac. »Die Adresse steht auf der Karte.« »Werden Sie mich als Zeugen vor Gericht brauchen?« »Möglich.« »Gut«, sagte Kindem. »So etwas wollte ich schon immer mal erleben.« Benommen und schmerzgeplagt saß Stella auf dem Beifahrersitz, während Danny das Auto steuerte. Zum achten Mal ging Stella nun schon die Akte von Alberta Spanios Ermordung durch. Sie betrachtete die Tatortfotos – Leiche, Bett, Wände, Beistelltisch. Und sie betrachtete die Fotos vom Badezimmer – Toilette, Boden, Badewanne, offenes Fenster über der Wanne. Etwas klingelte in ihrem Kopf. Etwas war falsch. Es war ein Gefühl, als würde sie versuchen, sich an den Namen eines
Schauspielers oder eines Schriftstellers zu erinnern. Oder an den des Mädchens, das damals, vor unzähligen Jahren, im Matheunterricht in der Schule neben ihr gesessen hatte. Sie wusste, dass der Name in ihrem Kopf verborgen war. Aber man konnte das ganze Alphabet fünfzehnmal hintereinander durchgehen und würde den Namen doch nicht finden, und dann, plötzlich, tauchte er wie aus dem Nichts wieder auf. Sie las die Zeugenaussagen von Taxx und Collier, der beiden Männer, die Alberta Spanio hätten schützen sollen. Dann, als sie weiterlas, ging ihr ein Licht auf. Sie blätterte zu den Badezimmerfotos zurück. Collier hatte Flack erzählt, er hätte in der Wanne gestanden, um aus dem Fenster zu sehen. Wenn der Mörder durch das Fenster gekommen war, hätte er oder sie den ganzen Schnee, der sich vor dem Fenster angehäuft hatte, in die Wanne schieben müssen. In der Wanne hätte geschmolzener Schnee liegen müssen, als Collier hineingestiegen war. Doch auf Stellas Fotos war in der Wanne keine Spur von Feuchtigkeit zu sehen. Und auf den Bodenfliesen waren auch keine Abdrücke von Colliers Schuhen zu sehen, obwohl die doch feucht gewesen sein müssten, nachdem er in der Wanne gestanden hatte. Warum, überlegte sie, hatte Collier gelogen? Sheldon Hawkes saß neben Mac am Schreibtisch und schaute auf die Videoaufnahme. »Noch einmal«, sagte Hawkes und beugte sich noch weiter vor. Mac spulte zurück und trank Kaffee, während Hawkes sich die zwanzigminütige Aufnahme noch einmal ansah, stoppte, und vor- und zurückspulte. »Hören wir uns auch das Band von der Vernehmung noch einmal an.«
Mac drückte auf den Knopf, und sie hörten sich das Tonband an, das er während der Vernehmung von Jordan Breeze aufgenommen hatte. »Willst du ihn sehen?«, fragte Mac. »Wahrscheinlich werden wir nur in dem bestätigt, was wir schon wissen.« Hawkes erhob sich und sagte: »Du hast Recht.« Dann erzählte er Mac, was er festgestellt hatte. »Sicher«, sagte Mathew Drietch. Er war drahtig, um die vierzig Jahre alt, hatte schütteres gelbblondes Haar und das Gesicht eines Boxers. Seine Äußerung war die Antwort auf Aiden Burns Bitte, ihr die .22er zu zeigen, die Louisa Cormier für Probeschüsse auf dem Schießstand benutzt hatte. »Mögen Sie das Geräusch von Schüssen?«, fragte Drietch. »Nicht besonders.« »Ich schon«, sagte er und blickte an ihr vorbei zu der Glastür, hinter der die einzelnen Boxen für das Schießtraining mit den Handfeuerwaffen zu sehen waren. »Das Krachen, die Energie – wissen Sie, was ich meine?« »Nicht so ganz«, gab Aiden zu. »Können Sie mir jetzt die Waffe zeigen?« Langsam erhob er sich und zog dabei seine schwarze Freizeithose hoch. »Wann war Louisa Cormier zum letzten Mal hier?«, fragte sie. »Vor ein paar Tagen. An dem Tag vor dem Sturm, glaube ich, aber das kann ich überprüfen.« Er ging zu der Tür seines Büros und öffnete sie. Drietch wartete, bis Aiden hindurchgegangen war, dann überholte er sie und zeigte ihr den Weg. Sie passierten einige Schützen, die gerade in den einzelnen Boxen trainierten. »Die Kälte lockt sie her«, erklärte Drietch. »Sie werden unruhig und wollen auf irgendwas schießen. Das bringt sie völlig aus der Spur.«
Aiden antwortete nicht. Drietch stand vor einer Tür neben dem Empfangstresen und wartete. Ein Mann, stämmig, beinahe kahl, griff unter den Tresen, drückte auf einen Knopf, und die Tür öffnete sich. »Ich habe einen Schlüssel«, sagte Drietch, »aber Dave ist fast immer hier.« Der Raum war klein, hell und mit deckenhohen Regalen ausgestattet, in deren Fächern kleine Metallkassetten ruhten. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, aber es gab keine Stühle. »Wir haben hier fast vierhundert Handfeuerwaffen«, erklärte Drietch, während er seinen Schlüsselbund aus der Tasche zog. »Der Generalschlüssel passt für alle.« Er nahm eine Kiste behutsam heraus und stellte sie auf dem Tisch ab. Aiden betrachtete die Kiste und die Regale. »Manche der Metallkassetten haben Vorhängeschlösser, andere nicht«, sagte sie. »Wo keine Waffe drinliegt, da gibt es auch kein Schloss«, erklärte er. »Diese Kiste hat auch kein Schloss«, stellte sie fest. »Muss wohl vergessen haben, es wieder anzubringen. Vermutlich liegt es drin.« Drietch schien die Zügel recht locker zu halten, dachte Aiden. Er war nicht so achtsam, wie er ihr gegenüber vorgab. »Aber die Munition ist in einem Safe«, beeilte sich Drietch zu sagen, denn der Tadel in ihrer Miene war ihm nicht verborgen geblieben. Aiden sagte nichts. Sie beugte sich vor und hob den Deckel der Metallkassette hoch. Im Inneren befand sich eine Waffe, eine Walther .22, exakt die gleiche Waffe wie die, die Louisa in der Schublade ihres Schreibtischs aufbewahrte. »Scheibenwaffe«, verkündete Drietch. »Trotzdem kann man damit töten.« Aiden schob einen Bleistift in den Pistolenlauf und hob die Waffe aus der Kiste.
Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um festzustellen, dass die Waffe erst vor kurzer Zeit gereinigt worden war. »Hat Louisa Cormier die Waffe gereinigt?« »Nein, das macht Dave.« Aiden tütete die Waffe ein und drehte sich zu Drietch um. »Ich brauche eine Quittung dafür«, sagte er. Sie zog ihr Notizbuch hervor und schrieb eine Quittung aus. Dann setzte sie ihre Unterschrift darunter und übergab sie Drietch. »Ist Ms Cormier allein, wenn sie die Kassette öffnet?« »Nein. Sie steht da und wartet. Ich habe den Schlüssel. Ich nehme sie heraus, vergewissere mich, dass sie nicht geladen ist und gebe sie ihr. Dann bringe ich ihr die Munition auf den Stand. Wenn sie mit dem Schießen fertig ist, gibt sie mir die Waffe zurück, und ich schließe sie ein.« »Das Schloss und die Kassette rührt sie gar nicht an?«, hakte Aiden nach. »Sie hat keinen Schlüssel«, antwortete er geduldig. Aiden nickte und untersuchte die Kiste nach Fingerabdrücken – sie fand vier. Sie würde außerdem die Toiletten, die Abfalleimer und die Mülltonnen draußen durchsuchen. Vielleicht gab es dort ja Hinweise auf das fehlende Schloss. Das würde keinen Spaß machen, war aber immer noch besser als die Suche nach der Kugel im Fahrstuhlschacht. Alles in allem dauerte es zwanzig Minuten, aber dann hatte Aiden den kostenpflichtigen Parkplatz nebenan auch zweimal kontrolliert. Als sie wieder hineinging, stand Drietch in einer freien Box auf dem Schießstand. Auf dem Pult, an dem er lehnte, lag eine Waffe, auf die er mit dem Finger zeigte. Als Aiden näher kam, trat er zur Seite, um ihr Platz zu machen.
Die C.S.I.-Ermittlerin zielte und drückte ab. Die schwarzen Kreise auf dem weißen Grund waren etwa sechs Meter entfernt. Sie verschoss fünf Patronen und gab ihm die Waffe zurück. Etwas auf dem Boden des Schießstands hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Drietch betrachtete die Zielscheibe. Die Schüsse verteilten sich alle im Zentrum. Aiden hätte genauso gut gezielt, wenn die Zielscheiben doppelt so weit entfernt gewesen wären. »Sie sind gut«, sagte er in respektvollem Ton. »Danke. Lassen Sie bitte alle aufhören zu schießen und sagen Sie den Leuten, sie sollen die Waffen niederlegen.« »Warum zum …?«, fing er an. »Weil da draußen ein Schloss auf dem Boden liegt«, sagte sie. »Und das werde ich als Beweismittel an mich nehmen.« »Es ist alles bereit«, sagte Arthur Greenberg. Mac hatte ihn angerufen, um ganz sicherzugehen. »Schnee, Regen, nichts außer dem Zorn Gottes wird uns aufhalten«, fuhr Greenberg fort. »Gibt es irgendjemanden, den Sie verständigen möchten?« »Nein«, sagte Mac. Er wartete im Gerichtsgebäude darauf, dass ein Martin Witz, Detective der Mordkommission, und eine Ellen Carasco, stellvertretende Staatsanwältin, aus dem Büro von Richter Meriman kamen und ihm einen Durchsuchungsbefehl für das Appartement von Louisa Cormier übergaben. »Dann«, sagte Greenberg, »sehen wir uns morgen Früh um zehn?« »Ja«, sagte Mac, den Blick auf die massive Tür mit dem polierten Messingschild gerichtet, auf dem in beeindruckender Schrift der Name des Richters zu lesen war. Greenberg legte auf. Mac tat das Gleiche, und in dem Moment öffnete sich die Tür des Richterzimmers, aus der Ellen heraustrat.
»Er will mit Ihnen sprechen.« Carasco besaß eine schmale Silhouette. Aber Mac wusste, dass sich unter ihrem locker sitzenden Kostüm die Muskeln einer Bodybuilderin verbargen. Carasco zählte weltweit zu den Top-Dreißig der weiblichen Bodybuilder. Ihr Gesicht war hübsch, die Haut glatt, das Haar dunkel und lang. Stella hatte mehr als nur einmal angedeutet, Carasco würde ihn nicht abweisen, sollte er sie zum Essen einladen. Mac war den Einflüsterungen nie gefolgt. Und er hatte auch nicht vor, es zu tun. Der C.S.I.-Ermittler folgte ihr in das Richterzimmer, wo Detective Martin Witz schwerfällig auf einem rötlich braunen Ledersessel vor dem Schreibtisch des Richters Platz genommen hatte. Meriman, der sich dem Ruhestand näherte und stolz auf seine weiße Mähne und den gepflegten, weißen Schnauzbart war, nickte Mac zu. Der erwiderte die Geste. »Wir haben uns die Beweismittel angesehen«, sagte Meriman mit geübtem Bariton. »Ich möchte sie noch einmal mit Ihnen durchgehen, ehe ich meine Entscheidung treffe.« Wieder nickte Mac. Meriman streckte die Hand aus, um anzudeuten, er möge sich hinsetzen. Mac setzte sich in aufrechter Haltung auf einen Sessel, der dem von Witz glich. Carasco blieb zwischen den beiden Männern stehen. »Das Opfer war Charles Lutnikov«, begann Mac. »Hat im selben Gebäude gewohnt wie Louisa Cormier. Sie kannten einander.« »Wie gut?«, fragte der Richter. »Den Beweisen zufolge ziemlich gut.« Mac erzählte dem Richter von Aiden Burns Entdeckungen auf der Drietch’s Range, von der offenen Metallkassette und der Handfeuerwaffe des gleichen Kalibers wie die von Louisa Cormier. Er erwähnte auch die Kugel im Fahrstuhlschacht und das Farbband aus der Schreibmaschine Lutnikovs, auf dem der
Text zu lesen war. Bei der Gelegenheit wies er auf Kindems Bericht hin, demzufolge nicht Louisa Cormier, sondern eine andere Person den überwiegenden Teil ihrer Romane geschrieben haben könnte – und das war der Schluss seiner Beweismittelkette. »Wurde geprüft, ob die Waffe zu der Kugel passt?«, fragte Meriman. »Wir sind gerade dabei.« »Dünn«, kommentierte der Richter, faltete die Hände und sah nacheinander seine drei Besucher an. »Durchsuchungsbefehle wurden schon auf der Grundlage von weniger Beweisen erteilt«, wandte Carasco ein. »Ich habe zwei Hinweise für Sie«, begann Meriman. »Erstens: Wir sprechen hier über eine weltberühmte Schriftstellerin, die genügend Geld besitzt, um mühelos einen kostspieligen und gerissenen Anwalt zu beauftragen. Zweitens: Ihre Beweise sind überwiegend Indizien ohne Substanz. Überaus suggestiv, da stimme ich Ihnen zu, aber …« Macs Mobiltelefon vibrierte in seiner Tasche. Er griff danach und sagte: »Es tut mir Leid, Euer Ehren, aber das könnte der Sache dienlich sein.« »Fassen Sie sich kurz«, sagte der Richter und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Und brechen Sie das Gespräch ab, falls es für Ihren Antrag auf Erteilung eines Durchsuchungsbefehls nicht relevant ist.« Mac meldete sich: »Ja.« Er lauschte. Das Telefonat dauerte nicht länger als zehn Sekunden. Er klappte das Telefon zu und steckte es wieder in die Tasche. »Das war die C.S.I.-Ermittlerin Burn. Auf dem Schloss, das gewaltsam von der Kiste entfernt worden ist, sind zwei saubere Fingerabdrücke. Sie stammen beide von Louisa Cormier.« »War ihre Waffe in der Metallkassette?«, fragte der Richter.
»Nein«, antwortete Mac. »Sie gehört dem Schießstand. Der Eigentümer sagt, Ms Cormier hatte keinen Schlüssel für das Schloss. Sie muss aber den Abdrücken zufolge wenigstens gewusst haben, in welcher Metallkassette diese Waffe zu finden ist.« Aiden hatte noch etwas anderes erzählt, etwas, das Mac dem Richter allerdings nicht sagen wollte. Er würde es nur dann preisgeben, wenn es notwendig war. Aiden hatte nämlich außerdem herausgefunden, dass die Kugel aus dem Fahrstuhlschacht nicht aus der Waffe des Schießstands stammen konnte. Warum, überlegte Mac, war Louisa Cormier bei Drietch eingebrochen, um sich eine Waffe zu besorgen, die doch nicht die Mordwaffe war? Das Problem, so dachte Mac weiter, war, dass seine Hauptverdächtige eine Krimiautorin war, die wusste, wie man eine Ermittlung geradewegs im Land von Oz enden ließ. Richter Meriman drehte sich mit seinem Stuhl herum und blickte hinaus in den grauen Tag. Es würde auch heute wieder neuen Schnee geben. Dann drehte er sich wieder zurück und sagte: »Ich werde einen Durchsuchungsbefehl für Louisa Cormiers Appartement ausstellen, um eine .22er-Waffe zu suchen, die zu der Kugel, die Sie im Zuge der Ermittlungen gefunden haben, passen könnte.« Die Waffe, die Louisa Cormier ihnen gezeigt hatte, konnte unmöglich zu der Kugel aus dem Fahrstuhlschacht passen. Davon war Mac überzeugt. Die Chancen, dass sie also in der Wohnung noch eine dritte .22er finden würden, waren äußerst gering. Sollte es aber doch noch eine dritte Waffe geben, die bisher unentdeckt geblieben war, dann hatte Louisa Cormier sie höchstwahrscheinlich in der Zwischenzeit beseitigt. Für den Augenblick jedoch genügte es, wenn die C.S.I.-Ermittler wenigstens Louisa Cormiers Wohnung durchsuchen konnten, und die Gelegenheit wollte sich Mac nicht entgehen lassen.
»Danke«, sagte er zu dem Richter. »Ich brauche einen forensischen Beweis, dass die fragliche Waffe, sollten Sie sie finden, die ist, mit der Lutnikov getötet wurde. Wenn die .22er vom Schießstand nicht die Mordwaffe ist, können Sie Schussversuche mit jeder .22er ausführen, die Sie in Louisa Cormiers Appartement finden, um sie mit der Kugel aus dem Fahrstuhlschacht zu vergleichen.« Der Richter schaute Mac auffordernd an. »Sollte sich bei der Suche nach der Waffe andeuten, dass es weitere Beweise dafür gibt, dass Louisa Cormier in das zu untersuchende Verbrechen verwickelt ist, so müssen diese während der Wohnungsdurchsuchung entdeckt worden sein. Ist das klar?« »Ja«, sagten Carasco, Witz und Taylor im Chor. »Dann sind wir fertig.« Meriman griff zu seinem Telefon, drückte auf die Taste und forderte die Person am anderen Ende auf, in sein Büro zu kommen. »Eines sollten Sie noch wissen, Euer Ehren«, begann Carasco, »uns liegt das Geständnis einer anderen Person vor.« Der Richter lehnte sich mit einem ärgerlichen Seufzer zurück. »Detective Taylor glaubt, das Geständnis sei falsch«, fügte Carasco hinzu. »Wenn Sie Beweise liefern können, dass das Geständnis falsch ist, dann werde ich den Durchsuchungsbefehl für Louisa Cormiers Appartement ausstellen«, beendete er das Gespräch. »Und jetzt gehen Sie. Sie haben genug von meiner Zeit verschwendet.« Die drei Besucher verließen das Büro und hörten, wie hinter ihnen mit einem leisen Klicken ein Radio eingeschaltet wurde.
13
»Mr Marco hat Ihnen nichts zu sagen«, verkündete Helen Grandfield, als Stella und Danny das Büro in Begleitung zweier uniformierter Beamter betraten. »Und dies ist Privatbesitz. Sollten Sie also keinen Durchsuchungsbefehl haben …« »Das ist ein Tatort«, sagte Stella. Der Geruch von frischem Brot musste überall in der Luft liegen, aber Stella roch rein gar nichts, stattdessen unterdrückte sie den Drang, sich ihre Nase zu putzen. »Was für ein Tatort?«, fragte Helen Grandfield und erhob sich. »Wir haben Beweise, die unzweifelhaft darauf hindeuten, dass in Ihrem Korridor ein Polizeibeamter ermordet wurde«, erklärte Danny. Helen Grandfield starrte Danny und die beiden uniformierten Polizisten, die die Ermittler begleiteten, an. »Das ist Blödsinn«, blaffte sie. »Mrs Contranos«, sagte Stella. »Ich benutze und bevorzuge den Namen Grandfield«, sagte sie. »Nur nicht an der Tür Ihres Appartementhauses«, konterte Stella. »Außerdem wurden Sie als Helen Marco geboren. Eine Menge Namen.« Helen Grandfield gab sich Mühe, nicht gar zu wütend dreinzublicken, aber es gelang ihr nicht. »Wir möchten wissen, ob einer Ihrer Bäckereiangestellten heute Morgen nicht zum Dienst erschienen ist, und wir möch-
ten mit jedem sprechen, der in der Bäckerei arbeitet. Außerdem müssen wir darauf bestehen, noch einmal mit Ihrem Vater zu sprechen.« Die Erwähnung ihres Geburtsnamens und der Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit Dario Marco brachte die Frau, die gerade zum Protest ansetzen wollte, zum Schweigen. »Ms Contranos, Sie wohnen an der President Street in Brooklyn Heights. Hat ein Angehöriger der Bäckerei Sie letzte Nacht dort besucht?«, fragte Stella. »Nein. Warum?« »Jemand hat vor Ihrer Tür geblutet«, erklärte Stella und merkte, wie ihr selbst mulmig wurde. »Und jemand hat sich erbrochen. Sie wissen doch, dass wir die Person mit einer DNS-Analyse ermitteln können.« Die Frau stand da, die Arme um den Leib geschlungen, und zitterte. »Wir würden Ihre Kooperation zu schätzen wissen«, versprach Stella. »Mein Vater ist noch nicht hier. Ich brauche seine Erlaubnis, um …« Stella schüttelte abwehrend den Kopf, noch ehe die Frau ihren Satz beenden konnte. »Was ist mit Steven Guista?« »Das ist einer unserer Lieferwagenfahrer«, entgegnete Helen Grandfield, bemüht, ihre Haltung zu bewahren. »Wir möchten mit ihm sprechen.« »Ich bin nicht …« »Er hat einen Polizeibeamten angegriffen und wird in Verbindung mit dem Mord an Alberta Spanio gesucht. Die Frau, die heute oder morgen gegen Ihren Onkel aussagen sollte. Reicht das?«, fragte Stella. Helen Grandfield sagte nichts, atmete tief durch und ergriff dann mit ruhiger Stimme wieder das Wort.
»Steve Guista hat frei. Gestern war sein Geburtstag. Mein Vater hat ihm zwei Tage freigegeben. Ich kann Ihnen seine Adresse geben.« »Die haben wir«, sagte Stella. »Also, wer ist heute sonst noch abwesend, obwohl er eigentlich hier sein sollte?« »Alle sind ordnungsgemäß zur Arbeit erschienen.« »Wir brauchen eine Namensliste der Angestellten und einen Raum, in dem ich mit jedem Einzelnen sprechen kann.« »Wir haben keinen Raum, der dafür geeignet wäre.« »Schön«, sagte Stella. »Dann machen wir es eben in der Backstube.« Stella hielt es nicht länger aus. Sie fischte ein dickes Taschentuch aus ihrer Tasche und schnäuzte sich die Nase. Jordan Breeze saß ein weiteres Mal Detective Mac Taylor im Verhörzimmer gegenüber. Beide Männer hatten Pappbecher mit Kaffee vor sich stehen. Mac schaltete den Kassettenrekorder an und klappte die Aktenmappe auf, die auf dem Tisch lag. Sie war dicker als bei der letzten Unterhaltung. »Sie haben Charles Lutnikov nicht umgebracht.« Breeze lächelte und trank etwas Kaffee. »Ihre Hand zittert.« »Nervosität.« »Nein.« Mac schüttelte den Kopf. »Multiple Sklerose.« »Sie hatten kein Recht, meinen Arzt nach dieser Diagnose zu fragen«, regte Breeze sich auf. »Dazu brauche ich Ihren Arzt gar nicht«, sagte Mac. »Wir haben einen eigenen Arzt, und der hat Sie beobachtet. Ruckartige Augenbewegungen. Störung der Augenmobilität und Augenmotorik. Sie haben gestottert, als ich mit Ihnen gesprochen habe, und mir ist aufgefallen, dass Sie Probleme hatten, Ihre Tasse zu greifen. Ihre Hände haben gezittert. Sie geben sich viel Mühe und sprechen langsam und bedächtig, um eine un-
deutliche Aussprache zu vermeiden, aber Sie können das nicht vollständig kontrollieren. Sie können nicht gerade sitzen. Sie sacken immer wieder zusammen. Als ich Ihre Hand berührt habe, war sie auffallend kalt. Und zweimal, als Sie in Ihrer Zelle auf und ab gegangen sind, sind Sie beinahe gestürzt. Sie hätten im Schnee niemals bis zum Fluss und wieder zurück marschieren können.« Langsam richtete Breeze sich auf dem Stuhl auf. »Sehen Sie doppelt?«, fragte Mac. »Leiden Sie unter Muskelschwäche? Muskelzuckungen? Schmerzen im Gesicht? Übelkeit? Inkontinenz?« Breeze erbleichte und stellte den Pappbecher auf dem Tisch ab, bemüht, nichts zu verschütten. »Gedächtnisstörungen?« »Meine Krankenakte bekommen Sie nicht.« »Sie haben einen Mord gestanden«, sagte Mac. »Wir stecken Sie ins Gefängnis und lassen Sie vom Gefängnisarzt untersuchen.« Breeze sagte nichts. »Wie viel Zeit bleibt Ihnen, bis die Krankheit vollständig ausbricht?« »Ein Jahr, zwei.« »Haben Sie eine Familie, die sich um Sie kümmern würde?« »Keinen Menschen.« Breezes rechte Hand zitterte deutlich. »Sie hatten nie eine Waffe, oder?« Breeze antwortete nicht. »Wir haben einen Koffer in einem Schließfach gefunden«, sagte Mac. »Er war voll mit signierten Büchern von Louisa Cormier. Sie haben sie aus Ihrer Wohnung entfernt, als Sie von dem Mord gehört und sich mit Louisa Cormier abgesprochen haben.« »Sie hat sie für mich signiert«, sagte er. »Ich bin ein großer Fan. Das nächste Buch will sie mir sogar widmen.«
»Sie haben Charles Lutnikov nicht ermordet. Und er hat sie nie schikaniert.« »Ich war es.« »Hatte Lutnikov irgendetwas bei sich, als Sie ihn ermordet haben?« »Nein.« »Keine Zeitung, Bücher …?« »Nichts.« »Bezahlt Louisa Cormier Ihre Arztkosten?«, fragte Mac. Breeze antwortete nicht. Stattdessen drehte er den Kopf weg. Mac glaubte, Schmerz in seiner Miene erkannt zu haben. »Wir werden es herausfinden.« »Sie ist ein guter Mensch.« Mac sagte nichts dazu, und schließlich senkte Breeze den Blick. »Alles, was ich anfasse, geht schief.« »Hat Louisa Ihnen die Details über den Mord verraten?«, fragte Mac. »Ich denke, ich möchte jetzt doch einen Anwalt«, sagte Breeze. »Und ich denke, das ist eine gute Idee«, antwortete Mac. Eine Stunde später, nachdem er sich die Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Mac und Jordan Breeze angehört hatte, stellte Richter Meriman einen Durchsuchungsbefehl für Louisa Cormiers Appartement aus. Dieses Mal bot Louisa Cormier Aiden und Mac keinen Kaffee an. Sie war nicht abweisend, mürrisch oder auch nur unhöflich. Tatsächlich zeigte sie sich kooperativ und freundlich, aber Kaffee und charmantes Geplauder mit dem C.S.I.-Duo, das mit einem Durchsuchungsbefehl wedelte, standen heute eindeutig nicht auf ihrer Tagesordnung.
Als sie die Ermittler in die Wohnung ließ, wirkte sie in ihrem locker sitzenden Blümchenkleid ein wenig abgespannt und müde, und ihre Augen waren blutunterlaufen. »Bitte warten Sie«, sagte sie, kaum dass sie eingetreten waren. Mac und Aiden waren dazu nicht verpflichtet. Dennoch warteten sie, bis Louisa das Telefonat beendet hatte. An einem kunstvoll verzierten Tisch jenseits der Wohnungstür hatte sie mit ihrem drahtlosen Telefon ihren Anwalt angerufen. »Ja«, sagte Louisa am Telefon, darum bemüht, die Ermittler gar nicht zu beachten. »Ich halte ihn in der Hand.« Sie betrachtete den Durchsuchungsbefehl. »Soll ich ihn vorlesen? … Also schön. Bitte beeilen Sie sich.« Louisa legte auf. »Warum sind Sie hier?«, fragte sie. »Soweit ich gehört habe, hat bereits jemand den Mord an Mr Lutnikov gestanden.« »Wir glauben ihm nicht«, erklärte Mac. »Sein Name ist Jordan Breeze. Kennen Sie ihn?« »Flüchtig. Mein Anwalt wird in fünfzehn Minuten hier sein«, sagte sie. »Ich muss Sie bitten, alles so zu hinterlassen, wie Sie es vorgefunden haben.« Mac nickte. »Ich habe die Absicht, Ihnen zuzusehen«, fuhr Louisa fort. »Recherche für mein neues Buch.« »Mit dem Letzten sind Sie fertig?«, fragte Mac höflich. Louisa lächelte und sagte: »Fast.« Aiden und Mac blieben einen Moment schweigend stehen und warteten darauf, dass sie fortführe. Louisa legte eine Hand an ihre Stirn und sagte: »Es könnte mein Letztes gewesen sein, zumindest für eine Weile. Wie Sie sicher sehen, hat es mir sehr viel abverlangt. Darf ich fragen, was Sie hier zu finden hoffen? Vielleicht kann ich Ihnen ein wenig Zeit ersparen und gleichzeitig meine Teppiche und meine Privatsphäre sauber halten.«
»Unter anderem eine Pistole Kaliber .22«, sagte Mac. »Nicht die, die Sie uns gestern gezeigt haben. Und einen Bolzenschneider.« »Einen Bolzenschneider?«, fragte sie. »Auf der Drietch’s Range wurde das Vorhängeschloss an der Metallkassette, in der eine von Ihnen benutzte Pistole aufbewahrt wurde, aufgebrochen, vermutlich irgendwann im Lauf des gestrigen Tages.« »Und die Waffe aus der Kassette ist verschwunden?«, fragte sie, und ihre Blicke trafen sich. »Nein«, sagte Mac. »Nun, ich fürchte, Sie werden sich selbst umsehen müssen«, sagte Louisa. »Sie werden nichts finden. Ich allerdings sollte mir Notizen darüber machen, wie es sich anfühlt, eines Mordes verdächtigt zu werden. Schließlich bin ich ganz offensichtlich die Hauptverdächtige, nicht wahr?« »Sieht so aus«, antwortete Mac. »Eine Hauptverdächtige ohne Motiv«, fügte sie hinzu. Weder Mac noch Aiden antworteten ihr. Stattdessen zogen sie ihre Latexhandschuhe an und begannen dort mit ihrer Arbeit, wo sie sich gerade aufhielten – im Eingangsbereich. »Sie werden mich umbringen«, sagte Big Stevie zu Jake, dem Jockey. Stevie saß, tief eingesunken und mit schmerzendem Bein, auf dem Sofa, aber er dachte weder an seinen Geburtstag noch an den Schmerz, sondern allein an den Verrat, den Dario Marco begangen hatte. Eine andere Erklärung gab es nicht. Demnach war Stevie eine Belastung. Er wusste, was mit Alberta Spanio passiert war. Marco konnte das Risiko, dass Stevie geschnappt und zum Reden gebracht würde, nicht eingehen – also hatte er ihn mit der Adresse in Brooklyn in eine Falle gelockt.
Stevie hätte nicht geredet. Abgesehen von seiner kleinen Wohnung, seinem Job als Lieferwagenfahrer für die Bäckerei, ein paar Fernsehsendungen, die er gern sah, und einer Bar, in der er gern ein bisschen abhing, hatte er nur noch Lilly und ihre Mutter in der Wohnung gegenüber. Und Marco. Bis gestern hatte ihm das zu seinem Glück vollkommen gereicht. »Willst du Kaffee, einen Drink, irgendwas?«, fragte ihn der Jockey, der an dem Tisch in der Einzimmerwohnung saß. »Nein, danke«, sagte Stevie. Stevie und der Jockey hatten einige Jobs zusammen erledigt, meistens für die Familie Marco. Das Reden übernahm größtenteils der Jockey, wenn sie zusammen waren. Nicht, dass er zu den Leuten gehört hätte, die einfach nicht aufhören konnten zu reden, aber verglichen mit Stevie war er Leno oder Letterman. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte der Jockey. Stevie wollte nicht über seine Möglichkeiten nachdenken, aber er zwang sich dazu. Er konnte etwas Geld auftreiben, nicht viel, aber immerhin zwanzigtausend oder so. Falls er nicht von der Polizei überwacht wurde, konnte er es von der Bank abheben. Er konnte sich auch stellen, gegen Anthony und Dario Marco aussagen, vielleicht sogar einer Mordanklage entgehen und in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden. Was schuldete er Marco jetzt noch? Er hatte sich der Familie gegenüber absolut loyal verhalten, und sie hatten versucht, ihn umzubringen. Nein, selbst wenn er einen guten Anwalt finden und einen guten Handel abschließen könnte, würde er einige Zeit sitzen müssen. Er hatte einen Cop erdrosselt. Da kam er nicht drum herum. Stevie war einundsiebzig Jahre und ein paar Stunden alt. Er würde im Knast an Altersschwäche sterben, vorausgesetzt, die Marcos bekamen ihn nicht vorher in die Hände. Zurzeit konnte Stevie sich noch mühelos zur Wehr setzen, aber in ein paar Jahren war er vielleicht nicht mehr schnell ge-
nug, und im Knast konnte einem schnell etwas zustoßen. Vielleicht, falls er Glück hatte, würde er von den anderen Gefangenen isoliert werden, würde in einer eigenen Zelle leben und sterben. Nein, im Grunde gab es nur eine Sache, die er tun konnte. Er musste Dario Marco töten. Doch Dario umzubringen würde lediglich bedeuten, dass sie quitt wären. Vermutlich hatte er die beiden Männer, die versucht hatten, ihn vor dem Eingang zu Lynn Contranos Wohnhaus zu schnappen, kaltmachen sollen. Vielleicht hatte er sogar einen von ihnen getötet. Vielleicht lag der, den er in den Bauch geschlagen hatte, inzwischen mit inneren Blutungen in irgendeinem Krankenhaus und schloss in diesem Augenblick für immer die Augen. Dem zweiten Kerl hatte er nur die Nase gebrochen. Stevie glaubte sich zu erinnern, dass sein Name Jerry lautete. Stevie hatte ihnen die Waffe abgenommen und weggeworfen. Vielleicht hätte er sie behalten sollen, aber Stevie hatte Waffen noch nie gemocht. Vielleicht sollte er auch diese Lynn Contranos töten. Wenn er alle Fakten in Betracht zog, boten sich ihm wirklich nicht viele Möglichkeiten, wie er es anstellen sollte, am Leben zu bleiben. Er musste einfach der Letzte sein, der überlebt. Es klopfte an der Tür. Der Jockey stand ruckartig auf und sah erst Stevie und dann die Tür an. »Wer ist da?«, fragte Jake. »Polizei.« Viele Verstecke gab es hier nicht. Den Kleiderschrank oder das Badezimmer. Der Jockey deutete auf das Badezimmer. Stevie setzte sich auf. »Stell dich hinter die Tür«, flüsterte Jake. »Lass sie offen und zieh die Toilettenspülung.« Stevie kämpfte sich aus dem tiefen Sessel empor und humpelte zum Badezimmer, während Jake zur Tür ging. Unterwegs sah er sich um und suchte auf dem Boden nach verräterischen Blutspuren. Er konnte keine entdecken.
Stevie drückte auf die Spülung und versteckte sich hinter der offenen Tür. »Ich komme«, sagte der Jockey, sah sich noch einmal um und vergewisserte sich, dass Stevie im Bad war. Er machte den Reißverschluss seiner Hose auf und öffnete die Tür. Dann zog er den Reißverschluss wieder zu. Der Cop war allein, Zivilkleidung, Ledermantel. »Jacob Laudano?«, fragte der Cop. »Lloyd«, entgegnete der Jockey. »Jake Lloyd. Hab den Namen ganz legal ändern lassen.« »Kann ich reinkommen?« Jake zuckte mit den Schultern und sagte: »Klar, ich habe nichts zu verbergen.« Er trat zurück, und Don Flack betrat die kleine Wohnung. Die Badezimmertür stand offen. In Marco’s Bakery in Castle Hill waren achtzehn Mitarbeiter beschäftigt. Alle waren an ihrem Arbeitsplatz, bis auf Steven Guista. Stella kontrollierte die Namensliste, während die Männer und Frauen in das Büromateriallager kamen, das den C.S.I.Ermittlern für ihre Befragung zur Verfügung gestellt worden war. Als sie mit den ersten neun Personen gesprochen hatten und ihre Fingerabdrücke und DNS-Proben überprüft hatten, war klar, dass jeder Mitarbeiter entweder ein ehemaliger Strafgefangener war oder in irgendeiner Beziehung zur Familie Marco stand. Oft war beides der Fall. Jerry Carmody war Nummer zehn. Er war groß, breit, etwa vierzig, übergewichtig und hatte seine Nase bandagiert. Seine Augen waren rot und geschwollen. »Was ist mit Ihrer Nase passiert?«, fragte Stella, als Danny dem Mann eine Speichelprobe abnahm.
»Unfall. Bin gestürzt«, sagte er. »Muss ein harter Sturz gewesen sein. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir das mal ansehe?« »War heute Morgen schon beim Doktor«, sagte Carmody. »Hat’s wieder gerichtet. War gebrochen.« »Sie hatten Glück, dass Ihnen der Knochen nicht ins Gehirn getrieben wurde«, sagte Stella. »Sie haben einen harten Schlag abbekommen.« »Hab doch gesagt, ich bin gestürzt«, erwiderte Carmody. »Waren Sie gestern Abend in Brooklyn?« Carmody sah sich zu dem Uniformierten um, der ihn in das Materiallager geführt hatte. »Ich wohne in Brooklyn.« »Kennen Sie eine Lynn Contranos?« »Nein.« »Wir brauchen eine Blutprobe von Ihnen«, sagte Stella und hustete. »Wozu?« »Ich glaube, Stevie Guista hat Ihnen das angetan, als Sie ihm aufgelauert haben«, sagte sie. »Sie haben vor Lynn Contranos Tür geblutet. Wir haben eine Probe.« Carmody verfiel ins Schweigen. »Sie kennen Helen Grandfield?«, fragte Stella. »Klar«, sagte er. »Sie ist Lynn Contranos«, sagte Stella. »Und weiter?«, fragte Carmody desinteressiert. »Wo ist Guista?« »Big Stevie? Keine Ahnung. Zu Hause oder unterwegs, um sich zu betrinken. Er hatte gestern Geburtstag. Vermutlich schläft er gerade seinen Rausch aus.« »Wir werden uns noch ein bisschen über Stevie unterhalten, wenn wir Ihr Blut mit dem auf der Türschwelle verglichen haben. Krempeln Sie den Ärmel hoch.«
»Und was, wenn ich nein sage?« »Ermittler Messer ist sehr vorsichtig«, sagte Stella. »Wenn Sie nicht wollen, dass wir Ihnen hier Blut abnehmen, dann holen wir uns die richterliche Verfügung und kommen mit dem Laborassistenten wieder. Wer hat heute Dienst?« »Janowitz«, sagte Danny in nichts sagendem Ton. »Janowitz wird Ihnen nicht gefallen«, sagte Stella. »Janowitz, der Stecher«, kommentierte Danny. Carmody krempelte den Ärmel hoch. Ned Lyons war der zwölfte Angestellte, der in das Materiallager geführt wurde, und Danny und Stella erkannten auf Anhieb, dass sie einen Volltreffer gelandet hatten. Lyons war schlank, gut gebaut, sah aber mit seinem verhärmten Gesicht älter aus als vierunddreißig. Das Gehen bereitete ihm offensichtlich Schmerzen, was er erfolglos zu verbergen suchte. »Geht es Ihnen gut?«, fragte Stella, als Lyons sich langsam und vorsichtig auf den Holzstuhl am Tisch setzte. »Magen-Darm-Grippe«, sagte er. »Sollten Sie mit einer Magen-Darm-Grippe in der Bäckerei arbeiten?«, fragte sie. »Sie haben Recht«, sagte Lyons. »Vielleicht sage ich dem Boss besser, dass ich krank bin.« »Ziehen Sie bitte Ihr Hemd hoch«, bat Stella. Lyons sah sich um, seufzte und zog das Hemd hoch. Der blaue Fleck um den Solarplexus herum war so groß wie eine Tortenplatte. Schon jetzt leuchtete er in Purpur, Gelb und Blau. »Und was verrät Ihnen das jetzt?«, fragte er. »Können Sie mir bitte sagen, was Mr Lyons gestern Abend gegessen hat?«, fragte Stella und wandte sich an Danny, der, den Blick auf Lyons gerichtet, antwortete: »Peperoni, Wurst und einen Haufen Pasta. Mr Lyons bevorzugt eine würzige Soße.«
»Woher wissen Sie, was ich …«, setzte Lyons an. »Öffnen Sie den Mund, Mr Lyons«, befahl Stella. Ein nunmehr arg verwirrter Ned Lyons klappte den Mund auf, und Stella beugte sich vor, um einen Blick hineinzuwerfen. Als sie sich wieder zurücklehnte, sagte sie: »Ich habe eine gute Neuigkeit für Sie. Wir haben Ihren verlorenen Zahn gefunden.« In Louisa Cormiers drittem Buch hatte der Mörder, ein nach außen sanftmütig erscheinender Büroleiter, einen Schrank im Keller seines dritten Opfers aufgebrochen, wozu er einen fünfunddreißig Zentimeter langen, eineinviertel Kilo schweren Bolzenschneider aus Stahl benutzt hatte. Louisa hatte beschrieben, wie es sich anfühlte und anhörte, das Schloss aufzubrechen. Louisa wusste also, wie man einen Bolzenschneider benutzen musste. Das Schloss der Metallkassette auf Drietch’s Range wurde auch mit einem Bolzenschneider durchtrennt. Eine Untersuchung hatte das eindeutig erwiesen. Als Louisa am Morgen des Mordes, nach der Aussage des Portiers, wie üblich zu ihrem Morgenspaziergang aufgebrochen war, hatte sie eine große Tasche von Barnes and Noble bei sich gehabt – zweifellos groß genug, um einen Bolzenschneider zu transportieren, der so aussah wie der, den die Autorin in einem ihrer Bücher beschrieben hatte. Aber in Louisa Cormiers Sammlung in der Bibliothek gab es keinen Bolzenschneider. Keinen Bolzenschneider und keine Waffe Kaliber .22. Das ergab die zweiunddreißigminütige Durchsuchung. Was Mac jedoch in der untersten Schublade des Schreibtisches entdeckte, war ein ebenso interessanter Fund. Es war ein gebundenes Manuskript. Er legte es auf den Schreibtisch, als Louisa Cormier bereits zu protestieren begann.
»Das ist das Konzept für eines meiner früheren Bücher. Damals habe ich noch eine Schreibmaschine benutzt. Es wurde nie veröffentlicht. Ich wollte es schon längst überarbeitet haben, um es zu veröffentlichen. Mir wäre lieber, Sie würden nicht …« Louisa sah ihren Anwalt an, Lindsey Terry, der vor einigen Minuten eingetroffen war. Er hielt eine Hand hoch, um anzudeuten, dass seine Klientin ihren Protest einstellen sollte. Mac klappte den dicken grünen Einband des Manuskripts auf und blickte auf die Titelseite. »Wenn Sie das jetzt bitte zurücklegen würden«, sagte sie. »Es hat nichts mit Bolzenschneidern oder Schusswaffen zu tun.« Mac deutete auf die vor ihm liegende Seite. »Nichts Ehrenrühriges«, sagte Louisa. »Ich habe auf das Buch geschossen.« Mac legte den Kopf auf die Seite wie ein Vogel, der neugierig ein Bröckchen beäugt und überlegte, ob er es vielleicht essen sollte. »Als ich fertig war«, sagte sie, »habe ich es verabscheut. Ich habe damals in Sidestock, Pennsylvania, gelebt und für die örtliche Zeitung gearbeitet, freiberuflich, um meine nicht gerade bemerkenswerten Einkünfte aufzubessern. Ich habe das Buch gelesen und gedacht, es wäre ein totaler Fehlschlag, ein Jahr vergeudeter Zeit in meinem Leben. Also habe ich es in den Wald hinter dem Haus getragen und darauf geschossen. Ich dachte, mein erhofftes Leben als Schriftstellerin wäre vorbei, bevor es überhaupt begonnen hatte. Eine vollkommen impulsive Tat.« »Aber Sie haben es nicht weggeworfen«, sagte Mac. »Nein, das habe ich nicht. Das musste ich nicht. Ich habe meine Verzweiflung abgeschüttelt. Aber ich konnte mich nicht überwinden, auch das Manuskript wegzuwerfen. Und ich bin
froh, dass ich es nicht getan habe. Das Manuskript erinnert mich daran, dass die Musen wankelmütig sein können. Und inzwischen glaube ich tatsächlich, dass ich eines Tages im Stande sein werde, es zu retten.« »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir es mitnehmen?«, fragte Mac und blätterte auf die letzte Seite des Manuskripts. »Wir geben es Ihnen natürlich zurück.« Wieder blickte Louisa ihren Anwalt, Lindsey Terry, an, der die ganze Zeit schweigend neben ihr gestanden hatte und auch jetzt nichts sagte. Terry war ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Er hatte sich vor über einem Jahrzehnt zur Ruhe gesetzt, war jedoch in den Beruf zurückgekehrt, als er feststellte, dass ihm die Leidenschaft, die er früher für die Aufzucht exotischer Fische gehegt hatte, verloren gegangen war. Relikt oder nicht, Lindsey Terry war ein gefürchteter Anwalt. Er war klug, und er wusste, wie er die Alterskarte wirksam ausspielen konnte. Zudem war Mac überzeugt, dass Lindsey Terry, sollte Anklage gegen Louisa Cormier erhoben werden, zu Gunsten eines anderen Anwalts zurücktreten würde – eines Anwalts, der eine größere Beachtung in der Öffentlichkeit genoss. »Hat dieses Manuskript irgendeinen Einfluss auf die Aufklärung des Verbrechens?«, fragte der Anwalt. »Ja, Sir«, sagte Mac. »Ich denke, den hat es.« »Ich will nicht, dass er es liest«, sagte Louisa. »Ist es notwendig, dass Sie Ms Cormiers Manuskript lesen?«, fragte der Anwalt. »Ich bin in den letzten zwei Tagen zu einem Fan geworden«, sagte Mac und blickte auf die aufgeschlagene Seite. »Können Sie nicht …?«, fing Louisa an und sah den kahlköpfigen, sauber rasierten alten Mann an ihrer Seite an. »Ich kann nicht«, antwortete Terry. »Ich kann Detective Taylor nur warnen, dass die Ergebnisse seiner Durchsuchung nutzlos werden, wenn er seine Kompetenzen überschreitet.«
»Ich verstehe«, sagte Mac und erhob sich. Aiden betrat den Raum. Ehe sie von Louisa Cormier oder dem Anwalt bemerkt wurde, gab sie Mac ein Zeichen, dass sie nichts gefunden hatte. »Der Name Ihres neuen Buchs?«, fragte Mac. »Die zweite Chance.« Aiden trat zu dem Schreibtisch, von dem Mac sich gerade erhoben hatte, und schaltete den Computer an. »Was macht sie da?«, fragte Louisa. »Sie sucht die Datei ihres neuen Buches«, erklärte Mac. Aidens Finger huschten flink über die Tastatur, während ihr Blick auf die Bildschirmoberfläche gerichtet war. Auf der rechten Seite wurde eine Datei angezeigt, die den Namen Die zweite Chance trug. Sie klickte sie an und rief das Ende des Dokuments auf. »Seite dreihundertundsechs.« »Ich bin fast fertig«, sagte Louisa. Aiden klickte das Symbol an, öffnete den Ordner und fand die Roman-Dateien. Dann sah sie Mac an und schüttelte den Kopf. »Wir sind fertig.« Mac zog die Handschuhe aus und legte sie in seine Tasche. Das Manuskript klemmte er unter seinen Arm, während er mit der Hand den Koffer griff. Als sie das Appartement verließen, blickte sich Mac noch einmal zu Louisa Cormier um und schloss aus dem, was er sah, dass die berühmte Schriftstellerin es nun nicht mehr für so interessant hielt, eines Mordes verdächtigt zu werden. »Was ist mit dem Manuskript?«, fragte Aiden. Mac gab es ihr. Aiden schlug es auf und starrte das Loch an. »Letzte Seite«, sagte Mac. Aiden blätterte zur letzten Seite. Als der Fahrstuhl schließlich in der Lobby hielt, hatte sie genug gelesen, um zu wissen, dass das, was sie hier vor sich sah, exakt die Worte waren, die
sie schon auf dem Farbband von Charles Lutnikovs Schreibmaschine gelesen hatte.
14
»Stevie Guista«, sagte Don Flack zu Jacob Laudano, dem Jockey. Von dort, wo er stand, konnte Don den ganzen Raum, sowie die Toilette und das Waschbecken jenseits der offen stehenden Badezimmertür sehen. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich zu. »Hab Big Stevie schon seit Monaten nicht mehr gesehen«, sagte Jacob. »Er war in der vorletzten Nacht im Brevard Hotel«, sagte Flack. »Und Sie auch.« »Ich? Nein«, widersprach der Jockey. »Dann haben Sie sicher nichts gegen eine Gegenüberstellung einzuwenden.« »Eine Gegenüberstellung? Wozu zum Teufel?« »Um festzustellen, ob einer der Mitarbeiter des Hotels Sie wiedererkennt«, erklärte Don. »Sollte das der Fall sein, landen Sie ganz oben auf der Liste der Mordverdächtigen.« »Warten Sie eine Minute«, sagte Jake, ging zum Tisch und setzte sich. »Ich habe niemanden ermordet. Nicht vorletzte Nacht und auch sonst nicht. Ich habe ein Strafregister, ja, aber ich habe nie irgendjemanden ermordet.« »Das stimmt. Man konnte Ihnen die Morde nie nachweisen.« »Vielleicht war ich im Brevard«, sagte Jake. »Ich gehe da manchmal hin und schau auf einen Sprung hinein. Ganz unter uns, manchmal wird in einem der Zimmer um hohe Einsätze gespielt.« »Vorletzte Nacht auch?«, fragte Don.
»War nichts los. Bin woanders hin.« »Wer organisiert die Spiele?«, fragte Flack und ging auf Jake zu, der vor ihm zurückwich. »Wer das Spiel organisiert? Ein Kerl namens Paulie. Keine Ahnung, wie sein Nachname lautet. Hab ich nie gewusst. Für mich ist er einfach Paulie.« »Ich will Steven Guista«, sagte Don. »Wenn ich Ihnen auf die Füße treten muss, um ihn zu kriegen, hinterlasse ich auf dem Teppich bestimmt nur einen kleinen Fleck.« »Ich weiß nicht, wo er ist. Ich schwöre es.« »Genau«, sagte Don. »Warum sollten Sie auch lügen?« »Genau«, stimmte Jake ihm zu. Don stand vor dem Mann, der so klein war, dass er sich durchaus in der vorletzten Nacht zu Alberta Spanios Fenster hätte hineinschwingen und ihr ein Messer in den Hals rammen können. Gut, es gab keine handfesten Beweise. Keine Fingerabdrücke. Keine Zeugen. Aber die gewalttätige Vergangenheit des Jockeys und seine Größe machten ihn zu einem guten Kandidaten für dieses Verbrechen. Und auch die Tatsache, dass er dabei gewesen war, als Guista ein Zimmer gemietet hatte. Don zog eine Karte hervor und reichte sie dem Jockey, der sie verständnislos anstarrte. »Rufen Sie mich an, wenn Guista sich bei Ihnen meldet.« »Warum sollte er?« »Sie sind befreundet.« »Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Wir kennen uns kaum.« »Behalten Sie die Karte«, sagte Don. Er verließ die Wohnung und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Als er einigermaßen sicher war, dass der Cop fort war, blickte Jake auf und sah, wie Big Stevie aus dem Badezimmer heraushumpelte.
»Das ging viel zu leicht«, sagte Big Stevie. »Er hatte nichts in der Hand«, widersprach Jake. Stevie nahm dem Jockey die Karte ab und las sie. »Er hätte dich stärker bedrängen müssen«, sagte Big Stevie. »Ich habe ihm die Rippen gebrochen. Der muss stinksauer sein.« Stevie steckte Don Flacks Karte ein und fuhr fort: »Ich muss hier verschwinden. Geh auf den Korridor und sieh nach, ob er noch da ist.« »Wohin willst du?«, fragte Jake, während er zur Tür ging. »Ich habe noch was zu erledigen, ehe er mich wieder einholt.« Der Jockey ging zur Tür, öffnete sie, blickte den Korridor hinunter, drehte sich zu Stevie um und sagte: »Ich sehe ihn nicht.« Stevie war über die Hintertreppe in Jakes Appartement eingestiegen, und so wollte er auch wieder verschwinden. Kurz vorher drehte er sich noch einmal zum Jockey um und bedankte sich. »Kein Problem. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun«, sagte Jake. Stevie humpelte zur Hintertreppe. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, rief Jake ihm hinterher. Eine dämliche Bemerkung. Er wusste es, aber irgendwas hatte er einfach sagen müssen. Er sah zu, wie Stevie die Hintertreppe hinunterkletterte. Dann ging Jake zum Telefon und wählte eine Nummer. Als am anderen Ende abgenommen wurde, sagte er: »Er ist gerade gegangen. Ich schätze, er ist jetzt hinter Ihnen her.« »Nur, dass ich das richtig verstehe, Sie wollen, dass ich Ihnen meinen eigenen Bruder ans Messer liefere?«, fragte Anthony Marco.
Der vergitterte Besucherraum in Riker’s Island war beinahe überfüllt. Marco, in einem bescheidenen grauen Anzug mit hellblauer Krawatte, die Hände in Handschellen vor dem Körper, saß hinter dem Tisch. Sein Anwalt, Donald Overby, ein hoch angesehener Angehöriger der Anwaltskanzlei Overby, Woodruff und Cole, saß neben seinem Klienten. Overby war groß, schlank, etwa fünfzig und trug einen gradlinigen, militärischen Kurzhaarschnitt. Seine Kollegen nannten ihn »Colonel«, weil er genau diesen Rang besaß, als er während des ersten Golfkriegs im JAG-Büro in Washington gearbeitet hatte. Im Gegensatz zu ihm wurde der Spitzname seines Klienten »Bogie« nur hinter dessen Rücken ausgesprochen. Er besaß eine vage Ähnlichkeit mit Humphrey Bogart und vermittelte wie dieser das Gefühl, er wäre unverwundbar. Aber Anthony besaß eine gefährliche Reizbarkeit, eine nervöse, ungeduldige Energie, die dazu geführt hatte, dass er sich nun schon den zweiten Tag wegen Mordes vor Gericht verantworten musste. Der für diesen Fall zuständige stellvertretende Bezirksstaatsanwalt war Carter Ward, ein Afroamerikaner mit staatsmännischer Ausstrahlung, Ende sechzig, stämmig und mit tiefer Stimme. Er sprach langsam und mit Bedacht. Mit einfachen Worten erklärte er den Geschworenen den Sachverhalt, und er behandelte Zeugen so, als wäre er zutiefst enttäuscht, wenn er den Eindruck hatte, dass sie Lügen erzählten. Ward und Stella saßen Marco und Overby gegenüber. Stella fühlte sich benebelt. Sie hatte zwei Aspirin und einen Pappbecher mit lauwarmem Tee hinuntergestürzt, ehe sie den Raum betreten hatte. An einem der kältesten Tage des Jahres kam er ihr erdrückend heiß vor. »Das ist Tatortermittlerin Stella Bonasera«, stellte Ward sie vor. »Ich habe sie gebeten, bei diesem Treffen anwesend zu sein.«
Was, streng genommen, stimmte. Ward hatte sie gebeten, nach Riker’s Island zu kommen, aber Stella war diejenige gewesen, die den Plan geschmiedet und ausgearbeitet hatte. Zu guter Letzt hatte sie sich auch noch das Einverständnis des Bezirksstaatsanwalts gesichert, nachdem sie sich mit Ward einig geworden war. Der Bezirksstaatsanwalt war sehr daran interessiert, Anthony Marco mit einer roten Schleife ins Gefängnis zu schicken. Ein Todesurteil wäre nett gewesen, aber angesichts verschiedener Zwischenfälle war der Bezirksstaatsanwalt auch gewillt, sich mit einem anderen Urteil zufrieden zu geben, vorausgesetzt, es fiele lang genug aus und konnte in der Öffentlichkeit vertreten werden. Marco nickte Stella zu, sie erwiderte die Geste nicht. Ward öffnete seine Aktentasche und zog einen Block mit gelbem, liniertem Papier hervor. »Wir wissen alle«, begann er, »dass die Medien den Mord an Alberta Spanio neugierig aufgenommen haben. Wir wissen auch, dass die Geschworenen, die inzwischen isoliert wurden, trotzdem von dem Mord an der Hauptbelastungszeugin erfahren haben.« Weder Marco noch sein Anwalt sagten etwas, also fuhr Ward fort. »Natürlich nimmt die Jury an, dass Ihr Mandant diesen Mord in Auftrag gegeben hat, und obwohl der Richter und Sie selbst die Geschworenen auffordern werden, sich ausschließlich an die Fakten zu halten, wird jeder einzelne Geschworene glauben, dass Anthony Marco am Nachmittag des sechsten September letzten Jahres Joyce Frimkus und Larry Frimkus ermordet hat. Der Mord an Alberta Spanio hat diese Annahme nur verstärkt.« Ward sah Anthony Marco an, der seinen Blick ruhig erwiderte. »Versuchen wir es mal so«, sprach Ward weiter. »Wer immer sie ermordete, hätte wissen können, welchen Schaden er Ihnen damit zufügt. Als Zeugin vor Gericht hätte Alberta Spa-
nio nur den Eindruck einer Mitläuferin erweckt. Ihr überaus fähiger Rechtsvertreter hätte mit Leichtigkeit ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen können. Aber jetzt, nachdem einer der beiden Männer, die Ms Spanio bewacht haben, ein Polizeibeamter, auch ermordet worden ist, ermordet in der Bäckerei Ihres Bruders, Mr Marco …« »Dieser Mord ist irrelevant«, unterbrach Overby. »Vermutlich ist er das, vermutlich«, stimmte Ward ihm zu. »Aber ich werde eine Möglichkeit finden, den Geschworenen diese Information zukommen zu lassen, bevor der Richter sie als unzulässig ausschließen kann.« »Was wollen Sie, Ward?«, fragte der Colonel. »Warten wir, bis Ermittlerin Bonasera Ihnen erzählt hat, was sie in der Hand hat«, antwortete Ward. Stella berichtete von ihren Ermittlungen im Mordfall Alberta Spanio, erzählte, wie sie Guista auf die Spur gekommen waren, und von den Beweisen aus der Bäckerei, die zu Colliers Mörder führten. Als sie fertig war, wollte Stella nur noch den Waschraum aufsuchen, sich mit geschlossenen Augen irgendwo dort hinsetzen und warten, bis die Übelkeit sie endgültig übermannte. »Geben Sie uns die Beweise, die wir brauchen, um Ihren Bruder wegen eines Kapitalverbrechens unter Druck zu setzen«, sagte Ward, »und wir verzichten auf die Todesstrafe.« Gefangener und Anwalt unterhielten sich eine Weile im Flüsterton, und als sie fertig waren, sagte der Colonel: »Mord zweiten Grades, und Sie fordern die Mindeststrafe. Die Strafe wird zwischen zwanzig Jahren und lebenslänglich liegen, und Mr Marco kommt in zehn Jahren wieder raus, vielleicht sogar noch viel früher, wenn Sie die Tür offen lassen.« »Einverstanden«, sagte Ward. »Wenn die Information, die wir von Ihrem Klienten erhalten, korrekt und belastend für seinen Bruder ist.«
»Das ist sie«, versicherte der Colonel. Anthony lächelte Stella zu, die sich an einem finsteren Blick versuchte, während sie das Fieber auf ihrer Stirn fühlte. »Zum Teufel damit«, sagte Anthony. »Dario hat Mist gebaut, ob absichtlich oder nicht. Das macht nicht den geringsten Unterschied. Dieser Hurensohn von einem Bruder will meine Geschäfte übernehmen.« »Die welcher Art sind?« »Privater Art«, antwortete Marco. »Das ist ein Teil unseres Abkommens, wenn wir weitermachen wollen.« Ward erklärte sein Einverständnis mit einem Nicken. »Mein Bruder, Dario, ist ein gewitzter Idiot«, sagte Marco und schüttelte den Kopf. »Einen Jockey durch ein Fenster zu schicken. Wie kann man nur auf so eine blöde Idee kommen?« Stella blieb friedlich – nicht nur, weil sie krank war und hier raus wollte, sondern auch, weil sie sicher war, dass kein Jockey Alberta Spanio ermordet hatte. Auf den ersten Blick erschien die Wahrheit unwahrscheinlich, aber sie ließ sich leicht nachweisen, wenn man die Beweise am Tatort richtig zu deuten verstand. Ward stellte sein Diktiergerät auf den Tisch und blieb mit gefalteten Händen aufrecht sitzen. Anthony Marco fing an zu reden. Sheldon Hawkes hatte einen Anruf von Mac erhalten. Dieser hatte ihn gebeten, die Leiche von Charles Lutnikov aus dem Kühlraum zu holen. Als Mac und Aiden eintrafen, lag Lutnikovs Leiche mit geöffneten Brustkorb, der die eingefallenen Organe preisgab, auf dem Metalltisch. Von der Decke strahlte ein grelles weißes Licht. »Schließ die Hautlappen«, bat Mac. Hawkes klappte die Hautlappen zurück an ihren ursprünglichen Platz. Dann zeigte Aiden dem Pathologen das Manu-
skript, das sie aus Louisa Cormiers Appartement mitgenommen hatten. Sie hatte das Buch aufgeschlagen, sodass Hawkes hineinsehen konnte. Der musterte die Seiten und nickte. Er wusste, was Mac und Aiden wollten. Es gab mehrere Vorgehensweisen. Er entschied sich dafür, einen Behälter mit durchsichtigen, sechzig Zentimeter langen Kunststoffstäben aus dem Schrank zu holen und zwei dieser Stäbe daraus zu entnehmen. Dann führte er die Stäbe durch die Einschusslöcher in den Brustbereich. Er musste sich vorsichtig vorantasten, um sicherzustellen, dass die biegsamen Stäbe in dem inzwischen erschlafften Körper auch tatsächlich dem Verlauf des Schusskanals folgten. Er brauchte mehr als drei Minuten. Dann trat er zurück, damit Aiden besser sehen konnte. »Könntest du den überstehenden Teil der Stäbe abzwicken, ohne sie dabei zu verschieben?«, fragte sie. Er nickte, ging zum Schrank, zog eine große, glänzende Metallschere hervor und schnitt die Stäbe ab, sodass sie nur noch etwa zweieinhalb Zentimeter weit aus der Leiche herausragten. Dann versuchte Aiden die Stäbe mit Hawkes’ Hilfe durch die Löcher des Manuskripts zu führen und stellte fest, dass sie exakt hineinpassten. Treffer. Sie mussten sich kaum anstrengen. Es sah aus, als sei das Buch vor der Brust des toten Mannes festgeheftet. »Schlussfolgerung«, sagte Hawkes und beugte sich vor, um die Stäbe zu entfernen. »Die Waffe, mit der Charles Lutnikov erschossen wurde, hat auch dieses Manuskript durchlöchert.« »Er hat das Manuskript vor seinen Körper gehalten, als sie geschossen hat«, sagte Mac. »Die Kugel ist durch das Papier in seinen Körper eingedrungen, abgeprallt, und, als sie wieder ausgetreten ist, in den Fahrstuhlschacht gefallen.« »Klingt logisch«, sagte Hawkes. »Und?«, fragte Aiden. »Haben wir jetzt genug für einen Haftbefehl?«
»Jedenfalls wird Ms Cormier eine gute Ausrede brauchen«, meinte Hawkes. »Sie ist Krimiautorin«, sagte Aiden. »Nein, ist sie nicht«, widersprach Mac. »Lutnikov war der Autor.« »Zurück zu ihrem besten Gegenargument«, sagte Aiden. »Warum sollte sie die Gans töten wollen, die goldene Bestsellerromane legt?« »Das muss uns die Dame selbst erklären«, antwortete Mac. »Braucht ihr die Leiche noch?«, fragte Hawkes. Mac schüttelte den Kopf, und Hawkes rollte den Tisch zurück zu den Kühlschränken, in denen die Toten lagen. »Wir brauchen immer noch die Waffe und den Bolzenschneider«, erklärte Aiden, als sie Hawkes’ Autopsiesaal verließen. »Und die hat sie vermutlich verschwinden lassen.« »Vermutlich«, stimmte Mac zu. »Aber nicht zwangsläufig. Wir haben drei Punkte, die uns weiterhelfen könnten. Erstens: Sie weiß, wo die Sachen sind. Zweitens: Sie weiß nicht, wie viel wir wissen oder wie viel wir an dem Tatort entdeckt haben.« »Und drittens?«, fragte Aiden. »Der Bolzenschneider«, sagte er. »Sie hat ihn in einem der ersten drei Romane beschrieben. Alle Trophäen in ihrer Bibliothek stammen aus diesen ersten drei Romanen. Deshalb nehme ich an, dass sie ganz bestimmt auch den Bolzenschneider behalten hat.« »Vermutlich.« Aiden nickte. »Immerhin eine Möglichkeit«, fuhr Mac fort. »Und sie weiß nicht, dass wir einen Bolzenschneider schon anhand eines mit ihm durchtrennten Gegenstands identifizieren können.« »Hoffen wir, dass sie das nicht weiß«, sagte sie. »Aber selbst wenn wir ihn finden, fehlt uns immer noch die Waffe.« »Ein Beweisstück nach dem anderen«, sagte Mac.
Abhauen war keine Option. Big Stevie wusste das. Er hatte weder das Geld noch den Grips dafür, und ihm waren sowohl die Polizei als auch Darios Leute auf den Fersen. Der Taxifahrer musterte ihn ständig im Spiegel. Stevie kümmerte sich nicht darum. Stevie hatte sich in der Nähe der Penn Station ein Taxi genommen. Der Fahrer hatte hinter dem Steuer gesessen und ein Taschenbuch gelesen. Er hatte sich über die Schulter umgeblickt, als Stevie die Tür geschlossen hatte, und mehr zu sehen bekommen, als er ihm lieb war. Hätte Stevie versucht, den Wagen auf der Straße anzuhalten, hätte der Fahrer, Omar Zumbadie, ihn bestimmt nicht mitgenommen. Der riesige, alte weiße Mann brauchte dringend eine Rasur. Er brauchte frische Kleider. Und er stank nach etwas Fauligem. Omar betete, dass der alte Mann sich nicht übergeben würde. Er sah nicht aus, als wäre er betrunken, sondern nur müde. Sein Kopf wackelte wie in Trance hin und her. Das Taxi fuhr über den Riverside Drive nordwärts zur George Washington Bridge in Richtung Cross Bronx Expressway. Big Stevie zählte sein Geld. Er hatte dreiundvierzig Dollar bei sich, und seine Wunde blutete trotz des provisorischen Verbands, mit dem der Jockey sein Bein versorgt hatte. Wäre Stevie ein rachsüchtiger Mensch gewesen, so hätte er den Detective umgebracht, der in der Wohnung des Jockeys aufgetaucht war. Der Detective, der laut Visitenkarte Don Flack hieß, hatte schließlich auf Big Stevie geschossen. Eine Kugel im Bein, Geburtstagsgrüße vom NYPD. Die Kugel war nicht mehr da, aber es schmerzte, und der Schmerz breitete sich aus. Big Stevie ignorierte ihn. Das alles wäre bald vorbei, und wenn er Glück hätte, was vermutlich nicht der Fall sein würde, konnte er sich Dario Marco vom Hals schaffen und würde außerdem noch zu etwas Geld kommen.
Das Leben ist unfair, dachte Stevie, als der Wagen an der Ausfahrt Castle Hill abfuhr. Stevie wusste das. Trotzdem hatte er den Fehler begangen, das zu vergessen. Dass aber Dario zwei Leute aus der Bäckerei geschickt hatte, um ihn umzubringen, war mehr als unfair. Stevie war ein guter Soldat gewesen und ein guter Lieferwagenfahrer. Die Leute auf seiner Tour mochten ihn. Er kam prima mit den Kindern aus, sogar mit Darios Enkelkindern, die schon im Alter von neun und vierzehn aussahen wie ihr Vater und niemandem über den Weg trauten. Vergiss die Fairness, dachte er. Nun ging es darum, die Dinge ins Lot zu bringen und vielleicht am Leben zu bleiben. Die andere Möglichkeit lautete, den Cop anzurufen, dessen Karte er in der Hand hielt, ihn anzurufen und, so stellte er sich die Sache vor, nach Stunden, Tagen des Verhörs, des Verrats, einen Anzug anzuziehen und zu Darios Verhandlung zu gehen, wo ihn einer von Darios Anwälten wie einen Trottel aussehen lassen würde. Und dann Knast. Es war nicht wichtig, wie lange er sitzen würde. Es würde lang genug sein, und er war schon jetzt ein alter Mann. Nein, der Weg, den er einschlagen wollte, war der einzige Weg, den er einschlagen konnte. »Mister«, sagte Omar. Stevie starrte weiter aus dem Fenster. Er hatte die Karte des Detectives wieder in seine Tasche gesteckt, und seine Hand umfasste nun das kleine, bemalte Tier, das Lilly für ihn gebastelt hatte. »Mister«, wiederholte Omar, sorgsam darauf bedacht, auch nicht im Mindesten verärgert zu klingen. Stevie blickte auf. »Wir sind da«, sagte Omar. Stevie konzentrierte sich und erkannte die Ecke, an der sie angehalten hatten. Grunzend griff er in seine Tasche. »Wie viel?« »Zwanzig Dollar und sechzig Cent«, sagte Omar.
Stevie streckte die Hand über die leicht milchige und vermutlich kugelsichere Scheibe, die Omar ein wenig heruntergelassen hatte, nach vorn und reichte dem Fahrer einen Zwanziger und einen Fünfdollarschein. »Stimmt so«, sagte er. Omar starrte das Geld an, als Stevie aus dem Taxi stieg. Das fiel Stevie nicht leicht. Sein gesundes Bein musste die ganze Last des Körpers tragen. Aber Stevie war stark. »Danke«, sagte Omar. Auf den Banknoten in seiner Hand prangten blutige Fingerabdrücke – Fingerabdrücke, die frisch aussahen. Omar wartete, bis Stevie die Wagentür geschlossen hatte, ehe er davonfuhr. Er legte die beiden Banknoten auf das Taschenbuch, das auf dem Beifahrersitz ruhte. Das Klügste, was er tun konnte, überlegte Omar, war, die Scheine zu säubern und den großen Mann zu vergessen. Er war überzeugt, dass die meisten Fahrer so handeln würden. In Somalia hatte Omar das Blut an den Händen von Männern gesehen, die Frauen und Kinder geschlachtet hatten, und keiner war bereit gewesen, sie für ihre Taten anzuklagen. Wer Gerechtigkeit fordert, dachte er, während er den Wagen steuerte, riskiert sein Leben und das seiner Familienangehörigen. Aber dies war Amerika. Er war legal in diesem Land. Die Dinge waren nicht perfekt und nicht immer ungefährlich, vor allem für einen Taxifahrer. Aber Omar war ein gewissenhafter Moslem, und er tat, was seiner Überzeugung nach ein gewissenhafter Moslem tun musste. Er griff nach dem Funkgerät und rief seine Zentrale. »Hatten Sie Ihre Schuhe an- oder ausgezogen?«, fragte Stella, die mit geschlossenen Augen hinter dem Schreibtisch saß und vor sich eine Tasse mit schwarzem Kaffee stehen hatte. Sie litt unter Schüttelfrost.
»Ausgezogen«, sagte Ed Taxx. Er stand in seinem Wohnzimmer, während er in den Telefonhörer sprach. »Wir waren gerade erst aufgestanden und hatten Hosen, Hemden und Socken angezogen.« »Sind Sie sicher?«, hakte Stella nach. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte Taxx. Diese Frage schien ihr zurzeit jeder zu stellen. »Mir geht es gut«, sagte sie. »Danke.« »War das alles, was Sie wissen wollten?« »Für den Augenblick, ja.« »Schön«, sagte Taxx. »Nehmen Sie fünfzehn Aspirin, und rufen Sie mich morgen wieder an.« »Mach ich«, sagte Stella. »Das war ein Witz.« »Ich weiß«, sagte Stella. »Aber es war ja auch so etwas wie ein guter Rat.«
15
Noah Pease, Louisa Cormiers neuer, hoch angesehener Anwalt, glatt rasiert und dürr, erinnerte Mac an eine Figur aus Die Toten von Spoon River von Edgar Lee Masters. Pease war etwa fünfzig, nicht wirklich gut aussehend, aber ausgestattet mit einer tiefen Stimme, die ihn, zusätzlich zu seiner Erfahrung als Rechtsvertreter von Prominenten, zu einem perfekten Kandidaten für das Gerichtsfernsehen gemacht hätte. Neben Pease auf dem Sofa saß Louisa Cormier, schick anzusehen in ihrem sauber gebügelten Kostüm. Sie hatte dem Fenster mit dem breiten Panoramablick über die Stadt den Rücken zugekehrt. Den beiden gegenüber saßen Mac Taylor und Joelle Fineberg, eine kleine Frau in einem grünen Kostüm, die erst seit etwas mehr als einem Jahr der Staatsanwaltschaft angehörte. Sie sah aus, als wäre sie jung genug, um an einer Sweet-Sixteen-Party teilnehmen zu können. In Louisa Cormiers Wohnzimmer versammelten sich siebenundzwanzig Jahre juristische Erfahrung, wobei nur ein Jahr davon auf Joelle Finebergs Konto ging. »Ms Fineberg, Ihnen ist doch sicher bewusst, dass Ms Cormier sich absolut kooperativ gezeigt hat«, sagte Pease gedehnt. »Derzeit gibt es für sie absolut keine Notwendigkeit, mit Ihnen zu sprechen, es sei denn, Sie haben vor, Klage zu erheben.« »Ich verstehe«, sagte Fineberg. Ihr Tonfall und ihr Lächeln deuteten an, dass sie die Kooperation zu schätzen wusste. »Niemand weiß von den Untersuchungen der Polizei und der …« Pease legte eine Pause ein und sah Mac an. »C.S.I.-
Einheit. Detective Taylors Beschuldigung, meine Klientin habe ihre Bücher nicht selbst geschrieben, darf nicht veröffentlicht werden. Sollte das doch geschehen, werden wir die Stadt New York und Detective Taylor auf achtzehn Millionen Dollar Schadenersatz verklagen. Und ich bin überzeugt, man wird uns den Betrag zusprechen. Verstehen Sie, was ich meine?« »Absolut«, sagte Fineberg, die Hände auf dem Aktenkoffer gefaltet. »Ihre Klientin interessiert sich mehr für ihre Reputation als für die Tatsache, dass wir eine Mordanklage gegen sie vorbereiten.« »Meine Klientin hat niemanden ermordet«, wies sie Pease zurecht. Offensichtlich von ihrem Anwalt instruiert, gab Louisa keinen Ton von sich und reagierte nicht im Geringsten auf Finebergs Beschuldigung. »Wir glauben, sie hat«, entgegnete die Staatsanwältin. »Schön«, sagte Pease. »Sehen wir uns Ihre Beweise an. Ein Bewohner dieses Gebäudes wurde mit einem Schuss aus einer Waffe des Kalibers .22 getötet. Es wurde keine Waffe gefunden. Es gibt keine Zeugen. Keine Fingerabdrücke. Keine DNSBeweise.« »Der tote Mann hat die Romane Ihrer Klientin als Ghostwriter verfasst«, sagte Fineberg. »Er hat zwei Schusswunden im Leib, die mit den Löchern in dem Manuskript übereinstimmen, das er bei sich hatte und das Detective Taylor und seine Mitarbeiterin in diesem Appartement gefunden haben.« Pease nickte. »Eine Erklärung«, sagte er, »die mir als Erstes in den Sinn kommt, könnte folgendermaßen lauten. Nehmen wir an, die Waffe gehört Mr Lutnikov oder jemandem, der zusammen mit ihm im Fahrstuhl war. Die beiden geraten in Streit, die andere Person schießt auf Mr Lutnikov und kommt davon. Mr Lutnikov fährt, nunmehr tot, bis zu dieser Etage. Er oder sein Mör-
der hat auf den entsprechenden Knopf gedrückt. Meine Klientin hat darauf gewartet, dass er das Manuskript bei ihr abliefert. Die Fahrstuhltür öffnet sich, und sie sieht Lutnikov, tot, das Manuskript an die Brust gepresst. Entsetzt, aber notgedrungen nimmt sie das Manuskript an sich, nachdem sie sich vergewissert hat, dass der arme Mann tatsächlich tot ist. Dann schickt sie den Fahrstuhl wieder hinunter in die Lobby, wo er, wie sie weiß, gefunden werden muss. Mangelndes Urteilsvermögen, vielleicht, aber die Geschworenen würden Verständnis dafür aufbringen, und, lassen Sie mich das noch einmal betonen, Sie haben keine Mordwaffe.« »Ich bin unschuldig«, verkündete Louisa Cormier plötzlich. In ihren Worten war keine Spur von Entrüstung zu hören, auch kein Werben um Verständnis. Sie hatte lediglich eine Feststellung getroffen. Pease berührte seine Klientin an der Schulter und sah Joelle Fineberg an. »Und vergessen Sie nicht, das ist nur das Szenario, welches mir als Erstes in den Sinn kam«, wiederholte Pease. Weder Fineberg noch Mac zweifelten an seinen Worten. »Wir haben genug, um vor Gericht zu gehen«, sagte Fineberg. Pease zuckte mit den Schultern. »Öffentliches Interesse, Verhandlungen, die dem Image der Staatsanwaltschaft schaden, gefolgt von einer Anzeige im Namen meiner Klientin«, zählte er auf. »Weder hat Louisa Cormier Charles Lutnikov umgebracht, noch hat sie ihn als Ghostwriter für ihre Romane engagiert. Das Manuskript ist eine Kopie des neuesten Romans meiner Klientin, das sie ihrem Fan Charles Lutnikov, der ihr schon seit Jahren insgeheim auf die Nerven ging, als einmaligen Gefallen übergeben hatte.« »Also«, sagte Fineberg, »haben Sie ihm einen Ausdruck des vollständigen Buches gegeben, damit er sich eine Kopie anfertigen konnte?«
»Nein«, sagte Pease. »Damit er es als Erster lesen konnte. Sie hatte keine Ahnung, dass er sich eine Kopie anfertigen wollte, und hat es erst erfahren, als er sie anrief und es ihr erzählte. Sie hatte natürlich darauf bestanden, dass kopierte Manuskript ausgehändigt zu bekommen. Deshalb ist er zu ihr hochgefahren und hatte es im Augenblick seiner Ermordung an seine Brust gepresst.« »Genauso war es«, sagte Louisa. »Sie haben uns gestern erzählt, Sie würden immer noch an dem Buch schreiben«, sagte Mac. »Umschreiben«, korrigierte sie. »Das haben Sie missverstanden. Ich habe an der zweiten Fassung gearbeitet.« »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, erkundigte sich Mac. Louisa sah Pease an, der daraufhin sagte: »Sie können fragen, aber ich werde meiner Klientin möglicherweise raten, die Antwort zu verweigern. Wir wollen mit der Polizei nur zusammenarbeiten, um Ihnen bei der Suche nach Mr Lutnikovs Mörder behilflich zu sein.« Fineberg wusste, worauf Macs Frage zielen würde. Er hatte ihr gegenüber schon auf dem Weg in die Wohnung angedeutet, was er vorhatte. »Können Sie eines der folgenden Wörter definieren?« Mac hatte sein kleines Notizbuch aus der Tasche gezogen. »Mufti, devot, tendenziös.« Louisa Cormier blinzelte. »Ich weiß nicht …«, setzte sie an. »Die Worte tauchen in Ihren Büchern auf«, erklärte Mac. »Ich habe noch siebzehn andere, nach denen ich Sie fragen möchte.« »Benutzen Sie den Thesaurus Ihres Schreibprogramms, Louisa?«, fragte Pease gelassen. »Manchmal«, antwortete sie. Pease hob die Hände und lächelte.
»Und unser Experte, der bezeugen wird, dass Charles Lutnikov Louisa Cormiers Romane geschrieben hat?«, fragte Fineberg. »Ich habe fünf Experten, die bezeugen werden, dass sie ihre Bücher selbst geschrieben hat«, gab Pease zurück. »Alle tragen den Titel Dr. phil. Wie geht es nun weiter?« »Wir finden die Mordwaffe«, erklärte Mac. »Und den Bolzenschneider, den Ihre Klientin benutzt hat, um die Metallkassette auf der Drietch’s Range aufzubrechen.« »Viel Glück«, sagte Pease. »Ihrem eigenen Bericht zufolge ist die Waffe, die dort gefunden wurde, nicht die Mordwaffe.« »Das ist sie nicht«, stimmte Mac zu, dessen Blick auf Louisa ruhte. »Aber ich denke, ich weiß, wo die Waffe ist, mit der Lutnikov getötet wurde.« »Und der verschwundene Bolzenschneider?«, fragte Pease. Mac nickte nur. »Sie bluffen«, sagte Pease. »Wo sind die Sachen denn?« »An einem allen Blicken ausgesetzten Ort«, sagte Mac. »Klingt das vertraut, Ms Cormier?« Louisa Cormier verlagerte ihr Gewicht und wich seinem Blick aus. »Ich denke, wir sind hier fertig«, beendete Pease das Gespräch. »Es sei denn, Sie haben vor, meine Klientin festzunehmen.« Joelle Fineberg erhob sich. Mac und Pease folgten ihrem Beispiel. Louisa blieb sitzen, und ihre Augen fixierten Mac. Im Fahrstuhl nach unten sagte Joelle Fineberg: »›An einem allen Blicken ausgesetzten Ort?‹ Wo haben Sie das her? Poe oder Conan Doyle?« »Aus einem von Louisa Cormiers Romanen«, erklärte Mac. »Und ich weiß nicht, wo sie es her hat.« Der Fahrstuhl stoppte in der Lobby, und die Türen gingen auf.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Neues haben«, sagte Fineberg. Mac nickte. In der Lobby kamen sie an McGee, dem Portier, vorbei, der ihnen lächelnd zunickte. Es schneite wieder, nicht stark, aber es schneite. Die Temperatur betrug minus fünfzehn Grad. »Die Waffe ist in diesem Gebäude«, sagte Mac. »Sie kann sie nicht verschwinden lassen.« »Warum?« »Weil wir wissen, dass sie ihr gehört«, erwiderte er. »Sie haben ihre Waffe untersucht. Aus der wurde nicht geschossen.« »Aus der Waffe, die sie uns gezeigt hat, wurde nicht geschossen«, korrigierte er. Die Juristin nickte. »Und der Bolzenschneider? Was ist, wenn sie den hat verschwinden lassen?« »Sie bildet sich ein, sie sei schlau genug, um uns an der Nase herumzuführen.« »Was?« Mac lächelte und ging in Richtung Treppenhaus. Joelle sah ihm einige Augenblicke nach, ehe sie ihren Mantel zuknöpfte, sich den Schal um den Hals wickelte und ein paar Ohrenschützer überstülpte, die sie aus ihrer Tasche herausgekramt hatte. Als sie sich noch einmal über die Schulter umblickte, war Mac nicht mehr zu sehen. McGee öffnete die Tür für sie, und sie trat hinaus in die beißende Kälte. »Wo hast du das her?«, fragte Hawkes. »Taschentuch im Mülleimer«, antwortete Danny. Sie saßen in dem gefliesten Kellerraum des C.S.I.-Hauptquartiers. An den Wänden standen Kaffee-, Sprudel- und Süßigkeitenauto-
maten in einer Reihe wie die Spielautomaten in einem Waschraum von Las Vegas. Über ihnen flackerte grelles Licht. Sheldon Hawkes legte das Thunfischsandwich mit der großen Portion Mayonnaise auf einen Pappteller und nahm Danny den Objektträger ab. »Komm mit rauf und sieh es dir unter dem Mikroskop an«, schlug Danny vor. »Hast du es schon identifizieren können?« Hawkes gab ihm den Objektträger zurück. »Ja, es ist selten, aber nicht zu selten.« »Hast du schon jemandem davon erzählt?« »Niemand da«, erklärte Danny. »Stella hat angerufen. Sie sagte, sie wäre auf dem Weg hierher und hat mich gebeten, alle Fotos vom Alberta-Spanio-Tatort herauszusuchen.« »Wie hat sie sich angehört?« »Krank«, sagte Danny. Hawkes aß den letzten Bissen seines Sandwichs und kippte den letzten Schluck seiner Dr.-Pepper-Diätlimonade hinunter. Dann warf er die Abfälle in den Mülleimer und erhob sich. »Sehen wir es uns an«, sagte er. Auf dem Tisch vor Stella lagen die exakt angeordneten Fotos des Schlafzimmers, in dem Alberta Spanio ermordet worden war, und die des dazugehörigen Badezimmers. Das Badezimmer stellte derzeit den Mittelpunkt ihres Interesses dar. Sie wählte vier Fotos aus und musterte sie eingehend, tief herabgebeugt, sodass ihr Kopf direkt über den Bildern hing. Diese Haltung verstärkte ihre Kopfschmerzen, und sie spürte wieder dieses mulmige Gefühl in ihrem Magen. Aber ihre Erinnerung hatte sie nicht betrogen. Stella griff nach dem Tee, von dem sie bereits einen Schluck getrunken hatte, in der Hoffnung, er würde ihren Magen beru-
higen. Doch er schien wenig hilfreich zu sein, und so stellte sie die Tasse wieder ab. Sie war überzeugt davon, dass sie Recht hatte und nun wusste, wer Alberta Spanio ermordet hatte und warum Collier getötet worden war. Ohne die Grippe, die sie nicht länger ignorieren konnte, wäre sie gewiss schon viel früher darauf gekommen. Sie hörte, wie jemand hinter ihr die Labortür öffnete. Stella richtete sich auf und drehte sich um. Sie fühlte sich schwach, aber entschlossen. Hawkes und Danny blieben vor ihr stehen. »Ich habe die Lösung gefunden«, begrüßte sie ihre Kollegen. Dann fiel ihr ein, dass Hawkes hier im Grunde nichts zu suchen hatte. Er verließ seine Leichen nur, um sich etwas zu essen zu holen oder um nach Hause zu fahren. »Welche Lösung?«, fragte Danny. »Für den Mord an Alberta Spanio«, sagte sie. »Ich muss unbedingt Mac anrufen.« »Hawkes und ich haben hier ein paar Objektträger, die du dir unbedingt ansehen solltest«, erwiderte Danny. Hawkes hielt sie ihr entgegen. »Kann ich nicht …?« Hawkes schüttelte den Kopf »Nein.« »Was ist hier los?«, fragte sie. »Sieh dir die Objektträger an«, forderte Danny sie noch einmal auf. Seufzend trat Stella zum Mikroskop, schaltete die Beleuchtung ein und nahm die Objektträger aus Hawkes’ Hand. Dann setzte sie sich an das Gerät, während die beiden Männer hinter ihr Position bezogen. Sie stellte das Mikroskop scharf. Es war ein Gerät mit vielen Extrafunktionen und mit besonders starken Linsen. Mit wenigen Korrekturen ordnete sie beide Objektträger nebeneinander an und verglich sie miteinander.
»Bakterien«, sagte sie. »Dieselbe Art auf beiden Trägern.« »Weißt du, was das ist?«, fragte Hawkes. »Nein«, gestand Stella. »Leptospirosa«, sagte Hawkes. Stella blinzelte und ging im Geiste den Katalog der ihr bekannten Krankheiten durch. »Selten«, stellte sie fest. »Einer von zweihundert belegten Fällen in diesem Jahr in den Vereinigten Staaten«, erklärte Danny. »Die Hälfte davon wurde auf Hawaii registriert. Das ist normalerweise eine Tropenkrankheit.« »Wir haben hier eine Ausnahme«, sagte Hawkes. »Was weißt du über diese Krankheit?« »Eine bakterielle Infektion, wird meistens durch den Urin von Tieren übertragen«, sagte sie. »Einer unserer Fälle? Lutnikov, Spanio, Collier oder einer von Dario Marcos Männern?« »Nein«, sagte Hawkes. »Du. Danny hat eine Schleimprobe aus einem deiner Taschentücher entnommen, die du weggeworfen hast. Du hast keine Grippe. Was weißt du über Leptospirose?« »Fast gar nichts.« Stella lehnte sich zurück und schloss die Augen. Hawkes’ Hand berührte ihre Stirn. »Fieber«, stellte er fest. »Kopfschmerzen?« »Ja.« »Schüttelfrost, Muskelschmerzen, Übergeben?« »Übelkeit, kein Übergeben.« Sanft drehte er sie mit ihrem Stuhl zu sich herum und sah ihr direkt ins Gesicht. »Leichte Gelbsucht, rote Augen«, diagnostizierte er. »Du hörst dich an, als würdest du eine Autopsie durchführen«, protestierte Stella.
»Meine Patienten geben normalerweise keine frechen Antworten. Leibschmerzen, Diarrhö?« »Beides, ein bisschen.« »Krankenhaus«, entschied Hawkes. »Wie steht es mit einer ambulanten Behandlung?«, fragte sie. »Ich bin wirklich ganz nahe dran, den Fall Spanio zu lösen.« »Danny kann das zu Ende führen. Weißt du, was aus einer unbehandelten oder nicht ausreichend behandelten Leptospirose werden kann? Nierenschaden, Meningitis, Leberversagen. Ich habe schon einen Todesfall erlebt. Wann haben die Symptome angefangen?« »Gestern«, sagte Stella resigniert. »Vielleicht auch vorgestern.« »Erinnerst du dich, Kontakt zu animalischen …« »Die Katzen«, sagte Danny. »Was war damit?«, fragte Hawkes. »Eine alte Frau, die in ihrer Wohnung in East Side gestorben ist«, sagte Stella. »Katzenhalterin. Siebenundvierzig haben wir gefunden. Wir haben die Wohnung als Tatort behandelt, weil es Anzeichen für einen Einbruch gab, aber sie hatte einen Herzanfall. Übergewicht, achtundsiebzig Jahre alt. Hat nicht auf sich geachtet.« »Oder auf ihre Katzen«, sagte Hawkes. »Wo sind sie jetzt?« »Der Tierschutzbund hat sie aufgenommen«, sagte Danny. Hawkes schüttelte den Kopf. Stella drehte sich zu Danny. »Sieh zu, dass du die Leute zusammentrommelst.« »Falls es irgendwelche kürzlich verstorbenen Tiere gibt«, sagte Hawkes, »hätte ich sie gern in meinem Labor.« »Ich schätze, dass sie alle, bis auf ein paar wenige Glückspilze, eingeschläfert und verbrannt worden sind. Wie wird die Behandlung ablaufen?«, fragte Stella.
»Die Nacht verbringst du in einem Krankenhausbett«, sagte Hawkes. »Antibiotika, vermutlich Doxycyclin. Ich rufe Kirkbaum an und sorge dafür, dass sie dir ein Zimmer reservieren.« »Wie lange?« »Wenn wir es früh genug festgestellt haben, zwei oder drei Tage. Wenn nicht, sprechen wir möglicherweise von ein bis zwei Wochen. Gemessen an der Bakteriendichte in der Probe könnte es gut sein, dass Danny dir das Leben gerettet hat.« Danny grinste selbstzufrieden und richtete seine Brille. »Ich bin ein sturer Esel«, sagte sie. »Danke.« »Gern geschehen«, lächelte Danny. »Und, ja, du bist ein furchtbar sturer Esel.« Stella erhob sich und sagte: »Bitte, sammle all diese Fotos ein und sag Mac, er soll so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen.« »Du wirst schon wieder«, beruhigte Hawkes sie. »Meine Patienten haben sich noch nie beschwert.« »Die sind ja auch tot«, konterte Stella. Am Eingang zu Marco’s Bakery stand ein uniformierter Cop. Ein anderer hielt sich am Hinterausgang auf. Für Big Stevie war das keine Überraschung. Die einzige Frage lautete: Waren die Cops hier, um zu verhindern, dass Marco das Gebäude verließ, oder um zu verhindern, dass Stevie oder jemand anderer es betritt? Im Grunde war das egal. Stevie kannte noch mindestens zwei Wege, um in das Gebäude zu gelangen. Er wusste, dass sich das Fenster der Herrentoilette problemlos öffnen ließ. Selbst wenn es verschlossen war, bestand das Schloss lediglich aus einem kleinen Schubriegel, den er mit einem kräftigen Ruck würde aufbrechen können. Es würde keinen Lärm geben. Wollte er durch das Fenster einsteigen, musste er jedoch zunächst etwas finden, auf dem er stehen konnte. Normalerweise
wäre das kein Problem, aber nun, da sein Bein zunehmend taub wurde, bestand die Gefahr, dass ihn diese Kletterei schlicht überfordern würde. War er erst einmal in der Toilette, müsste er nur noch zur Tür hinaus und an den Bäckern und ihren Gesellen vorbei. Er würde dort nicht sonderlich auffallen, normalerweise. Denn normalerweise achtete dort niemand auf den großen Mann, doch heute mochte das anders sein. Dennoch nahm er an, dass selbst in seinem geschwächten Zustand, blutend und mit den Bewegungen einer Mumie, niemand in der Backstube im Stande wäre, ihn aufzuhalten. Die meisten würden einfach so tun, als hätten sie ihn gar nicht bemerkt. Sie alle hatten im Gefängnis das Verhalten der drei Affen trainiert: Nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen. Das war die Philosophie, mit der man an solchen Orten am besten überleben konnte. Nein, er würde besser das Lagerfenster im Keller nehmen. Aber ob sich eine der milchigen Glasscheiben öffnen ließ, ohne dass dabei Lärm entstand, wusste er nicht. Aber er wusste, dass ihn der Cop vor dem Hinterausgang dann nicht würde sehen können. Also machte sich Stevie auf den Weg Richtung Keller. Fenster Nummer eins war standhaft und wollte nicht nachgeben. Vermutlich war es seit zwanzig oder mehr Jahren nicht geöffnet worden. Fenster Nummer zwei hatte im rechten oberen Abschnitt eine Scheibe, die bereits locker war. Stevie fand einen Betonbrocken und ging neben dem Fenster, das in Bodenhöhe lag, in die Knie. Dann riss er ein Stück Stoff aus seinem Hemd, legte es auf die wacklige Scheibe und schlug vorsichtig mit dem Betonbrocken darauf. Es gab kaum ein Geräusch, aber die Scheibe gab auch nicht nach. Er versuchte es noch einmal, schlug dieses Mal etwas kräftiger zu. Dann krachte es und ein Loch, so groß wie seine Faust, war in dem Fenster. Er legte den Betonbrocken weg und zog das zerfetzte Stück Stoff zur Seite.
Vorsichtig schob er seine dicken Finger durch das Loch und fühlte die Schärfe des Glases. Er ignorierte den Schmerz, löste das Glasstück langsam heraus und legte es auf den Boden. Stevie wischte sich die blutigen Finger an der Hose ab und griff durch das Loch. Er hatte gerade genug Platz, um seine Hand und seinen Arm weit genug hindurchzuzwängen, um das Schloss zu erreichen. Es war zugerostet, aber Stevie war fest entschlossen, es zu öffnen. Er rappelte ein wenig herum, bis sich der verrostete Metallriegel löste. Er drückte von innen mit der Hand gegen das Fenster. Noch hielt es stand. Aber dann konnte Stevie fühlen, wie es nachgab und plötzlich mit knarrenden Scharnieren aufsprang. Keuchend verharrte Stevie in seiner Position und lauschte auf näher kommende Schritte, aber nichts geschah. Er hielt kurz inne. Den leichteren Teil der vor ihm liegenden Aufgabe hatte er erledigt. Nun kam der schwerere Teil, denn er musste seinen mächtigen Leib durch das offene Fenster zwängen, und er wusste, dass es viel zu eng war. Stevie zog seinen Mantel aus und legte ihn auf den Boden. Der kalte Wind zerrte an seiner Kleidung, und aus den Augenwinkeln registrierte er, dass der Schneefall langsam wieder einsetzte. Stevie wurde immer schwächer, er musste sich schnell bewegen, solange er dazu noch in der Lage war. Er schob zuerst sein verwundetes Bein durch die Fensteröffnung, dann sein gesundes Bein. Schließlich versuchte er, auf dem Rücken liegend den Rest seines Körpers durch das Fenster zu drücken. Als er bis auf Bauchhöhe hineingerutscht war, fühlte er, wie es eng wurde, wenn auch nicht zu eng. Er schob sich immer weiter. Sein Bauch blieb an den dünnen Metallstreben des Fensters hängen. Er war nicht ganz sicher, ob er es schaffen würde. Aber er war an einem Punkt, an dem er nicht mehr zurück konnte. Grunzend kämpfte er sich voran, sah das
Blut aus seinen Fingern tropfen, und dann, plötzlich, hatte er es geschafft. Er war durch die Fensteröffnung geplumpst und rücklings alle viere von sich gestreckt in die staubige Dunkelheit des Kellers gefallen. Keuchend lag er auf dem Rücken, vollkommen außer Atem, und hielt die Augen geschlossen. Big Stevie hatte Schmerzen. Er fror. Und er blutete. Aber er hatte eine Mission zu erfüllen, und er war im Gebäude von Marco’s Bakery. Zwei uniformierte Officer halfen Aiden dabei, die Umgebung der Drietch’s Range systematisch zu durchkämmen und nach dem verschwundenen Bolzenschneider zu suchen. Aiden war überzeugt, dass es Louisa Cormier gewesen war, die das Vorhängeschloss geknackt und anschließend auf den Boden des Schießstandes hatte fallen lassen. Aber was war mit dem Bolzenschneider geschehen? Lag er vielleicht in einer Mülltonne hier in der Nähe des Schießstandes? Inzwischen hätten sie ihn längst finden müssen. Ihr Telefon vibrierte in ihrer Tasche, und sie nahm den Anruf entgegen. »Komm ins Labor«, sagte Mac. »Ich habe den Bolzenschneider gefunden.« »Wo?« »Im Keller des Appartementgebäudes«, sagte er. »Sie hat ihn zusammen mit anderen Werkzeugen dort aufgehängt. Der Hausmeister besitzt zwar auch einen Bolzenschneider, aber er sagt, das ist er nicht.« »Sie hat ihn also direkt vor unseren Augen versteckt«, sagte Aiden. »Wie in einem ihrer Romane«, kommentierte Mac. »Oder sollte ich vielleicht sagen, aus einem von Charles Lutnikovs Louisa-Cormier-Romanen? Im Buch ist es jedoch kein Bolzenschneider, sondern eine Schaufel.«
»Fingerabdrücke?« »Einer«, sagte Mac. »Ein Teilabdruck. Aber gut genug, um Louisa Cormier damit überführen zu können.« »Ich beeile mich hier und fahre dann zurück ins Labor.« »Gut, ich werde inzwischen Stella im Krankenhaus besuchen.« »In Ordnung«, sagte Aiden, klappte ihr Mobiltelefon zu und machte sich auf die Suche nach den beiden uniformierten Beamten, die ihr geholfen hatten. Sie wusste nicht recht, was sie von alldem halten sollte. Auf jeden Fall würden sie Louisa Cormier mit den neuen Beweisen konfrontieren. Aiden war nicht sicher, ob die Frau hinterhältig und manipulativ war, oder ob sie einfach nur in einer Wahnvorstellung lebte und selbst an das glaubte, was sie sagte. Aiden Burn hätte weder auf das eine noch auf das andere wetten wollen.
16
Ein weißer Sandstrand hing über Stella, als sie die Augen aufschlug. Sie konnte sogar den Wellenschlag der Brandung vernehmen. Stella hatte seit drei Jahren keinen Urlaub mehr gehabt. Sie hatte nie verreisen wollen. Es gab immer einen neuen Fall oder einen, der erst halb abgeschlossen war. Langsam kam sie wieder ganz zu sich, und der Schleier lüftete sich nach ein oder zwei Sekunden. Sie erkannte, dass der Sandstrand die Zimmerdecke war und das Brandungsgeräusch von einem Monitor stammte, dessen dünne Kabel mit ihrem Körper verbunden waren. Stellas Mund war trocken. Sie drehte den Kopf und sah Mac an ihrer linken Seite stehen. »Wie …?«, fing sie an, doch schon dieses eine Wort erklang wie ein schmerzlich unzusammenhängendes Krächzen. Sie hustete und deutete auf den weißen Plastikkrug auf dem Tisch neben ihrem Bett. Mac nickte, schenkte Wasser in ein Glas, wickelte einen Strohhalm aus seiner Papierhülle und steckte ihn hinein. Dann hielt er ihr das Glas hin. »Langsam«, sagte er, während er das Glas so hielt, dass sie trinken konnte. Der erste Schluck brannte in ihrer Kehle. Sie würgte ein wenig, aber das ging vorbei, und sie trank ein bisschen mehr. »Wie schlimm ist es?«, fragte sie. »Du wirst wieder gesund«, versicherte ihr Mac. »Du bist zusammengebrochen. Danny und Hawkes haben dich herge-
bracht. Hawkes’ Freund hat dich mit Glukose und Antibiotika versorgt. Er hat einen Experten für Leptospirose in Honolulu aufgetan und ihn angerufen und … da bist du nun.« »Wie lange werde ich hier bleiben müssen?« »Ein paar Tage. Und dann musst du dich noch ein paar Tage zu Hause ausruhen«, sagte Mac. »Hättest du dich gleich untersuchen lassen, als du gemerkt hast, dass du eine Krankheit ausbrütest, würdest du jetzt nicht hier liegen.« »Ich bin ein Workaholic. Das weißt du doch«, sagte Stella und verzog die Lippen zu etwas, von dem sie hoffte, dass es wie ein Lächeln aussah. Mac erwiderte es. Stella sah sich in dem Krankenhauszimmer um. Viel gab es nicht zu sehen. Ein Fenster zu ihrer Linken und eins gegenüber, durch das sie ein rotes Gebäude auf der anderen Straßenseite erkennen konnte. An einer Wand hing die Reproduktion eines Bildes, das sie zu kennen glaubte. Es waren drei Frauen in bäuerlicher Kleidung, die in der Nähe eines großen Heuballens auf einem Feld arbeiteten. Die Frauen waren vornübergebeugt, um etwas zu ernten – Bohnen, Reis – und danach in einen Korb zu werfen. Mac folgte ihrem Blick. »Die Frau rechts«, sagte Stella. »Sie hat Schmerzen. Sieh dir die deformierte, c-förmige Krümmung ihres Rückens an. Das kommt von jahrelanger gebückter Haltung. Wenn sie sich aufrichtet, hat sie Schmerzen und bückt sich wieder. Bald wird sie sich gar nicht mehr anders bewegen können.« »Möchtest du sie genauer untersuchen?«, fragte Mac. »Nicht, solange sie nicht ermordet wird oder selbst mordet«, meinte Stella, den Blick immer noch auf das Gemälde gerichtet. »Wie alt, denkst du, ist das Originalbild? Kannst du das schätzen?« »Das Bild heißt Die Ährenleserinnen«, sagte Mac. »Und stammt von Jean François Millet. 1857.«
Stella drehte den Kopf, um ihn anzusehen, sagte aber nichts. »Meine Frau hatte einige Drucke seiner Arbeiten«, sagte Mac. »Einer der Höhepunkte unserer Europareise vor vielen Jahren war der Besuch des Musée d’Orsay in Paris, in dem Millets Angelus hängt.« Stella nickte. Das war mehr, als Mac je zuvor über seine tote Frau erzählt hatte. Macs Lächeln war nun breiter. »Sie hat Schönheit in diesen Gemälden gesehen«, sagte er. »Und du siehst eine Frau mit einem medizinischen Problem.« »Tut mir Leid«, sagte Stella. »Nein«, sagte Mac. »Ihr habt beide Recht.« »Mac«, sagte sie. »Ich weiß, wer Alberta Spanio umgebracht hat. Und der Jockey war es nicht.« Als Don Flack den Anruf auf seinem Mobiltelefon entgegennahm, erzählte ihm Mac, was er von Stella erfahren hatte. »Ich fahre gleich hin«, sagte Flack. »Willst du Verstärkung?«, fragte Mac. »Werd ich nicht brauchen.« »Gibt es irgendetwas Neues über Guista?« »Den werde ich schon noch finden«, erwiderte Flack und berührte den empfindlichen Bereich um seine gebrochenen Rippen. Flack klappte sein Mobiltelefon zu und fuhr weiter, aber nun war nicht mehr Marco’s Bakery sein Ziel, sondern er war unterwegs nach Flushing in Queens. Die Temperatur war auf minus zehn Grad gestiegen, und der Schneefall hatte aufgehört. Der Verkehr floss nur träge, und nach dem beinahe vier Tage andauernden Schneesturm und der eisigen Kälte lagen bei vielen die Nerven blank. Bei dem Schneckentempo konnte jederzeit irgendein Verkehrsrowdy die Geduld verlieren.
Don sah auf seine Armbanduhr. Das Telefon klingelte. Wieder Mac. »Wo bist du?«, fragte Mac. Don erzählte es ihm. »Hol Danny im Labor ab. Er hat die Tatortfotos, und Stella hat ihn gerade eingewiesen.« »In Ordnung«, sagte Don. »Wie geht es ihr?« »Gut. Die Ärzte sagen, sie kann in ein paar Tagen wieder arbeiten.« »Sag ihr, dass ich nach ihr gefragt habe«, bat Don und legte auf. Danny wartete hinter der Glastür in einem dicken, knielangen Mantel und einer Mütze mit Ohrenklappen. Die Hände steckten in Handschuhen. In der einen Hand hielt er einen Aktenkoffer, mit der anderen winkte er Don zu, um anzudeuten, dass er ihn sah und herauskommen würde. Kaum hatte er die Tür geöffnet, beschlug seine Brille, und er musste kurz innehalten, um die Gläser mit seinem Schal abzuwischen. »Kalt«, sagte er, als er in den beheizten Wagen kletterte. »Kalt«, stimmte Don zu. Auf dem Weg nach Flushing erzählte Danny alles, was er von Stella wusste. Flack suchte nach Löchern in der Beweisführung, Alternativen zu Stellas Schlussfolgerungen, aber er konnte nichts finden. Er stellte das Radio an und lauschte den Nachrichten, bis sie Ed Taxx’ Haus erreicht hatten. Taxx öffnete die Tür. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und einen braunen Wollpullover. In der Hand hielt er eine Kaffeetasse, auf der, umrahmt von blauen Zierstreifen, in großen roten Lettern das Wort »DAD« prangte. »Ist sonst noch jemand zu Hause?«, fragte Don. Irgendwo im Haus lief ein Fernseher. Es erklang ein Frauenlachen. Ein Lachen, das in Dons Ohren unaufrichtig klang.
»Ich bin allein und langweile mich furchtbar«, sagte Taxx und trat zurück, um die beiden Männer hineinzulassen. Dann zog er die Tür hinter den beiden wieder zu. »Ich bin immer noch beurlaubt, weil die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist.« Er führte die Männer ins Wohnzimmer und fragte sie über die Schulter, ob er ihnen einen Kaffee oder eine Diätcola anbieten könne. Beide verneinten. Taxx nahm in einem dick gepolsterten Sessel Platz, Don und Danny setzten sich auf das Sofa. »Was führt Sie hierher?«, fragte Taxx und nippte an seinem Kaffee. »Ein paar Fragen«, sagte Flack. »Schießen Sie los.« »Als Sie die Tür zu Alberta Spanios Schlafzimmer aufgebrochen haben, sind Sie da direkt zu ihrem Bett gegangen?« »Ja«, sagte Taxx. »Und Collier haben Sie ins Badezimmer geschickt?«, fuhr Flack fort. »Ich würde nicht sagen, dass ich ihn geschickt habe. Wir haben einfach getan, was wir tun mussten. Was …?« »Collier hat ausgesagt, Sie hätten ihm gesagt, er solle das Badezimmer überprüfen«, sagte Flack. »Möglich«, gab Taxx zu. »Sind Sie ins Badezimmer gegangen, nachdem er herausgekommen ist?« Taxx dachte nach und antwortete: »Nein. Wir sind in unseren Raum zurückgegangen und haben den Mord gemeldet. Keiner von uns ist in Albertas Zimmer zurückgekehrt. Es war ja schließlich ein Tatort.« »Collier hat ausgesagt, er hätte in der Wanne gestanden und aus dem offenen Fenster hinausgesehen«, sagte Flack. »Ich war nicht bei ihm«, entgegnete Taxx mit verwirrter Miene.
»Zeig ihm die Fotos, Danny.« Danny öffnete den Aktenkoffer und nahm den Stapel Fotos heraus, die er und Stella geschossen hatten. Er suchte vier aus und reichte sie Taxx. Alle vier Fotografien zeigten die Badewanne und das offene Fenster. Taxx betrachtete die Fotos und gab sie Danny zurück. »Was hätte ich auf diesen Bildern sehen sollen?«, fragte er und stellte seine Kaffeetasse ab. »Da ist kein Schnee, keine Spur von Schnee oder Eis in der Wanne«, erklärte Flack. »Es war in dem Raum viel zu kalt, als dass der Schnee hätte schmelzen können.« »Und?«, fragte Taxx. »Wenn jemand durch das Fenster gekommen wäre, um Alberta Spanio umzubringen, dann hätte er automatisch den Schnee, der vor dem Fenster lag, in die Wanne geschoben.« Taxx nickte, sagte aber dann: »Vielleicht hat er den Schnee mit dem Arm oder dem Bein zur Seite gewischt, statt ihn reinzuschieben.« »Wozu?«, fragte Danny. »Dann hätte er eine Hand loslassen oder mit dem Fuß ausholen müssen, um den Schnee seitlich wegzuschieben. Es ist doch einfacher, sich durch das Fenster zu schwingen und dabei den Schnee nach innen zu treten und in der Badewanne zu landen. Dann hätte der Mörder genug Zeit gehabt, um in Albertas Schlafzimmer zu gehen, sie umzubringen und wieder zu verschwinden.« »Jemand muss den Schnee vom Badezimmerfenster aus fortgeschoben haben«, sagte Flack. »Warum? Und wer? Collier? Alberta?«, fragte Taxx. »Alberta Spanio war durch eine Überdosis Schlaftabletten außer Gefecht gesetzt worden«, sagte Danny. »Und aus welchem Grund hätte sie bei Minustemperaturen auch das Fenster öffnen und die Kälte hereinlassen sollen?« »Collier?«, fragte Taxx.
»Wir denken, dass die Person, die für den Tod Albertas verantwortlich ist, auch den Schnee vor dem Fenster beseitigt hat. Sie wollte uns glauben lassen, jemand wäre von außen durch das Fenster eingestiegen«, erklärte Flack. »Denn sonst wäre der Verdacht auf die beiden Personen gefallen, die als Einzige in der Nähe waren.« Taxx sagte zunächst nichts. Seine Zungenspitze bohrte sich von innen in seine rechte Wange. »Collier?«, fragte Taxx erneut. »Wann und wie?«, fragte Danny zurück. »Die Tür zum Schlafzimmer war die ganze Nacht verschlossen.« »Und das Badezimmerfenster war zu«, sagte Taxx. »Sowohl Collier als auch ich haben das bestätigt. Wir haben das Schlafzimmer gemeinsam verlassen.« »Aber am Morgen haben Sie die Tür aufgebrochen, und einer von Ihnen ist zum Bett gegangen, während der andere ins Badezimmer lief«, sagte Danny. »Das war der einzige Zeitpunkt, zu dem Alberta ermordet werden konnte. Und Sie waren derjenige, der zu ihrem Bett gegangen ist. Sie haben Ihr Messer aus der Tasche gezogen und es der bewusstlosen Frau in den Hals gerammt. Das konnten Sie in fünf Sekunden schaffen. Wir haben das nachgeprüft.« »Diese Frau?«, fragte Taxx und starrte zum Fenster hinaus. »Ja, Stella hat es herausgefunden«, bestätigte Don. »Dario Marco hat Guista und Jake Laudano angeheuert, damit sie sich in dem Zimmer im Brevard Hotel einmieten«, sagte Flack. »Sie sollten gesehen werden, ein großer starker Mann und ein kleiner. Wir sollten denken, dass sie Spanio ermordet haben, damit der echte Mörder, nämlich Sie, gar nicht erst in Verdacht gerät.« »Guista hatte außerdem die Aufgabe, das Badezimmerfenster zu öffnen, indem er eine Kette mit einem Haken hinunterließ, um damit den Ring, den Sie vorher in den Fensterrahmen eingeschraubt hatten, herauszuziehen.«
»Das ist weit hergeholt.« Taxx hatte die Augenbrauen hochgezogen. »Vielleicht«, stimmte Flack ihm zu. »Aber wir werden uns Jake Laudano schnappen, und haben wir erst beide, ihn und Guista, so wird die Staatsanwaltschaft einen Handel anbieten, und dann fangen die beiden an zu reden.« »Bin ich verhaftet?«, fragte Taxx leise. »So gut wie«, antwortete Flack. »Ich denke, ich sollte einen Anwalt anrufen«, sagte Taxx. »Hört sich vernünftig an«, kommentierte Flack. Der Detective erhob sich, und die gebrochenen Rippen in seinem Brustkorb plagten ihn mit einem plötzlichen scharfen Schmerz. Er brachte die vier Schritte bis zu Taxx hinter sich und fesselte die Hände des Mannes hinter seinem Rücken mit Handschellen. Danny rückte seine Brille zurecht und legte die Fotos weg, während Flack die Miranda-Rechte vorlas. Don sprach langsam, und aus irgendeinem Grund hörte es sich an, als sagte er ein gut geübtes Gebet auf. Aiden untersuchte den Bolzenschneider und das aufgebrochene Schloss. Sie hatte eine vergrößerte Aufnahme von beiden Schneidkanten des Bolzenschneiders und von der Schnittstelle des Schlossbügels vor sich liegen. Sie saß im Labor und verglich die Bilder. Die kleinen Riefen der Schneiden waren für das bloße Auge kaum erkennbar, aber auf der Vergrößerung waren sie so eindeutig wie Fingerabdrücke. Für sie gab es keinen Zweifel mehr. Und für die Geschworenen würde es auch keinen Zweifel geben. Das Schloss, das sie auf dem Schießstand gefunden hatte, war mit dem Bolzenschneider aufgetrennt worden, den Mac im Keller des Appartementgebäudes entdeckt hatte.
Sie griff zum Telefon, rief Mac an und erzählte ihm, was sie wusste. »Das reicht«, sagte Mac. »Reicht für …?«, fragte sie und ließ die Frage offen. »Einen Haftbefehl«, ergänzte Mac. »Wir treffen uns bei Louisa Cormier mit jemandem von der Mordkommission.« Aiden legte auf. Alle Beweise gegen Louisa Cormier waren Indizien. Sie hatten keine Augenzeugen, und sie hatten die Waffe nicht gefunden. Aber die meisten Fälle wurden vor Gericht überwiegend durch Indizienbeweise gewonnen. Gerissene Strafverteidiger mochten all die Beweise anfechten, mochten verschiedene Szenarien entwerfen, die Ermittlung für fehlerhaft erklären, alles durcheinander bringen, aber Aiden, die nun ihren Mantel holte, glaubte nicht daran, dass irgendwelche Verwirrspiele Beweise dieser Art noch kippen konnten. Es gab genügend stichhaltige Anhaltspunkte für eine Anklage: der Bolzenschneider, mit dem das Schloss einer Kassette geöffnet worden war, in der eine .22er aufbewahrt wurde – eine Handfeuerwaffe, mit der Louisa Cormier zu üben pflegte; das Manuskript mit den zwei Schusslöchern, das Louisa Cormier aus den Händen des toten Charles Lutnikov gerissen und in aller Eile kopiert hatte, und die Tatsache, dass Lutnikov Louisa Cormiers Ghostwriter war. Aiden zog ihren Mantel an, und als sie zum Fahrstuhl ging, dachte sie: Wir haben immer noch keine Mordwaffe, und wir haben immer noch kein Motiv, Louisa Cormier dagegen hat Noah Pease. Vielleicht sollten sie doch noch warten, weitere Beweise sammeln, und Waffe und Motiv suchen. Aber Mac hatte gesagt, sie hätten genug, und Aiden vertraute seinem Urteilsvermögen.
»Das ist schikanös«, sagte Louisa Cormier, als sie die Tür öffnete. Aiden fiel auf, dass Louisa die Hände zusammenhielt, um ihr Zittern zu verbergen. Derweil fiel Louisas Blick auf den Mann im blauen Anzug, der die beiden C.S.I.-Ermittler begleitet hatte. »Ich werde Sie nicht hereinbitten«, sagte sie. »Und ich rufe meinen Anwalt an. Ich werde eine gerichtliche Verfügung gegen Sie und die ganze …« »Wir wollen nicht hereinkommen«, sagte Mac. Louisa Cormier sah verwirrt aus. »Nicht? Nun, ich werde auf Anraten meines Anwalts keine Ihrer Fragen beantworten.« »Das müssen Sie auch nicht«, sagte Mac. »Aber Sie müssen mit uns kommen. Sie sind verhaftet.« »Ich …«, fing Louisa an. »Und es wäre schön, wenn Sie Ihre Walther mitnehmen könnten, falls Sie so freundlich wären. Dieser Detective wird Sie begleiten, wenn Sie sie holen. Wir haben die notwendigen Papiere bei uns.« Mac zog ein dreifach gefaltetes Blatt Papier hervor. »Das können Sie nicht«, sagte Louisa Cormier. »Ich habe Ihnen die Waffe gezeigt. Sie wissen, dass nicht mit ihr geschossen wurde.« »Wir denken, sie wurde doch abgefeuert«, sagte Aiden. Louisa Cormier stand am Rande eines Zusammenbruchs. Aiden trat vor, um sie aufzufangen, und erhaschte einen Hauch von ihrem Parfüm, ein Gardenienduft, der exakt so roch wie der, den Aidens Mutter benutzte. Stevie schlich langsam die dunkle Treppe hinauf und zog dabei sein Bein hinter sich her. Als er den Treppenabsatz im Erdgeschoss erreicht hatte, drangen die Gerüche der Backstube durch die Tür zu seiner Linken.
Stevie mochte die Bäckerei, den Geruch von frischem Brot, mochte es, den Lieferwagen zu fahren, mit den Kunden auf seiner Tour zu reden. Er wusste, all das wäre in wenigen Minuten nicht mehr da, und er wusste, dass auch er auf die eine oder andere Weise nicht mehr da sein würde. Er hatte Dario Marco sein ganzes Vertrauen und seine Loyalität geschenkt und war verraten worden. Ehe er auf den Korridor trat, blieb er in der Dunkelheit stehen und sah sich in beide Richtungen um. Nichts rührte sich. Dario Marcos Büro war nur drei Türen entfernt zu seiner Rechten. Stevie gab sich alle Mühe, schnell und leise zu sein. Um leise zu sein, musste er sich sehr zusammenreißen und den Schmerz vergessen. Sollte Helen Grandfield da sein, wenn er die Tür öffnete, würde er sie vermutlich töten müssen. Das konnte er schnell erledigen, sie würde ihn nicht aufhalten können. Sie war Dario Marcos Tochter und Anthony Marcos Nichte und zudem Teil des Komplotts gewesen, das geplant hatte, den dummen Stevie zu Fall zu bringen. Vor der Tür zum Büro hielt er inne und lauschte. Er hörte nichts. Er öffnete die Tür zum Vorzimmer, bereit, sich auf eine erschrockene Helen Grandfield zu stürzen. Aber im Zimmer war niemand. Stevie fragte sich, ob Dario womöglich gar nicht im Haus war. Vielleicht hatte er sich einen freien Tag genommen. Das wäre zwar ungewöhnlich gewesen, aber nach den letzten Tagen durchaus verständlich. Stevie ging durch den Vorraum, lauschte, hörte nichts und öffnete langsam Marcos Bürotür. Die Beleuchtung war gedämpft, die Jalousien heruntergezogen, doch Stevie erkannte Dario Marco hinter dem Schreibtisch. Dario schaute auf. Auf den Anblick, der sich ihm bot, war Stevie nicht vorbereitet.
»Wir haben auf dich gewartet, Stevie«, hörte er Dario sagen. In der Ecke standen Jacob, der Jockey, und Helen Grandfield. Der Jockey hielt eine Waffe in der Hand und zielte damit auf Stevie. Der Tisch vor Joelle Finebergs Schreibtisch war voller Akten. Sie hatte den niedrigsten Rang bei der Staatsanwaltschaft und deshalb auch das kleinste Büro. Für ihren Raum hatte sie sich einen sehr kleinen Schreibtisch und ein sehr kleines Bücherregal ausgesucht, sodass noch genügend Platz blieb für einen Tisch, an dem mindestens sechs Leute sitzen konnten. Diesen Tisch benutzte sie auch als Arbeitstisch. Aber wenn ein Treffen wie dieses stattfand, räumte sie ihn natürlich ab. Sie stapelte die Papiere und Bücher einfach zusammen und verstaute sie in einem schwarzen Kunststoffkasten, den sie bei solchen Gelegenheiten hinter ihrem Schreibtisch außer Sichtweite verschwinden ließ. »Sie haben nicht einmal genug für die Anklagejury«, sagte Noah Pease, dessen Hand auf Louisa Cormiers Schulter ruhte, die neben ihm saß und stur geradeaus blickte. »Ich denke, das haben wir sehr wohl«, entgegnete Fineberg, die ihm zwischen Mac und Aiden gegenübersaß. Einige der ordentlich zusammengelegten Stapel von Papieren und Fotografien lagen auf dem Tisch wie ein großes Kartenspiel, das auf eine heiße Partie Poker wartete, was dem Spiel, das hier gespielt wurde, sehr nahe kam. Fineberg sah Mac an und sagte: »Detective, würden Sie die Beweise noch einmal aufzählen.« Mac blickte auf den gelben Block, der vor ihm lag, und ging die Beweisstücke Schritt für Schritt durch. Dann sah Fineberg Aiden an, die zustimmend nickte. Peases Gesicht blieb ausdruckslos. Das Gleiche galt für Louisa Cormiers Antlitz.
»Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sagte, dass die Detectives Taylor und Burn die Fingerabdrücke von Ms Cormier auf sieben verschiedenen Gegenständen in Charles Lutnikovs Wohnung gefunden haben?«, fragte Fineberg. »Ja«, sagte Pease, »das würde es.« Fineberg ging die Papiere durch und förderte sieben Fotografien zu Tage, die sie Pease reichte. »Perfekte Treffer«, sagte die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin. »Eine Tasse, eine Tischplatte, der Schreibtisch und vier Abdrücke in Regalfächern.« Die Fingerabdrücke stimmten absolut mit denen von Louisa Cormier überein. Louisa Cormier griff nach den Fotos. »Indizien«, verkündete Pease mit einem Seufzer. »Ihre Klientin hat uns belogen, als sie behauptete, nie in Lutnikovs Appartement gewesen zu sein«, stellte Fineberg fest. »Ich war einmal dort«, sagte Louisa. »Ich erinnere mich wieder. Er hat mich gebeten etwas abzuholen … irgendetwas.« »Gibt es einen Grund, warum wir hier sind?«, fragte Pease. »Verhandlungen«, sagte Fineberg. »Nein«, sagte Pease und schüttelte den Kopf. »Dann gehen wir vor die Jury und erheben Anklage wegen Mordes zweiten Grades«, sagte Fineberg. Sie drehte sich zu Mac um und fügte hinzu: »Die Detectives Taylor und Burn werden als Zeugen auftreten. Ich bin von den Beweisen, die die C.S.I-Einheit aufgespürt hat, überzeugt, und das werden die Geschworenen auch sein.« »Ms Cormier ist eine höchst angesehene Person des kulturellen Lebens und hat kein Motiv«, sagte Pease. »Ihr Fall basiert ausschließlich auf der Behauptung, sie habe ihre Bücher nicht selbst verfasst. Aber das hat sie doch.« »Detective Taylor?«, sagte Fineberg.
»Überzeugen Sie mich, und überzeugen Sie meinen Experten«, forderte Mac. »Wie?«, fragte Pease. »Lassen Sie sie irgendetwas schreiben«, schlug Fineberg vor. »Das ist lächerlich«, sagte Pease. »Sie hat vier Tage Zeit, bis wir vor die Anklagejury treten«, sagte Fineberg. »Fünf Seiten. Das sollte nicht zu viel verlangt sein, vor allem, wenn es um eine Anklage wegen Mordes geht.« »Ich kann unter Druck nicht schreiben«, sagte Louisa Cormier und gab ihrem Anwalt die Fotos von den Fingerabdrücken zurück, worauf dieser sie sauber übereinander gestapelt wieder zu Fineberg hinüberschob. »Sie zählen darauf, dass die Geschworenen einer so berühmten und sehr beliebten Prominenten wie Ihnen Sympathie entgegenbringen werden«, sagte Fineberg. »Wie schnell haben Sie Martha Stewart vergessen. Sie könnten nun natürlich mit O. J. Simpson kontern, aber … Überlegen Sie es sich gut.« Pease starrte Fineberg mit verärgerter Miene an. Dabei verriet sein Blick, dass seine Stimmung in offenen Hass hätte umschlagen können, wäre er nicht so ein erfahrener Jurist gewesen. »Wir tragen die Geschichte der Anklagejury vor«, sagte Fineberg, »und wir werden unseren Fall durchbringen – jedenfalls weit genug, um eine True Bill zu bekommen.« Eine True Bill ist, wie beide Rechtsgelehrten wussten, die schriftliche Entscheidung einer Anklagejury, unterschrieben von dem Geschworenensprecher, die besagt, dass der Jury seitens der Anklage ausreichende Beweise vorgelegt worden sind, um die beschuldigte Person wegen eines mutmaßlichen Verbrechens anklagen zu können.
»Und den Ruf meiner Klientin beschmutzen«, sagte Pease. »Eine Absprache zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung hätte den gleichen Effekt.« »Wir haben die Waffe«, sagte Fineberg und sah sich zu Mac um. »Wir untersuchen die Waffe aus Ms Cormiers Schublade«, sagte er. »Aus der, wie Sie bereits ermittelt haben, nicht …«, fing Pease an. »Sie passt zu der Kugel, die wir am Fuß des Fahrstuhlschachts gefunden haben«, fiel ihm Mac ins Wort. »Ms Cormier hat auf Charles Lutnikov geschossen, hat ihren Mantel angezogen, die Waffe und den Bolzenschneider, den sie vermutlich in ihrem Trophäenschrank aufbewahrt hatte, in ihre Tragetasche gepackt, den Aufzug auf ihrem Stockwerk blockiert und ist danach schnell die Treppe hinuntergelaufen, um ihren üblichen Morgenspaziergang anzutreten. Es war acht Uhr morgens, und draußen tobte ein Schneesturm. Es war kaum anzunehmen, dass in den nächsten Stunden irgendjemand aus dem Penthouse den Fahrstuhl benutzen würde. Außerdem hatte sie vor, nicht mehr als dreißig Minuten fortzubleiben.« »Und wo ist meine Klientin Ihrer fantasievollen Geschichte zufolge hingegangen?«, fragte Pease. »Zu Drietch’s Range, vier Blocks entfernt«, sagte Mac. »Sogar bei Schnee und Eis konnte sie den Weg in fünfzehn Minuten schaffen. Ich habe es überprüft. Sie wusste, dass der Schießstand samstags erst in drei Stunden öffnen würde. Die Außentür hat sie mit einer gewöhnlichen Kreditkarte geöffnet, so wie es die Ermittlerin in drei ihrer Bücher auch getan hat. Ms Cormier hat es bestimmt einmal ausprobiert.« »Vorsatz«, sagte Joelle Fineberg. »Ihre Klientin ist in den Raum gegangen, in dem die Waffen aufbewahrt werden«, fuhr Mac fort. »Sie hat das Schloss der
Kassette aufgeknackt, in der die Waffe lag, hat diese herausgenommen, sie in die Tasche gesteckt und durch die Mordwaffe ersetzt. Dann hat sie das Schloss einfach auf den Boden des Schießstandes geworfen. Sie wusste, irgendjemand würde es finden. Sie nahm an, dass die unbenutzte Walther, die nun in ihrem Besitz war, untersucht werden würde und jeder halbwegs kompetente Detective erkennen musste, dass diese Waffe in letzter Zeit nicht abgefeuert worden war. Außerdem gab es keine Übereinstimmung zwischen dieser Waffe und der Kugel aus dem Fahrstuhlschacht. Hätte man die Waffe, die sich nun in der Metallkassette befand, auf Schmauchspuren überprüft, wäre auch das kein Problem gewesen. Auf einem Schießstand ist das schließlich die Regel, und Ms Cormier wäre außer Verdacht gewesen.« »Weit hergeholt …«, kommentierte Pease. »Ich schlage vor, Sie lesen eines der ersten drei Bücher Ihrer Klientin, wenn Sie wissen wollen, wie weit hergeholt eine ihrer Geschichten klingen kann.« Pease schüttelte müde den Kopf, als wäre Macs Vortrag für ihn eine unverdiente Strafe, die er nur mühsam aushalten konnte. Mac ignorierte den Anwalt und fuhr fort. »Ms Cormier ist so schnell wie möglich nach Hause zurückgekehrt, hat den Bolzenschneider in den Keller gebracht und ist die Treppe hinaufgestiegen. Dann hat sie den Fahrstuhl wieder freigegeben, der daraufhin ins Erdgeschoss hinunterfuhr, und die unbenutzte Waffe, die sie auf dem Schießstand entwendet hatte, in ihre Schreibtischschublade gelegt.« »Und dann?«, fragte Pease und schüttelte den Kopf, als hätte man ihn gezwungen, einer Märchenstunde beizuwohnen. »Sie hat darauf gewartet, dass wir kommen, und hat uns bereitwillig und übereifrig die Waffe gezeigt. Es war die Waffe, die sie auf dem Schießstand an sich genommen hatte, nicht ihre
eigene, die sie normalerweise in der Schreibtischschublade aufbewahrte. Nachdem wir weg waren, hat sie erneut den Schießstand aufgesucht und die Waffen wieder ausgetauscht, sodass nun wieder die Waffe in der Kassette lag, die dort auch tatsächlich hingehörte. Officer Burn hat diese Waffe untersucht und festgestellt, dass es nicht die Mordwaffe war.« »Ihre Klientin hatte die Mordwaffe gut sichtbar in der Schublade ihres Schreibtischs deponiert«, sagte Fineberg. »Das hat sie getan, weil sie glaubte, die Ermittler würden die Waffe kein zweites Mal untersuchen, nachdem sie einmal festgestellt hatten, dass sie nicht abgefeuert wurde.« »Wir werden eine Übereinstimmung zwischen der Kugel und Ihrer Waffe nachweisen«, sagte Mac zu Louisa Cormier. »Sie haben die ganze Geschichte zu kompliziert aufgebaut.« »Es hätte beinahe funktioniert«, wisperte Louisa Cormier. »Louisa«, sagte Pease warnend und beugte sich vor, um seiner Klientin etwas zuzuflüstern, ehe er sich wieder aufrichtete. »Selbstverteidigung«, sagte er. »Charles Lutnikov ist zur Wohnung meiner Klientin gegangen, nachdem er sie bereits am Telefon bedroht hatte. Sie hatte ihre Waffe herausgeholt, um sich zu schützen. Er wollte sie ihr abnehmen. Ein Schuss hat sich gelöst. Sie ist in Panik geraten.« »Und hat sich dann im Handumdrehen diese komplizierte Verschleierungstaktik einfallen lassen?«, fragte Fineberg. »Ja«, sagte Pease. »Sie ist Schriftstellerin und besitzt ein sehr lebendiges Vorstellungsvermögen.« »Eine Schriftstellerin, die ihre eigenen Bücher nicht selbst schreibt«, sagte Mac. »Wir werden sehen, was die Jury darüber denkt«, gab Pease zurück. »Warum hätte Lutnikov Louisa Cormier bedrohen sollen?«, fragte Mac. Weder Anwalt noch Klientin antworteten spontan.
»Fahrlässige Tötung«, sagte Pease. »Bewährungsstrafe.« »Nein«, sagte Fineberg. »Die Beweise, die diese Beamten vorgelegt haben, verraten, dass Absicht, Vorsatz und Vertuschung im Spiel waren.« Pease beugte sich erneut vor und flüsterte etwas in Louisa Cormiers Ohr. Ein Ausdruck puren Entsetzens legte sich auf ihr Gesicht. »Mord zweiten Grades«, sagte Fineberg. »Totschlag«, gab Pease zurück. »Und nichts geht an die Öffentlichkeit. Sie suchen einen Richter, der die Akte versiegelt. Und Sie lassen sich für die Medien was einfallen.« Fineberg sah Mac an, ehe sie sich wieder Pease zuwandte und den Kopf schüttelte. »Inoffiziell?«, fragte Pease und tätschelte die Hand seiner Klientin. »Inoffiziell«, sagte Fineberg. »Louisa?«, sagte Pease, die Hand auf ihrem Arm, bereit, sie mit sanftem Druck auf den Weg zu bringen. »Ich kann nicht«, sagte Louisa Cormier und sah Pease an. Pease legte den Kopf schief und sagte: »Sie können nichts damit anfangen, solange wir es nicht zulassen.« Louisa Cormier seufzte. »Ich habe Charles Lutnikov erschossen. Er hat mich erpresst«, gab sie schließlich zu und starrte auf den Tisch, die Hände gefaltet und so angespannt, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Sie haben ihn dafür bezahlt, dass er Ihre Bücher schreibt«, sagte Fineberg. »Es ging nicht um Geld«, sagte Louisa. »Es ging um das Ansehen als Autorin. Er wollte, dass auf allen künftigen Büchern unsere beiden Namen erscheinen. Ich habe ihm mehr Geld geboten, aber daran war er nicht interessiert.« »Also haben Sie ihn erschossen?«, fragte Fineberg.
»Er hat gesagt, er würde das Manuskript des neuen Buchs hochbringen, und er würde es mir nur geben, wenn ich eine notariell beglaubigte Erklärung vorzeigen könnte, in der ich mich verpflichten würde, künftig auch seinen Namen auf dem Buchcover zu nennen. Das war zu viel. Die Leute, die Lektoren, die Kritiker, sie alle würden anfangen, über meine früheren Bücher Fragen zu stellen, und ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass Charles niemandem erzählen würde, dass er mir auch schon früher geholfen hat.« »Und …?«, hakte Fineberg nach, als Louisa Cormier eine lange Pause einlegte. »Als er heraufkam, habe ich den Fahrstuhl angehalten. Das Manuskript lag in seinen Händen. Er hatte es an seine Brust gepresst wie ein Baby. Und er wollte, dass es sein Baby bliebe. Ich habe versucht, vernünftig mit ihm zu reden, habe ihm versprochen, ich würde ihm helfen, seine eigenen Romane zu veröffentlichen. Er war nicht interessiert. Er hat die Hand ausgestreckt und auf einen der Fahrstuhlknöpfe gedrückt, und dann ist es passiert.« »Sie haben auf ihn geschossen«, stellte Fineberg fest. »Ich wollte das nicht«, sagte sie. »Ich wollte ihn nur erschrecken, ihn warnen, ihn einschüchtern, ihn dazu bringen, dass er mir das Manuskript gibt. Die Fahrstuhltür hat sich geschlossen und meine Hand erwischt. Er hat nach der Waffe gegriffen. Er war wütend. Ein Schuss hat sich gelöst. Die Tür ging wieder auf. Ich konnte sehen, dass er tot war. Ich habe wieder auf die Stopptaste des Fahrstuhls gedrückt und ihm das Manuskript abgenommen.« »Ein bedauernswerter Unfall«, sagte Pease mit einem breiten Lächeln. »Nein, es war sogar Selbstverteidigung.« »Warum haben Sie dann die Waffe versteckt?«, fragte Fineberg. »Wozu die ganze Vertuschungsgeschichte?«
»Meine Karriere, mein … ich hatte Angst«, sagte Louisa Cormier. »Sie hatten nicht vor, ihn umzubringen, aber als es passiert war, haben Sie sich sofort einen Plan ausgedacht, einen sehr komplizierten Plan. Sie waren binnen Minuten, vielleicht sogar binnen Sekunden nachdem Sie Lutnikov erschossen hatten, mit der Waffe und dem Bolzenschneider unterwegs zum Schießstand«, sagte Fineberg skeptisch. »Machen Sie ein Angebot, Ms Fineberg«, forderte Pease sie auf. »Ein gutes Angebot.«
17
»Diese Sache tut mir wirklich Leid, Stevie«, sagte Dario Marco, der hinter seinem Schreibtisch saß. »Du bist ein guter Mitarbeiter, ein loyaler Angestellter, ein guter Junge.« Stevie stand stumm auf einem Bein, das drohte, unter ihm nachzugeben, und starrte mit offenem Mund den Mann hinter dem Schreibtisch an, der sein Boss gewesen war, sein Beschützer. »Das Problem an der Sache ist«, fuhr Marco fort und lehnte sich dabei zurück, während er sein Jackett glatt strich, »dass wir der Polizei jemanden liefern müssen. Sie haben das ganze Haus durchsucht. Sie haben Beweise dafür, dass du in den Mord an Spanio verwickelt bist und dass du einen Cop umgebracht und einen anderen angegriffen hast. Das große Problem ist, dass du den Cop direkt vor der Tür, durch die du gerade gekommen bist, kaltgemacht hast. Was soll ich da tun? Das frage ich dich?« Stevie sagte nichts. Marco zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass er gar keine Wahl hatte. »Außerdem bist du wirklich ein blöder Mistkerl, und du wirst allmählich alt.« Stevie sah Jake an, der ihn verraten hatte, und dann Helen Grandfield, deren Miene zu Eis geworden war. »Lass es uns einfach tun, Dad«, forderte Helen. »Ich schuldete Stevie eine Erklärung«, sagte Dario geduldig. »Er ist hergekommen, um dich umzubringen«, konterte sie. »Du hast Recht. Und er ist eingebrochen, und wir können von Glück sagen, dass wir eine Waffe haben.«
»Der Jockey hat keinen Waffenschein«, sagte Stevie, während er versuchte nachzudenken. »Das ist richtig«, sagte Marco. »Er ist ein verurteilter Verbrecher. Du bist blöd, aber nicht so blöd. Die Waffe gehört mir. Ich habe einen Waffenschein dafür. Jacob hat sie von meinem Schreibtisch genommen. Dort lag sie, weil ich sie gerade gereinigt hatte, als du …« »Warum?«, fragte Stevie. »Sie haben mich von Anfang an reingelegt. Sie wollten, dass die Cops hinter mir her sind. Warum?« »Als Absicherung«, sagte Dario. »Glaub mir, ich wollte, dass du davonkommst. Warum sollte ich dich anlügen? Aber in unserem Geschäft muss man sich den Rücken freihalten. Du wirst alt, Stevie. Du wirst langsamer. Scheiße, du bist schon langsamer. Sieh dich doch an. Jetzt bist du in mein Büro eingedrungen und hast gesagt, du würdest mich umbringen. Vor drei Zeugen.« Dario Marco nickte Jacob zu, der Stevie anblickte und zögerte. »Dich hat er auch reingelegt, Jake«, sagte Stevie. »Erschieß den alten Langweiler«, sagte Marco. Der Sprung, mit dem Stevie über den Schreibtisch hechtete, war eine Überraschung für alle Anwesenden, vermutlich sogar für Stevie selbst. Als sein Bauch auf den Tisch prallte, verlor er jegliches Gefühl in seinem verwundeten Bein. Er griff nach Darios Hals und packte zu. Jetzt würde er tun, was er wirklich gut konnte, egal, wie blöd er war. »Schieß«, brüllte Helen. Jake feuerte und verfehlte sein Ziel. Seine Hand zitterte, aber Stevies nicht. Mit dem Bauch auf dem Schreibtisch liegend hob er Dario von seinem Stuhl und brach ihm das Genick. Helen hing an seinem Rücken, rammte ihm die Fingernägel ins Gesicht und schrie. Jake suchte nach einer freien Schussbahn.
Dann fiel Dario Marcos Körper in sich zusammen. Mit seinem Kinn blieb er am Rand der Tischplatte hängen. Stevie warf Helen Grandfield ab. Sie stolperte zurück und stürzte über einen Stuhl. Stevie versuchte, sich aufzurichten. Er drehte den Kopf zu Jake um, der zitternd zurückgewichen war und die Waffe mit beiden Händen festhielt. Stevie hatte keine Chance, sich auf ihn zu stürzen, ehe ihn die Kugel treffen würde. Er griff in seine Tasche und umklammerte den Hund, den Lilly ihm geschenkt hatte. »Aufhören«, rief eine Stimme. Alle sahen sich um – Jake über seine Pistole, Helen über den umgestürzten Stuhl und Stevie über seine Schulter. Sie alle starrten den uniformierten Cop an, der noch vor kurzer Zeit am Vordereingang gestanden hatte und dem Stevie auf seinem Weg in das Gebäude ausgewichen war. Der Cop hatte den Schuss gehört. Der Cop, der auf den Namen Rodney Landry hörte, war ein Bodybuilder mit vier Jahren Diensterfahrung. Er wusste, was er zu tun hatte: Seine Waffe war auf den kleinen Mann neben dem Schreibtisch gerichtet. Aus dem Dossier mit der Personenbeschreibung wusste Landry, dass der Mann mit dem blutenden Bein, der aus einem unerfindlichen Grund auf dem Schreibtisch lag, derjenige war, nachdem er hatte Ausschau halten sollen. Von der Stelle aus, an der Landry mit der Waffe in der Hand stand, konnte er Dario Marco nicht sehen. »Legen Sie die Waffe auf den Boden, aber langsam«, befahl Landry dem Jockey. Jake bückte sich langsam und legte die Waffe auf dem Boden ab. Auch Stevie schaffte es, sich umzudrehen und auf einen Ellbogen zu stützen. »Er ist hier eingebrochen«, kreischte Helen Grandfield und zeigte mit dem Finger auf Stevie. »Er hat meinen Vater umgebracht.«
Nun konnte Landry den Toten erkennen. Was er sah, war wie ein schlechter Witz, ein Halloweenulk. Das Kinn des toten Mannes ruhte auf der Schreibtischplatte, und die Augen waren weit aufgerissen. Sie sahen überrascht aus, sehr überrascht. Stevie, der sein Bein nicht mehr fühlen konnte, griff wieder in seine Tasche, umklammerte den bemalten Hund und lächelte. Ed Taxx ließ sich auf einen Handel ein. Er lieferte Beweise gegen Dario Marco und seine Tochter und erreichte im Gegenzug dafür die Mindeststrafe für Mord zweiten Grades. Er besprach die einzelnen Punkte und unterschrieb das Geständnis. Er kannte den Ablauf und befolgte ihn. Außerdem hatte er genug Geld auf die Seite gebracht, um seine Familie versorgt zu wissen. Er wollte nicht, dass die Polizei in seinem Leben oder in seinen Bankkonten herumschnüffelte. »Ich liefere Ihnen Dario Marco und Helen Grandfield, und Sie stellen Ihre Ermittlungen in Bezug auf mich oder mein Eigentum ein«, sagte er. »Und alles, was Sie gegen Anthony Marco in der Hand haben«, sagte Ward. »Da habe ich nicht viel.« »Wir werden nehmen, was Sie uns geben können«, antwortete Ward. Taxx saß am Tisch, bereit, seine Geschichte zu erzählen. Ihm gegenüber saßen der stellvertretende Staatsanwalt Ward und C.S.I.-Ermittler Danny Messer. »Was kriege ich?«, fragte Taxx. »Kommt auf Ihre Geschichte an.« »Die ist gut.« Helen Grandfield war an ihn herangetreten, hatte ihm aber nicht erzählt, woher sie wusste, dass er für den Schutz von Alberta Spanio abkommandiert worden war oder woher sie wusste, dass er an Prostatakrebs erkrankt war, der bereits all seine
Organe in Mitleidenschaft gezogen hatte. Aber Taxx war es auch vollkommen egal. Er hatte weder seiner Frau noch sonst jemandem von der Krankheit erzählt. Er hatte ein bisschen Geld auf die Seite gebracht, aber die Summe, die seiner Familie später noch zur Verfügung gestanden hätte, wäre nach einem sorgenfreien letzten Lebensjahr erheblich zusammengeschrumpft. Die Ironie der Geschichte war nun, dass jetzt der Staat für seine Behandlung aufkommen musste. Als er Dario Marco getroffen hatte, hatte der ihm einhundertfünfzigtausend Dollar in bar geboten. Dafür sollte er Alberta Spanio eine Überdosis Schlaftabletten verabreichen und dafür sorgen, dass das Badezimmerfenster, nachdem er den Ring angeschraubt hatte, offen blieb. »Warum?«, fragte Ward. »Helen Grandfield hat mir später erzählt, dass jemand aus dem Fenster des darüber liegenden Raums hätte abgeseilt werden sollen, aber dass das durch den Sturm nicht möglich sei. Um drei Uhr morgens sollte ich einen dreiminütigen Hustenanfall simulieren, um eventuelle Geräusche zu übertönen.« Taxx hatte akzeptiert und sein Geld im Voraus erhalten. »So weit«, sagte er zu dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt, mit dem er fünfzehn Jahre zusammengearbeitet hatte, »gab es keine Probleme.« »Und dann?«, fragte Ward. »In der Nacht, in der es passieren sollte, erhielt ich einen Anruf«, sagte er. »Mobiltelefon. Collier war ebenfalls im Zimmer. Ich tat, als wäre es meine Frau. Aber es war Helen Grandfield. Sie hat mir gesagt, was ich tun sollte: Ich sollte am Morgen die Tür zu Spanios Zimmer aufbrechen, Collier ins Badezimmer schicken, um nach dem offenen Fenster zu sehen, und mich selbst zum Bett umdrehen und Spanio ein Messer in den Hals rammen. Auch das war kein Problem. Ich habe mir genau überlegt, was ich in Gegenwart Colliers zu Helen sagen würde. Es
war so was wie ›Nein, Süße, sag ihm, dann muss er neben dem, was er bereits gebracht hat, noch mal das Doppelte leisten.‹ Während des Telefonats hat Collier sich ein Basketballspiel im Fernsehen angesehen, aber ich wusste, dass er zugehört hatte. Helen hat sich einen kurzen Moment lang mit Dario abgesprochen und dann gesagt, es wäre in Ordnung. Ich glaube nicht, dass sie jemals vorhatten, tatsächlich jemanden durch das Fenster abzuseilen. Ich glaube, sie haben sich von Anfang an darauf verlassen, dass ich Alberta umbringen würde.« »Und?« »Spanio war durch die Pillen bewusstlos, als wir die Tür aufbrachen. Ich habe mich zwischen Collier und dem Bett aufgebaut, sodass er sie nicht sehen konnte, und mit dem Kinn Richtung Badezimmer gedeutet. Collier ist ins Badezimmer gelaufen. Ich habe das Messer aus der Tasche gezogen und Alberta in den Hals gestoßen. Vier oder fünf Sekunden, höchstens. Collier ist aus dem Badezimmer zurückgekommen. Ich habe mich vom Bett entfernt, sodass er das Messer in ihrem Hals sehen konnte. Dann habe ich zugesehen, wie er in das andere Zimmer rannte, um Verstärkung zu rufen.« »Und da tauchte dann ein Problem auf?«, fragte Ward. Taxx nickte. »Ich ging ins Badezimmer. Das Fenster war offen. Mein erster Gedanke war: ›Bestens, Collier hat es gesehen und denkt, der Täter wäre durch das Fenster reingekommen und so auch wieder geflüchtet.‹ Dann ist mir der Schnee aufgefallen, der sich vor dem Fenster aufgetürmt hatte. Niemand konnte durch das Fenster kommen, ohne dabei den Schnee wegzuschieben.« »Und dann ist Ihnen einen Fehler unterlaufen«, sagte Ward. Wieder nickte Taxx. »Ich habe den Schnee mit dem Ärmel vom Fenstersims nach draußen geschoben«, sagte er. »Statt nach innen in die Wanne. Ich konnte Collier im anderen Zimmer telefonieren hören und
habe das Bad verlassen, ehe er wieder reinkam, um mir zu sagen, dass das Zimmer ein Tatort wäre und wir im anderen Raum auf die C.S.I.-Ermittler warten sollten. Ich wollte schließlich nicht riskieren, dass er noch einmal ins Badezimmer ging und merkte, dass der Schnee weg war.« »Und?«, hakte Ward nach. »Gestern bin ich in ein chinesisches Restaurant gegangen und habe mich mit Helen Grandfield getroffen«, berichtete Taxx. »Collier musste einen Verdacht geschöpft haben. Er ist mir gefolgt. Ich habe ihn auf der anderen Straßenseite gesehen. Ich dachte, dass er vielleicht mit meiner Frau gesprochen hatte und nun wusste, dass sie mich nicht am Abend zuvor angerufen hatte. Oder dass er sich die Tatortfotos angesehen und festgestellt hatte, dass der Schnee vor dem Badezimmerfenster verschwunden war.« »Also haben Sie Helen Grandfield davon erzählt, und die hat Ihnen versprochen, sie würde sich darum kümmern«, sagte Ward. »Und sie hat Ihnen auch das restliche Geld gegeben.« »Dazu habe ich nichts zu sagen«, antwortete Taxx. »Sie wussten, dass sie Collier töten würden«, verkündete Ward. Für einen Augenblick blieb Taxx die Antwort schuldig, dann sagte er: »Ich möchte darüber nicht nachdenken.« »Wo ist das Geld, das Sie bekommen haben?« Wieder verweigerte Taxx die Antwort. Ed Taxx besaß außer seinen Ersparnissen, und dem Geld, das er von Dario Marco bekommen hatte, eine Lebensversicherung von fast einer Million Dollar. Danny schüttelte den Kopf, als er sagte: »Ich werde Stella informieren.« Aiden öffnete die oberste Schublade von Louisa Cormiers Schreibtisch.
»Sie ist nicht da«, sagte sie und blickte zu Mac. »Jemand muss sie gestohlen haben«, sagte Louisa. »Besitzen Sie einen Tresor?«, fragte Mac. Louisa drehte sich zu Pease um, was dieser mit einem Seufzen quittierte. »Entweder, ihre Klientin öffnet ihn, oder wir tun es«, sagte Mac. »Ich nehme an, dass er in diesem Raum ist, aber wir können …« »Öffnen Sie ihn, Louisa«, sagte Pease. »Kooperieren Sie.« Louisa ging zu einem Gemälde von Georgia O’Keeffe, das eine Blume in leuchtend roten Farben zeigte, und klappte es zur Seite. Der Tresor befand sich in der Wand hinter dem Bild. Wieder sah sich Louisa zu Pease um, worauf dieser ihr zunickte und sie damit aufforderte, den Tresor zu öffnen. Sie schüttelte den Kopf, aber er drängte sie. »Wir können das regeln«, sagte Pease sanft. »Sie haben in Notwehr gehandelt.« Louisa öffnete den Tresor, und Aiden griff mit Handschuhen hinein und zog die .22er Walther hervor. Dieses Mal war sie sicher, dass sie die passende Waffe zu der Kugel im Fahrstuhlschacht gefunden hatten. »Sie haben einen Fehler begangen, den meine Pat Fantome nie begangen hätte«, sagte Louisa. »Louisa«, mahnte Pease, aber seine Klientin konnte nicht widerstehen. »Sie haben die Seriennummer der Waffe in meiner Schreibtischschublade nicht überprüft, als Sie zum ersten Mal hier waren«, sagte sie. »Sonst hätten Sie sofort festgestellt, dass das nicht meine Waffe war, sondern dass sie Mathew Drietch gehörte. Aber Sie hatten ja auch keinen Grund dafür. So nahe war ich dran, es zu schaffen.« Louisa hielt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand einen knappen Zentimeter voneinander entfernt.
»Charles Lutnikovs Pat Fantome hätte vielleicht die Seriennummer überprüft«, stimmte Mac zu. »Aber Pat Fantome ist nicht real. Wir schon. Wir machen Fehler, aber wir korrigieren sie auch wieder.« Dann las er Louisa Cormier die Miranda-Rechte vor. Die Metallgittertür schwang auf, und Anthony Marco blickte Ward und Mac entgegen. »Dieses Mal ohne eine hübsche Frau?«, fragte Marco. »Sie ist nicht ganz auf dem Posten«, sagte Mac. »Ich werde ihr Blumen schicken«, entgegnete Marco lächelnd. »Worum geht es?«, wollte Marcos Anwalt wissen. »Die Verhandlung geht schnell voran«, sagte Marco. »Und wir haben einen Deal.« »Nein, haben wir nicht«, erwiderte Ward. »Wir können auf die Zusammenarbeit mit Ihnen verzichten.« Anthony Marco sah sich über die Schulter zu seinem Anwalt um, ehe sein Blick zu Mac und Ward zurückkehrte. »Was?«, fragte er. »Kennen Sie einen Steven Guista?« »Nein«, sagte Anthony und richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Er kennt Sie aber«, sagte Ward. »Er weiß eine Menge über Sie und Ihren Bruder. Er wurde als Zeuge aufgenommen und wird aussagen.« »Gegen mich?«, fragte Anthony erstaunt. Mac nickte. »Es heißt, er hätte einen Cop ermordet und einem anderen die Scheiße aus dem Leib getreten«, sagte Anthony. »Ich dachte, Sie kennen ihn nicht«, gab Ward zurück. »Ich habe gelogen.« »Guistas Zeugenaussage ist wertlos«, sagte Anthonys Anwalt. »Was haben Sie ihm geboten, damit er einen Meineid leistet?«
»Nichts«, sagte Ward. »Er hat nichts gewollt, und wir haben ihm nichts angeboten. Sie können ihn selbst fragen, wenn er im Zeugenstand ist.« »Ich hatte nichts mit dem Mord an der Spanio zu tun«, beharrte Anthony. »Das war Darios Idee.« »Ihr Bruder ist tot«, sagte Mac. »Nein«, empörte sich Anthony. »Ihr Anwalt kann Ihnen das mit einem Anruf bestätigen«, sagte Mac. »Dario ist tot? Dieser dumme Hurensohn, lässt mich einfach mit … dürfen die das? Dürfen die mir das antun?«, fragte Anthony seinen Anwalt. Der Anwalt antwortete nicht.
Epilog
Der Schneefall hatte aufgehört, nicht aber die bittere Kälte. Mac stand mit gesenktem Kopf da und hielt die Beine gespreizt, um den immer wieder auftretenden Böen zu trotzen, die ihn von Claires Grab fortwehen wollten. Nur die Spitzen der Grabsteine stachen aus der Schneedecke hervor, und Mac erinnerte sich, dass es hier einige Gräber gab, die nur eine schlichte Messingplatte besaßen und nun einen halben Meter tief unter dem Schnee begraben waren. Der Schneepflug hatte sich vorsichtig vorangetastet. Mr Greenberg, der die Räumung arrangiert hatte, war gekommen und hatte die Arbeiten beaufsichtigt. Er hatte den Schneepflug angewiesen, einen Pfad vom Parkplatz aus durch den Schnee freizuschaufeln. Der sanfte Wind ließ in der Kälte sein klagendes Lied erklingen und durchbrach die friedliche Stille des Morgens. Mac hielt Blumen in den Händen und spürte, wie der Wind an dem Strauß aus Rosen zerrte. Nur mit Mühe hatte er den bunten Strauß – rote, rosa, weiße und gelbe Rosen – beschaffen können. Greenberg war ein dünner kleiner Mann von mindestens sechzig Jahren. Er hatte rote Wangen und trug einen zu großen Mantel. Er hielt sich diskret im Hintergrund, die Hände vor dem Leib gefaltet. Mac ging ein paar Schritte näher an das Grab heran. Hinter sich hörte er das Geräusch eines Fahrzeugs, das von den Friedhofstoren zu der Parkfläche fuhr, auf der auch er sein Auto abgestellt hatte.
Er drehte sich nicht um. Er stand nun direkt neben dem Grabstein und las die eingemeißelten Worte. Er hörte Schritte auf dem schmalen Weg, und dann drehte er sich um. Don Flack, Aiden, Stella und Danny kamen auf ihn zu. Stella stützte sich auf Dannys Arm. »Du solltest im Krankenhaus sein«, sagte Mac, als sie näher kamen. »Das ist dein Jahrestag«, antwortete Stella. »Den wollte ich nicht verpassen.« Sie versammelten sich um das Grab, und Mac kniete nieder, um die Blumen vor den Stein zu legen, der ihnen ein wenig Schutz vor dem Wind bot. Greenberg trat rasch heran und befestigte die Blumen mit einem glatten, runden Stein. Dann erhob er sich wieder und reichte jedem der Anwesenden einen kleinen Stein. »Wenn Sie mögen«, sagte Greenberg. »Das ist eine Tradition. Wir legen jedes Jahr zur Erinnerung einen Stein auf das Grab eines geliebten Menschen.« Mac sah den kleinen braunen Stein in seiner Hand an und legte ihn auf den Granitgrabstein. Stella, Aiden, Danny und Flack taten das Gleiche. Dann gingen alle bis auf Mac einige Schritte zurück. Es gab nichts zu sagen. Es war nicht nötig, irgendetwas zu sagen. Eine Weile, es schien wie eine Ewigkeit, stand er da, ehe er sich umwandte und zu den anderen ging, um mit ihnen zum Parkplatz zurückzukehren.