Das neue Abenteuer 445
Horst Czerny: Der Tote in der Arktis
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustr...
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Das neue Abenteuer 445
Horst Czerny: Der Tote in der Arktis
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustrationen von Karl Fischer © Verlag Neues Leben, Berlin 1983 Lizenz Nr. 303 (305/101/83) LSV 7503 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9 p Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 547 2 00025
Am 18. Oktober 1968 gingen in der Polaris-Bucht im Kennedykanal zwischen Grantland und Grönland fünf Amerikaner an Land. Trotz der dicken Pelze froren sie jämmerlich. Vierzig Grad unter Null waren sie nicht gewohnt. Nicht nur die unbarmherzige Kälte jagte ihnen Schauer über den Rücken, auch die Landschaft erschien unheimlich. Sie waren in eine leblose, zu Schnee und Eis erstarrte Wüste geraten. Die bizarre Schönheit der Arktis, die von Polarforschern immer wieder gerühmt wird, war ihnen ein düsteres Gespensterreich. Zudem konnte ihr Auftrag auch nicht dazu angetan sein, sie in eine gehobene Stimmung zu versetzen . Professor Chauncey Loomis, der Leiter der Gruppe und von Beruf Gerichtsmediziner, gab sich zuversichtlich: "Gewiß, der Fall, den wir zu klären haben, steckt voller Rätsel und Widersprüche. Ich habe die Akten sorgfältig studiert, und ich gestehe offen, daß mir dabei die Haare zu Berge gestanden haben. In einem Punkt stimmen die Aussagen jedoch überein: Die Stelle, an der sich das Grab befinden soll, wurde von allen Zeugen exakt angegeben, nämlich fünfzig Meter nördlich des damaligen Ankerplatzes der Polaris. Und das, meine Herren, ist genau der Punkt, auf dem wir gerade stehen." Er klatschte in die Hände und feuerte seine Begleiter an: "An die Arbeit, wir wollen keine Zeit verlieren." Während vier Männer sich nun auf die Suche nach dem einsamen Grab machten, hielt der fünfte mit schußbereitem Karabiner Wache. Man fürchtete, von Eisbären angefallen zu werden. Der von Schnee und Eis bedeckte Boden war flach wie ein Brett. Seit Stunden schon wurde jeder Quadratmeter vergeblich unter die Lupe genommen, und allmählich
wuchs die Enttäuschung. War Loomis außer Reichweite, äußerten die Männer die Vermutung, der alternde Professor könnte womöglich einer fixen Idee zum Opfer gefallen sein. Schon seit langem war er von der Vorstellung beherrscht, dieses Grab unbedingt finden zu müssen. Sein Ehrgeiz trieb ihn dazu, vor aller Welt mit einer außergewöhnlichen Leistung zu glänzen. "Hierher", rief einer der Männer. "Ich glaube, ich habe etwas gefunden." Dieser Satz wirkte elektrisierend. Aus dem Eis ragte das Stück eines Eisenrohres heraus, etwa einen halben Meter lang und bereits stark verwittert. Was mochte dieser Fund bedeuten? Der Professor geriet heftig in Bewegung. Seine Augen leuchteten auf, und er triumphierte: "Das ist das Grab unseres Helden. Hier ruht ein Märtyrer. Nun werde ich beweisen, daß ." Der scharfe Wind, der vom Nordpol herüberwehte, hinderte ihn am Weitersprechen. Mit Eispickel und Spaten machten sich die Männer ans Werk. Eine qualvolle Arbeit, der Frost riß ihnen die Haut an Händen und Gesicht auf. Das bekümmerte sie nicht. Nur weitermachen, jetzt nicht aufgeben. Bald darauf entdeckten sie, wonach sie suchten. Zu ihren Füßen lag eine männliche Leiche. Die arktische Kälte hatte sie ein Jahrhundert lang konserviert, so war sie unversehrt geblieben und wies keine Spur von Verwesung auf. Vorsichtig betteten die Männer den Toten in Decken und Zeltbahnen, brachten ihn mit einem Hundeschlitten nach Thule auf Grönland und von dort per Flugzeug nach New York. Professor Loomis nahm die Autopsie persönlich vor. Was er geahnt hatte, bestätigte sich nun. Auch die in den alten, längst vergilbten Akten enthaltenen Widersprüche
waren mit einem Schlag aufgehellt. Es entrollte sich das Bild eines außergewöhnlichen Dramas .
"Wenn ich so weitermache wie bisher, wird mein Leben bald vertan sein. Ich werde friedlich im Bett sterben und nichts Vernünftiges auf die Beine gestellt haben." "Dieses Lied kenne ich, mein Lieber. Du singst es mir alle Jahre vor." "Versteh mich doch, seit zwanzig Jahren suche ich die große Lebensaufgabe und kann sie nicht finden. In der letzten Zeit komme ich mir ziemlich überflüssig vor." "Diese Unzufriedenheit verstehe ich nicht, weil du keinen Grund dazu hast. Erst neulich warst du in Afrika und auf Kuba. Ich habe deine Berichte über die Sklavenaufstände gelesen - Hut ab! Der erste Journalist der Staaten könntest du sein, wenn du nur wolltest. Das wäre doch die große Aufgabe fürs Leben!" Diese Unterhaltung fand in der eleganten New-Yorker Wohnung John P. Ellisons statt, eines Rechtsanwaltes, der ungewöhnlich erfolgreich war und maßlos stolz auf das, was er bisher erreicht hatte. Sein Gast an diesem Frühlingsabend des Jahres 1859 war Charles Francis Hall, ein Hüne von Gestalt, kerngesund, kraftstrotzend, fast vierzig Jahre alt, Journalist und Weltreisender. Und stets auf der verzweifelten Suche nach sich selbst. "Du solltest tun, was jeder vernünftige Mensch spätestens in dieser Situation machen würde", fuhr der Rechtsanwalt fort, "nämlich heiraten, eine Familie gründen und dir ein Heim schaffen. Zufriedenheit und innere Ruhe stellen sich dann ganz von allein ein." Hall meinte schließlich: "Nenn mich größenwahnsinnig, aber zu einem friedlichen Bürger, der tagsüber arbeitet,
das übliche Maß an Heuchelei absolviert und sonntags in die Kirche geht, bin ich nicht geschaffen. Auf unserem Planeten gibt es noch eine Menge zu entdecken, das reizt mich. Im übrigen sehe ich durchaus eine Chance für mich, und ich wäre ein verdammtes Greenhorn, wenn ich sie mir entgehen ließe." "Den Mount Everest besteigen?" Ellison wußte, daß sein Freund diesen Plan einmal gefaßt hatte, aber Mangel an Geld hatte ihn daran gehindert, das Abenteuer zu versuchen. Hall antwortete mit Ruhe und Überlegung: "Der Mount Everest, das war ein Jugendtraum - übrigens nicht der schlechteste. Nein, ich will als erster am Nordpol sein!" Nach kurzem Schweigen platzte Ellison los: "Charles, du bist verrückt. In aller Freundschaft, jetzt bist du tatsächlich größenwahnsinnig geworden!" "Aber es ist mein voller Ernst." Rechtsanwalt Ellison war ein praktischer Mann, der in allem, was er unternahm, immer zuerst den materiellen Gewinn sah und sich danach richtete. Ein Spötter war er nicht. Zudem kannte er seinen langjährigen Freund genau. Ja, manchmal bewunderte er an Hall dessen ungestümes Vorwärtsdrängen. So wählte er seine Worte mit Bedacht. "Um ein solches Ziel zu erreichen, muß man wahrscheinlich besessen sein wie du. Aber bedenke, der Weg zum Nordpol ist mit Leichen gepflastert. Die es bisher versucht hatten, mußten wieder kehrtmachen oder kamen elend um, verhungert und erfroren. Sogar ein erfahrener Mann wie John Franklin ist im ewigen Eis untergegangen. Und mit ihm mehr als hundert Männer. Willst du das nächste Opfer sein?" Ellison trug Eulen nach Athen. Hall kannte sich in der
bewegten Geschichte der Polarforschung gut aus, hatte in den vergangenen Jahren alle erreichbaren Berichte studiert. Er war auch über die Franklin-Tragödie auf KingWilliams-Land im nordkanadischen Inselgewirr im Bilde, sie hatte sich erst vor wenigen Jahren zugetragen, und die Welt sprach noch immer von ihr. Hall hatte eine Theorie für sich entwickelt, wie solche Katastrophen zu vermeiden wären. "Die Eskimos", begann er, "sind selbst auf den nördlichsten Breitengraden und unter den härtesten klimatischen Bedingungen imstande, zu leben und zu arbeiten. Sie sind ein glückliches und zufriedenes Völkchen. Was folgt daraus? Ich meine, wer in der Arktis leben und überleben und bis zum Nordpol will, muß sich zunächst den dort herrschenden Bedingungen anpassen. Er muß lernen, wie ein Eskimo zu leben, ja, er muß sich selbst in einen Eskimo verwandeln. Das erst gibt Amerikanern und Europäern die Fähigkeit, sich im höchsten Norden auf längere Zeit zu behaupten. Solche Überlegungen haben bisher keine Rolle gespielt, deshalb konnte die Arktis immer wieder ihre Opfer fordern. Mich wird das Eis allerdings nicht besiegen." "Demnach willst du wie ein Eskimo leben?" fragte Ellison spöttisch. Hall nickte und trank sein Glas leer. "Ich werde die Staaten für etwa fünf Jahre verlassen", sagte er. "Irgendein Walfänger oder Transtänker nimmt mich gewiß bis zum Lancastersund mit. Dort gehe ich an Land. Ich denke, auf King-Williams-Land werde ich auf Eskimos stoßen. Die Leute, die nach Franklin suchten, haben dort Eskimos gesehen. Ich werde sie finden und mich ihnen anschließen. Ich will Arbeit, Freuden und Leiden mit ihnen teilen." Er verlieh seiner Stimme einen feurigen Klang. "Und komme
ich nach New York zurück, rüste ich eine Expedition aus und erstürme den Nordpol!" Als Hall gegangen war, sagte Ellison zu seiner Frau Mary, er habe soeben einem Selbstmörder Lebewohl gesagt.
An der Cleopatra of Cumberland war nur der Name glanzvoll. Ansonsten glich dieser hölzerne Kasten eher einem abgetakelten Küstentrawler denn einem seetüchtigen Dampfer. Zudem stank er über mindestens zwei Breitengrade hinweg nach Tran und Robbenspeck. Trotzdem brachte das Schiff seinem Eigner hohe Gewinne und befuhr obendrein eine der gefährlichsten Routen: New York - Ronny-Faktorei und zurück. Diese Faktorei war eine kleine Niederlassung am Eingang zum Lancastersund, lag also hoch im Norden, wo Eisberge und Packeis schon den stabilsten Schiffen zum Verhängnis geworden waren. Dorthin brachten die in der nördlichsten Baffinbucht kreuzenden Fangschiffe ihre Beute: Wale und Robben. In der Faktorei wurden sie zerlegt und zu Tran gekocht. Ohne diesen begehrten Rohstoff kam die kosmetische Industrie nicht mehr aus, und seit einiger Zeit diente er auch zur Herstellung der Butter des kleinen Mannes - der Margarine. Die Cleopatra of Cumberland brachte mehrmals im Jahr Hunderte mit Tran gefüllte Fässer nach New York, und deshalb stank sie auch so heftig. Kein Kapitän, der auf Reputation zu halten beliebte, hätte sich je gesonnen gezeigt, diesen Transtänker zu befehligen. Allerdings war das gar nicht notwendig, es gab ja Mister Budington, und der war schon seit dreißig Jahren mit der Cleopatra of Cumberland verheiratet, stank nicht weniger als sie, allerdings mehr nach Rum, war selten gewaschen, niemals rasiert - in allem eine fragwürdige Gestalt. Wenn
freilich Orkane durch das Nordmeer rasten, die Eismassen den von so vielen Gebrechen heimgesuchten Holzkasten zu zermalmen drohten und die Mannschaft das große Heulen bekam, dann zeigte der alte Säufer, daß er ein ganzer Kerl war. In solchen Augenblicken stand er mit hellwachen Sinnen auf der Kommandobrücke und dirigierte sein Schiff sicher durch alle Gefahren. Diesem urwüchsigen Seebären trug Charles Francis Hall in einer verräucherten New-Yorker Hafenkneipe sein Anliegen vor. Budington hörte zu, schüttelte aber immer wieder den Kopf und rief schließlich: "Mann, freiwillig zu diesen Menschenfressern? Und jahrelang bei ihnen bleiben? Wären Sie ein Jüngling, könnte ich das zur Not begreifen, denn die Jugend sucht das Abenteuer. Aber Sie, ein ausgewachsener Mann in den besten Jahren? Was hat die Menschheit Ihnen angetan, daß Sie Ihr Leben wegwerfen wollen? Nehmen Sie einen kräftigen Schluck, und gleich erleben Sie, daß die Welt wieder hübsch und manierlich aussieht." Daß der alte Budington so reagieren würde, war vorauszusehen, aber er schien der einzige zu sein, der ihn zum Lancastersund bringen konnte, also mußte er gewonnen werden. "Seit langem ist es mein Wunsch, die Eskimos kennenzulernen. Was ich mir in den Kopf gesetzt habe, führe ich meistens aus. Ich habe einen breiten Rücken, Kapitän. So schnell passiert mir nichts." "Das sagen Sie so leicht, aber ich bin ein christlicher Mann und fühle mich für die leidende Menschheit verantwortlich." Budington kratzte sich am Hinterkopf. "Gesetzt den Fall, ich nehme Sie mit, lasse Sie bei der RonnyFaktorei an Land, wie aber weiter? Sie marschieren wie der arme Lazarus in eine unbekannte Hölle hinein, und ich
bekomme eines Tages zu hören, daß die Wilden Sie erschlagen und aufgefressen haben. Mein Lebtag würde mich mein Gewissen nicht mehr schlafen lassen. So ist das bei mir."
Gegen diese Bedenken hatte Hall ein wirksames Mittel, er schob dem Freund der leidenden Menschheit hundert Dollar zu. Der Kapitän nahm die Scheine und grinste. "Mein Gewissen, guter Mann, ist aber ganz besonders hartnäckig." Hall verstand und legte fünfzig Dollar dazu. So kam der Handel zustande. Budington lachte. "Ich nehme Sie also mit, aber auf Ihre Gefahr und Verantwortung. Das müssen Sie mir noch schriftlich geben. Auf meinem Dampfer hat jeder seinen Spleen, da kommt es auf einen Verrückten mehr oder weniger nicht an. Geben Sie mir Ihre Hand, Mister Hall. So heißen Sie doch, wie?"
Wenige Tage später verließ die Cleopatra of Cumber land den New-Yorker Hafen. Halls Kabine war eng und schmutzig, sie hatte bisher als Abstellkammer gedient, aber er richtete sich häuslich ein. Einen großen Teil des Tages verbrachte er mit Sprachstudien. Dazu benutzte er ein abgegriffenes Büchlein des dänischen Missionars Hans Egede, das Worte, Sätze und Begriffe aus der Eskimosprache enthielt. Dieser Gottesmann war im Jahr 1721 nach Grönland gekommen, um den ungläubigen Wilden - als solche wurden die Eskimos angesehen - Kultur, Ordnung und christliche Moral beizubringen . Seine einzige vernünftige Leistung war die erste Übersetzung der Eskimosprache ins Dänische und Englische. Die Besatzung bestand aus einigen rauhbeinigen Gesellen. In den Hafenkneipen saß ihnen das Messer ziemlich locker, aber sie besaßen immerhin den Vorzug, auf hoher See den schlimmsten Wettern zu trotzen. Über den neuen Passagier rissen sie derbe Witze, besonders wenn Hall in der Nähe war und jedes Wort hören konnte. Der aber nahm nichts übel, sondern lachte gewöhnlich mit, laut und herzlich. "Das Wetter ist recht ordentlich", lobte Budington. "Meine Nase sagt mir aber: Das ändert sich. Schlimm wird es, sobald wir die Küste von Baffinland erreicht haben." Bis dahin war es noch weit, man hatte eben erst Neufundland passiert. Hall und Budington saßen in der Kapitänskajüte, einem aus rohen Brettern gezimmerten Verschlag, mit Feldbett, Schrank, Tisch und ein paar Schemeln. Auf dem Tisch türmten sich Seekarten, Sextanten, Chronometer, Bleistifte, Gläser, Flaschen, Teller und
allerlei anderes Gerät. Nur ein Meister der Navigation war imstande, sich in diesem Wirrwarr zurechtzufinden. Ein Meister wie Kapitän Budington. Der war an diesem Tag besonders redselig. Das übliche Seemannsgarn spann er nicht, auch behauptete er nicht, schon einmal den Klabautermann gesehen zu haben. Viel lieber sprach er von der eigenen Zukunft in den Farben des Regenbogens. "Noch ein paar Jährchen mache ich auf diesem gottverdammten Transtänker Dienst, dann setze ich mich zur Ruhe. Ich werde in New York das Leben eines Grandseigneurs führen. Um den Hafen, das dürfen Sie mir glauben, Mister Hall, werde ich immer einen Bogen machen! Kapitän Budington wird sich verändern. Sogar dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika wird es eine Ehre sein, vor Robert Henry Budington den Hut zu ziehen. Das erleben Sie noch, Mister Hall, vorausgesetzt, daß die Menschenfresser auf King-Williams-Land Sie am Leben lassen." Hall machte sich insgeheim über den Kapitän lustig, blieb jedoch gelassen und erlaubte sich keine Unhöflichkeit, denn er war Gast hier und wußte, was sich gehörte. "Ein solches Leben", sagte er, "gönne ich Ihnen von ganzem Herzen, lieber Kapitän. Schließlich haben Sie viele Jahre hart arbeiten müssen und dürfen Ihr Alter in Ruhe und Beschaulichkeit genießen. Wissen Sie aber auch, daß man sehr viel Geld haben muß, um auf großem Fuß leben zu können?" Geld war für den Kapitän kein Problem. "Vorhanden, mein Bester, ich habe immer gut verdient. Da ich nicht so dumm war, mir eine Frau zu nehmen, konnte ich fleißig sparen." Manchmal, wenn die Zeit es erlaubt hatte, machte Budington mit seinem Holzkasten Abstecher zur grönlän-
dischen Küste: nach Upernavik, Godhavn, Godth'ab. "Kleine Geschäfte auf eigene Rechnung, wissen Sie. Felle von Eisbären, Robben und Moschusochsen, ebenso Stoßzähne von See-Elefanten. In den Staaten ist man ganz versessen darauf und zahlt jeden Preis. Die Eskimos haben mir herrliche Sachen geliefert." Hall horchte auf, das Thema interessierte ihn brennend. "Sie hatten Begegnungen mit Eskimos, Kapitän?" "Geschäftlicher Natur." Budington goß Rum in ihre Gläser. "Da ist nicht viel zu erzählen. Man geht an Land, die Wilden kommen, der Handel wird gemacht." "Und wie geschieht das im einzelnen?" Ein breites Grinsen. "Immer zu unseren Gunsten, Mister Hall. Ist doch klar. Wir lassen uns von denen nicht übers Ohr hauen. Im einzelnen? Nun, die Eskimos breiten auf dem Boden aus, was sie anzubieten haben. Dann wird mit dem Karabiner mal kurz in die Luft geballert. Die Wilden bekommen es mit der Angst, lassen alles stehen und liegen, laufen davon wie die Hasen. So wird der Handel dann perfekt." Charles Francis Hall war empört und machte auch kein Hehl daraus. "Eine unfeine Methode. Finden Sie nicht, Kapitän?" "Und ob." Budington gab sich gleichfalls entrüstet und versicherte, sich niemals solcher Methoden bedient zu haben. Er bekreuzigte sich sogar. "Ich bin ein Christenmensch und kein Räuber. Nein, nein, meine persönlichen Geschäfte mit den Eskimos sind immer redlich gemacht worden, auf freundschaftlicher Basis sozusagen." Aber sein breites Grinsen verriet Verschlagenheit. "Ich habe die Leute mit ihren Schätzen zu mir an Bord kommen lassen. Dort haben wir erst einmal einen zu uns genommen. Und
dann noch einen. Die Wilden sind das nicht gewöhnt und wollen immer mehr davon. Das habe ich ihnen auch niemals abgeschlagen. Und sehen Sie, so wurden wir jedesmal gute Freunde. Aus einem harmlosen Umtrunk entwikkelten sich feste seelische Bande, so daß meine Gäste mir stets schenkten, was sie eigentlich verkaufen wollten. Durfte ich ihre Freundschaftsgeschenke zurückweisen, ohne die Leute auf den Tod zu beleidigen? Einmal", und nun konnte Budington sich gar nicht mehr beruhigen vor Erheiterung, "wollte mir ein Eskimo sogar seine Frau und die Schwiegermutter zum Geschenk machen. So fest hatte er mich in sein Herz geschlossen .!" Hall wußte nun Bescheid. Die Ureinwohner des hohen Nordens schienen dazu verdammt zu sein, ausgeplündert und obendrein verhöhnt zu werden. Er hatte davon schon öfter gehört. Gab es eine Möglichkeit, sie zu schützen? Budington schien seine Gedanken zu erraten, denn er meinte: "Es sind Wilde, Mister Hall, ganz einfach Wilde ohne Kultur und Sinn für höhere Werte. Barbaren, die noch wie in der Steinzeit leben. Ich rate Ihnen dringend ab, sich denen auszuliefern."
Schon seit vielen Stunden war Charles Francis Hall unterwegs. Als er sich einmal umblickte, konnte er von der Ronny-Faktorei nichts mehr erkennen, keine Schiffe und nichts, was auf die Nähe von Menschen deutete. Hall befand sich inmitten von Schnee und Eis. Das war die grausige Schönheit der Arktis. Er zog von der nördlichsten Spitze Baffinlands in südwestlicher Richtung weiter. Um nach King-Williams-Land zu gelangen, hatte er Gebirgsketten und vereiste Flüsse zu überwinden. Ein Marsch von mehreren hundert Kilometern lag vor ihm, das würde ihm
alles abverlangen. Doch seine Kraft und seine ungezügelte Besessenheit bedurften wohl solcher Strapazen. Hall hatte keine Hunde mitgenommen. Er zog seinen Schlitten selbst, auf dem die Ausrüstung sorgfältig verstaut war: Zelt, Schlafsack, Pelzbekleidung, Primuskocher, Petroleum, Kochtopf, zwei Gewehre, Munition. Und natürlich auch Proviant für etwa drei Wochen, vor allem den von Indianern entwickelten Pemmikan - das war getrocknetes Büffelfleisch, das zu Pulver zerrieben wird. Im übrigen hoffte er, auf dem Wege zu den Eskimos ausreichend Jagdbeute zu machen. Sein Plan sah eine tägliche Marschleistung von zwanzig Kilometern vor. Schon nach wenigen Stunden mußte er einsehen, daß dies eine Milchmädchenrechnung war. Die Bodenverhältnisse erwiesen sich als katastrophal. Schnee, Eis, Schluchten, vergletscherte Berge oder breite Bäche mit reißenden Wassern bildeten tückische Hindernisse. Hall lud sich manchmal seinen Zweizentnerschlitten kurzerhand auf den Rücken, um die Gefahr zu umgehen. Oft genug versank der Schlitten im Schnee oder blieb im Eis stecken. Es kostete große Mühe, ihn wieder flottzumachen. Diese Umstände zwangen ihn, den Marschplan auf die Hälfte zu reduzieren. Trotzdem schaffte er manchmal nur fünf Kilometer. An anderen Tagen rasten Schneestürme über die Landschaft und hielten Hall in seinem Schlafsack fest. Jagdglück stellte sich ein. Er schoß ein kräftiges Ren, vermochte aber nicht, die Beute fachgerecht zu zerlegen. Ungestüm fuhr sein Messer in das noch warme Fleisch und schnitt wahllos große Stücke heraus. Aber sie sättigten, und er konnte seine Vorräte schonen. Charles Francis Hall fühlte sich als einsamster Wanderer
der Welt, ein Robinson der Arktis, und war glücklich dabei. Doch das friedliche Bild änderte sich. Aus einigen Tagen wurden Wochen, schließlich zwei Monate. Längst hätte Hall bei den Eskimos sein müssen, aber von ihnen war weit und breit nichts zu sehen. Die Kälte wurde grimmiger, vierzig Grad unter Null waren nicht ungewöhnlich. Die Vorräte schrumpften trotz großer Sparsamkeit, das jagdbare Wild wanderte längst in andere Regionen. Hall hungerte. Seine Kräfte nahmen ab. Anfälle von Schüttelfrost suchten ihn heim, er konnte nichts dagegen unternehmen, Medikamente hatte er auf dem Schiff vergessen. Die Eskimos haben auch keine Tabletten, tröstete er sich. Besser wurde ihm allerdings nicht davon. Zu allem Unglück kündete sich die Polarnacht an. Bald würde die Sonne für lange Zeit hinter dem Horizont verschwinden, die Temperaturen weniger als fünfzig Grad minus betragen. In der Polarnacht erstirbt in der freien Natur alles Leben. Deshalb verkriechen sich die Bären in sichere Höhlen, und die Eskimos harren in ihren Schneehütten aus. Aber was sollte Hall jetzt tun? Zurück zur RonnyFaktorei? Das würde er bis zum Hereinbrechen der Polarnacht selbst bei Kräften nicht mehr schaffen, schon gar nicht in seinem augenblicklichen Zustand. Also hier sterben, verhungern, erfrieren wie so viele andere Polarforscher? "Nein!" rief Hall laut und kräftig in die arktische Wildnis hinein, und dann noch einmal: "Nein! Denn verloren ist man erst, wenn man sich selbst aufgegeben hat!" So schleppte er sich weiter von einem Kilometer zum anderen, fiel zu Boden, richtete sich wieder auf, wankte von neuem los. In den Nächten litt er unter Fieberphantasien. Dann kam jener Morgen, an dem Hall bereits den Tod
spürte. Seit Tagen hatte er nichts mehr gegessen, seine Vorräte waren längst verbraucht. Er stand jedoch wie zum Trotz auf den Beinen und bewegte sich mechanisch Schritt für Schritt vorwärts. Plötzlich glaubte er einer Sinnestäuschung zu erliegen, denn in einiger Entfernung stand eine Gruppe von zehn Männern. Ihre Haltung schien feindselig, sie richteten Speere und andere Waffen gegen den Fremdling.
Da begriff Charles Francis Hall, daß er am Ziel seines einsamen, strapazenreichen Marsches angekommen war. Er ließ sein Gewehr fallen und rief mit müder Stimme: "Aja Tima!" Eine Weile verging, dann legten auch die Eskimos ihre Waffen nieder und riefen im Chor zurück: "Aja!" Mit letzter Kraft schritt Hall ihnen entgegen, dann knickten ihm die Beine weg. Die Innuits - so nannten sich die Eskimos, während Fremde bei ihnen Kablunaken
hießen, also Hundesöhne - staunten nicht schlecht. Ein Mann, so groß und stark wie ein Walroß, und liegt da wie erschlagen! Sie sahen aber auch, daß der Kablunake sofort Hilfe brauchte, und trugen den Erschöpften zu ihren Iglus. Dort zogen ihn sachkundige Hände aus, rieben den fiebernden Körper mit Schnee und Eis ab, hüllten ihn sodann in wärmende Felle und Pelze und betteten ihn auf ein einfaches Lager. Als Hall nach einiger Zeit wieder zu sich kam, wußte er nicht, was mit ihm geschehen war. Er spürte, daß ihm etwas Heißes eingeflößt wurde, wahrscheinlich flüssiger Robbenspeck - das bei den Innuits übliche Allheilmittel gegen jedwede Art von Krankheiten und andere Gebrechen. Hierauf sank er in einen bleiernen Schlaf, aus dem er so rasch nicht erwachte. Unterdessen machten sich die Eskimos über seine Sachen her, rissen Säcke auseinander, brachen Kisten auf, staunten und fanden nicht heraus aus ihrer grenzenlosen Verwunderung. Was für seltsames, völlig nutzloses Zeug dieser Hundesohn mit sich herumschleppte, dagegen keinen Speer, keine Harpune, nicht einmal ein brauchbares Haumesser aus Walroßknochen. Der Kompaß wurde für Spielzeug gehalten, mehrere Kinder balgten sich um ihn. Einiges Interesse erregte Halls Kochtopf, eine Eskimofrau enteilte damit in ihren Iglu. Das meiste wurde allerdings als unbrauchbar weggeworfen. Über den Schlitten lachten sich die Männer halbtot. Mit einem solchen Ungetüm wollte der Kablunake wohl über die Eisfelder ziehen? Und das, ohne auch nur einen einzigen Hund zu haben? Nun darf man solches Tun nicht als Raub oder Plünderung bezeichnen und verurteilen. Persönliches Eigentum war den Eskimos ein unbekannter Begriff. Was an Nahrung, Gerätschaften und sonstigen Gegenständen vor-
handen war, gehörte allen. Nach diesem Prinzip wurde in der Arktis schon seit Jahrtausenden gelebt - und überlebt. Hall erholte sich schnell, fühlte sich pudelwohl in den warmen Fellen und Pelzen. Um ihn herum saßen mit lachenden Gesichtern seine Lebensretter und Gastgeber, verspeisten mit Genuß und ungeheurem Appetit ganze Gebirge von Lachsfischen, Bären- und Robbenfleisch, auch mangelte es nicht an saftigen Rentierkeulen. Das alles wurde in rohem Zustand gegessen, von Kochen und Braten wußte man hier offenbar nichts. Der Kablunake, da er Gast war und als Kranker auf "Diät" gesetzt werden mußte, bekam das Feinste vorgesetzt, was wohlhabende Innuits zu bieten hatten, nämlich einen Rentiermagen, natürlich ebenfalls roh und zudem mitsamt dem noch unverdauten Inhalt. Das sollte er zu sich nehmen? Hall schnupperte an der lukullischen Delikatesse, um sachlich festzustellen: "Dieser Fraß stinkt zum Gotterbarmen." Um seine Wohltäter nicht zu beleidigen, traf er diese Feststellung in seiner Muttersprache. Indes, die Blicke waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Hall sagte sich, als angehender Innuit müsse er sowieso die örtlichen Eßgewohnheiten übernehmen. So überwand er seinen Ekel und biß herzhaft in das Stück Rentiermagen hinein. Kaum hatte er den ersten Bissen herunter, wurde ihm schlecht. Er ließ es sich nicht anmerken, sondern aß tapfer weiter. Als er fertig war - die Revolte in seinem Magen kühn ignorierend -, setzte er sogar eine freundliche Miene auf. "Und nun", bat Hall, "möchte ich euren Häuptling oder Marshai sprechen, also den, der hier das Kommando hat." Häuptling, Marshai, Kommando? Die Innuits blickten
einander ratlos an. Erst aus der weiteren Unterhaltung erfuhr Hall, daß es hier niemanden gab, der etwas zu kommandieren hatte. Die Eskimos erkannten keine Autoritäten an, besaßen nur Respekt vor dem Eisbären, denn er war in ihrem Reich das stärkste Lebewesen. Aber sie brauchten auch keinen Herrscher über sich, denn sie wußten selbst, was sie zu tun hatten: gemeinsam leben und arbeiten, gemeinsam die härtesten Katastrophen überstehen und, wenn es keinen Ausweg gab, auch gemeinsam sterben. Wahrscheinlich aber mußten die Kablunaken einen Häuptling haben, weil sie unfähig waren, sich auf ihre eigene Kraft zu verlassen. Und schlau konnten sie auch nicht sein, man sah ja, mit was für einem jämmerlichen Schlitten dieser Hundesohn angekommen war! Gleich darauf wuchsen das Staunen und die Verwunderung über diesen Gast noch mehr, als er sagte: "Ich möchte werden wie ihr. Laßt mich unter euch leben. Ich werde euch nicht enttäuschen." Ein Hundesohn will leben wie ein Innuit, also wie ein richtiger Mensch und als freies Wesen? Selbst die ältesten Eskimofrauen konnten sich nicht erinnern, von einem ähnlichen Fall schon einmal gehört zu haben. Die Männer steckten die Köpfe zusammen, sprachen leise miteinander und zogen sich schließlich in einen anderen Iglu zurück, um dort zu beraten. Als sie zurückkamen, versuchte Hall, in ihren Gesichtern zu lesen. Wegschicken werden sie mich nicht, überlegte er. Einem Menschen das Leben zu retten und ihn anschließend wie einen räudigen Hund in die Polarnacht zu jagen, das paßte nicht zu ihnen. Sie haben mich gepflegt und mir sogar einen Rentiermagen serviert, also werden sie mich auch bei sich aufnehmen.
Einer der Männer sagte mit ernstem Gesicht: "Wir haben deinen Wunsch vernommen und darüber entschieden. Du bist groß und stark und scheinst ein aufrichtiges Herz zu haben. So bleibe bei uns. Wir werden dein Leben beschützen." Man wies ihm einen Platz in einem der Iglus zu, gab ihm Jagd- und Fanggerät, Decken, Felle und Pelze. Aber wie er herumlief! Die Frauen lachten zuerst, dann nähten sie ihm ordentliche Kleidung. Lang und hart war die Polarnacht in jenem Jahr. Doch die Menschen in der toten arktischen Wüste litten keine Not, sie hatten reichlich vorgesorgt. In Schnee- und Eishöhlen lagerten große Mengen Fleisch und Fisch. Hall studierte die Sitten und Bräuche dieser ebenso seltsamen wie liebenswerten Menschen. Die Eskimos sind kerngesund - was freilich kein Wunder ist, denn sie leben in einer absolut keimfreien Zone. Ein ausreichender Vorrat an Nahrung genügt zu ihrer Glückseligkeit. Wenn in ihren Schneehütten die Tranlampe brennt und das Wasser im Kessel brodelt, fühlen sie sich, auf ihren Fellen liegend, wie die Prinzen im Märchenland. Die Mahlzeiten sind ihre Leidenschaft. Als Eßgerät dient ein krummes Messer aus geschliffenem Rentiergeweih. Der Eskimo rollt einen Streifen Robbenspeck nudelförmig zusammen, stopft soviel wie möglich in den Mund, schneidet den gewaltigen Bissen kurz vor der Nase mit dem Messer ab und reicht den Speck an den Nachbarn weiter . Eines Tages war die Sonne wieder da. Der langen Polarnacht folgten Frühling und Sommer. Die Eskimos brachen ihr Winterlager ab und zogen in eine andere Gegend, dorthin, wo jetzt Bären, Rentiere und Moschusochsen zu erwarten waren. Von früh bis abends jagten sie, gingen auf
Fischfang. Hall war mitten unter ihnen und holte wie sie mit bloßen Händen die herrlichsten Lachse aus dem Wasser. Zur Küste zogen sie, um Robben zu erlegen. Immer wieder wurden neue Lager errichtet. Ein erfahrener Eskimo benötigte für den Bau seines Iglus nicht länger als eine halbe Stunde. Bald schaffte Hall das auch. Einmal sagte er: "Am liebsten würde ich für immer bei euch bleiben. Leider geht das nicht. Ich habe noch eine gewaltige Aufgabe vor mir, ich muß zum Nordpol, Freunde." Zum Nordpol? Die Innuits horchten auf. Meinte dieser gelehrige Hundesohn den Großen Nagel, der quer durch die Erde geschlagen war? New York, die Riesenstadt am Hudson River, dehnte sich um 1865 immer mehr und mehr aus, war Ballungszentrum, Hexenkessel und Geburtsstätte eines neuen Zeitalters zugleich, wie die Zeitungen schwärmerisch verkündeten. Neue Fabriken, Werften, Eisenbahnunternehmen, Stahlwerke, kleine Banken, große Banken, Versicherungsgesellschaften schossen wie Pilze aus dem Boden. Beinahe täglich entstanden dort, wo eben noch Beschaulichkeit geherrscht hatte, ganze Straßenzüge, eintönig, trostlos, aber zweckmäßig. Auch neue Götter betraten die Bühne, doch sie kamen nicht, um die Menschen zu erlösen und zu segnen, sondern um zu nehmen und zu herrschen. Sie hießen Morgan, Carnegie, Rockefeller. Die hemmungslose Jagd nach dem Geld hatte die Stadt in einen Fieberwahn versetzt. Zudem herrschte Krieg; die Nordstaaten kämpften gegen die Südstaaten, Humanisten, Patrioten und Idealisten zogen ins Feld gegen die Sklavenhalter. An der Börse
wußte man es freilich besser. Die Befreiung der Negersklaven war nur für Träumer und Weltverbesserer eine lohnende Sache. Dagegen brauchten die Industriellen und Bankiers des Nordens die noch unerschlossenen Räume des Südens für die Schaffung zusätzlicher Profite. Um die Wirtschaft ging es, nicht um Freiheit. Zentrum all dieser expansiven und aggressiven Aktionen war New York. In diese Stadt nun kehrte Charles Francis Hall aus der Arktis zurück. Er war noch gesünder und kraftstrotzender als vor seiner Abreise vor fünf Jahren, sprühte von Energie und Tatendrang. Hektik und Fieberwahn, die seine Heimatstadt wie eine bösartige Seuche befallen hatten, berührten ihn kaum. Er hatte ganz andere Pläne. Doch zunächst ging er zu seinem alten Freund. John P. Ellison war noch erfolgreicher und wohlhabender geworden, bewohnte jetzt ein stattliches Haus in Manhattan, gebot über Köchin, Gärtner und weitere Dienerschaft. Stolz sprach aus jedem seiner Worte, als er dem Heimgekehrten Haus und Einrichtung vorführte. Die Stilmöbel hatte er sich aus Europa kommen lassen. Geradezu in Verzückung geriet er, als er seine Porzellansammlung erläuterte, jedes Stück eine Kostbarkeit für sich. "Ja", sagte Ellison, "ich darf von mir behaupten, aus meinem Leben etwas gemacht zu haben. Im übrigen übernehme ich nur noch sichere Fälle, lasse mich auf kein Risiko mehr ein. Ich arbeite in der Hauptsache für Banken und Versicherungen, berate sogar die Regierung und helfe zuweilen der Polizei." Das gab Hall einen Stich. Die Polizei in New York war dafür berüchtigt, korrupt und brutal zu sein. Nun war er jedoch an der Reihe, von seinen Erlebnissen zu berichten. Er sprach von den Innuits, vom Leben in den Iglus, von
Eisbärenjagden und Polarnächten mit der gleichen leidenschaftlichen Erregtheit wie Ellison zuvor bei der Vorführung seiner Kaffeetassen. "Du wirst verstehen", schloß Hall, "daß der Nordpol mich nun erst recht wie ein Magnet anzieht. Vor allem weiß ich jetzt, wie ihm beizukommen ist. Bei den Eskimos habe ich das Notwendige gelernt. Was ich brauche, sind ein Schiff, eine Mannschaft, Proviant und Brennstoff für zwei Jahre. Alles in allem kostet das nicht mehr als dreihunderttausend Dollar. Die Regierung bewilligt mir das mit der linken Hand." Er lachte auf. "Mit eigenen Mitteln kann ich die Expedition natürlich nicht ausrüsten. In meinem Beutel befinden sich keine hundert Dollar." Der Rechtsanwalt hatte wenig interessiert zugehört, nur etliche Male mit dem Kopf geschüttelt. Er schenkte Sherry ein, lachte und rief aus: "Ach, Charles, du bist und bleibst ein großes Kind. Hast keinen Cent in der Tasche und operierst mit Hunderttausenden. Ein Himmelsstürmer, der immer wieder über die eigenen Beine stolpert." Mit ernster Miene fuhr er fort: "Mit welchem Recht sollte dir die Regierung ein Vermögen nachwerfen? Dreihunderttausend Dollar für eine fixe Idee." "Mit welchem Recht?" Diese Frage irritierte Hall. "Na, höre mal, hier geht es doch nicht um eine fixe Idee, sondern um den Ruhm der Nation! Der Erstbezwinger des Nordpols ein Amerikaner. Auf dem Nordpol weht das Sternenbanner. Das wird der Welt Eindruck machen." "Unsinn", gab Ellison mit schroffer Stimme zurück, und dann ließ er seinem Patriotismus freien Lauf. "Der Ruhm der Nation, das sind unsere Maschinen und Schiffe, unsere Märkte und Eisenbahnen, unsere Städte. Um der Welt Eindruck zu machen, brauchen wir den Nordpol nicht."
In diesem Augenblick, schien es Hall, als erkannte er seinen langjährigen Freund zum erstenmal richtig: ein mieser Karrierist und Opportunist, der kein Risiko mehr eingeht und zu einer wirklichen Leistung nicht fähig ist. Ein lächerlicher Kaffeetassensammler und berechnender Polizeihelfer. Der Abschied verlief kühl. Als Hall gegangen war, sagte John P. Ellison zu seiner Frau Mary, er habe soeben einem Verrückten Lebewohl gesagt.
In den folgenden Wochen und Monaten kämpfte Hall um seine Expedition, schrieb an den Präsidenten in Washington, an Senatoren und Admirale, besuchte Zeitungsredaktionen, beschwor einflußreiche Leute, versuchte zu überzeugen. Auf seine Briefe bekam er selten eine Antwort, im günstigsten Falle Vertröstungen oder glatte Absagen. Doch er ließ sich nicht entmutigen. Längere Zeit hatte Hall für die Saturday Morning Revue gearbeitet. Nun besuchte er den alternden Chefredakteur. Sam Bilder und brachte ihm einige packende Berichte über seinen Aufenthalt bei den Eskimos. Aber sie wurden ihm nicht abgenommen. "Mein lieber Charles", sagte Sam Bilder, "während du mit den Rohfleischfressern auf Eisbärenjagd warst, haben sich bei uns Welten verändert. Amerika läutet ein neues Zeitalter ein, das Zeitalter des Fortschritts. Und da kommst du mit Eskimos. Obendrein verlangst du, meine Zeitung soll für dich eine Kampagne führen, weil du Geld für deinen verdammten Nordpol brauchst. Willst du meinen Ruin?" Indes, der alternde Sam Bilder war kein Unmensch. "Aber du bist ja Journalist und auf Aufträge angewiesen. Sollst du haben. Zum Beispiel kannst du schon morgen in den Süden reisen, nach Georgia. Dort finden
demnächst ein paar feurige Schlachten statt. Schreib darüber." "Sam", rief Hall empört, "ich komme von Menschen, in deren Sprachgebrauch das Wort Krieg nicht einmal vorkommt, und das hat mich stark beeindruckt. Wie könnte ich jetzt noch ." "Hab schon verstanden", unterbrach ihn Bilder ärgerlich, "du kannst kein Blut mehr sehen. Krieg also nicht. Und der Mittelwesten? Du könntest von dort über den Bau der längsten Eisenbahnlinie der Welt berichten." Er schwärmte plötzlich. "Eine Eisenbahn verbindet den Pazifischen mit dem Atlantischen Ozean. Gigantisch, ganz einfach gigantisch. Wie findest du das?" Natürlich fuhr Hall in den Mittelwesten, er brauchte Geld. Zugleich stellte er bestürzt fest, daß ihm die Zeit davonlief. Ein Jahr war rasch herum, ein zweites und drittes. Nichts war erreicht worden, immer gab es Ablehnungen, Kopfschütteln, Rückschläge. In den ersten Tagen des Januar 1871 ging Hall auf dem New-Yorker Hafengelände spazieren, sah den Schiffen zu, die von den Meeren heimkehrten, winkte denen nach, die hinausfuhren. Wie niemals zuvor wurde er von Fernweh und Reiselust gepackt. Plötzlich hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Er wandte sich um. Vor ihm stand ein älterer Herr, ein Gentleman, was das Äußere betraf. Hall erkannte den Mann sofort wieder. Kapitän Budington! Die Begrüßung verlief überaus herzlich. Aber was trieb Budington hier? Hatte er nicht geschworen, um den Hafen stets einen Bogen zu machen? "Mister Hall, ich habe mich als Grandseigneur versucht, als Edelmann und britischer Lord. Leider sind das keine Rollen für mich, ich wirke
jedesmal so entsetzlich komisch." "Man kommt eben aus seiner Haut nicht heraus, Kapitän. Ich sage immer, der Mensch soll sich treu bleiben." "Ja, das ist wahr. Aber sagen Sie mal, wie ist es Ihnen ergangen damals bei den Menschenfressern?" Von seinem Leben unter den Innuits berichtete Hall mit Begeisterung. Er wurde jedoch trübsinnig, als er von der Unmöglichkeit sprach, Geld für eine Nordpolexpedition zu erhalten.
Die Erwähnung des Nordpols brachte Budington sofort in Bewegung. "Sie schaffen das", rief er aus. "Eines Tages haben Sie Ihre Expedition. Sagen Sie, mein lieber Mister Hall, Sie werden doch einen ordentlichen Kapitän brauchen, der sich dort oben auskennt. Da könnten Sie nicht an mich denken?" "Unbedingt werde ich an Sie denken." Halls Antwort
war ehrlich. Mit einem Mann wie Budington würde er das geplante Abenteuer ganz bestimmt glücklich zu Ende bringen. "Ich komme auf Sie zurück, Kapitän."
Einige Wochen später brachte der Postbote einen Brief ins Haus. Absender war John P. Ellison. Hall war überrascht, daß der einstige Freund sich wieder meldete. Lieber Charles, hieß es darin, ich errarte Dich schnell stens. Es geht um Deine Expedition. Halls Verwunderung hielt lange an, er fragte sich auch, was den Polizeihelfer veranlaßt haben mochte, sich dieser Angelegenheit nun doch anzunehmen. Er durfte dieses Schreiben aber nicht einfach ignorieren, womöglich enthielt es tatsächlich eine Chance. Das Wiedersehen entbehrte übertriebener Herzlichkeit. Ellison kam ohne Umstände auf das Thema zu sprechen. "Ich war neulich in Washington Zeuge einer aufschlußreichen Unterhaltung. Es ging um Überlegungen, dem Namen unseres Landes noch mehr Geltung zu verschaffen. Zum Glück fielen mir gleich deine Ambitionen ein. Die Eroberung des Nordpols, habe ich mir gesagt, wäre vielleicht eine solche Möglichkeit. Ich habe dich deshalb sofort ins Gespräch gebracht, von deinen Erfahrungen erzählt und dich überhaupt im besten Licht leuchten lassen. Kurz und gut, die Regierung spielt mit dem Gedanken, dir die Expedition zu ermöglichen. Ja, ich möchte sagen, die Sache ist so gut wie abgemacht. Nun liegt alles Weitere bei dir." Hall wagte nicht zu atmen, konnte sich den Sinneswandel Ellisons nicht erklären. "Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll." "Du brauchst dich nicht zu bedanken, Charles", antwor-
tete Ellison in sachlichem Ton. "Unterschreib mir nur dieses Papier. Eine Formalität." Es war ein Vertrag. Darin übernahm Mister Charles Francis Hall die Verpflichtung, dem Anwalts- und Mäklerbüro John P. Ellison die juristische Betreuung seiner Nordpolexpedition zu übertragen und dafür die übliche Gebühr zu entrichten. Für ein Dankeschön bestand in der Tat kein Anlaß, denn die Gebühr betrug fünf Prozent der für die Expedition vorgesehenen Gesamtsumme, also fünfzehntausend Dollar. Elende Halsabschneider, empörte sich Hall innerlich, so macht ihr euer verfluchtes Geld! Indes, er unterschrieb, er hätte in dieser Sache auch dem Teufel Provision gezahlt. Der endgültige Bescheid kam eine Woche später, nachdem Ellison aus Washington zurückgekehrt war. "Laß dir gratulieren, Charles, du hast dein Ziel erreicht. Es wurde alles bewilligt. Admiral Kirk B. Redgrave - du weißt ja, das ist einer der wichtigsten Männer in Washington - möchte dich bald persönlich sprechen. Bedenke aber, daß du auf eigenes Risiko fährst. Sollte dir am Nordpol etwas zustoßen, sind wir nicht verpflichtet, eine Hilfsexpedition zu schicken." Das war gewiß wenig menschlich, entsprach jedoch den Gepflogenheiten. Hall hörte nur, wie sein Herz hämmerte. Zum Nordpol! Als er gegangen war, sagte John P. Ellison zu seiner Frau Mary, er habe soeben dem größten Dummkopf aller Zeiten Lebewohl gesagt.
Charles Francis Hall auf dem Weg zum Nordpol! Alle Blätter Amerikas berichteten in großer Aufmachung darüber. Hall wird es schaffen, Hall erobert ffr unsere
Nation den nördlichsten Scheitelpunkt des Planeten Erde. Vorschußlorbeeren ohne Ende. Die größten stiftete Sam Bilder. Der alternde Boß der Saturday Morning Revue machte aus der Hall-Expedition das gigantischste Forschungsunternehmen der bisherigen Menschheitsgeschichte. Die Polaris war ein fabelhaftes Schiff mit nagelneuen Maschinen, seetüchtig, eisgängig, in der Ausstattung schon fast komfortabel. Leider hatte es einen großen Nachteil. Die Kosten für Miete und Versicherung verschlangen rund die Hälfte der Gesamtsumme. Auf der Kommandobrücke waltete Robert Henry Budington, der Kapitän, seines Amtes. Sauber gewaschen und rasiert war er. Seine Uniform hatte er sich vom besten Schneider New Yorks anfertigen lassen, auf eigene Kosten. Die Polaris war schließlich kein Transtänker, sondern das beste Schiff, das Budington je geführt hatte. Die Verabschiedung der Polaris-Expedition fand am 29. Juni 1871 im Hafen von New York statt. Das war ein richtiges Volksfest. Tausende erschienen. Musikanten spielten auf. Fliegende Händler boten ihre Waren an. Fahnen wurden geschwungen. Es erschienen Vertreter der Marine, der Geistlichkeit, auch Abordnungen etlicher Sittlichkeitsvereine. Die Priester segneten Schiff und Besatzung, ermahnten, besonders am Nordpol regelmäßig zu beten. Von vielen guten Wünschen begleitet, dampfte die Polaris davon und war schon bald im offenen Meer. An Bord befanden sich mehr als zwanzig Personen: Seeleute, Maschinisten, ein Steuermann, zwei Meteorologen, ein Kartograph. Expeditionsarzt war Doktor Emil Bessels. Admiral Redgrave hatte darauf bestanden, daß diesem jungen Deutschen eine Chance gegeben werde,
sich auszuzeichnen. Hall, auf das Wohlwollen des Admirals angewiesen, hatte sich gefügt, obwohl er für den Doktor keinerlei Sympathie empfand. Er mißtraute ihm, ohne so recht zu wissen, warum. Der Mann war einfach zu glatt in seinen Augen, ein Emporkömmling. "Warum wollen Sie unbedingt zum Nordpol, Doktor?" fragte Hall gereizt. Bessels erwiderte geschmeidig: "Studienhalber. Ich möchte herausfinden, wie der menschliche Organismus unter extremen Bedingungen reagiert." "Da werden Sie aber gewaltige Überraschungen erleben." Hall erläuterte noch einmal seine Pläne. Sobald die Po laris die Baffinbucht passiert hat, wird sie in den Smithsund einlaufen, das Kanebecken durchqueren, danach den Kennedykanal befahren. Wir wollen so lange nach Norden fahren, wie die Umstände uns das erlauben. Einige Leute vermuten, daß sich dem Kennedykanal ein weiterer Sund anschließt, aber das ist nicht erwiesen. Es ist möglich, daß wir hinter dem Kennedykanal auf offenes Meer stoßen, in dem der Pol ruht. Es kann aber auch sein, daß sich der Nordpol auf einem unbekannten Festland befindet. Wir müssen damit rechnen, daß Eismassen unser Schiff an der Weiterfahrt hindern. Tritt dies ein, so werden wir einen sicheren Ankerplatz ausmachen und dort überwintern. Im Frühjahr wird der Pol dann entweder mit Hundeschlitten, zu Fuß oder per Ruderboot erstürmt." Grönland kam nach einiger Zeit in Sicht. Wild, schroff und mächtig ragten die Küsten aus dem Meer empor. Diese größte Insel der Welt mit ihren mehr als zwei Millionen Quadratkilometern Schnee- und Eisfläche konnte Furcht einflößen. Zweitausend Meter dick ist das ewige
Eis. Nur wenige Küstengebiete sind bewohnbar. Hall wußte, daß es noch keinem Menschen gelungen war, Grönland von Ost nach West oder umgekehrt zu durchqueren. Die es versucht hatten, blieben für immer verschollen. Die Polaris steuerte Godhavn an. Das war eine größere Siedlung an der Westküste mit Trankochereien, Kneipen, Holzhütten, in denen übernachtet werden konnte. Eine zweifelhafte dänische Handelsgesellschaft hatte dort ihren Sitz. Walfänger legten in Godhavn an, Robbenschläger machten die Gegend unsicher, Abenteurer und Glücksritter trieben sich herum. Natürlich hatten sich auch zahlreiche Eskimos in Godhavn niedergelassen, andere befanden sich auf der Durchreise. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Hall erstand zwölf Hunde und mehrere Schlitten, die von Eskimos gebaut worden waren, also beste Qualität hatten. Aber die Hunde - lauter kleine Bestien! Nur mit Leine und Peitsche waren sie halbwegs zu bändigen. Als sie aufs Schiff gebracht wurden, kläfften sie unaufhörlich und schnappten sofort zu, wenn sich jemand von der Besatzung nur in ihrer Nähe zeigte. Zwei Tiere rissen sich los, fegten wie besessen über und unter das Deck, verursachten in Kabinen und Kajüten Panik und Chaos. Ruhe trat erst ein, als die Tiere an der Reling festgebunden wurden und ihr Futter bekamen - frisches Robbenfleisch. Das machte sie aber noch rabiater. So müssen sie jedoch sein, meinte Hall, mit müden Hunden könne man den Nordpol nicht erreichen. Die Matrosen, unter ihnen etliche der rauhbeinigen Gesellen von der alten Cleopatra of Cumberland, maulten und fluchten, während die Herren der Wissenschaft vorschlugen, die Meute unter Deck zu halten. Hall widersprach solchen Äußerungen heftig. "Ausge-
schlossen. Gerade die Tiere brauchen stets Licht und frische Luft." "Ja", bestätigte der Doktor ironisch, "die armen Tiere sind ja so sensibel." Und der Kapitän brummte: "Chef, die Fahrt zum Nordpol wird sehr lustig werden." "Darauf können Sie Gift nehmen, Kapitän", erwiderte Hall lachend. Er hielt den Zeitpunkt nun für gekommen, seinen Begleitern etwas mitzuteilen, was er bisher für sich behalten hatte: "Wir werden Gäste haben." Er zeigte belustigt zum Landungssteg. "Da kommen sie bereits ." Die Aufregung war allgemein. "Eskimos?" Ja, und sie kamen mit Kind und Kegel, mit Sack und Pack. Es waren vier Männer, drei Frauen und fünf lärmende Kinder. Ihr Erscheinen löste Verwunderung und Ablehnung aus. "Wie ich schon sagte, Chef, brummte Budington abermals, "wir werden eine lustige Reise haben." Kopfschüttelnd zog er sich auf die Kommandobrücke zurück. Der Arzt schien von dem unverhofften Zuwachs am meisten betroffen zu sein und wollte sofort wissen, ob Washington die Mitnahme von Eskimos genehmigt habe. Hall blieb die Antwort nicht schuldig. "Ich habe die Regierung gar nicht danach gefragt. Solche Sachen pflege ich auf eigene Faust zu machen. Im übrigen kann ich Ihnen nicht gestatten, Kritik an der Zweckmäßigkeit meiner Maßnahmen zu üben oder sie auch nur in Zweifel zu ziehen." Doktor Bessels trat den Rückzug an, seine Verteidigung wirkte jedoch hochmütig: "Ich habe nur als Psychologe gefragt. Alle Erfahrung lehrt uns nämlich, daß das Zusammenleben von Weißen und Fremdrassigen zwangsläu-
fig zu schweren Konflikten führt." Damit war Halls Protest herausgefordert. "Von welchen Erfahrungen sprechen Sie, junger Mann? Von den eigenen wohl nicht, denn Sie haben noch keine." Er wandte sich an die anderen. "Vertragt euch mit ihnen, es sind die liebenswertesten und zuverlässigsten Geschöpfe, die die Natur erschaffen hat. Ich habe sie eingeladen, weil ich denke, daß wir ohne ihre tatkräftige Hilfe nicht viel ausrichten können. In wenigen Wochen werden wir uns in einem Gebiet befinden, das vor uns noch kein Mensch betreten und gesehen hat. Was uns dort erwartet, wissen wir nicht. Deshalb brauche ich Männer, die sich auch unter den härtesten Bedingungen zu behaupten wissen. Wir dürfen nicht ausschließen, daß uns eine Katastrophe heimsucht. In diesem Fall würden die Eskimos unsere Lebensretter sein." Hall hatte einen weiteren Grund, sich des Beistandes der Eskimos zu versichern. Weder den Matrosen noch den Herren von der Wissenschaft traute er Ausdauer und Verläßlichkeit zu, ihn notfalls auf einem Fußmarsch durch die Packeismassen zum Pol zu begleiten, unter Umständen über mehrere hundert Kilometer. Sie würden sicherlich unterwegs versagen, und die Expedition müßte für gescheitert erklärt werden. Darüber sprach er aber nicht, schloß vielmehr mit einem breiten Grinsen: "Und schließlich brauchen wir unsere Gäste auch deshalb, weil ja jemand die Hunde bändigen muß. Will das etwa einer von euch übernehmen?" Niemand meldete sich. Die Männer verstanden, daß Hall recht hatte. Allerdings wurde die Anwesenheit der Eskimofrauen und der Kinder abgelehnt. "Das geht nicht anders", erwiderte Hall. "Ein Eskimo
begibt sich immer nur mit der ganzen Familie auf Reisen." Hall wies den Kapitän an, den Anker zu lichten. Längere Zeit nahm die Reise einen angenehmen Verlauf. Das Wetter zeigte sich von seiner Schokoladenseite. An Bord wußte jeder, was er zu tun hatte, und an die Eskimos gewöhnte man sich auch. Die waren in der Tat keine so üblen Gesellen, unbeschadet ihrer merkwürdigen Sitten und Gewohnheiten. Die Polaris brachte die Baffinbucht hinter sich und steuerte nun direkt auf den Eingang zum Smithsund zu. Hall und Budington sahen mit Erleichterung, daß der von der Natur geschaffene Kanal nahezu eisfrei war.
"Chef, wir werden sehr weit nach Norden kommen", prophezeite der Kapitän, "wir fahren schon direkt auf Ihren verdammten Pol zu." Das war allerdings zu früh gejubelt. Plötzlich und mit der Gewalt eines Tornados brach ein mächtiger Sturm los.
Das Schiff war sofort bedroht, konnte schon im nächsten Moment an die schroffen Felsen geschleudert werden und dort zerschellen. In den Kabinen, Kajüten und im Maschinenraum wirbelten die Gegenstände wild durcheinander. Die Männer klammerten sich an Tischkanten, Bettgestelle, und in manchen Augen stand blankes Entsetzen. Ist das der Untergang der Welt? Einigermaßen tapfer hielten sich die Männer von der alten Cleopatra of Cumberland, während andere Matrosen kopflos wurden und auf kein Kommando mehr reagierten. Einen Orkan, der direkt vom Nordpol herüberkam, hatten sie noch nicht erlebt. Mit Fassung ertrugen die Eskimos das turbulente Geschehen; freilich ließ sich ein Orkan in einem Iglu leichter ertragen als auf einem Dampfer der Kablunaken. Budington wußte um die Gefahr. Ruhig sagte er zu Hall: "Ich versuche, in eine kleine Bucht auszuweichen." Seine Anweisungen an den Steuermann und die Maschinisten waren präzise. Tagelang lag die Polaris fest. Mit unverminderter Gewalt jagte der Orkan über sie hinweg. Sein Heulen klang unheimlich. Mehrere Expeditionsteilnehmer erreichten bereits nach diesem ersten Ansturm der Elemente die Grenzen ihrer Nervenkraft, blickten bleich und verstört um sich. Dem Arzt standen Tränen in den Augen, er zitterte am ganzen Leibe. "In dieser Hölle kommen wir alle um", stammelte er. "Ich habe Sie nicht gebeten mitzukommen", sagte Hall grob. "Reißen Sie sich gefälligst zusammen. Sie sind Arzt und müßten jetzt Vorbild sein." "Wir sollten lieber umkehren, bevor es zu spät ist." "Das könnte Ihnen so passen." Feige Bande, dachte Hall
und erkannte, daß seine Rechnung einen bösen Fehler enthielt: Anstatt mich um verläßliche Begleiter zu kümmern, habe ich mir Leute aufschwatzen lassen, die in der Eroberung des Nordpols ein Sonntagsabenteuer sehen und beim ersten Sturm vor Angst umfallen. Ja, eines Tages bringen sie es fertig, eine Meuterei gegen mich anzuzetteln. Besonders den Doktor darf ich ab heute nicht mehr aus den Augen lassen . Obwohl die Polaris erst Ende Juni New York verlassen hatte und tagelang dem wütenden Sturm ausgesetzt und von ihm aufgehalten worden war, dampfte sie bereits Mitte August durch den Smithsund, der eine der Eingangspforten zur arktischen Welt ist. Hall stand am Bug und konnte sich nicht satt sehen an der eisigen Schönheit. Wohin sein Auge blickte, war die Landschaft in Einsamkeit erstarrt. Bläulichweiß und glitzernd dehnten sich unendliche Gefilde aus. Hall war diesem Zauber verfallen und würde es wohl immer bleiben. Vorwärts, drängte es ihn, so schnell wie möglich vorwärts. Vielleicht war der Pol sogar in einem Zug zu erreichen? Weiter schob sich das Schiff nach Norden, Tag und Nacht. Das Kanebecken war ein kleines Binnenmeer mit Treibeis. Am nördlichen, von vereistem Gletschergestein begrenzten Ufer tat sich der Kennedykanal auf. Ohne Mühe fuhr das Schiff hinein. Von nun an verlief der Weg durch unbekannte Zonen, kein Mensch hatte sie bisher betreten. Es gab auch kein organisches Leben mehr, nur noch ewiges Eis. Am 4. September erkundigte sich Hall, wie weit man gekommen sei. Budington nahm eine Ortsbestimmung vor und notierte das Resultat auf einem kleinen Zettel. Hall las 82° 26' nördlicher Breite mit starker innerer Bewegung. "Kapitän, ich habe die Ehre und die Pflicht, Sie zu be-
glückwünschen! Das ist absoluter Rekord. Noch niemals sind Menschen so weit nach Norden vorgestoßen wie wir. Ihre Tat, Kapitän Budington, wird im Buch der Menschheitsgeschichte einen Ehrenplatz einnehmen!" Budington, gewöhnlich zu Spaßen aufgelegt, schwieg. Die Gewißheit, in die Geschichte einzugehen, schien ihn überwältigt zu haben. Hall stürmte davon. Die rauhbeinigen Gesellen nahmen die gute Botschaft mit Begeisterung auf. Einer meinte, daß ein Schluck Rum aus diesem Anlaß nicht schlecht wäre. Hall vertröstete auf später. Bei den Herren von der Wissenschaft löste Hall keine Jubelstürme aus. 82° 26' nördlicher Breite - schön, und sonst? Man saß über Karten gebeugt, diskutierte und blies im übrigen Trübsal. Frank Norman, einer der beiden Meteorologen, sagte: "Wir machen uns Sorgen um die Expedition, Mister Hall." "Das ist aber wirklich nett von Ihnen", lautete dessen lakonische Antwort, "aber Sie müssen mir auch verraten, worauf sich Ihre Sorge gründet. Nun?" "Werfen Sie mal einen Blick auf diese Karte, Mister Hall. Im Norden ist irgendwo der Pol, im Süden die Baffinbucht, also offenes Meer. Und unser Standort? Ein schmaler Kanal mitten in einer Hölle, die vorübergehend Ruhe hält, aber schon im nächsten Augenblick losbrechen, uns den Rückweg abschneiden und somit vernichten kann. Mit anderen Worten, wir sind in eine Mausefalle geraten." Elende Wichte, empörte sich Hall in Gedanken. Seine Antwort klang streng: "Ich habe Sie nicht für das Studium irgendwelcher Karten unter Vertrag, sondern um an dem nördlichsten von uns erreichten Punkt eine Wetterstation einzurichten. Dort werden Sie zweimal täglich Windgeschwindigkeiten messen, die Ergebnisse sorgfältig regi-
strieren und einmal im Monat eine Analyse vornehmen. So steht es im Vertrag, und so werden wir das auch halten!" Norman erhob sich und erwiderte aggressiv: "Das werde ich nicht tun, Mister Hall." Nun explodierte Hall. "Sie haben diesen Befehl zu befolgen, oder Sie werden als Meuterer in Ketten in die Staaten zurückkehren. Ich lasse mir mein Lebenswerk nicht kaputtmachen. Von Ihnen nicht, Norman. Von niemandem." Der Arzt mischte sich ein: "Mister Hall, Sie haben nicht das Recht, die wohlbegründeten Argumente verantwortungsbewußter Männer ungeprüft vom Tisch zu fegen." "Schweigen Sie." Aber was war das? Warum fuhr die Polaris nicht weiter? Budington muß plötzlich verrückt geworden sein, überlegte Hall. Er kann doch nicht einfach die Maschinen stoppen lassen. Augenblicklich ließ er die Herren von der Wissenschaft stehen und lief zur Kommandobrücke. "Wir kommen nicht weiter, Chef, sagte der Kapitän. Ein Blick genügte, und Charles Francis Hall begriff das auch. Eisschollen trieben auf das Schiff zu. Weiter vorn ein Gebirge aus Packeis. Budington betrachtete dieses grausige Bild mit einer gewissen Ergriffenheit, um anschließend sachlich festzustellen: "Wenn sich das in Bewegung setzt, müssen wir unser letztes Gebet sprechen." Irgendwie war Hall auf ein solches Hindernis gefaßt gewesen, freie Fahrt bis zum Ziel gab es eben nicht. "Der Pol bezieht Verteidigungsstellung." Mit erhobener Faust rief er aus: "Trotzdem werde ich dich besiegen, alter Junge!" Während Hall noch überlegte, ob sich in der Barriere vor
ihnen vielleicht doch ein Loch zum Durchschlüpfen finden ließe, wurde der Eiswall aus seiner Erstarrung gerissen. Krachend und ächzend lösten sich die massiven Eisblöcke voneinander, um gleich darauf wieder mit heftiger Wucht gegeneinanderzuprallen. Das war ein Schauspiel von solcher Unheimlichkeit, daß sogar Budington von Entsetzen gepackt wurde. Schon schoben sich die ersten hoch übereinandergetürmten Schollen auf das Schiff zu. An Bord entstand Panik. Rufe gellten in die arktische Weite hinein: "Wir sind verloren! Das Eis wird uns erschlagen und unter sich begraben!" Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Die Luft wurde von einem schauerlichen Brüllen und Pfeifen erfüllt. Über die berstenden und wild in Bewegung geratenen Packeismassen raste zu allem Unglück ein Orkan hinweg. "Wir müssen zurück!" schrie Budington. "Nach Süden." Die Maschinen wurden wieder angelassen, ein kompliziertes Wendemanöver folgte. Die Polaris nahm vor dem Eis Reißaus. Sekundenlang war Hall wie betäubt. Gingen in diesen dramatischen Minuten seine Träume unter? Er spürte, wie die Temperatüren sanken, und sah bestürzt, daß am Ufer das Wasser zu gefrieren begann. Wie lange konnte es noch dauern, bis der Kennedykanal gänzlich zugefroren war und das Schiff festsitzen würde? Er fragte sich, ob der aufsässige Norman und die anderen Herren von der Wissenschaft am Ende doch recht hatten und die Expedition tatsächlich in eine Mausefalle geraten war. Diese Zweifel dauerten aber nicht lange. Gefaßt ging Hall zur Kommandobrücke. Dort dirigierte der erfahrene Seebär Budington das schwankende Schiff souverän durch die tobenden Ele-
mente. "Wie lange gedenken Sie auf diesem Kurs zu bleiben, Kapitän? Wie Sie wissen, will ich zum Nordpol, ihm aber nicht davonlaufen." "Geduld, Chef, zuerst müssen wir unsere Haut retten. Ich habe während der Fahrt durch diesen schrecklichen Kanal meine Augen offengehalten und eine Bucht entdeckt. Habe sie soeben im stillen Gottseidankhafen getauft. Beten Sie, daß wir noch rechtzeitig dort ankommen." "Wie weit ist das?" wollte Hall wissen. "Etwa fünfzig Seemeilen." Hall machte eine heftige Bewegung. "Ausgeschlossen, Kapitän, das kostet mich einen ganzen Breitengrad. Ich kann nicht erlauben, daß wir uns so weit nach Süden entfernen. Lassen Sie sich etwas anderes einfallen." Draußen raste, tobte und brodelte es. Die Polaris befand sich in höchster Gefahr. Deshalb blieb Budington hart. "In einer Situation wie dieser entscheidet allein der Kapitän, denn er ist für das Schiff und die Besatzung verantwortlich." "Gewiß, gewiß." Hall biß sich auf die Lippen, mußte wohl oder übel einsehen, daß in diesem Fall nichts zu machen war. Sie erreichten Budingtons Gottseidankhafen buchstäblich in der letzten Minute. Der Kanal fror vollständig zu, das Eis türmte sich viele Meter hoch. Hier steckenzubleiben hätte den sicheren Untergang bedeutet. Dagegen erwies sich die Bucht nicht nur als Rettung in höchster Not, sie bot zudem einen idealen Platz zum Überwintern, denn sie war tief in das Land eingeschnitten. Die Eisungeheuer, die sich von Norden her durch den Kanal wälzten, konnten dem Schiff kaum gefährlich werden.
An einer Überwinterung in der Arktis hatte außer Hall
noch keiner der Männer teilgenommen. Einige sahen den
bevorstehenden Wochen und Monaten mit Schrecken
entgegen, sie hatten sich diese Reise eben doch ganz anders vorgestellt. Daheim am warmen Ofen kann jedes Muttersöhnchen von großen Taten am Nordpol träumen. Hall traf seine Entscheidungen mit der ihm eigenen Tatkraft und Kühnheit. "Wir schaffen alles an Land: Proviant, Brennstoff, Bekleidung, Geräte und Dokumente. Bauholz haben wir genug mitgebracht, so werden wir uns jetzt ein komfortables Haus bauen." Doktor Bessels reagierte auf Halls Entscheidungen mit Mißtrauen. "Warum sollen wir alles ausladen? Sie rechnen wohl fest damit, daß dem Schiff etwas zustößt?" "Nein, Doktor, damit rechne ich keineswegs, aber ich darf nicht ausschließen, daß die zu erwartenden Eispressungen unserem Schiff Schaden zufügen. Tritt das ein, wird es zu spät sein, überhaupt noch etwas zu retten. Sie sehen, es handelt sich um eine ganz gewöhnliche Vorsichtsmaßnahme, zu der ich als Expeditionschef verpflichtet bin." Hall war um einen sachlichen Ton bemüht, er wollte die zwischen ihm und Doktor Bessels bestehenden Spannungen nicht verschärfen, hatte vor allem an den Erfolg des Unternehmens zu denken. Er fuhr fort: "Die letzten Tage haben uns allen hart zugesetzt. Die Männer sind erschöpft. Sobald wir mit dem Einrichten des Winterlagers fertig sind, sollten Sie jeden einzelnen gründlich untersuchen und mit vorbeugenden Maßnahmen beginnen. Im Frühjahr, wenn wir den Pol erstürmen, müssen wir alle gesund und munter sein. Nehmen Sie sich bitte besonders der Eskimofrauen und der Kinder an, sie dürften am meisten gelitten haben."
An den folgenden Tagen war viel zu tun. Fünfzig Meter oberhalb des Ankerplatzes dehnte sich eine Ebene aus. Dort wurden eine geräumige Hütte gebaut und einige Vorratslager angelegt. Hall ging mit gutem Beispiel voran, stets transportierte er die schwersten Säcke und Kisten. Seine überschüssigen Kräfte tobten sich aus. Als unentbehrliche Helfer erwiesen sich die Hunde. Während der stürmischen Tage hatte man sie unter Deck halten müssen, wo sie fast eingegangen wären. Nun aber, Schnee und Eis unter den Pfoten und frischen Wind um die Nase, sprühten sie vor Lebenslust. Je sechs Hunde zogen mühelos einen Achtzentnerschlitten. Hall hatte seine helle Freude an ihnen und rief aus: "Die Hunde bringen mich ans Ziel. Mit ihrer Hilfe werde ich meinen rechten Fuß auf den Pol setzen und mit heilen Gliedern zurückkehren." Etwa dreihundert Meter von der Hütte entfernt richteten Norman und Bush, die beiden Meteorologen, ihre Wetterstation ein. Hier könnten sie geradezu ideal arbeiten, meinte Hall. Ihren Gesichtern entnahm er, daß sie dies ohne Begeisterung tun würden: Zwei Helden waren lange vor der Zeit müde geworden. Eines Morgens erläuterte Charles Francis Hall die Situation: "Bei mehr Glück wären wir weiter nach Norden gelangt, jedoch sind Kapitän Budington und ich überzeugt, daß der Nordpol mit dem Schiff niemals zu erreichen sein wird. Aus diesem Grund habe ich mich für die andere Variante entschieden: Dieser Gottseidankhafen, den wir korrekterweise Polaris-Bucht nennen müssen und als solche in die Karten eintragen sollten, bleibt unser Hauptquartier. Von hier aus werde ich im Mai den Marsch zum Pol antreten. Wer mich begleitet, wird noch entschieden.
Bis zum Einbruch des nächsten Winters bin ich wieder zurück. Sollte ich beim ersten Vorstoß scheitern, unternehme ich im darauffolgenden Frühjahr einen weiteren Versuch. An einem der nächsten Tage werde ich mich für ungefähr zwei Wochen auf eine Schlittenreise begeben. Ich will die Leistungsfähigkeit der Hunde prüfen, den Weg erkunden und einige Depots anlegen." Im Prinzip hatte Hall nur wiederholt, was in großen Zügen seit der Abreise allen bekannt war. Trotzdem wurde jetzt Widerspruch angemeldet, natürlich vom Arzt, der mit gezielter Ironie erwiderte: "Ihr unerschöpflicher Optimismus ist bewundernswert, Mister Hall. Leider sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Die Ereignisse der letzten Tage haben doch jedem gezeigt, daß der Pol Ihnen den Krieg erklärt hat. Er greift Sie unausgesetzt an, und Sie besitzen nichts, was Sie seiner Offensive entgegensetzen könnten. Was wir in New York nicht gewußt haben, wissen wir jetzt: Der Nordpol ist unerreichbar! Sollten Sie unter diesen Umständen dennoch einen Vorstoß riskieren, so werden Sie nicht nur Ihr eigenes Leben in Gefahr bringen, sondern auch das aller anderen Expeditionsteilnehmer. Stellen Sie in Rechnung, daß der Pol - bitte, ich habe das exakt ausgerechnet - achthundert Kilometer von unserem Lager entfernt ist. Nur ein Wunder könnte dazu führen, daß Sie ihn tatsächlich erreichen, aber das Wunder Ihrer Rückkehr wird sich nicht ereignen. Denn man darf, Mister Hall, die Götter nur einmal in Versuchung führen ." "Ausgezeichnet", rief Hall erbost dazwischen. "Erläutern Sie Ihre Kapitulationsvorschläge, Doktor." Bessels, äußerlich erstaunlich ruhig, sprach weiter: "Weil wir aus dieser Mausefalle so schnell nicht wieder heraus-
kommen, schlage ich vor, das Überleben zu organisieren und bei nächster Gelegenheit den Rückzug anzutreten. Wir kommen nicht mit leeren Händen zurück, immerhin haben wir einen bemerkenswerten Rekord aufgestellt." Doktor Bessels Worte machten nicht nur auf die Herren von der Wissenschaft Eindruck, auch bei etlichen Matrosen und beim Steuermann hinterließen sie ihre Wirkung. Diese mutlos gewordenen Leute sahen im Doktor ihren Wortführer. Hall lehnte das an ihn gerichtete Ansinnen natürlich ab. "Wir haben uns verpflichtet, den Nordpol für die Vereinigten Staaten von Amerika in Besitz zu nehmen. Zu diesem Zweck hat uns die Regierung mit allem Notwendigen ausgerüstet. Das Schiff ist für drei Jahre gemietet und bezahlt. Für diese Zeit haben wir Proviant und Brennstoff erhalten, und dann muß ich Sie daran erinnern, daß Ihre Verträge ebenfalls für drei Jahre gelten. Wir werden nicht fahnenflüchtig. Hier wird jeder seine Pflicht tun." Er wandte sich mit Nachdruck an Bessels: "Das gilt besonders für Sie, Doktor!" Hall war sich im klaren darüber, daß er soeben wenig diplomatisch gesprochen hatte, aber das schien ihm augenblicklich nicht wichtig. Er hatte nicht jahrelang auf diese Chance gewartet, um sich jetzt von Hasenfüßen und Feiglingen alles verderben zu lassen. Später meinte er zu Budington, da seien Leute am Werk, die seine Expedition bewußt scheitern lassen wollten. Unmittelbar darauf ordnete er an, zwei große Schlitten zu beladen. Bereits am anderen Morgen wollte er mit zwei Eskimos und dem Kartographen die Erkundungs-reise antreten. In der Nacht schlief er schlecht. Müde kroch der Morgen heran. Über dem Gottseidankhafen und dem
Winterlager hingen schwere Nebelschwaden. Die Temperatur betrug weniger als vierzig Grad unter Null. Schlaftrunken erhob sich Hall von seinem Lager, zog Pelze und Stiefel an.
Aufgeregt stürzte ein Eskimo in die Hütte und rief: "Kommen Sie, Chef. Die Hunde. Sechs Hunde sind tot!" Hall erschrak bis ins Mark. "Das ist nicht wahr", brüllte er und lief hinaus. Ja, sechs Hunde lagen verendet im Schnee. Hall, völlig außer sich, sprach sofort von Sabotage und Verrat. Doktor Bessels wurde herbeigeholt, warf einen flüchtigen Blick auf die toten Tiere und meinte lakonisch, wahrscheinlich seien die Hunde einer Seuche zum Opfer gefallen. "Nein", meinte Hall kalt. "Gestern abend waren sie noch gesund und munter, und Seuchen können hier in dieser keimfreien Zone gar nicht auftreten. Jemand will mich mit Gewalt daran hindern, ans Ziel zu gelangen."
Budington, der sich in der Nähe aufhielt, maß den Arzt mit haßerfüllten Blicken, denn er ahnte die Zusammenhänge. "Chef", sagte er, "wer feige und ängstlich ist, bringt alles fertig!" Der Verlust von sechs Hunden bedeutete für Hall eine beträchtliche Störung seiner Pläne und reduzierte seine Aussichten, den Pol zu bezwingen. Aufgeben kam für ihn allerdings nicht in Frage. Nach einiger Verspätung verließ er mit zwei Eskimos und den ihm noch verbliebenen Hunden das Lager.
Kapitän Robert Henry Budington war im Laufe seines wechselvollen Lebens schon des öfteren übel mitgespielt worden, er hatte manchmal vor komplizierten Situationen gestanden. Aber alle Forderungen hatten ihre Grenzen. Vor seinem Abmarsch traf Hall eine Fülle von Anordnungen, die die Ordnung im Winterlager gewährleisten sollten. Oberster Grundsatz war: Die Leute müssen beschäftigt werden, und zwar so ausdauernd und sinnvoll wie möglich. Hall wußte nämlich, daß in der Einsamkeit der Arktis Stillstand und Untätigkeit das Gemüt verdüstern. Das Schiff überholen, Maschinen warten, Wäsche waschen, aus den mitgebrachten Pelzen Winterbekleidung nähen, die Ausstattung des Hauses vervollständigen, aber auch Sport treiben, den Körper pflegen und Bücher lesen, schlug er als Arbeit und Pflicht für jeden vor. Budington war dazu ausersehen, während Halls Abwesenheit die Kontrolle zu übernehmen, und ebendiese Aufgabe überstieg seine Kräfte. Kaum war Hall außer Sichtweite, hielt Doktor Bessels den Zeitpunkt für gekommen, die Initiative an sich zu reißen. Die nackte Angst ums Leben trieb ihn dazu. Er
suchte Budington auf und erklärte ihm: "Als Arzt unterstehe ich nicht Ihrer Befehlsgewalt. Ich bin schließlich kein Matrose. Nehmen Sie deshalb zur Kenntnis, daß ich Ihre Anweisungen nicht zu befolgen gedenke." Budington brauste auf: "Noch ein Wort, und ich setze Sie wegen Meuterei fest." "Dafür reichen Ihre Befugnisse nicht aus", entgegnete der Arzt gelassen. "Ich habe mich nämlich erkundigt, Sie großer Kapitän: Wir befinden uns an Land, nicht auf Ihrem Dampfer. An Land haben Sie mir überhaupt nichts zu befehlen." Budington mußte zugeben, daß Bessels in diesem Punkt leider recht hatte. An den folgenden Tagen suchte der Doktor Verbündete und verbreitete eine düstere Stimmung. Vor versammelter Mannschaft erklärte er: "Mister Hall will trotz der bisher erlebten Katastrophen noch immer zum Nordpol. In seiner wahnwitzigen Verbohrtheit ist er imstande, unser aller Leben zu opfern. Ich frage mich, ob wir Mister Hall nicht ultimativ zur Aufgabe seiner Pläne auffordern sollten. Ja, wir sollten ihn dazu zwingen. Einem Beschluß der Mehrheit wird er sich beugen müssen." Die Männer, nachdem sie dies vernommen hatten, blickten besorgt um sich. Sie sahen nichts als gigantische Packeisfelder, tückische Nebel - Bilder von furchteinflößender Größe. Und die Kälte war kaum noch zu ertragen. In dieser schaurigen Wildnis sterben? Kurz, die Einflüsterungen des Arztes fielen auf fruchtbaren Boden. Katastrophenstimmung breitete sich aus. Die Arbeiten im Winterlager gerieten in Verzug. Die Meteorologen Bush und Norman stellten ihre Tätigkeit in der Wetterstation ein. Sie erklärten, krank zu sein,
und der Arzt stellte ihnen sofort ein entsprechendes Attest aus. Die Erforschung der klimatischen Bedingungen im hohen Norden war ein wesentlicher Bestandteil der Expedition. Nun wurde er kurzerhand zu den Akten gelegt. Mehrere Männer kamen zum Kapitän und verlangten Schnaps - gegen die Kälte, wie sie sagten. Doktor Bessels, der doch hätte wissen müssen, daß bei diesen Temperaturen Alkohol Gift für den menschlichen Organismus war, unterstützte das Verlangen der Männer. Budington meinte: "Geben Sie lieber zu, daß vor allem Sie auf Schnaps versessen sind." Ohnedies hatte er den Arzt in Verdacht, Medikamente zur Beruhigung seiner Nerven einzunehmen. In der Tat wirkte Doktor Bessels oft nervös und fahrig, seine Gliedmaßen zitterten, besonders frühmorgens. Nun hatte der Kapitän gegen Schnaps im Prinzip überhaupt nichts einzuwenden. Ein gutgefüllter Becher konnte in dieser verteufelten Lage nur willkommen sein. Er war allerdings bestrebt, seinen Pflichten gewissenhaft nachzukommen, so blieb er hart. Ein paar Tage später kontrollierte er die Rumvorräte und entdeckte, daß man sich an ihnen bereits vergriffen hatte. Als er vor den anderen den Arzt zur Rede stellte, erhob sich sogleich Gebrüll und Geschrei wie in einer New-Yorker Hafenkneipe. Verdächtigungen wurden ausgesprochen, die rauhbeinigen Gesellen von der alten Cleopatra of Cumberland zogen ihre Dolche, eine böse Schlägerei und Messerstecherei drohte auszubrechen. Kapitän Budington sah ein, daß er die Schlacht um Ruhe und Ordnung verloren hatte. "Geht", keuchte er, "ihr sollt euren Fusel haben. Sauft euch kaputt." Er resignierte und kümmerte sich fortan um gar nichts mehr. Mit der Diszi-
plin war es vorbei. Der Rum machte die Männer noch aggressiver, einer belauerte den anderen. Das einsamste Haus auf dem Planeten hatte sich in ein Tollhaus verwandelt. Rasch war vergessen, weshalb man überhaupt in diese Gegend gekommen war.
Charles Francis Hall fühlte sich wie ein Fisch im Wasser, glaubte frei und glücklich zu sein wie damals, als er mit den Innuits durch King-Williams-Land gezogen war. Vor seinen Blicken dehnte sich das von Schnee und Eis bedeckte Land endlos dahin. Die Luft war klar und rein, er atmete tief und spürte, wie sich seine Kräfte verdoppelten. Da waren die elenden Streitereien und häßlichen Szenen im Winterlager schnell vergessen. Mit seinen beiden Begleitern hatte er es gut getroffen. Das waren nicht nur zähe, sondern auch lustige Burschen, deren gute Laune ansteckte. Und erst die Hunde - unglaublich kräftig und flink waren sie. In scharfem Tempo, als nähmen sie an einem Wettlauf teil, jagten sie über die Ebene und waren kaum zu bändigen. Ein Eskimo saß auf dem Schlitten und kutschierte. Hall und der andere, Schneeschuhe unter den Stiefeln, hielten sich am Schlittenende fest und ließen sich ziehen. Sie kamen flott voran. Am vierten Tag machte Hall eine bemerkenswerte Entdeckung, er stieß auf Spuren von Moschusochsen - so hoch im Norden. Einen Tag darauf fand er die Reste einer uralten Eskimosiedlung. Das war ein bedeutender Fund, zugleich eine gewisse Ernüchterung. "Ich hatte im Ernst angenommen", sagte Hall, "daß außer mir kein Mensch so weit vorgestoßen ist. Womöglich erlebe ich noch, daß mir die Innuits auch am Pol zuvorgekommen sind."
Weiter ging die Fahrt, jetzt mit erheblich gedrosseltem Tempo. Ein eisiger Wind pfiff den Männern entgegen und machte ihnen das Atmen schwer. Zudem verschlechterten sich die Bodenverhältnisse. Sie kamen in ein zerklüftetes Gebiet mit steil abfallenden Hängen und vereisten Bergen. Das war ein Vorgebirge, unter dem der jetzt völlig vereiste Robesonkanal, der verlängerte Arm des Kennedykanals, floß. Wie weit erstreckte sich dieses Land? War anzunehmen, daß es den Nordpol barg? Oder würde man bald wieder eine Küste und dahinter einen Ozean erblicken? Noch weiter durfte er sich in diesen Oktobertagen des Jahres 1871 nicht mehr vorwagen, er mußte vor Einbruch der Polarnacht wieder im Winterhafen sein. Der Rückweg gestaltete sich von Kilometer zu Kilometer zu einem trostlosen Marsch. Das Wetter schlug endgültig um. Schneestürme setzten ein, die Kräfte der Hunde ließen nach. So ist der arktische Winter nun einmal, tröstete sich Hall, im Mai, wenn ich auf dem Weg zum Pol hier wieder vorbeikomme, wird die Gegend so schön wie der Garten Eden sein. Tapfer ertrug er die Strapazen des Rückmarsches, die Lehrzeit bei den Innuits zahlte sich aus. Plötzlich blieben die Hunde stehen, bäumten sich in jähem Entsetzen auf, begannen laut zu heulen. "Was soll das?" wollte Hall wissen. Drei hungrige Eisbären kamen wütend herangestürmt. Griffen sie an, mußte man sich schnellstens in Sicherheit bringen. Allerdings besaßen Hall und seine Begleiter dazu keine Möglichkeit. Wohin hätten sie flüchten sollen? Und wie nun den zu erwartenden Angriff abwehren? Hall, von plötzlichem Entsetzen gepackt, blickte sich verzweifelt um, schielte nach seinem Gewehr. Das befand sich - der Teufel mochte wissen, warum - gut verschnürt auf dem
Schlitten! Mit Eisbären hatte man am 82. Breitengrad nicht mehr gerechnet. Unerschrocken zeigten sich die beiden Eskimos. Während der eine sich behutsam am Schlitten zu schaffen machte, auf dem die Speere lagen, ging der andere mutig auf die Tiere zu und versuchte, sie durch lautes Brüllen einzuschüchtern. Manchmal hatte das Erfolg. Leider nicht in diesem Fall. Die Bestien wurden noch angriffslustiger, schnaubten wütend, setzten zum Sprung an. Im nächsten Augenblick brach eins der Tiere zusammen. Getroffen von einem Speer, aber noch nicht tot. Nun wälzte sich der Bär rasend vor Schmerzen im Schnee und heulte laut und durchdringend auf, daß die beiden anderen von panischer Angst gepackt wurden, augenblicklich kehrtmachten und das Weite suchten. Die Männer blickten sich aufatmend an, dann lachten sie erleichtert. Der Bär zu ihren Füßen war ein kräftiges Tier, er erhielt von Hall den erlösenden Fangschuß. Obwohl die Zeit drängte, machten die Männer eine Pause. Sachkundig zogen sie dem Eisbären das Fell ab, schnitten große Stücke aus dem noch dampfenden Fleisch heraus und eröffneten eine fröhliche Mahlzeit. Einer saftigen Bärenkeule zu widerstehen, hätten sie nicht fertiggebracht. Alsdann setzten sie gestärkt und frohen Mutes ihren Marsch fort. Nun mußten sie sich doch beeilen. Die Sonne leuchtete nur noch schwach, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie bald wieder für viele Wochen verschwinden würde. Der Nebel nahm ihnen die Sicht. Gefrierender Regen durchnäßte ihre Kleidung. In den Nächten vereisten ihre Schlafsäcke. Die Wiederaufnahme des Marsches am Morgen wurde zur Qual. Ende Oktober traf Charles Francis Hall wieder im Win-
terlager ein, erschöpft, aber glücklich und voller Optimismus. Kaum hatte er die Hütte betreten, rief er aus: "Der Nordpol ist zu besiegen. Das kann ich schon heute sagen!" Verständnislose Blicke trafen ihn. Einige Männer hatten auch wieder getrunken. Budington sah verlegen vor sich hin. Wie sollte er vor dem Chef das eingetretene Chaos verantworten? Doktor Bessels hatte glasige Augen und ging wortlos hinaus. Hall sah sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Das würde er später überprüfen. Eine Erfrischung war im Augenblick viel wichtiger, und dann wollte er erst einmal ausschlafen, hundemüde war er.
Der Koch brachte Kaffee, und Hall trank. Gleich darauf wurde ihm übel, von einer Sekunde zur anderen wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er mußte sich festhalten, um nicht niederzustürzen. "Chef, was ist Ihnen?" fragte Budington bestürzt.
"Ich weiß nicht. Der Kaffee ., mir scheint, da ist etwas drin ." "Unsinn, Chef, wahrscheinlich haben Sie zu hastig getrunken." In den nächsten Minuten wurde Hall von heftigen Würgekrämpfen gepackt. Sein Gesicht war von Schmerzen gezeichnet. "Mein Magen brennt", klagte Hall. "Mein Gott, wie Feuer brennt es in meinem Magen." Nach dem Arzt wurde gerufen. Hall vernahm das und richtete sich mühsam auf, er flüsterte: "Ich verbiete, daß Doktor Bessels mich behandelt. Ich verbiete das mit aller Entschiedenheit." Ihm war ein Verdacht gekommen. Budington nickte, er hegte wohl dieselben Befürchtungen. "Wir bringen Sie ins Bett, Chef. Morgen stehen Sie wieder auf den Beinen." Aber wie er Hall so leiden sah, kamen ihm Zweifel über seine eigenen Worte. Später im Bett klagte Hall, daß er seine Glieder nicht mehr spüre. "In mir ist alles taub und leer, ich fühle mich wie gelähmt." Dann verlor er das Bewußtsein. Nun mußte der Arzt doch bemüht werden, um eine Untersuchung vorzunehmen. Doktor Bessels stand ganz offensichtlich wieder unter dem Einfluß von Medikamenten und Alkohol. Seine Bewegungen waren unsicher. Die Untersuchung nahm er oberflächlich vor. "Ich glaube, Mister Hall hat einen Schlaganfall erlitten", sagte er. Der Kapitän wollte dem Arzt an die Kehle gehen. "Sie, so, so", er tobte, "Schlaganfall nennt man das! Ich würde das viel eher einen ." Er brach ab und stampfte hinaus. Hall kam nach einiger Zeit wieder zu Bewußtsein, doch sein Zustand blieb ernst und kritisch, ja hoffnungslos. Der Mann, der ein Leben lang bärenstark und unverwüstlich
gewesen war, dämmerte hilflos dahin. Zwischenzeitlich waren seine Sinne wieder hellwach, und er sagte zu Budington: "Es war Gift, Kapitän, und Sie wissen das auch. Ich wünsche, daß mein Leichnam in der Arktis bleibt und Sie den Schuldigen an den Galgen bringen." Kapitän Robert Henry Budington versprach es. Charles Francis Hall starb in den frühen Morgenstunden des 8. November 1871. "Schlaganfall", verkündete Doktor Bessels abermals. Budington blickte ihn finster an. "Nein", rief er aus, "es war kein Schlaganfall, sondern Giftmord, Doktor! Sobald Sie das Schiff betreten, werde ich Sie festnehmen und in Ketten legen. In den Staaten übergebe ich Sie dem Richter. Gehen Sie mir aus den Augen."
Zwei Jahre später hatte Amerika eine neue Sensation, über die mit Grausen gesprochen wurde. Die Schlagzeilen der großen Zeitungen hatten es in sich. Tragödie am 82. Breitengrad - Der Nordpol hat ein neues Opfer - Das versunkene Schiff - 192 Tage auf einer driftenden Eis scholle. Was war geschehen? Hall war tot, die Expedition galt als gescheitert. Jedoch die Hoffnung der Männer, im Frühjahr 1872 die Heimreise anzutreten, erfüllte sich nicht. Das Eis war unbarmherzig und hielt die Polaris noch lange gefangen. Erst Mitte August kam das Schiff frei und schlängelte sich wochenlang im Schneckentempo durch die Treibeismassen des Kennedykanals. Im Oktober brach ein furchterregender Orkan los. Die Polaris wurde mit voller Wucht gegen stahlharte Eisbrocken geschleudert und brach auseinander. Die Männer retteten sich auf eine Eisscholle. Budington,
die Eskimos und einige beherzte Männer bargen in panischer Eile Lebensmittel, Kohlen und lebenswichtige Ausrüstungsgegenstände. Wenig später wurde das Wrack vom Eis erfaßt, wie eine Zündholzschachtel zerdrückt und versank. Unterdessen setzte sich die Eisscholle mit der Mannschaft in Bewegung und begann in südlicher Richtung zu driften. Über ein halbes Jahr dauerte diese mörderische Schreckensfahrt. Kapitän Budington entwickelte auf seine alten Tage noch einmal Energie, Tatkraft und Umsicht und bewahrte die Polaris-Männer vor dem sicheren Untergang. An der Küste Grönlands nahm ein Walfangschiff die erschöpften und dem Wahnsinn nahen Menschen auf. Nun waren sie heimgekehrt. Unter dem Vorsitz von Admiral Redgrave trat ein Untersuchungsausschuß zusammen, um Licht in die Affäre zu bringen. Ein hoffnungsloses Unternehmen. Die Befragten verwickelten sich in die unglaublichsten Widersprüche. Jeder behauptete und beschwor etwas anderes. Zuletzt wurde Budington gehört. Er beschuldigte den Arzt des vorsätzlichen Mordes. Eine Weile blieb es still. Admiral Redgrave machte eine heftige Bewegung, sein Gesicht verfärbte sich. Daß die peinliche Geschichte einen solchen Ausgang nehmen sollte, behagte ihm nicht. "Mord?" fragte er eisig. "Kapitän, Sie sind ohne Ihr Schiff heimgekehrt und sollten deshalb lieber schweigen. Für einen Mord haben Sie überhaupt keinen Beweis, oder?" Kapitän Robert Henry Budington hatte verstanden: Über diese Geschichte sollte schnell Gras des Vergessens wachsen, weil das Ansehen der Nation keinen Schaden erleiden durfte .
Heft 446
Emilijan Stanew An einem stillen Abend
Der achtundzwanzigjährige bulgarische Partisan Anton Achtarow gerät durch Verrat in eine Falle. Noch hat man seine Identität nicht festgestellt, doch die Angst vor Entdeckung und Preisgabe seines Auftrages läßt ihm keine Ruhe.