Der Tod Gottes und die Wissenschaft
Der Tod Gottes und die Wissenschaft Zur Wissenschaftskritik Nietzsches
Herausgegeben von
Carlo Gentili und Cathrin Nielsen
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Villa Vigoni (Menaggio/Italien)
ISBN 978-3-11-022074-2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Kaum ein Wort in den letzten hundert Jahren hat mehr Berhmtheit erlangt als Nietzsches Wort vom ,Tode Gottes‘. Nietzsche hat damit eine ebenso problematische wie hochaktuelle Diagnose ausgesprochen. Whrend sie im Zusammenhang der daraus entspringenden moralisch-praktischen Fragen ausfhrlich diskutiert wurde, ist sie in Bezug auf den Status und das Selbstverstndnis der theoretischen Wissenschaften im Wesentlichen unthematisiert geblieben, was unter anderem darauf zurckzufhren ist, dass sich die moderne Wissenschaft ihrem eigenen Selbstverstndnis nach ausdrcklich in einem wertneutralen Raum zu bewegen hat. Gegenwrtig wird jedoch zunehmend deutlich, dass jene im Kantischen Kritizismus angelegte Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft eine Krise hervorruft, die sich auf den Sinn des Lebens im Ganzen bezieht. Die methodischen Restriktionen ontologischer, theologischer und axiologischer Art, die die Wirksamkeit des wissenschaftlichen Zugriffs gewhrleisten, bleiben nicht folgenlos fr den Bereich der Praxis, sondern scheinen ihn vielmehr auszuhçhlen, was sich vor allem in der konsequenten Ausbreitung eines naturalistischen Welt- und Selbstverstndnisses des Menschen geltend macht. Es ist diese in seinem Wort vom ,Tode Gottes‘ ausgesprochene Einsicht in die Tragweite der Konsequenzen einer in Bezug auf Ontologie, Theologie und Moral Neutralitt prtendierenden Wissenschaft, die Nietzsche fr die gegenwrtigen Fragen aktuell sein lsst. Aus seiner Einsicht in den Interpretationscharakteraller Weltzugnge und -auffassungen ergibt sich darber hinaus die Notwendigkeit einer Reflexion ber das Verhltnis von Ontologie und Methode, die wiederum die nach dem Verhltnis von wissenschaftlichem Erkenntnisanspruch und weltanschaulicher Gesamtdeutung nach sich zieht. An dieser Stelle setzen die vorliegenden Aufstze ein, indem sie den spezifischen Wissenstyp neuzeitlicher Wissenschaft und seine ontologische, theologische und axiologische Leerstelle ausdrcklich aufeinander beziehen. Dabei verfolgen sie ein doppeltes Ziel. Zum einen ist die Frage leitend, inwiefern sich in der wissenschaftlichen Weltauffassung, wie in jeder anderen Weltauffassung auch, eine indirekte Gestalt von Theologie und Metaphysik als einer Auffassung vom Absoluten auswirkt, wie auch umgekehrt jede Theologie eine bestimmte Welt-, Selbst- und Naturauffassung nach sich zieht. Liegt nicht auch im Objektivittsverzicht der Wissenschaften ebenso wie in ihrer prtendierten Wertindifferenz ein impliziter Anspruch auf Totalitt?
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Vorwort
Wenn sich aber gerade in der Zurckweisung von metaphysischer Verortung die implizite Theologie und Metaphysikgebundenheit der Wissenschaft bekunden, was bedeutet es dann, dass die moderne Wissenschaft mit dem ,Tode Gottes‘ zusammenfllt? Wie ist dieser ,Tod‘ genauer zu verstehen und welche Dimensionen berhrt er? Fllt er mit der ontologischen, theologischen und axiologischen Wertneutralitt der Wissenschaft zusammen, ja bedeutet er deren konsequenteste, volle Behauptung? Oder hebt dieser Tod die existenziellen Gefahren hervor, die ein solcher wissenschaftlicher Reduktionismus fr eine ganzheitliche Sicht des Menschen mit sich bringt? Was kann auf der anderen Seite an die Stelle des ,gestorbenen‘ Gottes treten? Oder ist – ganz im Gegenteil– Nietzsches Grunderfahrung des,Todes Gottes‘ in ihrer Radikalitt durch die Geschichte,auch die Wissenschaftsgeschichte, wenn nicht berholt, so doch zu modifizieren? Im Gegensatz zu der hitzigen Dringlichkeit, mit der die Debatte um den „Nihilismus“gefhrt wurde, bevor sie in die mediale Gleichgltigkeit versank, bemerkt Nietzsche einmal lakonisch, es dauere durchaus lange, bis eine Welt untergehe.In diesen langenAtem wollen sich die Beitrgeeinschreiben,indem sie mit mçglichst großer Genauigkeit das zu verstehen und zu deuten suchen, was nicht den einfachen Bruch eines Paradigmas darstellt, sondern dessen untergrndige Weiterschreibungen, Projektionen, Schatten und bergnge: Ein Zeitalter des berganges: so heißt unsere Zeit bei Jedermann und jedermann hat damit Recht. Indessen nicht in dem Sinne als ob unserem Zeitalter dies Wort mehr zukomme als irgend einem anderen. Wo wir auch in der Geschichte Fuß fassen, berall finden wir die Ghrung, die alten Begriffe im Kampf mit den Neuen; und die Menschen der feinen Witterung, die man ehemals Propheten nannte, die aber nur empfanden und sahen, was an ihnen geschah – wußten es und frchteten sich gewçhnlich sehr. Geht es so fort, fllt alles in Stcke, nun so muß die Welt untergehen. Aber sie ist nicht untergangen, die alten Stmme des Waldes zerbrachen, aber immer wuchs ein neuer Wald wieder und zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt. (Nietzsche; N 1880, KSA 9, 4[212])
Dem Buch ging eine Tagung voraus, die unter dem Titel Die Ankndigung eines ,Todes Gottes‘ und die Wissenschaftsfrage. Aspekte der Aktualitt Nietzsches imSeptember 2007als Kooperationsveranstaltungder GuardiniStiftung e. V. und der Villa Vigoni (Mennagio / Italien) stattfand. Wir widmen das Buch Karl Pestalozzi zum 80. Geburtstag. Carlo Gentili Cathrin Nielsen, im Februar 2010
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Werner Stegmaier Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft. Nietzsches Aphorismus vom tollen Menschen im Kontext seiner Frçhlichen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Urs Sommer Gott – Nihilismus – Skepsis. Aspekte der Religions- und Zeitkritik bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Edith Dsing Gottestod – Nihilismus – Melancholie. Nietzsches Denkweg als Diagnose und Therapie des Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marco Brusotti Kern und Schale. Wissenschaft und Untergang der Religion bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Giuliano Campioni Die Schatten Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Friederike Felicitas Gnther Am Leitfaden des Rhythmus. Kritische Wissenschaft und Wissenschaftskritik in Nietzsches Frhwerk . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Babette Babich Das „Problem der Wissenschaft“ oder Nietzsches philosophische Kritik wissenschaftlicher Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Damir Barbaric´ Wille zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annamaria Lossi Genealogie der Wissenschaft. ber das Verhltnis von Philosophie und Wissenschaft bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Cathrin Nielsen Wissenschaft und Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Carlo Gentili Die Wissenschaft und der „Schatten Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolf Zachriat Nietzsches frhe Fortschrittskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhold Esterbauer Tolle Wissenschaft? Zum Verhltnis von Gottestod und Naturerklrung mit Blick auf Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Maria Cristina Fornari „Von Natur aus gut“: Schatten Gottes und Neuroethik . . . . . . . .
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Federico Vercellone Morphologie. Eine philosophische Perspektive? . . . . . . . . . . . . . .
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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Tod Gottes und das Leben der Wissenschaft. Nietzsches Aphorismus vom tollen Menschen im Kontext seiner Frçhlichen Wissenschaft Werner Stegmaier 1. Der Glaube an Gott und der Glaube an seinen Tod Der vielleicht berhmteste Aphorismus Nietzsches, der Aphorismus Nr. 125 der Frçhlichen Wissenschaft, stellt ein Glaubwrdigkeits-Problem. Nietzsche inszeniert hier eine dramatische Geschichte, wie er sie zuweilen unter seine Aphorismen einstreut und wie sie Also sprach Zarathustra im Ganzen darstellt. Geschichten sind keine Lehren, sie werden nicht als wahr, noch nicht einmal als klar vorausgesetzt. Ihr Reiz liegt darin, dass sie ausgelegt und, im strksten Fall, immer neu ausgelegt werden kçnnen. Klassische Paradigmen sind die gleichnishaften Geschichten des Jesus von Nazareth. Sie schaffen Glauben bei dem, der sie auslegt, einen Glauben nicht an die Geschichten, sondern einen Glauben, der der eigenen Orientierung Halt gibt. Geschichten sind so glaubwrdig, wie sie fr die eigene Orientierung glaubwrdig ausgelegt werden kçnnen; ber die Glaubwrdigkeit oder, modern gesprochen, Plausibilitt, also die Zustimmungsfhigkeit der Geschichten, entscheidet der, der sie auslegt.1 Er entscheidet dabei selbst ber seinen Glauben, und wo sich die Frage der Glaubwrdigkeit oder Plausibilitt ausdrcklich stellt, entscheidet er darber bewusst. Er fragt dann, ob etwas ,wrdig‘ oder wert ist, an es zu glauben, und ,glauben‘ heißt dann, sich bis auf Weiteres auf es zu verlassen, ohne ein zuverlssiges Wissen von ihm zu haben, auf das sich jeder andere auch verlassen kçnnte. Glauben dieser Art durchzieht die menschliche Orientierung, in der man sich nur von sehr wenigem ein zuverlssiges Wissen verschaffen kann, und fragt man beharrlich weiter, lçst sich alles vermeintliche Wissen in ein vorlufiges Glauben auf. Man muss ,sich‘ zuletzt stets ,auf etwas oder jemanden verlassen‘, d. h. buchstblich die eigene Orientierung verlassen und sich einer 1
Zur letzten Orientierung an Plausibilitten vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin / New York 2008, S. 14 – 22, S. 306 f., S. 649 – 653.
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andern anvertrauen, ,auf‘ die, wie man glaubt, ,Verlass‘, die ,zuverlssig‘ ist. Der religiçse Glaube an Gott ist nur der aufflligste; wir sind ebenso auf den Glauben an die Zuverlssigkeit anderer Menschen, unserer selbst, der Technik, des Staates, der Moral, der Wissenschaft, des Fortgangs unseres Lebens, unseres Glckes angewiesen und auf alles, was mit ihnen zusammenhngt. Nichts davon ist letztlich sicher.2 Der Aphorismus Nr. 125 der Frçhlichen Wissenschaft bietet eine Geschichte in der Geschichte: Er erzhlt eine Geschichte von einem tollen Menschen, der einmal, wie wir wissen, Zarathustra sein sollte. Sie ist, so fhrt Nietzsche sie ein, eine Geschichte vom Hçrensagen, also eine kaum glaubwrdige Geschichte („Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehçrt…“, „Man erzhlt noch…“). Der tolle Mensch, der als toller Mensch alles andere als glaubwrdig ist, erzhlt in der Geschichte Leuten, die auf dem Markt zusammenstehen, wiederum eine Geschichte, nicht vom Tod Gottes, sondern von der Tçtung Gottes, vom Mord an Gott und dessen bevorstehenden Folgen – die Geschichte ist eher eine Zukunftsgeschichte und damit eine noch weniger glaubwrdige Prophezeiung, die wiederum nicht in klaren Ankndigungen, sondern in offenen und bilderreichen Fragen vorgetragen wird. Sie erweist sich gleichwohl als so faszinierend, dass zunchst der Autor, Nietzsche, sie – nach einem Gedankenstrich – wie ein wahres Ereignis wiedererzhlt („Da dort gerade…“) – auch dies nicht glaubwrdig –, und dass dann die umstehenden Leute in der Geschichte durch sie in ihrem eigenen Glauben irritiert werden. Nietzsche lsst sie, als sie den tollen Menschen mit seiner am hellen Vormittag angezndeten Laterne unaufhçrlich schreien hçren „,Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘“, zuerst lachen und Scherze machen, dann aber, als der tolle Mensch mit durchbohrenden Blicken sein immer eindringlicheres „,Wir alle sind seine Mçrder! […] Wie trçsten wir uns, die Mçrder aller Mçrder?‘“ ausstçßt, schweigen und „befremdet“auf ihn blicken – sie, die zuvor noch ganz selbstverstndlich nicht an Gott geglaubt hatten, wissen nun nicht mehr, was sie glauben sollen, sind in ihrem festen Glauben, dass es nie einen Gott gab, verunsichert und stehen 2
Zuverlssigkeit ist fr jede Gesellschaft ein hoher Wert – sie ermçglicht sie erst. Fr die Wissenschaft dagegen ist sie fragwrdig. Vgl. Nietzsche, FW 296: „,Man kann sich auf ihn verlassen, er bleibt sich gleich‘: – das ist in allen gefhrlichen Lagen der Gesellschaft das Lob, welches am meisten zu bedeuten hat. […] Diess ist nun jedenfalls, mag sonst der Vortheil dieser Denkweise noch so gross sein, fr die Erkenntniss die allerschdlichste Art des allgemeinen Urtheils: denn gerade der gute Wille des Erkennenden, unverzagt sich jederzeit gegen seine bisherige Meinung zu erklren und berhaupt in Bezug auf Alles, was in uns fest werden will, misstrauisch zu sein, – ist hier verurtheilt und in Verruf gebracht.“
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nun vor einer Entscheidung ber ihren Glauben.3 Ihre eigene Glaubwrdigkeit schwindet und die des tollen, unglaubwrdigen Menschen steigt. Er macht sich eben dadurch glaubwrdig, dass er den bisher festen Glauben der Zuhçrer ins Schwanken bringt, dass er sie betroffen macht. Das Gegeneinander von Glaubwrdigkeiten wird in der Geschichte nicht beigelegt, nicht beruhigt. Wenn der tolle Mensch, wie „man [noch] erzhlt“, „desselbigen Tages in verschiedene Kirchen“ eindringt, um Gott „sein Requiem aeternam deo“ anzustimmen, bleibt er einerseits konsequent, sofern er Gott wie jedem Toten Segen im Tod erbittet, und macht sich dadurch weiter glaubwrdig; andererseits macht er sich aufs Neue unglaubwrdig, sofern nach seiner Aussage da ja kein Gott mehr ist, der die Bitte um Segen gewhren kçnnte und am wenigsten fr sich selbst, der nun tot ist. Er fhrt in Paradoxien.4 Die Leser des Aphorismus bleiben ebenso ratlos zurck wie die Hçrer der Geschichte in der Geschichte. Der ganze Aphorismus Nr. 125 und in ihm die Frage des Todes oder der Tçtung Gottes ist eine einzige Probe auf den Glauben, die Glaubensbereitschaft seiner Leser – aber auf den Glauben woran? Ein Gott, den Menschen tçten kçnnen, kann nur ein Gott sein, den Menschen geschaffen haben.5 Sie haben ihn offenbar geschaffen, erdacht, weil sie den Glauben an ihn nçtig hatten. Gott wurde in der christlichen Religion so geglaubt und in der griechisch-christlichen Philosophie so ge3
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Vgl. E. Biser, Der Zuspruch im Widerspruch: Nietzsches provokative Kritik des Christentums, in: D. Mourkojannis u. R. Schmidt-Grply (Hg.), Nietzsche im Christentum. Theologische Perspektiven nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes, Basel 2004, S. 23 – 29. – Auch in MA II 84 („Die Gefangenen“) erzhlt Nietzsche eine Geschichte, in der er den „Sohn des Gefngniswrters“ die Gefangenen zum Glauben an ihn auffordern lsst, der sie befreien werde. Als berichtet wird, der Gefngniswrter sei tot, und der Sohn „mild“ daran festhlt, dass „mein Vater noch lebt“, „lachten [die Gefangenen] nicht, zuckten aber mit den Achseln und ließen ihn stehen.“ Vgl. Werner Stegmaier, „Philosophischer Idealismus“ und die „Musik des Lebens“. Zu Nietzsches Umgang mit Paradoxien. Eine kontextuelle Interpretation des Aphorismus Nr. 372 der Frçhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 33, 2004, S. 90 – 128, hier S. 9 – 14. Vgl. die Nachlass-Skizze Nietzsches vom Herbst 1881, KSA 9, 12[202]: „Gott / Wir haben ihn mehr geliebt als uns und ihm nicht nur unseren ,eingeborenen Sohn‘ zum Opfer gebracht. / Ihr macht es euch zu leicht, ihr Gottlosen! Gut, es mag so sein, wie ihr sagt: die Menschen haben Gott geschaffen – ist dies ein Grund, sich nicht mehr um ihn zu kmmern? Wir haben bisher umgekehrt geschlossen, Gott, w e i l er die – – – / Ach Freund, was haben denn die Menschen seit Jahrtausenden gethan als sich um ihren Gott gekmmert usw. Wenn er nun trotzalledem nicht leben kann, und keine Nahrung ihn mehr bei Krften erhlt – : so – – –“.
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dacht, dass er der Welt eine Ordnung gegeben hat, an die das Denken sich halten konnte. Er gab der Orientierung einen letzten und festen Halt, den Halt eines festen Glaubens, der allem brigen Glauben einen letzten Halt gibt.6 Sein Dasein war, wie Kant gegen Descartes und Anselm deutlich gemacht hatte, jedoch weder beweisbar noch widerlegbar,7 und das gilt dann auch fr seinen Tod. Nicht nur im Fall des Daseins Gottes, auch im Fall seines Todes bleibt nur der Glaube.8 Wenn aber mit diesem Glauben, so oder so, aller Glaube steht und fllt, kommt mit der Frage des Todes Gottes das Glauben berhaupt in Not, wird alles Glauben fragwrdig und entscheid-
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Vgl. Nietzsche, JGB 191: „Plato […] wollte mit Aufwand aller Kraft – der grçssten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! – sich beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf ,Gott‘; und seit Plato sind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn, – das heisst, in Dingen der Moral hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, ,der Glaube‘, oder wie ich es nenne, ,die Heerde‘ gesiegt. Man msste denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autoritt zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberflchlich.“ In einer Reihe von Nachlass-Notaten wrdigt Nietzsche die Konsequenz Descartes’. Vgl. N 1885, KSA 11, 36[30]: „Man ist unbillig gegen Descartes, wenn man seine Berufung auf Gottes Glaubwrdigkeit leichtfertig nennt. In der That, nur bei der Annahme eines moralisch uns gleichartigen Gottes ist von vornherein die ,Wahrheit‘ und das Suchen der Wahrheit etwas, das Erfolg verspricht und Sinn hat. Diesen Gott bei Seite gelassen, ist die Frage erlaubt, ob betrogen zu werden nicht zu den Bedingungen des Lebens gehçrt.“ Wre Gott nun „doch ein Betrger […], trotz Descartes“ (N 1885, KSA 11, 34[71]), „gesetzt es gbe im Grunde der Dinge etwas Betrgerisches, aus dem wir stammten, was hlfe es, de omnibus dubitare! Es kçnnte das schçnste Mittel sein, sich zu betrgen. berdies: ist es mçglich?“ (N 1885, KSA 11, 39[13]). „Descartes hatte einen Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, welche an einen g u t e n Gott als Schçpfer der Dinge glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurtheile v e r b r g t . Abseits von einer religiçsen Sanktion und Verbrgung unsrer Sinne und Vernnftigkeit – woher sollten wir ein Recht auf Vertrauen gegen das Dasein haben! Daß das Denken gar ein Maaß des Wirklichen sei, – daß was nicht gedacht werden kann, nicht i s t , – ist ein plumpes non plus ultra einer moralistischen Vertrauens-seligkeit (auf ein essentielles Wahrheits-Princip im Grund der Dinge), an sich eine t o l l e Behauptung, der unsre Erfahrung in jedem Augenblicke widerspricht. Wir kçnnen gerade gar nichts denken, in wiefern es i s t …“ (N 1885/86, KSA, 12, 2[93]). Das tolle Denken eines guten Gottes ist nicht schlechter als ein tolles Denken, das ihn entbehren zu kçnnen glaubt. Vgl. Niklas Luhmann, Die Realitt der Massenmedien, 2., erw. Aufl., Opladen 1996, S. 210: „,Gott ist tot‘, hat man behauptet – und gemeint: der letzte Beobachter ist nicht zu identifizieren.“
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bar. Der Aphorismus Nr. 125 der Frçhlichen Wissenschaft stellt das Plausibilitts-Problem schlechthin.9
2. Die Wissenschaft als Tod Gottes Dem Glauben jeder Art scheint das Wissen und mit ihm die Wissenschaft entgegenzustehen. Ja, je gewisser die Wissenschaft wurde, umso fragwrdiger konnte der Glaube werden. Das traf vor allem den religiçsen Glauben. Nach Nietzsche ist die Wissenschaft urschlich fr den Tod Gottes, sie ist aber auch von ihm betroffen. Sie ist mit Gott tiefer verstrickt, als sie sich nach dem Abebben der christlichen Religion im Europa des 19. Jahrhunderts glauben machen mochte.10 Gott wurde in der Antike so gedacht, dass er die Wissenschaft erst mçglich machte, als ihr Anreger und als Garant ihres hçchsten Wertes, der Wahrheit. Parmenides fhrte eine neue namenlose Gçttin ein, um seiner neuen Wissenschaft Autoritt zu verschaffen, Sokrates sah sich im Wissen, dass er nichts wusste, vom Gott in Delphi aufgefordert, nach wahrem Wissen zu suchen: Wenn die Wahrheit nicht das Ergebnis der wissenschaftlichen Suche sein konnte, so sollte sie doch ihr Fluchtpunkt sein. Seither wurde es zum Programm der europischen Philosophie und Wissenschaft, zum Programm ihrer Aufklrung, statt tatschliche Wahrheit(en) zu erreichen kritisch ber vermeintliche Wahrheit(en) hinauszufhren – auch dies aber noch im Zeichen der Wahrheit. Fr die moderne Aufklrung, wie Descartes sie begrndete, sollte Gott die Wahrheit der wissenschaftlichen Erkenntnis ausdrcklich garantieren (indem er in seiner Gte nicht zuließ, dass die menschliche Erkenntnis ins Leere greift) – bis Kant erneut damit brach, zur Wahrheit als bloßem Fluchtpunkt der Aufklrung zurckkehrte und Gott in die Ferne eines bloßen Postulats der moralischen Orientierung rckte. So war der im 19. Jahrhundert fr tot erklrte Gott, wie Nietzsche im Nachlass und nur im Nachlass notierte, „der moralische Gott“,11 er war Halt 9 Zu den religionsgeschichtlichen Aspekten von Nietzsches Rede vom ,Tod Gottes‘ vgl. J. Figl, Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges, Berlin / New York 2007, S. 301 – 312. 10 Vgl. Nietzsche, UB III 4, KSA 1, S. 366 („Die Gewsser der Religion fluthen ab und lassen Smpfe oder Weiher zurck“) und N 1873, KSA 7, 29[221] („Mein Vertrauen zur Religion ist grenzenlos gering: die abfluthenden Gewsser kann man sehen, nach einer ungeheuren berschwemmung.“). 11 Vgl. Nietzsche, N 1882, KSA 10, 3[1] 432, S. 105: „Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Hutung: – er zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wiedersehn, jenseits von gut und bçse.“, N 1885, KSA 11, 39[13]: „die
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fr die „christliche Moral-Hypothese“, die „dem Menschen einen absoluten Werth“ verlieh, dem bel „Sinn“ gab und „fr das Wichtigste“, das „Wissen um absolute Werthe“, „adquate Erkenntniß“ versprach (N 1886/87, KSA 12, 5[71]7, S. 211). Damit aber ist Wahrheit nicht mehr (wie noch fr Sokrates) Fundament, sondern Funktion der Moral. Die Moral ihrerseits stufte Nietzsche als Funktion des Lebens ein, das seinerseits nicht zuerst nach Wahrheit und Irrtum, sondern nach Nutzen und Nachteil unterscheidet. So wird verstndlich, wie die Wissenschaft den Tod Gottes herbeifhren und ihn zugleich am Leben erhalten konnte: Sie hat sich fr das Leben zunehmend als ntzlich erwiesen, dadurch immer mehr Glaubwrdigkeit gewonnen, sich dann mit dieser Autoritt gegen ihre erste Autoritt, den moralischen Gott, gekehrt und ihn schließlich fr unglaubwrdig erklrt. Nietzsche denkt dabei nicht nur an die Naturwissenschaften, die in dem Maße, wie sie die Ordnungen der Natur nach Naturgesetzen zu verstehen lehrten, die Hypothese ihres gçttlichen Ursprungs berflssig machten, sondern auch an die Verwissenschaftlichung des Glaubens an Gott selbst, seine Theologisierung und Historisierung. Paulus vor allem brachte die „evangelische Praktik“ des Jesus von Nazareth (AC 33) auf Dogmen, die sie lehrbar machen sollten, sie damit aber auch einem nie endenden theologischen Streit aussetzten, bis sie zuletzt durch ihre Historisierung unglaubwrdig wurden.12 Dies, so hatte Nietzsche schon in Die Geburt der Tragçdie festgestellt, ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nmlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmssigen Augen eines rechtglubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt werden und man anfngt, ngstlich die Glaubwrdigkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natrliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu struben, wenn also das Gefhl fr den
Widerlegung Gottes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt.“, N 1885/86, KSA 12, 2[107]: „NB. Die Religionen gehn an dem Glauben der Moral zu Grunde: der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich ,Atheismus‘ – wie als ob es keine andere Art Gçtter geben kçnne.“und N 1886/87, KSA 12, 5[71]7, S. 213: „Im Grunde ist ja nur der moralische Gott berwunden.“ 12 Dass der christliche Glaube durch seine bloße Historisierung unglaubwrdig wird, war auch Overbecks berzeugung. Vgl. H.-P. Eberlein, Nietzsches ,Tod Gottes‘und Overbecks ,Ende des Christentums‘ – eine Analogie, in: D. Mourkojannis u. R. Schmidt-Grply (Hg.), Nietzsche im Christentum. Theologische Perspektiven nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes, Basel 2004, S. 63 – 82.
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Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt. (GT 10, KSA 1, S. 74)13
Nietzsche pflichtete dem „Sieg des wissenschaftlichen Atheismus“ durchaus bei, doch unter dem Vorbehalt, dass er vorschnell an sich selbst glaube. Gerade bei Schopenhauer, der dem „gesammt-europischen Ereigniss“ des „Niedergangs des Glaubens an den christlichen Gott“ seinen klarsten und entschiedensten Ausdruck gegeben habe, zeige sich „etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube gekndigt war…“ (FW 357). Der wissenschaftliche Atheismus glaubte sich, wie Nietzsche den tollen Menschen hinausschreien lsst, stark genug, „diese Erde von ihrer Sonne los[zuketten]“ und selbst eine haltbare Orientierung zu schaffen (FW 125). Tatschlich aber beraubte sich die Wissenschaft mit der langsamen Tçtung Gottes selbst des Halts ihrer Orientierung an der Wahrheit – an die sie weiterhin glaubte.
3. Der Glaube der Wissenschaft an den „Schatten“ Gottes, die Wahrheit Nach seinem Abschied von Schopenhauers Metaphysik setzte Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches selbst auf den „wissenschaftlichen Atheismus“ und wandte in einiger Nhe zu Auguste Comtes soziologischem Stadiengesetz Ernst Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“ auf die geistige Reifung junger Menschen an. Danach bilden, was bis heute auch gut zu beobachten ist, religiçser Glaube, metaphysische Philosophie und Wissenschaft nicht nur „Phasen der geistigen Cultur“, an denen „die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat“, sondern auch „Jah13 Vgl. Nietzsche, MA I 113: So etwas wie „Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; Jemand, der seine Jnger sein Blut trinken heisst; Gebete um Wundereingriffe; Snden an einem Gott verbt, durch einen Gott gebsst; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an!“ In den Tautenburger Aufzeichnungen fr Lou von Salom von 1882 notierte Nietzsche „Gott hat Gott getçdtet.“ (N 1882, KSA 10, 1[75], [76]), und erluterte das bald darauf so: „Gott erstickte an der Theologie“ (ebd., 3[1]7, S. 54).
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resringe der indi viduellen Cultur“: auf die religiçsen Empfindungen der Kindheit folgen in der Jugend die „Zauber einer metaphysischen Philosophie“, bis schließlich „der wissenschaftliche Sinn immer gebieterischer [wird] und den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens [fhrt]“ (MA I 272). Erst allmhlich wagte sich bei Nietzsche der Gedanke hervor, dass auch die Wissenschaft ihren Glauben braucht: Wenn die Wissenschaft nicht an die L u s t der Erkenntniss, an den Nu t z e n des Erkannten geknpft wre, was lge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntniss hinfhrte, was zçge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich Nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glckliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleissige Ich, sehr viel in der Republik der wissenschaftlichen Menschen. (MA II VM 98)
Er begriff nun auch die Wissenschaft von Lebensnçten aus. Weil sie entbehrungsreicher ist und weniger Glanz und Ruhm verspricht als die Kunst, brauchen Gelehrte mehr Glaube, Liebe, Hoffnung als Knstler (MA II 206); sie mssen sich selbst der „Bilder und Gleichnisse“ entschlagen, durch die man „berzeugt“, aber nicht „beweist“, wollen „gerade das Ueberzeugende, das Glaublich-Machende nicht“ und fordern von sich „das klteste Misstrauen“: „weil das Misstrauen der Prfstein fr das Gold der Gewissheit ist“ (MA II 145). So aber stellt sich die Frage, was sie zu dieser unerbittlichen Suche nach Erkenntnis und Gewissheit, nach Aufklrung um jeden Preis treibt und was diese Aufklrung so glaubwrdig macht, die Gott unglaubwrdig gemacht hat. Die wissenschaftliche Antwort darauf kann wieder nur eine Aufklrung, nun die Aufklrung der Aufklrung selbst sein.14 Diese Aufklrung der Aufklrung ist das Programm der Frçhlichen Wissenschaft und damit auch der Kontext des Aphorismus vom tollen Menschen. Inden ersten beiden Bchern der Frçhlichen Wissenschaft fhrt Nietzsche die physiologische, psychologische und soziologische Aufklrung der europisch-christlichen Religion und Moral aus Menschliches, Allzumenschliches und der Morgenrçthe fort, stets vor dem Hintergrund des Evolutions14 Werner Stegmaier, Nietzsches und Luhmanns Aufklrung der Aufklrung: Der Verzicht auf ,die Vernunft‘, in: R. Reschke (Hg.), Nietzsche – Radikalaufklrer oder radikaler Gegenaufklrer? Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15.–17. Mai 2003 in Weimar, Berlin 2004, S. 167 – 178.
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gedankens.15 Das dritte Buch, in dessen erstem Aphorismus zum ersten Mal in Nietzsches Werk fast nebenbei der Satz „Gott ist todt“ fllt (FW 108)16 – der Tod Gottes gilt auch hier als selbstverstndlich, und es geht auch hier schon um die „ungeheuren schauerlichen Schatten“, die er zurcklsst –,17 aber handelt dann von den dogmatischen und moralischen Voraussetzungen der Wissenschaftlichkeit selbst (FW 109 – 113). Nietzsche warnt zunchst vor den scheinbaren Selbstverstndlichkeiten der Wissenschaft („ Hten wir uns !“ , FW 109) und fragt nach deren eigenen Lebensbedingungen. Danach liegt „die Kraf t der Erkenntnis […] nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung“ (FW 110). Auch das „Logische“ und alle „,Erklrung‘“ des „Werdens“, des „Flusses des Geschehens“, haben ihre „Herkunft“ in besonderen und zuflligen Lebensumstnden (FW 111, FW 112). In der Wissenschaft haben die unterschiedlichsten „Triebe“ zusammengewirkt, „zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflçsende Trieb“, und im Verein mit „knstlerischen Krften“ und der „praktischen Weisheit des Lebens“ „ein hçheres organisches System“ gebildet; jeder fr sich wre „Gift“ gewesen 15 Vgl. Werner Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, in: Nietzsche-Studien 16, 1987, S. 264 – 287; Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Quellenkritische Untersuchungen (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 47), Berlin / New York 2003, S. 238 – 253; M. Skowron, Nietzsches „Anti-Darwinismus“, in: NietzscheStudien 37, 2008, S. 160 – 194. Nietzsches Ausgang vom Evolutionsgedanken ließ Kritik an Darwin und am Darwinismus, insbesondere an seinen moralischen Voraussetzungen und Folgerungen, im Einzelnen durchaus zu. Vgl. G. Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor, Cambridge 2002, und dazu die sehr kritische Besprechung von M. Stingelin, Nietzsche und die Biologie. Neue quellenkritische Studien, in: Nietzsche-Studien 32, 2003, S. 503 – 513. 16 Zu den „Vorformulierungen“, deren bedeutsamste Max Mllers Essays zur vergleichenden Religionswissenschaft (M. Mller, Essays, 4 Bde., Leipzig 1869 – 1876, Bd. 1, S. 211 f.) entnommen und auf die germanischen Gçtter bezogen ist: „Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Gçtter mssen sterben“ (N 1870/71, KSA 7, 5[115]), vgl. Figl, Nietzsche und die Religionen, S. 233 u. S. 306 f. Nietzsche hat, anders als Mller, den einen jdisch-christlichen Gott mit den vielen griechischen, germanischen und außereuropischen Gçttern gleichgestellt. Zu weiteren Formulierungen des Todes Gottes in Nietzsches verçffentlichtem Werk vgl. J. Figl, ,Tod Gottes‘und die Mçglichkeit ,neuer Gçtter‘, in: Nietzsche-Studien 29, 2000, S. 82 – 101, hier S. 92 – 94. 17 Auch das Bild von den Schatten Gottes kçnnte auf Max Mller zurckgehen. Vgl. Figl, Nietzsche und die Religionen, S. 307, Anm. 55, der auf Mller, Essays, Bd. 1, S. 237, verweist.
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(FW 113). Damit der „gute Glaube an die Wissenschaft“ (FW 123) entstehen konnte, bedurfte es darber hinaus einer hochdifferenzierten und durch die Religion gefestigten Moral, fr die eben die Wahrheit ein hçchster Wert ist (FW 114 – 122). So bildeten die europische Wissenschaft, Religion und Moral ihrerseits ein System, in dem sie einander wechselseitig Halt gaben, und als dieses System sich immer strker wissenschaftlich festigte, konnte es schließlich auf Gott als Halt verzichten – es tçtete ihn, und die Wissenschaft wurde zur Ersatz-Religion. An dieser Stelle lenkt der Aphorismus Nr. 125 auf die Religion zurck, die im Anschluss das beherrschende Thema bleibt (FW 126 – 151). Die Religion und der Tod Gottes werden so im Kontext der Wissenschaft, aber auch die Wissenschaft im Kontext der Religion thematisiert. Nietzsche befragt beide auf den „grossen Gesammtglauben“ (FW 76) hin, der sich in ihnen zeigt – dies ist seine neue Fragestellung. Dass „die Glubigen des grossen Gesammtglaubens bei einander bleiben und ihren Tanz weitertanzen“, lsst auf „eine Nothdurft ersten Ranges“ schließen, „welche hier gebietet und fordert“, hatte er schon im zweiten Buch geschrieben (FW 76). Mit dem „Gesammtglauben“, der seinen Anfang und seine Spitze in der Religion hat, wird aber nun auch die Sttze, die ihm mit der Zeit eingezogen wurde, die Wissenschaft, fragwrdig. Die Auflçsung des Glaubens an Gott stellt auch die Wissenschaft in Frage – ihren Glauben an die Wahrheit. Das fnf Jahre nach den ersten vier Bchern (und nach Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Bçse) erschienene fnfte Buch der Frçhlichen Wissenschaft 18 nimmt zu Beginn den Aphorismus Nr. 108 aus 18 Dem Werk Die frçhliche Wissenschaft hat sich die Nietzsche-Forschung vergleichsweise wenig zugewandt. Immerhin hat Giorgio Colli in seinem Nachwort in der KSA (Colli 1980) mit souverner Kennerschaft und feinem Sinn fr Nietzsches Nuancen in Ton und Komposition die ersten vier Bcher der Frçhlichen Wissenschaft als einen Hçhepunkt in Nietzsches Schaffen gewrdigt. Sie zeichneten sich aus durch die „Distanz des Genesenen, das Fehlen von Schmhungen“, bedeuteten „einen magischen Augenblick der Ausgewogenheit“ in Nietzsches Werk, „seine einzige Erfahrung in vçlliger ,Gesundheit‘“, die ihn „alle Extreme“ „in entspannter Weise“ miteinander verbinden ließ. Diese Bcher seien „Nietzsches gelungenster Versuch philosophischer Mitteilung“, ein „souvernes, ganz leichtes In-der-Schwebe-Bleiben“. hnlich hatte sich bereits Walter Kaufmann in der Einleitung zu seiner kommentierten bersetzung ins Amerikanische geußert. Dem kçnnen wir nur zustimmen. Im fnften Buch hat Colli freilich nur noch „Zustze“ dazu gesehen und es damit wohl unterschtzt. Auch spter ist das fnfte Buch trotz seiner herausragenden Aphorismen zumeist als bloßer Anhang zu den ersten vier gelesen worden; es wurde in der Nietzsche-Forschung noch weniger beachtet. Jçrg Salaquarda, der sich hohe Verdienste fr eine sorgfltige Nietzsche-Lektre erworben hat, hat in seiner
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Vorbemerkung zu den Abhandlungen von ihm selbst, Wolfram Groddeck, Marco Brusotti, Gert Mattenklott und Renate Reschke, die der Frçhlichen Wissenschaft anlsslich des Nietzsche-Kolloquiums Sils-Maria 1995 gewidmet und in den Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 163 – 259, abgedruckt wurden, wohl darauf hingewiesen, wie wenig Aufmerksamkeit der Frçhlichen Wissenschaft in der NietzscheForschung bisher gewidmet worden war, lsst in seinem Beitrag „Die Frçhliche Wissenschaft zwischen Freigeisterei und neuer ,Lehre‘“ das fnfte Buch aber wiederum ganz beseite. Erst Wolfram Groddeck geht in seiner literaturwissenschaftlichen Abhandlung Die ,Neue Ausgabe‘ der „Frçhlichen Wissenschaft“. berlegungen zu Paratextualitt und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach „Zarathustra“ darauf ein, warum und wie Nietzsche das fnfte Buch mit den ersten vier Bcher verknpft hat (W. Groddeck, Die ,Neue Ausgabe‘ der Frçhlichen Wissenschaft. berlegungen zu Paratextualitt und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 184 – 198). Die Frage der „Frçhlichkeit“ der Wissenschaft berhrt Marco Brusotti. Danach bildet die Frçhlichkeit der Kunst ein Gegengewicht zum Ernst der Wissenschaft und hilft Nietzsche, sich „gelegentlich“ von der „Leidenschaft zur Erkenntniß“ zu distanzieren und zu erholen (M. Brusotti, Erkenntnis als Passion. Nietzsches Denkweg zwischen Morgenrçthe und der Frçhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 199 – 225). Brusotti spricht von einem „Pendeln“ des Erkennenden „zwischen Redlichkeit und Kunst“, Nietzsche freilich in einem (von Brusotti, ebd., S. 222, zitierten) Notat (N 1885, KSA 11, 38[20]) von einer Beherrschung der „Leidenschaft zur Erkenntniß“, die er eingangs „ein leidenschaftliches Vergngen an den Abenteuern der Erkenntniß“ nennt: „ein Mensch der Leidenschaft“ muss „auch der Herr seiner Leidenschaften“ sein, „er muß, wie heftig auch immer in ihm der Wille zur Wahrheit ist – es ist sein wildester Hund –, zur gewhlten Zeit der leibhafte Wille zur Unwahrheit, der Wille zur Ungewißheit, der Wille zur Unwissenheit, vor Allem zur Narrheit sein kçnnen.“ Gert Mattenklott hat in seinem Beitrag zu den Tempi in der „Frçhlichen Wissenschaft“ (G. Mattenklott, Der Taktschlag des langsamen Geistes. Tempi in der Frçhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 226 – 238) mehr den „Prozeß der Moderne“ als die konkrete ,musikalische‘ Gestaltung und Anordnung der Aphorismen im Blick; auch er bercksichtigt das fnfte Buch nicht, wiewohl die Musik dort zu einem Leitbegriff wird. Auch bei Renate Reschke bleibt das fnfte Buch am Rande (R. Reschke, „Welt-Klugheit“ – Nietzsches Konzept vom Wert des Mediokren und der Mitte. Kulturkritische berlegungen des Philosophen im Umkreis seiner Frçhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 26, 1997, S. 239 – 259). Michael Tanner gibt in seiner kurzen Einfhrung zu Nietzsche der Frçhlichen Wissenschaft zwar eine Sonderstellung, weil Nietzsche sich hier traue, „ber die unzhligen Andeutungen seiner zwei frheren Bcher [gemeint sind MA und M] hinauszugehen, jedoch noch ohne das prophetische Gewicht zu tragen, das die Autorschaft des Zarathustra ihm auferlegte.“ (M. Tanner, Nietzsche, aus dem Engl. bers. v. Andrea Bollinger, Freiburg i. Br. 1999, S. 57) Hier werde „ein umfassenderes Verstndnis sprbar fr das, was er [Nietzsche] will“ (ebd.); zugleich erreiche Nietzsche eine neue schriftstellerische Vollkommenheit: „Die ersten vier Bcher von FW bilden eine ansteigende Kurve in puncto Brillianz und Eindringlichkeit“ (ebd., 59). – FW 290 („Eins ist noth. – Seinem
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dem dritten Buch mit seiner Metapher der Schatten Gottes wieder auf und gibt nun die knappste und klarste Bestimmung des Todes Gottes – mit Hilfe des Begriffs der Glaubwrdigkeit: „Das grçsste neuere Ereigniss, – dass ,Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwrdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten ber Europa zu werfen.“ (FW 343) Hier folgen denn auch große Aphorismen zur ,Frçmmigkeit‘ auch der Wissenschaft in ihrem Glauben an die Wahrheit (FW 344), zur Moral, die der Grund dieser Frçmmigkeit ist und darum nun zum Problem wird (FW 345), zur Kraft zum Misstrauen und zum Nihilismus als Maß der Philosophie (FW 346) und zum „Bedrfniss nach Glauben“, das dieser Kraft entgegensteht (FW 347). Darauf folgen Aphorismen zu den (engen) Bedingungen der Gelehrsamkeit (FW 348 u. 349), aber auch „zu Ehren der homines religiosi“ und der „priesterlichen Naturen“ (FW 350 u. 351), zur Unentbehrlichkeit der Moral fr Europer (FW 352) und zum verwandten „Ursprung“ der Religionen (FW 353), des Bewusstseins, der Mitteilung und der Erkenntnis (FW 354 u. 355). Mit der Verwebung dieser Aphorismen, die er im Rest des fnften Buches in immer komplexere Kontexte entfaltet, fhrt Nietzsche die Verwebung von Wissenschaft, Religion und Moral im europischen „Gesammtglauben“ geradezu sinnlich vor. An der Wissenschaft und insbesondere an der Philosophie aber liegt es, notiert er zur Zeit der Entstehung des fnften Buches der Frçhlichen Wissenschaft, diesen „Gesammt-Glauben“ durch „systematische Conceptionen“ zu einem „starren“ zu machen, wozu es einerseits „schematischer Kçpfe“, andererseits des „Leidens an der Ungewißheit“ bedrfe. Freilich gebe es auch andere, die „an der Unsicherheit nicht leiden, sondern Lust haben“ und darum „ungern schematisiren“ (N 1886/87, KSA 12, 5[17]). Zur Ermutigung dieser Letzteren und unter ihnen seiner selbst hat Nietzsche die Frçhliche Wissenschaft geschrieben, solcher also, die am Tod Gottes gerade nicht mehr leiden wie der tolle Mensch und seine Zuhçrer, die er leiden macht. Sie leiden nicht mehr an ihm, sind also durch das Leiden hindurchgegangen, haben es ausgestanden und kçnnen, wie es Nietzsche bei sich selbst beobachtet, darum auch den Gedanken ertragen, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Charakter ,Stil geben‘“) stellt Tanner in den Mittelpunkt seiner ganzen Interpretation. Das fnfte Buch, in dem Nietzsche weit deutlicher geworden ist, ,was er will‘, und in dem er, nach Also sprach Zarathustra, neue stilistische und kompositorische Hçhen erreicht, bleibt auch hier beiseite. Kathleen Marie Higgins hat eine erste Monografie zur Frçhlichen Wissenschaft, jedoch wieder nur zu den Bchern I-IV vorgelegt (Kathleen M. Higgins, Comic Relief. Nietzsche’s Gay Science, New York / Oxford 2000).
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Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzndet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato‘s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit gçttlich ist…,“ – freilich auch, dass „dies gerade immer mehr unglaubwrdig wird, [dass] Nichts sich mehr als gçttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lge, – [dass] Gott selbst sich als unsre lngste Lge erweist? –“ (FW 344).
4. Ein befreites Leben der Wissenschaft: Frçhliche Wissenschaft Wissenschaft wird „frçhlich“, wenn sie das moralische Leiden am Tod des moralischen Gottes berwunden hat und am Dasein wieder froh geworden ist. Sie kann die Wahrheit dann als das verstehen, was sie ist, als bloßen Fluchtpunkt ihrer Forschungen. Ein Fluchtpunkt ist in der perspektivischen Malerei der Punkt, den man, angeleitet von den Perspektiven eines Bildes, in es hineinsieht, um von ihm aus seine Ordnung zu erfassen. Er ist selbst in der Regel auf dem Bild nicht zu sehen, ist nur ein Punkt zur eigenen Orientierung.19 Wenn die Wissenschaft die Wahrheit sucht (wie religiçse Menschen Gott und tolle Menschen den toten Gott), findet sie die Ordnungen, die sie durch ihre eigenen Hinsichten stiftet. „,Wissenschaf t‘“ bleibt ein „Vorurtheil“, soweit und solange sie die Wahrheit gegenstndlich, in eindeutig Feststellbarem sucht, sich darum auf „Zhlen, Rechnen, Wgen, Sehn und Greifen“ beschrnkt und so die Lebendigkeit der Welt in eine starre Mechanik zwingt. Orientierung vollzieht sich anders, mit Hilfe von „Horizont-Linie[n]“, „Perspektiven“ (FW 373) und „vorlufigen VersuchsStandpunkten“ (FW 344). Perspektiven sind Gesichtsfelder, die sich von Standpunkten aus vor Horizonten erçffnen; sie sind mit den Standpunkten einerseits und den Horizonten andererseits verschiebbar, sind also beweglich und somit immer „vorlufige“ Gesichtsfelder.20 Hlt man sich an bewegliche Perspektiven statt an einen festen Glauben, will man das Dasein „nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden“, sondern ihn im Gegenteil zum immer neuen Anlass immer neuer Bewegungen seiner Perspektiven nehmen, die die Welt immer neu bereichern. Fr die „Welt-Interpretation“ in Perspektiven hat Nietzsche das Gleichnis der Musik, an der „mechanisch“ kaum etwas zu verstehen ist: eine essentiell mechanische Welt wre eine essentiell s i n n l o s e Welt! Gesetzt, man schtzte den We r t h einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezhlt, 19 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 212 u. ç. 20 Ebd., S. 206 – 216.
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berechnet, in Formeln gebracht werden kçnne – wie absurd wre eine solche ,wissenschaftliche‘ Abschtzung der Musik! Was htte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr ,Musik‘ ist!… (FW 373).
Musik nimmt ein, nimmt mit, entwirft eigene Orientierungs-Welten,21 die so ausfllen kçnnen, dass man den Rest der Welt vergisst, die man jedoch nur auf sehr oberflchliche und drftige Begriffe bringen kann und die statt dessen immer neue Interpretationen und Interpretationen von Interpretationen herausfordern. Nietzsche spiegelt das dritte im fnften Buch der Frçhlichen Wissenschaft: im dritten Buch schickt er dem Aphorismus Nr. 125 vom tollen Menschen den Aphorismus Nr. 124 „Im Horizont des Unendlichen“ voraus – hier klingt noch eine leise Klage an, dass wir schon „zu Schiff gegangen“ sind, „die Brcke“ und „das Land hinter uns abgebrochen“ haben und uns nun einem unbegrenzten, bald ruhigen, bald strmischen „Ozean“anvertrauen mssen –, und im fnften Buch lsst er auf den Aphorismus Nr. 373 („,Wissenschaf t‘ als Vorurtheil“) den Aphorismus „Unser neues ,Unendliches‘“ folgen, in dem nun mutig und heiter der „Mçglichkeit“ entgegengefahren wird, dass die Welt „unendliche Interpretationen in sich schliesst“. Im „grossen Schauder“, der bleibt, rhrt sich wohl weiter die Versuchung, „dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergçttlichen“, doch inzwischen stehen dem bereits „zu viele ungçttliche Mçglichkeiten der Interpretation“ entgegen (FW 374) – Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Bçse sind erschienen. Die Frçhlichkeit der Wissenschaft liegt in der Perspektivierung der Wissenschaft selbst, ihrer ffnung fr unendliche Interpretationen, im gelassenen Sich-Einlassen auf das Gegeneinander von Glaubwrdigkeiten oder Plausibilitten. Dabei muss, worauf Nietzsche streng besteht, die wissenschaftliche Disziplin im Allgemeinen und mssen die Disziplinen der Fcher im Besonderen durchaus beibehalten werden. Doch wird sich die Philosophie den Wissenschaften nicht mehr mit einem eigenen doktrinalen Wissen berordnen, sondern sie statt dessen ihren wechselnden Lebensbedingungen zuordnen, darunter auch ihren offenen oder latenten Bedrfnissen nach Religion und Moral. Wissenschaftliche Perspektiven sind wie alltgliche Perspektiven immer auch an doktrinale und moralische Standpunkte und Horizonte gebunden; man braucht sie, um sich von Fall zu Fall 21 Werner Stegmaier, Musik des Lebens. Orientierung in Rhythmen, Routinen und Religionen, in: I. U. Dalferth u. St. Berg (Hg.), Sinngestaltungen. Orientierungsstrategien in Religion und Musik, Tbingen 2010.
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orientieren zu kçnnen. Doch man kann sie nçtigenfalls wechseln – die Frçhlichkeit der Wissenschaft zeigt sich, wie Nietzsche in Zur Genealogie der Moral schreibt (III 12), im „Vermçgen, sein Fr und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhngen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen fr die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss“ (GM III 12, vgl. MA, Vorrede 1886, 6). Nietzsche bekennt sich – dies ist die einzige terminologische Festlegung seines Philosophierens in seinem verçffentlichten Werk – zum NichtStandpunkt des „Phnomenalismus und Perspektivismus“ (FW 354). Nach der großen Karriere des Orientierungsbegriffs, den Nietzsche noch kaum genutzt hat,22 kçnnte man seine frçhliche Wissenschaft auch eine orientierende Wissenschaft nennen, der es darauf ankommt, wechselnden Lebensbedingungen gerecht zu werden und die darum in sich so beweglich wie mçglich oder kurz: ihrerseits lebendig sein muss. Der heutige ,Glaube‘ an die Wissenschaft ist kein Glaube an ihre Wahrheit oder an eine eindeutige Feststellbarkeit der Welt mehr, sondern an den Nutzen der Wissenschaft fr die Gesellschaft, sei es unmittelbar fr die Technik, die Medizin, die Wirtschaft und die politische Planung, sei es fr die Aufklrung der Geschichte und der aktuellen Situation der Kultur oder Kulturen der Gesellschaft. Er ist auch kein Glaube an die Wertneutralitt der Wissenschaft mehr, wie sie Max Weber nach Nietzsche noch einmal postuliert hat.23 Stattdessen haben sich zunehmend Programme der Finalisierung und damit der Politisierung und konomisierung der Wissenschaft durchgesetzt, eine Tendenz zur Plan-Wissenschaft im Wettbewerb. Nietzsche mag sich das im Einzelnen so nicht vorgestellt haben; im Allgemeinen verwirklicht sich darin vieles von seinen Vorstellungen, insbesondere die Temporalisierung der Wissenschaft, zum einen in großen und unplanbaren Paradigmen-Wechseln im Sinne Kuhns, zum andern in der Befristung auf 22 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 55 – 150, zu Nietzsche S. 113. Nietzsche hat den Begriff ,Orientierung‘ nicht in seinen Werken, kaum in seinen Notizen, um so mehr aber in seinen Briefen gebraucht. 23 Max Weber bestand angesichts der Wertungsfreudigkeit der Wissenschaft seiner Zeit (auf dem Boden der traditionellen Moral) wohl auf Werturteilsfreiheit der Wissenschaft (Max Weber, Die ,Objektivitt‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tbingen, 6. Aufl., 1985, S. 146 – 214). Dennoch versuchte er eine wissenschaftliche Untersuchung der Moral als einer Grundlage der Wirtschaft, seine Genealogie des „Geistes des Kapitalismus“, so wie Nietzsche die Moral als eine Grundlage der Wissenschaft entdeckt hatte (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), in: ders., Gesammelte Aufstze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tbingen, 9. Aufl., 1988, S. 17 – 206).
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kurz-, mittel- oder langfristige Projekte, die die Wissenschaft – bei allen Einbußen, die damit einhergehen – fr neue Entscheidungen offenhlt.
5. Ein Gott fr die frçhliche Wissenschaft: Dionysos Die frçhliche Wissenschaft macht auch wieder neue Gçtter nach dem moralischen Gott denkbar.24 Nietzsche erweckte den Gott seiner philosophischen Anfnge zu neuem Leben: Dionysos.25 Dionysos – das braucht nun nicht mehr ausgefhrt zu werden – ist nach der griechischen Mythologie ein Gott, der als Mensch leidet, der in Orgien geqult, zerfleischt, zerrissen wird – und daraus immer wieder neu ersteht, das Symbol eines sich ewig erneuernden Lebens. Er ist nicht nur ein schçner Gott, der das Apollinische in sich einbezieht, sondern auch ein außermoralischer Gott, dem „das Bçse, Unsinnige und Hssliche gleichsam erlaubt“ ist. In Jenseits von Gut und Bçse hatte Nietzsche den „Gott Dionysos“zum „Begriff des Dionysos“und damit zum Gott seines Philosophierens gemacht (JGB 295, EH, Za 6).26 Auch er ist ein Gott fr Philosophen – der aber nun die Beschrnkungen des moralischen Gottes sichtbar macht, mit dem und an dem Europa ber Jahrtausende gelitten hat, der hilft, ber ihn aufzuklren und sich von ihm zu lçsen.
24 Vgl. Figl, ,Tod Gottes‘ und die Mçglichkeit ,neuer Gçtter‘, S. 98 – 101; W. Stegmaier, Nietzsche’s Theology: Perspectives for God, Faith, and Justice, bers. v. Julia Jansen, in: New Nietzsche Studies (New York) 4, 3/4, 2000/2001, S. 73 – 89; deutsch u. d. T.: Advokat Gottes und des Teufels: Nietzsches Theologie, in: U. Willers (Hg.), Theodizee im Zeichen des Dionysos. Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion, Mnster 2003, S. 163 – 177; Wiederabdruck u. d. T.: Nietzsches Theologie. Perspektiven fr Gott, Glaube und Gerechtigkeit, in: D. Mourkojannis und R. Schmidt-Grply (Hg.), Nietzsche im Christentum. Theologische Perspektiven nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes, Basel 2004, S. 1 – 21; Figl, Nietzsche und die Religionen, S. 310 f. 25 Dionysos als neuen Gott fr Philosophen und freie Geister zieht Figl, Nietzsche und die Religionen, nicht in Betracht. 26 Vgl. P. van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik. Studie zu Jenseits von Gut und Bçse, Bonn 1989, S. 243 f.; W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Gçttingen 1992, S. 365 – 372.
Gott – Nihilismus – Skepsis. Aspekte der Religions- und Zeitkritik bei Nietzsche Andreas Urs Sommer In der Moderne hat Gott aufgehçrt, selbstverstndlich zu sein. Das provoziert neue Strategien, mit seinem vorgeblichen Sein oder seinem vorgeblichen Nichtsein umzugehen. Der erste Teil dieser Ausfhrungen widmet sich einer knappen Interpretation des notorischen Aphorismus 125 aus der Frçhlichen Wissenschaft, whrend der zweite Teil die mit dem Gottestod verbundene Nihilismus-Diagnose ins Verhltnis zum Motiv der Skepsis setzt und fragt, wie weit sich hier ein begehbarer Ausweg womçglich auch fr die philosophische Reflexion nach Nietzsche auftut.1
I. ,Gott ist todt‘ Den Leuten auf dem Markt ist Nietzsches toller Mensch mit seiner Suche nach Gott zunchst nur Anlass zu großem Gelchter; sie fragen zurck, ob sich sein Gott wohl verlaufen habe oder was sonst mit ihm geschehen sein mçge. Fr seine pathetische Antwort, wir htten ihn getçtet und seien seine Mçrder, und fr seine Frage, wie wir diese ungeheure Tat htten vollbringen kçnnen, durch die „wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten“ (FW 125), erntet er nur betretenes Schweigen, worauf er seine Laterne auf den Boden schmettert und von sich sagt, er komme zu frh, habe doch die Kunde vom Gottesmord die Menschen noch nicht erreicht. Warum, fragt der aufmerksame Leser zurck, sollte sie die Menschen schon erreicht haben, wenn der tolle Mensch ihr erster Verkndiger ist? „Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan !“ (Ebd.) Dennoch sind die Menschen, denen der tolle Mensch auf 1
Der erste Teil dieses Textes beruht teilweise auf A. U. Sommer, ,Gott ist todt‘ oder ,Dionysos gegen den Gekreuzigten‘? ber Friedrich Nietzsche, in: R. Faber u. S. Lanwerd (Hg.), Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalitt?, Wrzburg 2006, S. 75 – 90; der zweite Teil nimmt berlegungen aus A. U. Sommer, Nihilism and Skepticism in Nietzsche, in: K. Ansell Pearson (Hg.), A Companion to Nietzsche, Oxford / Malden 2006, S. 250 – 269 auf.
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dem Markt begegnet, keineswegs Glubige, die zum ersten Mal vom Tod Gottes hçren, sondern sind ausdrcklich solche, „welche nicht an Gott glaubten“. Was ihnen fehlt, ist das Bewusstsein der Tragweite jenes scheinbar so simplen Faktums „Gott ist todt! Gott bleibt todt!“ (ebd.) Dieses Faktum bedeutet nmlich, dass sie jeder externen Orientierung, wie ihr Leben und wie ihre Welt zu gestalten ist, verlustig gegangen sind. Dass dieses ihr Leben, diese ihre Welt kein Zentrum mehr hat, das von sich aus gegeben wre. Die bequemen Unglubigen, die sich auf dem Markt tummeln, haben sich nicht bewusst gemacht, dass die Menschen eine vçllig neue Brde auf ihren Schultern tragen, wenn sie all das auf sich nehmen mssen, was bisher Gott ihnen abnahm. Der Gott, um den es hier geht, ist gleichermaßen die oberste Instanz der jdisch-christlichen Offenbarungsreligion wie die hçchste Idee, auf die die rationale Metaphysik des Abendlandes angewiesen war. Wenn sich die Menschen beider Gçtter entledigen, dann ist der Atheismus – die Verabschiedung Gottes wegen erwiesener Nichtexistenz oder erwiesener Ermordung durch das Schwert metaphysischer Redlichkeit –, dann ist dieser Atheismus der Anfang einer ganz neuen Form von Menschsein. Eines Menschseins nmlich, dem nichts mehr als gesichert gilt, das keine festen Werte mehr hat, sondern sich in vollem Bewusstsein um die Bodenlosigkeit des Daseins auf dieses Dasein als Experiment mit hçchst ungewissem Ausgang einlsst. Nun ist die Versuchung groß, Nietzsche mit jenem tollen Menschen zu identifizieren, der die Kunde von der Ermordung Gottes auf den Markt trgt. Aber dies wre ebenso voreilig wie eine Gleichsetzung der ZarathustraFigur mit dem Verfasser von Also sprach Zarathustra. Beide sind literarische Kunstfiguren, die weniger zur Verlautbarung philosophischer Wahrheiten benutzt werden, als vielmehr zu deren Veranschaulichung und Erprobung. Die Erschaffung solcher literarischer Kunstfiguren ist integraler Bestandteil von Nietzsches Experimentalphilosophie.2 Kunstfiguren, wie Nietzsche sie einsetzt, sind ideale Handlanger von Experimentalphilosophie in praxi: Ihr Handeln und ihr Sprechen entbinden den Experimentalphilosophen davon, selber Position beziehen, sich auf irgendeine Ansicht oder Doktrin festlegen zu mssen. Kunstfiguren schaffen Distanz und geben ihrem Erfinder Spielraum, den er als Philosoph weidlich ausnutzt. Nietzsche hat mit der Erfindung literarischer Kunstfiguren, die als Agenten aller mçglichen An2
Zum Thema siehe V. Gerhardt, Experimental-Philosophie, in: M. Djuric´ u. J. Simon (Hg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Wrzburg 1986, S. 45 – 61, der die Skepsis als ein „wesentliches Verfahrensmoment“ der „Experimental-Philosophie“ beschreibt (ebd., S. 53).
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sichten auftreten und die Entscheidung, was fr wahr oder wichtig zu halten sei, an den Leser delegieren, eine Form skeptischen Schreibens entwickelt, die ihn als Autor von letzten Stellungnahmen dispensiert. In FW 125 auch von der Stellungnahme, ob es einen Gott gibt und oder welche Konsequenzen sein Tod htte. Derjenige, der diese Konsequenzen in die Welt hinausposaunt, ist nicht allein durch das Attribut der Tollheit deutlich vom Verfasser der Frçhlichen Wissenschaft distanziert. In Abschnitt 125 dieses Buches wird die Geschichte vom tollen Menschen und seiner Gottestod- und Gottesmord-Verkndigung so erzhlt, als ob es sich um eine Episode aus vergangenen Tagen handelte, die man vielleicht schon bei Diogenes Laertius nachlesen kçnnte. Das Erzhltempus, das diese Historizitt indiziert, ist das Imperfekt – whrend im vorangehenden Abschnitt 124, wo die hufig das Wort fhrenden „Wir“ davon sprechen, sie htten das Land verlassen und seien zu Schiff gegangen, das Perfekt keinen historisierenden Leser-Blick evoziert. Eine weitere historische Distanzierung findet dadurch statt, dass die Geschichte nicht einfach erzhlt wird, sondern die Leser zunchst unmittelbar angesprochen werden: „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehçrt, der am hellen Vormittage eine Laterne anzndete […]“ (FW 125). Dies mindert alles nicht die Wucht der Anfragen, mit denen der tolle Mensch seine Zuhçrer und Nietzsche seine Leser konfrontiert. Die Parole „Gott ist todt“ taucht in Abschnitt 125 nicht zum ersten Mal auf. Abschnitt 108 der Frçhlichen Wissenschaft, der das dritte Buch einleitet, in dessen Zentrum Abschnitt 125 steht, lautet: Ne u e K m p f e . – Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Hçhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Hçhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir mssen auch noch seinen Schatten besiegen! (FW 108)
Hier entbindet keine literarische oder historische Figur den Philosophen davon, selbst eine Ansicht kundzutun. Zwar ist die Diagnose vom Tod Gottes einmal mehr eingebettet in einen historischen Kontext, nmlich als Analogie zu einer Erzhlung ber Buddha. Aber die Diagnose selbst ist nicht Bestandteil dieser Erzhlung. Sie formuliert vielmehr ein Programm, und zwar das Programm, nach der Vernichtung Gottes seinen Schatten zu vernichten. Aufgegeben ist dies den „Wir“, die den Autor ebenso einzubegreifen scheinen wie die Leser, zumindest die wenigen auserwhlten Leser, denen Verstndnis zuzutrauen ist. Mit diesen „Wir“ stiehlt sich der Experimentalphilosoph freilich schon wieder aus der Verantwortung fr sein Schreiben:
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Man mag zwar sagen, er sei als „Ich“ (das kommt hier nicht vor) mit von der Partie, wenn die „Wir“ sich zu großen Taten aufraffen. Aber ist es so sicher, dass das „Ich“des Herrn Nietzsche die Richtung angibt, wohin die „Wir“sich wenden? Die Diagnose vom Gottestod selbst ist keinem Subjekt zugeordnet; niemand bernimmt fr sie die Verantwortung. In jedem normalen Stck philosophischer Prosa wrde man darin ganz einfach die Autorenmeinung zu erkennen glauben; im Falle einer Nietzsche-Schrift, die alle Kunstgriffe zur Verschleierung allflliger wahrer Ansichten ihres Verfassers virtuos anwendet, ist grçßere Vorsicht geboten. Ich schlage daher vor, die Diagnose vom Tod Gottes nicht als Nietzsches dogmatische Verlautbarung zu verstehen, sondern als eine experimentalphilosophische Hypothese, aus der einige weitreichende Folgerungen gezogen werden kçnnen. Die Metapher vom Schatten Gottes lsst sich in Beziehung setzen zu dem, was der tolle Mensch in Gestalt mehr oder weniger deliberativ-rhetorischer Fragen an Konsequenzen des Gottesmordes aufzhlt: Wenn wir Gott eliminieren, bedeutet das nicht nur im Hinblick auf die monotheistischen Offenbarungsreligionen im engeren Sinn, sondern fr die lebensweltliche Orientierung im Allgemeinen, dass die Menschen nun vçllig auf sich selbst gestellt sind. Der Schatten Gottes, auch wenn wir wie die Menschen auf dem Markt nicht mehr an Gottes Existenz glauben, dieser Schatten Gottes besteht fort, solange wir an einer Moral festhalten, die zumindest versteckt noch immer ein Gottespostulat bençtigt. Wobei Moral hier das umfassende System von Wertungen und Frwahrhalten meint, in das Menschen als sozialisierte Wesen notwendig eingebunden sind. Dieses System ist der Schatten Gottes und dieses System ist es, was zwar den aktiven Glauben an Gott noch einige Zeit, „noch Jahrhunderte“, berdauern kann, aber zumindest aus der Perspektive des tollen Menschen endlich einstrzen muss. Kçster hat zurecht vorgeschlagen,3 die Diagnose vom Tod Gottes und die daraus fr den Menschen folgende „unausweichliche Nçtigung der Grçße“ in Verbindung mit jenem „starken Willen“ zu sehen, den eine Nachlassnotiz vom Frhjahr 1884 „als heuristisches Princip“ aufbietet; „um zu sehen, wie weit man damit kommt“ (KSA 11, 25[307]). In einem „Die ewige Wiederkunft“ genannten Werkentwurf aus dem Nachlass von 1885/86 wird unter dem Abschnitttitel „Gottes Todtenfest“ eine „Peststadt“geschildert, in die Zarathustra – also Nietzsches Kunstgestalt – hineinzugehen wage, und wo ihm „alle Arten des Pessimismus“ begegneten: „Die Sucht zum Anders, die Sucht zum Nein, endlich die Sucht zum 3
P. Kçster, Gott, in: H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 245 – 248, hier S. 247.
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Nichts folgen sich.“ (N 1885/86, KSA 12, 2[129]). Zarathustra habe nun eine „Erklrung“ fr dieses gespenstische Treiben parat. Sie lautet: „Gott ist todt, dies ist die Ursache der grçßten Gefahr: wie? sie kçnnte auch die Ursache des grçßten Muths sein!“ (Ebd.) Zarathustra zufolge lassen sich also ganz unterschiedliche, ja kontradiktorische Konsequenzen aus dem Bewusstwerden des Gottestodes ziehen: Es kann den lebensverneinenden Pessimismus ebenso bewirken wie grçßten, soll wohl heißen: lebensbejahenden Mut. Nietzsches Analyse von Geschichte und Gegenwart mit Hilfe des Nihilismus-Begriffes ist nichts anderes als eine Analyse der weltgeschichtlichen Reaktionen auf den Tod Gottes.4 Und genau hierin liegt das Problem der Gottestod-Diagnose: Sie ist – zumal dann, wenn sie einer literarischen Kunstfigur in den Mund gelegt wird – prinzipiell deutungsoffen und lsst einen zu großen Spielraum fr den Fall, dass man mit ihr politische Absichten verfolgt. Nimmt man den Tod jenes unterbestimmten, artikellosen Gottes ernst, hngen die Folgerungen unmittelbar von dem ab, was man in „Gott“ hineinprojiziert hat, was seine Funktionen waren, und was nun also eliminiert worden ist beziehungsweise neu konfiguriert werden muss. Hat man in Gott den Inbegriff des Lebens, die Quelle aller Freude gesehen, welkt mit seinem Tod leicht alle Freude dahin und alles Hoffen erstirbt im Eisstrom des Nihilismus. Hat man Gott hingegen als ins Kosmische bersteigerten, orientalischen StammesgottDespoten verdchtigt, wird man die Zeit nach seinem Tod als Eintreten in eine fast knstlich-paradiesische Idylle der Selbstverantwortlichkeit empfinden. Wem Gott als Garant und Schlussstein der physikalischen und moralischen Ordnung erschienen ist, wird nach seinem Hinscheiden mit einer chaotischen Welt konfrontiert, whrend derjenige, dem Gott als Gegenprinzip zu einem bloß kausalmechanisch sich abspulenden Weltgetriebe gegolten hat, sich nach Eintritt des gçttlichen Exitus mit der Trostlosigkeit dieser rein kausalmechanischen Ordnung abfinden muss. Und so fort. Was uns der Tod Gottes angeht, hngt mit anderen Worten davon ab, welche Funktion dieser Gott und die auf ihn grndenden Wertvorstellungen fr uns gehabt haben. Und dass diese Funktionen selbst innerhalb des abendlndisch-monotheistischen Kulturkreises keineswegs immer dieselben gewesen sind, drfte Nietzsche kaum verborgen geblieben sein. Die Parole vom Tod Gottes erlaubt also keinen prospektiven Induktionsschluss darauf, wie die Reaktionen jener Menschen beschaffen sein 4
Vgl. z. B. E. Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus, Berlin / New York 1992 und dies., Nihilismus, in: H. Ottmann (Hg.), NietzscheHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 293 – 302.
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werden, die davon erfahren. Das zeigt schon der prekre Erfolg der Gottestod-Verkndigung durch den tollen Menschen. Retrospektiv kann man hingegen alle mçglichen geschichtlichen Ereignisse und mentalitren Erscheinungen – wie Nietzsche es eben bei Pessimismus und Nihilismus tut – mit dem Tod Gottes erklren. Aber damit lsst sich keine „Große Politik“ bestreiten, die Nietzsche – zumindest mit manchen der Rollen, in die er schlpft – im Sptwerk zum Programm erhoben hat.5
II. Nihilismus und Skepsis Nihilismus ist fr Nietzsche ein Epochenphnomen mit langer Vorgeschichte, dem er sich selbst einerseits zurechnet, gegen das er andererseits seine eigene Philosophie profilieren mçchte. Nihilismus erscheint ihm als dcadence-Symptom, als krankhafter Verlust von Weltvertrauen im weitesten Sinne. Skepsis, die bei Nietzsche hufig positiv konnotiert ist (z. B. AC 54), drfte eine probeweise Suspension des Weltvertrauens implizieren, ohne freilich notwendig zu amoralischen, immoralistischen oder hypermoralischen Konsequenzen fhren zu mssen, die fr den Nihilismus kennzeichend sind: Der von der Skepsis gebte Erkenntnisverzicht muss keine Verneinung der moralischen Ordnung oder des Sinns der Welt implizieren. Aber er vergleichgltigt sie. Obwohl Nietzsche zeitweilig einen bestimmten Typ der ,schwachen‘ Skepsis fr ein gegenwartsspezifisches Dekadenzphnomen hlt (JGB 208),6 das nihilistische Tendenzen der zeitgençssischen Philosophie anzeigt, wird Skepsis trotz der sonstigen Tendenz zur Physiologisierung geistiger Erscheinungen in Nietzsches Schriften und Nachlass hufig als eine abstrakte erkenntnistheoretische Position, nur selten als Ausdruck spezifischer physiologisch-psychologischer Gegebenheiten behandelt. Skepsis und skeptische Fragen werden dann im Sinne der Tradition als Fragen der philosophischen Theoriebildung erçrtert, wogegen Nihilismus keine Fragen der Theorie, sondern der Lebenspraxis und des lebenspraktischen Orientierungsverlustes betrifft. Skepsis und Nihilismus sind bei Nietzsche also auf 5 6
Dazu eindringlich H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche. 2., verbesserte und vermehrte Aufl., Berlin / New York 1999, S. 239 – 292. Dazu ausfhrlich A. U. Sommer, Skeptisches Europa? Einige Bemerkungen zum Sechsten Hauptstck: wir Gelehrten (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Aphorismen 204 – 213), in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 14: Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa, Berlin 2007, S. 67 – 78.
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unterschiedlichen Ebenen angesiedelt; dennoch berhren sie sich darin, was sie bewusst oder unbewusst zum Ausdruck bringen, nmlich das Ende der Wahrheit, das fr den Nihilismus auch ein Ende der Werte ist. Das bei Nietzsche vielfach variierte Thema des Todes Gottes macht die Reflexion ber den Nihilismus erst mçglich. Erst wenn der Glaube an Gott als oberstem Wert liquidiert ist, verliert die althergebrachte Werthierarchie ihren Halt, und man kann die Welt insgesamt nur noch unter der Prambel des schieren „Umsonst“ sehen. Andererseits ist das Christentum Nietzsche zufolge selber schon nihilistisch, insofern es die gegebene Welt zugunsten einer Hinterwelt zu eskamotieren trachte und einen „Wille[n] zum Ende“, einen „nihilistische[n] Wille[n]“ (AC 9) kultiviere. Seine asketischen Prferenzen machen das Christentum ohnehin nihilismusverdchtig (GM III 26). „Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloss“ (AC 58). Nihilismus ist in erster Linie eine Frage der Moral(entwertung) und nicht der Erkenntnistheorie. Er erscheint „als Folge der moralischen WeltAuslegung“7; der bergang von Pessimismus zum Nihilismus wird als „Entnatrlichung der Werthe“ (N 1887, KSA 12, 9[107]) beschrieben: Die Werte beginnen, „sich verurtheilend gegen das Thun“ (ebd.) zu wenden, eine ideale Gegenwelt zu entwerfen, die schließlich auch verworfen wird. Was bleibt, sind „die richtenden Werthe“, die ja noch immer die Werte des extremen Nihilismus sind, mit denen sich Nietzsche als Immoralist identifiziert. Diese Konstellation, wo die Schwachen an den richtenden Werten zerbrechen, die Strksten sie aber berwinden, ergebe „das tragische Zeitalter“ (ebd.). Diese Strksten huldigten gerade nicht mehr dem Mitleiden als „Praxis des Nihilismus“ (AC 7), die nach GM, Vorrede 5 zu einem „Europer-Buddhismus“ fhrt. Darin zeige sich, dass „[j]ede rein moralische Werthsetzung“ im Nihilismus ende (N 1887, KSA 12, 7[64]). Was nun dagegen aufgeboten werden soll, ist eine dem extremen Nihilismus entspringende „Gegenbewegung“, die sich als „Umwerthung aller Werthe“ manifestiert. Der „bermensch“ erscheint dann als Gegentypus „zu ,guten‘ Menschen, zu Christen und andern Nihilisten“ (EH, Warum ich so gute Bcher schreibe 1). An einigen Stellen im Nachlass wird die Wiederkunftslehre zum direkten „Gegenstck“ des Nihilismus.8 Das ,Lenzerheide-Fragment‘9 fhrt diese Idee breit aus und verwandelt die Wiederkunftslehre in einen Akt Großer Politik, womit die Lehre auf ihren politisch-instrumentellen Wert 7 8 9
N 1886/87, KSA 12, 7[43]; vgl. 1886/87, KSA 12, 7[8], S. 292. N 1888, KSA 13, 16[51]; vgl. KSA 13, 14[169]. N 1887, KSA 12, 5[71], S. 211 – 217, KGW IX/3: N VII 3, S. 13 – 24.
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beschrnkt wird und aufhçrt, Nietzsches Denken als solches zu strukturieren. Daher spielt sie im Sptwerk, z. B. im Antichrist, kaum mehr eine tragende Rolle. Zuerst diskutiert das ,Lenzerheide-Fragment‘ die Vorteile der christlichen Moralhypothese, die aber von der aus dieser Moral selbst erwachsenden Wahrhaftigkeit zersetzt worden sei. Nun erweise sich Gott als eine „viel zu extreme Hypothese“ (N 1887, KSA 12, 5[71], S. 212) gegen den Nihilismus; stattdessen tauche die umgekehrte, ebenso extreme Hypothese auf, alles sei sinnlos, wodurch alle Werte, ja, die bloße Mçglichkeit von Werten in Zweifel gezogen wrden. Im 6. Abschnitt tritt die „ewige Wiederkehr“ auf als „extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ,Sinnlose‘) ewig!“ (ebd., S. 213), nmlich alles ewig wiederkehrend, „ohne Sinn und Ziel“. Die Ewige Wiederkunft wird also als eine in ihrer Funktion und Extremheit der Gotteshypothese quivalente Hypothese eingefhrt – und drfte ebenso die „Wahrhaftigkeit“ gegen sich haben wie letztere. Der Gedankengang fhrt nun zurck auf die Funktion der bisherigen Moral, die darin lag, den unterdrckten Menschen gegen die Herrschenden zur Seite zu stehen, nmlich gegen deren „Willen zur Macht“. Die Unterdrckten fielen in vollstndigste Verzweiflung, wenn sie das „Recht“zur moralischen „Verachtung des Willens zur Macht“ (ebd., S. 215) verlieren. Aber mit der Moral habe sich gerade dieses Recht erledigt; und jetzt wird von einem nicht nher bestimmten Standpunkt aus dekretiert: „Es giebt nichts am Leben, was Werth hat, ausser dem Grade der Macht – gesetzt eben, dass Leben selbst der Wille zur Macht ist.“ Die Unterdrckten wrden damit ihren „Trost“ verlieren und zugrunde gehen, indem sie sich selber zugrunde richten. So erschiene Nihilismus dann als „Symptom davon, dass die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben“ (ebd., S. 216) und selber nach der Realisierung ihres Machtwillens streben. Diese „Schlechtweggekommenen“ werden sehr entschieden nicht politisch, sondern „physiologisch“ bestimmt; hier kehrt auch das Motiv der Wiederkunft wieder: „Die ungesundeste Art Mensch in Europa […] ist der Boden dies Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurckscheut“ (ebd.). In diesem Kampf sind also sowohl der Wille zur Macht wie die Ewige Wiederkunft als Katalysatoren eingesetzt, um eine neue „Rangordnung der Krf te, vom Gesichtspunkte der Gesundheit“ aus zu etablieren (N 1887, KSA 12, 5[71], S. 217). Dafr sind die beiden ,Lehren‘ keine letzten philosophischen Einsichten mehr.10 Die „Strksten“ htten „keine extremen 10 Darauf hat Werner Stegmaier wiederholt hingewiesen, vgl. z. B. W. Stegmaier, Nietzsches Zeichen, in: Nietzsche-Studien 29, 2000, S. 41 – 69.
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Glaubensstze nçthig“ – also weder Gott noch Wiederkunft. So bleibt als Schlusssatz nur noch die beinahe ironische Frage: „Wie dchte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?“ (Ebd.) Sie ist fr ihn womçglich ohne Relevanz. Ebensowenig wie die „Experimental-Philosophie“ bei der nihilistischen Negation stehen bleibt (N 1888, KSA 13, 16[32]), wird sie sich mit ,Lehren‘ wie Ewige Wiederkunft oder Wille zur Macht dauerhaft aufhalten. Die Strksten, die nach 5[71] (KSA 12, S. 217) zugleich die „Mssigsten“ sind, verspren offenbar eine starke Neigung zu skeptischen Vorbehalten. Die lsst auch die Nihilismusdiagnose, zumal in ihrer universalisierten Form, nicht unbehelligt: „pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen Sinn“ (N 1887, KSA 12, 9[35]). Nicht nur der Nihilismus ist ein negativer Dogmatismus, sondern womçglich auch die Behauptung, dass der Nihilismus unausweichlich und allgegenwrtig sei. Whrend Nietzsche ber Nihilismus als Entwertung der obersten Werte erst im Sptwerk ausgiebig spricht, ist Skepsis ein Thema, das in seinem gesamten Schaffen prsent ist. Nietzsche verwahrt sich mehr und mehr gegen einen Skeptizismus der Bequemlichkeit, der mit Mdigkeit und Mattwerden identifiziert wird.11 Das Neue der eigenen Stellung wird damit gekennzeichnet, „dass wir die Wahrheit nicht haben“, whrend frher selbst „die Skeptiker“ den Besitz von Wahrheit fr sich reklamiert htten.12 Gerade im Hinblick auf jegliche Erfahrung bleibe Skepsis unerlsslich (N 1881, KSA 9, 11[293]), mag sich der Skeptiker mitunter auch in „ausgelassener Schwrmerei“ Erholung gçnnen (N 1880/81, KSA 9, 10[F101]). Welcher Form von Skeptizismus Nietzsche sich in seiner mittleren Schaffensphase verschreibt, legt eine Notiz von 1880 offen: „Skepticismus! Ja, aber ein Scepticism us der Experimente ! nicht die Trgheit der Verzweiflung“13. Wenn in einer Notiz zum dritten Teil des Zarathustra „Skepsis als Versuchung“ gilt (N 1883, KSA 10, 16[83]), wird in der unmittelbar folgenden Notiz das Leben selbst als „Versuch“verstanden; „das Glck“ liege „im Errathen oder Versuchen (Scepsis)“ (N 1883, KSA 10, 16[84]): Skepsis als realisierte Eudaimonie! Die Feststellung, dass die Dinge unerkennbar seien, hat nach einer Aufzeichnung vom Winter 1882/83 eine therapeutische Komponente, die auch fr den antiken Skeptizismus wesentlich war: „Verzweiflung durch Skepsis beseitigt“, wodurch sich das sprechende Ich „das Recht“ erworben habe, „zu schaffen“ (KSA 10, 6[1]). Diese berlegungen kulminieren in FW 51: „Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche 11 An Heinrich Romundt, 15. April 1876, KSB 5, 153. 12 N 1880, KSA 9, 3[19]; vgl. auch KSA 9, 7[78]. 13 N 1880, KSA 9, 6[356]; vgl. KSA 9, 6[442].
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mir erlaubt ist zu antworten: ,Versuchen wir‘s!‘“ Gegen „skeptische[.] Beliebigkeit“will sich Nietzsche dennoch wappnen; die neu erworbene Freiheit „von der Tyrannei der ,ewigen‘ Begriffe“ solle dazu bringen, „die Begriffe als Versuche zu betrachten, mit Hlfe deren bestimmte Arten von Menschen gezchtet“ werden kçnnen (N 1885, KSA 11, 35[36]). Dies wird wohl insbesondere von Nietzsches eigenen neuen Begriffen „Wille zur Macht“ und „Ewige Wiederkunft des Gleichen“ gelten. Nietzsches experimentelle Skepsis luft auf „das Vermçgen“ hinaus, „sein Fr und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhngen: so dass man sich gerade die Verschiedenhei t der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen fr die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss“ (GM III 12). Die experimentell radikalisierte Skepsis zieht etwa die Konsequenz nach sich, die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich aufzugeben, weil noch diese Unterscheidung ein Wissen suggeriert, das wir nicht haben kçnnen (N 1886/87, KSA 12, 6[23]). Der „perspektivische Charakter des Daseins“ sei unaufhebbar, ebensowenig sei die Mçglichkeit abzuweisen, dass die Welt „unendliche Interpretationen in sich schliesst“ (FW 374). Dies bedeutet zwar nicht die Leugnung von Erkenntnis berhaupt, aber doch die unhintergehbare Perspektivitt und Situativitt aller Erkenntnis. Wenn man Nietzsches experimentelle Skepsis ernst nimmt, wird man auch das scheinbar dogmatische Sptwerk, insbesondere den Antichrist als Ausdruck einer skeptischen Strategie lesen, nmlich bestimmte Interpretationen gegen andere durchzusetzen. In AC 54 wird dieses Verfahren ausdrcklich reflektiert. Zweifellos hat sich die experimentelle Skepsis des spten Nietzsche weit von der pyrrhoneischen Doktrin der Urteilsenthaltung entfernt.14 Nietzsches Texte aus den letzten Schaffensjahren setzen gerade durch unentwegtes Urteilen skeptische Neutralisierungen ins Werk, die sich dann ergeben, wenn man die Urteile mit den befehdeten Urteilstypen (z. B. den christlichen) kontrastiert. Wenn Skepsis Wahrheit bezweifelt, steht sie naturgemß mit Religion als einer Institution gesellschaftlicher Wahrheitsverwaltung auf gespanntem Fuß. Gerade eine skeptische Einsicht ist es, die Gott, zumal den christlichen Gott, eliminiert hat. Als „erkenntnisstheoretische Skepsis“ sei die „neuere Philosophie“ „antichristlich“, wiewohl „keineswegs antireligiçs“ (JGB 54). Als Reprsentanten einer achtenswerten Skepsis erscheinen nicht Fachphilosophen, sondern beispielsweise Politiker wie Friedrich der Große (JGB 209) oder Pilatus (AC 46), der im Antichrist die geheime Gegenfigur zu 14 R. Bett, Nietzsche on the Skeptics and Nietzsche as Skeptic, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 82, 2000, S. 62 – 86, hier S. 81.
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Paulus und zu Jesus darstellt. Jesus hnelt in der antichristlichen „Psychologie des Erlçsers“ (AC 28) brigens nicht nur Epikur (AC 30), sondern durchaus auch Pyrrhon, wie er im Nachlass 1888 im Anschluss an Victor Brochards Les sceptiques grecs geschildert und in nahe Beziehung zu Epikur gebracht wird (KSA 13, 14[99], S. 276 – 278). Jesus und Pyrrhon gebrden sich auf ihrem Heimatboden als Buddha (Jesus: AC 32; Pyrrhon: KSA 13, 14[162]); beide geben um ihres Glckes willen „alle[.] Grenzen und Distanzen im Gefhl“ (AC 30) ebenso auf wie alles Urteilen und Verneinen. In beiden Fllen fhrt Nietzsche das auf spezifische, durchaus krankhafte physiologische Bedingungen zurck; seine eigene experimentelle Skepsis des Verneinens und Urteilens hebt sich in den Sptschriften umso schrfer von diesen Modellen ab. Fr alle drei gilt indessen, was Nietzsche bei Brochard ber Pyrrhon lesen konnte: „Le scepticisme n‘est pas pour lui une fin; c‘est un moyen; il le traverse sans s‘y arrÞter.“15 Skepsis bleibt fr Nietzsche beileibe keine erkenntnistheoretische bung. Das moralgenealogische Konzept ist zutiefst von skeptischen Voraussetzungen geprgt,16 wobei im Gegenzug die Moral an den Skeptikern Anstoß nimmt (MA II VM 71). „Skepsis an der Moral“ gilt Nietzsche als entscheidende Entstehungsbedingung des Nihilismus (N 1885/86, KSA 12, 2[126]). Andernorts rckt ins Blickfeld, dass die moralischen Skeptiker gut beraten wren, ihr „Misstrauen gegen die Moral“ selbst wiederum misstrauischer Skepsis zu unterwerfen (N 1882, KSA 10, 3[1]120, S. 67 f.), denn die Skeptiker, die die Moral zur Disposition stellen, vergßen zu leicht, „wie viel moralische Werthschtzung sie in ihrer Skepsis tragen“ (N 1885, KSA 11, 34[193]). „Scepsis der Moral“ kçnnte gar ein „Widerspruch“ sein, denn sobald der Skeptiker nicht mehr an die Wahrheit glaubt, entfalle der Grund seines Zweifels, außer „der Wi lle zum Wissen“ habe „noch eine ganz andere Wurzel […] als die Wahrhaf tigkeit“ (N 1885, KSA 11, 35[5]). Folgerichtig mutmaßt Nietzsche 1885/86, keine Skepsis sei „ohne Hintergedanken“entstanden – und dieser Hintergedanke sei bislang stets ein moralischer gewesen (N 1885/86, KSA 12, 2[161]). Die Auseinandersetzung mit den antiken Skeptikern 1888 kommt zu keinen grundlegend anderen Ergebnissen: Auch bei ihnen sei die Moral oberster Werth gewesen.17 Die Pyrrhoneer unterwerfen nach Nietzsche sogar ihre Epoch dem „Herdeninstinkt“, „leben wie der ,gemeine Mann‘“ (N 1888, KSA 13, 14[107]). Gerade gegen solche Unterordnung hegt die neue, experimentelle 15 V. Brochard, Les sceptiques grecs [1887]. Zweite Aufl., Paris 1932, S. 75. 16 Vgl. z. B. N 1880, KSA 9, 4[37]; GM, Vorrede 5. 17 N 1888, KSA 13, 14[135] und 14[137].
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Skepsis die entschiedenste Abneigung: Sie will Differenzen schaffen statt abbauen. Im „Sieg der Skepsis“ gegen die „Moral als Vorurtheil“ liegt so womçglich „ein morgenrçthliches Glck“ verborgen (N 1886/87, KSA 12, 5[28]). Das findet sich freilich nur in mhsamer Arbeit: „Man soll das Reich der Moralitt Schritt fr Schritt verkleinern und eingrenzen“ (N 1887, KSA 12, 10[45]). So wie die moralische Skepsis eine entscheidende Entstehungsbedingung des Nihilismus ist, gehçrt sie auch zu Nietzsches sptem Projekt einer Umwertung aller Werte, die er schließlich im Antichrist vollzogen zu haben glaubte. Diese Umwertung hat die Entwertung aller bisherigen Werte und damit den Nihilismus zur Voraussetzung.18 Freilich kann die Umwertung, wenn sie nicht bloß eine neue Form von Heteronomie herbeifhren will, unmçglich auf einen Kanon neuer Werte herauslaufen, denen die Individuen genauso zu gehorchen htten wie den alten. Dann wre die Freiheit zum Werteschaffen, die Nietzsche den starken Individuen gerade eingerumt wissen will, erneut unterbunden. Umwertung aller Werte – und insofern ist Der Antichrist tatschlich die vollzogene Umwertung – besteht genau darin, diese Freirume zur Selbst- und Weltgestaltung zu schaffen, indem alle bisherigen Wertgegenstze durch Diaphonien neutralisiert werden. Dies wiederum zwingt jeden einzelnen in seiner Lebens- und Weltgestaltung, statt sich wie die Pyrrhoneer ins Hergebrachte einzuordnen, unhintergehbar eigene, unhintergehbar situative und unhintergehbar perspektivische Entscheidungen zu treffen. Die „Ephexis“ in AC 52 ist ein philologisches Prinzip,19 keine Perspektiven zu verabsolutieren, aber keine pyrrhoneische Suspension der eigenen Entscheidung: Die Epoch wird in Nietzsches experimenteller Skepsis suspendiert.20 Insofern sind am Ende die Philosophen sowohl Skeptiker wie „Befehlende und Gesetzgeber“ (JGB 211), die sagen, wie es fr sie sein soll. Die Grenzen zwischen Skepsis und Nihilismus sind hufig fließend. Im Frhwerk, als Nietzsche die Nihilismus-Formel noch nicht zur Verfgung stand, werden unter der Rubrik „Skepsis“ gelegentlich Phnomene subsumiert, die spter als nihilistisch gelten (z. B. HL 8). Skeptische Anklnge sind spter sowohl bei Bezugnahmen auf einen Nihilismus unberhçrbar, von 18 Vgl. L. P. Thiele, Friedrich Nietzsche and the Politics of the Soul. A Study of Heroic Individualism, Princeton NJ 1990, S. 79. 19 Vgl. C. Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin / New York 2005. 20 Vgl. D. Obstoj, Skepsis bei Nietzsche, Diss. phil. Universitt Hannover 1985.
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dem sich Nietzsche entschieden abwendet,21 wie bei Bezugnahmen auf einen Nihilismus, den Nietzsche scheinbar fr sich reklamiert.22 Die „extremste Form des Nihilism“, die nach einer weiteren Nachlassnotiz „eine gçttliche Denkweise“ sein kçnnte (1887, KSA 12, 9[41]), kommt in ihrer Strategie, smtliche Formen des Frwahrhaltens zu neutralisieren, mit der antichristlichen Skepsis zur Konvergenz. Whrend der Nihilismus wie der Skeptizismus als historische Erscheinungen auf der dcadence grnden und Symptome niedergehenden Lebens darstellen, sind extremer Nihilismus und experimentelle Skepsis zwei verschiedene Namen fr jene Strategie, die Nietzsche in seinen letzten Schaffensjahren einschlgt, um eine Umwertung aller Werte zu vollziehen. Im Verhltnis zu dieser Umwertung erscheinen die vermeintlichen ,Hauptlehren‘ „Wille zur Macht“ und „Ewige Wiederkunft des Gleichen“ nurmehr als Mittel, nicht als Zwecke. Extremer Nihilismus und experimentelle Skepsis sind Praktiken radikaler Distanznahme zu allem bisher Geglaubten und Gltigen; die Unfhigkeit zur Distanz, die die historischen Formen von Nihilismus und Skepsis kennzeichnen, sollen hier berwunden werden. Die geschichtsphilosophische Nihilismus-Diagnose ist dann keine Nietzschesche Glaubenslehre, keine starke Proposition einer verkappten Metaphysik, sondern selbst ein Strategem jener Skepsis, die zur Macht will, und zwar zugunsten individuell verantworteter Wert- und Welterschaffung. Zusammengefasst: Die dem „tollen Menschen“ in den Mund gelegte Gottestod-Diagnose ist ein Symptom, das Nietzsche einer umfassenden Kulturdiagnose zugrunde legt. Diese Kulturdiagnose firmiert unter dem Namen „Nihilismus“. Was Nietzsche im Sptwerk als Skepsis, zumal als experimentelle Skepsis fasst, ist demgegenber keine Diagnose, sondern eine Therapie. Freilich nur eine mçgliche unter anderen Therapien.
21 Zum Beispiel GM III 24; N 1888, KSA 13, 14[74]. 22 N 1888, KSA 13, 14[24]; N 1888, KSA 13, 17[3]3.
Gottestod – Nihilismus – Melancholie. Nietzsches Denkweg als Diagnose und Therapie des Nihilismus Edith Dsing 1. Nietzsches hypothetischer Atheismus und Skizze seiner Wissenschaftskritik 1.1 Atheismus als Notwehrhandlung im Scheitern an der Theodizee Der sachliche Gehalt in Nietzsches Formel vom ,Tod Gottes‘ ist nicht bloß, mit Heidegger, von jedem vulgren Atheismus abzurcken, sondern von der Position eines dogmatischen Atheismus berhaupt. So ist es sinnvoll, von Nietzsches u. a. naturwissenschaftlich inspiriertem methodischen Atheismus zu sprechen. Er favorisiert auf freigeistige Art einen Sieg des neuzeitlichen Atheismus, wobei er als guter Kantianer erkenntnistheoretisch um die Unbeweisbarkeit der Nichtexistenz Gottes weiß. Den raschen „Sieg des wissenschaftlichen Atheismus“ als gesamteuropisches Ereignis bringt Nietzsche in direkte Korrelation zum „Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott“ (FW 357), den er dramatisch in das Wort vom ,Tode Gottes‘ fasst. Als dessen unausweichliche Folgelast diagnostiziert er den Nihilismus. In der ihm typisch eigenen Magie des Extrems bestimmt er den Nihilismus als radikalen Umschlag vom Glauben ,Gott ist die Wahrheit‘ in die Meinung ,Alles ist falsch‘ oder,Alles ist nichts‘. Es ist, als sei eine altbekannte „Sonne untergegangen“, Platons Vernunftglaube an das agathon, „ein altes tiefes Vertrauen“ in „Zweifel umgedreht“ (FW 343). Hegel und Nietzsche verhalten sich zueinander, so Eugen Fink prgnant vereinfachend, wie ein „alles-begreifendes Ja“ zu einem „alles-bestreitenden Nein“ dem Seienden im Ganzen gegenber.1 Hegel war es nicht beschieden, fr die evangelische Kirche das zu werden, was Thomas von Aquin fr die katholische geworden ist.2 In Nietzsches Augen ist Hegel zu attestieren, er sei 1 2
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, 3. Aufl., Stuttgart 1973, S. 7. Die Frage von Karl Barth; vgl. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 3. Aufl., Zrich 1960, Bd. 1, S. 320.
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ein „Verzçgerer par excellence“ (FW 357) des neuzeitlichen Atheismus, da Hegel in grandiosem enzyklopdischem Durchblick das unendliche Vertrauen in die gçttliche Vernunft und Vorsehung in der Geschichte verteidigt hat. Nietzsche spannt geschichtsphilosophisch einen weiten Bogen: Auf Hegels „gotische Himmelstrmerei“ durch die Zentralstellung einer Vernunft, der die Wahrheit in ihrer ganzen, auf das Absolute, auf Gott hin, transparenten Totalitt zugnglich ist, erfolgt als Gegenschlag ein „Sieg der antiteleologischen mechanistischen Denkweise als regulativer Hypothese“ (N 1884, KSA 11, 26[386]), wie er als Pr-Popperianer wohlabgewogen erklrt und auf den Sieg der Darwinisten zielt. Im Einklang mit Kants Kritik der Physiokratie aber bezeichnet er zugleich den Physikalismus als die sinnrmste aller Weltinterpretationen; eine bloß „mechanische Welt wre eine essentiell sinnlose Welt!“ (FW 373) Das methodische Ja und zugleich ethische Nein zum Mechanismus zeigt die Spannweite von Nietzsches Denken auf. Bis heute gilt Nietzsche als einer der entschiedensten Propagandisten des modernen Atheismus. Dabei hat schon Karl Barth in der Kirchlichen Dogmatik 3 Nietzsches Selbstdeutung unterstrichen, er kenne und vertrete den Atheismus weder als Ergebnis noch als Ereignis, woraus er zurecht entnimmt, dass Nietzsches eigentliches Interesse nicht an Argumenten fr die Bestreitung des Daseins Gottes hing, wohl aber an solchen der Bestreitung einer moralischen Weltordnung und der Mçglichkeit eines reinen guten Willens. Die Gottesfrage hngt fr Nietzsche eng mit seiner naturphilosophischen Sicht und der Theodizeefrage zusammen. Im entwicklungsgeschichtlichen Rckgang von Nietzsches Denkweg wird berraschend klar, dass F. A. Langes im Anschluss an Darwin vollzogene Verabschiedung einer teleologisch verfassten Natur, die den jungen Nietzsche als unbezwingliche Evidenz berkam, sein Glocken-Grabes-Gelut auf den ,Tod‘ Gottes wesentlich mit eingelutet hat.4 Die Methode der Natur nmlich ist fr den 3
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Barth: Kirchliche Dogmatik III/2: Die Lehre von der Schçpfung, 2. Teil, 2. Auflage, Zrich 1959, S. 284 f. Die Ecce-Homo-Stelle (EH, Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 278 f.), auf die Barth anspielt, vertritt wohl einen Atheismus „aus Instinkt“, in der argumentativen Pointe jedoch aufgrund einer Anti-Theodizee. Die einzige Entschuldigung Gottes sei, dass er nicht existiere (ebd., S. 286). Verrterisch ist die sarkastische Abwandlung des Jahwe-Wortes nach der Weltschçpfung (Gen 1, 31): „Er [Gott] hatte Alles zu schçn gemacht…“. Siehe dazu E. Dsing, Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, 2. Aufl., Mnchen 2007, S. 201 – 261, S. 379 – 400, S. 453 – 459. Nietzsche hegte den Plan einer philosophischen Dissertation ber die Teleologie der Natur von Kant bis Darwin; und er hat aufschlussreiche Vorarbeiten dazu skizziert (s. ebd.,
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22jhrigen Nietzsche, wie er im Anschluss an seine Lektre von F. A. Langes Geschichte des Materialismus ebenso lakonisch wie eindrcklich notiert, eine „sinnlose Methode“ zuflliger Auswahl, die nichts von gçttlicher Gte und Weisheit verrt. In hochsensibler Intuition, nicht um Spteres zurckzuprojizieren, lsst sich in dieser als sinnlos apostrophierten Methode schon Nietzsches Anti-Theodizee und Nihilismusprognose embryonal angelegt finden. Fr Nietzsche wird durch seinen neuen darwinischen Blick in die grausame Methode der Natur, hçheres Leben durch millionenfaches Sterben von ,Untauglichen‘ zu erwirken, der Schçpfergott in religionsphilosophischer Hinsicht dmonisiert zum deus absconditus. In Nietzsches frh angebahnter Vorstellung, der Mensch sei in Wahrheit nur ohnmchtiger Spielball gnadenloser Welttendenzen, liegt nun der Koinzidenzpunkt von darwinistischem Zufallsgedanken und dem archaisch-heidnischen Gedanken einer furchtbaren Treulosigkeit Gottes. Die Seele findet sich im Schatten des finster drohenden deus absconditus wieder, der in der antiken Religion ananke, naturphilosophisch Zufall heißt. Der im Vergleich zum christlichen fremd und unheimlich gewordene verborgene Gott gewinnt fr Nietzsche dmonische Zge, weil er als der mçgliche Initiator, ja Promotor des grausigen Lebenskampfes gemß dem Darwinschen Selektionsprozess in Frage kommen muss. Walten aber im Urgrund des Seins ,Urdummheit‘: die zufllige ziellose Variation der Art, und ,Urbrutalitt‘: die erbarmungslose Auslese durch survival of the fittest, so muss auch der Mensch in sich selbst jene Abgrnde an sinnarmer Willkr und Grausamkeit entdecken, wenn er sie nicht verdrngt. Einen erschtternden Ausdruck verleiht Nietzsche dem wachen Sichsuchen der Seele, das zu einem zerstçrerischen Sich-selbst-Verlieren wird, im Dithyrambus Zwischen Raubvçgeln. Die noch lebende Seele sieht sich hier bereits von ihren Kadaverjgern umlauert. Innere wie ußere Realitt, das ,Ganze‘des Seins, wird vom zerbrochenen Spiegel Ich dysteleologisch als Chaos und Abgrund der Angst wahrgenommen. In Nietzsches geschichtsphilosophischer berschau hat sich die Tugend der Wahrhaftigkeit auf der Basis einer „Beichtvter-Feinheit“ des Gewissens herausgebildet, das in der Neuzeit zum wissenschaftlichen Gewissen bzw. zur intellektuellen Redlichkeit um jeden Preis „sublimiert“ ist (FW 357). In der Genealogie der Moral stellt Nietzsche die resmierende Frage: Was hat eigentlich ber den christlichen Gott gesiegt? Und er antwortet mit Hinweis auf die genannte Ausfhrung: Aufgrund der im christlichen Gewissen imS. 208 – 221). – Fr die thesenhafte Verdichtung mancher Ausfhrungen ohne detaillierte Nachweise im vorliegenden Beitrag bitte ich um Verstndnis.
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mer strenger genommenen Wahrhaftigkeit5 verbiete sich am Ende jede „Lge im Glauben an Gott“. Deshalb kçnne die Natur nicht mehr so angesehen werden, als ob sie ein Beweis der Gte und Obhut eines Gottes sei, die Weltgeschichte nicht mehr „interpretiert“ werden zu Ehren einer gçttlichen Vernunft oder als das „Zeugnis einer sittlichen Weltordnung“6, und kçnnen schließlich persçnliche Erlebnisse nicht mehr so ausgelegt werden, „wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fgung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zuliebe ausgedacht und geschickt sei“. Dass dies alles nunmehr endgltig vorbei sei, nennt Nietzsche mit eindrcklichem Pathos – im Horizont der von ihm geplanten „Geschichte des europischen Nihilismus“ – die „Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjhrigen Zucht zur Wahrheit“, die einen unbedingt „redlichen Atheismus“ miteinschließe. Dieser Atheismus stehe nicht im Gegensatz zu jenem christlichen Ideal, sondern sei nur dessen letzte Entwicklungsphase in Gestalt seiner fatalen Selbstaufhebung (GM III 27). Das Ehrfurcht Erweckende betrifft dabei die grçßten ,Dinge‘, die gemß Nietzsches tragischer Sicht durch ihre eigene innere Konsequenz zugrunde gehen, und zwar in einer Geschichte der Selbstbewusstwerdung des reinen Willens zur Wahrheit, der als „unbewusster Imperativ“ den ursprnglich christlichen und platonischen metaphysischen Glauben an den Wert der Wahrheit: „Gott ist die Wahrheit“ geschichtsmchtig weiter zur Wirkung bringt (GM III 24). Er hebt im ,Lgenverbot‘ auf ein nicht pneumatisches, sondern streng wissenschaftliches Naturverstndnis ab (MA 8) und – auf Strauß‘ Glaubenslehre anspielend, wonach die Kritik des Dogmas seine eigene Geschichte sei – auf das historistische Zugrundegehen des Christentums als Dogma. Dem folge als zuknftiges Schauspiel Europas das Zugrundegehen des Christentums als Moral (GM III 27). „Darin, daß die Welt ein gçttliches Spiel sei und jenseits von Gut und Bçse – habe ich“, so erklrt Nietzsche im Jahre 1884, „die Vedantaphilosophie und Heraklit zum Vorgnger“. Das „Teufelische“, der Wille zur Grausamkeit, „gehçrt wie das Gçttliche zum Lebendigen und seiner Existenz“7. Moralkritik, wonach das Unegoistische gar nicht mçglich ist und ,gut‘ und ,bçse‘ keine Gegenstze sind, negative Theodizee, wonach 5 6
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Zur Wahrhaftigkeit bzw. intellektuellen Redlichkeit als Kardinaltugend s. auch FW 344. In Ecce Homo wird in einer Art empirischer Intuition die ganze Geschichte der Menschheit (sowie die Genese der Natur) eine „Experimental-Widerlegung“ der Annahme einer sittlichen Weltordnung genannt (EH, Warum ich ein Schicksal bin 3, KSA 6, S. 367). N 1884, KSA 11, 26[193] und N 1884, KSA 11, 26[290].
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„Gott widerlegt“ ist, weil alles Geschehen als ohne Gte erscheint (N 1884, KSA 11, 25[309]), und die grausame Beschaffenheit der Erhaltungsbedingungen des Lebendigen bilden fr Nietzsche einen großen Problemkontext. „Die Widerleg ung Gottes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt.“8 – in dieser kryptischen Eintragung von 1885 verdichtet sich die Theodizeefrage; nicht ,widerlegt‘ ist hiernach also Gott in seiner transzendenten Gçttlichkeit. Ja, nicht einmal die Behauptung Feuerbachs, der Gottesgedanke entspringe einer Selbst- und Wunschprojektion des Menschen, kann fr Nietzsche einen Einwand gegen den Ernst der Gottesfrage ausmachen. Dass es einen Gott gibt, darf man aus dem Umstand, dass er erfunden werden kann, nicht ableiten. Aber aus Gottes Erfindbarkeit durch Menschenphantasie folgt ebenso wenig Gottes Nichtsein – hierber war der atmosphrische Neukantianer Nietzsche sich ebenso sehr im Klaren. 1.2 Wissenschaft als berwindung der Angst vor dem Chaos Bilden fr den frhen Nietzsche Religion und Kunst die Mchte, die das gefhrliche Chaos bzw. das Chaotische zu organisieren, das heißt ihm den Bedrohungscharakter zu nehmen vermçgen, wobei die Religion Liebe zum Menschen, die Kunst Liebe zum Dasein verleiht (N 1873, KSA 7, 29[192]), so bleibt ab der mittleren Periode, sieht man von Zarathustras Visionen ab, nur der philosophisch-wissenschaftliche Versuch, das Chaos zu ,logisieren‘ (N 1887, KSA 12, 9[106]). Zugleich wird ein solcher Ordnungsversuch mit Hilfe logischer Schemata durchleuchtet als die Angst des Menschen vor dem Ungewissen, Vieldeutigen und Verwandlungsfhigen, die dessen Gegensatz, nmlich das Einfache, Sichgleichbleibende, Berechenbare, Gewisse zu Ehren gebracht hat (N 1885, KSA 11, 40[1]). Da Nietzsche von seinem ersten Werk an einen Illusionen bildenden Trieb im Menschen als sehr wirksam einschtzt, ergibt sich bei der Frage nach der Wahrheit die Konstellation, dass der Mensch – um keiner Tuschung zu verfallen – bedrckende Einsichten tendenziell als wahr, beglckende jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit als falsch einzustufen geneigt ist. Des Nheren erklrt Nietzsche gern vermeintlich positive Entdeckungen, mithin solche, die der an sich im Chaos verlorenen Seele wohltun, in ontologischer Hinsicht fr Schein, in erkenntnistheoretischer fr fiktional. In ihrer Eigenart, dem Menschen zum Glauben an das Leben zu verhelfen, stellt der sptere Nietzsche „die Wissenschaft“ auf eine und dieselbe 8
N 1885, KSA 11, 39[13]; vgl. JGB 37.
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Stufe mit Metaphysik, Religion und Moral. „,Das Leben soll Vertrauen einflçßen‘: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer.“ Denn um sie zu lçsen, muss der Charakter des Daseins, den Nietzsche ethisch-ontologisch als grausam, sinnlos, sinnwidrig konzipiert, berspielt werden. Den Satz: ,Alles hat keinen Sinn‘ bestimmt Nietzsche als eine echt „melancholische Sentenz“ (N 1886/1887, KSA 12, 7[1]). „Daß der Charakter des Daseins verkannt wird – tiefste und hçchste Geheim-Absicht der Wissenschaft, Frçmmigkeit, Knstlerschaft.“ So sind fr ihn die sprachlichen Kodierungen ,Liebe‘, ,Begeisterung‘, ,Gott‘ „lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verfhrungen zum Leben!“9 Die Wissenschaft fungiert fr Nietzsche als Fluchthelferin vor der Einsicht in das nicht vertrauenswrdige Leben. „Alles ist das Ich“ (N 1882/1883, KSA 10, 4[172]) – in diesem Schlsselsatz, dessen Wortlaut und Sinn starke Fichte-Reminiszenzen verrt, ist Nietzsches empirischer Idealismus konzentriert ausgesprochen. Im Aphorismus Wahn der Kontemplativen (FW 301) bindet Nietzsche alles nur mçgliche Denken und Empfinden von Erscheinungen der Welt kritisch an das, was fr ihn bloß Phantasmata sind, und zugleich die Intensitt des Menschlichen an die Flle dessen, was ein Wesen als der „eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens“ denkend-empfindend aus etwas, das bislang noch nicht gewesen ist, schçpferisch macht. „Die ganze ewig wachsende Welt von Schtzungen, Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen“ – alles, was berhaupt fr Menschen Wert erlangt, hat diesen Wert nicht an sich oder von Natur aus, sondern kraft spontaner Attribution. „Wir erst haben die Welt, die den Menschen etwas angeht, geschaffen!“ Im Nachlass stellt Nietzsche es, Feuerbachs Religionskritik nahe, als seine Aufgabe hin, die religiçse Poesie der Urmenschheit, wie es mit Herder-Anklang heißt, „alle die Schçnheit und Erhabenheit“, die wir den von uns eingebildeten Dingen bloß geliehen haben, als Eigentum und Erzeugnis des Menschen zurckzufordern. Welche ,Selbstlosigkeit‘ des Menschen ist es, dass er „bewundert und anbetet und nicht weiß und wissen will, daß er schuf“ – indem er in zunchst vage und unbestimmte Dinge „etwas hineinsah“, was er bewundert.10 Nietzsche verbindet seine empirisch-idealistische Sicht auf die schçpferische Verfasstheit des Ich mit einem Primat der produktiv vorstellenden Sinnlichkeit, ja Leiblichkeit vor dem Verstand und einem Primat der Praxis vor der Theorie. Das Gewichtigste in der Sachhaltigkeit alles Empfundenen, Er9 N 1887/1888, KSA 13, 11[415] und N 1887/1888, KSA 13, 17[3]. 10 N 1881, KSA 9, 12[34]; vgl. N 1887/1888, KSA 13, 11[187].
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dachten, handelnd Erprobten ist dessen Wertgehalt, der allerdings subjektives Phantasie-Erzeugnis ist. Als hçchsten, im Grunde praktischen oder pragmatischen Wert des phantasierenden oder produktiven Denkens bzw. der dichtenden Vernunft (M 119) bestimmt Nietzsche das Ausdenken von Mçglichkeiten, die zur Ergrndung des wirklichen Seins beizutragen vermçgen, hnlich wie es fr blinde Tiere Versuchsstationen des berlebens sind, wenn sie auf der Suche nach Essbarem fortwhrend um sich greifen und zuflligerweise tatschlich etwas finden (N 1880/1881, KSA 9, 10[D85]). Es ist kaum anzunehmen, dass Nietzsche nhere Kenntnis von Fichtes frher Wissenschaftslehre besaß, doch kommt die Schilderung einer aktiv Wahrnehmungen ausdichtenden Phantasie, die nicht leidend Perzeptionen aufnimmt, Fichtes Ich erstaunlich nahe, das wesentlich schçpferische Einbildungskraft unter den Bedingungen eines Anstoßes ist, den sie den Dingen zuschreibt. Poetisch erklrt Nietzsche: „Die Di nge rhren unsere Saiten an, wir aber machen die Melodie daraus.“ (N 1880, KSA 9, 6[440]) Allerdings ist eine solche konstruktive Phantasie fr Nietzsche keine Objektivitt stiftende und Wahrheit gewhrende Vernunftinstanz wie fr Fichte, sondern eine „grçbere und ungereinigte Vernunft“, eine „wilde und malerische Art der Vernunft“, die leicht versucht ist, Scheinerkenntnisse und ,plçtzliche Erleuchtungen‘ mit dem Lichte der Wahrheit zu verwechseln (N 1880, KSA 9, 3[129]). Unsere Außenwelt, wie das Auge sie in Handhabung zahlloser Formen vergegenwrtigt, beruht nicht auf Sinneneindruck, sondern auf PhantasieErzeugnis, ist durch aktiv hingeworfene, der Phantasie entspringende Mçglichkeiten wesentlich Phantasie-Produkt. Auch Guthçren und Verstehen, deren Mçglichkeit Nietzsche hier entgegen seiner prinzipiellen Erkenntnisskepsis einmal positiv annimmt, sind ein fortwhrendes Erraten und Ausfllen, ein erstaunlich schnelles phantasierendes Sich-Annhern an das wenige authentisch Vernommene (N 1881, KSA 9, 11[13]). Schçpfertum verbindet sich mit leutselig wohlwollender Skepsis, die jedoch von dsteren Strçmungen unterwandert ist. Bedeutet fr Fichte die schçpferische Einbildungskraft das mutvoll Welt konstruierende Grundvermçgen der Vernunft, die als praktische Vernunft an eine moralische Weltordnung glaubt, so bestreitet Nietzsches These: „Die Angst wohnt im Innersten der menschlichen Phantasie“ (N 1876, KSA 8, 19[108]) sowohl das Pathos der Wahrheit als auch den moralischen Glauben. In den Ordnungsfunktionen des Bewusstseins spielt sich eine seelençkonomisch gnstige Verharmlosung und Vereinfachung der grausamen Realitt ab, um das vom Ich verdrngte Chaos einzudmmen. Diese empirisch-idealistische Erkenntnisauffassung wird zuletzt in einem Volunta-
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rismus verankert und dieser wieder in der Evolutionstheorie, die eine „Entwicklung der Erkenntnisorgane“ insinuiert. ,Erkenntnis‘ als eine Konzeption der Realitt „arbeitet“ als Werkzeug der Triebe, durch deren Funktionstchtigkeit sich der Mensch als eine bestimmte Tierart erhlt und in seiner Macht wchst. An und fr sich aber gibt es weder ,Geist‘ noch ,Vernunft‘ noch ,Denken‘ als eigene Entitt. Der Sinn des Erkennens sei streng anthropozentrisch und biologisch; der Nutzen der Erhaltung „steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnisorgane“ (N 1888, KSA 13, 14[122]). Nietzsche ist Pionier im Entwerfen einer evolutionren Erkenntnistheorie, wie sie heute beliebt ist. Aber er sieht schon deren unlçsbare Probleme, so etwa die Gefahr der zirkulren Fundierung von Denken und Wollen, da das Erkennen Funktion der Selbsterhaltung und diese Ziel des Erkennens ist! Fr Nietzsche gehçrt die Gefhrlichkeit des Willkrlichen bzw. Furcht vor dem Unberechenbaren zu den Impulsen der Gesetze suchenden Wissenschaft. Er erklrt, was dem Glauben an sie zum Sieg verholfen hat. Den Ursprung aller systematischen Konzepte erblickt er im Leiden an der Ungewissheit.11 Das fließend Unbestimmte muss przisierbar sein, es muss zurechtgemacht werden, um wiedererkennbar zu sein. Die in einer Art Datensensualismus von Nietzsche angenommene prinzipielle „Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneneindrucks wird gleichsam logisirt“ (N 1887, KSA 12, 9[106]). Das „Muster einer vollstndigen Fiktion“ bildet fr Nietzsche, der hierin an Lange anknpft, die Logik, die Nietzsche psychologistisch und denkçkonomisch auffasst. Vorzglich durch logische Schemata wird vom fingierenden Ich das vermutete tatschliche Geschehen im Denkvorgang „durch einen Simplifications-Apparat“ filtriert (N 1885, KSA 11, 34[249]). Als philosophische Alternative im Horizont Darwins kristallisiert Nietzsche die Frage heraus, ob die Welt, zum einen das Unbeseelte, zum andern das Lebendige, besser als Zufallsgemisch von Urelementen, als ein blindes Spiel des Werdens oder durch Teleologie erklrbar sei. Seiner Vorliebe fr Teleologie misstrauend, argumentiert Nietzsche fr und wider das eine und andere Deutungsmodell. Es geht um die Grnde und Gegengrnde, entweder naturalistisch ein anonymes Chaos oder theozentrisch Gott als letzten Seinsgrund anzunehmen. Grndet Natur in sich selbst, so ist die Seele nur deren Zufalls- oder Versuchsprodukt. Wenn Natur nicht, mit Hegel ausgedrckt, das Andere des Geistes selbst ist oder dessen wohlgeplantes, teleologisch geordnetes Produkt, sondern wie bei Demokrit ein ohne Vernunft 11 N 1886/1887, KSA 12, 5[10] und N 1886/1887, KSA 12, 5[17].
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oder Geist ,Zusammengeschtteltes‘ (vgl. N 1875, KSA 8, 6[21]), so erhebt sich nach Nietzsche in der Seele des Menschen die Angst, alles Seiende sei ohne Sinn und Ziel. Deshalb entwirft der Mensch grandiose Selbsttuschungen, um sein Dasein als von jeher beschlossen, gewollt und bejaht finden zu drfen. Er versucht, so Nietzsches Religionskritik, am intensivsten in der Religion, das Elend seines Zuflligseins im Weltall verzweifelt zu verleugnen. Nach dem ,Tode Gottes‘ avanciert der Zufall zur neuen Erklrungsinstanz fr das Unerklrliche bzw., damit der Zufall als Weltschçpfer ausrufbar sei, muss der ,Tod Gottes‘ eigens proklamiert werden.
2. Die vieldimensionale Bedeutung des ,Todes Gottes‘ bei Nietzsche Dass fr Nietzsche der Nihilismus als Folgelast aus dem Tode Gottes entspringt, ist unbestritten in der Nietzsche-Forschung. Der Tatsache, dass mitten im Umwertungsjubel des freien Geistes Nietzsches eine neue Art von Melancholie sich geltend macht, wird indessen seltener Beachtung geschenkt. So sei nun im zweiten Teil in einer synoptischen Verdichtung bedacht,12 wie Nietzsche den Tod Gottes bestimmt, im dritten seine Charakteristik des Nihilismus, im vierten Teil die beiden Komplexen innewohnende Melancholie, deren Nietzsche sich ideengeschichtlich als unabwendbar inne war. Das khne Wort vom ,Tode Gottes‘ kann mythologisch-heidnisch (z. B. Plutarch: Der große Pan ist tot), antichristlich wie beim spten Nietzsche oder originr christlich, nmlich trinittstheologisch aufgefasst werden, wenn, wie in der Kirchenlehre, Jesu Wesensgleichheit mit Gott angenommen wird (Tertullian, Luther). berraschend ist, dass bei Nietzsche diese dritte Bedeutung vorkommt, derart, dass sogar inmitten seiner polemisch antichristlich zugespitzten Proklamation des Gottestodes (FW 125) der ursprnglich christologische Sinn des Kreuzestodes Jesu durchklingt. Zunchst ist der motivische Ursprung der ,Tod-Gottes‘-Parole in Nietzsches Denkweg aufzuweisen, und Nietzsches Metaphysikkritik als Zuspitzung der Theodizeefrage zu ergrnden, sodann der ,tolle Mensch‘ als 12 Vgl. Dsing, Nietzsches Denkweg, wo das hier nur thesenhaft Formulierte im Zusammenhang entfaltet wird. Zur Tod-Gottes-Problematik s. ebd., S. 409 – 495; zum Nihilismus-Komplex ebd., S. 505 – 521, sowie Edith Dsing, Grundprobleme des Nihilismus. Von Jacobis Fichte-Kritik zu Heideggers Nietzsche-Rezeption, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch, 2007, Bd. 33, S. 177 – 226.
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der sich und andere ob der gemeinsamen Untat anzeigende Mçrder Gottes. Auf diese Weise kann die vielschichtige Semantik in Nietzsches Rede vom Gottestod rekonstruiert werden. 2.1 Nietzsches Anti-Theodizee und Ursachenbestimmung von Gottes Tod im Zarathustra Zu Gottes Gçttlichkeit gehçren fr Nietzsche die zentralen, aus der Tradition des christlichen Abendlandes stammenden Eigenschaften: Liebe, Gte, Gerechtigkeit, Weisheit, Allmacht, die als Prdikate des Welturhebers untereinander kompatibel sein mssen. Genau an dieser, von Leibniz erhobenen Konsistenzanforderung aber scheitert nach Nietzsches Weltansicht und Selbstdeutung der Gottesbegriff. Zarathustras Provokation: „Kçnntet ihr einen Gott denken ?“ (Za II, Auf den glckseligen Inseln, KSA 4, S. 109) wird implizit negativ beantwortet mit der Unvereinbarkeit maßgeblicher Eigenschaften. So ist auch die rtselhafte Eintragung Nietzsches zum zerfallenden Gottesbegriff deutbar: „Freude, berall die Immoralitt wieder zu entdecken“; „,Hunger‘ im Protoplasma“;„der Widersinn im Gottesbegriff: wir leugnen ,Gott‘ in Gott“, so spricht prototypisch „der praktische Nihilist“! (N 1888, KSA 13, 12[1], S. 210 f.) Nicht so sehr die Existenz Gottes scheint Nietzsche fraglich, sondern vorrangig seine Gte; das Herumschikanieren mit absurden Folgerungen aus der Prmisse, er sei gtig, mitleidsvoll bis an die surrealistische Grenze: Suizid – gleichsam die Selbstaufhebung des causa-sui-Seins Gottes –, und zwar aus ohnmchtigem Erbarmen fr seine Kreatur, liefert dafr starke Indizien. Die Gte-Hypothese fhrt Nietzsche experimentell ad absurdum. Indessen steigert er sich in den Verdacht, Gott sei ein grausamer Tyrann. Auf ein grauenerregendes Geheimnis, ber das offen zu reden ein Tabu brche, deutet Zarathustra in seinem Gesprch mit dem ausgedienten Papst hin: Gott sei ,todt‘; dem Papst, der ihn am meisten geliebt haben mag, ruft Zarathustra zu: „Laß ihn fahren, er ist dahin“! Nietzsche steigert seine Skepsis zum bitteren Mutmaßen, das sein ,Sohn‘ Zarathustra als eine intuitive Gewissheit bekrftigt: ,Du weißt […], wer er war […]‘ (Za IV, Ausser Dienst, KSA 4, S. 323).13 In einer Traumdichtung von Jean Paul, Die Ver13 Nietzsche fixiert den Gottesbegriff auf die Macht-Hypothese (s. N 1887, KSA 12, 10[90] und N 1887, KSA 12, 10[203]). Zu diesem amoralischen ,Gott‘ passt ,Dionysos‘ in Jenseits von Gut und Bçse, der – Heraklits Weltenkind nahe – autoerotisch die Welt nur als sthetisches Schauspiel fr sich erschuf. – Walter Kaufmann,
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nichtung, tritt, als eine ,Dekonstruktion‘ von Klopstocks Messias, im Zuge der Darstellung Gott an eben die Stelle, die bei Klopstock fr Satan vorgesehen war. Die Nicht-Existenz Gottes ist also schon fr einen Leser von Jean Paul nicht das Schlimmste, was ihm widerfahren kann.14 Gott ist hier fr Nietzsche offenbar nur noch als tremendum vorstellbar. Nietzsches Zarathustra suggeriert keine Theogonie, sondern eine fatale Alternative; er stellt vor ein schlimmes, auswegloses Entweder / Oder: Gott ist entweder a) das liebende Mitleid in Person und ohnmchtig, seiner Liebe nachhaltig Wirkung zu sichern – dem wird im Kapitel Von den Mitleidigen Ausdruck verliehen. Hier soll es der ,Teufel‘ sein, der dem staunenden Zarathustra erçffnet: „Auch Gott hat seine Hçlle: das ist seine Liebe zu den Menschen.“ Denn, wie es in patripassianischer Einkleidung heißt, „Gott ist tot; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben“ (Za IV, KSA 4, S. 294); und er warnt vor dem Mitleiden. Oder Gott ist b) der tyrannische Willkr-Herrscher, ein harter, rachschtiger „Zornschnauber“; in diesem Falle ist seine herausragendste Eigenschaft summa potestas, aber ohne Liebe, Gte, Gerechtigkeit, Weisheit; Gott ist „ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm“, wie Nietzsche polemisiert (Za II, Auf den glckseligen Inseln, KSA 4, S. 110). Ratsam ist durchweg, sich davor zu hten, bei Nietzsche monokausale Erklrungen finden zu wollen. In negativer Dialektik, so Karl Jaspers, erprobt er gern widerstreitende Erklrungsmodelle und hlt die Entscheidung in der Schwebe. In der einen Hypothesenreihe hebt Nietzsche ab auf die Dmonisierung Gottes zum deus malignus, mithin polemisch auf die mçgliche Realitt eines nicht gtigen Gottes. In der andern Hypothesenreihe skizziert er in khner Phantasie Linien einer philosophischen Theologie der Ohnmacht eines vielleicht gtigen Gottes, bis ins ußerste Extrem einer Verabsolutierung des patripassianischen Gedankens,15 Gott selbst sei auf Grund seines trinitariDer Glaube eines Ketzers, Mnchen 1964 sucht zu zeigen, dass „Agnostizismus“ oder „Atheismus“ unzulngliche Etikettierungen von Nietzsches Standpunkt sind. 14 Siehe G. Mller, Jean Pauls ,Rede des todten Christus vom Weltgebude herab, daß kein Gott sei‘, in: W. Jaeschke (Hg.), Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die gçttlichen Dinge (1799 – 1812), Hamburg 1994, S. 46. 15 A. von Harnack weist darauf hin, dass v. a. „modalistische Monarchianer“ – im Gefolge des Kampfes mit den Gnostikern und zum Zwecke der Wahrung des Monotheismus – den Erlçser Christus als den leibhaftigen Gott, den fleischgewordenen Vater selbst aufgefasst haben, der geboren wurde, gelitten hat und gestorben ist. Solche theopaschitische Einebnung der Trinitt erçffnet die Paradoxien, dass Christus, der ans Kreuz Genagelte und Auferstandene, zugleich Gott und Vater des Alls, gezeugt und ungezeugt, sterblich und unsterblich, der Gestorbene und der
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schen Einsseins mit Jesus „gestorben“ – dies jedoch nicht, wie im christlichen Bekenntnis: nur fr eine kurze Zeit, sondern ganz und gar unwiederbringlich. So spielt Nietzsche gedanklich alle Mçglichkeiten des Verhltnisses Gottes zu seiner verlorenen Schçpfung durch: von der dmonistisch bersteigerten Allmachtshypothese bis hin zur bersteigerten Ohnmachtshypothese. Letztere differenziert er in die surrealistische Variante eines verzweifelten Suizids oder in eine gçttlich-transzendente Passion des ,Vaters‘, der analog der Passion des Sohnes auf Grund seiner agape und Empathie selbst den Tod erleidet, und zwar im Alles durchschauenden Anblick a) seines sinnlos sich opfernden Sohnes, b) der sich machtvoll konstituierenden Kirche, die bald ihrem Ursprung der Nachfolge des ,Sohnes‘ entfremdet von dessen Liebe abgefallen ist, c) der Menschen in ihrer unaufhebbaren Hsslichkeit. Zum Zweck einer Lçsung der Theodizeefrage, deren gordischer Knoten die Inkompatibilitt wesentlicher Gottes-Attribute ausmacht, erprobt Nietzsche sonach zwei Varianten, die jeweils Gottes Existenz voraussetzen, seine Essenz jedoch in je extreme Modi abwandeln. Der grausame Gott ist zu verachten. Der liebende Gott, der essenziell agape (Mitleid) ist, muss in Anbetracht real existierender ,Teufeleien‘ in Natur- und Menschengeschichte ohnmchtig sein, seinem guten Wollen Wirksamkeit zu verleihen. Deshalb lautet Nietzsches ontologische, theologische, ethische, und psychologische Kardinalfrage: Wie weit reicht die Gte in das Wesen der Dinge hinab? In dieser Frage sind die konfligierenden Gottesvorstellungen als verborgener Sprengsatz enthalten. So denkt Nietzsche Gottes ,Tod‘ erstens quasi-christlich (D. Bonhoeffer nahe), in bersteigerung einer Theologie der Ohnmacht Gottes, und zweitens antichristlich in mehrfachem Sinne: a) Wenn Jesus Gottes (adoptierter) Sohn war, so vollbrachte er kein Heil; b) wenn Jesus nur Mensch war, so hat er aus Verzweiflung ber die menschliche Liebesarmut einen Gott erfinden mssen, der ganz Liebe ist, um sein grenzenlos liebendes Herz stillen zu kçnnen; c) Die Formel vom Gott am Kreuz, also der kerygmatische Christus, ist fr Nietzsche nur eine Erfindung des Paulus, die zum Sieg der Dcadence fhrt, die darauf pocht: Alles, was ohnmchtig-kaputt am Kreuz nicht Gestorbene sein muss (A. von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Darmstadt 1983, zuerst 1909, Bd. I, S. 734 ff., S. 743 ff., vgl. S. 717; Bd. II, S. 394 f., S. 404 f.). – Aufgrund religiçser Identifikation Christi mit Gott spricht Tertullian von der „Kreuzigung“, dem „Fleische“, ja vom „Tod Gottes“ (Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I, S. 206 f., Anm.).
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hngt, ist, wie Jesus, gçttlich.16 Paradox formuliert: Der Tod Gottes hat bei Nietzsche ebensowohl einen quasi-christlichen wie einen antichristlichen Sinn: Der annhernd christliche ist patripassianisch, der antichristliche besteht in der skeptischen Mutmaßung, das Projekt gçttlicher Liebe sei tragisch gescheitert: Wenn Jesus Gottes ,Sohn‘ war, so misslang ihm die Erlçsung, weil die Menschen ihn nicht verstehen oder ihm nicht glauben. Nietzsche sympathisiert mit F. Overbecks These zum finis christianismi, die besagt: Die Welt wollte sich nicht davon berzeugen lassen, dass Gott sie liebt. Im Zarathustra wird die Frage nach den Ursachen des ,Todes‘ Gottes erçrtert im Gesprch mit dem Papst. Dabei bricht mitten in der TheodizeeProblematik das ,Tod-Gottes‘-Motiv auf. „Und jngst hçrte ich ihn dies Wort sagen: ,Gott ist tot; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.‘“ Dies entlockt Zarathustra als innersten Gedanken dem Papste und befragt ihn: Ist es wahr, „daß ihn das Mitleiden erwrgte, – daß er es sah, wie der Mensch am Kreuze hing, und es nicht ertrug, daß die Liebe zum Menschen seine Hçlle und zuletzt sein Tod wurde?“ (Za IV, Ausser Dienst, KSA 4, S. 323) Gottvater stirbt empathisch mit dem Sohne, diesem ecce homo. Das soteriologische Moment der leidenden Menschenliebe Gottes ertçnt in Nietzsches Gedankenexkurs. Ein Sinnzusammenhang zwischen innertrinitarischer Liebe und gçttlicher Liebe zum Menschen wird angedacht; und aus der Perspektive des Bewusstseins Jesu wird das Thema gçttlichen Leidens intoniert. „Er [Jesus] liebte die Menschen, weil Gott sie liebt. Er wollte sie erlçsen, um Gott zu erlçsen. – Liebe zu den Menschen war“, so heißt es tiefsinnig, „das Kreuz, an welches er geschlagen wurde; er wollte Gott aus seiner Hçlle erlçsen: welche ist die Liebe Gottes zu den Menschen“ (N 1882/1883, KSA 10, 4[200]; vgl. Za IV, Ausser Dienst, KSA 4, S. 323). Der theopaschitische Streit der alten Kirche um die Leidens-(Un-) fhigkeit Gottes wird in experimentierender Phantasie fr die Patripassianer entschieden, die Gott Leiden zusprechen.17 16 Vgl. dazu Edith Dsing, Nietzsches antichristliches Paulusbild, in: COMMUNIO. Internationale Katholische Zeitschrift, Heft 3, 2009, S. 41 – 57, sowie Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist’. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000. Sommer nimmt Nietzsches Attentatsabsicht auf das Christentum sehr ernst, verneint den Pathologie-Verdacht, wiewohl verbalterroristische Suggestionen das frhere Redlichkeits- und Skepsis-Ideal Lgen strafe. 17 Fr K. Barth legt das Leiden Christi das ganze Wesen Gottes, nmlich das Herz des Vaters aus, der aus Liebe sein Teuerstes hingibt und, was dieser bis zum bitteren Ende erleidet, miterleidet: Was sind nun alle Leiden der Welt, z. B. Hiobs, „neben diesem Mitleiden Gottes selbst, das der Sinn des Geschehens von Getsemani und Golgota
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2.2 Mord und ,Tod Gottes‘ in der Parabel vom ,tollen Menschen‘ Der,Tod Gottes‘ ist die pathetische Formel vom Niedergang des christlichen Glaubens, die zugleich Nietzsches persçnliche Betroffenheit widerspiegelt. In Entwrfen zum Nihilismus skizziert Nietzsche, wie fr ihn ein ,Sterben‘ Gottes gleichbedeutend ist mit einer Aushçhlung der Glaubwrdigkeit seiner wesentlichen, in der christlichen Tradition formulierten Eigenschaften. „Das Christentum an seiner Moral zu Grunde gehend. ,Gott ist die Wahrheit‘, ,Gott ist die Liebe‘, ,der gerechte Gott‘ – Das grçßte Ereignis – ,Gott ist todt‘ – dumpf gefhlt“ (KSA 12, 129). Nietzsche erhebt solches dumpfe Fhlen zu rcksichtsloser Bewusstseinsklarheit. Die Negation18 – hochdramatisch: der Tod Gottes – steht in Zusammenhang damit, dass mit dem bisher geglaubten, erbarmungsvollen, guten christlichen Vatergott ein unmoralischer Welturheber unvereinbar ist, dessen durchgreifende Realitt Nietzsche – weit mehr als Gottes Nichtsein – glaubt frchten zu mssen. Wenn Gott nicht die Wahrheit oder nicht die Liebe oder nicht gerecht ist, dann gibt es diesen ehemals als Gott Geglaubten, Geliebten und Anerkannten nicht, dann existiert er – auf Grund furchtbarer neuer Entdeckungen ,nicht mehr‘ –, das heißt, der vormals als so lebendig erfahrene Gott ist ,tot‘, ,gestorben‘, ohne wieder aufzuerstehen, wie Christus im Evangelium. Der Aphorismus 125 der Frçhlichen Wissenschaft trgt die berschrift: Der tolle Mensch. Diese Titelfigur19 bekundet dasselbe verzweifelte Empist?“ (Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/ 3, S. 478. Dies ist die particula veri in der Lehre der Patripassianer: Es ist zuerst Gott, der Vater, der an der Dahingabe seines Sohnes leidet. Der Vater kann nicht Zuschauer der Passion des Sohnes sein (Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/ 2, S. 399). – Zu den Patripassianern s. von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I, 206 f., 596 ff.; Bd. II, 404 ff. – In unserer Zeit bilden v. a. fr D. Bonhoeffer „Gott“ und „Leiden“ keinen „Gegensatz“. Vielmehr ist fr ihn „die Idee, daß Gott selber leidet, immer das weit berzeugendste Stck christlicher Lehre“ gewesen. Metanoia (Buße, Umkehr) und Nachfolge Christi heißen fr Bonhoeffer folgerecht ein „Leben der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt“. Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, in: ders., Gesammelte Schriften, Mnchen 1974, Bd. 6, S. 557. 18 In Exzerpten aus Dostojewskijs Dmonen spricht Nietzsche urteilslogisch von der ,Negation‘ Gottes anstatt ontologisch vom ,Tod‘ Gottes und der absoluten Vernderung, die mit dieser Negation eintritt. „,Fhlen, daß Gott nicht ist und nicht […] fhlen, daß man eben damit Gott geworden ist, ist eine Absurditt‘“ (N 1887/1888, KSA 13, S. 143 ff.). 19 Heidegger identifiziert den ,tollen Menschen‘ mit Nietzsche selbst, der, wie er vermutet, unter dieser Gestalt als „Denkender de profundis geschrieen“, d. h. „lei-
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finden und Bewusstsein, Gott verloren zu haben und Ihn nicht wiederfinden zu kçnnen, das Nietzsche als Denker und individuelle Person beseelt. Das am meisten schockierende Wort von Nietzsche: ,Gott ist tot‘ ist hier verçffentlicht, nicht als feststehender atheistisch-philosophischer Lehrsatz, sondern als Wort innerhalb einer dichterisch gestalteten Parabel und darin im Gestus der Bestrzung und mit der nachfolgenden Umwertung. Bleibt das Resultat seines Nachforschens nach Gott auch negativ, so unterscheidet der ,tolle Mensch‘ sich doch von den mßig umherstehenden Alltags-Atheisten dadurch, dass diese seinem Fragen nach Gott verstndnisloses Gelchter entgegenbringen. Wahnsinnig ist der tolle Mensch im Sinne der Platonischen theia mania, des prophetischen und kathartischen gçttlichen Wahnsinns. D e r t o l l e Me n s c h . – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehçrt, der am hellen Vormittag eine Laterne anzndete, auf den Markt lief und unaufhçrlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelchter… Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott?“ rief er. „Ich will es euch sagen! W i r h a b e n i h n g e t ç t e t – ihr und ich! Wir alle sind seine Mçrder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Strzen wir nicht fortwhrend? Und rckwrts, seitwrts, vorwrts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht klter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Mssen nicht Laternen am Vormittag angezndet werden? Hçren wir noch nichts von dem Lrm der Totengrber, welche Gott begraben?… Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getçtet! Wie trçsten wir uns, die Mçrder aller Mçrder? Das Heiligste und Mchtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser kçnnten wir uns reinigen? Welche Shnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden mssen?
Im Vorwurf des Gottsuchers an die Agnostiker, die am alltglichen Zentralort Markt in Gerchte und Geschfte eintauchen, ihr seid es, die Gott getçtet haben, klingt Petri khne Rede nach: „Ihr habt ihn [Jesus] … getçtet“ denschaftlich den Gott“ gesucht hat (Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, Bd. 1, S. 183). Nietzsches Wort: ,Gott ist tot‘ stellt fr Heidegger keinen atheistischen Lehrsatz dar; und er weist darauf hin, dass Zarathustras Gottlosigkeit nicht gegen Nietzsches Fragen nach Gott ins Feld gefhrt werden kçnne (Martin Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, Frankfurt am Main 1985, S. 193).
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(Apg 2, 23), – hier aber ohne Hoffnung auf sein Auferstehen: Er „bleibt todt“. Die lsternden Marktsteher sind Mitglieder der Menge. Das hçhnisch leichtfertige Geschrei bei Jesu Kreuzigung: „Sein Blut komme ber uns!“ (Matth 27, 25) wrde nach Kierkegaard niemals ein Einzelner gewagt haben. Eine kosmische Katastrophe begleitet – nach Aufhebung der Gesetze der Schwerkraft durch Losbinden der Erde von ihrer Sonne, Symbol des gçttlich Guten – das Sterben Gottes, des hçchstwertigen Seins: das Universum implodiert und explodiert. Kategorien zur Beschreibung versagen im Versuch, die katastrophalen Folgen des Gottestodes auszumalen; ohne das agathon ist alles nichts wert. Das Hereinbrechen von Nacht und Dunkel symbolisiert den Verlust der Wahrheit, von Weltraumklte den Verlust wahrhaftiger Liebe unter Menschen. Das der Form nach kategorische Urteil „Gott ist tot“, dessen Inhalt eine Paradoxie, nmlich das Gestorbensein des Unsterblichen, darstellt, wird – hnlich wie Jean Pauls „Rede des todten Christus vom Weltgebude herab, daß kein Gott sei“ – im vollen Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit dieses Wortes getroffen. Allerdings sagt Nietzsche nirgendwo, wie schon Jaspers hervorhebt, es gibt keinen Gott oder: ich glaube nicht an die Existenz Gottes. Mit einer Auslegung von „Gott ist tot“ in diese Richtung wre zu viel an Negation behauptet.20 Zu wenig Spezifisches enthielte die Deutung des ungeheuren Wortes, fasste man es nur allgemein als umfassende KrisenBewusstwerdung auf, etwa kulturgeschichtlich als Bilanzziehen fr eine Epoche, die durch Gottesferne verfinstert ist, oder nhme man es nur psychologisch als Ausdruck persçnlicher Existenznot. Die einzige Deutungskomponente, mit der sich in der Gleichnisrede etwas bestimmtes Reales assoziieren und – in einer Art kriminologischem Indizienbeweis – ein Motiv fr die Tat: ,Wir haben Gott getçtet‘ sowie der mçgliche Tathergang rekonstruieren lassen, betrifft das Verbluten des Heiligsten „unter unsern Messern“, die keine Mordwaffen, sondern Seziermesser bezeichnen und uns auf die heiße Spur der kritischen Historie zurckfhren. Im Jahre 1873 schreibt Nietzsche in kurzer Zeit zwei Mal mit geringen Nuancen dasselbe nieder, zuerst zum Thema Zur Religion, danach Zur Zeitschilderung. Er deckt ein „Sterben“ bzw. „Absterben“ des Christentums auf, als dessen Ursache er 20 Ernst Behler begreift das durchdringende Wort vom ,Tode Gottes‘ nicht als „objektive Feststellung ber den physischen“ respektive faktischen „Tod Gottes“, sondern als metaphorischen Ausdruck fr das Verlçschen des Glaubens in der Seele des Menschen. Vgl. Ernst Behler, Nietzsches Wort vom Tod Gottes, in: Gerald Gillespie u. Edgar Lohner (Hg.), Herkommen und Erneuerung. Essays fr Oskar Seidlin, Tbingen 1976, S. 256 – 267, bes. S. 257 und S. 267.
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„die kritische Historie“ nennt. Das erste Notat beschließt unerbittlich, das Christentum sei „ganz der kritischen Historie preiszugeben“, das zweite vorsichtiger: „Das Christentum ist sehr bald fr die kritische Historie, d. h. fr die Section reif.“21 Vivisektion, Zu-Ende-Sezieren sind aus der chirurgischen Medizin entlehnte Termini, die Nietzsche verwendet: Das Christentum hçrt auf zu leben, wenn es „zu Ende seciert“ ist.22 Im Nachlass wird die historische Kritik mit einer „Section“ verglichen, also mit dem kunstgerechten ffnen von Leichnamen, worin ein zum Tod fhrendes Analysieren von ehemals Lebendigem eingeschlossen ist. In der Frçhlichen Wissenschaft (FW 343) wird in diesem kritisch-analytischen Sinn die Entdeckung, dass ,Gott tot ist‘, gleichgesetzt damit,23 dass der Glaube an den christlichen Gott „unglaubwrdig“ geworden ist. Auf den einzig realen Sinn einer Mordtat am Ewigen verweist das blutbefleckte ,Messer‘ historischkritischer Analyse des biblischen Gottes. – Die von Nietzsche gestaltete hohe Ambivalenz von Schmerz und Jubel ber den Tod Gottes (in FW 125) speist sich nicht allein aus der ,Grueltat‘, die, freigeistig, Stolz und Abscheu zugleich hervorruft – Zarathustra „frçstelt bis in seine Eingeweide“ –, sondern ist auch sachlich erklrbar: Dass der Gott der Liebe tot ist, evoziert Wehmut, ja tiefe Melancholie; ein Triumph der (Selbst-)Befreiung aus knechtischem Joche gilt dem Tod des Tyrannen-Henkergotts. Der ,tolle Mensch‘ sucht offenbar Gott, er will demnach, dass Gott existiert. Sein Gott-nicht-Findenkçnnen erklrt er sich durch ein begangenes Verbrechen, das entweder selbstmçrderische Konsequenzen zeitigt oder eine gottlose Vergçttlichung des Menschen herausfordert. Er beschließt seine Konfession eines gescheiterten Gottsuchers mit den Worten: „Ist nicht die Grçße dieser Tat zu groß fr uns? Mssen wir nicht selber zu Gçttern werden, um nur ihrer wrdig zu erscheinen?“, „,Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe 21 N 1873, KSA 7, 29[203] und N 1873, KSA 7, 31[8]. 22 Vgl. HL, KSA 1, S. 295 – 298. Eine Religion, wird sie vollstndig in historischkritisches Wissen „umgesetzt“ – Nietzsche hebt hier die ihm wichtigen Inhalte hervor, z. B. „die Geburtssttte“ des Christentums, biographisch ein Leben Jesu betreffend – ist am Ende dieses wissenschaftlichen Erkenntnisganges „zugleich vernichtet“ (ebd.). 23 Viel zu wenig Erklrungskraft fr Nietzsches martialische Redeweise vom „Mord“ und dem darin implizierten Schuldkomplex kommt Ernst Benz’ Reduktion des Wortes auf die „Vorstellungs-Ebene“ zu: Nietzsches ,Tod Gottes‘ ist „nichts anderes als die Entschleierung des fiktiven Charakters der Religion“ im Sinne Feuerbachscher Religionskritik (Ernst Benz, Darwins Evolutionslehre und Nietzsches Lehre vom bermenschen, in: ders., Schçpfungsglaube und Endzeiterwartung. Antwort auf Teilhard de Chardins Theologie der Evolution, Mnchen 1965, S. 120 – 134).
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getan !‘ – Man erzhlt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgefhrt und zur Rede gestellt, habe er immer nur dies entgegnet: ,Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht‘“ – sofern Christus nmlich nicht auferstanden wre – „die Grfte und Grabmler“ Gottes sind? (FW 125) Die Formulierung: „Gott bleibt todt“ – ebenso wie im Zarathustra: „Nun aber starb dieser Gott! […] Seit er im Grabe liegt […]“ (Za IV, Vom hçheren Menschen 2, KSA 4, S. 357) – ist als schroffe Antithese zum neutestamentlichen Zeugnis: Er, das ist Christus, der Gottmensch, ist „wahrhaftig auferstanden“ (Luk 24, 34) zu lesen. Grfte sind, wenn man freigeistig den Glauben entmythologisiert, fortan alle Kirchen, insofern sie den toten Gott anbetend verehren, oder, weniger freigeistig gedacht, nur diejenigen Kirchen, die wie D. F. Strauß und seine Nachfolger die Auferstehung Jesu leugnen als den vermeintlich „grçßten welthistorischen Humbug“, wie Strauß polemisch zu erklren wusste.
3. Nihilismus als Konsequenz des Gottestodes 3.1 Synopse zum ,Nihilismus‘ bei Nietzsche Der Nihilismus als knftiges Schicksal Europas steht fr Nietzsche in Zusammenhang mit der nachhaltigen Erschtterung des kosmischen Selbstgefhls des Menschen, der durch von ihm selbst entwickelte wissenschaftliche Theorien aus der Mitte des Seins verstoßen wird, das heißt, der sich selbst aus dem Zentrum wirft und auf eine exzentrische Bahn gert. Der Schlsselsatz der Erfahrung grundstrzender Seinsverlassenheit lautet: ,Gott ist tot‘! Nietzsche bestimmt den Nihilismus als Folge des ,Todes Gottes‘. Fr ihn gilt der Verlust des Vollkommenen, Ewigen, Gçttlichen und im Gefolge dessen der Verlust aller Werte, Ziele und Ideale als irreversibel und endgltig. Dieser Verlust ist aus seiner Sicht nur dezisionistisch berwindbar durch einen starken, aus sich selbst heraus wertschçpferischen Willen. Wer „das Große“, mithin den Sinn des Seins, schçpferische Qualitt ebenso wie Leidensbefhigung und Seelengrçße, nicht mehr in Gott findet, erklrt Nietzsche, der findet es gar nicht mehr, er muss es leugnen oder selbst schaffen (vgl. N 1882, KSA 10, 1[86]). Im lethargischen Dahinleben bekundet sich der von Nietzsche charakterisierte passive, im selbst Schaffen oder in einer neuen Selbst-Wert-Setzung der aktive Nihilismus. Der Nihilismuskomplex ist bei Nietzsche vieldimensional, insofern er in ihm Zuknftiges prophezeit, bestehende Verhltnisse brandmarkt, glhend
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seine eigene Zukunftsvision inszeniert. Nietzsche argumentiert in zuweilen durcheinander laufenden Gedankenlinien als Diagnostiker, als skularer Prophet, als Kulturkritiker, als Sinnvakuumstherapeut und biopsychischer Stratege. Besonders eingehend reflektiert er, seit seinen Gesprchen mit Lou Salom ber den ,Kampf um Gott‘, religionspsychologische Phnomene, die als psychische Konsequenzen des ,Todes Gottes‘ einleuchten. In deren Umkreis erçrtert er Phnomene der Desorientierung, der Lhmung, der Willens- und Persçnlichkeitsschwchung im Vakuum eines postmetaphysischen Geistes. Nach dem ,Tode‘ des vormals geglaubten, guten, erbarmungsvollen, gerechten und allweisen Gottes lautet die herausfordernde Frage, ob der Mensch entweder dem Nichts verfllt oder wie Phçnix aus der Asche neu ersteht als ein selbstmchtiger homo faber – oder ob er wieder an den alten biblischen Schçpfergott glauben will. Nietzsche hat seinen diagnostisch-heuristisch vorzglich eingesetzten Nihilismusgedanken leider auch seiner einseitigen (Bio-)Philosophie der Zukunft dienstbar gemacht. 3.2 Der ,Tod Gottes‘ als Ursachenbestimmung fr das Zeitalter des Nihilismus Nietzsches eigentlicher neuer Gedanke enthlt fr Lçwith des Nheren ein „Gedanken-System“, an dessen Anfang der Tod Gottes, in dessen Mitte der aus ihm hervorgehende Nihilismus und an dessen Ende die Selbstberwindung des Nihilismus zur Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen stehe. Dem entspreche die erste Rede des Zarathustra von den drei Verwandlungen: Das Du sollst des biblischen Glaubens verwandle sich zum freigewordenen Geist des Ich will; in der „Wste seiner Freiheit“ zum Nichts geschehe die letzte und schwerste Verwandlung vom Ich will zum Ich bin eines ewig wiederkehrenden und darin sich bejahenden Daseins.24 Die ,ewige Wiederkehr‘ ist von Nietzsche dezidiert als Ersatz fr die Hoffnung auf Seelenunsterblichkeit entworfen worden. Als moralische Maxime (FW 341) bedeutet sie die nachdrckliche Selbstermunterung, stets nur das zu wollen und zu tun, was ich auf eben dieselbe Weise unendlich oft wieder wollen und tun kçnnte. Die Nihilismus-Thematik zeichnet sich im Frhjahr bis Herbst 1881 ab, zu derselben Zeit, in der Nietzsche das Motiv vom ,Tode Gottes‘ erstmalig intoniert. Sinngenetisch sind Nihilismus- und ,Tod-Gottes‘-Komplex dicht 24 Karl Lçwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des 19. Jahrhundert, Stuttgart 1988, S. 246 f.
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miteinander verwoben und vorbereitet durch Nietzsches Frage nach den tiefgreifenden Umwandlungen, die konsequent aus den freigeistigen Lehren folgen, dass 1) „kein Gott fr uns sorgt“, dass es 2) „kein ewiges Sittengesetz gibt (atheistisch-unmoralische Menschheit)“, unser Leben vorbeigeht, und niemand uns zur Verantwortung zieht, und dass wir 3) „Thiere sind“ (N 1881, KSA 9, 11[54]). Das heißt, der hier bloß implizit angedachte Nihilismus als europisches Geistesdrama erhebt sich 1) religionsphilosophisch anhand der – im englischen und franzçsischen Freidenkertum vorbereiteten – Lehre von der Gottesferne, das ist der Deismus oder Atheismus, 2) ethisch durch Verneinen der Geltung spezifisch der strengen Pflichtenethik, die ein im Gewissen sich bekundendes gçttliches Gesetz lehrt, und 3) naturphilosophisch durch den Darwinismus. Sollte Darwin Recht haben, so sind es „erhabene Irrtmer“, durch die der Mensch sich ber das Tier erhoben hat (N 1876/1877, KSA 8, 23[21]). Die traditionelle metaphysische Erklrung von Natur und Mensch entspricht dem besten Selbstwertgefhl, naturalistische Erklrungen des Ich empçren unser Herz. Die geistesgeschichtliche Frage nach dem Woher des Nihilismus sucht Nietzsche unter Hauptaspekte gegliedert zu erklren. Der erste ist fr Nietzsche „Der Untergang des Christentums“, bedingt durch eine Wahrhaftigkeit, die sich schließlich gegen den christlichen Gott wendet. Mit einem prgnanten Satz, der die Geschichte der abendlndischen Metaphysik umgreift, nmlich die Lehre von Gott als ens realissimum et perfectissimum, von dessen Abglanz und Lichtes-berflle alles andere Seiende graduell, je nach seiner besonderen Nhe oder Ferne von seinem Ursprung, Wahrheit und Gte empfngt, sucht er das Unheimliche des Nihilismus zu entrtseln: Es ereignet sich als gesamteuropisches Schicksal der „Rckschlag“von ,Gott ist die Wahrheit‘ in den fanatischen Glauben ,Alles ist falsch‘: Nihilismus der Tat. Zweitens wird als Sinnlosigkeits-Impuls „Skepsis an der Moral“ benannt, die deren Geltung und deren Realisierbarkeit betrifft, als dritter Aspekt „die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft“25. Damit meint er die Selbstentwertung des Ich Kraft der Annahme rckhaltlosen Tiergewordenseins.
25 N 1885/1886, KSA 12, 2[127] und N 1885/1886, KSA 12, S. 130.
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3.3 ,Wille zum Nichts‘? – Verdsterung des Horizonts oder neue humane Selbstwertsetzung? Nietzsches Sicht auf Anfang und Metamorphosen des europischen Nihilismus geht von einer historischen Entwertung der bisherigen Werte aus, zentral von der Entwertung des Christentums als Dogma bis zum Christentum als Moral. Dieser Entwertung hlt Nietzsche seine eigene neue Wertsetzung durch den bermenschen im Horizont der Idee der ewigen Wiederkunft entgegen. Diese Idee ist seine neue Sinnverbrgungsinstanz und die dogmenfreie Religion der Religionen (N 1885, KSA 11, 34[199]). Der passive Nihilismus, unter den Nietzsche zeitkritisch viele Niedergangsphnomene subsumiert, bekundet sich als Willenslhmung, -erschçpfung und -schwche oder auch als die sonderbare Lust freier Ichwesen daran, unbedingt selbst nur Funktion sein zu wollen.26 Der aktive Nihilismus hingegen entfesselt eine u. U. gewaltttige Kraft der Zerstçrung oder auch ein „blindes Wthen“, die fr Nietzsche aber kein Beweis von wahrer Strke im Sinne von schçpferischer Kraft ist.27 Eine starke Kultur beruht fr Nietzsche auf einer „Synthesis der Werte und Ziele“, die sich auflçst, wenn Werte Krieg gegeneinander entfachen (N 1887, KSA 12, 9[35], S. 351). Die Heraufkunft des Nihilismus steht fr Nietzsche schmerzlich bevor als Selbstbewusstwerdung des Menschen ber seine eigne Sinnverarmung, als eine krisenreiche „allertiefste Selbstbesinnung“, von der es fraglich sei, ob er sich jemals davon werde erholen kçnnen. Nihilismus bedeutet das Gefhl totaler Sinnlosigkeit, weil alle berzeugungsmchtigen Ziele abhanden gekommen sind. Wird aber der Kreis der berlebten und fallengelassenen Werte, so verbildlicht er, immer voller, so kommt den Menschen „die Leere und Armut an Werthen“ immer mehr „zum Gefhl“ (N 1887/1888, KSA 13, 11[119]). Nihilist wrde der Philosoph sein, der „hinter allen Idealen des Menschen das Nichts findet“, die Lebenslge oder „das Nichtswrdige, das Absurde, […] alle Art Hefen aus dem ausgetrunkenen Becher seines Lebens“ (KSA 14, S. 428). Was bedeutet Nihilismus? – „Daß die obersten Werthe si ch entwerthen.“ Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das ,Warum‘ und ,Wozu?‘ (N 1887, KSA 12, 9[35]). 26 Vgl. zu solchen personalen Selbstaufhebungen die ironisch-humorvollen Sentenzen: FW 116 – 119, 346, 347. 27 N 1887, KSA 12, 9[35] und N 1887, KSA 12, 5[71], S. 21; vgl. dazu Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin / New York 1987, bes. S. 333 ff.; vgl. auch Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europischen Nihilismus, Berlin / New York 1992.
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Das Sichentwerten der hçchsten Dinge entspricht der Selbstaufhebungsfigur negativer Dialektik, die Nietzsche çfter verwendet, hinter der die freigeistige Kardinaltugend intellektuelle Redlichkeit steht, derzufolge alles Erhabene auf seinen fragwrdigen dunklen Untergrund durchschaut wird. Nietzsches Schlsselthese zur Aitiologie des Nihilismus ist: Der Mensch kann – individuell und ideengeschichtlich – eine einmal von ihm existenziell wahrgenommene Position nicht ersatzlos streichen. Vielmehr tritt ein Vakuum- und Umkehr-Effekt ein, dass nmlich das Verlorene wie ein Verdrngtes in pervertierten Gestalten wiederkehrt. „Die Zeit kommt“, so beklagt Nietzsche, „wo wir dafr bezahlen mssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir strzen jhlings in die entg eg eng esetzten Werthungen, mit dem gleichen Maße von Energie, mit dem wir Christen gewesen sind“ (N 1887/1888, KSA 13, 11[148]). Eine solche extreme „berbewertung“ des Menschen in der platonisch-christlichen Sicht der gottebenbildlichen, unsterblichen Seele und des unendlichen Wertes jeder Person schlgt so radikal um in die Behauptung der sterblichen und unwerten Seele. Unter Leittiteln wie „Zur Geschichte der modernen Verdsterung“ oder „Der europische Nihilismus“ finden sich im Nachlass Entwrfe zum Nihilismusproblem. In einer Synopse wird das ,Gott-ist-tot‘-Motiv als Ursache fr viele Arten Pessimismus, fr die Sucht zu verzweifeltem Andersseinwollen, zum Nein, Nichtstun, zu Rausch- und Vergessensbedrfnis enthllt. „Der Nihilismus steht vor der Tr: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gste?“ Es sei ein Irrtum anzunehmen, er beruhe auf „sozialen Notstnden“, auf Korruption, seelischer, leiblicher oder intellektueller Not; denn solches alles ruft nicht eine radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Hoffen und von mutbeseeltem Handeln hervor (N 1885/1886, KSA 12, 2[127]). Bedenklich sei eine merkwrdige Empfnglichkeit des Menschen fr diverse Arten der Selbstbetubung, um ber die ungeheuere Leere, ber ein Elendgefhl, das von innen her rhrt, und ber das „im Innersten“ nicht Wissen, „wohinaus?“ hinwegzukommen. An Versuchen, ber die innere Leere hinwegzukommen, listet er Rauschmittel auf, z. B. Anbetung eines Menschen, besinnungsloses Arbeiten in einer Funktion, der wollstige Genuss an der „ewigen Leere aller Dinge“, eine Mystik des Glaubens an das Nichts (Buddhismus), Narkosen wegen des Ekels an sich selbst, irgendein dummer kleiner Fanatismus, Erkrankung durch Unmßigkeit, ja Ausschweifung, die das Vergngen tçtet. Willensschwche ist fr Nietzsche, da sie die Selbstverkleinerung des Menschen beschleunigt, das alarmierende Resultat (N 1883/1884, KSA 10, S. 660 ff.). Er sucht gegen den seelischen
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Verfall und die Schwchung der Persçnlichkeit, bedingt durch die fr Nietzsche irreversible „Auflçsung des letzten Trostes“ in der Religion, ein neues Zentrum, das den vterlich-mtterlich guten Gott ersetzen soll. Gegen den Sinnlosigkeitsaffekt, das ist „g egen die lhmende Empfindung der allgemeinen Auflçsung und Unvollendung“ hlt er „die ewige Wiederkunf t !“ (ebd.), die jedem Lebensdetail Ewigkeitsodem einhauchen soll.
4. Melancholie als Quintessenz von Gottestod und Nihilismus 4.1 Biografische Hintergrnde Ein tief melancholischer Zug findet sich schon in ußerungen des jugendlichen Nietzsche, der sein Selbst im symbolisch-spirituellen Erleben der Natur gespiegelt sieht. „Ach, in meiner Seele erwacht das bittere Gefhl des Herbstes“. „Ich ging da allein vor dem Marientor spazieren; der Wind strich ber die kahlen Stoppelfelder, die Bltter fielen gelb zu Boden und mich durchdrang es so schmerzlich: der blhende Lenz, der glhende Sommer, sie sind dahin! Auf immer dahin! Bald wird der weiße Schnee die sterbende Natur begraben.“ Er sucht seine Melancholie durch die christliche Auferstehungshoffnung zu bertçnen: O Gott, was hast du mir ein solches Herz gegeben, daß ich mit der Natur zugleich jubele und mich freue. Ich kann es nicht ertragen; schon sendet die Sonne nicht mehr warme Strahlen; die Felder sind çde und leer und schon sammeln hungrige Vçgel fr den Winter. Fr den Winter! – So nah begrenzt sich Freude und Leid, aber der bergang ist zermalmend… O Natur; mit bittrem Leide hast du mir mein Herz umwunden. Letzte Rose! Weinend seh ich dich erblhen und vergehn, mit dir leb ich und vergeh ich, mit dir werd‘ ich einst erstehn! (BAW 1; S. 121, 129)28
Die zweifache Anrufung: O Gott, o Natur, zeigt ein Sich-ausgespanntFinden zwischen kreatrlicher Todesverfallenheit und Auferstehungshoffnung. Im Kontext empfindsamer Natur- und Selbsterlebnisse steht die beachtliche Eintragung, dass die Welt, ihrer selbst mde, „nicht bleibendes ersinnen“ kçnne, nichts fr die Seele ewig Gltiges.
28 Das Todesthema ist ergreifend gestaltet im Gedicht: Die „Todten“ warfen „mein Herz“ ins All und „vertanzen mein Leid“ (Friedrich Nietzsche, Die 5 Werkbnde Jugendschriften (1854 – 1869), hg. von H. J. Mette, Mnchen 1933 ff., BAW 2,6, 108 f.).
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Nietzsche zeichnet ein Stimmungsbild der Melancholie: „Es gibt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mitteilen, bei der sie sich des Jammerns enthlt“ wie der Held einer Tragçdie „und sich wie unter hohen, schwarzen Zypressen schweigend ergeht“ (M 570). Seine Reflexion auf „heimlich-unheimliche Mitternchte der Seele“, die – typisch fr die Melancholie – nicht mehr zu fliegen vermag, die den „scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost, des Abschiednehmens ohne Gestndnis“ kennt, bekundet hohe Empfindsamkeit nicht bloß in der persçnlichen Selbsterfahrung, sondern auch fr fremdseelische Ereignisse (FW 87). In der Wahrheitssuche geht Nietzsche schonungslos aus auf das ihm am meisten Wehetuende, sich selbst Verwundende der Erkenntnis, auf die Gefahr hin, dass er an erkannter Wahrheit verblute. Zur Reinerhaltung seines intellektuellen Gewissens schreckt er vor keinem Opfer zurck,29 ja beschwçrt Sonnenfinsternisse seiner Seele herauf (MA 109), bonjour tristesse! Wahrhaftig „heiße ich den, der in gçtterlose Wsten geht und sein verehrend Herz zerbrochen hat.“ (Za II, Von den berhmten Weisen, KSA 4, S. 133) Die bei Nietzsche frh vorwaltende Melancholie verdichtet sich beispielhaft in seiner Reflexion eines atheistischen Systems der Natur. Die Gesamttendenz seines Denkens, die u. a. durch die Darwin- und StraußRezeption zustande kommt, wird von Nietzsche im Begriff des „grausamen“ und „toten“ Antlitzes der Natur im Jahre 1873 dichterisch eingefangen. Diese trbe Halbnacht als etwas, das den modernen Menschen wie ein Schatten des verlornen Gottes der Liebe und der Hoffnung verfolgt, schildert Nietzsche in einer wahrhaft poetischen und schwermtigen Miniatur: Ach wir Menschen dieser Zeit! Es liegt ein Wintertag auf uns und wir wohnen am hohen Gebirge, gefhrlich und drftig. Kurz ist jede Freude und bleich jeder Sonnenglanz, der an den Bergen zu uns herabblickt. Da tçnt Musik – es erschttert den Wanderer dies zu hçren: so wild, so verschlossen, so farblos, so hoffnungslos ist alles, was er sieht – und jetzt darin ein Ton der Freude, einer gedankenlosen lauten Freude. Aber schon schleichen die Nebel des frhen Abends, der Ton verklingt, der Schritt des Wanderers knirscht; grausam und tot ist das Gesicht der Natur am Abend, der immer so frh kommt und nicht weichen will. 29 M. Brusotti geht intensiv und vorzglich klar auf die Problemkreise ein: Melancholie des leidenschaftlich Erkennenden (Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçte bis Also sprach Zarathustra, Berlin / New York 1997, S. 176 ff., S. 188 ff., S. 195 ff., S. 391 ff., S. 578 ff.) und Geist der Schwere, der Schwermut, sowie das Problem seiner berwindung im Zarathustra (S. 576 ff., S. 596 ff., S. 605 ff.).
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Direkt an schließt sich hier eine Notiz ber „die fliegenden Spinnefden des Altmnnersommers – Strauß als Bekenner“ (N 1873, KSA 7, 29[215]). Man blicke hier in die triste atheistische Halbnacht des Systme de la nature hinein – so heißt es mit Titelaufnahme von Holbach – und es schaudere einen mit Goethe, kommentiert Nietzsche (UB I 7, KSA 1, S. 200). Der verçffentlichte gleichlautende Passus (UB III 4, KSA 1, S. 366) steht im Kontext: „Entwurzelung“ der Kultur, „Entfesselung“ positiver Einzelwissenschaften im Dienst verchtlicher Geldwirtschaft und abflutender Religion. Nietzsche zeigt in der hoffnungsverarmten Abendstimmung, kreativ imaginierend, die von Darwin und Strauß ausgelçste Weltansicht, wie sensible Gemter sie erfahren. Bildhaft eingefangen ist etwas vom Aufwhlenden, das schon fr den jungen Nietzsche den vernichtenden Charakter der Wahrheit ausmacht (vgl. CV, KSA 1, S. 760). 4.2 Synopse zur Melancholie bei Nietzsche Nietzsche gehçrt also von Jugend auf zu den großen Melancholikern, unter die Theophrast schon Sokrates und Platon zhlte.30 Melancholie macht hellsichtig fr ungeahnte Hinter- und Abgrnde. Und so drfte das Unheimlichste in Nietzsches Melancholie seine Mutmaßung sein, dass sowohl Sokrates als auch Christus – beide Identifikationsfiguren hçchster Ordnung – nicht Opfer der grçßten Justizirrtmer der Weltgeschichte, sondern fr ihn heimliche Selbstmçrder gewesen sind. Den Kreuzesschrei Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Markus 15, 34 – 37) deutet Nietzsche im Geiste Feuerbachs um31 zu einem verzweifelt sehnsuchtsvollen Schrei nach Liebe; er nimmt dabei implizit Jesu Gottsuche als Suche nach dem treuen Vater ernst; Jesus, das existierende Evangelium der Liebe, muss an menschlicher und gçttlicher Liebe verzweifeln. Und Nietzsche nennt sich selbst den ersten „vollkommenen Nihilisten“ Europas, der als erster den Nihilismus in sich zu Ende gedacht und gelebt hat (N 1887/1888, KSA 13, 11[411]). Nietzsche hat versucht, der Melancholie und dem Nihilismus auf den Grund zu gehen. Er nahm implizit die Er30 Zur Problemgeschichte der Melancholie s. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, bers. von Christa Buschendorf, Frankfurt a. M. 1990. 31 Vgl. M 114; JGB 269 (Schlussteil); GM II 22 (Schlussteil). Zu Nietzsches freigeistigem Jesus-Bild vgl. Dsing, Nietzsches Denkweg, S. 167 – 198.
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klrung Freuds voraus, dass im Unterschied zur Trauer, der die ganze Welt leer ward, in der Melancholie das Ich selbst der Leere und Wertlosigkeit anheimfllt, derart, dass die typischen Selbstanklagen eigentlich Vorwrfe gegen einen verlorenen Liebesadressaten sind, nmlich Vorwrfe, die von jenem bçsen ,Treulosen‘ weg auf das Ich abgewlzt, also verschoben werden.32 Die Affekte von Hass und Rache schlagen hier um in Selbsthass, der wiederum in Suizidgefahr abzugleiten droht. In Nietzsches Begriff des „passiven“ Nihilismus, der nichts mehr glauben, hoffen, lieben, ja berhaupt wollen kann, zeigt sich die depressive Seite der Melancholie; whrend im „aktiven“ Nihilismus (der Kehrseite passiver Trauer) destruktive Energien sich Bahn brechen, eine vom verletzten Ich inszenierte Schreckenslogik, im Extremfall mçrderische Impulse auch nach außen. Den ,hsslichsten‘ Menschen spricht Nietzsche im Zarathustra typologisch als den ,Mçrder Gottes‘an, der – so das erklrte Motiv seiner Tat – keinen Kronzeugen seiner Hsslichkeit, mithin seines maximalen SelbstUnwertgefhles ertrug. Der ,hsslichste Mensch‘ verschiebt – gemß Nietzsches Tiefenanalyse – seinen Selbsthass auf Gott, an dem er Rache bt. Im Dionysos-Dithyrambus Zwischen Raubvçgeln findet in der Zwiesprache Zarathustras mit sich selbst eine bedeutsame umgekehrte Verschiebung und Peripetie statt von der intendierten Fremdzerstçrung hin zur Selbstdestruktion: „Jngst Jger noch Gottes“, jetzt aber von dir selbst erjagt, „Selbstkenner ! Selbsthenker !“ – so tituliert er sich in der Hçllenfahrt seiner Selbsterkenntnis (DD, Zwischen Raubvçgeln, S. 390). Im Wort des sich untergrabenden „Selbst-Henker[s]“ klingt der von Nietzsche gebrandmarkte „Henker-Gott“an (DD, Klage der Ariadne, KSA 6, S. 399), den er – ein neuer Hiob ohne Gewitter? – im Brennspiegel seiner Anti-Theodizee als grausam anklagt.33 „Das hçchste Mißtrauen gegen den Intellekt als Werkzeug der Triebe“34 ; so lautet przise die neue Selbstzermalmung des Ich. Die Nachgeburt des Stolzes aber ist die Skepsis. Die Kantische Selbstkritik der Vernunft wandelt 32 Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Frankfurt am Main 1999, Bd. X, S. 428 – 446. 33 Vgl. zum durchdringenden Theodizee-Problem Dsing, Nietzsches Denkweg, S. 115 – 118, S. 424 – 495, S. 521 f. u. ç. 34 Fichtes schroffes Wort ber die niederste, sinnliche Stufe der Weltansicht in der Anweisung zum seligen Leben mag hier anklingen: Auf dieser Stufe konsequenter Lustsuche ist das Geistige im Menschen lediglich dazu da, „um das Tier zu nhren und zu pflegen“; er stumpft sein Sehnen nach dem Ewigen ab, verzweifelt „am Heile“ oder treibt sich umher „im Nichts“ der Sinnleere. J. G. Fichtes Werke, hg. Von I. H. Fichte, Berlin 1845 – 46, Bd. V, S. 502, 409.
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sich in die, wie Nietzsche pointiert sagt, „peinliche Inquisition gegen unsere Triebe und deren Lgnerei“. „Es ist eine letzte Rache, in dieser Selbstzermalmung ist der Mensch immer noch der Gott, der sich selber verloren hat“ (N 1880, KSA 9, 6[31]). Die Charakteristik des Absturzes aus der Gottesverwandtschaft der Seele in die Tierabstammung wandelt also die Kantische Vernunftkritik grundstrzend um, nmlich in Triebanalyse, die einer masochistischen Selbstuntergrabung gleicht, und gehçrt in die Vorgeschichte Freuds. Dessen Forschungsprojekt ist von Nietzsche als – fr brgerliche Ohren – „peinliche Inquisition“ des Unbewussten, also als Bewusstmachen von schlimmen, uneingestandenen, ethisch verwerflichen und deshalb umwillen der Selbst- und Fremdachtung vorsichtshalber verdrngten Trieben, meisterlich vorausbestimmt. 4.3 Nihilismus als Sturz aus der Mitte in Orientierungslosigkeit – Verlassenheit – Melancholie Der ,Gottestod‘ impliziert fr Nietzsche eine Art melancholischer Horizontverdsterung, in der Menschen entweder depressiv nichts mehr glauben, hoffen, lieben und wollen kçnnen, oder, als Alternative zu solcher passiven Trauer, destruktive Energien freisetzen oder, im Idealfall, ihre Trauer bewltigen durch eine befreiende berwindung der sie niederdrckenden Wertetradition. R. Gasser macht auf das Phnomen aufmerksam, wie treffend Nietzsche tiefenpsychologisch mit der melancholischen Reaktion des Menschen auf den ,Tod Gottes‘ rechnet und nicht bloß mit einer zeitweiligen Trauer, wobei sinnbildlich der ganze Horizont sich verdstert und verheerende Folgewirkungen entstehen, die Nietzsche aus dem ,Tode Gottes‘auf uns zukommen sieht (s. FW 125). Der Mensch wird in bisher nie gekanntem Ausmaße sich selbst fragwrdig und neigt als solchermaßen Verstçrter dazu, selbst eine ,Logik von Schrecken‘ zu inszenieren (vgl. FW 343). Der Melancholie typisch zugehçrig sind die von Nietzsche hervorgekehrten Tatbestnde des aktiv-destruktiven Tuns, wofr das Wort ,Tçten‘ und die Selbstvorwrfe einstehen.35 Zu dieser Bedrckung passt Zarathustras ,Depression‘, die ihn berfllt, als er des abgrndigsten Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen inne wird, die mit dem wenig trçstlichen Gottesnamen circulus vitiosus deus bestimmt wird (JGB 56). Umso mehr sucht Nietzsche eine Weltkonzeption, die geeignet ist, alles Dasein postmetaphysisch und als die neu errungene Unschuld des Werdens zu 35 Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin / New York 1997, S. 498 – 501.
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rechtfertigen: „das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick“ oder unabwertbar sein, „was auf Eins hinausluft“ (N 1887/1888, KSA 13, 11[72]). Das Rechtfertigungsmotiv, das Nietzsche immer wieder intoniert, gemahnt noch an Luthers Ernst in der Suche nach dem gndigen Gott. Ein bedrohliches Zeitalter sieht Nietzsche heraufziehen, da die Menschheit nach dem Verlust des Glaubens an eine gçttliche Schçpfungsoder sittliche Weltordnung im Sinne Fichtes einem „Trmmerfelde der kostbarsten bildnerischen Entwrfe“ gleiche (UB III 4, KSA 1, S. 386), die ihren Bildner nicht kennen und am Mangel zielklarer Orientierung zugrunde gehen. Indem der Mensch um seine Aufgabe und Stellung im Kosmos nicht mehr weiß, fllt er aus dem „Mittelpunkte“, hat keinen gewissen Standort des Zuhauseseins mehr, weiß nicht, wer er ist, woher er kommt, wohin er geht. Ach, der Glaube an seine Wrde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist T h i e r geworden, Thier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem frheren Glauben beinahe Gott (,Kind Gottes‘…) war. […] Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ,d u r c h b o h r e n d e Gefhl seines Nichts‘? (GM III 25)36
Der unbedingte Wert jedes Menschen, bislang begrndet durch seine Gottesebenbildlichkeit, wird, wie Nietzsche in der Gebrde des Seufzers erklrt, radikal in Frage gestellt durch Darwins Abstammungshypothese. Dann ist der Mensch wegen seines nun unbestimmten Wesens als Gattung und Individuum – es gibt demnach kein eidos Mensch mehr (MA 2) und die imago dei entfllt – in grenzenlose Fraglichkeit geworfen; er steht berall im Weltall nur noch sich selbst als Zufallsprodukt anonymer Natur gegenber. Nietzsche formuliert hier seine in der Freigeisterei entwickelte Hypothese vom blinden Spiel des Werdens, die Kant mit kritischem Hinblick auf die franzçsischen Materialisten, an die Nietzsche neu anknpft, als Annahme universaler Physiokratie bestimmt hatte (AA III, S. 311 ff.). 36 Volker Gerhard, Die Kopernikanische Wende bei Kant und Nietzsche, in: J. Albertz (Hg.), Kant und Nietzsche – Vorspiel einer knftigen Weltauslegung?, Wiesbaden 1988, S. 173 ff. bestreitet im Hinblick auf die Kosmologie zu Recht die Zwangslufigkeit des Geratens auf eine schiefe Bahn und in Nihilismus, die Nietzsche mit Kopernikus suggeriert. Er verkennt aber, dass – wie in der Parabel vom ,tollen Menschen’ – Kosmologie metaphorisch eingesetzt ist und auf die Pointe rckhaltlosen Tierwerdens des Menschen hinzielt. Mit Darwin strzt der Mensch nach Nietzsche in seine animalitas hinein ab, in eine drohende Nichtigkeit, ja Wrdelosigkeit.
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Sigmund Freud prognostizierte, wie Nietzsche weichenstellend vor ihm, den Ausbruch einer globalen unbewussten Melancholie. Sie erhebt sich aus ,Gottes Tod‘ durch Krnkung des vormals – v. a. seit dem RenaissanceHumanismus – im Mittelpunktgefhl des Alls Stehenden. Freud hat in beachtlicher Analogie zu Nietzsches ahnungsvoller Diagnose, die aus dem Gottestod den Tod des Menschen in seiner Humanitt schlussfolgern musste, hierzu drei „große Krnkungen“ des menschlichen Eigendnkels hervorgehoben. Diese drei „großen Krnkungen“ sind nach Freud verursacht durch drei herausragende Brgen des Realittsprinzips, nmlich durch Astronomie, Biologie und Psychologie: Die erste Krnkung geschah, als die Menschheit erfuhr, „daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist“; die zweite, „als die biologische Forschung das angebliche Schçpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte“, ihn auf die Abstammung vom Tierreich verwies. Die dritte und empfindlichste Krnkung aber erfhrt die menschliche Grçßensucht durch die heutige psychologische Forschung, die „dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause“.37 Eine Entschdigung fr den verletzten Narzissmus des Menschen kann es fr Freud am Ende der religiçsen Illusion, die er aufzudecken sucht, nicht mehr geben.38 Das Umsichgreifen von Neurosen, die zuvor religiçs gebndigt waren, ist der Preis, der dafr zu zahlen ist, dass der Atheismus Massenphnomen wird. 4.4 Zur Therapie der Melancholie als Folgelast des Gottes- und Liebestodes Gegen die lhmende Empfindung der allgemeinen Auflçsung und Unvollendung, erklrt Nietzsche, hielt er die ,ewige Wiederkehr‘. Die Sehnsucht ins Nichts will er umdrehn in Richtung dionysischen Jasagens, Genießens und Gutheißens von Allem, – eine praktizierte Anthropo- und Kosmodizee! Gegen die Melancholie, die Kierkegaard als das nicht tief und innerlich Wollenkçnnen bestimmt hat, setzt Nietzsche die – Fichte nahe – nachdrckliche Aufforderung, das Wollen selbst zu wollen. Im Motiv, das er in der Pascal-Lektre formuliert: Befreiung von Selbsthass und -verachtung, grndet Nietzsches Lehre vom notwendigen Sich-berschreiten des hsslich(st)en Menschen zu etwas qualitativ weit ber ihm Stehenden; denn allein als sich berwindender vermag der Mensch sich selbst zu rechtfertigen. Das Woraufhin der Selbstberwindung wird aber in 37 Freud, Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 294 f. 38 Freud, Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 108 f.
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der Sptzeit oft in biologistischer Engfhrung der Ethik als ,bermensch‘, mithin als mutierte Spezies bestimmt. In ethisch-sthetischer Weite hingegen wird der schçnste, der edle Mensch aufgefasst:39 Das Ziel ist „der Reichtum an Person, die Flle in sich, das berstrçmen und Abgeben, das instinktive Wohlsein und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die große Liebe macht: es ist die starke und gçttliche Selbstigkeit“ (N 1887, KSA 12, 10[128]) oder eine „heilige Selbstsucht“ (KSB 6, S. 293). Hier wird die Aristotelische Tugend der Seelengrçße aus dem vitalen „Fllegefhl des Lebens“ abgeleitet, mit Zarathustras Ideal schenkender Tugend40 und dem dionysischen Ideal der umfassenden Bejahung verschmolzen. Im Dionysischen liegt die Bejahung sogar auch von abgrndiger Negativitt, eine außertheologische Rechtfertigung des Leidens und des bels, eine Art psychogener Theodizee: „Eine volle und mchtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Hçllen mit grçßerer Flle und Mchtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachsthum in der Seligkeit der Liebe.“ Der Schluss wurde als antichristlicher Zynismus gelesen, ist aber eher eine dionysische Theodizee: Ich glaube, wer etwas von den „Bedingungen jedes Wachsthums in der Liebe“ errt, die durch Qual ber sich hinaus wchst, versteht Dante, der ber die Pforte seines inferno schrieb, das innerweltlich-psychisch ist: ,auch mich schuf die ewige Liebe‘ (N 1886/1887, KSA 12, 7[39]). Zarathustras Selbst-selig-Preisung, die das Grablied abschließt, es sei ein „Unverwundbares“, „Unbegrabbares“ in ihm: sein Wille, schlgt in eine vernderte „herzensharte“ Tonart um und hat angesichts der „Grber“ wenig berzeugungskraft (Za II, Das Grablied, KSA 4, S. 144 f.). Zarathustra erklrt plausibler im Abschnitt Von der Erlçsung den schaffenden, erlçsenden Willen, der alles Vergangene durch versçhnende Bejahung und im Nachhinein-Wollen umschafft, zu einem „so wollte ich es“41 und der – ver-
39 Vgl. dazu E. Dsing, „Heilige Selbstsucht“ (Immoralismus) oder Sich-qulenLassen vom Himmel des Ideals (Hypermoralismus) – Nietzsches Konzept des individuellen Gesetzes, in: E. Dsing, K. Dsing, H.-D. Klein (Hg.), Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas, Wrzburg 2009, S. 261 – 297. 40 Zum religiçsen Sinn des Begriffs schenkender Tugend u. a. als agape s. Manfred Kaempfert, Skularisation und neue Heiligkeit. Religiçse und religionsbezogene Sprache bei F. Nietzsche, Berlin 1971, S. 199 – 207. 41 Zu Nietzsches Nuancierungen in der Bandbreite entweder bloß stoischen Ertragens oder aber freien Bejahens des Daseins kraft der Idee der ewigen Wiederkehr s. erhellend Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, S. 351 – 355, S. 478 – 489,
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gleichbar mit Fichtes kategorischem Imperativ: „Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz fr dich denken kçnnest“!42 – spricht: So, wie ich jetzt etwas Bestimmtes will, ebenso – werde ich‘s wollen – (Za II, Von der Erlçsung, KSA 4, S. 179 ff.). Seid erst solche, ruft er auf, die eigenstndig wollen kçnnen, die alles „halbe Wollen“ von sich abtun und entschlossen werden zur Tat (Za III, Von der verkleinernden Tugend 3, KSA 4, S. 216). Jeder sei ein ganzer Wille, der ein „segnendes Jasagen“ bis in alle Abgrnde hinein trgt und darin „ber jedwedem Ding als sein eigener Himmel“, als „seine azurne Glocke und ewige Sicherheit“ steht; „selig ist, wer also segnet!“ (Za III, Vor Sonnenaufgang, KSA 4, S. 208 f.). Das Pathos eines Willens, der zu sich spricht: So wollte ich es und eben so werde ich es immer wollen, speist sich aus Fichtes Ethik, freilich ohne die Selbstbereinstimmung des Ich zugleich als allgemeingesetzlich zu intendieren. Fr Schopenhauer gilt in redlichem Atheismus die Ungçttlichkeit des Daseins als undiskutierbar. Nietzsche kontrastiert damit die ihn eigentlich faszinierende Vergçttlichung des Alls und Lebens, die er bestimmt als eine Universalitt des Verstehens und des „Gutheißens“ (N 1887, KSA 12, 9[178], S. 443 f.). Der auf Goethes Weise vor sich selbst Ehrfrchtige, wie Nietzsche ihn mit Wilhelm Meister typisiert, der sich den gesamten Umfang und Reichtum an Natrlichkeit zu gçnnen wagen darf, zu solcher freimtigen Freiheit im Medium von Geist und Sinnen stark genug ist, steht nach Nietzsches spter Euphorie als wahrhaft freigewordner Geist mit „vertrauendem Fatalismus mitten im All“ und glaubt zuversichtlich, dass nicht im Detail, aber „im Ganzen sich Alles erlçst und bejaht“ (GD, Streifzge eines Unzeitgemssen 49). Diese dionysische Bejahung hat wieder pantheisierende Klnge. Allerdings schließt Nietzsches Bejahungsformel, im Unterschied zu Goethes Spinozismus, die Bejahung des eigenen tragischen Untergangs mit ein.43 In der Frçhlichen Wissenschaft (FW 276, vgl. FW 277) proklamiert S. 517 – 523, S. 587 – 627. Zum amor fati und dessen Spinoza-Hintergrund s. ebd. S. 455 f., S. 469 f. u. ç. 42 J. G. Fichte, ber die Bestimmung des Gelehrten, in: J. G. Fichtes Werke, Bd. IV, S. 297. 43 In der Rckschau nennt Nietzsche Die Geburt der Tragçdie seine „erste Umwertung aller Werte“, da sie ein derart vorbehaltloses „Jasagen zum Leben“ darstellt, dass der Wille zum Leben noch „im Opfer seiner hçchsten Typen“ seiner eigenen „Unerschçpflichkeit“froh zu sein vermag (GD, Was ich den Alten verdanke, 5). Und es gibt fr ihn zu der rein sthetischen Weltrechtfertigung keinen grçßeren Gegensatz als die christliche Versçhnung mit ihrer Betonung der Wahrhaftigkeit, Weisheit, Gte, Gerechtigkeit Gottes, die die Kunst – mit Platons Dichterkritik – ins Reich der Lge verdammen muss (GT, Versuch einer Selbstkritik 5, KSA 1, S. 18). Deshalb hebt er den Sinn von Christi Leiden von dem des Dionysos ab.
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Nietzsche ein Jasagen-Lernen, das im Zarathustra: „Vor Sonnenaufgang“ poetisch ausgeschmckt und bis in seine spteste Zeit in dem quasi-religiçsen Akt des amor fati erstrebt wird. Im Kernbereich betrifft dieses Jasagen eine „Selbst-Wiederfindung“, „ein gçttliches Jasagen zu sich aus animaler Flle und Vollkommenheit“, das ein Christ kaum so naturhaft sich erlauben drfte (N 1887, KSA 12, 10[165]). Der amor fati bedeutet, in Hinblick auf das Seiende im Ganzen „eine Hçhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie Alles so, wie es gehn sollte, auch wirklich geht: wie jede Art ,Unvollkommenheit‘ und das Leiden an ihr mit hinein in die hçchste Wnschbarkeit gehçrt“44. Wenn wir nur zu einem einzigen Augenblick unseres Lebens „Ja“ gesagt haben – hier drfte die Formulierung in Goethes Faust durchklingen: wenn ich nur ein Mal zum Augenblicke spreche, verweile doch, du bist so schçn! , so haben wir damit, da, wie Nietzsche hyberbolisch argumentiert, nichts isoliert fr sich steht, nicht allein uns selbst, sondern alles Dasein wesentlich bejaht. „Wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glck gezittert und getçnt hat, so waren alle Ewigkeiten nçtig, um dies Eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlçst, gerechtfertigt und bejaht.“ (N 1887, KSA 12, 7[38]) Inmitten dieser pantheisierenden Kosmodizee erscheint auch das Ich auf einmal als ein mit sich versçhntes, das wenig Grund hat, sich anzuzweifeln oder zu verachten. Das individualethisch berzeugende ursprngliche Konzept Nietzsches, durch das er sich selbst und jeden anderen zu hoher Bewusstheit ermahnt, lautet: Wenn du dir den „Gedanken der Gedanken“, das ist die Wiederkehr, einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du tun willst: ,ist es so, daß ich es unzhlige Male thun will?‘ ist das „grçßte Schwergewicht“. Unsre Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran, wenn wir nicht religiçs weltflchtig nach „fernen unbekannten Seligkeiten und Segnung en und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen!“ (N 1881, KSA 9, 11[143], 11[161]) Diese Fichte nahe Formel des Sittengesetzes, die zur Selbstprfung des handelnden Ich sub specie aeterni aufruft, wird von Nietzsche tragisch, nmlich in Wahrheit als durchweg heillose berforderung und hufiges Zerbrechenmssen des sterblichen Ich verstanden, ja zuletzt utopisch-darwinistisch ausgedeutet, nmlich als Ausleseverfahren, das den hçheren Menschen heraufbeschwçrt und Schwache aussiebt. 44 N 1887/1888, KSA 13, 11[30]; vgl. N 1887/1888, KSA 13, 16[32].
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Die Alternative, die Nietzsche zur Ausarbeitungszeit des Zarathustra zusehends unerbittlicher heraufbeschwçrt: inneres Zerbrechen des Menschen oder aber Verwandeltwerden angesichts der Vorstellung, dass alles von ihm Erlebte und Getane genauso wiederkehrt, wird zuerst in Frçhliche Wissenschaft (FW 341) als die neue Gretchenfrage im Horizont individueller Lebensgestaltung ausgesprochen: D a s g r ç ß t e S c h w e r g e w i c h t . – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dmon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzhlige Male leben mssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer […] muß dir wiederkommen […] . – Wrdest du dich nicht niederwerfen […] und den Dmon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten wrdest: „Du bist ein Gott und nie hçrte ich Gçttlicheres!“ Wenn jener Gedanke ber dich Gewalt bekme, er wrde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: „Willst du dies noch einmal und noch unzhlige Male?“ wrde als das grçßte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!
Zieht man den Bedeutungskontext des Zarathustra hinzu, so verkndet Nietzsches Dmon die entscheidende Aufgabe des Daseins, sich womçglich zum bermenschen heranzubilden und – nach Feuerbach – seine eigene Gçttlichkeit zu realisieren.45 Aus dem biologistischen Kontext wohltuend herausgenommen sind Nietzsches Erwgungen: „Ich suche nach einer Ewigkeit fr Jegliches […]“, – so umschreibt er mit Wehmut die Bedeutung des Gedankens der Wiederkehr. Und es gilt dem „Phantasie-Effekt des Christentums“, das ein „unerhçrtes Sich-ausspannen“ der Seele in ihrer Berufung durch Gott erwirkte, gerade fr die edelmtigen Naturen Maßstbe oder etwas berbietendes entgegenzusetzen. Als Kontrast dazu erklrt er mit Pascal die christliche Verewigung der Seele als ein Entziehen der Seele „von der Welt, um sie sich selber sterben zu machen, um sie einzig und unvernderlich an Gott zu knpfen“ (N 1880, KSA 9, 7[272]). Er sucht also nach einer neuen Rechtfertigung des in die Nichtigkeit ausgesetzten Daseins und nach einer mçglichen Bejahung auch noch der Fraglichkeit, des von Ohngefhr, vom Zufall Herrhrens aller Dinge, wie er in rcksichtslosem Verdacht gegen alle 45 Zum Aphorismus „D a s g r ç ß t e S c h w e r g e w i c h t “ (FW 341) s. Jçrg Salaquarda, Der ungeheure Augenblick, in: Nietzsche-Studien 18, 1989, S. 317 – 337. Er macht auf mystische Konnotationen des „Augenblicks“ aufmerksam und erçrtert die Bedeutung des „Dmons“ als innerer Stimme auch in der Tradition von Sokrates bis Goethe.
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die schçnen Wunschwelten mutmaßt. Durch die Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen sucht Nietzsche einen Ersatz fr den Glauben an die Auferweckung der Toten und an eine gute gçttliche Vorsehung zu begrnden, den der im All verlorene Mensch in eigener (ber-)Anstrengung aufbieten muss. – Nietzsche schildert die durch die Idee der Wiederkehr gestillte Ewigkeitssehnsucht und sich als Epimetheus: Du fhlst, daß du Ab s c h i e d nehmen wirst, bald vielleicht – und die Abendrçthe dieses Gefhls leuchtet in dein Glck. Achte auf dieses Zeugnis: es bedeutet, daß du das Leben, und dich selber liebst, und zwar das Leben, so wie es bisher dich getroffen und dich gestaltet hat – und d a ß d u n a c h Ve r e w i g u n g d e s s e l b e n t r a c h t e s t . Non alia sed haec vita sempiterna! – Wisse aber auch! – daß die Vergnglichkeit ihr kurzes Lied immer wieder singt und daß man im Hçren der ersten Strophe vor Sehnsucht fast stirbt, im Gedanken, es mçchte fr immer vorbei sein. (N 1881, KSA 9, 15[54])
Umstritten ist in der Forschung, ob bei Nietzsche, insbesondere in seiner Parabel vom ,tollen Menschen‘, religiçse Nostalgie auszumachen sei. Gewiss hat Nietzsche, wie die Aufklrer seit der Antike, Gelassenheit gegenber religiçsen ngsten zu begrnden gesucht. Doch die intellektuelle Redlichkeit gebot ihm, erkenntniskritisch im Horizont Kants, ja in Radikalisierung der Kantischen Vernunftkritik,46 außer dem Nichtsein auch das mçgliche Sein eines Gottes durchzureflektieren, dessen antichristlich experimenteller Problemtitel „Dionysos“ jenseits von Gut und Bçse lautet. Wenn man annehmen mçchte, religiçse Nostalgie sei Nietzsche fremd, so ist indes festzustellen, dass er sie jedenfalls als Problem gesehen und ernsthaft mitbedacht hat, wofr hier nur Stichworte beizubringen sind: 1) Die Aufdeckung kardinaler metaphysischer Irrtmer – v. a. solcher, die den Menschen ber das Tier erhoben – durch exzessive freigeistige Wahrheitsforschung ist es, was fr Nietzsche die melancholische Verdsterung der modernen Welt eskalieren macht. Whrend die rein wissenschaftlich erkundete Welt unserem inneren Sein wesentlich fremd bleibt, ist die Welt, die uns wirklich etwas angeht,47 in der unsere „Freuden, Hoffnungen, […] Phantasien, Gebete […] wurzeln“, fr Nietzsche eben die alte metaphysische Welt, die wir selbst destruierten. Diese Welt schufen wir Menschen in unbewusstem Dichtertum und erdachten uns hernach noch einen Schçpfer fr 46 Vgl. dazu Edith Dsing, „Ich will, daß Gott (nicht) sei!“ – Kants Gottespostulat im Spiegel seiner Verfremdung durch Nietzsche, in: K. Gloy (Hg.), Unser Zeitalter – ein postmetaphysisches?, Wrzburg 2004, S. 353 – 373. 47 Die Welt, die uns Menschen wahrhaft angeht, gibt es nicht, sie ist, wie der freie Geist entdeckt hat, „falsch“; deshalb sei das Resultat von Menschliches, Allzumenschliches die „logische Weltverneinung“ gewesen (N 1885, KSA 11, 40[65]).
Gottestod – Nihilismus – Melancholie
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das All und uns oder zerqulten uns, wie Pascal, mit der Frage nach dem Woher. Und ber diese metaphysische ganze Welt als Herdersche Urdichtung der Menschheit ruft Nietzsche in wehmutsvollem Erinnern, ja im Blick zurck mit Dank, aus: „oh wie haben wir sie g eliebt !“ (N 1881, KSA 9, 14[9]). 2) Zarathustra erleidet einen depressiven Anfall im Innewerden der Wiederkunfts-Idee, die ein Gottessurrogat ist; der auf ihn springende Zwerg verkçrpert den Geist der Schwere, mithin der Schwermut; Zarathustras Schatten aber hat lange Beine, die W. Mller-Lauter ausgedeutet hat. Das „Lied des Zauberers“, spter die „Klage der Ariadne“, jeweils Alteration von Zarathustra, spricht im Flehen nach unverbrchlicher Liebe, trotz unterschwellig psychopathologischen Hindeutens auf Hysterie, die Sprache religiçsen Sehnens nach dem verlorenen oder unbekannten Gott. 3) Im Gesprch mit Lou Salom war fr Nietzsche ein denkmçgliches Apostatentum des freien Geistes Thema, d. i. die logisch und psychologisch stimmige Rckkehr, wenn alle kontrren Positionen ganz durchlaufen worden wren, zum (wiewohl substanziell verwandelten) christlichen Glauben. 4) Biografische Notiz, im Bndnis mit W. Ross: So wenig Nietzsche, – wenn man das einmal strikt behaupten mçchte – religiçse Nostalgie hat hegen oder gar ihrer Versuchung hat erliegen wollen, so spricht im Frhjahr 1889 eine deutliche Sprache das Durchbrechen einer „religiçsen Stimmung“ bei Nietzsche (so Franziska Nietzsche an Overbeck); sie spricht nmlich fr einen zuvor wohl mit einigem Energieaufwand unterdrckten christlich religiçsen Vorstellungs- und Gefhlskomplex. Die in kindhaftem Bewusstsein von Nietzsche nach seinem Zusammenbruch erlittene Rckkehr zum Glauben der Vter drfte eine jahrelang verdrngte Sehnsucht bezeugen. 5) Fr den ihn hoch wertschtzenden Sigmund Freud ist Nietzsche bei allem Scharfsinn, in seiner kritisch hellwachen „endopsychischen Wahrnehmung“die tieferen Schichten seines Selbst zu erkennen, gleichwohl Moralist geblieben; er sei den Theologen in ihm niemals losgeworden. – Schlussbemerkung der Verfasserin: Nicht allein den Gott, den er selbst schuf, vermag der Mensch zu ,tçten‘, auch und nur den, der durch seine frei bejahte Passion sich in der Menschen Hnde ausliefert, die ihn kreuzigen und verhçhnen: Arzt, hilf dir selbst, wie du anderen halfest, Jesus, der ihre unbewusst vollbrachte Tat des Gottesmordes mit dem Gebet beantwortet: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Luk 23, 34).
Kern und Schale. Wissenschaft und Untergang der Religion bei Nietzsche Marco Brusotti In dem von Nietzsche diagnostizierten und vorausgesagten Untergang der christlichen Religion spielt Wissenschaft bekanntlich eine doppelte Rolle. Sie ist die antreibende Kraft, zugleich aber lebt gerade in ihr, wenn auch in sublimierter Form, das alte asketische Ideal weiter: „Man sieht“ nmlich, „was eigentlich ber den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralitt selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtvter-Feinheit des christlichen Gewissens, bersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis.“1 Gerade die radikalsten und strengsten Vertreter der Wissenschaft stellen demnach, ohne dass sie es wissen, die letzte und verfnglichste Verkçrperung des asketischen Ideals dar; denn gerade im unbedingten Willen zur Wahrheit dieser (angeblich) „freien Geister“ findet die Genealogie den von seiner Schale befreiten „Kern“ jenes Ideals.2 Im langen Auflçsungsprozess des christlichen Glaubens verneint das wissenschaftliche Ethos (die „Wahrhaftigkeit“) lediglich das, was am asketischen Ideal ußerlich, exoterisch, eigentlich bereits tot ist – „dessen Aussenwerke, Einkleidung, Maskenspiel, […] dessen zeitweilige Verhrtung, Verholzung, Verdogmatisirung“ (GM III 27) –, der lebendige Kern dagegen bleibt, wenn auch unauffllig und in neuer Gestalt, in eben diesem Ethos erhalten, im Glauben an den Wert der Wahrheit, der im Grunde ebenso unbedingt ist wie der christliche: „[…] jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, […] das ist der Glaube an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit, wie er allein in jenem Ideal verbrgt und verbrieft ist (er steht und fllt mit jenem 1 2
FW 357, KSA 3, S. 600; zitiert mit Ausnahme der ersten Worte auch in GM III 27. „berall sonst, wo der Geist heute streng, mchtig und ohne Falschmnzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt berhaupt des Ideals – der populre Ausdruck fr diese Abstinenz ist ,Atheismus‘ –: a b g e r e c h n e t s e i n e s W i l l e n s z u r Wa h r h e i t . Dieser Wille aber, dieser R e s t von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein K e r n .“ (GM III 27)
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Ideal).“ (GM III 24) Die frçhliche Wissenschaft sah nach dem ,Tod‘ des christlichen Gottes (nur) noch dessen vielgestaltige Schatten berleben, die irgendwann, wenn auch vielleicht sehr spt, selbst entschwinden sollten. Zur Genealogie der Moral betont wiederum, dass es sich beim Willen zur Wahrheit keineswegs um ein berbleibsel, um einen bloßen „Rest von Ideal“ handelt, sondern um dessen lebendigen „Kern“ selbst. Zwar hat das asketische Ideal seine metaphysische Grundlage eigentlich verloren, aber es behlt einstweilen die Herrschaft, weil und solange es inkognito bleibt und es keine Alternativen gibt. Da die Identitt von Wahrheit und Wert, der Kern des asketischen Ideals, einen Willen zum Nichts ausdrckt (Nietzsche zufolge „heisst in allen pessimistischen Religionen das Nichts Gott“; GM III 17, KSA 3, S. 382), ist der Wille zur Wahrheit der „freien Geister“ in Nietzsches Augen die letzte und esoterischste Gestalt des Willens zum Nichts. Dies ist alles nicht neu, weniger bekannt ist aber, dass Nietzsche selbst das, was die Genealogie anprangert, noch Mitte der 1870er Jahre versucht hatte: Er wollte damals die Wissenschaft als „Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwche und Ziellosigkeit der Menschen“ (N 1875, KSA 8, 5[166]) in Dienst nehmen und im Sinne einer neuen, intellektuellen Askese verwenden. Er selbst wollte auf diese Weise, so drckte er sich schon damals aus, den „Kern“des Christentums „ohne alle Schale und Mythologie“ (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 180), d. h. in einer nicht religiçsen (wenn auch noch deutlich durch Schopenhauers Ethik geprgten) Form bewahren. Es handelte sich dabei also nicht nur um eine historische Diagnose der kulturgeschichtlichen Wirkungen von Wissenschaft, sondern um ein Projekt, das Nietzsche selbst als erster verwirklichen wollte: eine zeitgemße, vçllig skulare Version von damals durch Schopenhauer gefilterten christlichen Lebensformen. Gerade die selbsterdachte und -erlebte Verbindung christlicher und nachchristlicher Motive in einer neuen Form intellektueller Askese veranlasst dann den Autor der Genealogie, in die Geschichte des asketischen Ideals auch die nachchristliche Moderne einzubeziehen. Die Analysen in der spten Streitschrift, die eine beeindruckende Wirkungsgeschichte haben werden, stellen also auch eine implizite Auseinandersetzung Nietzsches mit seinem frheren Selbst dar. Die spte Diagnose hngt mit den frhen Versuchen, asketische Lebensformen zu erneuern, auf verschlungene Weise zusammen. Mein Beitrag mçchte dieses Geflecht etwas entwirren. Das Anliegen hier ist kein biografisches oder psychologisches; bereits 1875 sah Nietzsche in jenen Versuchen nicht nur eine persçnliche Lebensepisode, sondern machte darin eine bergreifende historische Entwicklung aus. Diese allgemeinere Tragweite seiner Analysen erklrt auch die
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bleibende Popularitt der Genealogie: Foucaults Reflexionen ber den Willen zum Wissen und ber das Weiterbestehen asketischer Selbstverhltnisse noch in der Psychoanalyse sind nur die bekannteste unter den aktualisierenden Anwendungen. Im Sommer 1875 will der zuletzt als Autor der dritten Unzeitgemßen hervorgetretene Nietzsche „sehen, was [er] an Schopenhauer habe, was nicht“; deshalb nimmt er sich vor, „Dhring, als den Versuch einer Beseitigung Schopenhauer‘s durchzustudiren“ (N 1875, KSA 8, 8[4]). In seiner langen Zusammenfassung von Der Werth des Lebens 3 alternieren kritische Bemerkungen und oft beinahe wçrtliche excerpta. Nietzsche besiegelt das Ganze mit dem Wort „Ende“und fgt eine „Schluss-Betrachtung, von mir“ (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 178) hinzu: Sie gipfelt in einer Reflexion, die er sein „Evangelium“ (ebd., S. 180) nennt.4 Eugen Dhring trat als ,Anwalt des Lebens‘ auf: Er wollte dessen Wert gegen Metaphysik und Pessimismus verteidigen. In spteren Jahren wird Nietzsche einen hnlichen Anspruch erheben und sich selbst als den Philosophen der Lebensbejahung betrachten; 1875 aber bekennt er sich noch zu 3
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Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung (1865), Breslau 1986. Zu Nietzsches Dhring-Lektre vgl. insbes. Aldo Venturelli, Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dhring, in: Nietzsche-Studien 14, 1985, S. 107 – 139; jetzt berarbeitet in: Ders.: Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche: quellenkritische Untersuchungen, Berlin / New York 2003, S. 203 – 237. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Dhring in der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches vgl. auch Volker Gerhardt, Das ,Prinzip des Gleichgewichts‘. Zum Verhltnis von Recht und Macht bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12, 1983, S. 111 – 133; Marco Brusotti, Sprache und Selbsterkenntnis. Zu Nietzsches Aphorismus Elemente der Rache (WS 33), in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10, 2003, S. 193 – 201. Zur Auseinandersetzung mit Dhring in der Genealogie vgl. Marco Brusotti, Die ,Selbstverkleinerung des Menschen‘ in der Moderne. Studie zu Nietzsches Zur Genealogie der Moral, in: Nietzsche-Studien 21, 1992, S. 81 – 136, insbes. S. 82 ff. Ein Jahr spter, im September 1876, nimmt Nietzsche dieses „Evangelium“ – grndlich berarbeitet – in „Di e P f l u g s c h a r “ auf (vgl. N 1875, KSA 8, 18[34]). Die im Folgenden ausgefhrten berlegungen zu Nietzsches „Evangelium“ berschneiden sich mit Betrachtungen meiner Monographie, die sie z. T. wçrtlich wiederaufnehmen, enthalten aber zugleich neue Gesichtspunkte; vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin / New York 1997, insbes. S. 3 ff. Zu Rache, Selbsterkenntnis und „Selbstbegnadigung“ in Nietzsches „Evangelium“ vgl. auch Peter Heller, Von den ersten und letzten Dingen. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin/ New York 1972, insbes. S. 445 ff.; zu den Exzerpten von 1875 vgl. Venturelli, Asketismus und Wille zur Macht, S. 109 ff.
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asketischen, pessimistischen Positionen. Die Denkfigur, mit der er sein von Schopenhauer noch stark beeinflusstes „Evangelium“ einleitet, soll den asketischen und pessimistischen Kern des christlichen und schopenhauerschen Ideals vor der Kritik des ,Optimisten‘ Dhring retten. Im Sommer 1875 begegnet Nietzsche im Werth des Lebens Ideen, auf die er in seinem weiteren Denkweg kritisch oder vertiefend immer wieder zurckkommen wird. Eine Idee, der er 1875 beipflichtet und die Zur Genealogie der Moral dagegen scharf kritisieren wird, ist die Ableitung der Gerechtigkeit aus der Rache, aus dem Ressentiment, einem Ausdruck, den Nietzsche Dhring entnimmt und den er gerade hier zum ersten Mal verwendet. Nietzsche macht sich auch Dhrings Auffassung zu eigen, dass die Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit auf das Rachegefhl zurckgeht und dass diese „transcendente Befriedigung der Rache“ (ebd., S. 176) anders als die diesseitige unzulssig ist. Schopenhauers Philosophie stellt Dhring zufolge die letzte Gestalt einer solchen „Metaphysik der Rache“5 dar. In diesem entscheidenden Punkt stimmt Nietzsche ihm zu. Im Schlussteil seiner Zusammenfassung verzichtet er darauf, Schopenhauer gegen diesen Einwand in Schutz zu nehmen. Aber nicht nur: Da ihm Dhrings Interpretation der Metaphysik, insbesondere der Schopenhauerschen, als imaginrer Rachebefriedigung einleuchtet, schwenkt er zuletzt auch auf dessen Deutung der Askese ein. Er gibt offenbar erst in dem „Evangelium“ nach, in das seine persçnliche „Schluss-Betrachtung“ mndet, d. h. erst, nachdem er das ganze Buch gelesen hat. Nachdem er in seinen Exzerpten Dhrings „unverschmte Schimpferei“ (ebd., S. 138) immer wieder energisch abgewehrt hat („Da ist nun alles verkehrt!“, ebd., S. 139), kommt er schließlich doch zu dem Ergebnis, „Askese“ sei „Rache an sich in Thtlichkeit des Widerwillens und Hasses“ (ebd., S. 180).6 Dhring zufolge bt man in der Askese Rache ,am Leben‘; dass der Asketische sie „an sich“ selbst bt, ist Nietzsches eigenstndige Weiterfhrung.7 5 6 7
Dhring, Der Werth des Lebens, S. 234. Noch in Zarathustras Rede Von der Erlçsung heißt „Rache“ wie bereits im „Evangelium“ ein „Widerwille“, jedoch weit grundstzlicher „des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es war’“. (Za II, KSA 4, S. 180) „In viel Hast und Arbeit zeigt sich derselbe Hang“ (N 1875, KSA 8, 9[1]) des Asketischen, sich an sich selbst zu rchen. Hier stellt Nietzsche diesen Hang zur Rache durch berarbeitung (implizit) bei sich selbst fest. Nicht so in der Genealogie: Durch die „Wissenschaft als Mittel der Selbstbetubung“, durch „besinnungslose[n] Fleiss“ unterscheiden sich hier „unsre[] besten Gelehrten“ (GM III 23, KSA 5, S. 397) nicht nur von Nietzsche selbst, sondern auch von den sogenannten ,freien Geistern’, der „jngsten[n] Erscheinungsform des asketischen Ideals“. Zum Unterschied zwischen
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Wie kommt er zu dieser Deutung der Askese? Zuerst gelangt er von seiner eigenen Erfahrung aus zu dem Ergebnis, dass Selbsterkenntnis auf den Rachetrieb zurckgeht, d. h., dass man sich durch Selbsterkenntnis, durch Introspektion und moralische Selbstprfung, an sich selbst rcht. Erst dann fhrt Nietzsche nicht Selbsterkenntnis allein, sondern Askese berhaupt auf den Trieb zurck, an einem selbst Rache zu ben. Er entnimmt diese Idee, die fr die Genealogie eine entscheidende Bedeutung haben wird, nicht direkt dem Werth des Lebens, sondern entwickelt sie autonom: In seinem abschließenden „Evangelium“ unternimmt er, wenn auch von Dhring angeregt, den Schritt, Selbsterkenntnis als Selbstrache zu deuten. Nietzsche bedient sich des Rachebegriffs, um ber eine Form von Selbsterkenntnis nachzudenken, die er bereits 1867/1868 beschrieben hatte. Schon im „Rckblick auf meine zwei Leipziger Jahre 17 Oktober 1865 – 10 August 1867“ steht nmlich fest, dass Selbsterkenntnis auf Selbstverachtung hinausluft. Nietzsche berichtet hier, bei seiner ersten Lektre der Welt als Wille und Vorstellung sei er von einem „gegen [s]ich selbst gerichteten Haß“ beherrscht worden, und er beschreibt den „Umschwung[]“, in dem ein gewaltiges „Bedrfniß nach Selbsterkenntnis, ja Selbstzernagung“ ihn berfallen und er „alle [s]eine Eigenschaften und Bestrebungen vor das Forum einer dsteren Selbstverachtung“ gefhrt habe.8 Dass die neue Lektre ihn zur „Selbsterkenntnis“ antrieb, ist nachvollziehbar: Schopenhauer fhrt Willensverneinung auf Selbsterkenntnis zurck: Der Wille zum Leben kann erst bei erreichter Selbsterkenntnis verneint werden. Scho-
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diesen Gestalten vgl. Brusotti, Die ,Selbstverkleinerung des Menschen’, insbes. S. 115 ff. „[…] und begann jenen energischen dsteren Genius auf mich einwirken zu lassen. Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt Leben und eigen Gemth in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hçlle und Himmel. Das Bedrfniß nach Selbsterkenntnis, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwunges sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermthigen Tagebuchbltter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und ihrem verzweifelten Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns. Indem ich alle meine Eigenschaften und Bestrebungen vor das Forum einer dsteren Selbstverachtung zog, war ich bitter, ungerecht und zgellos in dem gegen mich selbst gerichteten Haß. Auch leibliche Peinigungen fehlten nicht. […] / […] Eine nervçse Aufgeregtheit bemchtigte sich meiner und wer weiß wie zu welchem Grade von Thorheit ich vorgeschritten wre wenn nicht die Lockungen des Lebens, der Eitelkeit und der Zwang zu regelmßigen Studien dagegen gewirkt htten.“ (N 1867/1868, KGW I 4, 60[1], S. 513 f.)
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penhauer will in dieser Lehre den asketischen und pessimistischen Kern auch des christlichen Ideals formulieren. Daran knpft Nietzsche an. Sein Rckblick beginnt mit einer enger an Schopenhauer angelehnten Begrifflichkeit („Entsagung, Verneinung, Resignation“), verwendet dann aber gerade dort, wo es um das Streben nach „Selbsterkenntnis“ geht, eher ein christliches, protestantisches Vokabular als ein Schopenhauersches, etwa wenn er sein „verzweifelte[s] Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns“ beschreibt. Die durch Selbsthass getriebene „Selbstzernagung“, zu der die neue Lektre Anlass gibt, hat also eine nicht allein auf diese zurckgehende spezifische Prgung: Die Erfahrung, wie der „Rckblick“ sie beschreibt, wirkt wie eine im Lichte Schopenhauers gedeutete skularisierte Version der christlichen Selbstprfung. Wohlgemerkt: Nietzsche ist bereits 1865 Religion und Metaphysik grndlich abgeneigt,9 und im „Rckblick“ von 1867/1868, der ansonsten seine Leipziger Studienzeit in eher nchternem Ton schildert, schließt die Darstellung seiner ersten Schopenhauer-Lektre mit einer distanzierten ,medizinischen‘ Diagnose, die in nuce bereits die spten Analysen enthlt. Er beschreibt sich selbstkritisch als „bitter, ungerecht und zgellos“ in seinem Selbsthass, seine „Selbstanklagen“ scheinen ihm rckblickend „nutzlos[]“ (N 1867/1868, KGW I 4, 60[1], S. 513) und sein ganzes Verhalten eine „Thorheit“, die er zu seinem Glck nicht bis zum ußersten trieb (ebd., S. 514). Im Grunde pathologisiert er nachtrglich seinen vormaligen Zustand als eine „nervçse Aufgeregtheit“ (ebd.). Diese Askese, denn „[a]uch leibliche Peinigungen fehlten nicht“, fand also ein Ende: „die Lockungen des Lebens, der Eitelkeit und der Zwang zu regelmßigen Studien“ wirkten schließlich als Gegengift.10 Nietzsche hatte also den Denker gefunden, zu 9 Gegen „Theologen und Metaphysiker“ (N 1867/1868, KGW I 4, 59[1], S. 504) ist Nietzsche schon damals sehr kritisch, und Schopenhauer wrdigt er eher „als Schriftsteller“ (N 1867/1868, KGW I 4, 58[51], S. 494) und als Ethiker. 10 Nietzsche verwendet hier den Ausdruck ,Askese’ nicht. Eine absichtlich „unphilologische“ Spekulation ber Thrasyll verbindet Selbstbeobachtung und Askese; „die a s k e t i s c h e Lebensweise jenes ,wunderlichen Heiligen’‹,› die peinliche S e l b s t b e o b a c h t u n g “ habe auf Tiberius Eindruck gemacht. (Ebd., S. 462) Ein Schema aus derselben Zeit listet eine Reihe kritischer Argumente gegen „S e l b s t b e o b a c h t u n g “ auf, wie man sie aus Nietzsches spteren Reflexionen kennt. Der erste Einwand ist, dass „[s]ie betrgt“. (N 1867/1868, KGW I 4, 58[43], S. 489) Selbstbeobachtung sei zwar „eine Waffe gegen fremde Einflsse“, zugleich aber eine „Entwicklungskrankheit“: „Das Beobachten hemmt die Energie: es zersetzt u. zerbrçckelt.“ (Ebd.) Besonders nachteilig erscheint es, wenn man sich dabei wie der Student Nietzsche an einem Ideal misst: „Die sich an einem Ideale messen, lernen sich nicht kennen auße‹r› in ihren Schwchen. Aber auch deren Grade sind ihnen
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dessen Philosophie sich der Autor des Rckblicks weiterhin bekennt, berwand aber bald jene schmerzliche Krise und wandte sich, statt den Willen zu verneinen, dem Leben wieder zu. Dieses Muster – zuerst Krise, Krankheit, Erkenntnis und dann Rckkehr zum Leben – wird in seinen spteren autobiographischen Versuchen stndig wiederkehren – angewandt auf andere Lebensphasen. Was im „Rckblick“ von 1867/1868 implizit blieb, spricht das „Evangelium“ von 1875 deutlich aus: Nietzsche denkt seine eigene Erfahrung als eine Abwandlung der christlichen Selbsterforschung und schildert ein vornehmlich im Inneren sich abspielendes Drama von Rache und Vergebung. In seinem „Evangelium“ denkt er also ber die Art von vorwurfsvoller Selbstbefragung nach, die seine erste Vertiefung in Schopenhauers Hauptwerk geprgt hatte. Er deutet nun jene „Selbstzernagung“ mit Hilfe des von Dhring entwickelten Rachebegriffs: Der bereits in jenem frhen autobiographischen Bericht diagnostizierte gegen einen selbst gerichtete Hass wird nun als Rache expliziert. Nietzsche hat zunchst „genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt, in Sndhaftigkeit“; dann hat er begonnen „gegen sich das Gefhl der Rache zu spren: seine eindringende Selbstbetrachtung und deren Resultat Selbstverachtung ist das Resultat [sic].“ (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 180) Dhrings Auffassung, der Rachetrieb reagiere auf eine (ungerechte) „Verletzung“, wird hier auf das Selbstverhltnis angewendet: Wer sich selbst verletzt, so Nietzsche (nicht Dhring, der auch den religiçsen Ausdruck „in Sndhaftigkeit“ nie verwendet htte), ruft bei sich einen nach innen gerichteten Rachetrieb hervor, und dieser drngt ihn, sich selbst zu erforschen; Nietzsche habe sich durch diese „eindringende Selbstbetrachtung“, durch die Erkenntnis der eigenen Verchtlichkeit an sich rchen wollen.11 Aus Dhrings Auffassung erklrt sich ein charakteristischer Zug, unbekannt.“ (Ebd.) Diese Grade, darf man vermuten, bleiben anders als die eigenen Strken auch demjenigen unbekannt, der sich an keinem Ideal misst. – An Goethe anklingend heißt es: „Erkenne dich selbst. / Durch Handeln, nicht dur‹c›h Betrachten.“ Schon hier heißt es wie noch in Ecce Homo: „Der Instinkt ist das Beste. […] Unsre Thaten mssen unbewußt geschehn.“ (Ebd.) Der Mensch erkennt sich selbst, indem er handelt, aber gerade nicht, indem er sich beim Handeln beobachtet; er erkennt sich eher nachtrglich, wenn er auf die eigenen instinktiven, unbewussten Handlungen zurckblickt, deren Energie er nicht durch Selbstbeobachtung gehemmt hat. Vgl. auch die Zeichnung „nosce te ipsum“ (KGW I 4, 55[11Z]). 11 Ende 1876-Sommer 1877, also einige Zeit nach Abfassung der „P f l u g s c h a r “, fhrt Nietzsche die „heftige Neigung zur Selbstprfung und -Verachtung, die man bei Sndern Bssern und Heiligen wahrnimmt“, in vielen Fllen „auf eine allgemeine Ermdung ihres Lebenswillens (oder der Nerven)“ zurck, „gegen welche sie auch die schmerzhaftesten Reizmittel anwenden“ (N 1876/1877, KSA 8, 23[113]).
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der das „Evangelium“vom Leipziger Bericht (und von spteren Reflexionen) abhebt: Der Autor des Rckblicks von 1867/1868 hatte in seinem vormaligen „gegen [s]ich selbst gerichteten Haß“ eine „nervçse Aufgeregtheit“ diagnostiziert; er sei, meinte er nun, „bitter, ungerecht und zgellos“ (KGW I 4, 60[1], S. 514; Hervorh. M. B.) gegen sich selbst gewesen. Das „Evangelium“ von 1875 dagegen schließt wie Dhring Rache und Gerechtigkeit zusammen und impliziert die Gerechtigkeit einer solchen gegen einen selbst gerichteten Rache. Sie fhrt zur Selbsterkenntnis und dadurch zur Selbstverachtung. Schon der Bericht von 1867/1868 hatte den Ausgang beschrieben: Jener Selbsthass und die durch ihn getriebene Selbsterkenntnis whrten nicht ewig, das Leben lockte den Studenten wieder, und er wurde jenem schmerzlichen Zustand entrissen; befreiend wirkte hier die Philologie, der Ehrgeiz (die „Eitelkeit“) des jungen aufstrebenden Gelehrten suchte nach Befriedigung, und er kehrte zu regelmßigen Studien zurck. Das „Evangelium“ von 1875 reinterpretiert die Krise und mehr noch deren berwindung: Die Rckkehr zu Leben und Handeln erscheint nun als eine in Nietzsches Ideal noch eingeschlossene Lçsung; denn erst nachdem er sich selbst gleichsam begnadigt hat, gelangt er zu dem Ideal, das er als den „Kern“ des Christentums betrachtet. Die Lebenstriebe setzen sich durch, das Rachegefhl weicht der „Selbstliebe“. Es bleibt jedoch bei jener Selbstverachtung. Sie ist freilich nicht mehr vom Durst nach Rache getrieben, weil dieser durch andere Gefhle, durch die „Liebe“, abgelçst wurde: Nun koexistieren Verachtung als „Sache des Kopfes“, d. h. als rein intellektuelle Selbstbetrachtung, und Liebe als Sache des Herzens. Dies ist das von Nietzsche verkndete Ideal: „Der, welcher sich selbst ganz rein lieben kçnnte, – also in vçllig gereinigter Selbstliebe – wre der, welcher zugleich sich selbst verachtete.“ (KSA 8, 9[1], S. 180) Man empfindet dabei „Erbarmen mit sich und seiner vçlligen Verchtlichkeit“ (KSA 8; 18[34]). Nietzsche sieht in dieser „Selbstli ebe aus Erbarmen“ „die Stellung von Christus zur Welt“und damit den „Kern des Christenthums, ohne alle Schale und Mythologie“ (KSA 8, 9[1], S. 180).12 Zu der mythologischen Schale, Diesen Zusammenhang von Ermdung und bermßiger Reizung vertieft Nietzsche 1880 in seinen Analysen des Machtgefhls. Vgl. dazu Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, S. 76 ff. 12 „Bei keiner Sache hat man so sehr den Kern von der Schaale zu unterscheiden, wie beim Christenthum.“ So Schopenhauer. Er bezeichnet dabei als den (von ihm hochgeschtzten) „innersten Kern des Christenthums“ die „Askese und deren Centralpunkt, die Verdienstlichkeit des Cçlibats“ (WWV 2, § 48, S. 718). „Der innerste Kern und Geist des Christenthums“ – brigens „mit dem des Brahma-
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von der dieser Kern befreit werden soll, gehçrt alles spezifisch Religiçse, das sich mit der bereits im „Evangelium“ geforderten intellektuellen ,Reinheit‘ nicht vertrgt; denn die „Selbstliebe“ ist eigentlich erst dann vçllig gereinigt, wenn sie keinerlei Illusionen mehr beinhaltet. Bereits Schopenhauer nahm fr seine Philosophie in Anspruch, dass sie den asketischen Kern des Christentums bewahre.13 Ohne besonders religiçs zu sein, hlt Nietzsche an diesem Anspruch fest und macht ihn fr das abgewandelte pessimistische Ideal geltend, das er einstweilen gegen den ,Anwalt des Lebens‘ verteidigt: Die mythologische Erkenntnis der eigenen „Sndhaftigkeit“ soll hier eine mythologiefreie Entsprechung finden. Wer sich selbst bestraft, endet schließlich damit, sich selbst zu begnadigen. Denn was der Christ als ein „Gnaden-Wunder“ betrachte, sei in Wirklichkeit seine eigene „Selbstbegnadigung“. „[D]ie Gnadenwirkung aber ist unsere eigene“ (WWV 1, § 70, S. 481 Anm.), heißt es bereits bei Schopenhauer, fr den der Theismus ebenfalls nicht zum eigentlichen Kern des Christentums gehçrt. Bei ihm ist die „Gnadenwirkung“ der kirchliche Name fr die Selbstaufhebung des Willens. Nietzsche dagegen fhrt die „Selbstbegnadigung“ gerade auf die zuletzt unaufhebbare „Selbstliebe“ zurck. Es handelt sich um eine „geluterte und unbegreifliche Liebe“: „Die Rache wird abgethan. Damit auch die Selbsterkenntniß. Wir handeln wieder und leben weiter. Aber alle gewçhnlichen Motive, die uns sonst leiten, erscheinen verwandelt.“ (KSA 8; 9[1], S. 180 f.) Wird Selbsterkenntnis wirklich „abgethan“? Die sptere Fassung behauptet es nicht mehr: Der Mensch „kann nicht aufhçren, sich zu lieben, da seine Liebe nie Sache des Kopfes sein kann. In diesem Zustande wird die Liebe Herr ber das Gefhl der Rache, der Mensch vermag wieder zu handeln und weiter zu leben; er hlt freilich dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch […]“ (N 1876, KSA 8, 18[34] zit.). nismus und Buddhaismus der selbe“ – ist gemß dem gleichen Kapitel „eine schwere Verschuldung des Menschengeschlechts durch sein Daseyn selbst“ (WWV 2, § 48, S. 693). Schopenhauer erwhnt jeweils nur eine Seite derselben Lehre. Der erste Band hat diese in ihrem Ganzen als den Kern des Christentums bestimmt: „Wirklich ist die Lehre von der Erbsnde (Bejahung des Willens) und von der Erlçsung (Verneinung des Willens) die große Wahrheit, welche den Kern des Christenthums ausmacht; whrend das Uebrige meistens nur Einkleidung und Hlle, oder Beiwerk ist.“ (WWV 1, § 70, S. 480) 13 Wenn man „auf den Kern der Sache“ gehe, statt „bei der Schaale“ stehenzubleiben, kçnne man seine Lehre sogar „die eigentliche Christliche Philosophie“ nennen (Parerga 2, Kap. XIV, § 164, S. 336; vgl. auch den Schlussabsatz von WWV 1, § 70, S. 483). – Vielleicht ist auch die Bezeichnung „Evangelium“ an Schopenhauer angelehnt (vgl. WWV 1, § 71, S. 486).
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Zuletzt lsst Nietzsche die lebensverneinende Selbsterforschung hinter sich und nicht den Willen zum Leben. Schopenhauer hatte im vierten Buch seiner Welt als Wille und Vorstellung eine Theorie der Verneinung des Willens infolge vollkommener Einsicht des Menschen in sich selbst entwickelt. Anders als er setzt Nietzsche aber voraus, dass sich die Selbstliebe auch bei einsichtsvoller Selbstverachtung nicht aufheben lsst und auch nicht aufgehoben werden soll. Der Wille wird bei aller Selbstverachtung und Einsicht in die Vergeblichkeit menschlicher Ziele nicht verneint; diese erbarmungsund verachtungsvolle Selbstliebe ist keine Schopenhauersche noluntas. Vor diesem Hintergrund stellt Nietzsche Christentum und Buddhismus einander gegenber. Der Christ stehe mit seiner „Thtigkeit“ „im Gegensatz zu der buddhistischen Ruhe“ (N 1875, KSA 8, 5[166] zit.): „Der Christ handelt und hlt das Handeln fr unvermeidlich“ (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 181). Die Identifikation seines eigenen Pessimismus mit dem christlichen hat hier also die Funktion, ihn vom Schopenhauerschen, ,buddhistischen‘zu unterscheiden; in diesem Kontext betont er die Verwandtschaft zwischen seiner verachtenden Selbsterkenntnis und der christlichen Tradition der Selbsterforschung. Das Leben geht nach der „Selbstbegnadigung“ weiter. Der Mensch kehrt zum Alltag zurck, ist aber nicht mehr derselbe. Seine Motive haben sich verwandelt, er handelt nun aus einer geluterten „Selbstliebe“; und wenn er es auch nicht immer vermag, „dann hat er doch ,Selbst-Mitleid‘.“ (Ebd., S. 181)14 1875 fhrt laut Nietzsche Selbsterkenntnis zur Selbstverachtung und Erkenntnis zur Verachtung aller menschlichen Bestrebungen. So bleibt auch in der Moderne der „Kern des Christenthums“ – die verachtungsvolle Selbstliebe – entmythologisiert erhalten. „Wissenschaft“ kann das „Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwche und Ziellosigkeit der Menschen“ (N 1875, KSA 8, 5[166]) sein, also weitgehend hnlich wirken wie christliche Askese. Nietzsche sieht eine Analogie zwischen dem frhchristlichen Glauben an den „Weltuntergang“ und seinem eigenen, mo14 Whrend bei Schopenhauer Mitleid und Selbstliebe Gegenstze sind (wie Altruismus und Egoismus), fallen „Selbst-Mitleid“ und (gereinigte, geluterte) Selbstliebe in Nietzsches „Evangelium“ zusammen. Nietzsches „Selbst-Mitleid“ klingt zwar an Schopenhauers „Mitleid“ an, ist aber eher dessen Umkehrung als lediglich eine Variante: Im Mitleid nmlich soll bei Schopenhauer die Grenze zwischen dem Subjekt und den anderen Lebewesen entschwinden, nicht so aber in Nietzsches „Selbst-Mitleid“. Er glaubt schon 1875, „daß der Mensch gerade dann das Leben ertrgt und an den Werth des Lebens glaubt, wenn er sich allein will und behauptet, nicht aus sich heraus tritt: so daß alles Außerpersçnliche nur wie ein schwacher Schatten bemerkbar ist.“ (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 179)
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dernen Glauben an die Endlichkeit der Menschheit, an das knftige Ende der Gattungsgeschichte; in beiden Sichtweisen erscheint „alles irdische Streben“ als zuletzt nichtig und ziellos. Nietzsches Philosophie zeigt darber hinaus „unreines Denken“ auf, „Grundirrtmer in allen Bestrebungen“ (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 180), „Verchtlichkeit aller Motive, Unreinheit des Denkens, Grundfehler aller Typen, Stnde, Bestrebungen“ (N 1875, KSA 8, 5[166]).15 Diese Einsicht und damit der Pessimismus, an dem Nietzsche noch hngt, setzen sich mit dem wissenschaftlichen Fortschritt zunehmend durch: Auch das „Evangelium“ – und schließlich Menschliches, Allzumenschliches – sehen das pessimistische Weltbild durch die Wissenschaft besttigt und gefçrdert. Wissenschaft wirkt zweifach asketisch, indem sie die Endlichkeit der Gattungsgeschichte und die allgegenwrtige „Unreinheit des Denkens“ zeigt; und 1875 will Nietzsche selbst sie in diesem Sinne einsetzen, gleichsam in Dienst nehmen. Im „Evangelium“ scheint der Mensch „eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphren, von denen die eine auf die andre hinzublicken vermag“, aber doch nur so, dass er „bei allem, was er thut, voller Ungenge sein und Mitleid mit sich haben“ wird (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 181). Nach dem „Kampf mit der Nothwendigkeit“ ist „[d]ie Einsicht in das Tuschende aller Ziele und Erbarmen mit sich selbst“das zweite „Princip des Lebens“. Den zwei Prinzipien entsprechen zwei „Weltbetrachtungen“, die „des Alltags“ und diejenige „der seltensten Augenblicke des Gefhls und des Denkens“ (N 1875, KSA 8, 5[166]). Jene Einsicht scheint hier also nur vorbergehenden Entrckungen vorbehalten, wie denjenigen, die Nietzsche 1880/1881 fr seine frhere schopenhauerianisch-wagnerianische Unredlichkeit verantwortlich machen wird.16 Jene pessimistische Lebensform scheint also schon 1875 ußerst prekr. 15 Im Anschluss an seine Zusammenfassung von Dhrings Vorrede fhrt Nietzsche fr alle Urteile ber den Wert des Lebens den Ausdruck „unreine E r k e n n t n i s s e “ ein (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 135 ff.). Zuerst gibt er die dort vorgetragene These wieder, alle Wertschtzungen seien „Gemths-Affektionen“, und bei keiner handle es sich „um reine Erkenntniß“; daraus wird bei Nietzsche, dass es sich bei jenen Urteilen um „unreine E r k e n n t n i s s e “ handelt. Er leitet dann seine „S c h l u s s - B e t r a c h t u n g “mit dem Satz ein: „Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken.“ (N 1875, KSA 8, 9[1], S. 178; vgl. MA 33) 16 Vgl. dazu Marco Brusotti, Verkehrte Welt und Redlichkeit gegen sich. Rckblicke Nietzsches auf seine frhere Wagneranhngerschaft in den Aufzeichnungen 1880 – 1881, in: T. Borsche, F. Gerratana und A. Venturelli (Hg.), ,Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin / New York 1994, S. 435 – 460.
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Bereits 1877 sucht Nietzsche fr die Tatsache, „dass einer sich in allem verachtet […] und doch noch liebt“, nur noch eine „wissenschaftliche Erklrung“. Nun liegt es ihm fern, darin auch sein eigenes Ideal zu sehen, und unter dem „Wesen des Christentums“ versteht er kaum etwas anderes als dann in Menschliches, Allzumenschliches: „Falsche Psychologie, Phantastik in der Ausdeutung der Motive ist Wesen des Christenthums.“ (N 1875, KSA 8, 22[20]; vgl. MA 135)17 Fr denjenigen, der sich selbst kennt, sieht bereits „Die Pf lugschar“ – gerade in den Seiten, in denen sich die neue Fassung des „Evangeliums“ findet – eine Alternative zu jenem „christenmssigen Trost“: das philosophische „Gegengeschenk der vçlligen Unverantwortlichkeit“. Wem beides fehlt, der „kennt sich selber nur zu gut und verachtet sich, weil er sein Wesen irrthmlicher Weise sich als Schuld bemisst“ (N 1876, KSA 8, 18[32]). Die Selbstverachtung entspringe damit – so diese bergangsreflexion – der Selbsterkenntnis und zugleich einem Irrtum, da das Subjekt „sich selber nur zu gut“ kenne, aber der falschen metaphysischen Lehre von Freiheit, Verantwortung und Schuld anhnge. Eben darum kçnne dem Menschen durch die Einsicht abgeholfen werden, dass er fr das eigene Wesen keine Verantwortung trage. Gerade auf diese Unverantwortlichkeit beruft sich dann der Freigeist. „Die Sonne eines neuen Evangeliums“ ist in Menschliches, Allzumenschliches nicht mehr die Selbstliebe aus Erbarmen mit der eigenen Verchtlichkeit. Diese „Sonne“ ist der Grundsatz: „Alles ist Nothwendigkeit, – so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld.“ (MA 107) Der Freigeist hat sich also fr die philosophische Alternative zum „christenmssigen Trost“ entschieden und damit fr die zweite Lçsung der Schuldfrage; er spricht sich von Verantwortung und Schuld frei. Er koppelt also Einsicht und Verachtung, Einsicht und Rache voneinander ab. Nietzsche will nun gerade jene Selbstverachtung beseitigen, die den Kern seines frheren „Evangeliums“ ausmachte. Er betrachtet „das Gefhl vçlliger Sndlosigkeit, vçlliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann“, als „das selbe Ziel“, welches der „Stifter des Christentums“ „durch eine Einbildung“ (MA 144) erreicht hat. Eine Synthese von tiefster Einsicht und wrmstem Gefhl scheint in Menschliches, Allzumenschliches nicht nçtig und nicht mçglich. Die Forderung nach einer solchen Synthese 17 P. Heller bemerkt „die Abspaltung und Abwertung der spezifisch christlichen Problematik“ in den Aufzeichnungen vom Frhling-Sommer 1877 (Heller, Von den ersten und letzten Dingen, S. 452; zu Nietzsches spteren Schriften vgl. ebd., S. 454).
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wird erst Jahre spter in vçllig neuer Form wieder in seinem Horizont auftauchen: zuerst als Leidenschaft der Erkenntnis und dann in der Auseinandersetzung mit dem Wiederkunftsgedanken. Die „Selbstbegnadigung, Selbsterlçsung“ (MA 134 zit.), die im „Evangelium“ von 1875/1876 die Voraussetzung von Nietzsches eigener neuer Lebensweise war, ist in Menschliches, Allzumenschliches nur noch Gegenstand einer aufklrerisch-kritischen Betrachtung. Dieselbe Denkfigur kehrt auch in Morgenrçthe wieder, jedoch ebenfalls mit einer ausschließlich religionskritischen Funktion. E i n Vo r s c h l a g . – Wenn unser Ich, nach Pascal und dem Christenthume, immer h a s s e n s w e r t h ist, wie drften wir es auch nur gestatten und annehmen, dass Andre es liebten – sei es Gott oder Mensch! […] – ,Aber diess ist eben das Reich der Gnade.‘ – So ist euch eure Nchstenliebe eine Gnade? Euer Mitleid eine Gnade? Nun, wenn euch diess mçglich ist, so thut noch einen Schritt weiter: liebt euch selber aus Gnade, – dann habt ihr euren Gott nicht mehr nçthig, und das ganze Drama von Sndenfall und Erlçsung spielt sich in euch selber zu Ende! (M I 79)18
Dieser Vorschlag ist zuletzt Nietzsches „Evangelium“: In einem Akt der „Selbstbegnadigung“ lçst eine (neue) Form von Selbstliebe den Selbsthass ab. Bereits (und nicht erst) 1875 spielt sich alles nur auf anthropologischer Ebene ab: In Wirklichkeit ,begnadigt‘ sich der Mensch selbst. 1875/1876 kam es Nietzsche jedoch darauf an, durch diese „Selbstbegnadigung“ das christliche Ideal in seinem (nicht religiçsen, schopenhauerischen) „Kern“ zu erhalten. Morgenrçthe unterstreicht dagegen die religionskritische Pointe: Jene Selbstliebe aus Gnade macht den christlichen Gott berflssig, man lsst das Christentum berhaupt und insbesondere dessen Pascalsche Variante hinter sich. Nietzsche richtet seinen „Vo rschlag“ an diejenigen, die das eigene Ich immer hassenswert finden und sich selbst hassen. Statt eine kritische Exegese des moi hassable zu bieten, von dem er nicht nur hier eine bewusst den Absichten des franzçsischen Philosophen zuwiderlaufende Deutung gibt, findet er bei Pascal den Selbsthass wieder, den er bereits in den 1860er Jahren bei sich diagnostiziert hatte. Er reinterpretiert das Begriffsfeld, bis jeder Term Pascals eine neue Bedeutung erhlt, und gibt der Betrachtung eine dezidiert religionskritische Wendung. Die Genealogie entdeckt hinter der christlichen Bemhung um Selbsterkenntnis ein rckwrts gerichtetes Ressentiment und erblickt in der 18 Zu diesem Aphorismus vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, S. 222 ff., zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Pascal vgl. auch ebd., S. 195 ff.
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„Selbstverkleinerung des Menschen“ durch die Wissenschaft die sublimste Gestalt des asketischen Ideals. In beidem setzt sich Nietzsche stillschweigend mit der von Schopenhauer inspirierten ethischen Haltung auseinander, die bereits seine erste Lektre der Welt als Wille und Vorstellung prgte, und noch mehr mit der Wendung, die er ihr 1875 gegeben hatte. Die Genealogie fhrt das schlechte Gewissen auf eine „Rckwrtsrichtung [des] Ressentiments“ (GM III 16) zurck und zeigt, wie „die Richtung des Ressentiment“ „verndert“ (GM III 15) wird.19 Dieses Theorem knpft an die sptestens im „Rckblick“ von 1867/1868 angebahnten Reflexionen ber den eigenen „gegen [ihn] selbst gerichteten Haß“an, den Nietzsche bereits 1875 als Rache des Asketischen an sich gedeutet hatte. In seinem damaligen „Evangelium“ wollte er selbst wie Schopenhauer den „Kern“ des Christentums „ohne alle Schale und Mythologie“ bewahren: Er schrieb sich eine zugleich objektivierende und herabsetzende Selbsterkenntnis zu und sah der Wissenschaft eine neue Form von Selbstverachtung entspringen. Der enge Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Selbstverachtung kennzeichnete im „Evangelium“ ihn selbst, die demtigende Wirkung wissenschaftlicher Erkenntnis schien ihm fr seine pessimistische Anschauung zu sprechen, und die Analogie zwischen Wissenschaft und Askese wollte er ausbauen. Er sah nmlich eine Kontinuitt (ja Wesensgleichheit) zwischen christlichem Ideal und wissenschaftlichem Ethos, insofern beide – christliche Selbsterforschung und wissenschaftliche Erkenntnis – zur Verachtung aller menschlichen Bestrebungen fhrten. Dieses asketische Verstndnis von Erkenntnis und Selbsterkenntnis prgt den im „Evangelium“ als exemplarisch beschriebenen Lebenswandel Nietzsches und stellt zugleich seine Diagnose der Dynamik der Moderne dar. Schon hier sind die in der spten Streitschrift zentralen Punkte am engsten miteinander verknpft: Selbsterkenntnis und moderne Wissenschaft fhren beide zur Selbstverachtung. Auch die demtigende Wirkung wissenschaftlicher Erkenntnis ist, wenn die Genealogie deren umfassende Kritik versucht, fr Nietzsche schon lange ein Thema. Eine Linie scheint ihm hier das Selbstmisstrauen christlicher Beichtvter und die ressentimentgeladene wissenschaftliche „Selbstverkleinerung des Menschen, sein[en] Wille[n] zur Selbstverkleinerung“ zu verbinden, die seit Kopernikus „in einem unaufhaltsamen Fortschritte“ begriffen (GM III 25) sei. Die modernen Wissenschaften sind demnach 19 Zum Unterschied zwischen „Rckwrtsrichtung“ des Ressentiments und nach innen gewendeter Grausamkeit sowie zu den entsprechenden Formen von schlechtem Gewissen und im Allgemeinen zu den angesprochenen Themen der Genealogie vgl. Brusotti, Die ,Selbstverkleinerung des Menschen‘, S. 106 ff.
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auch insofern asketisch, als ihre Ergebnisse dem Menschen das Gefhl seiner Wichtigkeit nehmen: A l l e Wissenschaft […] ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe Nichts als ein bizarrer Eigendnkel gewesen sei; man kçnnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mhsam errungene Se l b s t v e r a c h t u n g des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrecht zu erhalten […]. (GM III 25)
Diese Ausfhrungen kçnnten als rckwrtsgewandte, nostalgische Polemik (miss)verstanden werden. Aber nicht nur vor dem Hintergrund von Nietzsches frheren asketischen Versuchen ist klar, dass sie nicht so angelegt sind. 1875 hatte er selbst die Wissenschaft als „Werkzeug der verachtungsvollen Einsicht in die Schwche und Ziellosigkeit der Menschen“ (KSA 8, 5[166]) einsetzen wollen. (Er wird rckblickend diese Phase seines Denkens als „Asketismus des Geistes“ bezeichnen.) Er hatte diese kulturgeschichtliche Entwicklung fçrdern wollen, und auch im spten Projekt einer nicht mehr asketischen Wissenschaft geht es keineswegs darum, sie aufzuhalten. Im Grunde legt er bereits 1875 eine hnliche Diagnose der Moderne und ihrer Dynamik vor. Die sptere Interpretation, obwohl natrlich vielschichtiger, nimmt in den erluterten Punkten jene Auffassungen kritisch wieder auf: Das „christlich“-schopenhauerische Ideal, das Nietzsche 1875 als sein eigenes „Evangelium“ hatte verknden wollen und in dem er die letzte Konsequenz jener kulturgeschichtlichen Dynamik sah, ist das versteckte Modell, nach dem er in der Genealogie die Zielscheibe seiner Angriffe entwirft.
Die Schatten Gottes Giuliano Campioni 1. Neue Kmpfe Der Ausdruck „Schatten Gottes“ kommt bei Nietzsche in zwei wichtigen Aphorismen vor: den Aphorismen 108 (Neue Kmpfe) und 109 (Hten wir uns ! ), die den Anfang des dritten Buches der Frçhlichen Wissenschaft bilden. Auch wenn der treffende Ausdruck „Schatten Gottes“ nur in diesen Aphorismen (und im vorbereitenden Fragment 14[14] vom Herbst 1881) fllt, so ist doch die entsprechende Thematik viel verbreiteter und spielt in den berlegungen des Philosophen eine wichtige Rolle. Selbst die berhmte Parabel vom Tollen Menschen (FW 125), der auf den Markt luft und – unverstanden und verlacht – den Tod Gottes verkndet, hat im Manuskript M III 5 einen Schluss, der unmittelbar auf die mit dem Schatten und den Schatten Gottes verknpfte Bedeutung verweist: Und wenn wir noch leben und Licht trinken, scheinbar wie wir immer gelebt haben, ist es nicht gleichsam durch das Leuchten und Funkeln von Gestirnen, die erloschen sind? Noch sehen wir unsren Tod, unsere Asche nicht, und dies tuscht uns und macht uns glauben, daß wir selber das Licht und das Leben sind – aber es ist nur das alte frhere Leben im Lichte, die vergangne Menschheit und der vergangne Gott, deren Strahlen und Gluthen uns immer noch erreichen – auch das Licht braucht Zeit, auch der Tod und die Asche brauchen Zeit! Und zuletzt, wir Lebenden und Leuchtenden: wie steht es mit dieser unserer Leuchtkraft? verglichen mit der vergangner Geschlechter? Ist es mehr als jenes aschgraue Licht, welches der Mond von der erleuchteten Erde erhlt? (N 1881, KSA 9, 14[25])
Von den erloschenen Gestirnen kommt noch das Licht, das uns ermçglicht zu leben, „scheinbar wie wir immer gelebt haben“: Wir leuchten nicht durch eigenes Licht, sondern nur durch ein reflektiertes, verarmtes, aschgraues Licht, wie das, welches der Mond von der Erde erhlt. Im Aphorismus 108, Neue Kmpfe, heißt es: Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Hçhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber
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so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Hçhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir mssen auch noch seinen Schatten besiegen! (FW 108)
Nietzsche bezieht sich hier auf den aberglubischen Kult der Reliquien Buddhas, auf den auch C. F. Koeppen in seiner umfnglichen, klassischen Monografie, mit der Nietzsche schon im Herbst 1870 bekannt wurde, kurz zu sprechen kommt. Nicht nur Knochen, Zhne und andere Reliquien wurden Gegenstand der Verehrung, „sondern auch seinen Schatten hat der zum Heil Erschienene den Glubigen zurckgelassen“. Koeppen nimmt auch auf die Erzhlung der buddhistischen Pilgerfahrt des Chinesen Hiouen-Thsang von 629 bis 645 Bezug, die von Stanislas Julien ins Franzçsische bersetzt wurde und 1853 erschien. Ihren Hçhepunkt findet sie in der ergriffenen Schilderung des Besuchs in der Hçhle, in welcher der Meister dem Glauben der Jnger des Cakia-Mouni zufolge seinen Schatten gelassen hat. Erst nach glhenden Gebeten sieht Hiouen-Thsang, „wie Licht in die Hçhle flutet und der blendend weiße Schatten Buddhas sich majesttisch auf der Wand abzeichnet, wie wenn die Wolken aufreißen und plçtzlich das wunderbare Bild des Goldbergs sichtbar wird.“ Dieselbe Legende wird in der von Stanislas Julien besorgten Version auch in Renans Essays ber den Buddhismus erwhnt. Fr Renan enthllt die außergewçhnliche Halluzination, der Glaube an die Tuschungsmaschine, die Naivitt und Gutglubigkeit des Pilgerers.1 1
Vgl. C. F. Koeppen, Die Religion des Buddhas, Bd. 1, Berlin 1857, S. 523 f. H. Taine widmete dem Band eine umfngliche Rezension, die Nietzsche wahrscheinlich kannte; in ihr ist allerdings vom Schatten Buddhas keine Rede (H. Taine, Le Bouddhisme, in: ders., Nouveaux Essais de critique et d‘histoire, Paris 1866, S. 317 – 383). Vgl. auch E. Renan, Le Bouddhisme, in: ders., Nouvelles tudes d‘histoire religieuse, Paris 1884, S. 115 – 117. Beide beziehen sich auf die von Hoe li und Yen-thsong verfasste Histoire de la vie de Hiouen-Thsang et de ses voyages dans l‘Inde: depuis l‘an 629 jusqu‘en 645, hg. von Stanislas Julien, Paris 1853, S. 81: „Aprs avoir pntr dans le caverne o vcut le grand initiateur, anim d‘une foi profonde, Hiouen-Thsang s‘accusa de ses pchs avec un cœur plein de sincrit; il rcita dvotement ses prires en se prosternant aprs chaque strophe. Lorsqu‘il eut ainsi fait cent salutations, il vit para tre une lueur sur le mur oriental. Pntr de joie et de douleur, il recommenÅa ses salutations, et de nouveau il vit une lumire de la largeur d‘un bassin qui brilla et s‘vanouit comme un clair. Alors, dans un transport de joie et d‘amour, il jura de ne pas quitter cet endroit avant d‘avoir vu l‘ombre auguste de Bouddha. Il continua ses hommages, et, aprs deux cents salutations, soudain toute la grotte fut inonde de lumire et le Bouddha apparut, d‘une blancheur clatante, se dessinant majestueusement sur le mur. Un clat blouissant clairait les contours de sa face divine. Hiouen-Thsang contempla longtemps, ravi en extase, l‘objet sublime et incomparable de son admiration. Il se prosterna avec respect,
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Das Bild der machtvoll auf die Gegenwart einwirkenden Schatten der Helden der Geschichte oder des Denkens wurde von Nietzsche mehrfach verwendet, angefangen bei Sokrates, dessen Wirken, jenseits der realen Konturen seiner Gestalt, die Moderne beherrscht. Sein Einfluss hat, „gleich einem in der Abendsonne immer grçßer werdenden Schatten, ber die Nachwelt hin sich ausgebreitet“ (N 1870/1871 – 1872, KSA 7, 8[19]). Unbewusst verleibt sich der Mensch die Tradition, die ihn bestimmt, im alltglichen Leben ein: Bald hinter der Gegenwart begnne das Dunkel: in ihm wandeln schattenhaft unsicher grosse Gestalten ins Ungeheure sich ausdehnend, wirkend auf uns, aber fast wie Heroen, nicht wie gemeine helle Tageswirklichkeit. Alle Tradition wre jene fast unbewusste der ererbten Charactere: die lebenden Menschen wren, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie tradirt werde. (N 1873, KSA 7, 29[172])
In der vorbereitenden Fassung endete der Aphorismus ber den Schatten Buddhas mit der Warnung: „Kurz, htet euch vor dem Schatten Gottes. – Man nennt ihn auch Metaphysik“ (KSA 14, S. 253). Die Wendung htet euch schafft eine unmittelbare Verbindung zum nachfolgenden Aphorismus, „Hten wir uns !“, an dessen Ende es heißt: „Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgçttlicht haben! Wann werden wir anfangen drfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlçsten Natur zu vernatrlichen !“ (FW 109) In der vorbereitenden Fassung des Aph. 108 wird der Schatten, im Singular, mit „der Metaphysik“ tout court gleichgesetzt. Im Gegensatz zu Schopenhauer und zur verbreiteten philosophischen Auffassung leugnet Nietzsche, dass der Religion ursprnglich ein ,metaphysisches Bedrfnis‘ zugrunde lag. Dieses kam spter, viel spter, als „Nachschçssling“: Man hat sich unter der Herrschaft religiçser Gedanken an die Vorstellung einer ,anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt‘ gewçhnt und fhlt bei der Vernichtung des religiçsen Wahns eine unbehagliche Leere und Entbehrung, – und nun wchst aus diesem Gefhle wieder eine ,andere Welt‘ heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht mehr religiçse. (FW 151)
Anfnglich gab es die Vielfalt des Lebens und der Krfte, der die „Erfindung von Gçttern, Heroen und Uebermenschen aller Art“ (FW 143) entsprach: clbra les louanges du Bouddha, et rpandit des fleurs et des parfums, aprs quoi la lumire cleste s‘teignit. Le brahmane qui l‘avait accompagn fut aussi ravi qu‘merveill de ce miracle. ,Ma tre, lui dit-il, sans la sincrit de votre foi et l‘nergie de vos vœux, vous n‘auriez pu voir un tel prodige‘.“
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„Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze Natur in Griechen aufgelçst. Sie sahen gleichsam die Natur nur als Maskerade und Verkleidung von Menschen-Gçttern an.“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[115]) „Von Thales bis Sokrates – lauter bertragungen des Menschen auf die Natur – ungeheure Schattenspiele des Menschen auf der Natur, wie auf Gebirgen!“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[134]) Die aktive Kraft, die Gçtter schafft und Lebensvielfalt bedeutet, wird nach und nach durch die Abstraktion des Monotheismus, durch den christlichen Gott und die Vergeistigung Gottes absorbiert und zunichte gemacht. Mit den alten Gçttern nahm es ein Ende, indes: „Sie ,dmmerten‘ sich nicht zu Tode […]. Vielmehr: sie haben sich selber einmal zu Tode – gelacht ! Das geschah, als das gottloseste Wort von einem Gotte selber ausgieng, – das Wort: ,Es ist Ein Gott! Du sollst keinen andern Gott haben neben mir!‘“ (Za III, Von den Abtrnnigen 2) Schon 1870/1871, nach der Koeppen-Lektre, stellte Nietzsche den Gegensatz zwischen der Vitalitt der griechischen Mythologie und dem „Glaube[n] an einen Geist“ auf: Gottheiten unter der Form des Kçnigs, des Vaters, des Priesters – Die griechische Mythologie hat a l l e Formen einer bedeutsamen Menschlichkeit vergçttlicht. Der Glaube an e i n e n Geist ist eine Einbildung: sofort anthropomorphische, ja polytheistische Stellvertreter. Der Verehrungstrieb als Lustempfindung am Dasein schafft sich ein Objekt. Wo diese Empfindung fehlt – Buddhismus (N 1870/1871, KSA 7, 5[31]).
Das metaphysische „Ding an sich“ ist eine weitere Entmachtung des einzigen Gottes; es kommt danach, ist kein primum, wie Mainlnder und Hartmann behaupteten (der Gott-Ur-Eine, Ding an sich). Nach Philip Mainlnder ist „diese einfache Einheit […] gewesen; sie ist nicht mehr. Sie hat sich, ihr Wesen verndernd, voll und ganz zu einer Welt der Vielheit zersplittert. Gott ist gestorben und sein Tod war das Leben der Welt“.2 Es ist die gegenstzliche Position zu derjenigen Nietzsches, der die von Plutarch stammende Verkndigung vom Tode Pans aufgreift, die Heine in Ludwig Bçrne erzhlt, um das Ende der antiken Welt, die Unterdrckung der natrlichen Vitalitt zu symbolisieren: Die Gçtter sterben vor „innerem Grauen“ angesichts des Erlçserblutes, das auf Golgotha floss.3 Heine kommt mehrfach auf dieses Thema zurck, das im Mittelpunkt seiner Schrift Gçtter im Exil steht. Angesichts der Herausforderung des leidenden Christus „verstummten und 2 3
Phillip Mainlnder, Die Philosophie der Erlçsung, 2. Aufl., Berlin 1879, S. 108. Vgl. dazu G. Campioni, Der franzçsische Nietzsche, Berlin 2009, S. 250 ff. Heinrich Heine, Ludwig Bçrne, in: Smmtliche Werke, Bd. 12, Hamburg 1867, S. 73 f. Vgl. GT 11 und ST 1 sowie N 1870/1871, KSA 7, 5[116], 7[8], 7[15].
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erblichen [die Gçtter] und [wurden] immer bleicher, bis sie endlich ganz in Nebel zerrannen“.4 Schon bei Heine sind die Kirchen, wie im Zarathustra, Mausoleen und Grabsttten der heidnischen Gçtter. Dies unterstreicht den vielfach gestalteten Gegensatz Himmelreich – Erdenreich, der auch im Kapitel Vom hçheren Menschen anklingt:5 die Gegenberstellung von jenen Gçttern, die fr die Mannigfaltigkeit der irdischen Werte stehen, und dem Gott der Entsagung, der in einem Prozess zunehmender Vergeistigung und Abstraktion vom Leben stirbt.6 Im Gesprch mit dem letzten Papst stirbt Gott an einer progressiven Entkrftung, hat kein Verhltnis mehr zur Macht des Lebens, die der Schçpfung der Gçtter zugrunde lag. Der sterbende Gott ist selbst schon fast ein Schatten und die Metaphysik der Schatten eines Schattens.
1. Nous oublions le dieu pour adorer ses traces! Schon in den Leipziger Jahren kmpfte Nietzsche gegen die Gefahr der Teleologie und erblickte in Demokrit den „freiste[n] Mensch[en]“ (N 1872/1873, KSA 7, 23[17]), der „als der erste der Griechen den wissen4 5
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Heinrich Heine, Die Stadt Lucca, in: Smmtliche Werke, Bd. 2, Hamburg 1867, S. 74. Vgl. Heinrich Heine, Deutschland, ein Wintermrchen, in: Smmtliche Werke, Bd. 17, Hamburg 1868, S. 123: „Ein neues Lied, ein besseres Lied,/ O Freunde, will ich euch dichten!/ Wir wollen hier auf Erden schon/ Das Himmelreich errichten“, und F. Nietzsche, Za IV, Das Eselsfest 2; vgl. auch N 1884/1885, KSA 11, 32[11]. Mit besonderer dramatischer Kraft bringt Heine dies auch in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland zum Ausdruck. Kants Wirkung, was den Untergang des traditionellen Gottes angeht, ist nicht geringer als die der Franzçsischen Revolution: „es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet“. Der historische Blick folgt ihm von der Kindheit an in all seinen Verwandlungen: erst in gypten, „als er unter gçttlichen Klbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde“, dann in Palstina, wo er „bei einem armen Hirtenvçlkchen ein kleiner Gott-Kçnig“ wurde, der in einem eigenen Tempelpalast wohnte, bis er als Erwachsener schließlich nach Rom auswanderte, „wo er allen Nationalvorurtheilen entsagte und die himmlische Gleichheit aller Vçlker proklamierte“. Dieses entscheidende Ereignis war der Anfang eines unumkehrbaren Niedergangs: „Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglcker, ein Philantrop – es konnte ihm Alles Nichts helfen. Hçrt ihr das Glçckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente eines sterbenden Gottes“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Smmtliche Werke, Bd. 5, Hamburg 1867, S. 177 f.).
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schaf tlichen Charakter [erreicht], der in dem Bestreben liegt eine Flle der Erscheinungen einheitlich zu erklren, ohne in schwierigen Momenten einen deus ex machina herbei
ziehn“ und der die Menschen von der „Gçtterfurcht“, von der „dsteren Mythologie“ befreien will, die fr seinen großen Vorlufer Empedokles kennzeichnend war (N 1867/1868, KGW I, 4, 57[48]). „Er hat eben ein unbedingtes Vertrauen zu der Schlußkraft der ratio: die Welt und die Menschen sind ihm, wie er meint, entschleiert, und darum verwirft er die Hllen und Grenzen, die andre eben derselb<en> ratio setzen.“ Demokrit stellte sich am konsequentesten gegen die Schatten des Mythos, die das Leben verdunkeln: „Er wollte sich in der Welt wie in einem hellen Zimmer fhlen.“ (N 1867/1868, KGW I, 4, 58[17]) Im Kampf gegen die „Schatten Gottes“, den Nietzsche mit der Philosophie des freien Geistes erneut aufnimmt, muss man auch eine radikale Selbstkritik lesen, nmlich eine Kritik an der Metaphysik der Kunst, wie sie in der Geburt der Tragçdie als Ausdruck romantischer Verdunkelung im Schatten Schopenhauers und Wagners entwickelt wird: „Ehemals dachte ich, unser Dasein sei der knstlerische Traum eines Gottes, alle unsere Gedanken und Empfindungen im Grunde seine Erfindungen im Ausdichten seines Drama‘s – […]. Die Gesetzmßigkeit der Natur wre als Gesetzmßigkeit seiner Vorstellungen begreiflich“ (N 1881, KSA 9, 11[285]). Nietzsche greift das selbstkritische Motiv im Zarathustra wieder auf: „Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Eines leidenden und zerqulten Gottes Werk schien mir da die Welt.“ Weit entfernt von aller Perfektion war freilich diese Welt, „die ewig unvollkommene, eines ewigen Widerspruches Abbild“, „unvollkommenes Abbild“ eines Gottes als ,Gespenst‘, der jetzt als „armes Stck Mensch und Ich“ erkennbar wird (Za I, Von den Hinterweltlern). Beim Nietzsche der Geburt der Tragçdie erschien die Welt als unvollkommener Schatten, als Fantasiegebilde eines leidenden Knstler-Gottes – aber die Schrift blieb eine hçhere Kosmodizee. Die Abkehr von der Metaphysik der Kunst nach Erscheinen von Menschliches, Allzumenschliches war fr die Wagnerianer Ausdruck eines nihilisme cœurante, ein Vorwurf, den als erster der Elssser Musikwissenschaftler Schur gegen Nietzsche erhob. In einem Brief von Juli 1878 beschuldigte Mathilde Maier ihn mit leidenschaftlicher Emphase einer nihilistischen Haltung, die Verehrung und lebensnotwendigen Wahn zerstçre: Hat man sich mit Mhe und Noth eine gottlose Religion aufgebaut, um, wenn auch der Gott verloren, doch das Gçttliche zu retten, – und nun ziehen Sie das
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Fundament weg, das, so luftig und nebelhaft es auch sein mag, doch stark genug eine ganze Welt zu tragen; die Welt alles dessen, was uns theuer und heilig ist! […] Und nun lçsen Sie Alles auf! Alles flssig, – kein festes Bild mehr, einzig ewige Bewegung! (KGB II/6, zweiter Halbband, S. 911 u. 914).
Was man ihm nicht verzieh, war seine Lossagung von den Positionen, die er in der Zeit seiner Wagneranhngerschaft vertreten hatte: die Notwendigkeit der metaphysischen Illusion und die Berufung auf die unhistorischen und berhistorischen Krfte im Gegensatz zur nihilistischen Position des Schlers Heraklits, der einst dazu verurteilt war, berall ein Werden und Fließen von Krften zu sehen. Nachdem Nietzsche sich von der Tyrannei der wagnerschen Metaphysik der Kunst befreit hatte – eine ,gottlose Religion, um das Gçttliche zu retten‘ –, wandte er sich neuen, offenen Horizonten zu und machte sich im Herbst 1881 erstmals den Begriff Nihilismus zu eigen: „Inwiefern jeder hellere Gesichtskreis als Nihilism erscheint“ (N 1881, KSA 9, 12[57]). Die Natur des Ur-Einen mit seinen zerreißenden Widersprchen unterschied Nietzsches jugendliche Metaphysik der Kunst sowohl von der biblischen wie von der islamischen Tradition, in der das Bild vom Schatten Gottes einen großen Trost fr den Menschen birgt, insofern es Ausdruck von Gottes Schutz ist, der die Auserwhlten in seinen Schatten aufnimmt. „Ja, es wird ein Schutz sein ber allem, was herrlich ist, und eine Htte zum Schatten am Tage vor der Hitze und Zuflucht und Obdach vor dem Wetter und Regen.“ (Jesaja IV 5 – 6) Betsaleel, der Name des Handwerkers, der die heilige Arche erbaute, bedeutet „im Schatten Gottes“ und evoziert „die Salbung“: Ihm ist es gegeben, Gottes Werk zu konzipieren und zu realisieren. In der islamischen Tradition und im politischen Denken der Sunniten sind der Sultan und der Kalif gleich Schatten Gottes und des Propheten auf Erden.7 Gemahnt die Hçhle des Buddha im Aphorismus 108 der Frçhlichen Wissenschaft an den platonischen Mythos der Schatten im Erkenntnisprozess, so ist der Ausdruck „Schatten Gottes“ mit Sicherheit ein Wort des Neoplatonismus und platonisch geprgten Spiritualismus. Das Bild kommt bereits bei Philon von Alexandrien vor, fr den der Schatten Gottes sein logos 7
Was die Verbreitung des Themas anbelangt, siehe beispielsweise Friedrich Rckerts Gedicht Frst und Volk: „Kutheir Ben Murra hat berichtet;/ So sprach Muhammed: wer da herrscht und richtet, /Ein Frst des Volks, ein Hirt der Herde,/ Ist Schatten Gottes auf der Erde,/ Der Schutz und Schirm Verfolgten beut,/ Ermdeten die Kraft erneut,/ Und Segen und Erquickung streut“ (Friedrich Rckert‘s gesammelte poetische Werke in zwçlf Bnden, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1868, S. 72).
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ist, dessen er sich als Werkzeug zur Schaffung der Welt bedient hat (Legum Allegoriae, III 96); es kehrt dann im Neoplatonismus der Renaissance wieder. Es ist kein Zufall, wenn Marsilio Ficino in seiner bersetzung von Dantes De Monarchia den Satz „dici potest: cum totum universum nihil aliud sit, quam vestigium quoddam divinae bonitatis“wiedergibt mit: „Niente di meno si pu dire tutte le creature esser fatte a divina similitudine, perch l‘universo non altro che un‘ ombra di Dio.“8 Auch Emerson rekurriert in seinem romantischen Idealismus, der den Abstand des amerikanischen Philosophen von Nietzsche markiert, auf den besagten Ausdruck: „…daß alle Dinge Schatten von ihm sind“,9 das heißt, ein Reflex der hçheren Seele (oversoul). Emerson ist berzeugt, dass die Natur einem Plan folgt und dass dieser dem Menschen zum Wohl gereicht, wenngleich er ihm unergrndlich bleibt. Die Natur wird so zur Hterin des Gçttlichen und seiner Vorsehung. „[D]as Gute bleibt, das Bçße vergeht“, resmiert der junge Nietzsche (N 1863, KGW 1,3. 15[17]) das Thema, das bei Emerson mehrfach wiederkehrt. Lux umbra Dei, „das Licht ist der Schatten Gottes“ – so lautet die Inschrift, die auf Meridiankreisen des Mittelalters zu lesen war. Der Platoniker Joseph Joubert kommt darauf in einer seiner Maximen zurck [titre XIII, XII]: „Das Licht ist der Schatten Gottes; die Helligkeit [clart] ist der Schatten des Lichts.“ Obwohl Joubert mit Nietzsche den Ehrgeiz teilt, „in zehn Stzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche ni cht sagt“ (GD, Streifzge eines Unzeitgemssen 51),10 steht er dem deutschen Philosophen in seinem Geiste dennoch fern. Die knappe Form war fr Joubert ein zwar diskontinuierlicher und unzusammenhngender Ausdruck, aber doch der Reflex einer hçheren Wahrheit, nach der man strebt. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang, dass Nietzsche ein kritisches Urteil der Brder Goncourt fr die eigene Kritik 8 „So kann man sagen, dass alle Geschçpfe nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, weil das Universum nichts anderes ist als ein Schatten Gottes.“ (Dante Alighieri, De Monarchia, in: Prose, pubblicato da L. Ciardetti, o. O. 1841, S. 537). Vgl. auch M. Ficino, De Amore, o. O. 1469, VI orazione: „Nei corpi ameremo l‘ombra di Dio, negli animi la similitudine di Dio, negli angeli la immagine di Dio“ („Im Kçrper lieben wir den Schatten Gottes, in der Seele das Ebenbild Gottes, in den Engeln das Bild Gottes.“) 9 Vgl. R. W. Emerson, Versuche (Essays). Aus dem Englischen von G. Fabricius, Hannover 1858, S. 227: „Wir lernen, daß Gott ist; daß er in mir ist; und daß alle Dinge Schatten von ihm sind“. Es handelt sich um den Essay Kreise, den Nietzsche seit seiner Jugend wiederholt gelesen hat. 10 Vgl. J. Joubert, Penses, 6. Aufl., Paris 1874, S. 8: „S‘il est un homme tourment par la maudite ambition de mettre tout un livre dans une page, toute une page dans une phrase, et cette phrase dans un mot, c‘est moi.“
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heranzieht: „Joubert: in seinen Gedanken fehlt die franzçsische Bestimmtheit. Das ist weder klar noch franc“ (N 1887/1888, KSA 13, 11[296], S. 117). Joubert, der zu Lebzeiten nichts verçffentlicht hat, hat an seinem Journal gearbeitet, ohne die erstrebte Form zu erreichen. Er starb 1824 und eine erste Sammlung seiner Gedanken wurde 1838 postum von seinem großen Freund Chateaubriand herausgegeben. Nietzsche besaß die von Paul de Raynal besorgte Edition in zwei Bnden.11 An Joubert schtzte Nietzsche die politesse – die Vornehmheit – und Feinheit des Urteils; ansonsten standen beide Autoren in diametralem Gegensatz zueinander. Nach Jouberts Ansicht ist „das Jahrhundert von der furchtbarsten ,Krankheit des Geistes‘ geqult, der Verachtung der Religionen. Es fordert nicht die religiçse Freiheit, sondern die irreligiçse Wahrheit“ (S. 215). Es ist von einem gigantischen Stolz erfllt, der – genau wie die Giganten – ein Feind der Gçtter ist (S. 249). „Die Religion ist die Poesie des Herzens“ (S. 21); „Der Gott der Metaphysik ist eine bloße Idee; der Gott der Religionen aber, der Schçpfer von Himmel und Erde, der hçchste Richter der Handlungen und Gedanken, ist eine Kraft“ (S. 12). Bei Joubert finden wir die traditionalistische Verteidigung Gottes gegen die Schatten Gottes – gegen die bersetzungen der Religion in Metaphysik, die in jenen Jahren um sich griffen. Es ist ein Thema, das Lamartine sehr beschftigt hat: „Nous oublions le dieu pour adorer ses traces!“12, schreibt er in dem Gedicht La mort de Socrate. In seinem Buch Voyage en Orient meint er, angesichts des Schauspiels der Natur und ihrer erschreckenden Kraft htte der Mensch einst gebetet. Seit der Juli-Revolution betet man nicht mehr. Das Gebet ist auf den Lippen jenes alten Liberalismus des 18. Jahrhunderts erstorben, der selbst nichts Lebendiges hatte außer seinem kalten Hass gegen die Dinge der Seele. Dieser heilige Atem des Menschen, den die Kinder Adams sich mit ihren Freuden und Leiden bis auf unsere Tage mitgeteilt hatten, ist im Frankreich unserer Zeit des Disputs und Hochmuts erloschen; wir haben Gott in unsere Kontroversen gemischt. Der Schatten Gottes macht gewissen Menschen Angst.13
Jouberts Position und die der Romantiker, zu denen er im Hinblick auf jene Themen zhlt, ist derjenigen Nietzsches entgegengesetzt, der mit seinem 11 Vgl. Recueil de penses de M. Joubert, hg. von F.-R. de Chateaubriand, Paris 1838. Die von P. de Raynal besorgte Ausgabe der Penses erschien 1842 (Paris, 2 Bde.). Dieselbe von P. de Raynal zusammengestellte Sammlung der Penses von Joubert wurde 1861 von dem Verlagshaus Didier (Paris) wiederverçffentlicht (in 2 Bnden, hg. von A. Joubert). 12 A. Lamartine, Œuvres compltes, Bd. 2, Paris 1860, S. 22. 13 A. Lamartine, Souvenirs, impressions, penses et paysages pendant un voyage en Orient, 1832 – 1833: ou, Notes d‘un voyageur, Paris 1856, S. 28.
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kolumbianischen Schler htte sagen kçnnen: „La nada es la sombra de Dios“: „Das Nichts ist der Schatten Gottes…“ (Nicols Gmez Dvila). Nicht von ungefhr prsentiert sich ein wichtiger Aphorismus aus der Morgenrçthe als Kommentar zu einem – nicht kenntlich gemachten – Joubert-Zitat:14 „Die ausklingende Christlichkeit in der Moral. – ,On n‘est bon que par la piti: il faut donc qu‘il y ait quelque piti dans tous nos sentiments‘ – so klingt jetzt die Moral!“ (M 132) Joubert findet sogar noch in der Entrstung und im Abscheu gegenber den Ruchlosen irgendein Mitleid, und auch in der Liebe zu Gott („Mitleid mit uns selbst, wie es in jeder Dankbarkeit steckt“). Nietzsche entdeckt hier den verstecktesten Schatten Gottes: die Moral des altruistischen Empfindens, welche die ,Freidenker‘des Positivismus (ausdrcklich bezieht er sich auf Comte und Mill) mit der christlichen Schwche der traditionalistischen Romantiker vereint. Die Loslçsung von den Dogmen hat eine Zurckdrngung der „absolute[n] Wichtigkeit des ewigen persçnlichen Heils“ zugunsten des „Nebenglaube[ns] an die ,Liebe‘, an die ,Nchstenliebe‘“ bedeutet. Je mehr man sich von den Dogmen loslçste, um so mehr suchte man gleichsam die Re c h t f e r t i g u n g dieser Loslçsung in einem Cultus der Menschenliebe: hierin hinter dem christlichen Ideale nicht zurckzubleiben, sondern es womçglich zu b e r b i e t e n , war ein geheimer Sporn bei allen franzçsischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte: und Letzterer hat mit seiner berhmten Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum berchristlicht. […] Man will nichts Geringeres – ob man es sich nun eingesteht oder nicht –, als eine grndliche Umbildung, ja Schwchung und Aufhebung des In d i v i d u u m s : man wird nicht mde, alles das Bçse und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzhlen und anzuklagen, man hofft wohlfeiler, ungefhrlicher, gleichmssiger, einheitlicher zu wirthschaften, wenn es nur noch g r o s s e K ç r p e r u n d d e r e n G l i e d e r giebt. Als g u t wird Alles empfunden, was irgendwie diesem kçrper- und gliederbildenden Triebe und seinen Hlfstrieben entspricht, diess ist der m o r a l i s c h e Gr u n d s t r o m in unserem
14 Vgl. Joubert, Penses, Bd. 2, S. 72: „On n‘est bon que par la piti. Il faut donc qu‘il y ait quelque piti dans tous nos sentiments, mÞme dans notre indignation, dans nos haines pour les mchants. Mais faut-il qu‘il y en ait aussi dans notre amour pour Dieu? Oui, de la piti pour nous, comme il y en a toujours dans la reconnaissance. Ainsi tous nos sentiments sont empreints de quelque piti pour nous ou pour les autres. L‘amour que nous portent les anges n‘est lui-mÞme qu‘une piti continuelle, une ternelle compassion. Chacun est compatissant aux maux qu‘il craint. Si l‘on n‘y prend garde, on est port condamner les malheureux. Il faut encore plus exercer les hommes plaindre le malheur qu‘ le souffrir. N‘ayez pas l‘esprit plus difficile que le got, et le jugement plus svre que la conscience.“
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Zeitalter; Mitempfindung und sociale Empfindung spielen dabei in einander ber. (M 132)
Und sicher finden sich in den Philosophien des Positivismus, ihren Kosmologien und wissenschaftlichen Forderungen – angefangen bei dem Papst Comte – „verstecktere Formen des Cultus des christlichen MoralIdeals“; man entdeckt jene christlich-moralische ,Menschlichkeit‘ in der Natur und hat schließlich als Kultgegenstand den ,weichlichen und feigen‘ Begriff von ,Mensch‘ la Stuart Mill und la Comte (N 1887, KSA 12, 10[170]) – der sich an der Imitatio Christi inspiriert hat: der „Religion des Herzens“ (GD, Streifzge eines Unzeitgemssen 4). Mit der „Herrschaft von cœur ber la tÞte“, die eine „altruistische Schwrmerei“ einschließt, ist Comte „Fortsetzung des 18. Jahrhunderts.“ (N 1887, KSA 12, 9[178], KSA 12, S. 441)
2. Hten wir uns! Nietzsche stellt eine Verbindung zwischen Romantik und Positivismus her: „letzterer ein Gegenschlag gegen die Romantik, Werk enttuschter Romantiker“ (N 1885 – 1886, KSA 12, 2[131], S. 131). Der Sinn dieser Bewegung wird im Fragment 14[14] (N 1881, KSA 9) geklrt, das den Aphorismus 108 der Frçhlichen Wissenschaft vorbereitet: berall wo verehrt, bewundert, beglckt, gefrchtet, gehofft, geahnt wird, steckt noch der Gott, den wir todt gesagt haben – er schleicht sich allerwegen herum und will nur nicht erkannt und bei Namen genannt sein. Da nmlich e r l i s c h t er wie Buddha‘s Schatten in der Hçhle – er lebt f o r t unter der seltsamen und neuen Bedingung, daß man n i c h t m e h r a n i h n g l a u b t . Aber ein Gespenst ist er geworden! Freilich!
Die Herrschaft des Herzens ber den Kopf (verehren, bewundern, beglcken, frchten, hoffen, ahnen) macht die wissenschaftliche Redlichkeit zunichte. Ein Gott, der nicht beim Namen genannt sein will, „lebt fort unter der seltsamen und neuen Bedingung, daß man nicht mehr an ihn glaubt“: ein Schatten, ein Gespenst, das die Werte am Leben erhlt, die der traditionelle Gott garantierte. Wenden wir uns kurz dem Text des Aphorismus „Hten wir uns !“ (FW 109) zu. Nietzsche warnt darin vor den Schatten Gottes (moralischen Vorurteilen, Anthropomorphismen und Teleologien), die fr die zeitgençssischen Kosmologien und Naturwissenschaften kennzeichnend sind und vom Weg der wissenschaftlichen Redlichkeit abbringen, weil sie der Erkenntnis Abbruch tun. Es geht darum, die Natur „von gçttlicher Mummerei
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[zu] erlçsen“, wie es in einer Aufzeichnung zum Zarathustra heißt: „Wir wollen aus ihr nehmen, was wir brauchen, um ber den Menschen hinaus zu trumen“ (N 1883, KSA 10, 13[1], S. 430). Der Ausdruck Schatten Gottes steht in FW 109 im Plural; die Vielzahl der Haltungen, die offen sind fr die mannigfaltigen neuen Religionen ohne Gott, lsst sich nicht in dem Wort „Metaphysik“ resmieren, wie in der vorbereitenden Fassung des Aphorismus 108. Im Heft M III 1 (in dem Nietzsche die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen fr sich selbst darlegt und durchdenkt) folgt unmittelbar auf den ersten Entwurf zum „neue[n] Schwergewicht“ (N 1881, KSA 9, 11[141]) die vorbereitende Fassung des Aphorismus 109: Htet euch zu sagen, daß die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen! Woher sollte sie sich nhren! Wie kçnnte sie wachsen und sich vermehren! – Htet euch zu sagen, daß Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten: und eine seltene Art. – Htet euch zu sagen, die Welt schaffe ewig Neues. – Htet euch zu sagen, es gebe Gesetze in der Natur. Es giebt nur Nothwendigkeiten: da ist keiner der befiehlt, keiner, der gehorcht, keiner der bertritt. – Wenn ihr wißt, daß es keine Zwecke giebt, so wißt ihr auch, daß es keinen Zufall giebt. Denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort Zufall einen Sinn. – Htet euch zu denken, es gebe ewig dauerhafte Substanzen, wenn auch noch so klein: das Atom ist ein solcher Irrthum wie der Gott der Eleaten (KSA 14, S. 253) Rede ich wie einer, dem es offenbart worden ist? So verachtet mich und hçrt mir nicht zu. – Seid ihr noch solche welche Gçtter nçthig haben? Hat eure Vernunft noch keinen Ekel dabei, so billig und schlecht sich speisen zu lassen? (Nachlass 1881, KSA 9, 11[142])
Vor einigen Jahren hat Paolo d‘Iorio in seiner Doktorarbeit, aus der dann eine ausgezeichnete Monografie hervorgegangen ist,15 anhand der Bnde aus Nietzsches Bibliothek und der entsprechenden Randbemerkungen die genauen Bezge von Nietzsches Auseinandersetzung mit den kosmologischen Hypothesen seiner Zeit dokumentiert und analysiert. Insbesondere nahm Nietzsche auf die Kosmologie von Otto Caspari (Zusammenhang der Dinge, 1881) Bezug, der das Universum als einen großen lebenden Organismus begriff und den lebenden Monaden der organizistischen Konzeption die Fhigkeit zur stndigen Hervorbringung neuer Formen zuschrieb. Nietzsche hatte den Weltprozess von Hartmann und Dhring (auf den die Wendung: „Guardiamoci (hten wir uns) da tali superficiali sconsideratezze“ anspielt), Thomsons Mechanizismus und Casparis Organizismus als Ausdruck von 15 Paolo d‘Iorio, La linea e il circolo. Cosmologia e filosofia dell‘eterno ritorno in Nietzsche, Genua 1995.
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Schatten oder berresten des alten Gottes in den Naturauffassungen im Blick. Aber viele weitere Schatten Gottes prgen die Moderne und verdunkeln den menschlichen Horizont.
3. Die vielen Schatten Gottes In Zarathustras Rede Vom hçheren Menschen bedeutet der Tod Gottes die potenzielle Befreiung und Erlçsung des hçheren Menschen in Richtung des bermenschen. „Nun aber starb dieser Gott! Ihr hçheren Menschen, dieser Gott war eure grçsste Gefahr. Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden.“ (Za IV, Vom hçheren Menschen 2) Die Verkndigung des tollen Menschen (FW 125) bricht dramatisch herein und enthllt die Entstehung der Unordnung, des Chaos. Es gab ein Oben und ein Unten, ein Zentrum und eine Peripherie, eine Rangordnung und einen Sinn, eine Sonne und einen Horizont. All dies gibt es nicht mehr. Der Tod Gottes spielt sich vor einem kosmischen Hintergrund ab. Er bringt Verdunkelung, Aufhebung der Schwerkraft und progressive Abkhlung mit sich, „fort von allen Sonnen“. Die Folge ist das Gefhl eines absoluten Endes. Diese Anspielung hat die kosmologischen Theorien der Thermodynamik im Auge, die das notwendige Ende des Universums durch die fortschreitende Degradation der Energie postulierten. Nietzsche sah in diesen Theorien den Schatten Gottes, in der negativen Teleologie wie im Postulat eines absoluten Anfangs,16 und bekmpfte sie als ein Symptom der Schwche. Der hçhere Mensch verbindet sich aufs Engste mit dem Tod Gottes (wie der bermensch mit der ewigen Wiederkehr). Sein Leiden, sein Scheitern, sein Zerbrechen sind ein Aspekt der großen Krise, die der Tod Gottes ausgelçst hat und die verschiedene Antworten findet. Der hçhere Mensch ist noch nicht die richtige Antwort auf das Ereignis. Aber sein Leiden, sein Unbehagen, die „große Verachtung“ und das Nicht-Resignieren, die sein Leben begleiten, bedeuten bereits einen Widerstand, wenn nicht gar eine Gegenbewegung hin zu einer Epoche, die sich auf den „letzten Menschen“ zubewegt.
16 Vgl. N 1884, KSA 11, 26[383]: zu den „Na c h w i r k u n g e n d e s a l t e n G o t t e s “ zhlt Nietzsche die wachsende Ausbreitung von Kosmologien, die einen Anfang der Welt postulieren und sich gegen den Gedanken einer „Unendlichkeit nach hinten“ wehren: „Darin stimmen Mainlnder, Hartmann, Dhring usw. berein“.
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Der Tod Gottes ist „das g rçßte Ereigniß“, es prgt die „gefhrlichste Mitte, wo es hingehen kann zum ,letzten Menschen‘“. Auch die Menschen auf dem Markt, die danach streben, „letzte Menschen“zu sein, indem sie sich mit dem brgerlichen Eden zufrieden geben, und die ber die Verkndigung des tollen Menschen lachen, sind verantwortlich fr den Tod Gottes: „Wir haben ihn getçdtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mçrder!“, ruft der tolle Mensch ihnen zu. „Gott ist todt. Nur merken die Menschen noch nichts davon, daß sie nur von ererbten Werthen zehren“ (N 1885, KSA 11, 35[74]), fr sie ist es also noch mçglich, Sicherheit zu finden in den kleinen Tugenden der kleinen Egoismen, die den Verkleinerungsprozess bestrken. Angesichts dessen resigniert der hçhere Mensch nicht, er verzweifelt, bringt Leiden und Unbehagen zum Ausdruck: „ich liebe euch dafr, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr hçheren Menschen! So nmlich lebt ihr – am Besten!“ (Za IV, Vom hçheren Menschen 3). Nach dem Zarathustra und nachdem Nietzsche eine Diagnose des Nihilismus und der dcadence erstellt hat, kommt er im ersten Aphorismus des fnften Buchs der Frçhlichen Wissenschaft auf den Tod Gottes, das „grçsste neuere Ereigniss“, zurck, das „bereits seine ersten Schatten ber Europa zu werfen [beginnt]“. Fr die ,letzten Menschen‘ ist dieses Ereignis gnzlich unfassbar, sie haben nicht einmal Kunde davon erhalten und leben weiter, als sei nichts geschehen. Fr die Wenigen dagegen, „deren Argwohn in den Augen stark und fein genug fr dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen“. Im Empfinden des hçheren Menschen gewinnt das Begrbnis des Glaubens die Bedeutung des Zusammenbruchs, der unaufhaltsamen Verdunkelung, des unwiederbringlichen Verlusts: eine „lange Flle und Folge von Abbruch, Zerstçrung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht“. Fr ihn geht der Schatten der Nacht voraus. Doch neben der Haltung derer, die abseits des Ereignisses stehen (die letzten Menschen des Zarathustra), und der Haltung des hçheren Menschen, der in dem Ereignis nur Chaos, Umsturz und das Herannahen des definitiven Endes liest, steht die Haltung des „freien Geistes“, fr den die Schatten nicht die der Abenddmmerung sind, bevor die Nacht hereinbricht, sondern die, die einen neuen Tag und neues Licht verheißen: „wir […] fhlen uns […] wie von einer neuen Morgenrçthe angestrahlt; […] endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist“ (FW 343). Unter Gefahr gilt es neue Lebensformen zu erproben, fern von der falschen metaphysischen Sicherheit des ,Helden‘ Carlyles, der seinen Weg mit Gott geht und die Gçttlichkeit der Welt besttigt, der Held, der im schtzenden Schatten Gottes lebte: Gte und fortschreitende Weltordnung.
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Wir sind abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, dass es in der Welt durchaus nicht gçttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach menschlichem Maasse vernnftig, barmherzig oder gerecht: wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist ungçttlich, unmoralisch, „unmenschlich“, – wir haben sie uns allzulange falsch und lgnerisch, aber nach Wunsch und Willen unsrer Verehrung, das heisst nach einem B e d r f n i s s e ausgelegt. […] Wir hten uns wohl zu sagen, dass sie w e n i g e r werth ist: es erscheint uns heute selbst zum Lachen, wenn der Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werthe zu erfinden, welche den Werth der wirklichen Welt b e r r a g e n sollten, – gerade davon sind wir zurckgekommen als von einer ausschweifenden Verirrung der menschlichen Eitelkeit und Unvernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. (FW 346)
So schreibt Nietzsche im Jahr 1887, nachdem er die çden Wege des Nihilismus beschritten hat. Die hçheren Menschen sind die dcadents, ein jeder in seiner besonderen Situation. Sie sind das ußerste Produkt einer bergangszeit und noch nicht imstande, die zahlreichen widersprchlichen Instinkte zu beherrschen und zu ordnen, aus denen sie als Kinder der Moderne bestehen. Nietzsche analysiert die vielgestaltigen Erscheinungsformen einer historisch definierten dcadence – Exotismus, Kosmopolitismus, Kult des Primitiven und des Naiven, Religion des Leidens, Tolstojismus, Wagnerismus als Opium, Buddhismus usw. –, die allesamt von Ablehnung, vom Unbehagen am Durchschnittsmenschen und seiner fortschreitenden „Verkleinerung“ knden. Viele Masken der Dekadenz sind in den symbolischen und allegorischen ,Figuren‘ des hçheren Menschen im vierten Teil des Zarathustra dargestellt. Die hçheren Menschen, die noch von den alten Werten beeinflusst sind, kçnnen nicht ohne neue, gottlose Religionen auskommen. Zunchst schildert das „Eselsfest“ eine Regression: Die ,hçheren Menschen‘ werden „Kindlein“, fromm ergeben einem Gott, der – entgegen der Geistigkeit eines zum Schatten und Gespenst verkommenen Gottes – allein im Gewand des Esels eine Materialitt wiedererlangt hat („Lieber Gott also anbeten, in dieser Gestalt, als in gar keiner Gestalt!“, spricht der alte Papst). Aber die Frçmmigkeit verkehrt sich aufgrund der Lcherlichkeit ihres Gegenstandes sogleich in Spiel, Fest und ausgelassenes Lachen, das die hçheren Menschen auf den Weg der Genesung bringt. Paul Bourget, der Nietzsche in die verschiedenen ußerungen der dcadence und des Nihilismus einfhrte, sah die Zeit, der es an einem „allgemeinen Credo“ fehlte, durch den Tod der Gçtter gekennzeichnet, die als ewige Ideen, Gegenstand der Wahrheit der Kunst zu berleben trachteten. Von Leconte de Lisle bernahm Bourget an verschiedenen Stellen das Thema der Religion der Kunst, die an die Stelle der erloschenen Werte trat,
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und nherte sich damit auf vieldeutige Weise der dekadenten Sensibilitt: „En ce sicle o les Dieux sont tout teints, j‘estime/ que l‘artiste est un prÞtre, et doit, pour rester tel,/ dvouer tout son coeur l‘Art, seul Dieu rel…“.17 Wagner (der alte Zauberer aus dem vierten Teil des Zarathustra) tritt als „Bauchredner Gottes“ (GM III 5) auf und bertrgt der Musik und dem heiligen Musikdrama die Aufgabe der sozialen Regeneration. Die wagnersche Musik, schreibt Nietzsche, ist eine „arglistige Heilige, die zu allem zurckfhrt, zurckverfhrt, was einst geglaubt wurde! … Unser intellektuelles Gewissen braucht sich nicht zu schmen, – es bleibt außerhalb – wenn irgendein alter Instinkt mit zitternden Lippen aus verbotenen Bechern trinkt…“ (N 1888, KSA 13, 14[42]). Renans Philosophie stellt den konsequentesten Versuch dar, das Empfinden und die Werte der traditionellen Religion nach dem Tod Gottes zu retten. Die Befreiung der Religion von ihren dogmatischen Aspekten schließt die Mçglichkeit ein, noch lange vom Schatten Gottes leben zu kçnnen, indem seine Werte bewahrheitet werden. Auf den ersten Blick will es uns scheinen, als sei die Menschheit auf einem Punkte angelangt, von dem es keinen Ausweg giebt. Die alten Glaubensstze, mittelst deren man den Menschen zur Ausbung der Tugend verholfen, sind erschttert und wurden durch nichts Neues ersetzt. Uns Gebildeten bietet der Idealismus einen vollkommen zureichenden Ersatz fr diese Glaubensstze, denn wir handeln unter der Herrschaft althergebrachter Gewohnheiten; wir sind wie jene Thiere, welche, trotzdem ihnen die Physiologen das Gehirn entfernt, nichts desto weniger mit den brig gebliebenen Resten des Nervensystems gewisse Lebensfunctionen fortsetzen. Mit der Zeit jedoch werden sich diese instinctiven Bewegungen abschwchen. Gutes zu thun, damit Gott, wenn er wirklich ist, mit uns zufrieden sei, wird den Meisten als eine ziemlich leere Formel erscheinen. Wir leben von dem Schatten eines Schattens. Wovon wird man nach uns leben? … Eines ist gewiß, daß die Menschheit aus ihrem Busen schçpfen wird, was immer an Blendwerk nçthig ist, damit sie ihre Pflichten erflle und ihrer Bestimmung gerecht werde. Davon ist sie bisher nicht abgewichen und wird auch in Zukunft nicht davon abweichen.18
Renan wird den Ausdruck „wir leben von dem Schatten eines Schattens“ an mehreren Stellen wiederholen:19 Es ist der ußerste Versuch, den Ansporn 17 P. Bourget, L‘art, in: Œuvres: Posies (1872 – 1876), Paris 1885, S. 71. 18 E. Renan, Philosophische Dialoge und Fragmente, Leipzig 1877, XVII f. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Renan vgl. Campioni, Der franzçsische Nietzsche, S. 65 – 134. 19 Vgl. auch E. Renan, Discours et confrences, in: Œuvres compltes, hg. von H. Psichari, Bd. I, Paris 1947, S. 786: „Nous vivons d‘une ombre, du parfum d‘un vase vide; aprs nous, on vivra de l‘ombre d‘une ombre“.
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zur Fortsetzung des Weges in der Kraft der Illusionen zu suchen, die nach dem Tod Gottes noch bleiben. „Le sage est celui qui voit la fois que tout est image, prjug, symbole, et que l‘image, le prjug, le symbole, sont ncssaires, utiles et vrais.“ 20 Das Attribut ,Nihilist‘ begleitete Renan, seit sein skandalçses Leben Jesu erschien. Der bretonische Kritiker und Katholik Ernest Hello (1828 – 1885) erging sich in einer radikalen Kritik an seinem Landsmann Renan, in der er feststellte: Zur Charakterisierung von Renans Lehre, auf die kein bekanntes Wort passt, weil alle Wçrter dazu neigen, das Sein auszudrcken, das diese Lehre negiert, muss man ein Wort schçpfen, das ebenso entsetzlich ist wie die Sache selbst, ein Wort, das nichts sagt, ein Wort, welches das Nichts bezeichnet: Es wre das Wort Nihilismus. Gott und die Gesellschaft vernichtet, das Gute und Bçse vermischt und freilich das Wahre und Falsche vermischt, die nichts sind als das Gute und Bçse in ihrem Anfang. Doch wenn das Wahre und Falsche identisch oder dem Menschen auch nur gleichgltig sind, was wird dann aus der Wissenschaft, die nur unter der Bedingung existiert, dass man das eine vom anderen unterscheidet, dem einen vor dem andern den Vorzug gibt?21
Renans Atheismus („eine verfngliche Apologie des Nichts voll feiner Nuancen“) ist tckisch, weil er die Religion aufrecht erhalten will: „Man kann sagen: Ich bin Atheist; Gott existiert nicht. Man kann sagen wie Renan: Ich glaube an Gott, ich bete ihn an, aber er existiert nicht“. Auch seine „Frçhlichkeit“ – so Lema tre in einem Essay, den Nietzsche kannte – ist Ausdruck eines kaum versteckten Nihilismus: „Il n‘y a pas de nuances qui tiennent. Douter et railler ainsi, c‘est simplement nier; et ce nihilisme, si lgant qu‘il soit, ne saurait Þtre qu‘un ab me de mlancolie noire et de dsesprance. […] Rien, rien, il n‘y a rien que des phnomnes.“22 Auch fr den geduldigen Widerstand gegen die wachsende egoistische Herrschaft des „brgerlichen Paradieses“ setzt Renan auf das religiçse Empfinden. Aber in einem Artikel, in dem Renan den Pessimismus Amiels kritisiert, sieht auch er mit Scharfsinn, dass der Weg der Zeit neuen religiçsen Trçstungen entgegenfhrt, und zwar im Falle Amiels „einer traurigen Religion, die dem Buddhismus mehr gleicht als dem Christentum“: „auf dem Hçhepunkt des Nihilismus fllt man um“. „Dieser Wiederaufbau des Christentums auf der Grundlage des Pessimismus ist eines der bestr20 E. Renan, L‘avenir religieux des socits modernes, in: Questions contemporaines, Paris 1868, S. 414 f. 21 E. Hello, M. Renan, l‘Allemagne et l‘athisme au XIXe sicle, Paris 1859, S. 43. 22 J. Lema tre, Les contemporains. tudes et portraits littraires, premire srie, Paris 1886, S. 207.
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zendsten Zeichen unserer Zeit. Es ist derart schwer, der Sttze eines festen Kults zu entbehren, dass man, nachdem man die Kirchen aus Granit zerstçrt hat, nun Kirchen aus den Trmmern baut.“ (Journal des Dbats, 30. September 1884)
4. L‘univers se rpte… Der hçhere Mensch wird auch bezeichnet als „der letzte Rest Gottes unter Menschen, das ist: alle die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels, des grossen berdrusses“ (Za IV, Die Begrssung, KSA 4, S. 349). In gewissem Sinn kçnnten die hçheren Menschen als „Schatten Gottes“ definiert werden, wenn man sie in Bezug auf die Gegenwart oder Vergangenheit betrachtet, bzw. als „Schatten des bermenschen“, wenn man sie hingegen unter dem Gesichtspunkt der Zukunft und ihrer mçglichen Genesung ansieht. Whrend der bermensch sich jenseits des Gattungswesens und seines Handelns ansiedelt, definiert sich der hçhere Mensch noch in Bezug auf die gesellschaftlichen Wertmaßstbe. In dramatischer Weise spiegelt er die Krise der Werte in einem bestimmten geschichtlichen Moment wider und ist unfhig, eine Alternative zu schaffen. Auch in der ußersten Ablehnung oder im Versuch der Umkehrung ist er durch und durch von den alten Werten beeinflusst und leidet folglich an ihrer Krise: insofern ist er dekadent. Das prgende Merkmal des hçheren Menschen und seiner Vornehmheit ist der Ekel vor sich selbst und den anderen. So gelingt es ihm entweder, mit Entschiedenheit sich und seine eigenen Widersprche zu berwinden, oder er muss zugrunde gehen. An verschiedenen Stellen lesen wir, dass Zarathustras Aufgabe gerade darin besteht, diese „hçhere[n] Naturen“, die von aller „Art von wahnsinniger Entartung“ erfasst sind, zu erziehen und ihnen ein Ziel zu geben (N 1884, KSA 11, 27[23]). Hier mçchte ich nur an das Thema des „grossen Ekels“, des „grossen berdrusses“ erinnern, das nicht mit dem „Selbsthaß“, einem Ausdruck asketischer Feindseligkeit gegenber dem Leben, verwechselt werden darf. Im „Selbsthaß“ wie in der „Selbstliebe“ ußert sich die beschrnkte Perspektive, die alles nach uns selber misst: „Selbstliebe ist ein falscher zu enger Ausdruck; Selbsthaß und alle Affekte sind fortwhrend thtig mit diesem kurzen Sprunge; als ob alles zu uns hinstrebe“ (N 1881, KSA 9, 11[10]). Sie sind Ausdruck eines kleinen und schwachen, vom Milieu geformten Egos. Im aufkommenden Horizont des Gedankens der ewigen Wiederkunft geht es dagegen darum, zu lernen
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„[k]osmisch [zu] empfinden“ – „ber,dich‘und ,mich‘ hinaus!“ (N 1881, KSA 9, 11[7]) In der Geschichte der Menschheit sind die g r o ß e n Ve r a c h t u n g e n die Ereignisse: als die Quelle der großen Begehrung nach dem bermenschen. Laßt euch nicht betrgen – ehemals wollte man denn wohl in das Jenseits oder Nichts oder mit Gott eins werden!? Alle diese bunten Worte dienten um auszudrcken, daß der Mensch s e i n e r satt sei – n i c h t s e i n e r L e i d e n , sondern seiner gewçhnlichen Art zu empfinden. (N 1882/1883, KSA 10, 5[1]270, S. 219)
Die Erziehung der hçheren Menschen gipfelt darin, sie mit dem „schwersten Gedanken“ zu konfrontieren, der Lehre der ewigen Wiederkehr. Die Fhigkeit, diesen Gedanken zu ertragen, ohne daran zu zerbrechen, bedeutet eine tiefgreifende Umwandlung hin zum „bermenschen“. Der „Schatten Gottes“ bleibt und bildet die grçßte und verfnglichste Gefahr fr den hçheren Menschen. Neue gottlose Religionen (Religion der Wissenschaft, der Kunst, des Fortschritts, „de la souffrance humaine“, usw.) treten an die Stelle der alten religiçsen Lehren, erhalten jedoch die zentrale Bedeutung der gegebenen Werte aufrecht. Die Perspektive des bermenschen als Mçglichkeit am ußersten Rande des Nihilismus setzt die Bejahung des chaos sive natura voraus, das durch die Hypothese der ewigen Wiederkunft besttigt wird: ein unschuldiges Werden, das in seinem radikalen Immanentismus jeglichen Rest des „Schattens Gottes“ zerstçrt und so jeden einzelnen Augenblick des Daseins aufwertet. Die mit der ewigen Wiederkunft verquickte neue Unschuld muss auch noch den Schatten Gottes besiegen. Das Auseinanderfallen, also die Ungewißheit ist dieser Zeit eigen: nichts steht auf festen Fßen und hartem Glauben an sich: man lebt fr morgen, denn das bermorgen ist zweifelhaft. Es ist Alles glatt und gefhrlich auf unsrer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trgt, so dnn geworden: wir fhlen Alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen k ç n n e n . (N 1884, KSA 11, 25[9])
Es geht darum, „ber dies furchtbare Gefhl der Oede hinwegzukommen“ (N 1884, KSA 11, 25[13]), das uns angesichts der weiten, in alle Richtungen offenen Horizonte erfasst, die sich mit dem Ende der vorgegebenen Wege der Tradition auftun. Die Kraftprobe besteht in einer bejahenden Konfrontation mit dem Nihilismus, der sich aus der Theorie der ewigen Wiederkunft ergibt. Dies kçnnen nur die Strksten, das heißt die „Mßigsten“ leisten, die imstande sind, den horror vacui in sich zu besiegen, ohne auf den Mythos oder die Metaphysik zu rekurrieren, diejenigen, die durch die Wste gegangen sind und „vom Menschen mit einer bedeutenden Ermßigung seines Werthes denken kçnnen, ohne dadurch klein und
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schwach zu werden“, schreibt Nietzsche am Ende des in der Einsamkeit der Lenzer Heide verfassten Textes ber den Nihilismus, den er mit der Frage beschließt, die ihn fr den Rest seines philosophischen Weges bedrngen wird: „Wie dchte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?“ (N 1886/ 1887, KSA 12, 5[71], S. 217) Sicher traf sich die kosmologische Theorie der ewigen Wiederkunft, die Nietzsche als eine extreme und experimentelle wissenschaftliche Hypothese konzipiert hatte, imstande, den Horizont von den Schatten Gottes zu befreien, mit anderen kosmologischen Theorien einer ewigen Wiederkehr, die indes den Schatten Gottes bewahrten. In der letzten Phase seines Denkwegs setzte Nietzsche sich mit einem wichtigen Text von Guyau auseinander, mit L‘irrligion de l‘avenir (1887), worin der franzçsische Philosoph und Soziologe beabsichtigt, den zahlreichen ,Religionen der Zukunft‘, ,altem und neuem Glauben‘, entgegenzutreten, die in jenen Jahren Blten trieben. Wenn Metaphysik und Moral in gewisser Hinsicht „eine Religion sind oder wenigstens eine Grenze, auf die jede in der ,Auflçsung‘ begriffene Religion zustrebt“, so will Guyau in den Religionen der Zukunft den heuchlerischen Kompromiss mit den positiven Religionen einschließlich der entsprechenden Kulte und Zeremonielle bekmpfen, wie den fetischistischen Menschheitskult und den positivistischen Katechismus la Comte: „eines ist die Liebe zur Menschheit, ein anderes die Vergçtterung des Menschen, die ,Soziolatrie‘“23. Dass Nietzsche den dicken Band von Guyau aufmerksam las, wird durch etliche Lesespuren und Randbemerkungen in dem Exemplar seiner Bibliothek besttigt. Viele der Argumentationen und berlegungen in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen scheinen Antworten auf Argumentationsstrnge des franzçsischen Autors zu sein, von dem Nietzsche bereits die Esquisse d‘une morale sans obligation ni sanction (Paris 1885) gelesen hatte. Der Name Guyau kommt bei Nietzsche nur vier Mal vor, aber er erblickte in ihm die volle Besttigung der Richtung, die kennzeichnend ist fr den Positivismus – namentlich den von der race moutonnire der franzçsischen Soziologen vertretenen. Bei dem ,Freidenker‘ Guyau, den Nietzsche neben Fouille, aber auch neben Mill und Comte stellt, finden die von Nietzsche behandelten Themen eine gegenstzliche Lçsung. Guyau zufolge wird das Ende der positiven Religionen zu freierem metaphysischem und kosmologischem Denken fhren, das einst in „angeblich unwandelbaren Formeln“ erstarrt war: „Das Dogma wird untergehen, aber das Beste des religiçsen Lebens wird sich verbreiten, es wird an Kraft und Ausmaß gewinnen“. „Der sich entwickelnde Mensch ist tatschlich der Gott-Mensch 23 J.-M. Guyau, L‘irrligion de l‘avenir, Paris 1887, S. 391.
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des Christentums […]“. Die Religion wird sich verwandeln „in das Reinste, was es auf Erden gibt, die Liebe zum Ideal“, in eine „Metaphysik mit immanentem Ziel“. „Gott ist das menschliche Wort, mit dem wir dasjenige bezeichnen, was es ermçglicht, dass die Welt sich auf einen Zustand des Friedens, der Eintracht und Harmonie zubewegt.“24 Nietzsche resmiert: „der Fortschritt als fhlbare Verbesserung des Lebens, als Triumph der Logik“ und vor allem „als Triumph der Liebe“ (N 1887, KSA 12, 10[171]). Auch Zarathustras Liebe ist Lebensexpansion, aber keine ,natrlicherweise‘ durch den Gang der Evolution garantierte, wie bei Guyau. Nietzsche wendet sich mit Nachdruck gegen die Annahme, dass die Lebensexpansion als Bewegungsprinzip der Evolution im Sinn einer mit Sicherheit wachsenden Geselligkeit zu verstehen sei – „das hçchste Ideal der Menschheit und auch der Natur besteht darin, immer engere gesellschaftliche Beziehungen zwischen den Lebewesen zu schaffen“25 – und merkt am Rand der begeisterten Aussagen Guyaus hufig an „Esel“, „Eselei“, versieht den Text mit Ausrufezeichen und kritischen Kommentaren (die durch den Schnitt des Buchbinders leider zerstçrt worden sind). Guyaus Ansatz hinsichtlich der Verbindung von Kunst und Moral („la delicatesse morale et la delicatesse esthtique“) bewegt diesen dazu, Baudelaire und Byron die Fhigkeit zu gesunden sthetischen Urteilen abzusprechen, womit er Nietzsches Reaktion hervorruft, der die Seite mit Esel! berst und bezeichnenderweise am unteren Rand notiert: Manfred, Borgia, Cellini. Guyau schtzte dagegen Wagner und die Musik als „religiçseste Kunst“, die mehr als jede andere fhig sei, „die gemeinsamen und sympathischen Gefhle einer hçheren Gattung“ zu wecken: „Wagner hatte durchaus nicht Unrecht, die Religion der Zukunft oder wenigstens den Kult der Zukunft darin zu sehen.“26 Es wre sicher aufschlussreich, auf dieses wichtige Beispiel eines Extratexts nher einzugehen, der viele Hinweise in Nietzsches Schriften und Nachlass klren kann und der uns in die Diskussion der Zeit ber das Ende der positiven Religionen und ber den Anspruch des evolutionistischen Positivismus einfhrt, der gesellschaftlichen Organisation eine bestimmte Richtung zu geben. An dieser Stelle interessiert uns lediglich, festzuhalten, dass die Moral und Werte, welche die Suche nach der irreligion de l‘avenir leiten und ihr Grenzen setzen, mit einer kosmologischen Version der ewigen Wiederkehr zusammentreffen, die immer noch die Verwirklichung der sozialen Liebe ermçglicht. Schon im Heft M III 1 finden sich Aufzeich24 Guyau, L‘irrligion de l‘avenir, S. 392. 25 Ebd., S. 340. 26 Ebd., S. 365.
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nungen, die vor Versionen der ewigen Wiederkunft warnen, in denen nach wie vor Schatten Gottes anwesend sind: „Hten wir uns, diesem Kreislauf irgend ein Streben, ein Ziel beizulegen […]. Hten wir uns, das Gesetz dieses Kreises als g eworden zu denken“; „Hten wir uns, eine solche Lehre wie eine plçtzliche Religion zu lehren! Sie muß langsam einsickern, ganze Geschlechter mssen an ihr bauen und fruchtbar werden, – damit sie ein großer Baum werde, der alle noch kommende Menschheit berschatte“ (N 1881, KSA 9, 11[157] und 11[158]). „Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts ,Unendliches‘: hten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs!“ (N 1881, KSA 9, 11[202]); „Hten wir uns zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewisse Formen zu erreichen“ (N 1881, KSA 9, 11[205]). Im selben Jahr (1881) setzt Guyau in den Vers d‘un philosophe bei den Resultaten der Spektralanalyse und der Kosmogenie von Laplace an, um eine Kosmologie zu formulieren, die der von Auguste Blanqui (L‘ternit par les astres, 1872) außerordentlich gleicht: Partout nos regards la nature est la mÞme: L‘infini ne contient pour nous rien de nouveau. […] Qu‘y dcouvririons-nous? L‘univers se rpte… Qu‘il est pauvre et strile en son immensit!27
Die Unendlichkeit von Universum, Raum und Zeit und die endliche Zahl der von der Spektralanalyse enthllten Elemente fhrt notwendigerweise zu Wiederholung: Depuis l‘ternit, quel but peux-tu poursuivre? S‘il est un but, comment ne pas l‘avoir atteint? […] L‘ternit n‘a donc abouti qu‘ ce monde! […] Ce qui passe revient, et ce qui revient passe: C‘est un cercle sans fin.28
Guyau zieht aus dieser wissenschaftlichen Hypothese einen verzweifelten, nihilistischen Schluss. Aber dieselbe Version der ewigen Wiederkehr, die die Unendlichkeit von Raum und Zeit voraussetzt, lsst in der Irrligion dagegen Raum fr Hoffnung. Guyau bezieht sich auf die (nie ausdrcklich erwhnte) Theorie von Blanqui ber die unendlichen Welten, welche ,Doppelgnger‘ in Raum und Zeit haben und dazu berechtigen, auf die Mçglichkeit hçherer Verwirklichungen zu hoffen, die in dieser Welt gescheitert sind. Guyau sucht 27 J.-M. Guyau, Vers d‘un philosophie, Paris 1881, S. 195 f. 28 L‘analyse spectrale, ebd., S. 198 f.
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den Fortschritt in Richtung auf Geselligkeit und Lebensexpansion zu retten: „Es ist durchaus nicht wahrscheinlich, dass wir die letzte Stufe des Lebens, des Denkens und der Liebe sind“: „Die große Ressource der Natur ist die Zahl, deren mçgliche Kombinationen ihrerseits unzhlig sind und die ewige Mechanik bilden. Die Flle der Mechanik und der Selektion, die bereits so viele Wunder hervorgebracht haben, kçnnen noch hçhere Wesen erzeugen.“ Nietzsche kommentiert diesen ußersten Rettungsversuch des Schattens Gottes mit einem nachdrcklichen „Nein“ am Seitenrand. Eine unendliche Macht, die imstande wre, Wiederholung und Wiederkehr zu verhindern, kçnnte seines Erachtens nur Gott genannt werden. Im Gegensatz zum pessimistischen Pantheismus la Hartmann schließt Guyau: „Es wre vielleicht weniger schwer, zu schçpfen als zu vernichten, Gott zu machen als ihn zu tçten.“29 Aus dem Italienischen von Leonie Schrçder.
29 Guyau, L‘irrligion de l‘avenir, S. 420.
Am Leitfaden des Rhythmus. Kritische Wissenschaft und Wissenschaftskritik in Nietzsches Frhwerk Friederike Felicitas Gnther Der Wissenschaftler Friedrich Nietzsche ist zugleich der vehementeste Kritiker seiner eigenen Disziplin. Wie kein anderer legt er den Zeigefinger in die Wunde der modernen conditio humana, den Absolutheitsanspruch menschlicher Erkenntnis immer wieder an den anthropologischen Gegebenheiten brechen zu mssen: Erkenntnis gilt nicht ewig, sondern beruht auf zeitgebundenen, begrenzten und arbitrren Strukturen. Bereits das frhe Werk Nietzsches richtet sich gegen zwei Tendenzen der Wissenschaft, die der Einsicht in diese anthropologischen Bedingungen von Erkenntnis auszuweichen sucht. Einerseits warnt er vor der Vergçttlichung bzw. der metaphysischen berhçhung wissenschaftlicher Erkenntnis, denn entsprechend seiner spteren durchaus wehmtigen Einsicht in den Tod Gottes sieht er den Anspruch auf Ewigkeit auch den modernen Wissenschaften verwehrt. Andererseits – und dieser Aspekt wird gerade im Frhwerk Nietzsches nicht immer bercksichtigt – warnt er die Wissenschaft gerade angesichts jenes Wegbrechens absoluter Kategorien vor einer Auflçsung aller Erkenntnis ermçglichenden Strukturen, deren Relevanz als historische und kulturtypische physiologische Wahrnehmungsmuster er immer wieder herausstellt und in ihrer zeitgebundenen Spezifik wissenschaftlich untersucht. Leitfaden der vorliegenden Untersuchung ist Nietzsches wissenschaftliche, anthropologische und sthetische Auseinandersetzung mit Rhythmus und Rhythmik,1 die ihren Ausgangspunkt in seinen frhen Studien zur antiken Rhythmik nimmt und bis in sein sptes Werk andauert.2 Exem1
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Ausfhrlicher habe ich die Interpretation des Rhythmus-Begriffs als sthetische Anthropologie in meiner Monografie zum Rhythmus beim frhen Nietzsche ausgearbeitet (Friederike Felicitas Gnther, Rhythmus beim frhen Nietzsche, Berlin / New York 2008). Auf die Signifikanz von Nietzsches frher Auseinandersetzung mit der antiken Rhythmik fr sein weiteres Werk hat James Porter hingewiesen: „The concept and phenomenon of rhythm are a constant motif in Nietzsche‘s writing throughout his career. Their significance to his later thinking, though not well recognized, is indisputable.“ (James Porter, Being in Time. The Studies in Ancient Rhythm and Meter (1870 – 72), in: ders., Nietzsche and the Philology of the Future, Stanford
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plarisch lsst sich hier nachvollziehen, wie Nietzsche zum einen die metaphysische berhçhung eines wissenschaftlich untersuchten Gegenstands bekmpft – wie beispielsweise die Auffassung eines ,Rhythmus an sich‘ in der deutschen Altphilologie – indem er diesen Gegenstand konsequent historisiert; so plante er als Einleitung seines nie geschriebenen Buch ber den Rhythmus „eine Geschichte der rhythm. Empfindungen“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 309). Zum anderen zeigt Nietzsche, wie gerade der Rhythmus durch seine kulturelle Organisation der Wahrnehmung dem Blick der Wissenschaft notwendige Grenzen setzen kann, wenn sie in ihrem metaphysischen Streben nach Objektivitt und Detailgenauigkeit alle Kategorien der Anschauung zu verflssigen droht. Um diese beiden Aspekte seiner Wissenschaftskritik vor Augen zu fhren, behandle ich zunchst Nietzsches 2000, S. 127 – 166, hier S. 127) Christian Emden arbeitet die anthropologische Signifikanz des Rhythmus fr Nietzsches frhe berlegungen zum Zusammenhang von Sprache und Kultur heraus (Christian Emden, Sprache, Musik und Rhythmus. Nietzsche ber die Ursprnge von Literatur, 1869 – 1879, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie 121, 2002, H. 2, S. 203 – 230). Im mittleren und spten Werk wird die sthetische und anthropologische Relevanz, die Nietzsche dem Rhythmus beimisst, in der Tat weitaus expliziter als im Frhwerk ausgefhrt. Ausfhrungen zur Kultur stiftenden Bedeutung von Maß und Rhythmus finden sich u. a. in Menschliches, Allzumenschliches (MA I 221, KSA 2, S. 180 ff.; MA II 119, vgl. dazu Eric Dufour, L‘esttique musicale formaliste de Humain trop humain, in: NietzscheStudien 28, 1999, S. 215 – 233), in Die frçhliche Wissenschaft (FW 84, KSA 3, S. 439 ff., vgl. dazu Gert Mattenklott, Der Taktschlag des langsamen Geistes. Tempi in der Frçhlichen Wissenschaft, in: Friethjof Hager (Hg.), KçrperDenken. Aufgaben der Historischen Anthropologie, Berlin 1996, S. 137 – 149; Werner Stegmaier, ,Philosophischer Idealismus‘ und die ,Musik des Lebens‘, in: NietzscheStudien 33, 2004, S. 90 – 128, 125 ff. und Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslçsung vom europischen Weltbild, Berlin / New York 1996, S. 77 – 87) und in Jenseits von Gut und Bçse (JGB 188), vgl. dazu Daniel Payot, Der Rhythmus des Kunstwerks: zwischen Atmen und Beschwçrung, in: Patrick Primavesi / Simone Mahrenholz (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Knsten, Schliengen 2005, S. 171 – 177). Vom Einfluss der frhen Forschungen zeugt auch Nietzsches detailliert auf seine frhe Beschftigung mit antiker Rhythmik zurckblickender Brief an Carl Fuchs, vermutlich vom Ende August 1888: „Z u r A u s e i n a n d e r h a l t u n g d e r a n t i k e n R h y t h m i k (,Zeit-Rhythmik‘) v o n d e r b a r b a r i s c h e n (,Affekt-Rhythmik‘)“ (KGB 3.5 [Nr. 1097], S. 403 – 405, vgl. dazu Dieter Schellong ,…und im Kleinsten luxurirt.‘ Zur Bedeutung von Nietzsches Diagnose der Dcadence in der Musikpraxis, in: NietzscheStudien 13, 1984, S. 412 – 436), auf den ich im Folgenden noch zu sprechen komme. In den nachgelassenen Notizen finden sich ebenfalls viele Eintrge zur anthropologischen Relevanz des Rhythmus, so z. B. „Der Mensch glaubt an ,Sein‘ und an Dinge, weil er ein formen- und rhythmenbildendes Geschçpf ist“ (N 1883/ 84, KSA 10, 24[14]).
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eigene Anwendung kritischer wissenschaftlicher Methodik in seinen frhen philologischen Studien zur antiken Rhythmik, um dann zu seiner fundamentalen Wissenschaftskritik in der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung berzugehen. In seinen mehr als zweihundert Seiten fllenden philologischen Studien zur antiken Rhythmik aus den Jahren 1870/71 unternimmt Nietzsche eine historisch-kritische Annherung an die griechische und lateinische Rhythmik (N 1870/71, KGW 3.2, S. 99 – 338).3 Seine mhevolle und kleinteilige Untersuchung fhrt zu einem Ergebnis, das Nietzsche selbst bis in sptere Jahre hinein als eine seiner wichtigsten philologischen Entdeckungen bezeichnet.4 „[A]n meinem Geburtstag hatte ich den besten philologischen Einfall, den ich bis jetzt gehabt habe“, schreibt er am 23. November 1870 an seinen Freund Erwin Rohde: Wenn Du mir es glauben willst, so kann ich Dir erzhlen, daß es eine neue Me t r i k giebt, die ich entdeckt habe, der gegenber die ganze neuere Entwicklung der Metrik von G. Hermann bis Westphal oder Schmidt eine Ve r i r r u n g ist. Lache oder hçhne, wie Du willst – mir selber ist die Sache sehr erstaunlich. Es giebt sehr viel zu arbeiten, aber ich schlucke Staub mit Lust, weil ich diesmal die schçnste Zuversicht habe und dem Grundgedanken eine immer grçßere Tiefe geben kann. (KGB 2.1 [Nr. 110], S. 159)
Den mhseligen und in weiten Teilen selbst in der verdienstvollen Transkription der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsche Werken nur schwer nachvollziehbaren Studien der Metrik und Rhythmik widmet er sich deshalb so hartnckig, weil er einem „Grundgedanken“ nachgeht, der sich nicht auf die staubtrockene altphilologische Auseinandersetzung beschrnkt, von der seine hier gefeierte Entdeckung ihren Ausgang nimmt. Worum nun handelt es sich bei dieser Entdeckung? In der Geschichte der deutschen Metrik wie auch in den altphilologischen Rhythmiken hatte bis zu Nietzsches Zeit auch als Sptfolge der humanistischen Sehnsucht nach 3
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Bereits zuvor beschftigt sich Nietzsche mit dem Phnomen der antiken Rhythmik. Von 1864 bis 1868 untersucht er die Rhythmik des Danae-Fragments von Simonides, 1868 plant er Vorlesungen und Seminare zur antiken Rhythmik und Metrik, die er 1869 – 74 in Basel hlt, als deren Frucht er 1870 – 71 die o. g. vier Notizbcher mit dem Vorhaben einer Publikation zum Rhythmus fllt; unabhngig davon finden sich verstreute, aber regelmßige Eintrge zum Rhythmus in seinen Notizbchern, so z. B. der Plan zu einer „neue[n] Theorie der Rhythmik“ (N 1870/72, KSA 7, 8[52], vgl. N 1873, KSA 7, 26[23]), zu einer „Geschichte der Rhythmik“und zur „Sprache metrisch betrachtet“ (N 1872/73, KSA 7, 19[323]) wie auch zu der „zeitmessende[n] Rhythmik der Griechen“ (N 1872/73, KSA 7, 19[326]). Vgl. den bereits erwhnten Brief an Carl Fuchs vom April 1886 (KGB 3.5 [Nr. 688], S. 177 f.).
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dem Altertum eine Strçmung Oberwasser, die implizit oder explizit eine bertragbarkeit der antiken quantifizierenden Rhythmik in die mit Betonungen operierende Rhythmik des Deutschen voraussetzte.5 Von der Philologie wie auch „von den deutschen Dichtern, welche antike Metra nachzubilden glaubten“, so Nietzsche 1886 an Carl Fuchs, ist ganz unschuldig unsere Art rhythmischer Sinn als einzige und ,ewige‘Art, als Rhythmik an sich, angesetzt worden: ungefhr wie wir allesamt geneigt sind, unsere Humanitts- und Mitgefhls-Moral als d i e Moral zu verstehen und sie in ltere, grundverschiedene Moralen hineinzuinterpretiren. (KGB 3.3 [Nr. 688], S. 178)
Man ging von der berzeugung aus, so Nietzsche in seinen Notizen, „[d]as rhythm. Gefhl aller Kulturvçlker sei gleich“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 131).6 Fr Nietzsche dagegen ist bereits zur Zeit seiner frhen philologischen Studien die Annahme einer Empfindungsfhigkeit, die abgehoben von kulturellen und historischen Bedingungen zeitlos gltig wre, nicht selbstverstndlich. Vielmehr handelt es sich fr ihn hier um genau jene „Cardinalfrage“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 131), um die seine hartnckigen berlegungen und Exzerpte kreisen. „Entschieden anzukmpfen gegen jene Gleichmachung der antiken und der jetzigen Rh. (nicht ,Vergleichung‘) Unser Gefhl ist darin sehr abgestumpft“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 135). Man msse sich eingestehen, wie er im Dezember 1870 an seinen Lehrer 5
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So z. B. die Arbeiten von Johann Heinrich Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache. Beilage zu den Oden und Elegien, Kçnigsberg 1802 und Johann August Apel, Metrik, Leipzig 1814 – 16, ber die Nietzsche urteilt, sie seien „die Ersten, die den griech. Versen einen Rhythmus zu geben suchten, allerdings den modernen Rhythmus. Sie zweifelten nicht an der Identitt der Rhythmik“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 127). Rudolf Westphal, Die Fragmente und die Lehrstze der griechischen Rhythmiker. Supplement zur griechischen Rhythmik von A. Rossbach, Leipzig 1861, schreibt differenzierter, doch mit derselben Grundaussage: Das „rhythmische Gefhl ist bei uns Allen dasselbe und bis auf einige freilich sehr wichtige Puncte auch dasselbe wie bei den Alten“ (S. VII). Nietzsche erklrt im Dezember 1870 seinem Lehrer Ritschl: „Mit Westphal bin ich fast in allen wesentlichen Punkten n i c h t m e h r einverstanden“ (KGB 2.1 [Nr. 117], S. 173). Zur Kritik Nietzsches an Westphals Deutung griechischer Rhythmik vgl. Fritz Bornmann, Nietzsches metrische Studien, in: Nietzsche-Studien 18, 1989, S. 472 – 489, hier S. 481, sowie M. L. West, Ancient Greek Music, Oxford 1992, S. 5. Dennoch sieht Nietzsche, der Westphal in seinen Studien ausgiebig exzerpiert, dass dieser zumindest daran gezweifelt habe, ob unter den Bedingungen moderner Empfindung die Rhythmik der Griechen berhaupt nachvollziehbar sei. Westphal wende sich vielmehr gegen diejenigen, die sich zur wissenschaftlichen Bestimmung griechischer Rhythmik „auf ihr rhythm. G e f h l berufen“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 129), vgl. Westphal, Fragmente, S. 7.
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Ritschl schreibt, „daß man in wichtigen Punkten den Alten nicht mehr nachfhlen kçnnte […]“ (KGB 2.1 [Nr. 117], S. 173).7 Geht man von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus, der Erkenntnis absolut setzt, so kommt diese Einsicht einer Bankrotterklrung gleich. Nietzsche jedoch sieht gerade hier das Entwicklungspotenzial moderner Wissenschaft, die immer auf Basis der Einsicht in historische und kulturelle Gegebenheiten, d. h. in die grundstzliche Zeitgebundenheit menschlicher Erkenntnis zu operieren hat.8 „Uns fehlt der antike rhythm. Geschmack, uns fehlt das antike Melos – wie wollen wir unfehlbar sein!“, doch sei es „thçricht, darin einen wissenschaftlichen Rckschritt zu finden“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 268), betont er in seinen Notizen. Vielmehr gert man ohne ein solches historisches Bewusstsein in Gefahr, die untersuchten Phnomene unbemerkt zu verflschen, so dass laut Nietzsche „nach meinem Nachweis – in die antiken Rhythmen erst wir aus unserer modernen Gewçhnung hineingetragen haben, was wir nachher bewundern“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 268).9 Anstelle dessen ist es die Aufgabe der Wissenschaften, Erkenntnis in ihrer historischen Bedingtheit zu reflektieren und das Zeitgebundene von Empfindung und Wahrnehmung herauszuarbeiten, das gerade Rhythmus und Rhythmik einer Kultur bestimmt. In diesem Sinne geht Nietzsche zugleich wissenschaftlich wie wissenschaftskritisch die Analyse des antiken Rhythmus an und arbeitet anhand von verschiedenen Aspekten heraus, dass 7
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Nietzsches Erkenntnis, dass die antike Musik immer nur rekonstruiert, nicht aber mehr zu Gehçr gebracht werden kann, wird ausfhrlich behandelt bei Babette E. Babich, Musik und Wort in der antiken Tragçdie und ,La gaya scienza‘, in: Nietzsche-Studien 36, 2007, S. 230 – 257, hier S. 233 ff. „Die Verschrnkung von Sprache, Kultur und Geschichte, die sich hier bei Nietzsche entdecken lsst“, so Christian Emden in seiner Untersuchung, weist auf das grundstzlich historische Verstndnis aller anthropologischen Erscheinungen und Errungenschaften hin, das Nietzsches philosophische Ausrichtung bestimmt (Emden, Sprache, Musik und Rhythmus, S. 212). In seiner Monographie Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin / New York 2006, arbeitet Christian Benne die auf der Bonner Schule basierende historischkritische Herangehensweise Nietzsches in seinen frhen philologischen Untersuchungen heraus und zeigt, welche weitreichenden Konsequenzen diese Methodik fr Nietzsches kritische Philosophie zeitigt. Er demonstriert den verschrnkten philologischen Prozess aus empirisch-rationaler Erforschung des berlieferten und dem an Schopenhauer geschulten Bewusstsein, dass Verstehen immer auf Analogiebildungen beruht, deren zugrunde liegende Prmissen der rationalen Kontrolle entzogen bleiben. Fr eine unreflektierte „historische“ Aneignung des Altertums (GT 20, KSA 1, S. 130) hat Nietzsche daher nur Spott brig (vgl. Benne, Nietzsche, S. 32), wie auch seine Kritik an altertumsverliebten identifikatorischen Rhythmiken und Metriken seiner philologischen Kollegen deutlich macht.
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einerseits dasjenige, was man im modernen Sinne als Rhythmus im Gegensatz zum Metrum bezeichnet, mit heutiger Wahrnehmung fr die Antike gar nicht mehr zu rekonstruieren ist und dass andererseits entgegen den metrischen Gepflogenheiten seines Jahrhunderts antike Rhythmik und deutsche Metrik nicht ineinander aufgehen. So weist er beispielsweise auf ein sprachliches Missverstndnis hin, das zu einer falschen philologiehistorischen bertragung fhrte: In einer frhen Phase der hellenischen Rhythmik, die in der Orchestik durch Schritte (pedes) bestimmt ist, bezeichnet Arsis („Hebung“) den leichten, also kurzen Taktteil bei der Hebung des Fußes, whrend bei der Senkung (Thesis) der Schritt ausgefhrt wurde und – auch aufgrund der physiologisch notwendigen Verweildauer – die Lnge markiert.10 Schon in der Alexandrinischen Zeit wird diese ursprngliche „Hebung“des Fußes laut einer Notiz Nietzsches jedoch als Hebung im Sinne von stimmlicher Betonung gebraucht, also als schwerer Taktteil, auf den ein Wortakzent fllt.11 Mit dem Wortakzent gehen aber ganz andere physiologische Bedingungen einher als mit der Hebung des Fußes: so beginnt, wie Nietzsche an einer Stelle bemerkt, nach der lteren Rhythmik z. B. kein Tanz mit einer Senkung, denn schließlich muss ein Tnzer zunchst den Fuß heben, bevor er ihn niedersetzen kann. Eine stimmliche Hebung kann dagegen durchaus am Beginn einer Periode stehen. Aus der Gleichsetzung beider „Hebungen“ ergibt sich ein den antiken Bedingungen nicht angemessenes Verstndnis rhythmischer Einheiten, die Nietzsche eingehend untersucht.12 Ein solcher Irrtum konnte nur deshalb entstehen, weil man bersah, dass die klassisch-griechische Rhythmik gar keinen Ictus, d. h. keine stimmliche Hebung als rhythmisches Mittel kannte. Denn die Wortbetonung spielt fr die antike Rhythmik keine Rolle: „Wo giebt es eine Notiz daß irgendwo ein Ictus eine Silbe lang mache!“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 224) Rhythmik bezeichnete nach Aristoxenos, dem Nietzsche im Wesentlichen bei der Beurteilung der lteren hellenischen Rhythmik folgt, die Einteilung eines sprachlichen, getanzten oder gesungenen Ablaufs in kurze und lange Zeitabschnitte. Ob auf einen kurzen oder langen Zeitabschnitt oder gar auf beide eine Wortbetonung fiel, war rhythmisch ber10 „Jetzt erklrt sich, warum die Rhythm. immer als normal die arsis voranstellen. […] weil jeder Fuß pes um gesetzt zu werden, erst aufgehoben werden muß […]“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 155). 11 Vgl. „Also Hebung u. Senkung auf die Stimme bertragen von den Grammatikern der Alexandr. Zeit“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 292). 12 Unter anderem widerlegt er in mehreren Anlufen die gngige Auftakttheorie, worauf hier nicht nher eingegangen werden kann.
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haupt nicht relevant.13 „Die allgemeine Behauptung gilt, daß eine zeitmessende Rhythmik nothwendig auch accentuirend sein msse. Historisch ist das falsch“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 269). Vielmehr sieht Nietzsche es sogar als grundlegende Eigenschaft der pythagoreischen Zeitenrhythmik an, das sprachlich durchaus vorhandene Mittel der Betonung zu ignorieren.14 „Die griechische Musik“, notiert sich Nietzsche 1871, nimmt „auf Wortbetonung […] gar keine Rcksicht […]. Sie kennt berhaupt das musikalische Accentuiren nicht: die Wirkung beruht im Zeitrhythmus […], nicht im Rhythmus der Strken.“ (N 1871, KSA 7, 9[111]) Eben diese Erkenntnis, dass die antike Rhythmik keine Wortbetonung bercksichtigt, ist das an Rohde so euphorisch mitgeteilte Ergebnis von Nietzsches historisch-kritischer Analyse, fr das er in jungen Jahren geduldig Staub schluckt und das bis in seine letzte Schaffensperiode fr ihn relevant bleibt.15 Die „schçnste Zuversicht“, die ihn infolgedessen erfllt, einem 13 „Die Faktoren sind der Fuß, der Schritt, der Taktschlag. berall wo es sich um metrische Genauigkeit handelt, hat der Ictus wenig zu sagen. Wir wissen vom Ictus nichts bei den Alten. Wir erfahren nur von Zeitdifferenzen“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 135). 14 Was hier als einer der zentralen Punkte von Nietzsches Aufzeichnungen zur antiken Rhythmik wiedergegeben wird, ist Ergebnis von detaillierten Analysen, die viele Seiten seiner Notizen fllen. Hier nur einige Beispiele fr sein Fazit nach jeweils lngeren Untersuchungen, das er sich unablssig in Erinnerung ruft: „Daraus ergibt sich, daß mit der Thesis kein Ictus in der Stimme verbunden ist“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 161); „Die Quantitt bei griech. u. rçm. Dichtern nicht von dem sog. Ictus beeinflußt […]. Kurz/ 1. der ictus ist unbezeugt./ 2. er ußert keine Wirkungen./ 3. Die Alten htten ihn bezeichnen mssen, wenn sie ihn gehabt htten“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 221); „[d]er Wortaccent ist in seiner rhythm. Eigenschaft im Altherthum nicht bercksichtigt“ (ebd., S. 222); „[d]ies gengt einstweilen, um den Begriff der quantitir. Rhythmik klar gemacht zu haben. Der R h y t h m . Ic t u s i s t n i c h t b e z e u g t , ußert keine Wirkungen, wird vielmehr geradezu ausgeschlossen.“ (Ebd., S. 277) 15 So schreibt er 1886 in seinem Brief an Carl Fuchs rckblickend in Bezug auf die quantifizierende Rhythmik der Griechen: „Was ich behauptete, war, […] daß der rhythmische Reiz exakt in den Z e i t q u a n t i t t e n und deren Verhltnissen gelegen habe, und n i c h t , wie beim deutschen Hexameter, im Hopsasa des Iktus: noch abgesehn davon, daß der deutsche Daktylus auch in der Zeitquantitt grundverschieden vom griechischen und lateinischen ist“ (KGW 3.3 [Nr. 688], S. 178). Viktor Pçschl nennt dies „wirklich eine epochemachende Entdeckung“ Nietzsches (Viktor Pçschl, Nietzsche und die klassische Philologie, in: Hellmut Flashar u. a. (Hg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Gçttingen 1979, S. 141 – 155, hier S. 154), die allerdings wegen der spten Verçffentlichung von Nietzsches Vorlesung
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„Grundgedanken“ mehr Tiefe zu verleihen, wie er an Rohde schreibt, erhellt sich aus diesem Ergebnis jedoch nicht unmittelbar. Erst wenn man die Bedeutung nachvollzieht, die Nietzsche der quantifizierenden Rhythmik fr die Kultur der Griechen beimisst, wird die Dimension seiner Untersuchungsergebnisse deutlich. Die Rhythmik aus Lngen und Krzen ist fr ihn unmittelbar mit der auf Zahlen- und Sphrenrhythmik basierenden Philosophie der Pythagoreer und ihrer Nachfolger verbunden. Ein bleibendes und unendliches metaphysisches Maß, das sich in stetiger Wiederholung,16 Proportion und Rhythmus ausprgt und in allen kulturellen Phnomenen spiegelt, bildet das fundierende Paradigma der harmonisierenden Weltauffassung des Pythagoras.17 „Die Philosophie der Pythagoreer ist das bewußt gewordene Wesen des Alterthums“, schreibt Nietzsche in seinen Vorlesungsaufzeichnungen zur Rhythmik. „Ihre ungeheure Kraft, Proportionen zu genießen, alles proportional anzuschauen u. anzuhçren, ist das mchtigste Charakteristikum.“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 321 f.) In einer Notiz von 1871 erwhnt er allerdings auch die Bedeutungslosigkeit des Wortakzents in der pythagoreischen Rhythmik, die offenbar notwendig ist, um die Vorstellung eines kosmischen wie anthropologischen Gleichmaßes zu bewahren: „Pythagoreer. Rhythmus und Maaß. Bewltigung des Ictus“ (N 1871/72, KSA 7, 16[17]). Nietzsches Entdeckung, dass die antike Rhythmik der Zeitlngen und die moderne Betonungsrhythmik nicht in Einklang zu bringen sind, wchst ber die bloße Beobachtung einer formalen Differenz sthetischer Praktiken weit hinaus. Die Ausklammerung der Betonung bedingt nicht nur die Rhythmik, sondern auch das Weltbild der Pythagoreer.18 Whrend der Ictus, wie unten in Bezug auf die moderne 1912 den Publikationen von Maksymilian Kawczynski, Essai comparativ sur l‘origine et l‘histoire des rythmes, Paris 1889, und Charles E. Bennet, What was Ictus in Latin Prosody?, in: The American Journal of Philology 19, 1898, S. 361 – 383, erst nachfolgte. 16 „[D]ie Pythagoreer meinen dass, wenn die Sterne die gleiche Stellung haben, alles wieder vçllig gleich geschehn werde.“ (N 1873, KSA 7, 29[29]) 17 „Der geniale Sinn fr Proportion, der in der griechischen Sprache und Musik und Plastik ausgebildet ist, offenbart sich in dem Sittengesetz des Maaßes.“ (N 1870/71, KSA 7, 7[2]) 18 Die Einsicht in die Verschrnkung von Kultur und Sprache, so Emden, hilft Nietzsche „zu erklren, warum es eine unaufhebbare Differenz zwischen Antike und Moderne gibt: Das jeweilige Sprachbewusstsein lsst sich nicht vergleichen, so dass der Zusammenhang von sprachlichen Entwicklungsformen und kulturellen Prozessen zu jeweils unterschiedlichen Weltbildern und einem jeweils unterschiedlichen kulturellen Selbstverstndnis fhrt […].“ (Emden, Sprache, Musik und Rhythmus, S. 213)
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Rhythmik noch deutlicher wird, dem einzelnen Moment einen besonderen Stellenwert zubilligt, indem er ihn hervorhebt, zeigt die Gesamtharmonie gleicher Proportionen in der antiken Rhythmik die Tendenz zur Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen, zur Abwertung des Differenzierten zugunsten des Identischen. Durch ihre gleichsam rumliche Zeitteilung (Nietzsche spricht vom „Raumidealismus“ der griechischen Rhythmik)19 verewigt sie das Gesetzmßige gegenber dem Zeitlichen und Individuellen. Wenn man dagegen Nietzsches frhe berlegungen zum Rhythmus ganz vor dem Hintergrund seines spten Briefs an Carl Fuchs „Zur Auseinanderhaltung der antiken Rhythmik (,Zeit-Rhythmik‘) von der barbarischen (,Affekt-Rhythmik‘)“ (KGW 3.5 [Nr. 1097], S. 405 ff.) liest, der geprgt ist von Nietzsches Ablehnung der Wagnerschen Rhythmik und daher in typischer Nietzscheanischer Rhetorik abschließend die moderne Rhythmik gegenber der antiken schlechthin als in die „Pathologie“ gehçrig verwirft (ebd., S. 405), dann bersieht man, dass Nietzsche die pythagoreische Rhythmik keinesfalls als Ideal hinstellt. Vielmehr geht es ihm darum, die kulturellen und historischen Bedingungen zu skizzieren, die eine bestimmte rhythmische Zeitgestaltung hervorbringen. Wenn die zeitgençssische moderne Philologie wie auch die Poesie eine bereinstimmung ihrer Rhythmik mit derjenigen der Alten annimmt und von einer hnlichen bergreifenden harmonischen Gesetzmßigkeit in Gestalt eines allumfassenden Rhythmus wie dem der Pythagoreer trumt, dann ignoriert sie die grundstzlichen weltanschaulichen Differenzen zwischen der modernen und antiken Wirklichkeit, die Nietzsche dagegen herauszuarbeiten bemht ist. Die Moderne ist weit davon entfernt, die Prmissen des pythagoreischen Weltbildes zu erfllen, das Individuelle im Allgemeinen aufgehen zu lassen und, im bertragenen Sinne, auf die Betonung des Einzelnen zu verzichten. Die Ausrichtung der Wissenschaft, darauf soll nun nher eingegangen werden, ist dafr das beste Beispiel. Ihren scharfen Blick richtet die analytische Wissenschaft stets auf das Detail, um es in allen seinen Facetten zu erfassen und zu bestimmen. Doch diese Aufwertung des Individuellen geht auf Kosten der Sicht auf das Ganze. 1873 beschreibt Nietzsche den Wissenschaftler in einer Notiz:
19 „Philosophie des Rhythmus, der Accent im deutschen Worte (als Ton- und Empfindungsidealismus gegenber dem Raum- und [Schein] Lichtidealismus der Griechen)“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 309 f.). Vgl. in Bezug auf die hellenische Rhythmik: „Die Z e i t verhltnisse werden hier durch R a u m verhltnisse s y m b o l i s i r t . “ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 325)
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S c h a r f s i c h t i g k e i t i n d e r N h e mit grosser Myopie [= Blindheit, FFG] in die Ferne und in das Allgemeine. Das Gesichtsfeld sehr klein und die Augen werden sehr nahe heran gehalten. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem neuen, so rckt er den ganzen Sehapparat zu jenem Punkte: er zerlegt ein Bild, wie durch Anwendung eines Opernglases, in lauter Flecke. Sie alle s i e h t er nie verbunden […]: deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Eindruck […]: er wrde nach seiner Art zu sehen behaupten, ein Oelgemlde sei ein wilder Haufen von Klexen. (N 1873, KSA 7, 29[13], S. 628)
Im Augenblicklichen verhaftet, ohne die Fhigkeit zu kontextualisieren, verliert sich der wissenschaftliche Blick in einer unendlichen Vielzahl der Details. Da die Wissenschaft immer in der Furcht davor lebt, etwas zu bersehen und nicht alle Fakten zu bercksichtigen, hasst sie, wie es in der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung heißt, „das Vergessen, den Tod des Wissens“ (HL 10, KSA 1, S. 330). Denn das Vergessen hieße in der Vorstellung der Wissenschaft eine Einschrnkung des Wissens, whrend sie doch „alle Horizont-Umschrnkungen aufzuheben sucht“ und damit „den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens hinein[wirft]. Wenn er nur darin leben kçnnte!“, ruft Nietzsche aus (ebd.). Wie das Beispiel des Gelehrten vor dem lgemlde zeigt, birgt die analytische wissenschaftliche Praxis die Gefahr der Auflçsung aller Formen in jenem konturlosen „Lichtwellen-Meer“des Erkannten, in dem Leben, das notwendig Formen voraussetzt, vernichtet wird. Als Vorbild einer demgegenber anthropologisch angemesseneren Gestaltung wissenschaftlicher Erkenntnis dient Nietzsche die Rhythmik, jedoch nicht die antike metaphysische Rhythmik, sondern vielmehr die moderne Betonungsrhythmik, die hinsichtlich ihrer Gestaltungskapazitt moderner Wirklichkeit der Wissenschaft weit voraus ist. Die Betonungsrhythmik, das habe ich bereits erwhnt, organisiert den Zeitlauf nicht rumlich durch proportionale Unterteilungen von krzeren oder lngeren Zeitabschnitten wie die antike Zeitenrhythmik, sondern durch die energetische Hervorhebung betonter Silben zuungunsten anderer. [D]ie neue Accentsilbe saugt alles Leben in sich, whrend um sie herum alles verkmmert. Die Worte ußern sich jetzt durch Explosionen, die auf e i n e n Punkt gedrngte p h y s i s c h e A n s p a n n u n g fehlt dafr den andren Punkten. So entsteht eine neue Art Rhythmus, keine Zeitwechselwelle, sondern St r k e w e c h s e l wellen,
so das Ergebnis von Nietzsches Studien (N 1870/71, KGW 2.3, S. 308). Historisch beobachtet er das Zerbrechen der „alten Schranken“ des Rhythmus: der Akzent „tritt rckwrts oder vorwrts“, das Wort „erstirbt
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[…] in seinen Außenseiten“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 307 f.), die Grenzen werden diffus. Die Akzentrhythmik macht es mçglich, dass Worte oder Silben, die in der Alltagssprache keine Betonung kennen, hervorgehoben und gleichsam aus ihrem Leben im Hintergrund ans Licht gezerrt werden.20 Fr die Betonungsrhythmik gilt das Gesetz: wenn ein einzelner Aspekt aus dem Gesamtzusammenhang hervortritt, dann mssen andere dafr in den Hintergrund rcken. Die Verdunklung, das Unbetonte, wird damit ebenso zum Strukturphnomen der modernen Rhythmik wie die Betonungen selbst. Licht und Dunkel bedingen sich gegenseitig, oder, anders formuliert: der Preis fr die Beleuchtung individueller Aspekte ist die Integration der Dunkelheit. Dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Streben nach Licht und der Produktion von Schatten findet sich in der Geburt der Tragçdie anhand eines organischen Phnomens nachvollzogen: „Wenn wir bei einem […] Versuch, die Sonne in‘s Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle […] Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen […]“ (GT 9, KSA 1, S. 65). Die Produktion von Dunkelheit ist als organische Schutzfunktion des Lebens selbst zu verstehen, das seine Sinneskapazitten bei zu viel Helligkeit durch diesen Ausgleich vor Blindheit schtzt. Den modernen Gelehrten, der mit seiner Scharfsichtigkeit fr das Kleine alles beleuchten will, bezichtigte Nietzsche der Myopie, der Blindheit. Die Folgen wurden oben bereits aus der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung zitiert: dort hieß es, der Wissenschaftler sieht durch seine Konzentration auf das Detail gar nichts mehr, seine Furcht vor bersehen und Vergessen als „Tod des Wissens“, sein Objektivitts-Streben nach Integration aller Fakten fhrt zu seiner Selbstauflçsung im „Lichtwellen-Meer der Erkenntnis“. Nicht ohne Grund findet sich bei Nietzsche in den Notizen aus derselben Zeit das Goethe-Exzerpt: „bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst“ (N 1873, KSA 7, 29[80]). Goethe bezieht sich hier kritisch auf das Projekt der Enzyclopdie von Francis Bacon, der berzeugt war, durch das Sammeln aller Fakten der Wirklichkeit einen gleichsam gçttlichen Blick auf die Welt zu erlangen und diese beherrschen zu kçnnen. Demgegenber stellt Nietzsche fest: ein Mensch, der nichts bersehen will, werde durch „allzu helles […] Licht“ gleichsam geblendet (HL 7, KSA 1, S. 299). Das Resultat einer aufgeklrten Wissenschaft, die in hemmungslosem Optimismus glaubt, mit ihrem Licht auch die 20 „[D]er rhythmische Ictus (in unserem Sinn) entsteht durch ein besonders krftiges Hervorstoßen der Accentsilben, ist aber stark genug, um einer Silbe, die keinen Ton hat, einen solchen Ictus-Accent zu verschaffen. Damit ist die strenge Zeitdauer aufgehoben.“ (N 1870/71, KGW 2.3, S. 226)
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dunkelsten Winkel ausleuchten zu kçnnen und dadurch einen gleichsam gçttlichen, einen metaphysischen Standpunkt zu gewinnen, ist Blindheit und Selbstverlust. Nietzsche empfiehlt ihr daher als Heilmittel, sich an den Selbstschutzmechanismen der Physis zu orientieren und durch dunkle Flecken eine dem Menschen angemessene sthetische Form und Gestaltungskompetenz zu gewinnen. Wir suchen daher „die Dmmerung in der Kunst, weil das Leben zu hell ist“, notiert sich Nietzsche (N 1873, KSA 7, 29[116]).21 In seiner Historienschrift hebt er mit derselben Intention auf das Dunkle das von der Wissenschaft so verachtete Vergessen und bersehen weiter Passagen historischen Wissens als tatschliche berlebenskompetenz nicht nur des Wissenschaftlers hervor: [D]enkt euch das usserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht bessse […]: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens […]. (HL 1, KSA 1, S. 250)
Das Vergessen und bersehen ist dementsprechend fr die wissenschaftliche Analyse eine ebenso notwendige Bedingung wie das Erkennen.22 Verstehen ist nur auf der Folie des Dunklen und Unverstandenen, der „ungetilgten
21 Aus diesem Satz kçnnte man die hermetische Poetik der Moderne herleiten. Vgl. Paul Celans Notiz zu seinem Vortragsprojekt Von der Dunkelheit des Dichterischen: „Man belasse dem Gedicht sein Dunkel; vielleicht – vielleicht! – spendet es, wenn jene berhelle, die uns die exakten Wissenschaften schon heute vor Augen zu fhren wissen, die Erbmasse des Menschen von Grund auf verndert hat, – vielleicht spendet es auf dem Grunde dieses Grundes den Schatten, in dem der Mensch sich auf sein Menschsein besinnt.“ (Paul Celan, Mikolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlaß, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2005, S. 142) 22 Nicht von ungefhr nennt Jacques Le Rider, Erinnern, Vergessen und Vergangenheitsbewltigung, in: Renate Reschke (Hg.), Zeitenwende – Wertewende, Berlin 2001, S. 101, Nietzsche einen der Philosophen, „die in der Aufwertung des Vergessens am weitesten gegangen sind. Fr ihn ist das Leben selbst, der gesunde Wille, eine kreative Vergeßlichkeit.“ Kathrin Meyer, sthetik der Historie. Friedrich Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben, Wrzburg 1999, S. 181, hat die Notwendigkeit des Vergessens fr das Erinnern treffend als „Figur einer konstruktiven Negation“ bezeichnet. In Nietzsches Denken der Erinnerung ohne Vergessen offenbare sich demgegenber der Verlust von „Bestndigkeit, Form, Kontinuitt und Sinn“, die Vergangenheit zeigt sich als zielloses Werden und muss durch das Konzept des Vergessens ausgeglichen werden (ebd., S. 90). Vgl. die Interpretation des Vergessens als Abstoßen des „nicht Assimilierbare[n]“ bei Wolfgang Mller-Lauter, ber Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen 1, Berlin / New York 1999, S. 182.
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Zeit“ (Simon) mçglich.23 Das Hervorheben und das Verdunkeln, d. h. Episoden des Erinnerns und des Vergessens gehçren zu den Bedingungen des Erkennens, „wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehçrt“ (HL 1, KSA 1, S. 250). Die moderne poetische Rhythmisierungsform mit ihren betonten und unbetonten Silben gibt hier als gleichsam tragisches Integrationsmodell der unaufhellbaren Seiten des Daseins produktive Vorgaben.24 Das Hauptmittel der Rhythmik, wie Nietzsche in einer Notiz von 1872 schreibt, „ist weglassen und bersehen und berhçren. Also antiwissenschaftlich: denn sie hat nicht fr alles Wahrgenommene ein gleiches Interesse“ (N 1872/73, KSA 7, 19[66]). Nietzsche wendet sich mit dem Attribut des Antiwissenschaftlichen hier nicht gegen die Wissenschaft schlechthin, sondern vielmehr gegen eine epistemische Haltung, die allen Details der Wirklichkeit gerecht werden will und dadurch wie jener Gelehrte vom lgemlde nur einen Haufen Kleckse wahrnimmt. Der Hauptgenuss des modernen Gelehrten sollte dagegen, so Nietzsche in der dritten Unzeitgemßen Betrachtung, „im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmssigen Abtçdten“ bestehen (SE 6, KSA 1, S. 394 f.). Die anthropologische Einsicht, dass nur vor dem dunklen 23 Vgl. Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin / New York 1989, S. 276: „Die Farben des Lebens resultieren daraus, daß in allem Verstehen Unverstandenes, Dunkles […], als ungetilgte Zeit, durchschimmert.“ Vgl. dazu auch Thomas Bçning, „Das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen“ – Metaphysik und Sprache beim frhen Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 72 – 106: „Absolute Erkenntnis ist […] das Ende jeder Entwicklung, weil sie keine Perspektive und keinen Horizont, nmlich keinen Gesichtspunkt mehr kennt […].“ (S. 106) 24 Nietzsches Beurteilung der modernen Rhythmik unterscheidet sich insofern grundlegend von derjenigen Georgiades‘ bzw. von Heideggers Skepsis gegenber der modernen Zeitmessung. Am Beispiel von Thrasybulos Georgiades fhrt Cathrin Nielsen, Rhythmus. Zum Wesen der Sprache bei Heidegger. Prolegomena 2, 2003, N. 1, S. 3 – 17, die Gegenberstellung einer „erfllten“ Zeit des archaischen Quantittsrhythmus und einer „leeren“ Zeit der modernen Betonungsrhythmik im Denken des Musikwissenschaftlers vor Augen, „mit der das arhythmische Prinzip des Zhlens in den Vordergrund tritt“. berzeugend bertrgt sie dieses Modell auf Heideggers Verurteilung der modernen Zeit als „Gestell“, als „Metrum reiner Prozessualitt“ (S. 3). Nietzsches Auffassung moderner Betonungsrhythmik dagegen ließe sich nicht auf Heideggers lebensphilosophische Gegenberstellung beziehen. Die Akzentrhythmik wird bei ihm weniger als Degenerationsphnomen angeprangert, sondern zeigt vielmehr Wege des Umgangs mit einer degenerierten Kultur. Die Betonungsrhythmik liefert in Nietzsches frhen Schriften mittels ihrer selektiven Analogisierung eine sthetische, und das heißt bei ihm menschliche Gestaltung der aus allen Maßen geratenen Zeit, die dem wissenschaftlichen Objektivittsstreben gerade entgegen gehalten werden soll.
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Hintergrund des Vergessenen und bersehenen Lichtblicke des Verstehens und Erkennens mçglich werden, findet sich hier in Gestalt eines Gelehrten wieder, der diese Einsicht bewusst einsetzt und mit der Konsequenz des modernen Betonungsrhythmus an die Wirklichkeit herangeht.25 Anhand seiner Vorlesungsnotizen und Aufzeichnungen zur antiken Rhythmik, die fr ihn die Unvereinbarkeit antiker Zeitlngen- und moderner Betonungsrhythmik ergeben, zeigt Nietzsche die historische Bedingtheit metaphysischer Weltanschauung auf, wie sie sich in der pythagoreisch beeinflussten antiken Rhythmik realisiert hat. Wenn moderne Rhythmiker und Poeten sie adaptieren, dann beleben sie nicht etwa eine lange verkannte Metaphysik neu, sondern verschließen die Augen vor ihrer eigenen durch und durch unmetaphysischen Gegenwart, zu der Nietzsches historisch-kritische Methode hinfhren will. Die Imagination eines „Rhythmus an sich“ kann man demnach auch als Eskapismus bewerten, der sich vor den Problemen, die der moderne Blick auf die Welt mit sich bringt, in die metaphysische Verabsolutierung der Antike flchtet, ohne dabei jedoch deren Voraussetzungen annehmen und auf die Errungenschaften der Moderne wie die Betonung des Individuellen verzichten zu wollen. Nietzsche dagegen sucht sich den der Moderne immanenten Problemen, die sich in der Wissenschaft selbst offenbaren, ohne metaphysische Ausflchte zu stellen. Ex negativo, in kritischer Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Praktiken, strebt er eine wissenschaftliche Herangehensweise an, die einerseits keine ontologischen Wahrheiten verkndet, andererseits jedoch auch nicht Gefahr luft, alle menschlichen Lebensformen aufzulçsen. Hinter das analytische Interesse der modernen Wissenschaft geht Nietzsche jedoch nicht zurck, sondern er wirft seiner Zeit vor, in ihrer wissenschaftlichen Praxis noch keine dem Menschen angemessene Form gefunden zu haben, die sie in ihrem sthetischen Rhythmus bereits umsetzt. Mit der Betonungsrhythmik als physiologischem Leitfaden geht Nietzsche demnach gegen zweierlei ontologische Versuchungen der Wissenschaft an: zum einen gegen die Versuchung, die Metaphysik der Antike bis in die Moderne hinein zu verewigen, zum anderen gegen die Hybris, den wissenschaftlichen Blick selbst als umfassende Erleuchtung aller Fakten zu vergçttlichen. Den Tod Gottes als Tod der Metaphysik bezieht Nietzsche demnach konsequent auf die Wissenschaft: weder kann sie Gott sehen, noch 25 Nher ausgearbeitet finden sich diese Thesen zur anthropologischen Bedeutung der Betonungsrhythmik fr die Moderne im Kapitel „Betontes und Unbetontes in der Historienschrift“ in: Gnther, Rhythmus beim frhen Nietzsche, S. 130 – 147.
Am Leitfaden des Rhythmus
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kann sie als Gott sehen. Sehen und Erkennen kann sie allein mit menschlichen Maßen.
Das „Problem der Wissenschaft“ oder Nietzsches philosophische Kritik wissenschaftlicher Vernunft Babette Babich „ein Problem mit Hçrnern…“ Im Folgenden mçchte ich mich mit der Frage nach Nietzsches Wissenschaftsverstndnis beschftigen. Es gilt dabei im Voraus zu bemerken, dass die Art und Weise, wie Nietzsche die Wissenschaft auffasst, als eine solche dem philosophischen Diskurs, insbesondere der Wissenschaftstheorie, kaum fremder sein kçnnte, und zwar von der Geburt der Tragçdie an, wo die Wissenschaft „als problematisch, als fragwrdig“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 2) bezeichnet wird, d. h. als das zentrale Problem eines Buches, das Nietzsche selbst retrospektiv als von Grund auf „fragwrdig“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 1) betrachtet hat. In der modernen bzw. postmodernen und „globalisierten“ Welt der Gegenwart nimmt die Wissenschaft ungeachtet gewisser Ausnahmen1 nicht nur unhinterfragt, sondern in wachsendem Maße den Platz der Philosophie ein, ein Wechselspiel insofern, als die etablierte Philosophie lange durch das besetzt war, was Richard Rorty „Physikneid“2 nannte und als die „Sorge, auch ja ausreichend wissenschaftlich vorzugehen“3 charakterisierte. Doch die meisten Forscher, ob nun Spezialisten oder nicht, sind relativ sicher, dass Nietzsche nur unzureichend „wissenschaftlich“ ist, und es ist in diesem Zusammenhang nicht ganz unerheblich, dass sein Philosophieren von Anfang an nicht als Philosophie im wahren Sinne betrachtet wurde. 1 2
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Explizit kritische Auffassungen der Wissenschaft sind in der akademischen Philosophie selten; Autoren wie Th. W. Adorno oder Martin Heidegger, die sich hier erwhnen ließen, blieben einander fremd. Richard Rorty, A Tale of Two Disciplines, in: Callaloo, 17/2, 1994, S. 575 – 585. Siehe weiter B. Babich, Politik und die analytisch-kontinentale Trennung in der Philosophie: Zu Heideggers sprechender Sprache, Nietzsches lgender Wahrheit und der akademischen Philosophie, in: „Eines Gottes Glck, voller Macht und Liebe“. Beitrge zu Nietzsche, Hçlderlin, Heidegger, Weimar 2009, S. 209 – 232. Rorty, A Tale of Two Disciplines, S. 576.
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Babette Babich
Diese Grenzlage mag der Grund dafr sein, dass es an den Philosophischen Seminaren fast aller Universitten in Deutschland und auch anderswo keine wirklichen Nietzscheforscher gibt.4 Wenn Nietzsche berhaupt auf der philosophischen Bhne erscheint, dann als ein „moralischer“, kultur-kritischer Denker oder mit Bezug auf seine Hinweise fr die sthetik, vor allem die Literatur. Bereits im Rckblick auf sein erstes Buch, bestimmt Nietzsche sein eigenes Vorhaben jedoch nicht als ein moralisches oder kulturelles, sondern als eine kritische Untersuchung der „Wissenschaft selbst, unsere[r] Wissenschaft“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 1), wobei er unter „Wissenschaft“die Wissenschaft als Ganze und nur in einer besonderen Hinsicht die Wissenschaftler der klassischen Philologien im Auge hat. „Ja“, so lautet seine Frage, „was bedeutet berhaupt, als Symptom des Lebens angesehen, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft?“ (Ebd.) Die Frage, die Nietzsche hier aufwirft, ist als die fr ihn prototypische Frage nach der Genealogie populr geworden. Charakterisiert man sein Fragen jedoch in dieser Weise, tendiert man dazu, die kritische Schrfe seiner berlegungen zu bergehen: Was genau ist die Bedingung der Mçglichkeit der Wissenschaft und was ist es, was sie fr uns nçtig sein lsst? Zugleich ist es aufschlussreich, dass Nietzsche diese Frage aufwirft, und ein nachdrcklich wissenschaftlicher und historischer Beweis seiner Zeit und seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit, wenn er dann in seinem Antichrist unter Bercksichtigung dieser Fragestellung hinterfragt, warum die moderne Wissenschaft so lange braucht, um sich innerhalb dieser Kritik zu etablieren. Durch Erwgung der Frage nach Entstehung und Entwicklung der modernen Wissenschaftskultur von Beginn bis zum Ende seines arbeitsreichen Lebens,5 greift Nietzsche die progressiven Konventionen modernen 4
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Selbstverstndlich gibt es Ausnahmeflle, aber wie stets besttigen die Ausnahmen die Regel. Im Falle Deutschlands macht es dieses Defizit schwierig, Studenten aus aller Welt, die sich, wie viele andere, mit Nietzsche befassen mçchten, diesbezglich Kollegen zu empfehlen. Eine vergleichbare Herausforderung bildet natrlich Heidegger. Vgl. PHG 1, KSA 1, S. 804, 813; N 1876, KSA 8, 23 [8] usw. zustzlich zu dem hier in Frage stehenden Abschnitt aus Der Antichrist, der mit der Klage beginnt: „Die ganze Arbeit der antiken Welt u m s o n s t “ (AC 59). Der Mathematiker und Historiker Lucio Russo hat diese Perspektive krzlich fr eine moderne Aufmerksamkeit wiedergewonnen, wenn er auch sonst Nietzsches Reserviertheit gegen den Triumph der Alexandrinischen Kultur kaum teilt, und Nietzsche wiederum fr seinen Teil die Kontinuitt zu Platon und Aristoteles betont; vgl. Lucio Russo, Die vergessene Revolution oder die Wiedergeburt des antiken Wissens, bers. von Brbel Deninger,
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wissenschaftlichen Forschens sowie das Thema ihrer Ausweitung kritisch auf. So bemerkt er mit Bezug auf Wissenschaft und Technik im alten Griechenland, dass sich die Griechen, obgleich „alle wissenschaftlichen Methoden […] bereits da“ (AC 59) waren, nichts aus dem von ihnen entwickelten Methodenspektrum und seinen theoretischen, mathematischen und – in einem fr uns heute berraschenden Ausmaß – technologischen Raffinessen machten.6 Zur Veranschaulichung kçnnte man z. B. das in Nietzsches Todesjahr (1900) entdeckte „Radierwerk von Antikythera“ anfhren.7 Nietzsche wirft also die Frage nach dem Entstehen der Wissenschaft als solcher auf. Und gerade die Griechen, Quelle von so vielem, was wir als den Kern westlicher Wissenschaftskultur betrachten, stellen in dieser Hinsicht ein Rtsel dar. Wessen bedurfte es zur Entfaltung der Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaft als solcher? Der Mathematik? Der Theorie? Der Technik? Wenn ja, so scheint Nietzsche hier zu argumentieren, haben in allen drei Fllen – Mathematik, Theorie, Technik – die Griechen lange vor Kopernikus, Kepler oder Galilei, lange vor Leibniz oder Newton, bereits jede Voraussetzung fr die Entwicklung der Wissenschaft insoweit besessen, als sie ber smtliche technischen und methodologischen Voraussetzungen fr die „Einheit der Wissenschaft“, also fr „die Naturwissenschaft im Bunde mit Mathematik und Mechanik“ (AC 59) verfgten. Aus unserer kontemporren Perspektive betrachtet bedeutet das, die Griechen htten bereits
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Heidelberg 2005. ber griechische Wissenschaft in einem weiteren Sinne vgl. Arpad Szab, Das geozentrische Weltbild, Mnchen 1992, Charles Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, New York 1960, Fritz Kraft, Geschichte der Naturwissenschaft I. Die Begrndung einer Geschichte der Wissenschaft von der Natur durch die Griechen 1971 sowie Dirk Couprie, Roberty Hahn u. Gerard Naddaf (Hg.), Anaximander in Context: New Studies in the Origins of Greek Philosophy, Albany 2003. Vgl., nicht mit Bezug auf Nietzsche, aber im Allgemeinen zu diesem Thema Aage Gerhardt Drachmann, The Mechanical Technology of Greek and Roman Antiquity, Madison 1963, John P. Oleson, (Hg.), The Oxford Handbook of Engineering and Technology in the Classical World, New York 2008 und Russo, Die vergessene Revolution. Zum Mechanismus von Antikythera siehe Derek de Solla Price, An Ancient Greek Computer, in: Scientific American (June 1959), S. 60 – 67, ders., Gears From the Greeks: The Antikythera Mechanism – A Calendar Computer from ca. 80 B.C., New York 1975 sowie aktueller und populrer J. R. Minkel, Unique Marvel of Ancient Greek Technology Gives Up New Secrets, in: Scientific American (November 29, 2006) und Tony Freeth u. a., Calendars with Olympiad display and eclipse prediction on the Antikythera Mechanism, in: Nature, 454, 2008, S. 614 – 617.
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„auf dem allerbesten Wege“ (ebd.) zu unserem modernen Wissenschaftsverstndnis sein kçnnen. Lngst aufgeschlossen fr den „ThatsachenSinn“, htte ihre empirische Sensibilitt das Zeug dazu gehabt, in so etwas wie die moderne technologisierte Wissenschaft einzumnden. Und dies ist schon deshalb bemerkenswert, als sowohl die griechische als auch die rçmische Wissenschaft durch keine anti-empiristische oder klerikale Tradition unterdrckt wurden, sondern, so der Altphilologe Nietzsche, „bereits Jahrhunderte“ (ebd.) bestanden und eine Vielzahl von ,Schulen‘ und ,Traditionen‘ hervorgebracht hatten.8 Der Punkt, auf den Nietzsche hier aufmerksam machen mçchte, liegt heutigen berlegungen zur Wissenschaftsphilosophie der Griechen, die zur Untersttzung seiner Behauptungen herangezogen werden kçnnten, eher fern. Und hier, in seiner damals unverçffentlichten Schrift Der Antichrist (obgleich man hnliche berlegungen in seinem ganzen Werk findet), ist es bezeichnend, dass Nietzsche sogar weniger Quellenmaterial fr seine Behauptungen heranzieht als in seiner frheren, verçffentlichten Diskussion zum Ursprung der Tragçdie „aus dem Geiste der Musik“9. In diesem spteren Text soll die Behauptung nmlich als eine Herausforderung verstanden werden, und wenn Nietzsche seine berlegung mit der Frage abschließt: „Versteht man das? Alles Wesentliche war gefunden, um an die Arbeit gehn zu kçnnen“ (AC 59),10 dann ist der Leser gut beraten, zur Kenntnis zu nehmen (was gar nicht so einfach ist in einem Text ber den Antichrist), dass diese Herausforderung sich von seiner frhen Bezugnahme auf die Sokratische Erfindung der Vernunft und das, was er das Alexandrinische Zeitalter nennt, kaum entfernt hat. Ich werde unten auf einige Fragen im Einzelnen eingehen. Warum Wissenschaft? Warum Vernunft und Rationalitt? Warum technische Weiterentwicklung und was wir in unserer fortwhrenden Missdeutung von Technologie als Wissenschaft die typischen Zeichen des technischen Fortschrittes nennen? Was in uns nçtigt uns dazu, Wissenschaft und Rationalitt, Logik und Wahrheit derart und zunehmend ber alles zu feiern? Mit anderen Worten: Was ist der Unterschied zwischen dem, was Nietzsche „das tragische Wissen“ nennt und dem modernen, wissenschaftlichen Wissen? In demselben Sinne, in dem Nietzsche fragt: Was in 8 Siehe wieder Couprie/Hahn/Naddaf, Anaximander in Context sowie Russo, Die vergessene Revolution. 9 In einer kritischen Parallele beginnen wir erst heute, die wçrtliche Bedeutung von Nietzsches Titelbehauptung im Hinblick auf die Tragçdie zu entdecken. 10 Vgl. auch PHG 1, KSA 1, S. 804, 813; N 1876/1877, KSA 8, 23[8] usw.
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uns will die Wahrheit, fragt er: Was in uns braucht die Wissenschaft? Man bemerke, dass Nietzsche sich nicht anmaßt, ber den Wert von Wahrheit oder Wissenschaft generell zu urteilen; demzufolge unterstellt er auch nicht, dass sowohl Wahrheit als auch Wissenschaft erstrebenswert sind oder sein sollten. In seinem „Versuch einer Selbstkritik“ geht Nietzsche vielmehr einen Schritt weiter, wenn er suggeriert, dass Wahrheit Lge ist (dass ihr Wert nicht das ist, was er vorgibt, zu sein) und zugleich hinsichtlich der Wissenschaft andeutet, dass sie – wider ihre viel gerhmte Neutralitt – „moralisch gesprochen“ nicht mehr sein kçnnte als ein Stck „Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit?“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 1) Nietzsche schließt diesen Rckblick – und es ist nicht unerheblich, dass er fr den Rest seines Lebens mehr und mehr mit solchen Rckblicken befasst sein wird – mit der tanzenden, spçttischen Ironie Zarathustras, der seine Jnger ermuntert: „,Erhebt eure Herzen, meine Brder, hoch, hçher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tnzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!‘“ (Za, Vom hçheren Menschen 17) Nietzsches Zarathustra ldt uns zum Lachen ein, und wir lachen mit, aber wie die Herde zu Beginn seiner zweiten Unzeitgemßen Betrachtung vergessen wir sofort wieder, worber wir gelacht haben. Vor allem vergessen wir die ursprngliche Frage von Nietzsches Buch, die lautet: Wie ist das Zusammenwirken von Apoll und Dionysos zu verstehen? Was hat diese Zweiheit mit „aesthetische[r] Wissenschaft“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 1) zu tun? Inwiefern ist die Tragçdie die aus ihrer Vereinigung entsprungene Tochter? Und warum stirbt die Tragçdie, so betrachtet „zugleich Antigone und Kassandra“ (GT 4, KSA 1, S. 42), durch ihre eigene Hand? Aber Nietzsche wiederholt seine Frage und bekrftigt seine Antwort in dieser Reprise (denn es gibt nichts Besseres als die Rckkehr zu einer These): „Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebnis, auf welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwrmer und Urmenschen als Satyr denken?“ Wie verbanden die Griechen Jugend und Kraft mit dem „Willen zum Tragischen“? (GT, Versuch einer Selbstkritik 4) Voller Jugend, voller Hrte und tragisch gestimmt – ist das also die Bedeutung von Nietzsches Unterscheidung zwischen dem „Pessimismus als Strke“ und dem „Pessimismus als Niedergang“ (N 1887, KSA 12, 9[126])? Was bedeutet der „Wille zum Tragischen“? Was ist das Tragische berhaupt? Mssen wir auf Hçlderlin zurckgreifen, den Nietzsche mindestens so oft zitiert wie Sophokles oder Schopenhauer, wenn er die Frage nach dem Tragischen aufwirft, die sich in die Sprache des Pessimismus als Strke verwandelt? Und verlangt das nicht wiederum, Empedokles ins
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Spiel zu bringen? Aber diese Frage ruft das Problem Schopenhauer in Erinnerung, das seinen eigenen epistemologischen Bruch impliziert; das Problem der tragischen Weisheit wird hier zum Problem des tragischen Wissens, d. h. zu einem Problem, das die auch Kant betreffende Frage nach dem philosophischen Nihilismus zur Voraussetzung hat. Kçnnen wir das heutzutage verstehen, wir modernen Freidenker und Wissensverfolger? Denn zusammen mit dem Fragekomplex der Geburt oder des Ursprunges der Tragçdie vergessen wir die Frage nach der Wissenschaft, die mit Hçrnern versehene Frage nach der Wissenschaft, d. h. die Frage nach der Wissenschaft als solcher – und hier kann man sich wieder gut vorstellen, dass Nietzsche im Grunde fast ausschließlich mit sich selbst geredet hat. Fest steht, dass bis heute relativ wenig Forscher die Frage nach Nietzsche und der Wissenschaft ernst genommen haben, und von den wenigen, die es taten, haben noch weniger es gewagt, die Wissenschaft selbst in Frage zu stellen – und nur dies, die Wissenschaft selbst als problematisch darzustellen, gilt fr Nietzsche! Die Mehrzahl derer, die sich mit diesen oder verwandten Fragen beschftigen, neigen dazu, Nietzsche zu verbessern bzw. zu korrigieren, indem sie die Frage aufwerfen, welche Art von Naturwissenschaft Nietzsche gemeint und rechtmßig gekannt haben kçnnte, oder aber bzw. darber hinaus verweisen sie auf seine Bewunderung der Wissenschaft.11 Statt Nietzsches Kritik der Wissenschaft aufzugreifen, haben die meisten, die dieses Thema berhaupt behandelt haben, es fr produktiver erachtet, Nietzsches eigenes Wissenschaftsverstndnis zu kritisieren12 oder – vor allem 11 Fr zustzliche Lesarten des Themas Nietzsche und die Wissenschaft vgl. Babette Babich u. Robert S. Cohen (Hg.), Nietzsche, Theories of Knowledge and Critical Theory: Nietzsche and the Sciences, Dordrecht 1999 I und II sowie Gregory Moore u. Thomas Brobjer (Hg.), Nietzsche and Science, Aldershot 2004. Das Thema zieht jedoch langsam mehr Interesse auf sich, wie die Beitrge der Ausgabe 2008 von Estudios Nietzsche: Nietzsche y la Ciencia zeigen (Luis E. de Santiago Guervs (Hg.), Estudios Nietzsche: Nietzsche y la Ciencia 8 [2008]) sowie der Kongress der UK Friedrich Nietzsche Society im September 2009 in Oxford, der, wenn auch sehr analytisch, zum Thema Nietzsche and „Mind“ (was nicht unbedingt mit „Geist“ bersetzt werden sollte) tagte. 12 Vgl., um nur ein Beispiel zu nennen, Wolfgang Dreyer u. Wolf Weiss, Geschichten der Thermodynamik und obskure Anwendungen des zweiten Hauptsatzes, in: Weierstraß-Institut fr Angewandte Analysis und Stochastik, 1997, Nr. 330; publiziert auch unter W. Dreyer, W. Mller und W. Weiss (Hg.), Tales of Thermodynamics and Obscure Applications of the Second Law, in: Continuum Mechanics and Thermodynamics, Volume 12, 2000, Number 3, S. 151 – 184, aber auch Friedrich Ulfers u. Mark Cohen, Friedrich Nietzsche as Bridge from NineteenthCentury Atomistic Science to Process Philosophy in Twentieth-Century Physics,
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in jngster Zeit – es wegzuerklren, es aus der kritischen philosophischen Betrachtung zu eliminieren, indem sie Nietzsche mit der, die Geschichte der Wissenschaft implizierenden, Ideengeschichte in Verbindung brachten.13 Meine eigene Studie als eine differenziert ausformulierte Deutung Nietzsches von Heidegger her bildet offensichtlich eine Ausnahme von dieser Lesart, und ich darf wohl behaupten, dass ich Verbndete hier allein in Dominique Janicaud und Rainer Schrmann gefunden habe, und wenn wir die Frage nach der Wahrheit mit einbeziehen, vielleicht noch in Jean Granier.14 Anstelle der modernen Konstellation, die die Philosophie bestenfalls als Handlanger der Wissenschaft begreift, wirft Nietzsche die Frage nach der Wissenschaft als eine philosophische auf; ferner will er erhellen, inwiefern sie die Mittel der Kunst als einer selbstbewussten und unschuldigen Form der Tuschung gebraucht – ein Schachzug, der es ihm erlaubt, von der Wissenschaft als einer „Schlauheit“ zu sprechen. Die Grundlage der Kunst ist fr Nietzsche methodologisch insofern unverzichtbar, als „das Problem der Wissenschaft nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden [kann] –.“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 2) Wie angedeutet, rckt Nietzsche die Wissenschaft in die Nhe der Kunst und unterscheidet beide allein durch die Begriffe des reflexiven Bewusstseins bzw. der Redlichkeit. Anders als bei Wissenschaft oder Religion, handelt es sich bei der Kunst um eine Tuschung mit ,gutem Gewissen‘. Darber hinaus entbehrt sie der Feindseligkeit gegen das Leben, die sowohl die Religion als Literature, and Ethics, in: West Virginia University Philological Papers 49, 2002, ˇ apeks ltere Beitrge in: The Philosophical Impact of ContemS. 21 – 29 sowie C porary Physics, Princeton 1961 und Alwin Mittasch zur Chemie. Hinzufgen sollte man auch die derzeitig expandierende Litertur zu Hausdorff und Nietzsche. Siehe dazu Erhard Schulz, Felix Hausdorff and the Hausdorff Edition, in: Newsletter of the European Mathematical Society, Issue 55, 2005, S. 23 – 25 sowie Werner Stegmaier, Ein Mathematiker in der Landschaft Zarathustras. Felix Hausdorff als Philosoph, in: Nietzsche Studien 31, 2002, S. 195 – 240. 13 Vgl. z. B. Robin Small, Nietzsche in Context, Aldershot 2001 sowie Gregory Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor, Cambridge 2002. 14 Siehe Babette Babich, Nietzsche‘s Philosophy of Science: Reflecting Science on the Ground of Art and Life, Albany 1996 (- dt. Nietzsches wissenschaftstheoretische Betrachtungen. Die Wissenschaft illuminiert als Kunst und die Kunst als Leben, Zrich 2009). Zu Heideggers Deutung von Nietzsche und die Wissenschaft B. Babich, ,The Problem of Science‘ in Nietzsche and Heidegger, in: Revista Portuguesa de la Filosofia 63, 2007, S. 205 – 237. Andere Ausnahmen finden sich bei Alwin Mittasch, Nietzsche als Naturphilosoph, Stutttgart 1952 und, jngeren Datums, Small, Nietzsche in Context.
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auch die Wissenschaft auszeichnet, insofern „alles Leben auf Schein, Kunst, Tuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivistischen und des Irrthums“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 5) beruht. Anders als es das Ideal wissenschaftlicher Wahrheit will, braucht das Leben „Illusionen“, d. h. „fr Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[43]). Die Wahrheit ist, wie Nietzsche uns erinnert, nicht immer oder zwangslufig ein Nutzen fr das Leben, und manche Wahrheiten sind, wie es in dem Nachlassfragment Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne heißt, sogar gefhrlich und dem Leben feindlich. An anderer Stelle macht er darauf aufmerksam, dass manche Wahrheit bitter, voller Hass oder abstoßend usw. ist (z. B. GM I, 1). Kurz, es ist nach Nietzsche „nicht mçglich […] mit der Wahrheit zu leben“ (N 1888, KSA 13, 16[40] 7). Daher brauchen wir die Kunst, und das bedeutet auch, dass wir der Wissenschaft als einer Kunst bedrfen, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen.15 Die Wissenschaft als eine Art „Notwehr“, wie Nietzsche sagt, „gegen – die Wahrheit“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 1) zu begreifen, stimmt auch mit seiner Definition der Wissenschaft als dem „jngste[n] und vornehmste[n]“ (GM III, 23) asketischen Ideal am Ende von Zur Genealogie der Moral berein.
„Wozu – schlimmer noch, woher alle Wissenschaft?“ Was macht die Wissenschaft zur Wissenschaft? Im modernen Sinne des organisierten Wissens oder des mit der empirischen Welt, der Natur oder dem Sozialen befassten Lern- oder Forschungsprozesses, wird die Wissenschaft blicherweise fr ein methodisches Verfahren (im Sinne der quantifizierenden Analyse) gehalten. Eben dies charakterisiert die Wissenschaft als eine Methode, wie auch Nietzsche es vor Augen hatte: „auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist“ (MA I, 635). Folglich bezieht er sich im Kontext seiner frhen berlegungen zu seinem Erstlingswerk ber die griechische Tragçdie und Kunst, in dem er das Problem der Wissenschaft aufwirft, auf sie in diesem sehr weiten Sinne. Nietzsche beschwçrt hier den spezifisch szientifischen Charakter der Wissenschaft. Seine Rede von Wissenschaft im Hinblick auf sthetik und Philologie in seinem ersten Buch ber die Tragçdie geht somit sowohl von der Anlage her wie auch tatschlich ber die „aesthetische Wissenschaft“ (ob mit Blick auf 15 „[ W ] i r h a b e n d i e Ku n s t , damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.“ (N 1888, KSA 13, 16[40] 6)
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die klassische Literaturtheorie im Besonderen oder die Kunst im Allgemeinen) hinaus.16 Folglich spricht Nietzsche in seinem ersten Buch nicht nur ber Logik und Vernunft, sondern auch ber die Arbeitsweise von Maschinen, und dies nicht nur allegorisch und historisch, sondern, wo er sich auf die mechanisierte Lebensart der Moderne bezieht, in einem ebenso wçrtlichen wie aktuellen Sinn. Wenn der frhe Nietzsche mit der Philologie als dem methodischen Instrumentarium einer ,Wissenschaft‘ von der sthetik seinen Anfang nimmt, beschrnkt er sich deshalb offenbar nicht auf die klassische Weise von Kritik, wie sie in seinen spten Texten vorherrscht, in denen er seine Beispiele ausdrcklich aus der Physik, der Chemie, der Biologie, der Psychologie der Wahrnehmung usw. nimmt. Fr Nietzsche stellt sich das Problem der Wissenschaft von Anfang an als ein Problem dar, das von den Grenzen der wissenschaftlichen Selbstbegrndung herrhrt. Weder Aristoteles noch Newton oder Kant (und noch weniger Gçdel mit seinen berlegungen zu den formalen Einschrnkungen formal-systematischer Begriffsbildung) htten mit der Sprache einer solchen Umgrenzung gerungen.17 Aber Nietzsche geht ber die Frage des kritischen Fundaments und das Prinzip der Methode hinaus und erweitert seine Kritik ber die eigene Disziplin hinaus konsequent zu einer an der Naturwissenschaft als solcher. Dabei ist es ist wichtig zu bemerken, dass die historischen Referenten der von Nietzsche kritisierten wissenschaftlichen Disziplinen nicht den heutigen entsprechen.18 So spricht er etwa von Psychologie (ich
16 Siehe B. Babich, „Une promesse de bonheur“ – Schçnheit und Kultur, Weimar 2009, S. 7 – 43. 17 Dass diese Bemerkung sich gegen die politisch richtige Epistemologie richtet, liegt auf der Hand. Vgl. dazu den Schlussteil von B. Babich, Early Continental Philosophy of Science: 1890 – 1930, in: Keith Ansell-Pearson (Hg.), The New Century Volume Three: History of Continental Philosophy, Chesham, UK 2009 sowie im Allgemeinen und mit besonderem Bezug auf Thomas Kuhn, Ludwik Fleck und Paul Feyerabend und die Politik von Denkarten: Babette Babich, From Fleck‘s Denkstil to Kuhn‘s Paradigm: Conceptual Schemes and Incommensurability, in: International Studies in the Philosophy of Science, 7 1/1 (2003), S. 75 – 92. 18 Vgl. zu Nietzsche und den wissenschaftlichen Einflssen seiner Zeit (African Spir, Eugen Dhring, Gustav Teichmller und Friedrich Lange, aber auch Ernst Haeckel, Richard Avenarius usw.) Small, Nietzsche in Context. Der Chemiker Alwin Mittasch bietet eine verstndnisreiche Deutung von Nietzsches Verhltnis zur Naturwissenschaft in Alwin Mittasch, Nietzsches Stellung zur Chemie, Berlin 1944, ders., Friedrich Nietzsches Verhltnis zu Robert Mayer, in: Bltter fr deutsche Philosophie 16, 1943 und ders., Der Kraftbegriff bei Leibniz, Robert Mayer, Nietzsche, in: Proteus 3, 1942, S. 139 – 161. Neben den Hinweisen in Babich, Nietzsche‘s Philosophy of Science vgl. auch die umfangreiche (aber keineswegs erschçpfende)
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erinnere an seine ambivalente Anspielung auf die ,englischen Psychologen‘ und ihr mechanistisches Interesse am Altruismus zu Beginn der Genealogie der Moral) und bezieht sich dabei offensichtlich immer wieder auf die Biologie oder Medizin usw. Um Nietzsches Bezugnahme auf die „Psychologie“ – die englische oder welche auch immer, ganz offenbar bezieht er sich auf die Wissenschaft als solche – hier angemessen zu fassen, ist viel interpretatives Einfhlungsvermçgen vonnçten. Im Grunde bençtigt man die gesamten Mittel der hermeneutischen und phnomenologischen Tradition der Philosophie.19 Seinem Gebrauch des Wortes ,Psychologie‘ kommt noch die Kognitionstheorie am nchsten, insofern er sich auf die Analyse des Bewusstseins sowohl von seinen organischen wie seinen berorganischen ,psychologischen‘ Schichten her bezieht als auch im Sinne der gegenwrtigen Kulturtheorie. Auch der philosophisch ausgerichtete Bibliographie zur Frage ,Nietzsche und die Wissenschaft‘ in Babich u. Cohen (Hg.), Nietzsche‘s Theories of Knowledge, S. 341 – 358. 19 Zu einer Deutung der Verwirrungen, die eine einfache bersetzung dieses Begriffes in seinem gegenwrtigen Gebrauch mit sich bringt, vgl. Robert C. Holub, The Birth of Psychoanalysis from the Spirit of Enmity: Nietzsche, Re and Psychology in the Nineteenth Century, in: Jacob Golomb, Weaver Santaniello u. Ronald Lehrer (Hg.), Nietzsche and Depth Psychology, Albany 1999, S. 149 – 170. Insofern Holub auf einer prsentischen Definition von Naturwissenschaft beharrt, schließt er ihre Verwendung durch Nietzsche aus. Vgl. auch Graham Parkes, Composing the Soul: Reaches of Nietzsche‘s Psychology, Chicago 1994. Sowohl Holub als auch Parkes richten ihre Aufmerksamkeit bedauerlicherweise weniger darauf, was Nietzsche im Sinn gehabt haben kçnnte, wenn er sich selbst einen Psychologen nannte, als darauf, seine Rezeption dessen zu verfolgen, was Holub den „Kanon“ psychologischer Lehrbcher und die psychoanalytische Tradition nennt. Jenseits solcher Ideengeschichte sollten Leser, die der Frage nach der Psychologie nachgehen mçchten, mit der Lektre von Martin Kusch, Psychologism: A Case Study in the Sociology of Knowledge, London 1995 beginnen und (im Geist der Kontextualisierung) mit einer Lektre Ernst Machs und seiner „Psychologie der Forschung“ fortfahren. Hans Kleinpeter, Der Phnomenalismus: Eine naturwissenschaftliche Weltanschauung. Leipzig 1913 hebt S. 209 ff. die Verbindung zu Mach hervor, indem er ihm auf S. 239 seines 1912 entstandenen Essays zu Nietzsches Theorie des Wissens zitiert (Hans Kleinpeter, Der Pragmatismus im Lichte der machsche Erkenntnislehre, in: Wissenschaftliche Rundschau 2, 1912). Carl F. von Weizscker, Nietzsche: Perceptions of Modernity, in: Babich u. Cohen (Hg.), Nietzsche, Epistemology, and Philosophy of Science II, S. 221 – 240 betont, dass Mach Nietzsches radikalen Skeptizismus teilte, S. 227. Vgl. auch Renate Reschke, Denkumbrche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000, S. 187 ff. und B. Babich, Continental Philosophy of Science: Mach, Duhem, and Bachelard, in: Richard Kearney (Hg.), Routledge History of Philosophy, Bd. VIII, London 2003. Neue Auflage, S. 175 – 221.
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Begriff „Physiologie“ impliziert eine doppelte Herausforderung fr den Interpreten. Wenn Nietzsche von der Physiologie des Menschen als der Basis fr seine Bedrfnisse im Blick auf Ernhrung und Klima spricht, scheint er seiner Zeit und ihren voreingenommenen Vorstellungen zu folgen; zugleich verlangt gerade sein Gebrauch dieser damals gelufigen Vorstellungen alle Sorgfalt einer grndlichen Lektre.20 Die Aufgabe einer historischen Herangehensweise ergibt sich aus unseren eigenen, allzu beharrlich der Gegenwart verpflichteten Begriffen, vor allem dann, wenn die Rede vom Kçrper zu der ber das Geschlecht bergeht, wie es bei Nietzsche in solchen Zusammenhngen theoretisch wie affektiv schnell der Fall ist.21 Neben der Untersuchung der historischen Ideen als Geschichte wissenschaftlicher Begriffe und Konzepte ergeben sich auch Probleme aufgrund von Nietzsches Ansichten, die hufig verwirrend sind, was sich jedoch nur zum Teil auf seine Rhetorik zurckfhren lsst. So irritieren bekanntlich seine Bemerkungen ber Darwin die Kommentatoren; die einen halten ihn 20 Sehr generell zum Thema Leib Guido Rappe, Nietzsche und der Leib. Aktuelle und historischen Perspektiven, hg. von Renate Reschke u. a., Nietzscheforschung, Bd. 5/ 6, Berlin 2000, S. 135 ff. sowie Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes. Zur Anthropologie und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975 und Stephan Grtzel, Physiologie der Kunst. Eine Grundlegung der Vernunft des Leibes, in: Nietzsche-Studien 13, 1984, S. 394 – 398. Zum Thema Bauch vgl. Michel Onfray, Le ventre des philosophes, Paris 1989. Heute, nach Foucault, ist es leichter vom Leib zu sprechen sowie nach Hadot vom Therapeutischen in und als Philosophie, und so werden wir allmhlich auch wieder Schipperges, Am Leitfaden des Leibes lesen kçnnen. Whrend ich frher das „ko-Physiologische“ betont habe hinsichtlich des nicht wegzudenkenden Verhltnisses zwischen Leib und Umwelt bei Nietzsche, spricht Gnter Abel, Interpretorische Vernunft und menschlicher Leib, in: Mihailo Djuric´ (Hg.), Nietzsches Begriff der Philosophie, Wrzburg 1990, S. 100 – 130 eher von Interpretation, vgl. auch Silvano Longo, Die Aufdeckung der leiblichen Vernunft bei Friedrich Nietzsche, Wrzburg 1987. Neben anderen Autoren, die (meist aus literarischer Perspektive) zu diesem merkwrdig schwierigen Thema geschrieben haben, vgl. Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor sowie Marc A. Weiner, Richard Wagner and the Anti-Semitic Imagination, Lincoln, NE 1997, vgl. vor allem sein 5. Kapitel „Icons of Degeneration“ und den Abschnitt ber Nietzsche, der berschrieben ist mit „Eyes of the Onanist or the Philosopher who Masturbated“. 21 Zu einer ausfhrlichen Diskussion mit weiteren Hinweisen B. Babich, Nietzsche und Wagner: Sexualitt, bers. von Martin Suhr, in: H. J. Birx, N. Knoepffler u. S. L. Sorgner (Hg.), Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch, Reinbek b. Hamburg 2008, S. 323 – 341. Ich komme weiter unten auf meine Behauptung zurck, dass Nietzsche Sexualitt als ein Mittel wissenschaftlicher Forschung betrachtete, vor allem in Bezug auf seine „eigene“ Wissenschaft, vgl. B. Babich, Reading David B. Allison, in: New Nietzsche Studies, Bd. 6, 2005, und 7, 2006, S. 241 – 254, S. 252.
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daher fr einen Darwinisten, die anderen fr einen Anti-Darwinisten. Nietzsche selbst wies auf Darwin eher im Allgemeinen und als Vertreter wissenschaftlicher Modernitt hin oder er beschimpfte ihn und nicht nur in scheinbar negativem Sinne. In einem mit „Anti-Darwin“ berschriebenen Abschnitt in der Gçtzendmmerung kann Nietzsche durchaus spçtteln, dass die Idee des survival of the fittest es fertigbringe, den Geist vollstndig außer Acht zu lassen (wobei die Klugheit evolutionr betrachtet jede Form der fitness bertrumpft, ohne deswegen weniger,dekadent‘ zu sein: „Darwin hat den Geist vergessen (– das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist. […] Man muss Geist nçtig haben, um Geist zu bekommen“ (GD, Streifzge14).22 Dementsprechend betrachtet Nietzsche Darwin zusammen mit John Stuart Mill und Herbert Spencer als respektables Mittelmaß (JGB 253). Auf diese Weise klrt er den soeben im Zusammenhang mit seinen Erkenntnissen genannten Punkt zur berlegenheit der Sklavenmoral und der demnach unaufhaltsamen Wirkung eines Sklavenaufstands auf die Moral: „Nichts steht bis bermorgen, eine Art Mensch ausgenommen“, heißt es da voller Reue: „die unheilbar Mittelmssigen“ (JGB 262).23 Worum es dabei geht, ist das falsche begriffliche Schlittern zwischen dem
22 Gegen einige andere Auffassungen reimt er auf przise, provokative Weise: „A n d i e d e u t s c h e n E s e l . Dieser braven Engelnder / Mittelmßige Verstnder / Nehmt ihr als ,Philosophie‘? / Darwin neben Goethe setzen / Heißt: d i e M a j e s t t v e r l e t z e n – / majestatem Genii! aller mittelmßigen Geister // Erster – das sei ein Meister, / und vor ihm auf die Knie!/ Hçher ihn herauf zu setzen / Heißt – – – “ (N 1884, KSA 11, 28[45]); in der folgenden Notiz offeriert er eine weitere Variante (vgl. ebd., 28[46]). 23 Zu einer reprsentativen ,pro-darwinistischen‘ Deutung von Nietzsches Denken vgl. Scott H. Podolsky u. Alfred I. Tauber, Nietzsche‘s Conception of Health: The Idealization of Struggle, in: Babich u. Cohen, Nietzsche, Epistemology and Philosophy II, S. 299 – 311. Zu beachten ist auch Daniel Dennetts beilufige Randbemerkung: „Nietzsche‘s idea of a will to power is one of the stranger incarnations of sky hook hunger.“ Dennetts Bemerkung gehçrt in den Kontext seiner These von Nietzsches ,evolutionrem Darwinismus‘, die erfolgreich an Nietzsche als eine Art Autoritt appelliert, vgl. Daniel Dennett, Darwin‘s Dangerous Idea, London 1996. Carl Friedrich von Weizscker weist auf Georg Pichts Behauptung hin, dass Nietzsches Darwinismus bestenfalls ein Lamarckismus war, vgl. von Weizscker, in: Babich u. Cohen, Nietzsche, Epistemology and Philosophy II, S. 223. Vgl. auch Dieter Henke, Nietzsches Darwinismuskritik aus der Sicht gegenwrtiger Evolutionsforschung, in: Nietzsche-Studien 13, 1984, S. 189 – 210 sowie John Richardson, Nietzsche‘s New Darwinism, Oxford 2004. Gegenwrtig wird dagegen Nietzsches Anti-Darwinismus hervorgehoben, vgl. Babich, Nietzsche‘s Philosophy of Science, Kap. 5.
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Gedanken der fitness und Selbsterhaltung und dem der Erhaltung der Gattung. Was mich beim berblick ber die großen Schicksale des Menschen am meisten berrascht ist, immer das Gegentheil vor Augen zu sehen von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen w i l l : die Selektion zu Gunsten der Strkeren, Besser-Weggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegentheil greift sich mit Hnden: das Durchstreichen der Glcksflle, die Unntzlichkeit der hçher gerathenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der u n t e r m i t t l e r e n Typen. (N 1888, KSA 13, 14[123])
Wir haben schon bemerkt, dass das, was Nietzsche einen Mangel an Wissenschaft nennen wrde, vor allem ein „Mangel an Philologie“ (JGB 47) ist, erweitert um Geschichte und, wie ich hinzufgen mçchte, Wissenschaftsgeschichte. Unsere eigene historische Wissenschaftlichkeit oder Erfahrung in Bezug auf die Frage nach der Wissenschaft hat sich in der Zwischenzeit zweifellos verbessert, und wir wissen in der Folge neuester soziologischer und anthropologischer Studien bezglich der Wissenschaft und ihren Technologien mehr als jede frhere Historikergeneration (einschließlich der Ideenund Wissenschaftsgeschichtler).24 Aber es ist ebenso klar, dass wir gerade erst am Anfang einer solchen Neubewertung eines alten und noch immer „anerkannten“ Blickes auf die Genese und Entfaltung der Wissenschaft stehen.25 Jeder angemessenen Einschtzung des Themas ,Nietzsche und die Wissenschaft‘ muss daher eine Erhellung der Zusammenhnge von Nietzsches eigener Zeit vorausgehen, und in Teilen ist diese Aufgabe durchaus im Gange. Aber die Dauerhaftigkeit der an die Whig-Partei erinnernden Auffassungen („Prsentismus“, d. h. die sog. ,whiggische Geschichtsinterpretation‘, wobei, wie Ernst Mayr es beschreibt, „die neuere Geschichte als ein fortschreitendes Ausdehnen der Menschenrechte zu verstehen [ist], wobei gute, vorwrtsblickende Liberale sich in bestndigem Kampf mit den rckwrtsblickenden Konservativen befanden“)26 entspricht der außeror24 Vgl. Steven Shapin u. Simon Schaffer, Leviathan and the Air Pump: Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton 1985; Peter Dear, Discipline and Experience: The Mathematical Way in the Scientific Revolution, Chicago 1995 sowie Ludwik Fleck, The Genesis and Development of a Scientific Fact, bers. von F. Bradley u. T. Trenn, Chicago 1979/1935. 25 Vgl. Fleck, The Genesis and Development of a Scientific Fact und, allgemein, die Diskussion bei B. Babich, Early Continental Philosophy of Science: 1890 – 1930, in: Keith Ansell-Pearson (Hg.), The New Century Volume Three: History of Continental Philosophy, Chesham, UK 2010. 26 Ernst Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt: Vielfalt, Evolution und Vererbung, Frankfurt am Main 1982, S. 10. Butterfield war sehr wichtig nicht
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dentlichen Schwierigkeit, herrschende oder moderne Werte infrage zu stellen. Dies zu tun jedoch betrachtete Nietzsche als fr jede wissenschaftliche Forschung fundamental: uns selbst mitsamt unseren Annahmen und berzeugungen infrage zu stellen. Eine solche kritische Selbstreflexion bildet die Essenz jeder Kritik, und zwar deshalb, weil wir als die Infragestellenden uns in der Reflexion selbst im Wege stehen. Wie die Kulturanthropologen, ob nun aus anderen Wissensdiskursen, wie Latour, Pickering usw.,27 oder von anderen Gesellschaften, wie Geertz, Levi-Strauss usw. schmerzvoll gelernt haben (oder besser gesagt: noch immer im Begriff des Erlernens sind), kann man sich zwar bemhen, seinen Studien und Themen gegenber Neutralitt aufzubringen, aber dennoch immer wieder daran scheitern, diese auch zur Anwendung zu bringen. Wie in allen anderen Dingen auch, existiert hier eine Kluft zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tun. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Sache des Wissens, dem wir unser Handeln nicht anzupassen in der Lage sind. Zugleich wissen wir nicht, was wir zufllig, ungewollt und so unvermeidlich in unsere eigene Wissensanstrengung hineinschmuggeln, und zwar nicht nur in Bezug auf das, was sich außerhalb unserer selbst befindet, sondern (und das war Nietzsches eigentliche philosophische Einsicht) ebenso in die Wissensbemhung in Bezug auf uns selbst.
Wissenschaft „als problematisch, als fragwrdig“ In Bezug auf die Frage nach der Bedeutung der,Wissenschaft‘ fr Nietzsche, bestand mein Anliegen bis jetzt darin, Nietzsches Kritik der Wissenschaft so zu erhellen, dass sich diese kritische Perspektive mçglicherweise in die berlegene Position der philosophischen Disziplin der Wissenschaftstheorie nur fr Kuhn, wie viele Forscher es betonen, sondern auch fr Feyerabend. Vgl. fr einen allgemeinen berlick Carlos Spoerhase, Anachronism und Prsentismus in der Methodologie der historischen Wissenschaft: in Lutz Danneberg u. a. (Hg.), Scientia Poetica. Jahrbuch fr Geschichte der Literatur und Wissenschaften / Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences Berlin 2004, S. 169 – 240. Vgl. Herbert Butterfield, Die Gefahren der Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1, 1950, S. 525 – 539. 27 Ein Beispiel ist Bruno Latours beinahe widerrufartiges Buch Pandora‘s Hope: Essays on the Reality of Science Studies, vgl. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. bers. v. Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2006, 2. Aufl. [- engl. Pandora‘s Hope: Essays on the Reality of Science Studies, 1999].
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berfhren lsst. Mit Heidegger halte ich Nietzsches Verstndnis (und seine Kritik) von Wissenschaft und Logik bzw. Wahrheit fr essenziell philosophisch, und zwar eben aus dem Grund, weil Nietzsche, bevor er den Wert der Wissenschaft einfach fr gegeben hlt, die Frage nach der Wissenschaft als solcher aufwirft. Zusammengefasst stellt Nietzsches philosophische Kritik der wissenschaftlichen Vernunft die kritische Rationalitt der Wissenschaft infrage. Auf diese Weise glaubt er die Frage nach der Wissenschaft eher als ein lebendiges und dynamisches denn als ein offensichtliches und lçsbares Problem zu stellen.28 Sein Projekt impliziert die Artikulation des Problems der Wissenschaft als solcher, was bedeutet, dass Nietzsche um die wesentliche Schwierigkeit einer Hinterfragung der Wissenschaft weiß. Tatschlich nmlich bildet die Wissenschaft als Autoritt und als ,Methode‘ die bliche Basis fr die Mittel der Kritik oder kritischen Hinterfragung berhaupt. Aus dieser Einsicht heraus hlt Nietzsche das Unterfangen, „das Problem der Wissenschaf t selbst […] als problematisch, als fragwrdig“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 2) aufzuwerfen, fr eine Aufgabe, die erst im Laufe der Zeit zu bewltigen ist, und nicht nur fr einen geltend zu machenden Aspekt oder ein Rtsel, das seiner Lçsung harrt. Ausgehend von einer so langfristigen Prognose des ,Problems der Wissenschaft‘, nimmt Nietzsche zugleich in Anspruch, der erste zu sein, der die Frage nach der Fragwrdigkeit der Wissenschaft aufwirft. Wenn er gerne behauptet, er wolle noch ber Descartes hinausgehen – „,Es muß besser gezweifelt werden als Descartes!“‘ (N 1885, KSA 11, 40[25]) -29 und wenn er zweifellos kritischer als Kant war in der Suche nach dem entscheidenden Punkt, an dem das kritische Projekt gegen sich selber gewendet werden kçnnte, unterscheidet sich Nietzsche jedoch vom Projekt philosophischer Aufklrung im Allgemeinen dadurch, dass er seine eigene vorstzlich provokative Aufklrung als ein Problem an der Grenze kritischer Reflexion nicht davon ausnimmt. Auf diese Weise unterstreicht er kontinuierlich die Wichtigkeit der Selbstkritik. Das heißt allerdings nicht, dass Nietzsche beansprucht, seine Selbstkritik jemals zu einem Ende zu bringen. Er berschreibt sein spter verfasstes Vorwort zur zweiten Auflage der Geburt der Tragçdie mit den Worten „Versuch einer Selbstkritik“, und wir tun gut 28 Fr eine Diskussion mit weiteren Hinweisen vgl. B. Babich, Continental Philosophy of Science, in: Constantin Boundas (Hg.), The Edinburgh Companion to the Twentieth Century Philosophies, Edinburgh 2007, S. 545 – 558. 29 Nietzsche behauptet: „Es giebt keine unmittellbaren Gewißheiten: cogito, ergo sum setzt voraus, daß man weiß, was ,denken‘ ist und zweitens was ,sein‘ ist […]“ (N 1885, KSA 11, 40[24]) und hlt fest: „Der Glaube an die unmittelbare Gewißheit des Denkens ist ein Glaube mehr, und keine Gewißheit!“ (ebd., 40[25])
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daran, den provisorischen Charakter einer solchen Unternehmung zu betonen. Auf dieselbe Weise spricht Nietzsche davon, ein „Fragezeichen“ nach sich selbst und nicht nur nach den eigenen „Leibworten und Lieblingslehren“ (JGB 25) anzubringen, und rt seinen Lesern ,[ihr solltet] lachen lernen‘ (GT, Versuch einer Selbstkritik 7), wobei er empfiehlt, so lange ber sich selbst lachen zu lernen wie man lachen msste, „um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen“ (FW 1, KSA 3, S. 370). Zu kritisieren setzt stets bestimmte Annahmen voraus, weshalb es dem Kritisierenden nicht gestattet ist, sich selbst von der Kritik auszunehmen. Eine solche Exklusion, so wirft Nietzsche den Ansprchen der Mçchte-gern-„freien Geister“ vor, ist ein bloßes Sich-verleitenlassen von Kritik. Selbstkritik, Kritik eigener stillschweigender Voraussetzungen, muss ein stndiger Begleiter philosophischer Kritik sein, aber – und daran erinnert uns Nietzsche ebenso schnell – wo kann man sich um willen einer solchen Selbstkritik eigentlich positionieren? Indem er die Frage nach dem Subjekt aufwirft, indem er herausfordernd behauptet, es gebe niemanden, der denkt, wird der vom Cartesianismus bereitgestellte Archimedische Punkt eines denkenden Subjekts dort suspendiert, wo er auftaucht: im Nirgendwo, und das ist, gelinde gesagt, ein sehr fragwrdiger Grund. Das Resultat ist eben jenes Gefhl von Beschwingtheit, das Nietzsche als fr die Moderne charakteristisch beschreibt, einer ra ohne genau bestimmbares Oben und Unten (und das daran ausgerichtete Orientierungsvermçgen), ohne Glauben an Gott, und zunehmend in Ermangelung jenes sicheren Grundes menschlicher Subjektivitt als letzter Zuflucht. Daher legt Nietzsche uns nahe, das Projekt eines solchen ,grundstzlichen Misstrauens‘ auch dort zu verfolgen, wo es fr eine Art allgemeiner Unbedarftheit erklrt wird.30 Dieses Misstrauen, dieses radikale Hinterfragen ist der beste Rat, den Nietzsche uns 30 Das heißt Nietzsches „ Bl i n d h e i t z u z w e i e n “ (MA I, Vorrede 1). Paul Ricœur hat Nietzsche sehr wirkungsvoll mit Marx und Freud zu einem Triumvirat zusammengestellt. Whrend er „Consciousness and the Unconscious“ schrieb, dachte er ber das Wort ,Verdacht‘ nach, indem er Nietzsche mit La Rochefoucauld verband (eine Verbindung, die wiederum Lacan fr treffend hielt); siehe Paul Ricœur, De l‘interpretation: Essai sur Freud, Paris 1965, S. 40 – 44. Vgl. auch Michel Foucault, Nietzsche, Freud, Marx, in: Martial Guerolt (Hg.), Nietzsche. Cahiers de Royaumont, Paris 1967, S. 183 – 192. Indem er Nietzsche (zusammen mit Marx und Freud) einen „Meister des Verdachts“ nannte, bernahm Ricœur Nietzsches bereits eingebrgerten Aufruf zum „Verdacht“; Nietzsche hatte den Leser in einem spt geschriebenen Vorwort zu Menschliches Allzumenschliches erinnert: „Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt…“ (MA I, Vorrede 1). Ricœurs koordinierte Bezugnahme ist in der Zwischenzeit Standard geworden, vgl. Jean-Luc Marion, L‘Idole et la distance, Paris 1991 [1977].
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als Philosophen, als Argonauten der Gefahr zu geben vermag. Die Gefahr ist hier wesensmßig insofern, als es sich bei dem Projekt des Misstrauens um einen stndigen Imperativ handelt und Kritik nicht ihre eigene Widerrufung impliziert: zu wissen, dass man nichts weiß, bedeutet nicht, dass dieses Nichtwissen zu einem Wissen ber sich selbst wird. Sich des Zweifels bewusst zu sein, entbindet einen nicht von der Hinterfragung. Wenn man sagen kann, dass der erkenntnistheoretische Kern der Geburt der Tragçdie in dem tragischen Wissen besteht, dass sich die kritische Schlange als logisches Ouroborus des theoretischen Wissens unweigerlich selbst in den Schwanz beißt, deutet ein Argument in der Gçtzendmmerung auf die eher verzweifelten denn blinden Umstnde dieser Errungenschaft hin. Mit dem Verlust der Wahrheit sind wir auf gleiche Weise verdammt dazu, auf die Rubrik der „scheinbaren“ Welt zu verzichten.31 Zugleich ist es, wie Nietzsche sagt, klar, dass die Einsicht in ihren illusorischen Charakter nichts an ihr ndert (N 1881, KSA 9, 11[162]). Er spricht vom „tragische[n] Problem Kants !“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[104]; vgl. GT 15); und was er hier als den „tragischen Conflikt“ bezeichnet, ist die Einsicht, dass die menschliche Gemeinschaft und Kultur ohne Kunst, d. h. ohne die Lge oder Illusion der Kunst, nicht leben kann. Dabei handelt es sich weniger um einen Kantianismus Nietzsches als vielmehr um seine Bereitschaft, die nihilistischen Konsequenzen der Einsichten Kants ans Licht zu bringen (vgl. SE 3) – eine Bereitschaft von nicht minderer Ernsthaftigkeit, wenn auch aus einer anderen Sensibilitt hervorgegangen, als das Bemhen Jacobis und Kleists: „Wahrheit tçdtet – ja tçdtet sich selbst (insofern sie erkennt, daß ihr Fundament der Irrthum ist)“ (N 1873, KSA 7, 29[7]). Es handelt sich dabei um den tragischen Sackbahnhof der Wissenschaft oder des Wissens berhaupt. Der logische Entwurf sowohl der Wissenschaft als auch des tragischen Mythos‘ geht dabei, zerstçrt von derselben Einsicht und ihren Konsequenzen (GT 15 and GT 18), unter.32 Die Schwachstelle ist
31 Reiner Schrmann nimmt diese Nietzscheanische Dynamik sowie seine frhere Einsicht in das Wesen des tragischen Wissens als Ausgangspunkt fr sein posthum verçffentlichtes Buch Des Hgmonies brises, Mauvezin 1996. Eine Lektre von Schrmanns Darstellung dieser Frage, zwischen Wittgenstein, Heidegger und Arendt, Augustin und vielleicht und vor allem: Meister Eckhart, ist zu empfehlen. 32 Das metaphorische Bild eines abgedrifteten Schiffes findet sich wieder in Neuraths analytischer Metapher des Planke fr Planke vollzogenen Wiederaufbaus eines auf offener See sinkenden Schiffes und taucht wieder bei Blumenberg mit Bezug auf neue Welten in einem skularen Sinne auf. Vgl. jedoch Gnter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin 1998, S. 199 in
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dabei die Frage nach der grundlegenden Transparenz; sie taucht erneut in dem auf, was Nietzsche spter als die Grenze der subjektiven Selbsterkenntnis thematisiert. In diesem Sinne stellt das Problem des Subjekts das eigentliche Problem der Kritik dar, ganz so, wie Martin Heidegger und Hannah Arendt sowie Theodor Adorno und Herbert Marcuse die Frage aufgenommen haben. Das kritische Vorgehen, ja jedes kritische Projekt, untersteht unabweisbar der Verflschung, eben deshalb, weil auch ein Organon der Reflexion nicht vollstndig auf den Kopf gestellt werden kann. Aufgrund der reflexiven Grenze einer jeden Form von Kritik, betont Nietzsche, dass „das Problem der Wissenschaft“ nicht aus sich selbst heraus, d. h. vom Boden der Wissenschaft selbst (GT, Versuch einer Selbstkritik 2) erkannt (konzipiert und durchdacht) werden kann. Wir sind dazu bestimmt (wir kennen die Antwort bereits!), das Licht der Kunst zu gebrauchen. Aber wie sieht das aus? Was erscheint in diesem Licht?
„Wissenschaft unter der Optik des Knstlers“: Epistemologische Richtigkeit und der Widerstand gegen Nietzsches Kritik als einer Anti-Wissenschaft Wie wir es bereits als Nietzsches Ambition vernommen haben, bedeutet tiefer zu zweifeln als Descartes (N 1885, KSA 11, 40[23 – 26]), die fundamentale, das denkende Subjekt begrndende Kraft des zweifelnden Subjekts infrage zu stellen. Nietzsche notiert: „ – Descartes ist mir nicht radikal genug. Bei seinem Verlangen, Sicheres zu haben und ,ich will nicht betrogen werden‘ thut es Noth zu fragen ,warum nicht ?‘“ (N 1885, KSA 11, 40[10]) Diese Kritik wurde fr Heidegger richtungsweisend, und Hannah Arendt (wobei ich behaupte, dass es sich dabei mehr um eine fr Heidegger bestimmte Anspielung handelt) weist auf die Stichhaltigkeit eben dieser Kritik hin, wo sie in ihren Notizen zu Vita activa oder Vom ttigen Leben Nietzsches Entdeckung zitiert, dass das Cartesische „cogito ergo sum einen logischen Fehler beinhaltet […]. Es msste heißen: cogito, ergo cogitationes sunt, und das geistige Bewusstsein, das im cogito ausgedrckt wird, beweist nicht, dass ich bin, sondern nur, dass das Bewusstsein ist.“33 einem deutlicher in Nietzsches kritischem Sinne emphatischem erkenntnistheoretischem Zusammenhang. 33 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom ttigen Leben, Stuttgart 1960, S. 367. Vgl. „,Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes“: darauf luft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als
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Als ein unaufhçrliches Fragen oder, wie er sagen wrde, als eine philosophische und wissenschaftliche Annherung an das Problem der Wissenschaft, verfolgt Nietzsches grundstzliche Infragestellung des theoretischen oder szientifischen Wissens das Kantische Unternehmen der Kritik in einem noch weiter gehenden Sinne als Kant selbst. Nietzsche weigert sich, die Legitimitt der synthetischen Urteile a priori als gegeben vorauszusetzen, und er weist nicht nur einige zurck, sondern alle (vgl. JGB 4). Streng genommen, so Nietzsche, sollten Urteile wie diese dem Menschen unmçglich sein: „wir haben kein Recht auf sie“, und daher sind es „in unserm Munde […] lauter falsche Urtheile“ (JGB 4; vgl. JGB 11). Obwohl auch Kant in seiner ersten Kritik fragt, wie die Urteile der Naturwissenschaften mçglich sind, ist er doch weit entfernt davon, die Wissenschaft selbst infrage zu stellen. Und wenn selbst Kant nicht anders als vorstzlich unkritisch im Hinblick auf die Wissenschaft sein kann, so sind wir heute, wie Nietzsche uns erinnert, in einem viel umfassenderen Sinne unkritisch. Wie bereits erwhnt, wird tatschlich jede Form der Kritik an der Wissenschaft fr anti-wissenschaftlich und damit anti-modern und damit irrational gehalten. Aus dieser berzeugung erinnert die Autoritt eines Physikers wie Alan Sokal (der zusammen mit Jean Bricmont die wissenschaftlichen Forderungen nach Dekonstruktion um willen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der belgisch-amerikanischen Wissenschaft ihrerseits de-konstruiert hat)34, die er als ein Mann der Wissenschaft heraufbeschwçrt, an nichts so sehr wie an die Autoritt eines Priesters zu Zeiten des religiçsen Glaubens.35 Aber in Bezug auf die gegenwrtige Wissenschaftsphilosophie ,wahr a priori‘ ansetzen: – daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, ,das denkt‘, ist aber einfach eine Formulirung unserer grammatischen Gewçhnung, welche zu einem Thun einen Thter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht – und n i c h t n u r c o n s t a t i r t – … Auf dem Wege des Cartesius kommt man n i c h t zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens“ (N 1997, KSA 12, 10[158]; „s o w o h l d a s T h u n a l s d e r T h t e r s i n d f i n g i r t “ (N 1887/1888, KSA 13, 11[113]; GM I, 13. 34 Fr weitere Hinweise und eine kritische Beurteilung dieses ,Schwindels‘ vgl. B. Babich, The Hermeneutics of a Hoax, in: Common Knowledge 6/2, 1997, S. 23 – 33, sowie in einem grçßeren Zusammenhang B. Babich, Paradigms and Thoughtstyles: Incommensurability and its Cold War Discontents from Kuhn‘s Harvard to Fleck‘s Unsung Lvov, in: Social Epistemology 17, 2003, S. 97 – 107. 35 Siehe MacIntyres Vorwort, in: Babich u. Cohen, Nietzsche and the Sciences I, x-xii, sowie George Levine, What is Science Studies For and Who Cares?, in: A. Ross (Hg.), Science Wars, Durham, NC 1996, S. 123 – 138. Nietzsche war einer der ersten, die dies kritisch ins Auge fassten, aber Auguste Comte nahm die nhlichkeit zum Anlass, eine positivistische „Religion“ zu verkndigen.
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bedeutet das, dass die gesamte philosophische Rezeption von Sokals Schwindel (sowohl seines Artikels als auch seiner Selbstinterpretation dieses Beitrages) mit Kritik gezielt zurckhielt, und stattdessen den Versuch unternahm, sie zu erklren oder zu rechtfertigen.36 Eine unweigerlich unkritische Verherrlichung der Wissenschaft (deren Werke durch die imposanten Leistungen des wissenschaftlich-technischen Konstruktionswesens in Gestalt von Straßen, Aqudukten und Brcken oder in den dampf- und çlbetriebenen Erfindungen aus Nietzsches Maschinenjahrhundert oder dem heutigen sogenannten Informationszeitalter veranschaulicht werden)37 hat die intellektuelle Kultur nicht erst seit den Tagen Newtons, sondern schon seit Lukrez charakterisiert. Es gibt tatschlich Leute – mit Nietzsche an der Spitze, wenn er die bereits erwhnte Frage aufwirft, warum sich dies so lange hinzog –, die die Wissenschaft fr die rechtmßige Erbin von Platon Akademie halten und seine proto-cartesische Idealisierung der Geometrie eine conditio sine qua non fr die Weisheit selbst.38 Unter den Wissenschaftstheoretikern steht Paul Feyerabend, wenngleich er kein Advokat von Nietzsches Kritik wissenschaftlicher Vernunft ist, allein da mit seinem Ruf nach radikaler Skepsis bezglich der Ansprche und Ttigkeiten der Wissenschaft: Ein im Namen der Wissenschaft selbst aufgerufener Skeptizismus, wie Nietzsche ihn bereits zuvor als radikales Hinterfragen eingefordert hatte.39 Eben dies war das 36 Das ist zweifellos der Grund, dass kein Wissenschaftsphilosoph etwas fr oder gegen Sokals populren anti-dekonstruktiven Schwindel bezglich der kulturellen kritischen Leichtglubigkeit und Schuldhaftigkeit zu sagen hat. Die meisten etablierten Philosophen und Wissenschaftshistoriker, wie etwa Gerald Holton oder auch Peter Caws, nickten einfach billigend und applaudierten zum Erfolg. Dieses Debakel einen ,Wissenschaftskrieg‘ zu nennen (wie allgemein getan) ist keine kleine Dummheit, denn keine einzige Instanz (geschweige denn mehrere) einer solchen Schlacht kme jemals zustande. Sowohl die populren als auch die akademischen Medien bemhten sich dabei, die Seite des wissenschaftlichen Establishments zu reprsentieren, indem sie dieser Perspektive ausschließlich die freien Assoziationen und berbeanspruchten Absichten der Wissenschaftssoziologen und andere Formen der Kulturkritik entgegensetzten und eine philosophisch ausgerichtete Kritik und Debatte im Großen und Ganzen ausklammerten. Das weitgehende Schweigen anerkannter Wissenschaftsphilosophen ist demnach eines, das auf eindrckliche Weise sein volles Einverstndnis kundtut. 37 Zu beachten ist, dass diese Hinweise nicht die theoretischen Leistungen der Wissenschaft auflisten, sondern Errungenschaften moderner Technik. 38 Siehe David Lachterman, The Ethics of Geometry, London 1993. 39 Paul Feyerabend, Farewell to Reason, London 1987. Feyerabend besttigt, dass er Nietzsche gelesen hat, behauptet jedoch, er sei ihm unsympathisch. (Persçnliche Briefe an die Verfasserin.)
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Problem der Wissenschaft, wie es Nietzsche, der behauptete, dass das Erkennungszeichen des 19. Jahrhunderts weniger der Sieg der Wissenschaft als vielmehr der Sieg der Methode ber die Wissenschaft (N 1888, KSA 13, 15[51]) war, beschftigt hatte. Der behauptete Sieg der Methode ber die Wissenschaft stellt die Methode per se infrage; Nietzsches kritisches Vorhaben dagegen (noch einmal: radikaler als Descartes, kritischer als Kant) sucht die Frage nach der Mçglichkeit smtlichen Wissens philosophischer (epistemischer) Begrndungen der Wissenschaft (als Kunst) im Lichte dessen aufzuwerfen, was er Kunst nennt. Als Kunst aufgefasst, stellt sich die Wissenschaft als eine Art von techne heraus (Heideggers kritische Philosophie der Technik verwendet eine hnlich aufschlussreiche Syntaxanalyse moderner Wissenschaft und Technik). Die Wissenschaft stellt als eine solche knstlerische Praxis ein Mittel dar zur Konstruktion dessen, was fr wissenschaftlich und damit fr wahr gehalten werden soll. Sie richtet sich gegen die Physiker, die davon sprechen, die spezifische „,Gesetzmßigkeit der Natur‘“ zu entschlsseln – als wrde die ,Natur‘ im Bild idealer Demokratie irgendwelchen ,Gesetzen‘folgen, wie Nietzsche protestiert, wobei er als ,ein alter Philologe‘ spricht und damit solches Reden wie nebenbei korrigiert. Naturgesetze sind streng genommen, so der fundamentale Kritikpunkt Nietzsches, nur auf Kosten einer unvermeidlichen und wirksamen quivokation mit Sozial- oder Menschengesetzen gleichzusetzen; doch wir neigen stndig zu diesem Fehlschluss: „berall Gleichheit vor dem Gesetz, – die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir“ (JGB 22). Fr Nietzsche besteht die Idee einer solchen Gesetzmßigkeit „nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten ,Philologie‘, – sie ist kein Thatbestand, kein ,Text‘“ (ebd.). Als eine Kunst oder techne/Technik ist die Wissenschaft ein Instrument zur Herstellung dessen, was als wissenschaftliche Wahrheit gelten kann. Daher pldiert Nietzsche im dritten Buch (und nicht nur hier) von Zur Genealogie der Moral fr einen Vergleich zwischen den asketischen Praktiken und Idealen der religiçsen und denen der wissenschaftlichen Weltentwrfe. Das asketische Streben nach Wahrheit beschreibt Nietzsche als verfremdend und ußerlich. Denn statt von einer einfachen Wahrnehmung – eine solche ist fr Nietzsche hçchstens das idealistische Hirngespinst eines Sehens und Sagens der Wahrheit – hngt der Drang nach Wissen von der menschlichen oder anthropomorphistischen Richtung des ego-logozentrischen Umgangs mit der Welt ab: „Zuletzt“, schreibt er, ist „jedes Naturgesetz […] eine Summe von anthropomorphischen Relationen“, und fhrt fort zu betonen: „Besonders die Zahl“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[237]), als wollte er das moderne wissenschaftliche Ideal quantifizierender Objektivitt herausfor-
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dern. Dies kçnnen wir als Nietzsches Protagoreisches Prinzip qua Prokrustesprinzip von Delphi betrachten: „Der Mensch als Maaß der Dinge ist ebenfalls der Gedanke der Wissenschaft“ (ebd., vgl. JGB 3). Oder, wie er es an anderer Stelle fasst: „Alle Naturwissenschaft ist nur ein Versuch, den Menschen, das Anthropologische zu verstehen: noch richtiger, auf den ungeheuersten Umwegen immer zum Menschen zurckzukommen.“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[91]) Nietzsches berlegungen zu Wahrheit und Lge kehren immer wieder zum Problem der Logik als Folge von Sokrates‘ Umwertung der Philosophie zurck, da mit Sokrates das Ideal der Wahrheit und „die Wahrhaftigkeit in den Besitz der Logik“gerieten (N 1872/1873, KSA 7, 19[216]). Wenn wir zu Aristoteles weitergehen, findet die Herausforderung der „unendliche[n] Schwierigkeit des richtigen Rubrizirens“ (ebd.) ihre Lçsung im Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch, insofern Aristoteles dieses erste Prinzip ganz abgesehen von jeder Notwendigkeit (oder besser: Mçglichkeit) seiner Demonstration als eine grundstzliche Voraussetzung herausstellt (Met. 1005b 15 – 25). Dasselbe Prinzip legt die Bedingungen fest fr das, was Nietzsche den Konflikt zwischen Kunst und Wissen nennt. Folglich endet die Auflistung philosophischer Schlsselbegriffe der alten Griechen in Nietzsches frhem Nachlass mit einem lateinischen Wort, das in seiner scholastischen Ausblhung zu einem vorherrschenden Instrument der Philosophie aufgestiegen ist: ,quidquid est est: quidquid non est, non est‘ (N 1873, KSA 7, 26[1]). Der Ausgang dieses Identittskonfliktes war dabei von Anfang an entschieden.40 Es gibt keine artikulierbare oder logische Basis fr den Streit zwischen irrationalen und rationalen oder logischen (d. h. rationalen) Grnden. Aus dem gleichen Grund gibt es keinen Disput (keine ratio; keine Analogie oder keinen Vergleich) zwischen der (irrationalen) Kunst und dem Wissen oder der Wissenschaft. Die blichen Wissenschaftsphilosophen zusammen mit einer berwltigenden Mehrheit von Forschern aus anderen Disziplinen einschließlich der Naturwissenschaftler vernehmen die Behauptungen Nietzsches bezglich der Wissenschaft lediglich als wirren Eindruck dessen, was sie gelegentlich, fasziniert genug, als das ,Dionysische‘ 40 Die Logizitt von Philosophie und Wissenschaft wurde traditionell als ein (eristischer) Kampf betrachtet, bei dem das beste Argument gewinnt und die ,verlierenden‘ Behauptungen als irrational oder irrelevant konsequent zum Schweigen gebracht wurden. Die Standards fr diesen Wettkampf werden durch die Logik bestimmt. Daher musste auch der Streit, den Nietzsche zwischen Kunst und Wissen entzndete, zu den Bedingungen eines solchen logischen Gefechtes ausgetragen werden.
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(das per definitionem oder aber notgedrungen irrational ist) zu charakterisieren pflegen.41 Diese Dementierung ist nicht das Ergebnis philosophischer Reflexion und wissenschaftlicher Argumente, sondern eine, um Nietzsches Wort zu gebrauchen, bereits im Voraus bestehende ,berzeugung‘. Die Wissenschaftsphilosophen nehmen es schlicht als gegeben hin, dass die Naturwissenschaftler genau wissen, was sie tun, dass sie wissen, was Wissenschaft ist, und dass es der Gegenstand bzw. das Ziel der Wissenschaft ist, die reine und einfache Wahrheit ans Licht zu bringen. Neuere Arbeiten innerhalb der Geschichte und Soziologie der Wissenschaften untersttzen den Geist von Nietzsches Fragen, insofern sie die Bedingungen wissenschaftlicher Urteile und Forschung betrachten; aber, und wie oben angedeutet werde ich zu diesem Punkt am Schluss zurckkommen, Wissenschaftsgeschichte und -soziologie dieser Art macht um den Sinn dieser Fragestellung ziemlich eindeutig einen großen Bogen.42 Naturwissenschaftler, Wissenschaftsphilosophen wie Nietzsche sie untersttzt htte, wren ebenso gut Philosophen der Zukunft wie ,Wissenschaftler‘ der Zukunft (in demselben strengen und zwingenden Sinne wie Nietzsche ein Wissenschaftler war). Und nur als Wissenschaftler kçnnten sie Philosophen ,der Gefahr‘ sein, fhig nicht allein zu Gedankenexperimenten, sondern voller Wagemut fr die Mçglichkeit, dass die Wahrheit selbst sich als weniger wert denn der Irrtum erweisen kçnnte, und, was vielleicht von noch grçßerer hermeneutischer Bedeutung ist, dass die Wahrheit mçglicherweise einer komplexen Aufmerksamkeit fr ihre jeweiligen Umstnde und ihren Kontext bedarf, und dass man sich als Forscher einer solchen wissenschaftlichen Untersuchung willig zeigt, sich selber einer hnlich radikalen – und immer neuen – Selbstkritik zu unterwerfen.
41 Der Wissenschaftshistoriker Gerald Holton unterscheidet demzufolge (auf Albert Szent-Gyorgyis Vergleich zwischen sich und Einstein anspielend) zwischen apollinischen und dionysischen Tendenzen in der Geschichte und Philosophie der Wissenschaft. Siehe Gerald Holton, The Scientific Imagination: Case Studies, Cambridge 1978, S. 87 – 110. 42 Soziologische Studien zur Wissenschaft, verbunden mit der frher zitierten jngeren Wissenschaftsgeschichte, machen hier zwar einen konzeptionellen Unterschied, aber nicht radikal genug, so dass man schlicht voraussetzen darf, was Nietzsche als die Frage nach dem Problem der Wissenschaft als solcher aufwarf. Fr ein Resmee und Ausblick bezglich der Relevanz solcher soziologischen Studien siehe Rom Harr, The Philosophies of Science, Oxford 1972, S. 219 – 229 sowie John Ziman, No Man Is An Island, in: B. Babich (Hg.), Hermeneutic Philosophy of Science, Van Gogh‘s Eyes and God, Dordrecht 2002. S. 203 – 217.
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Alexandrinische Kultur und Wissenschaft: Gçttliche Maschinen Nietzsche hat sich mit der Wissenschaft von Anfang an befasst. Folglich stellt seine Schrift ber die Tragçdie allenthalben eine Parallele dar zwischen „jene[m] zuerst in der Person des Sokrates an‘s Licht gekommenen Glauben an die Ergrndlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens“ (GT 17, KSA 1, S. 111) – das heißt, wie er es mit anderen, heute vertrauteren Begriffen ausdrckt: zwischen dem „Geist der Wissenschaft“ (ebd.) – und dem „Geiste der Musik“.43 Mit dem „Rstzeug der Wissenschaft selbst“ umreißt die Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, wie Nietzsche Kant hier liest, im Grunde „die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens berhaupt“, um schließlich „den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entschieden zu leugnen“ (GT 18, KSA 1, S. 118). Auf diese Weise, so Nietzsche, bedeutet Kants philosophisches Erbe die logische Destruktion der „zufriedne[n] Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen“ (GT 19, KSA 1, S. 128). Im Zentrum von Kants kritischer Philosophie entdeckt Nietzsche das, was er die „Sokratische“ oder auch Alexandrinische Kultur des Wissens nennt. Mit Nietzsches Begrifflichkeit aus der Genealogie der Moral, ist die Alexandrinische Kultur der Hçhepunkt der in der Sklaven-Moral ausgedrckten optimistischen Gutglubigkeit, die auch die wissenschaftliche, speziell die wissenschaftlich-technische Kultur charakterisiert. Um diese optimistische Wissenskultur mit Leben zu erfllen, stellt sich die Wissenschaft nicht einfach als grenzenloser Wissensdrang dar, sondern vielmehr als die idealisierte Form dessen, was Nietzsche einen „unumschrnkt sich whnende[n] Optimismus“ (GT 18, KSA 1, S. 117) nennt.44 Das Ideal bzw. die phantastische Vorstellung einer durch Wissenschaft verwirklichten unbeschrnkten Macht beschreibt die moderne Kultur auf der tausendjhrigen Basis des „Glauben[s] an das Erdenglck Aller“ (ebd.) und bietet so eine erste Genealogie der modernen technologischen und verbraucherorientierten „Forderung eines solchen alexandrischen Erden43 Siehe B. Babich, Wort und Musik in der antiken Tragçdie. Nietzsches Frçhliche Wissenschaft, bers. von Harald Seubert u. Heidi Byrnes in Zusammenarbeit mit der Autorin, in: Nietzsche-Studien 37, 2008, S. 230 – 257. 44 Ich verbinde diesen Punkt mit den zentralen Aspekten von Heideggers Einfhrung in die Metaphysik und seinen Beitrgen zur Philosophie in B. Babich, Heidegger‘s Will to Power, special issue on Nietzsche, in: Journal of the British Society for Phenomenology, 38/1, 2007, S. 37 – 60.
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glcks“, die ihren zeitgemßen Ausdruck noch immer in der „Beschwçrung eines Euripideischen deus ex machina“ (ebd.) findet. Heute fhrt man fort, die Maschine als einen mechanistischen Ersatz fr das Gçttliche zu begreifen, eine Substitution, die Jean-Paul Sartre an der Seite von Heidegger und Jacques Ellul als ein ,den Menschen an die Stelle Gottes setzen‘ beschrieben hat. Im Zusammenhang seines ersten Buches beschwçrt Nietzsche die mechanischen Tricks zur Herstellung einer maschinellen Gottheit. Dieser „Mechanismus“ ist der Zusammenhang der Idee einer „irdischen Consonanz“ (GT 17, KSA 1, S. 115), die an die Stelle des metaphysischen Trostes der vergangenen Generationen, sei es dem der Antike, sei es dem des mehr kirchlichen mittelalterlichen Europa, tritt. In diesem Sinne ist der mechanische Gott der Gott der modernen Wissenschaft, der technologisierten Welt des 19. ebenso wie des 20. und auch noch des 21. Jahrhunderts.45 Folglich taucht das Bild von Nietzsches „Gott der Maschinen und Schmelztiegel“, das in der Geburt der Tragçdie verwendet wird, nicht nur in der ersten Unzeitgemßen Betrachtung wieder auf, sondern wird im Dritten Buch der Genealogie der Moral zu seinem Hçhepunkt getrieben, wo Nietzsche das Ganze unserer modernen „Stellung zur Natur, unsre NaturVergewaltigung mit Hlfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit“ (GM III, 9, KSA 5, S. 357) verurteilt. Dieselbe mechanistische und maschinentechnische Gesinnung durchdringt unsere wissenschaftliche Haltung uns selbst gegenber: wir „schlitzen uns vergngt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf“, so Nietzsche, und „[h]interdrein heilen wir uns selber […] wir Nussknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwrdigen, wie als ob Leben nichts Anderes sei, als Nsseknacken“ (ibid.). Durchdachter, ironischer beschwçrt Nietzsche „die machinale Thtigkeit“ (GM III, 18, KSA 5, S. 382) als das bevorzugte moderne Mittel, das Empfindungsvermçgen zu betuben: „man nennt heute diese Thatsache, etwas unehrlich, ,den Segen der Arbeit‘“ (ebd.). Das Mechanische kann durchaus als eine Weise der Narkotisierung wirken, denn, wie Nietzsche beobachtet, „sie ist eng, diese Kammer des menschlichen Bewusstseins!“ (Ebd.) Die heutige vernetzte und mediatisierte Welt 45 Fritz Langs Moloch-Maschine in seinem Film Metropolis von 1927 zeigt uns, wie ein solcher religiçser Kult der Maschine aussehen kçnnte. Siehe dazu Lynn White, Medieval Religion and Technology, Berkeley 1968 und David Noble, The Religion of Technology: The Divinity of Man and the Spirit of Invention, New York 1997 sowie Ivan Illich u. Ylva Erikksson, Selbstbegrenzung: Eine politische Kritik der Technik, Mnchen 1998.
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(Internet, Mobiltelefone usw.) hat die Metaphorizitt von Nietzsches Anrufung einer solchen Beschwçrung gottgleicher Vorzge der Maschine transformiert; sie schiene unter der Voraussetzung perfekt, dass wir die Frage nach der „Realitt“ berhaupt beiseite lassen (wie wir es tatschlich tun). Ich spreche hier natrlich vom Internet: dem realen und zugleich virtuellen Raum, der das moderne Leben so sehr beschftigt, dem gaming-Leben ebenso wie dem Leben als andere Identitt, aber auch der alltglichen Kommunikation, dem Austausch und Ausdruck – banking, Einkufe, Flugtickets, downloads von Filmen und Musik usw.46 In Anbetracht dessen, was die Phnomenologie uns ber uns selbst gelehrt hat, bedeutet die Kraft der Intentionalitt des Bewusstseins, dass wir uns selbst schçpferisch darstellen kçnnen (und dies auch tun), aber es bedeutet zugleich, dass dies in virtuellen Verwandlungen geschieht, die wir in zunehmendem Maße als „real“ wahrnehmen: unsere Leidenschaften oder zumindest das, was wir fr „uns selbst“ halten, werden zunchst auf den Bildschirm projiziert und dann dort wiederentdeckt, auf einen Bildschirm, der in keiner Hinsicht so etwas wie eine tragische skene darstellt, einen Weltentraum oder ein Netz von Fantasie und irrealer Rumlichkeit: jede Tiefe wie alle Greifbarkeit vçllig unnçtig, nicht mehr als ein perspektivisches Merkmal. Diese un- oder hyperreale Welt la Baudrillard, einer nur durch die oder in den gesellschaftlichen Medien zugelassenen oder anerkannten Wirklichkeit, lsst sich auch in çkonomischen Begriffen umreißen: Werbung und Profit, als Unterhaltung verbreitet und mit dem Reiz augenblicklicher Kommunikation versehen, mit jedem, berall, auf Abruf. Das ist freilich ein Thema fr einen anderen Aufsatz; unser gegenwrtiges menschliches Dasein wird jedoch, ob arm, ob reich, in welchem Teil der Welt auch immer, mehr und mehr durch die Technik bestimmt, durch dieselbe Technik, deren Zerstçrungen rasant fortschreiten, was uns im Wesentlichen entgeht, da wir so von den Welten unserer eigenen Phantasie – unseren Erfindungen und technischen Rumen eingenommen sind – dass wir uns um die „Natur“ nicht lnger kmmern: d. h. um die reale Welt der Fische, Vçgel, Tiere und der Lebewesen, die so rasant dezimiert werden, als gbe es Armageddon schon lngst, vor allem auch, wenn wir uns (was wir in der Regel nicht tun) die Armen Afrikas, Asiens, Sdamerikas und nicht zuletzt Europas oder Amerikas vor Augen fhren. Aber nur wenige Wissenschaftler befassen sich mit dieser Welt, und die Medienwissenschaft scheint – in der Folge von Donna Haraway oder Kittler oder auch manchen 46 Baudrillard, aber auch Adorno und Horkheimer sowie Ellul und Illich deuten diese Ablenkungen in ihrer Kritik der Kulturindustrie als Schein oder Lebensersatz.
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Texten von Deleuze, Foucault und vor allem Lyotard, und dazu Agamben und Badiou und natrlich Vattimo – davon berzeugt, dass eben dieser „Zusammenhang“ zuknftig das Versprechen des wissenschaftlichen Optimismus erfllen wird.47
Irrtum, Chaos und der Gedanke des wissenschaftlichen „Gesetzes“ Ich habe die Gefahren des Trends aufgezeigt, das, was Nietzsche als „alexandrinische Cultur“ bezeichnet, seinen Bezug auf das Wissen, die Wissenschaft und den „theoretischen Menschen“, als bertrieben zu betrachten, wie z. B. in seiner Anrufung Schopenhauers und insbesondere Kants, der die Grenzen der wissenschaftlichen Vernunft mit dem „Rstzeug der Wissenschaft selbst“ artikuliert (GT 18, KSA 1, S. 118), wenn wir diese Punkte ablehnen oder einfach außer Acht lassen: wie die Logik, wie wir es schon am Anfang betont haben, um sich selbst kreist, bis sie „endlich sich in den Schwanz beisst“ (GT 15, KSA 1, S. 101) usw. Ich habe auch die Beharrlichkeit des Vorurteils aufgezeigt, dass Nietzsche, der – anscheinend und deshalb sehr hufig bemerkt – nur wenig von Wissenschaft und noch weniger von Mathematik verstand, sich kaum auf diesem Gebiet habe bewhren kçnnen. Nietzsche wendet sich also, mit oder ohne seinen Zarathustra, an Laien, die es gewohnt sind, Experten innerhalb der Naturwissenschaften ausschließlich Verehrung entgegenzubringen. Denn nur der Experte verfgt ber Kompetenz. Oder so scheint es uns zumindest. So fahren wir in der Unterstellung fort, Nietzsche irre, wo er von Wissenschaft spricht. Und lesen also seine Betrachtungen zur Moralphilosophie oder Kunst oder gelegentlich Politik, und whnen uns zugleich davon befreit, uns mit seinen Auffassungen von Wissen, Wahrheit und speziell Wissenschaft zu befassen. Also doch: Nietzsche lag in diesen Dingen falsch und wir versuchen lediglich ihn in der Vorstellung zu lesen, er kçnnte richtig gelegen haben. Dass solche Vorurteile nur schwer zu brechen sind, liegt in der Natur des Vorurteils. Aber selbst nach den etablierten Termini der „allgemein akzeptierten“ Ideen- oder Wissenschaftsgeschichte, ist historisch betrachtet nichts falsch an Nietzsches Beobachtung, dass ber die 47 In diesem Zusammenhang siehe B. Babich, ,Thus Spoke Zarathustra‘. Nietzsche and Hermeneutics in Gadamer, Lyotard, and Vattimo, in: Jeff Malpas u. Santiago Zabala (Hg.), Consequences of Hermeneutics, Northwestern University Press 2010.
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letzten Jahrhunderte die Wissenschaft gefçrdert [wurde], theils weil man mit ihr und durch sie Gottes Gte und Weisheit am besten zu verstehen hoffte […] (wie Newton) […] theils weil man an die absolute Ntzlichkeit der Erkenntniss glaubte, namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glck (wie Voltaire). Theils weil man in der Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Gengendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben meinte, an dem die bçsen Triebe des Menschen berhaupt nicht betheiligt seien […] der sich als Erkennender gçttlich fhlte [Spinoza]…“ (FW 37).48
Fr Nietzsche gbe es die modernen Wissenschaften mitsamt dem Zubehçr an technischen Fortschritten, die viele von uns als fr mit der Wissenschaft identisch halten, nicht, „wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchymisten, Astrologen und Hexen vorangelaufen wren als die, welche mit ihren Verheissungen und Vorspielungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und verbotenen Mchten schaffen mussten“ (FW 300).49 Und historisch betrachtet ist auch nichts Falsches an seiner berlegung bezglich des Staunens, nicht in wissenschaftliche Revolutionen und Entdeckungen involviert zu sein, sondern in ihre Gleichfçrmigkeit und ihre spezifische Weise des Fortschritts, also darin, dass „die Wissenschaft Dinge 48 Es gibt eine wichtige Tradition in der Geschichte der Wissenschaft, vorbereitet insbesondere durch Frances Yates und Betty Jo Teeter Dobbs sowie heute und gerade in letzter Zeit u. a. Lawrence Principe, die die berwiegend alchemistische Basis dessen erforscht hat, was Nietzsche die „Vorspiele der Wissenschaft“ (FW 300) nennt und unseren allzu menschlichen, allzu alexandrinischen, wie wir sagen kçnnten, Geschmack an magischen und geheimnisvollen Krften, ein Geschmack, der sich weniger als Hemmnis oder Vorurteil herausstellt als vielmehr als unabdingbare Kultivierung nicht so sehr des Gedankens oder der theoretischen Konstruktion der Naturwissenschaft als eben praktischer Techniken. Vgl. den jngeren populren Beitrag von Arthur Greenberg, From Alchemy to Chemistry in Picture and Story, Cambridge 2007 sowie Bruce T. Moran, Distilling Knowledge: Alchemy, Chemistry, and the Scientific Revolution, Cambridge 2005 ebenso wie die Aufstellung gesellschaftlicher Fortschritte von Allen G. Debus (Hg.), Alchemy and Early Modern Chemistry: Papers from Ambix, Huddersfield 2004. Fr weitere Hinweise vgl. Principe, The Aspiring Adept. 49 Wie unter anderen der Wissenschaftshistoriker Peter Dear Nietzsches Geschichte der Wissenschaft (welche Nietzsche als eine Geschichte der „Irrtmer“ bezeichnet) erhrten kann, dass die Grnde fr das Streben der Wissenschaft in der Vergangenheit sowie die Wertschtzung des wissenschaftlichen Objektes in Antike und Mittelalter vom praktischen und anwendungsorientierten Aspekt, der heute von Wissenschaft untrebbar gedacht wird, abwichen, so besttigt der Historiker William Eamon Nietzsches Auffassung von den alchemistischen und verbotenen „Vorspielen der Wissenschaft“; vgl. William Eamon, Science and the Secrets of Nature: Books of Secrets in Early Modern Culture, Princeton 1996 und Dear, The Intelligibility of Nature.
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ermittelt, die Stand halten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen abgeben – es kçnnte ja anders sein!“ (FW 46) Tatschlich sind die schiere Mçglichkeit einer wissenschaftlichen Revolution und das Wesen des Wandels, der Teil solcher Revolutionen wre, genau das, was „anders“ sein kçnnte, worauf sich wiederum Nietzsche bezieht. In dieser Hinsicht verwandelte Einstein die Naturwissenschaften, transformierte Gçdel die Mathematik und Mengenlehre in Philosophie usw.50 Abgesehen von der Frage nach der letzten Wahrheit stehen Nietzsches Beobachtungen in Einklang mit den historischen Erkenntnissen der Wissenschaft, selbst mit ganz zentralen, und das bedeutet nichts weniger, als dass er zumindest die historischen, die gesellschaftlichen, ja die alltglichen ,Fakten‘ auf seiner Seite hat. Nietzsches Anliegen ist, wie das jedes Philosophen, der ber die Wissenschaft nachdenkt, solche faktischen Details zu verstehen und zu interpretieren. Vor allem fllt Nietzsche dabei auf, dass die moderne Wissenschaft, die sich ursprnglich gegen die Religion richtete, selbst den Status einer Religion erlangt hat.51 Daher bezeichnet er das christliche Urteil ber die Wissenschaft als eher nebenschlich und zufllig: „,Die Wissenschaft ist Etwas von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion‘“ (FW 123). Wenn die Wissenschaft im Altertum als „das beste Mittel der Tugend“ (ebd.) gepriesen wurde, verlangt die beispiellose Tatsache, dass die moderne Wissenschaft jenseits einer solchen Beziehung zur Vollkommenheit der Tugend „mehr sein will als ein Mittel“ (ebd.), nach Nietzsche einer weiterfhrenden historischen Reflexion.52 Wie feinfhlig er hinsichtlich der Geschichte auch sein mag – Nietzsche kann die Wissenschaftsglubigen unter uns nur irritieren, wenn wir bei ihm lesen: 50 Siehe weiter B. Babich, Early Continental Philosophy of Science: 1890 – 1930, in: Keith Ansell-Pearson (Hg.), The New Century Volume Three: History of Continental Philosophy, Chesham, UK 2010. 51 Diese noch heute schwer zu sehende Verwandtschaft hat Heidegger immer wieder zur Kenntnis genommen. Siehe dazu Paul Valadier, Science as New Religion, in: Babich u. Cohen (Hg.), Nietzsche and the Sciences II, S. 241 – 252. 52 In diesem Geiste charakterisiert Dear speziell die moderne Wissenschaft (die, wie er festhlt, von gegenwrtigen Forschern oft als „Techno-Wissenschaft“ beschrieben wird, um ihren praktischen oder anwendungsorientierten Charakter hervorzuheben) aus hnlichen Grnden wie Nietzsche als eine Chimre oder einen „Hybriden“. In seinem Buch The Intelligibility of Nature (2006) macht Dear, obwohl bescheidener als Nietzsche, diesen Punkt mit einer gewissen Energie geltend, vielleicht weil er in seinen verschiedenen frheren Bchern trotz wiederholter Hinweise nur auf sprliche Resonanz gestoßen war.
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Ma t h e m a t i k – Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, soweit diess nur irgend mçglich ist, nicht im Glauben das wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenerkenntnis. (FW 246)
Mit diesen Worten wiederholt und verfeinert Nietzsche nur seine frhere Kritik an der Idealisierung der Natur als einem Ausdruck des Gçttlichen per se: „Wann werden wir die Natur ganz entgçttlicht haben! Wann werden wir anfangen drfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlçsten Natur zu vernatrlichen !“ (FW 109) Wir missverstehen diesen Punkt, auch wenn es eine ziemlich populre Fehldeutung geworden ist, wenn wir Nietzsches ,vernatrlichte‘ Menschlichkeit fr Naturalismus im heutigen Sinne halten und unabhngig von seinen kritischen Betrachtungen wissenschaftlicher Erkenntnis als einem Mittel fr die Vermenschlichung der Natur: „Es ist genug, die Wissenschaft als mçglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben“ (FW 112) – und dabei lgen, sowohl konventionell (Herde) als auch (wie praktisch!) in Bezug auf uns selbst. Nichts davon bedeutet, dass Nietzsche selbst von der Wissenschaft unberhrt blieb. Er hat sich selber als Wissenschaftler betrachtet; demzufolge schreibt er im Namen der Wissenschaft und bezeichnet seine ursprngliche Arbeit innerhalb der Klassischen Philologie als wissenschaftlich, ebenso wie er die wissenschaftliche Atmosphre als sein ureigenstes Element begreift: „Unsere Luf t – Wir wissen es wohl: wer nur wie im Spazierengehen einmal einen Blick nach der Wissenschaft hin thut, nach Art der Frauen und leider auch vielen Knstlern…“ (FW 293). Aber zugleich zeigt Nietzsche sich von der Wissenschaft nicht eingeschchtert und hlt eher im Kantischen Sinne dafr, dass eben diese kritische Sichtweise den Schlssel zu ihr bildet. So variiert er eine Sichtweise Vicos: „Wir erst haben die Welt, die den Menschen etwas angeht, geschaffen!“ (FW 301) Im fnften Buch der Frçhlichen Wissenschaft, fnf Jahre nach Abschluss des vierten Buches verfasst, kehrt Nietzsche zu der kritischen Frage nach den berzeugungen zurck, genauer zu den Vorurteilen, die der wissenschaftliche Geist eigentlich ausschließen sollte. Aber das Problem ist, dass „auch die Wissenschaft auf einem Glauben [ruht], es giebt gar keine ,voraussetzungslose‘ Wissenschaft“ (FW 344). Es kann sie auch nicht geben. Ohne irgendwelche Annahmen, seien sie nun mythischer oder axiomatischer Art, ohne philosophische Voraussetzungen, kann es fr die Wissenschaft keinen
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Ausgangspunkt geben. Nietzsche ist noch radikaler: „Die Frage, ob Wahrheit noth thue, muss nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung darin zum Ausdruck kommt, ,es thut nichts mehr noth als Wahrheit, und im Verhltniss zu ihr hat alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs‘.“ (Ebd.) Der Glaube an den Wert der Wahrheit steht somit an erster Stelle. Dies wiederholt eines seiner frhesten und bleibensten Anliegen. Kçnnte der „,Wille zur Wahrheit‘“, so deutet Nietzsche an, nicht „ein versteckter Wille zum Tode sein?“ (Ebd.). Vor allem ist es eine grundlegende und verbindliche berzeugung der Wissenschaft, sie sei gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie mehr darstelle als ein Ausdruck der,Anmenschlichung‘. Das zeigt sich fr Nietzsche in jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr quivalent und Maass haben soll, an eine ,Welt der Wahrheit‘, der man mit Hlfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgltig beizukommen vermçchte. (FW 373)
Dennoch verficht Nietzsche: „Eine ,wissenschaftliche‘ Welt-Interpretation […] kçnnte […] immer noch eine der dmmsten, das heisst sinnrmsten aller mçglichen Welt-Interpretationen sein.“ (FW 373) Irritierend oder nicht (Wissenschaftler neigen wie gesagt dazu, solche Erklrungen als persçnliche Angriffe zu verstehen) – Nietzsches Behauptung ist nicht gegen die Wissenschaft oder Wissenschaftler gerichtet. Es handelt sich im Grunde um die Einsicht Occams, verpackt in aufgeklrte, moderne, kritische, aber ebenso lehrhafte Begriffe: denn „eine essentiell mechanische Welt wre eine essentiell sinnlose Welt!“ (Ebd.) Auf diese Weise kann Nietzsche dafr halten, dass der mechanistische Reduktionismus (und das bedeutet zugleich das formalistische Vorgehen der Wissenschaft) das Ziel des Verstehens unterminieren kann. Und um dies zu erlutern, gibt er uns mit Blick auf seine frhere Hinweise auf die „Chladnischen Klangfiguren“53 ein Beispiel, das, 53 Siehe WL 1, KSA 1, S. 879. Vgl. Ernst Florens Friedrich Chladni, Entdeckungen ber die Theorie des Klangs sowie mit systematischer Darstellung die verschiedener Figuren, je nach Ton, ausgetattet Chladni, Die Akustik, Leipzig 1802. Vgl zu den Klangfiguren die Physiker Michael Faraday, ber eine eigenthmliche Klasse akustischer Figuren, und ber gewisse Formen, welche Gruppen von Theilchen auf schwingenden elastischen Flchen annehmen, in: Annalen der Physik und Chemie, Bd. 102, St 2 (1832), S. 193 – 251 plus Tafel VI sowie Hans Christian Ørsted, On Acoustic Figures, in: Selected Scientific Works of Hans Christian Ørsted, bers. von Karen Jelved, Andrew Jackson u. Ole Knudsen, Princeton NJ 1807, S. 261 f. Siehe dazu Ernst H. Weber u. Wilhelm Weber, Wellenlehre auf Experimente gegrndet,
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wenn wir an die heutige Psychologie (und nicht nur an diese) denken, noch immer sein Gewicht behlt: „Gesetzt, man schtze den Werth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezhlt, berechnet, in Formeln gebracht werden kçnne – wie absurd wre eine solche ,wissenschaftliche‘ Abschtzung der Musik! Was htte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr ,Musik‘ ist!…“ (Ebd.)54 Es handelt sich dabei um ein zu Recht bestechendes Bild: Was ist die ,Musik‘ an der Musik? Was hat die Wissenschaft uns in dieser Hinsicht zu sagen?55 Die Klangfiguren bieten uns nichts weniger als ein Bild: Man kann auf diese Weise sehen, was sonst nur zu hçren ist. Hervorgerufen durch die den jeweiligen Tçnen entsprechende akustische Welle kçnnte man wohl der Fantasie nachhngen, dass mittels dieser Formen eine Tauber „hçren“ kçnnte, beinahe, wie Nietzsche es ausdrcken wrde, mit dem Auge. Wie eine „gezhlte, berechnete, in Formeln“ gebrachte Musik ist auch das durch mechanistische Begriffe zum Ausdruck gebrachte Ideal der Objektivitt; daher schreibt Nietzsche ber „unser neues Unendliches“, dass „der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formeln zu sehn und nur in ihnen zu sehn“. „Wir kçnnen nicht um unsre Ecke sehn […].“ (FW 374) Der Schluss, Leipzig 1825 und allgemein zu akustischen Vibrationengestalten, Mary Waller, Chladni Figures, A Study in Symmetry, London 1961. Neuerdings sind die Figuren in der Mikrowelt wieder von Interesse, vgl. M. Dorrestijn, A. Bietsch, T. AÅıkalın, A. Raman, M. Hegner, E. Meyer u. Ch. Gerber, Chladni Figures Revisited Based on Nanomechanics, in: Physical Review Letters, Bd. 98/2, 2, 2007, S. 026102-1026102-4. Jenseits der Physik, etwa fr eine historische Untersuchung der Metapher oder bertragung in die Physiologie und die Wirkung derselben in der Naturwissenschaft, siehe Laura Otis, The Metaphoric Circuit: Organic and Technological Communication in the Nineteenth Century, in: Journal of the History of Ideas, 2002, S. 105 – 128. Otis schließt, obgleich eher analytisch gesinnt, sogar einen Hinweis auf Nietzsche ein (ebd. S. 125 f.). Eine weiterfhrende und grndliche Untersuchung findet man bei Thomas Hankins u. Robert Silverman, Instruments and the Imagination, Princeton 1999. 54 Man kçnnte meinen, dass wir diesen Punkt Nietzsches begriffen haben; die Tendenz zur Quantifizierung in fast allen Bereichen, in der Musikwissenschaft nicht weniger als in der politischen Theorie, Soziologie oder Philosophie deutet jedoch auf anderes hin. 55 Am nchsten kommt hier noch Adorno, wenn er die Grenze der Notation bespricht, das heißt einer notierten, jedoch nie getçnt habenden Musik. Vgl. Adorno zu Chladni und Ritter in: Nadelkurven, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1984, Bd. 19, S. 525 – 529 sowie: Die Form der Schallplatte, in: ebd., S. 530 – 534. im Allgemeinen vgl. Mark Katz, Capturing Sound: How Technology Has Changed Music, Berkeley 2004.
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den Nietzsche aus dieser Einsicht zieht, ist keine anti-wissenschaftliche Perspektive, sondern die sehr wissenschaftliche Bescheidenheit der Beschrnkung. Nietzsches wissenschaftlichste, kritischste Hoffnung ist die folgende: „[I]ch denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lcherlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben drfe.“ (Ebd.) Ich habe diese Perspektive der Perspektive einmal als Nietzsches „perspectivalism“ oder „metaPerspektivismus“ bezeichnet56 und es ist dieser meta-perspektivische (weder perspektivistische noch relativistische) Blickwinkel, der Nietzsche sagen lsst: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ,unendlich‘ geworden: insofern wir die Mçglichkeit nicht abweisen kçnnen, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.“ (Ebd.) Derselbe [Meta-]Perspektivismus kommt zum Ausdruck, wo Nietzsche hinsichtlich des „Bewusstseins der Lebewesen“anmerkt, dass „die Welt, deren wir bewusst werden kçnnen, nur eine Oberflchen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, – dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dnn, relativ dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen wird“ (FW 354), ebenso wie er behauptet, dass alles, worber gesprochen wird, durch die Verwendung eines und desselben Zeichens nivelliert wird. Indem er erklrt: „Wir haben eben gar kein Organ fr das Erkennen“ (ebd.), fordert Nietzsche uns auf, ber das, was wir fr Wissen halten, nachzudenken, was die Frage nach sich zieht, was Wissen aus einer radikaleren Perspektive betrachtet sein kçnnte; und dies wiederum heißt, eine philosophische Perspektive auf die Frage nach dem Wissen (als Wissenschaft) von der Antike bis zu Kant zu werfen. Aus dieser kritischen Perspektive bedeutet der Anspruch zu wissen oft schlicht und einfach, dass etwas Fremdes „auf etwas Bekanntes zurckgefhrt […]“ wird (FW 355).
Die askesis der Wissenschaft In Zur Genealogie der Moral: Eine Streitschrift geht Nietzsche die Schematisierungen der Sklaven-Moral, ihre Einschrfung von Schuld sowie, sehr elliptisch, die gnzliche Undefinierbarkeit des souvernen Individuums57 56 Siehe Nietzsches eigene Diskussion dieses Aspektes in seiner Genealogie der Moral; vgl. auch Babich, Nietzsche‘s Philosophy of Science, S. 46 ff. 57 Hannah Arendt verweist in The Human Condition auf die Wichtigkeit von Nietzsches Betonung des Versprechenkçnnens und der Souvernitt. Frederick Dolan,
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an. Von Anfang an macht sein Programm deutlich, worin er die Gefahren des asketischen Ideals sieht. Wie der Hinweis auf den alexandrinischen, gegen das Leben gerichteten Aspekt verdeutlicht haben sollte, korrespondiert das asketische Ideal der modernen und vernunftorientierten Empfnglichkeit unseres gegenwrtigen wissenschaftlichen Zeitalters. Obgleich wir ihn von Nietzsches Kritik her kennen, wird dieser Aspekt der Sicherheit, Geborgenheit und Zweckmßigkeit sonst weder aus einer moralischen oder kulturellen, geschweige denn religiçsen oder pdagogischen Perspektive mit dem asketischen Ideal verbunden, aber es beruht auf dieser konservativen Vernunft, dass Nietzsche behauptet, das asketische Ideal habe uns „die Gesundheit und den Geschmack verdorben“ (GM III 23, KSA 5, S. 395) und, wie er andeutet, eigentlich alles andere auch. Das Problem ist bekanntlich, dass das asketische Ideal alle Widersprche des Lebens ausschließt: „es glaubt daran, dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu Einem Ziele.“ (Ebd.) Wir erkennen dieses „geschlossene System von Wille, Ziel und Interpretation“ als fr die Religion charakteristisch wieder, und Nietzsche ist der Auffassung, dass dieser geschlossene Systemcharakter auf gleiche Weise die Wissenschaft auszeichnet. Aber eben diese Parallele zur Wissenschaft ist das, was immer wieder Verblffung hervorruft: man unterstellt, dass die Religion das asketische Ideal auf exemplarische Weise darstellt, und man unterstellt auch, dass die Wissenschaft dieses Ideal als seinen erfolgreichsten und lngsten Widersacher buchstblich in der Luft zerreißt. Nietzsche, der in den ersten beiden Abhandlungen der Genealogie der Moral das asketische Ideal zweier historischer Epochen (der antik-mittelalterlichen ra sowie der frhen Neuzeit) kritisch hinterfragt, meint in der dritten Abhandlung die Vorherrschaft eben dieses asketischen Ideals auch im kulturellen Leben der Gegenwart, der modernen Gesellschaft, voll und ganz aufweisen zu kçnnen. Wir kçnnen allerdings fragen, und natrlich htten sich das alle seine Leser fragen kçnnen: War das die Mhe wert? Htte er sich die Mhe machen sollen? Ist der freie Geist nicht schon in alle Bereiche vorgedrungen? Sind wir nicht die Kinder einer erfolgreichen Aufklrung? Wissen wir es nicht besser? Dana Villa und andere haben Arendts Nietzsche-Deutung erst krzlich ihre Aufmerksamkeit geschenkt, aber das Thema ist kontrovers, nicht nur aufgrund der Komplexitt von Nietzsches Kontext, sondern auch, weil Arendt hier Andeutung ber Andeutung schichtet.
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Wir sind mehr als berzeugt davon, die Antwort auf diese Fragen zu besitzen. Schon Nietzsche verfasst den gesamten dritten Teil der Genealogie der Moral als eine ausgedehnte Wiederholung seiner Behauptung, dass wir, wie er im Vorwort zu diesem Text erinnert, mehr oder weniger „ungebt“ in der Kunst des Lesens sind.58 Da dies bereits pass ist, kann man leicht unterstellen, das asketische Ideal sei ein Problem vergangener Generationen gewesen, zu Nietzsches Zeiten vielleicht das des frhen 19. Jahrhunderts, heute wrde man sich auf das gesamte 19. Jahrhundert beziehen. Deshalb sprechen wir noch immer davon, das neue Ideal habe „nicht nur einen langen glcklichen Kampf mit jenem Ideal gekmpft, es sei vielmehr in allen Hauptsachen bereits ber jenes Ideal Herr geworden“ (ebd.). Dieses neue, alternative Ideal ist „unsre ganze moderne Wissenschaft“ (ebd.); Nietzsche dagegen behauptet, dass „unsre ganze moderne Wissenschaft“ in Wirklichkeit eben dieses alte asketische Ideal in all seinen ursprnglichen untergrndigen Strategien wiederhole. Eher als ein Widersacher des asketischen Ideals ist die moderne Wissenschaft – und Nietzsche meint damit nicht allein die klassische Philologie oder die historische Forschung, sondern das Ganze der modernen Wissenschaft in ihrem umfassensten Sinne – die „jngste und vornehmste Form“ (ebd.) eben dieses asketischen Ideals. Als dieser Kulminationspunkt des asketischen Ideals zeigt sich die Wissenschaft in ihrer besten – was zugleich bedeutet (im Sinne des asketischen Ideals) heuchlerischsten – Form: „die Wissenschaft [ist] heute ein Versteck fr alle Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm, despectio sui, schlechtes Gewissen – sie ist die Unruhe der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am Mangel der grossen Liebe, das Ungengen an einer unfreiwi lligen Gengsamkeit.“ (GM III, 23, KSA 5, S. 397) In seinem ersten Buch ber die Tragçdie dreht sich Nietzsches Beschftigung mit der modernen Wissenschaft um die Idee des Mechanismus. In der Perspektive von Nietzsches Zeit ist nicht nur das Mechanische, sondern im Grunde das Automatische berhaupt operativ fr die Idee der Wissenschaft, die wissenschaftliche Methode und besonders die technologischen, anwendungsorientierten bzw. empirischen Wissenschaften in all ihren nach Art eines perpetuum mobile ausgerichteten Varianten. Es ist dieser Sinn des Mechanischen, der Nietzsche die Wissenschaft als ein „Mittel der Selbst-Betubung“ (ebd.) charakterisieren lsst. 58 Ich diskutiere dieses Thema und seine Konsequenzen in B. Babich, On the Order of the Real: Nietzsche and Lacan, in: David Pettigrew u. FranÅois Raffoul (Hg.), Disseminating Lacan, Albany 1996, S. 48 – 63.
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Wie auch Adorno und Horkheimer behaupten, handelt es sich bei dieser Selbst-Betubung gerade um das Ziel der modernen Industrie und Kultur (und wenn wir hierbei die Allgegenwart von ipods und mp3 players, ganz abgesehen von Film, Fernsehen und online-Produktionen als maßgeblich nehmen, schiene dieser Aspekt der Wissenschaft gerade als Technik heute ziemlich weit verbreitet). Fr Nietzsche ebenso wie fr die Grnder der Frankfurter Schule ist eine solche Selbst-Betubung – Ansthesie, Zerstreuung – weit entfernt davon, harmlos oder mßig zu sein, ganz egal wie sehr die Unterhaltungsindustrie eine gegenteilige oder bewusst neutrale Perspektive dazu einnimmt, eine von unserer eigenen Vorliebe fr ein Leben mit soundtrack (wie im Film oder Fernsehwerbung) eingenommene Perspektive, oder auch unserer Bemhung, telefonisch oder ber E-Mail jederzeit und berall erreichbar zu sein. „Wie oft“, so Nietzsche, „hat das Alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend Etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen!“ (GM III, 23, KSA 5, S. 397) Fr Nietzsche kçnnen wir Forscher und Wissenschaftler am besten verstanden werden als solche, „die nur Eins frchten: zum Bewusstsein zu kommen…“ (ebd.). Anstelle des Vertrauens, des Glaubens im religiçsen oder wissenschaftlichen Sinne, macht Nietzsche ein bestimmtes „Misstrauen“, einen „Skeptizismus“ geltend.59 Ein stndiger Verdacht ist fr seine „Erkennenden“ (GM III, 24), d. h. fr andere als die Menschen der Religion oder der Wissenschaft (beide charakterisiert er als an die Wahrheit Glaubende), durchaus angemessen.
59 Nietzsches Ideal ist die Bejahung, eine Bejahung, die ber das Nein-Sagen (MA I, 477) hinausgeht und kritisch gegenber dem Skeptizismus als einer Therapie der Befreiung ist sowie voller Verdacht gegen die skeptische Bewegung, wo er mehr davon zu finden meint, was er in seinem ersten Buch den ,logischen Optimismus‘ genannt hatte, als einen genuinen Skeptizismus. Nietzsche, fr den „zu wissen, das man nichts weiß“das Herzstck seiner kritischen Theorie des Wissens bildet, spricht in diesem Sinne sowohl gegen den Dogmatismus als auch gegen den Pyrrhischen Skeptizismus, die beide „unter allen Umstnden noch viel zu viel zu wissen vorgeben, zu wissen sich einbilden, nmlich als ob die Unterscheidung, welche sie beide voraussetzen, zu Recht bestehe, die Unterscheidung von einem ,Wesen der Dinge‘ und einer ,Erscheinungswelt.‘ (N 1886/1887, KSA 12, 6 [23]) Der therapeutische Skeptizismus richtet sich auf Optimismus, Leichtigkeit, Ablçsung oder Betubung, daher Nietzsches Identifizierung von Pyrrho mit Buddha. In diesem Sinne entspricht fr Nietzsche das Problem des Skeptizismus dem des asketischen Ideals im Allgemeinen: Was verschweigt das asketische Ideal? Fr Nietzsche selbst verrt der ußerste Skeptizismus nichts anderes als unsere eigenen „u n w i d e r l e g b a r e n Irrthmer“ (FW III, 265). Hinsichtlich der Literatur ber Nietzsche und Pyrrho herrscht kein Mangel.
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Was Nietzsche dabei als „Glauben“ an die Wahrheit kritisch hinterfragt,60 zeigt sich am deutlichsten unter den Mnnern der Wissenschaft und ist, wie er sagt, bestimmt durch „jene[n] Stoicismus des Intellekts, der sich das Nein zuletzt eben so streng verbietet wie das Ja, jenes StehenbleibenWollen vor dem Thatschlichen, dem factum brutum; jener Fatalismus der ,petits faits‘ […] das drckt, in‘s Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine Verneinung.“ (Ebd.) Durch seinen charakteristischen „Willen zur Wahrheit“ verrt der Mann der Wissenschaft seinen „Glaube[n] an das asketische Ideal selbst“ (ebd.). Dieser ist nichts anderes als ein „Glaube an einen metaphysischen Werth“, der natrlich ein „Werth an sich der Wahrheit“ ist (ebd.), und Nietzsche betont, dass es allein ein solcher Glaube an den absoluten Wert der Wahrheit ist, der den Pfad der Wissenschaft, einschließlich der Naturwissenschaft, rechtfertigt. Aber, wie wir uns erinnern: „Es giebt, streng geurtheilt, gar keine ,voraussetzungslose‘ Wissenschaft“ (ebd.). Nietzsche bezieht sich hier auf seine Frçhliche Wissenschaft, indem er sich selbst ausfhrlich zitiert: „Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen u n s e r Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzndet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato‘s war, dass Gott die Wahrheit ist, das die Wahrheit g ç t t l i c h ist.“ (Ebd., vgl. FW 344)
Hçren wir also, was das Kennzeichen einer mçglicherweise aus Nietzsches philosophischem Vermchtnis hervortretenden Philosophie der Wissenschaft sein kçnnte: „Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe – der Werth der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen…“ (GM III, 24, KSA 5, S. 401). Als wre er sich bewusst, dass seine Leser schnell dabei wren, diesen kritischen Aufruf zur Prfung außer Acht zu lassen, fgt Nietzsche dem Abschnitt, aus dem er zitiert hat, einen abschließenden beilufigen Zusatz hinzu, den er mit einem ganz schlichten Titel anfhrt (und damit der Wissenschaft vorhlt, als die spteste Form des asketischen Ideals eine neue Religion darzustellen): „Inwiefern auch wir noch fromm sind.“ (FW V, 344)61 60 Man beachte die Wichtigkeit der Bedeutung des Wortes „Vertrauen“ oder „Glauben“ fr den Philologen Nietzsche in seiner Kritik von Kants synthetischen Urteilen a priori. 61 Hier wre auch das spter verfasste Fnfte Buch der Frçhlichen Wissenschaft zusammen mit Nietzsches Vorrede in seine Morgenrçthe zu bedenken; vgl. GM III, 24.
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Dieser Aufruf ist so wichtig und so paradox, dass Nietzsche ihn im folgenden Abschnitt wiederholt: „Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natrlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche […]“ (GM III, 25, KSA 5, S. 402), denn die Wissenschaft und das asketische Ideal „stehen ja auf einem Boden – […] Nmlich auf der gleichen berschtzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschtzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit).“ (Ebd.) Fr Nietzsche stellt dabei die Selbstverleugnung des Menschen im Angesicht eines unendlichen Universums und einer indifferenten Natur (vor der die Strategie einer modernen Form von Ataraxie am ratsamsten scheint) das eigentliche und selbe Problem dar, wie die Selbstverleugnung des Menschen im Angesicht des jdisch-christlichen Gottes. Die Behauptung, die Wissenschaft sei die spteste Verkçrperung des asketischen Ideals, wre irrelevant, wrde die Wissenschaft nicht das heuchlerische Projekt darstellen, das sie ist: „Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist !“ (GM III, 26, KSA 5, S. 407) Die Wissenschaft, ebenso ihr Asketismus, ist eben nicht ehrlich. Und warum sollten sie es auch sein? Eben dies ist der zentrale Punkt von Nietzsches fundamentalkritischer Frage, die von der Beobachtung ausgeht: „[L]ieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen…“ (GM III, 28). Die zahllosen Studien zu Nietzsches Genealogie der Moral haben es bislang nicht geschafft, die Komplexitt dieser Behauptung im Zusammenhang dieser als eine Streitschrift gegen die Verhltnisse und Sitten von Nietzsches Zeit gerichteten Abhandlung zu bedenken. Die Interpreten neigen vielmehr dazu, Nietzsches polemische Behauptung als ein Wort ber den Willen an sich zu betrachten, whrend andere wiederum die nihilistische Bedrftigkeit von Nietzsches Philosophie ins Feld fhren. Es bleibt also zu fragen, was es bedeutet, dass der Wille das Nichts will?62 Und hat ,das Nichts zu wollen‘mit der Bedeutung des asketischen Ideals und seiner Bewertung zu tun? Fr Nietzsche veranschaulicht das moderne Ideal der Demokratie dieselbe wissenschaftliche Ordnung, die Alexandre Kojve einst als eine Verschiebung von der antiken Vision einer begrenzten und hierarchischen Ordnung in den unbegrenzten Bereich eines modernen und „grenzenlosen Universums, das allein durch die Identitt seiner fundamentalen Bestand62 Oben (sowie andernorts) habe ich dargelegt, dass eine erste Antwort in den virtuellen Rumen gefunden werden kann, die mehr und mehr die Orte unserer innigsten Begierden bilden – zumindest fr einige von uns. Ich spreche hier natrlich vom Nirgendwo des Internets.
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teile und Gesetze zusammengehalten wird“63 beschrieben hatte. Was Kojve die „Entwertung des Seins“ als eines solchen nannte, korrespondiert fr Nietzsche mit der Entwertung der Werte, das bedeutet natrlich mit dem Nihilismus, den er als den „unheimlichsten aller Gste“ (N 1885/1886, KSA 12, 2[127]) bezeichnet. Nietzsche behauptet, dass die moderne Wissenschaft das asketische Ideal der Gegenwart darstellt. Wie die ersten geistreichen Praktiker des asketischen Ideals, leben auch die wissenschaftlichen Erben des asketischen Ideals heute gleichermaßen „‘im Glauben‘, ,in der Liebe‘, ,in der Hoffnung‘“ (GM I, 14). Und Nietzsches Kritik dieses Glaubens, dieser Liebe und dieser Hoffnung sind auf gleiche Weise relevant, denn was die Religion fr das Leben nach dem Tode verspricht, verspricht die Wissenschaft fr hier und heute, in einer absehbaren, gewissermaßen gleich um die Ecke liegenden Zukunft. Daher warnt Nietzsche: „[D]iese ,moderne Wissenschaft‘ – macht auch nur dafr die Augen auf! – ist einstweilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals.“ (GM III, 25, KSA, S. 403) Wo das ursprngliche asketische Ideal die Wiederauferstehung nach dem Tode (das „ewige Leben“) verspricht, hoffen die Erben des asketischen Ideals der Wissenschaft noch immer, sie kçnnten sich „auch ewig […] schadlos halten […] fr jenes ErdenLeben“ (ebd.), wenn nicht im Reiche Gottes, so doch in der Unmittelbarkeit des nahenden Zeitalters der modernen Wissenschaft. Aber die Parallele ist noch strker. Was bis zum Kommen dieser Welt herausgeschoben wurde, wird nun herausgeschoben, bis die Wissenschaft (der Kampf gegen Krebs, Gen-Forschung im Allgemeinen sowie das Internet oder die Raumfahrt) dies erfllen kann. Aber der wesentliche Punkt ist fr Nietzsche nicht nur die Tendenz zur unaufhçrlichen Verschiebung, sondern die Verurteilung, die das Leben als solches erfhrt, mit all seinen Feinheiten, die es erst zu dem machen, was es ist. Nietzsche kann die Wissenschaft die letzte Verkçrperung des asketischen Ideals aus dem gleichen Grund nennen, aus dem Juda ber Rom triumphiert hat, was bedeutet, dass das reaktive, asketische Ideal der Schwcheren (der Sklaven) ber das vornehme Ideal der Strkeren gesiegt hat, und zwar zwangslufig und unvermeidlich. Die Wissenschaft ist die „beste“, das heißt die edelste Verbndete des asketischen Ideals, „weil sie die unbewussteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist!“ (Ebd.) Deshalb macht die Wissenschaft ihre eigenen Konsequenzen nicht nur nicht geltend, sondern verneint sie. Und hier legt Nietzsche seine eigenen kritischen hyper63 Alexandre Koyr, From the Closed World to the Infinite Universe, Baltimore 1968 [1957], S. 2.
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kopernikanischen Einsichten in die Konsequenzen der Errungenschaften der wissenschaftlichen kopernikanischen Wende vor: hier „scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – woher? in‘s Nichts? in‘s durchbohrende Gefhl seines Nichts?“ (GM III, 25, KSA 5, S. 404) Vom quasi-gçttlichen Lebewesen, geschaffen im Ebenbild Gottes, also von einem Stand, der beinahe Gott (,Kind Gottes‘, ,Gottmensch‘) war, sind die Menschen heute auf den mechanischen, eher natrlichen als bernatrlichen Stand der Tiere zurckgefallen. Das Problem dabei ist, dass wir fortfahren, das Animalische aus dem alten metaphysischen Schema zu begreifen, ein Problem, auf das Nietzsche hinweist, wenn er daran erinnert, dass das Menschliche im Erwachen der Wissenschaft „Thier geworden“ ist, „Thier, ohne Gleichnis, Abzug, und Vorbehalt“ (ebd.). Es bedarf keiner metaphorischen Ebene, um zu folgern, dass der Mensch von der Wissenschaft ebenso wirkungsvoll gedemtigt wird wie von der Religion.64 Warum haben wir die Wissenschaft, die wir haben, und nicht vielmehr etwas anderes?
Von der Tragçdienmusik zur Kausalitt und zur Unschuld des Werdens In seinem „Turiner Brief von 1888“, wie der Untertitel von Der Fall Wagner lautet, dem Buch, das Nietzsche nach der Genealogie der Moral schreibt, der die Inschrift trgt ridendo dicere severum, denkt Nietzsche ber das nach, was man den „Geist der Musik“ nennt, und fragt: „Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist frei macht? Dem Gedanken Flgel giebt? Das man umsomehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? –“ (WA 1) Die Relevanz dieses Gedankens fr die Wissenschaft und vor allem fr eine Philosophie der Wissenschaft ist deutlich genug, insofern er fortfhrt, fr eine ekstatische Erleuchtung der Welt als ihrem „philosophischen Pathos“ 64 Daher geht es um den ganzen Bereich der Wissenschaft: „A l l e Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, ber deren demthigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswethes Gestndniss gemacht hat, ,sie vernichtet meine Wichtigkeit‘…), alle Wissenschaft, die natrliche sowohl, wie die u n n a t r l i c h e – so heisse ich die Erkenntnis-Selbstkritik – sie ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe Nichts als ein bizarrer Eigendnkel gewesen sei […].“ (GM III, 25, KSA 5, S. 404) Diese „objektive“ Wissenschaft verlangt Respekt – „denn der Verachtende ist immer noch Einer, der ,das Achten nicht verlernt hat‘…“ (ebd.).
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(ebd.) zu pldieren. Und als wrde er auf Descartes Bezug nehmen (und hier spricht Nietzsche in Wirklichkeit von sich selbst oder zumindest, denn selbst diese Behauptung ist kompliziert – wir sprechen immer noch ber Nietzsche –, von einem idealen Hçrer von Bizet oder Rossini, eher als Wagner), unterbricht Nietzsche sich selbst erneut, um dieses Pathos zu klren: „ - und unversehens fallen mir Antworten in den Schooss, ein kleiner Hagel von Eis und Weisheit, von gelçsten Problemen“ (ebd.). Nietzsche bewegt sich hier sehr schnell, indem er die Schritte seines philosophischen Weges zurckverfolgt und seine kritischen Perspektiven nicht nur bezglich der Musik, sondern auch der Vernunft, des kausalen Denkens und der Wissenschaft wieder aufnimmt, um die Frage nach dem Leben aufzuwerfen, die sein Denken von Anfang an begleitet hatte. Daher beendet er die Gçtzendmmerung mit einer berlegung zu nichts weniger Sinnlichem (und nichts weniger Seltsamem fr die, die die wissenschaftliche Frage nach der Geburt des tragischen Werkes der Kunst nicht zu unserer Frage gemacht haben) als der Orgie als solcher. Fr Nietzsche bedeutete die Bezugnahme auf die Orgie eine perfekte wissenschaftliche Anspielung, eine, auf die er durch eine Art proto-phnomenologische Untersuchung stieß und durch die er sich zur erneuten Betonung seines ersten Buches ber die Tragçdie veranlasst sah: „Die Psychologie des Orgiasmus als eines berstrçmenden Leben- und Kraft-Gefhls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt.“ (GD, Was ich den Alten verdanke, 5)65 Diese explizit empirische und physiologische berlegung liefert Nietzsche „den Schlssel zum Begriff des tragischen Gefhls“ (ebd.), einem Gefhl, das er bei Aristoteles ebenso wie bei Schopenhauer vermisst zu haben behauptet. Nietzsche schlgt mit seiner Bezugnahme mehr als eine naturalistische Wende ein insofern, als die Physiologie fr ihn als eine phnomenologische Quelle fungiert. Dieses Beharren auf den naturwissenschaftlichen Hinweisen der Physiologie wurde durch den revidierten Untertitel seines ersten Buches, Die Geburt der Tragçdie oder Hellenismus und Pessimismus, unterstrichen. Dass der in Frage stehende Punkt nur schwer fassbar ist und dass man mehr braucht als einen Untertitel (und selbst mehr als ein neues Vorwort), um dies zu erreichen, wird durch die abschließenden berlegungen der Gçtzendmmerung, Nietzsches letzter verçffentlichter Schrift, mehr als deutlich. Zuletzt steht Nietzsches dionysische Emphase eines „Jasagen[s] zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und hrtesten Problemen“ (GD, Was 65 Ich diskutiere Nietzsches Anfechtung der Wissenschaft in eben diesem Punkt in B. Babich, Nietzsche und Wagner: Sexualitt.
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ich den Alten verdanke, 5) auf dem Spiel. Aber um auf den Weg zu einer solchen Bejahung zu gelangen, nennt Nietzsche sein letztes Buch mit Anspielung auf die Dmmerung der Gçtzen „eine grosse Kriegserklrung“, und betont damit, dass eine solche Bejahung in einem polemischen Geist intendiert ist. Er beginnt mit dem selben Sokrates, den er in seinem ersten Buch mit dem Optimismus von Logik und Wissenschaft gleichgesetzt hatte, also mit einem Namen, der heute fr das Ganze der Philosophie und ihrer Feindschaft gegen das Leben stehen kçnnte.66 Das Problem der Philosophie ist demzufolge das Problem einer spezifisch Sokratischen dcadence. Wie der Knstler ist der Philosoph entweder im Aufstieg befasst und aus diesem Grund lebensbejahend (d. h. lebensverschwendend) oder aber er ist auf dem Abstieg und dementsprechend lebensverneinend (also lebensbewahrend- und erhaltend). Wir kçnnen dazu auf Nietzsches Beispiel des jugendlichen Schiller oder Goethes in seinen besten Jahren zurckgreifen.67 Mit Blick auf die Philosophen betont Nietzsche, dass ihre erste Spezies eigentlich nur untergehen kann (wie Empedokles oder Heraklit untergingen), whrend die zweite Spezies durch einen spezifischen Gegensatz bestehen bleibt. Von Natur aus rar, verschwinden die Philosophen der aufsteigenden Art frh (daher Nietzsches berlegungen zur Interpunktion, stilistisch, aber auch real, bezglich des Todes) und pflanzen sich nur selten fort. Hingegen gibt es keinen Mangel an Philosophen, die dem Durchschnitt entspringen, das bedeutet: der reaktiven oder dekadenten und damit bestndigen Art. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass vom mythischen Stein des Weisen gesagt wird, er werde vom Philosophen der absteigenden, zweiten Art gesucht, der weniger auf Weisheit als auf die Bewahrung und Konservierung des Lebens aus ist. Die Bewahrung des Lebens und sein Ausdruck sind gegenlufige Impulse, und fr Nietzsche hngt unsere Disposition in die eine oder andere Richtung davon ab, ob unsere physiologische oder kçrperliche Disposition das ist, was er aktiv nennt (aufsteigendes Leben) oder reaktiv (absteigendes Leben). Um sein Leben zu bewahren, muss man sich, so Nietzsche, vor allem mit Blick auf 66 „ber das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt: e s t a u g t n i c h t s …“ (GD, Das Problem des Sokrates, 1). 67 Goethes Bltezeit war nicht dieselbe wie die seiner Jugend, eine Unterscheidung, die Nietzsche hinsichtlich der Differenziertheit der Persçnlichkeit trifft, und zwar in Bezug auf den Menschen, also die physiologische Konstitution des einzelnen Individuums. Mit anderen Worten: was fr Goethe gilt, wre fr einen geringeren Dichter, ganz abgesehen von einem Philosophen wie Schopenhauer, eine viel zu große Frage. Demnach kann im Fall der Musiker Beethoven nur mit Wagner verglichen werden, wobei auch Bizet dem Vergleich standhalten kçnnte.
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seine Gefahren und Risiken gerade so weit wie mçglich vom Leben distanzieren. Auf diese Weise lsst sich Nietzsches Anklage der metaphysischen Philosophen auch mit Hinblick auf die Mathematiker, Biologen und Physiker verstehen: „Alles was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben waren Begriffs-Mumien: es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Hnden…“ (GD, Die ,Vernunft‘ in der Philosophie, 1)68 Das Problem des endlichen, wechselhaften und stets werdenden Lebens ist fr Nietzsches Analyse des dem kausalen Denken innewohnenden Irrtums von zentraler Bedeutung: „Man hat zu allen Zeiten geglaubt, zu wissen, was eine Ursache ist.“ (GD, Die vier grossen Irrthmer, 3) berall fhren wir zwangsweise einen Tter und eine Tat ein. Aber, und dabei handelt es sich um eine transzendental-phnomenologische berlegung: ein solcher Zwang sollte vor allem im Kopf des Tters unproblematisch sein: „Wir glaubten uns selbst im Akt des Willens urschlich; wir meinten da wenigstens die Urschlichkeit auf der That zu ertappen.“ (Ebd.) Das Problem ist das des freien Willens und der Verantwortlichkeit: „[W]er htte bestritten, dass ein Gedanke verursacht wird? dass das Ich den Gedanken verursacht?“ (Ebd.; vgl. JGB 19) „Es denkt“, wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Bçse dargelegt hat, „aber dass dieses ,es‘ gerade jenes alte berhmte ,Ich‘ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine ,unmittelbare Gewissheit‘.“ (JGB 17) Tatschlich, so Nietzsche, und dies ist die in Klammern gesetzte und unmittelbar empirische Basis fr seine Phnomenologie des Geistes, kommt „ein Gedanke […] wenn ,er‘ will und nicht wenn ,ich‘ will“, eine Basis, auf welcher es „eine Flschung des Thatbestandes ist zu sagen, das Subject ,ich‘ ist die Bedingung des Prdikats ,denke‘“ (ebd.).69 68 Nietzsches schlichteste Darstellung im Namen der Wissenschaft geschieht im Namen der empirischen Wissenschaften, bei denen es sich um Wissenschaft handelt insofern, als wir beschlossen haben, „das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n [ … ] “ (GD, Die ,Vernunft‘ in der Philosophie, 3). „Der Rest ist Missgeburt und Nochnicht-Wissenschaft.“ Man achte jedoch auf die Auflistung, die Nietzsche bezglich einer solchen „Noch-nicht-Wissenschaft“ anschließt. ber die Metaphysik hinaus finden wir „Formalwissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik: die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem…“ (ebd.). 69 Analog schreibt Hannah Arendt: „Der gesehene Baum ist zwar unbezweifelbar Gegenstand eines Sehaktes, dessen ich mir bewußt werden kann, so wie der getrumte Baum fraglos der Gegenstand des Traumes ist, solange der Trumende trumt, aber weder der gesehene noch der getrumte Baum werden es je fertig bringen, wirkliche Bume zu werden.“ (Arendt, Vita activa, S. 273)
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Fr Nietzsche hat die Psychologie in dieser Hinsicht Fortschritte gemacht; die alten Gewohnheiten des Denkens haben ihre Plausibilitt verloren, und dies nicht nur aufgrund der psychologischen Theorien, sondern auch insofern, als Nietzsche es niemals unterlsst, auf das vernachlssigte oder besser missachtete und missverstandene Reich des Unbewussten hinzuweisen:70 „Die ,innere Welt‘ ist voller Trugbilder und Irrlichter: der Wille ist eins von Ihnen.“ (GD, Die vier grossen Irrthmer, 3) Daher besteht der in Frage stehende Fortschritt in der Entdeckung des psychischem Mechanismus‘ der Projektion, dergemß der Mensch in den Dingen nichts anderes wiederfand als das, „was er in sie gesteckt hatte“ (ebd.). Nietzsches schrfste Attacke gegen solche „imaginren Ursachen“ befindet sich nicht auf der Ebene des Willens (im Einklang mit seiner Ablehnung der Vorstellung eines Willens wie der einer freien Subjektivitt), sondern auf der des Gedchtnisses; hier dargestellt anhand der Erinnerungsarbeit des Traums, und zwar der Umkehr der zeitlichen Ordnung, die jeder Trumende kennt, der seinen Traum hinauszuzçgern sucht (und so nebenbei den Schlfer weiterschlafen lsst), ein Bild, das Nietzsche bereits in ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne wie auch in seinem spter geschriebenen L‘ordre du jour pour le roi ber die Natur des Traumes (FW 22) heraufbeschwçrt. Nietzsche untersucht nun die nachtrgliche Natur der (ußeren) Ursache im Traum: „einer bestimmten Empfindung, zum Beispiel in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachtrglich eine Ursache untergeschoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Trumende die Hauptperson ist)“; sie (die Empfindung) dauert fort, wartet gleichsam wie auf ihren Auftritt, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, – „nunmehr nicht mehr als Zufall“ (GD, Die vier grossen Irrthmer, 4). Der Kanonenschuss ruft demnach den Traum hervor, aber der Traum funktioniert mit oder auf der Basis der Kausalitt, so dass der Schuss als nachfolgend erfahren wird, nun „in einer causalen Weise auf[tritt], in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit“ (ebd.). Das, was spter kommt, ist der ganze Traum, „die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelheiten, die wie im Blitz vorbergehen, der Schuss folgt…“ (ebd.). Nietzsche expliziert seine Analyse in physio-psychologischen Termini: „Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte“, das bedeutet, die ganze Komplexitt der Details, die vom Trumenden in den Traum gewoben werden, „wurden als Ursache desselben missverstanden“ (ebd.). Freud 70 Vgl. außerdem zu Lacan und Nietzsche Babich, On the Order of the Real.
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schçpfte dies natrlich in allen Einzelheiten aus, insofern eben dieses Missverstndnis das Zentrum (also gewissermaßen den ,Traum‘) des Traumes darstellt. Seit seinen frhesten Schriften zum tragischen Wissen, zu Wahrheit und Lge, aber auch mit Blick auf die Geburt von Philosophie und Wissenschaft im tragischen Zeitalter, ist die Einsicht fr Nietzsche zentral, dass „wir es im Wachen ebenso“ (ebd.) machen. Tuschung, Erfindung, Lge, Traum – und die kausale Umkehrung der Zeit? Die Wissenschaft wre demnach ein subtiles Mittel, ein Mittel zur Lge, ahnungslos gegenber dem Trgerischen ihrer Illusionen, unredlich in ihren Verheimlichungen und so der ehrlichen Verstellung der Kunst entgegengesetzt. Ist die Wissenschaft also ein Instrument, das sich um keinen Preis selbst als das beschreiben wrde, was sie ist, ein Instrument zur Selbstverteidigung gegen die Wahrheit? Das ist ziemlich starker Tobak fr jemanden, der der Wissenschaft gegenber eigentlich positiv aufgeschlossen ist. Aber Nietzsche sagt, die Wissenschaft kçnne sich mçglicherweise so oder so verhalten. Was bietet er nun selbst stattdessen an? Genau das, was er von Anfang an behauptet hat: „Gesetzt wir wollen Wahrheit, warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit?“ (JGB 1). Als ein Altphilologe, der vorgibt, sich selbst nicht helfen zu kçnnen, hatte Nietzsche die Wissenschaftler fr das kritisiert, was er ihre „schlechte[n] Interpretations-Knste“ (JGB 1) nannte. Wie auch bei David Strauß‘ mechanistischem Banausentum, identifiziert Nietzsche das Problem der Wissenschaft auf zweierlei Ebenen als eine hermeneutische Angelegenheit von Sprache und Stil, das die Physiker selbst betrifft – so spricht er eben von „schlechte[r] ,Philologie‘“ (JGB 22). Anstatt dem Universum eine Art von Einheitlichkeit zu unterstellen, wie er zu Beginn des dritten Buches der Frçhlichen Wissenschaft herausfordernd schreibt, tten wir besser daran, die Ordnung ber uns als eine mçgliche Ausnahme zu betrachten. Vielleicht, so Nietzsche, gibt es noch andere Ordnungen als die, die wir sehen, vielleicht sind dort andere Dimensionen als die, die wir sehen kçnnen, andere Bezugsrahmen als die, die uns beschftigen. In diesem Sinne „kçnnte Jemand kommen, der, mit der entgegensetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen“ keine Naturgesetze, sondern „gerade die tyrannisch-rcksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprchen herauszulesen verstnde“ (JGB 22). Die Pointe dieser alternativen Interpretation besteht gerade darin, dass es eine alternative Interpretation gibt, und Nietzsche beschließt den Einwand, „dass auch dies nur Interpretation ist …“ (ebd.) affirmativ: „Um so besser!“ Dies wiederholt sich in dem, was Nietzsche seine Lehre nennt, die Lehre des „Ganzen“ („es
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giebt Nichts ausser dem Ganzen !“), wie es in dem ebenso erstaunlichen wie komplexen Schlusswort des mit Die vier grossen Irrthmer berschriebenen Abschnittes seiner Gçtzen-Dmmerung, gegen jeden bleibenden Gçtzen der Moderne, heißt (und Nietzsches Liste htte, htte er eine Ahnung davon gehabt, Gene, neurale Prozesse, Meme und jede Form der Konditionierung mit eingeschlossen):71 Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften g i e b t , weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch e r selbst […]. Die Fatalitt seines Wesens ist nicht herauszulçsen aus der Fatalitt alles dessen, was war und was sein wird. […] Man ist nothwendig, man ist ein Stck Verhngniss, man gehçrt zum Ganzen, man i s t im Ganzen – es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen kçnnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen […]. Ab e r e s g i e b t Ni c h t s a u s s e r d e m G a n z e n ! – (GD, Die vier grossen Irrthmer, 8)
Mit anderen, mit Zarathustras Worten: Es gibt nichts außerhalb, nichts jenseits des Ganzen, und dies zu sagen bedeutet, „die Unschuld des Werdens“ (ebd.) wieder herzustellen. Und dies zu tun impliziert wiederum, Gott zu leugnen, die Verantwortlichkeit zu leugnen, so Nietzsche, „ – damit erst erlçsen wir die Welt“ (ebd.). Es ist diese Perspektive, die Perspektive der Bejahung, des Sehens, Segnens und Fr-gut-Befindens der Welt, die Nietzsches amor fati bedeutet, sein aus freien Stcken gelebtes Leben, so wie es ist, in „Eis und Gebirge“ (GM II, 24), oder, wie er es im Prolog zu Ecce homo ausdrckt: „An diesem vollkommnen Tage, wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sommerblick auf mein Leben: ich sah rckwrts, ich sah hinaus, ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal.“ (EH, KSA 6, S. 263) 71 Siehe Isabelle Stengers, Diderot‘s Egg: Divorcing Materialism from Eliminativism, in: Radical Philosophy 44, 2007, von der der wichtige Hinweis stammt, dass wir Diderot als einen Kandidaten fr das philosophische Staunen angesichts dessen, was ist (Heideggers ,Sein‘), nehmen kçnnten und auch als einen Stellvertreter fr den noch immer aktuellen Zorn ber diese Form des eliminativen Materialismus. Dass es auch andere Kandidaten gibt, war das, was ich vor mehr als einem Vierteljahrhundert, als ich ber Nietzsches Philosophie der Wissenschaft schrieb, deutlich machen wollte; Stengers betont die politischen Spannungen dessen, was sie ,akademische Spiele‘nennt, ist aber zur selben Zeit auffallend pingelig darin, sich nur auf Spieler mit anerkanntem akademischen Kapital oder Ruhm zu beziehen. Sie beruft sich daher sowohl, um ber philosophischen Nihilismus als auch ber rhetorische Ironie zu sprechen, auf Dostojewski (und nicht auf Nietzsche). Vgl. B. Babich, Continental Philosophy of Science, in: Constantin Boundas (Hg.), The Edinburgh Companion to the Twentieth Century Philosophies, Edinburgh 2007, S. 545 – 558, sowie das Schlusskapitel in B. Babich, Eines Gottes Glck, voller Macht und Liebe.
Das „Problem der Wissenschaft“
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Nietzsches Dankbarkeit gegen sein ganzes Leben bedeutet hier seine Segnung und ist als amor fati Ausdruck einer wissenschaftlichen Vision, nicht einer Wissenschaft, die an die Stelle der offenbarenden Wahrheit eine ultimative Wahrheit setzt, sondern einer neuen, stets voranschreitenden, stets von anderen Interpretationen geleiteten Wissenschaft, einer Wissenschaft, die der Wiederherstellung der Unschuld des Werdens gewidmet ist. Aus dem Englischen von Cathrin Nielsen.
Wille zur Wahrheit Damir Barbaric´ Nehmen wir zum Ausgangspunkt der berlegungen einen Aphorismus der Frçhlichen Wissenschaft, in dem die Themen Wissenschaft und Gott unter einem Gesichtspunkt zusammengebracht sind und ihr Verhltnis so eingehend und genau bestimmt ist wie kaum anderswo im Werk Nietzsches. Schon sein Titel „Inwiefern auch wir noch fromm sind“ (FW 344)1 soll darauf hinweisen, dass die angebliche Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft, auch in ihrer modernen, rein positivistischen Gestalt, eine nur scheinbare ist. Um Zutritt zum Reich der echten Erkenntnis zu erlangen, um das Brgerrecht in der Wissenschaft fr sich zu sichern, mssen alle vorwissenschaftlichen berzeugungen „sich entschliessen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorlufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen“. Das heißt, sie mssen aufhçren, berhaupt noch berzeugungen zu sein. Die strenge Zucht des „wissenschaftlichen Geistes [fngt] damit an, sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten“. Dieser anscheinend ganz selbstverstndliche Sachverhalt ist fr Nietzsche alles andere als selbstverstndlich. Es ist nicht besonders schwer einzusehen, dass dieser Anspruch auf Freiheit von aller berzeugung in Wahrheit die in aller Erkenntnis und in jeder Wissenschaft herrschende Grundberzeugung ist. Das heißt, die Wissenschaft ist nie voraussetzungslos. Auch sie beruht auf einem Glauben und einer berzeugung, und zwar einer „so gebieterische[n] und bedingungslose[n], dass sie alle andren Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt“. Dieser jeder Wissenschaft vorangehende und ihr zugrunde liegende Glauben besteht in der Annahme, dass die Wahrheit nottut und dass sie der hçchste Wert schlechthin ist. Der unbedingte Wille zur Wahrheit ist als notwendige Voraussetzung aller wissenschaftlichen Erkenntnis einzusehen. Seinem leitenden Ansatz gemß, nach dem „das Problem der Wissenschaft […] nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden“ kann (GT, Versuch einer Selbstkritik 2), geht Nietzsche ber den wissenschaftlichen Horizont hinaus und fragt gleichsam rcklufig nach dem Recht des ihn entspringen lassenden und in ihm weiterhin herrschenden Entschlusses 1
Auch die unmittelbar folgenden Zitate stammen aus FW 344.
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zur vçlligen Voraussetzungslosigkeit. Es ist zu fragen, woher die Wissenschaft selbst wissen kann, dass Wahrheit mehr wert ist als Unwahrheit und berzeugungslosigkeit mehr als berzeugung: „Was wisst ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu kçnnen, ob der grçssere Vortheil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des Unbedingt-Zutraulichen ist?“ Wenn es so ist, dass dem Leben die Unwahrheit nicht weniger als die Wahrheit, das Misstrauen nicht weniger als das Zutrauen notwendig und fçrderlich ist – und fr Nietzsche ist ebendies der Fall –, dann erweist sich die wissenschaftliche Wahrheit lediglich als die verhngnisvolle Vereinseitigung und Verkrzung der vollen und umfassenden Wirklichkeit bzw. ,Wahrheit‘, die Nietzsche hier wie auch sonst schlicht als „Charakter des Daseins“ bezeichnet. Wenn es aber darber hinaus „den Anschein haben sollte, – und es hat den Anschein! – als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wre“, dann kann man nicht umhin, im unbedingten Willen zur Wahrheit „ein lebensfeindliches zerstçrerisches Princip“ zu erkennen: Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, b e j a h t d a m i t e i n e a n d r e We l t als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ,andre Welt‘ bejaht, wie? muss er nicht eben damit ihr Gegenstck, diese Welt, u n s r e Welt – verneinen?
Dem Schluss, den Nietzsche daraus zieht, fehlt es nicht an ußerster Radikalitt: „,Wille zur Wahrheit‘ – das kçnnte ein versteckter Wille zum Tode sein. –“ Auf alle daraus entspringenden weiteren Fragen lsst sich Nietzsche an dieser Stelle nicht ein. Statt dessen begngt er sich damit, abschließend hervorzuheben, dass auch die moderne Wissenschaft trotz ihrem, wie sie sich einbildet, anti-metaphysischen und anti-theologischen Charakter immer noch auf dem Willen zur Wahrheit als einem uralten metaphysischen Glauben beruht. Daraus folgt mit Notwendigkeit, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzndet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit gçttlich ist.“ Wissenschaft und Metaphysik, die beide gleicherweise auf dem Willen zur Wahrheit beruhen, gehçren zusammen mit Moral und Religion – unter ,Religion‘ versteht Nietzsche in diesem Zusammenhang immer die christliche – zu einem einheitlichen Gefge. So gesehen und verstanden sind sie
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nur verschiedene „Ausgeburten“ eines ursprnglichen menschlichen Willens zur Kunst. Freilich muss die hier gemeinte ,Kunst‘ in der denkbar grçßten Weite genommen werden; und hier zeigt sie sich als das Hauptmerkmal des Lebendigen berhaupt. Sie ist nichts anderes als der unhintergehbare Wille des Menschen „zur Lge, zur Flucht vor der ,Wahrheit‘, zur Verneinung der ,Wahrheit‘“, oder anders gesagt: „[d]as Vermçgen selbst, Dank dem er die Realitt durch die Lge vergewaltigt […]“ (N 1888, KSA 13, 17 [3]). Die „tiefste und hçchste Geheim-Absicht“ der als Wille zur Lge verstandenen Kunst ist darauf ausgerichtet und darum bemht, „dass der Charakter des Daseins verkannt werde“. (Ebd.) Dieses den wirklichen Charakter des Daseins grundstzlich verneinende und verkennende „Knstler-Vermçgen des Menschen par excellence“ hat sich als seinen tiefsten Grund und zugleich hçchsten Gipfel den Gott geschaffen. (Ebd.) Diesem Grundgedanken vom Gott als der „letzten Weisheit, letzten Gte, letzten Macht“ (FW 285) sind dann wiederum Metaphysik und Wissenschaft, Moral und Religion entsprungen. Sie alle fußen auf diesem festen Grund und Boden und schçpfen daraus ihre tausendjhrige Sicherheit und Bestndigkeit. Erst, wenn all das in Betracht gezogen ist, lsst sich die ganze Tragweite der Nietzscheschen Erfahrung vom Tode Gottes ermessen. Erst so wird deutlich, dass es sich bei den schreienden Ausbrchen des „tollen Menschen“ im berhmten Aphorismus 125 der Frçhlichen Wissenschaft keineswegs um zwar tief beeindruckende, aber letztlich doch unverpflichtete dichterische Metaphern handelt. Um sowohl Nietzsche als auch die Sache, von der hier die Rede ist, verstndlich zu machen, ist es vielmehr unumgnglich, jede einzelne von ihnen und alle zusammen auf die ihnen innewohnende begriffliche Strenge hin zu durchdenken. Der Gott wird hier in einer sich steigernden Folge als „der ganze Horizont“, „die Sonne“ und endlich als „das Heiligste und Mchtigste, was die Welt bisher besaß“ gekennzeichnet. (FW 125)2 In einer damit zusammenhngenden Nachlassaufzeichnung spricht Nietzsche im selben Sinne ber die „ewige feste Linie […], auf die bisher alle Linien und Maaße sich zurckbezogen, nach der bisher alle Baumeister des Lebens bauten, ohne die es berhaupt keine Perspektive, keine Ordnung, keine Baukunst zu geben schien“ (N 1881, KSA 9, 14[25]). Das „ungeheure Ereignis“des Todes dieses Gottes bedeutet also nichts weniger als die Auslçschung des ganzen Horizontes und der ewigen festen Linie sowie die vçllige Loslçsung der Erde von 2
Wo nicht anderes vermerkt, stammen die folgenden Zitate aus FW 125.
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ihrer Sonne. Dadurch wird die Bewegung der auf diese Weise entbundenen Erde und der sie bewohnenden Menschheit unausweichlich zu einem fortwhrenden Strzen, und zwar „rckwrts, seitwrts, vorwrts, nach allen Seiten“. Plçtzlich gibt es kein Oben und Unten mehr; die Erde und die Menschheit irren „wie durch ein unendliches Nichts“3. Auf einmal ist es klter geworden; es kommt „immerfort die Nacht und mehr Nacht“. Die Schilderung, schon an sich dramatisch genug, gelangt durch eine zustzliche Nuance zu ihrer letzten Pointe, damit auch zu ihrer ußersten Schrfe. Der Tod Gottes ist nmlich nicht etwas, was von selbst geschieht bzw. geschehen ist. Es ist nicht hinreichend, davon als von einem bloßen Ereignis zu reden, auch wenn damit kein alltgliches und bliches, sondern vielmehr ein ungeheueres, sogar „das grçßte neuere Ereignis“ gemeint wird. Denn dieser einzigartige Tod ist auf irgendeine Weise verschuldet, verursacht worden. Er ist das Ergebnis einer mçrderischen Tat, und wir, die Menschen, wir alle und ein jeder von uns, sind die Mçrder des Gottes. Erst in dieser Einsicht erreicht die These Nietzsches ihren letzten Gipfel: Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getçdtet! Wie trçsten wir uns, die Mçrder aller Mçrder? Das Heiligste und Mchtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet […]. Es gab nie eine grçssere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehçrt um dieser That willen in eine hçhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!
Die unermessliche, abgrndige Grçße dieser Tat wird eben dadurch bezeugt, dass bei den Menschen auf lange Zeit hin auch die flchtigste Ahnung davon ausbleibt, was sie getan haben: „Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe getan !“4 Wie ist diese befremdliche Behauptung zu verstehen? Um damit einigermaßen ins Klare zu kommen, tut es not, zweierlei zu beachten. Zum Ersten soll sich diese einzigartige Tat tief unter der Ebene des menschlichen Bewusstseins, d. h. des menschlichen Wissens, Denkens und Wollens, ereignet haben. Die vermeintlich selbstverstndliche Annahme, dass alles, was ist, sein Wesen im 3 4
Vgl. N 1881, KSA 9, 14[25]: „Haben wir nicht den unendlichen Raum wie einen Mantel eisiger Luft um uns gelegt? Und alle Schwerkraft verloren, weil es fr uns kein Oben, kein Unten mehr giebt?“ Vgl. N 1881, KSA 9, 14 [26]: „Es ist noch zu frh, das ungeheure Ereigniß ist noch nicht zu den Ohren und Herzen der Menschen gedrungen – große Nachrichten brauchen lange Zeit, um verstanden zu werden, whrend die kleinen Neuigkeiten vom Tage eine laute Stimme und eine Allverstndlichkeit des Augenblicks haben. Gott ist todt! Un d w i r h a b e n i h n g e t ç d t e t ! Dies Gefhl, das Mchtigste und Heiligste, was die Welt bisher besaß, getçdtet zu haben, wird noch ber die Menschen kommen, es ist ein ungeheures n e u e s Gefhl!“
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Willen hat und alles, was wird und geschieht, seine Ursache in einem Willen haben muss, gehçrt fr Nietzsche zu einer zwar uralten, aber deshalb nicht weniger falschen Mythologie. Trotz der leicht missverstndlichen Formel vom ,Willen zur Macht‘, die die breite Rezeption seiner Philosophie oft auf Irrwege gefhrt hat, besteht er darauf, dass der Wille nicht als das allem Zugrundeliegende anzusehen ist. Weit entfernt davon, die letzte Substanz und das letzte Subjekt von allem zu sein, ist der Wille vielmehr berhaupt nichts Einfaches und Unmittelbares. Es gibt mehreres, was bei jedem Wollen vorausgesetzt ist: [E]rstens, damit Wille entstehe, ist eine Vorstellung von Lust und Unlust nçthig. Zweitens: dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden werde, das ist die Sache des i n t e r p r e t i r e n d e n Intellekts, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet; und ein und derselbe Reiz k a n n als Lust oder Unlust interpretirt werden. (FW 127)
Es ist unschwer zu erraten, dass unter dem, was hier als unser unbewusst interpretierender Intellekt bezeichnet wird, eben das zu erkennen ist, was Nietzsche in seinem Hauptwerk „die große Vernunft“und „den Leib“nennt. Das Angegangensein von einem heftigen Reiz und seine Interpretation im Sinne der Lust oder des Schmerzes, was sich beides jenseits des Bewusstseins vollzieht, liegt jeder einzelnen Tat des Wollens zugrunde.5 Und eben diese dunkle, kaum durchschaubare Schicht des abgrndigen menschlichen Inneren ist der wahre Spielraum fr die unvordenkliche, ungeheuere Tat der Ermordung Gottes. Eben daher kommt es, dass den Menschen diese ihre eigenste Tat entweder berhaupt nicht oder erst nach langer Zeit zu Bewusstsein kommt, und auch dann vielfltig gebrochen, verharmlost und missverstanden, z. B. als das hilflose Gerede der „Todtengrber, welche Gott begraben“, was gewiss nur eine der vielen Formen der „gçttlichen Verwesung“ darstellt. Zweitens ist diese ungeheuere Tat zeitlich nicht genau zu verorten. Das ist wieder ein anderer Grund dafr, dass ihr Bewusstwerden so viel Zeit braucht und sich vermutlich berhaupt nicht in der Zeit vollziehen kann. Nietzsche nimmt an – was hier nicht weiter erçrtert, sondern nur erwhnt werden kann –, dass dem christlichen bzw. moralischen Gott, um dessen Tod es hier einzig geht, das Schicksal des unausweichlichen Todes schon im Akt seiner ,knstlerischen‘ Erschaffung zubemessen worden ist. Als der bedingungslos wahrhaftige Gott musste er dazu gebracht werden, zuletzt noch 5
Dazu Damir Barbaric´, Das große Unbekannte. Nietzsches berlegungen zur Genese des Bewußtseins, in: K. Gloy (Hg.), Kollektiv- und Individualbewusstsein, Wrzburg 2008, S. 123 – 134.
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seine eigene Wahrheit in Frage zu stellen, und durch die entzaubernde Einsicht in die Unwahrheit bzw. Scheinbarkeit, die als allgemeine und notwendige Grundlage alles Lebens auch ihm zugrunde liegen muss, am Ende auch sich selbst aufzuheben.6 Als ein moralischer Gott, d. h. ein solcher, der auschließlich gut ist und sein muss, oblag es ihm, alle anderen mçglichen Gçtter zu bçsen, falschen und nicht sein sollenden Gçttern zu erklren und sie bedingungslos vernichten zu wollen, wodurch er zunchst vollkommen einsam bleiben und am Ende sogar selbst in das Jenseits der Abwesenheit zurcktreten musste. Als ein vollkommen wissender Gott sollte er als stndiger Beobachter und aufdringlicher Zeuge zu jedem, auch dem verborgensten Winkel des menschlichen Inneren zu jedem Augenblick Zugang haben und damit am Ende bei dem „hsslichsten Menschen“ einen unwiderstehlichen, mçrderischen Durst nach Rache entspringen lassen. Da er als der mitleidige Ausund Versçhner nicht imstande war, dem Menschen die Wrde seiner Freiheit zuzugestehen, musste er zuletzt am bermaß seines schamlosen, eindringlichen Mitleids selbst sterben.7 Angesichts dessen leuchtet es ein, dass nach dem Tode Gottes die Geschichte eine ganz andere werden muss, eine „hçhere, als alle Geschichte bisher war“. Da sowohl Metaphysik als auch Wissenschaft, Moral und christliche Religion nichts anderes sind als Abkçmmlinge des alten Gottes – oder, mit Nietzsche gesagt, „Ausgeburten“ jener ursprnglichsten menschlichen ,Kunst‘ als Willen zur Lge, durch die einst auch der wahrhaftige und moralische Gott selbst geschaffen wurde –, haftet dem Zeitalter nach dem Tode Gottes, in dem sie, als ob nichts geschehen ist, weiter gefçrdert und sogar in gesteigertem Maße gepflogen werden, etwas Gespenstisches und von Grund auf Lebloses an.8 Trotz aller selbstverblendeten 6
7 8
N 1881, KSA 10, 1[75]: „Gott hat Gott getçdtet.“ Dazu: Edith Dsing, Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, Mnchen 2006, S. 475 ff. Vgl. Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens. Vierte unvernderte Auflage, Berlin / New York 1981, S. 202: „Die Leidenschaft grenzenlosen Wahrheitswillens kommt erst auf ihre Hçhe, wenn sie sich auf sich selbst zurckwendet und sich in Frage stellt.“Auch ebd. S. 212: „Diese Umkehrung, in der – wenn der Wille zur Wahrheit sich selbst vernichtet – alles versinken zu mssen scheint, entspringt fr Nietzsche im Wendepunkt der Geschichte, im gegenwrtigen Zeitalter; sie ist identisch mit der Selbstaufhebung der Moral und mit dem Tod Gottes.“ Ausfhrlicher dazu Damir Barbaric´, Dionysos gegen den Gekreuzigten, in: M. Djuric´ und J. Simon (Hg.), Nietzsche und Hegel, Wrzburg 1992, S. 79 – 89. Vgl. Georg Picht, Nietzsche, Stuttgart 1988, S. 334: „Das gesamte Gefge der politischen, der gesellschaftlichen und der moralischen Ordnung und berhaupt der
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berheblichkeit besitzt dieses Zeitalter kein eigenes Licht und kein eigenes Leben mehr: Und wenn wir noch leben und Licht trinken, scheinbar wie wir immer gelebt haben, ist es nicht gleichsam durch das Leuchten und Funkeln von Gestirnen, die erloschen sind? Noch sehen wir unsren Tod, unsere Asche nicht, und dies tuscht uns und macht uns glauben, daß wir selber das Licht und das Leben sind – aber es ist nur das alte frhere Leben im Lichte, die vergangne Menschheit und der vergangne Gott, deren Strahlen und Gluthen uns immer noch erreichen – auch das Licht braucht Zeit, auch der Tod und die Asche brauchen Zeit! Und zuletzt, wir Lebenden und Leuchtenden: wie steht es mit dieser unserer Leuchtkraft? verglichen mit der vergangner Geschlechter? Ist es mehr als jenes aschgraue Licht, welches der Mond von der erleuchteten Erde erhlt? (N 1881, KSA 9, 14[25])
Auch wenn Metaphysik, Wissenschaft, Moral und christliche Religion, jede auf ihre Weise und auf ihren Wegen, heute unermdlich darum wetteifern, dem menschlichen Leben auf der Erde das je eigene Siegel aufzuprgen, sind sie doch nichts anderes als Schatten eines lngst gestorbenen Gottes. Darum glaubt Nietzsche „nicht daran, dass Wissenschaft und Politik den ,alten Gott‘ ersetzen kçnnten“9. Im endlosen Betrieb ihrer unaufhçrlichen gegenseitigen Herausforderungen und wechselweisen bersteigerungen bleibt die Menschheit nur immer mehr mit sich allein und versinkt gegen die eigene Absicht immer mehr in die selbstzufriedene und gesttigte Barbarei der „letzten Menschen“. Nietzsches Vorhersage ist in ihrer Eindeutigkeit unerbittlich: „Ein Zeitalter der Barbarei beginnt, die Wissenschaften werden ihm dienen!“ (N 1880/1881, KSA 9, 8[61]) Nietzsche hat lange gebraucht, um zu einer endgltigen Klarheit darber zu gelangen. Namentlich die Wissenschaft – oder genauer „die Leidenschaf t der Erkenntniß“, in der er „eine ungeheure neue wachsende Gewalt, dergleichen noch nie gesehen worden ist“ (N 1881, KSA 9, 12[96]) sieht – schien ihm lngere Zeit als die Macht, die am besten geeignet ist, die dringlich nçtige Grundlage fr eine hçhere Geschichte bereitzustellen.10 Schon bald aber kam er zu der Einsicht, dass derselbe Wille zur Wahrheit, auf gesamte Bau unserer Kultur war auf dem Fundament errichtet, das mit dem Tode Gottes zu wanken beginnt.“ 9 Werner Stegmeier, Nietzsches Theologie. Perspektiven fr Gott, Glaube und Gerechtigkeit, in: D. Mourkojannis und R. Schmidt-Grply (Hg.), Nietzsche im Christentum. Theologische Perspektiven nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes, Basel 2004, S. 1 – 21, S. 15. 10 Dazu Damir Barbaric´, ,Wir Heimatlosen‘. Nietzsches Gedanken zum Europertum, in: V. Gerhardt u. R. Reschke (Hg.), Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa (Nietzscheforschung, Bd. 14) Berlin 2007, S. 53 – 66, insb. S. 57 f.
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dem nicht nur Metaphysik und Moral, sondern auch der gute und wahrhaftige Gott des Christentums als Grund von beiden beruht, und dessen konsequente Entfaltung zum Tod dieses Gottes selber fhren musste, nicht weniger auch das Wesen der Wissenschaft ausmacht. Wie dem wichtigen Aphorismus „Wa s es mit unserer Heiterkeit auf sich hat“, dem ersten im fnften Buch der Frçhlichen Wissenschaft (FW 343),11 zu entnehmen ist, ist die unmittelbare Reaktion auf „das grçsste neuere Ereignis, – dass ,Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwrdig geworden ist“ in Nietzsches Augen eine differenzierte und eine solche, die sich erst allmhlich voll entfaltet. Denn obwohl der Tod Gottes „bereits seine ersten Schatten ber Europa zu werfen“ beginnt, leben die Menschen zunchst genauso wie sonst, ohne irgendwelche Kenntnis davon, was im Stillen geschehen ist. Das ist auch nicht erstaunlich, denn wie schon gesagt, „das Ereignis selbst ist viel zu gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermçgen Vieler, als dass auch nur seine Kunde schon angelangt heissen drfte; geschweige denn, dass Viele bereits wssten, was eigentlich sich damit begeben hat“. Nur einige Seltene, die wach und besonnen genug sind, beginnen langsam zu ahnen, dass „eine Sonne untergegangen“und „ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht“ ist, infolge dessen sich fr sie, und nur fr sie, „unsre alte Welt tglich abendlicher, misstrauischer, fremder, ,lter‘“ zu zeigen beginnt. Aber auch ihnen fllt es schwer, sich fest und bestndig vor Augen zu halten, „was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europische Moral“. Auch sie sind, da sie „vielleicht zu sehr noch unter den nchsten Folgen dieses Ereignisses“ stehen, noch nicht imstande, schon heute die „lange Flle und Folge von Abbruch, Zerstçrung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht“ zu erraten, um aus dieser Einsicht zu den „Lehrer[n] und Vorausverknder[n] dieser ungeheuren Logik von Schrecken“ und zu „den Propheten einer Verdsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat“ zu werden. „Umgekehrt als man vielleicht erwarten kçnnte“, sind fr sie diese nchsten Folgen „durchaus nicht traurig und verdsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glck, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenrçthe …“. Solche Philosophen nennen sich jetzt ,freie Geister‘ und fhlen sich „bei der Nachricht, dass der ,alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenrçthe angestrahlt“. Ihr Herz „strçmt dabei ber von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung“. Der „Horizont“ erscheint 11 Wo nicht anders vermerkt, stammen auch die folgenden Zitate aus FW 343.
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ihnen „wieder frei“. Ihre „Schiffe [drfen] wieder auslaufen, […] jedes Wagniss des Erkennenden ist [ihnen] wieder erlaubt“. Es ist hier entscheidend, auf die durch das unauffllige, scheinbar nur nebenbei gebrauchte Wort „vielleicht“ angedeutete Zurckhaltung Nietzsches aufmerksam zu werden und sie mçglichst ernst zu nehmen. Denn allein unter der Bedingung, dass der freie Geist nur die nchsten Folgen des Todes Gottes zur Kenntnis nimmt, kann bei ihm der damit erçffnete freie Horizont und das offene Meer – worunter bei Nietzsche das ,Unendliche‘ im streng metaphysischen Sinne zu verstehen ist – zunchst Dankbarkeit, Ahnung und Erwartung hervorrufen und die unaufhaltsame Begeisterung fr jedes abenteuerliche Wagnis des Erkennenden wecken, das erst jetzt wirklich erlaubt zu sein scheint. Was aber hier verschwiegen bleibt, ist eine ganz andere Stimmung, von der die freien Geister durch ihre Einsicht nicht mehr in die nchsten, sondern in die letzten Folgen vom Tode Gottes berfallen werden. Dazu ußert sich Nietzsche auch sonst recht selten, und wenn, dann immer nur in Andeutungen und Anspielungen. Vermutlich hatte er gute Grnde dafr. Hier sei am Rande nur auf einen frheren Aphorismus derselben Schrift (FW 124) hingewiesen, in dem der offene Ozean des Unendlichen als das erkannt und bestimmt wird, zu dem es „nichts Furchtbareres gibt“. Durch das unbedingte Erkennen kann das Unendliche nicht bewltigt werden. Im Gegenteil scheint dieses Erkennen selbst, ohne dies zu wollen und davon etwas zu ahnen, das Unendliche immer wieder hervorzubringen. Daher gilt es – und von dieser Aufgabe ist das Sptwerk Nietzsches wie von keiner anderen bestimmt worden, wie dies vor allem aus der im Jahr 1886 verfassten Vorrede zu den neuen Ausgaben seiner bisher verçffentlichten Werke deutlich wird – vom „schlechte[n] Geschmack“, vom „Wille[n] zur Wahrheit, zur ,Wahrheit um jeden Preis‘“ Abschied zu nehmen. Die Wahrheit darf nicht mehr „als oberstes Wertmaaß, noch weniger als oberste Macht“ (N 1888, KSA 13, 17[3]) gelten: Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und ,wissen‘ wolle. ,Ist es wahr, dass der liebe Gott berall zugegen ist?‘ fragte ein kleines Mdchen seine Mutter: ,aber ich finde das unanstndig‘ – ein Wink fr Philosophen! Man sollte die S c h a m besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat. (FW, Vorrede zur zweiten Ausgabe, 4)
Nach dem Tode Gottes tut es also not, Abschied zu nehmen nicht nur von Metaphysik, Wissenschaft, Moral und christlicher Religion, die alle auf dem
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gestorbenen Gott beruhten und mit ihm unzertrennlich verwachsen waren, sondern auch, und zwar vor allem, vom Willen zur Wahrheit als dem tragenden Grund dieses gesamten Gefges. Um sich der Aufgabe einer anderen und hçheren Geschichte gewachsen zu zeigen, muss der Mensch an der Schwelle zu ihr zunchst zum großen Entsagenden werden: „Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwhrenden Sieg ber uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.“ (N 1881, KSA 9, 12[9]) Das gewaltige Ausmaß dieser Entsagung lsst Nietzsche in dem bekannten Aphorismus der Frçhlichen Wissenschaft unter dem Titel „Excelsior !“ (FW 285)12 zum Ausdruck kommen. Danach wird der wirklich entsagende Mensch nie mehr „im endlosen Vertrauen ausruhen“ wollen. Er versagt es sich, „vor einer letzten Weisheit, letzten Gte, letzten Macht stehen zu bleiben“. Er hat „keinen fortwhrenden Wchter und Freund fr [s]eine sieben Einsamkeiten“. Fr ihn gibt es „keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr“, wie es fr ihn auch „keine Vernunft in dem […], was geschieht“ und „keine Liebe in dem, was [ihm] geschehen wird“, gibt. Seinem Herzen „steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat“. Ohne Zçgern muss er bereit sein, sich mit voller Entschiedenheit „gegen irgend einen letzten Frieden“ zu wehren. Woher nimmt der Mensch die Kraft zu einer solchen letzten, fast bermenschlich scheinenden Entsagung? Es kçnnte sein, dass schon die in dieser Form gestellte Frage irrefhrend ist. Denn hier geht es um kein einfaches kausales Verhltnis, sondern eher um eine Kreisbewegung der gegenseitigen Bedingung und Wechselwirkung. Nach der Vermutung Nietzsches soll diese Entsagung selbst, genommen in ihrer gleichsam keimhaften, erst ansetzenden Form, eben das sein, aus dem der Mensch die nçtige Kraft zu deren voller Entfaltung schçpft. Erst im langsamen Wachsen der Kraft zur Entsagung wchst in ihm auch die Ahnung von der in seinem Inneren verborgen liegenden, unbewussten und kaum geahnten „wundervolle[n] Kunst und Kraft, Gçtter zu schaffen“ (FW 143). Eben das soll der Sinn der rtselhaften und andeutenden Stze sein, mit denen der Aphorismus schließt: Es giebt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer hçher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer hçher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott a u s f l i e s s t . (FW 285) 12 Wo nicht anderes vermerkt, stammen die folgenden Zitate aus FW 285.
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Auf die fast verzweifelte Frage des „tollen Menschen“, welche Shnefeiern und heiligen Spiele die Menschen, diese Mçrder aller Mçrder, unter deren Messer das Heiligste und Mchtigste, was die Welt bisher besaß, verblutet ist, erfinden mssen, um dieses Blut von sich abzuwischen, glaubt Nietzsche eine einzige Antwort geben zu kçnnen: – die Kunst: „Mord der Morde! Wir erwachen als Mçrder! Wie trçstet sich ein solcher? Wie reinigt er sich? Muss er nicht der allmchtigste und heiligste Dichter selber werden ?“ (N 1881, KSA 9, 12[77]) Hier ist wieder daran zu erinnern, dass Nietzsche unter ,Kunst‘ etwas ganz anderes versteht, als es blicherweise der Fall ist. Wie gesagt, ist sie fr ihn vor allem eine Gott schaffende Kraft, eine spielerisch-schaffende Fhigkeit zur „Erfindung von Gçttern, Heroen und Uebermenschen aller Art“ (FW 143). Wenn die Menschheit nach dem Tode Gottes das schreckliche Verhngnis der wachsenden Entfremdung, Erkaltung, Barbarisierung und letztlich der ußersten kosmischen Vereinsamung vermeiden will, kann dies nur durch eine solche Kunst gelingen. Denn eines steht fr Nietzsche fest: „Ohne die Vorstellung anderer Wesen als Menschen sind bleibt alles Kleinstdterei, Klein-Menschelei.“ (N 1881, KSA 9, 12[7]) Daher kommt alles darauf an, „die Wissenschaf t unter der Optik des Knstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens…“. (GT, Versuch einer Selbstkritik 2) Die Kunst verstanden und gebt als die Gçtter schaffende Kraft erweist sich als der einzige Weg aus dem Leerlauf einer wesentlich gestorbenen Geschichte, in der das echte Leben unter dem unbedingten Zwang des Willens zur Wahrheit unwiederbringbar verloren zu sein scheint: Die Kunst und nichts als Kunst! Sie ist die große Ermçglicherin des Lebens, die große Verfhrerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig berlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.“ (N 1888, KSA 13, 17[3]2)
Vor der verfhrerischen und gefhrlichen Radikalitt seines Denkens muss Nietzsche nicht durch uns bewahrt werden, weder dadurch, dass das Eigentmliche seiner Philosophie einer scheinbar von aller Metaphysik gereinigten Wissenschaft noch dadurch, dass es einem sich nchtern zu nçtigen nderungen bereit erklrenden Christentum angepasst wird.13 Denn 13 Vgl. Eugen Biser, Nietzsche. Zerstçrer oder Erneuerer des Christentums? Darmstadt 2002, wo es schon im Vorwort (ebd. S. 1) heißt, dass fr Nietzsche „ein Christentum jenseits seiner dogmatischen Festlegungen und seiner moralischen Selbstdarstellung noch jederzeit mçglich“ ist. Viel differenzierter darber Picht, Nietzsche, S. 214 u. pass.
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der letzte Grund beider, sowohl der Wissenschaft als auch des christlichen Monotheismus, ist der Wille zur Wahrheit, den Nietzsche – wie diese Erçrterung von Anfang an nachzuweisen versucht hat – als „vielleicht die grçsste Gefahr der bisherigen Menschheit“ (FW 143) erkennt. Das Christentum mit seinem wesentlich moralischen, d. h. guten, versçhnlichen, mitleidigen und wahrhaftigen Gott, hngt notwendig und aufs Engste mit Metaphysik, Wissenschaft und Moral zusammen. Nun hat Nietzsche in alledem die gleiche „Gefahr der Gefahren“ gesehen, einen „Verlangen in‘s Nichts, an‘s Ende, in‘s Ausruhen“. Oder, mit anderen Worten, einen mehr oder weniger verborgenen „‘Wille[n] zur Verneinung des Lebens‘“, daher auch den „Anfang vom Ende“. (GT, Versuch einer Selbstkritik 5) Es hieße ihn nicht zu verstehen, oder, was noch schlimmer wre, ihn bçsartig umdeuten zu wollen, wenn jenes, was er dem Willen zur Wahrheit entgegenzusetzen bestrebt war, im Unbestimmten gelassen und damit gleichsam methodisch berhçrt wrde: Wir Wenigen oder Vielen, die wir wieder in einer e n t m o r a l i s i e r t e n Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die Ersten, die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist: sich h ç h e r e Wesen als der Mensch ist, vorstellen mssen, aber diese Wesen jenseits von Gut und Bçse; alles Hçher-sein auch als Unmoralisch-sein abschtzen mssen. Wir glauben an den Olymp – und nicht an den ,Gekreuzigten‘… (N 1888, KSA 13, 16[16]).
Genealogie der Wissenschaft. ber das Verhltnis von Philosophie und Wissenschaft bei Nietzsche Annamaria Lossi Und was hilft aller Positivismus und das entschlossene Kniebeugen vor den „petits faits“! Man leidet in Paris wie an kalten Herbstwinden, wie an einem Frost großer Enttuschungen, als ob der Winter kommt, der letzte, endgltige Winter – und die Besten und Tapfersten, wie jener brave Guyau, zittern und schaudern dabei, auch wenn sie eine noch so gute Miene zu ihrem „positivisme“ machen: wer glaubt es ihnen, wozu sie uns mit Ironie berreden mçchten, daß jenes Zittern und Schaudern noch zu den Re i z e n und Verfhrungsknsten des Lebens gehçre? Freilich: „das Schaudern ist der Menschheit s c h ç n s t e r Theil“ – das hat Goethe gesagt, und Goethe – durfte es sagen! (N 1885, KSA 11, 35[34])
1. Setzt man sich Nietzsches „Philosophie der Wissenschaft“ zum Thema, befasst man sich automatisch mit seiner Philosophie im Ganzen. Denn genauer besehen lassen sich die Aspekte seines Denkens nur schwer voneinander trennen. Es kann hier also weder um isolierte Analysen noch um eine Philosophie der Wissenschaft im strengen Sinne gehen. Was man jedoch behaupten kann ist, dass die innere Verflochtenheit seines Philosophierens ein verstecktes Ziel enthlt: das Leben. Statt einer expliziten Wissenschaftskritik wird der Leser also vielmehr dies bei Nietzsche finden: die Frage nach der Bedeutung der Wissenschaft fr das Leben. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass und wie Nietzsches „Philosophie der Wissenschaft“ die Frage nach dem Wert der wissenschaftlichen Erkenntnis fr das Leben aufgreift. Anders formuliert gibt diese Problem-
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stellung Anlass dazu, die Frage nach der Weise zu verstehen, wie sich bei Nietzsche Werden und Sein, d. h. das Leben und die Versuche seiner Deutung, zueinander verhalten oder verhalten kçnnen. Danach gehçrt der wissenschaftliche Erkenntniswert unmittelbar in das Verstndnis des Lebens. Wenn dem so ist, lsst sich auch leicht verstehen, dass es bei Nietzsche gerade nicht um eine Philosophie der Wissenschaft als Kritik im kantischen Sinne bzw. als Aufweis der Grenzen der theoretischen Vernunft geht, mit dem Ziel, von hier aus zu bestimmen, was der wissenschaftlichen Objektivierbarkeit zugehçrt und was nicht. Die Perspektive Nietzsches, aus der die ganze Problemkonstellation der Wissenschaft zu entfalten ist, ist eben eine philosophische im Sinne einer grundstzlichen Besinnung auf das Wissen berhaupt. ber Kants philosophische Erwartungen und Entzweiungen hinaus weisen Nietzsches Analysen der Wissenschaft und der Mçglichkeitsbedingungen der Erkenntnis auf einen umfangreicheren Horizont, in dem sie vor allem mit seinen Gedanken zur Kunst auf enge Weise verbunden erscheinen. Das Netz der Andeutungen und Bilder, die Nietzsche in seinem gedanklichen Gebude zum ,Willen zur Macht‘ entfaltet, lsst sich nur andeutungsweise auf die fr das 20. Jahrhundert typische kritische Debatte um die Wissenschaft und ihre Grundlagen zuspitzen, von der aus zu einer Widerlegung bzw. Entkrftung des wissenschaftlichen Anspruchs – im Sinne von Heideggers Technikanalyse oder Gadamers radikaler Kritik am „Wissenschaftsbegriff“ im Falle der Geisteswissenschaften – zu gelangen ist. Eine solche, gegen die Wissenschaft als Paradigma des Weltzugangs gerichtete Einstellung ist in Nietzsches Ansatz zweifellos in nuce enthalten. Er macht eine Prozessualitt geltend, die vielen heutigen Kritikern an der wissenschaftlichen Einstellung entgegenkommt. Auch die Einseitigkeit und Begrenztheit des wissenschaftlichen Erkenntnismodells von Welt und Mensch werden bereits von ihm ans Licht gebracht. Es geht Nietzsche jedoch darum, das Wissen als eine ebenso vielschichtige wie nachhaltige Interpretation des Lebens im Ganzen in Frage zu stellen und als solche in ihrem Verhltnis zur Philosophie zu beleuchten. In diesem Sinne werden wir hinsichtlich einer „Philosophie der Wissenschaft“von einer „genealogischen Hermeneutik“ der Wissenschaft bei Nietzsche sprechen. Im Folgenden wird gezeigt, wie Nietzsche durch den Rekurs auf eine, rckblickend ebenfalls genealogisch1 geprgte, Destruktion den Abbau des 1
Zur Bedeutsamkeit der Genealogie in Nietzsches Kontext schreibt Foucault: „Faire gnalogie […] de la connaissance ne sera jamais partir la quÞte de l’origine, […] ce sera au contraire s’attarder aux mticulosits et aux hasards des commencements“
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sein Zeitalter beherrschenden positivistischen Wissenschaftsverstndnisses durchfhrt. Es geht dabei weniger um die Erhellung eines dem aktuellen Wissensstatus zugrunde liegenden Ursprungs von Wahrheit, als vielmehr darum, die innere Vielschichtigkeit einer historisch wie hermeneutisch verstandenen Kontingenz des Wissens zu beleuchten. Es wird daher im Weiteren auf folgende Punkte eingegangen: 1. Das Verhltnis Kunst-Wissenschaft 2. Philosophie und Wissenschaft: amor fati versus amor vitae 3. Nietzsches Perspektivismusbegriff versus den die Wissenschaft beherrschenden Relativismus 4. Nietzsches „Philosophie der Wissenschaft“ als genealogische Hermeneutik der Wissenschaft
2. Das Verhltnis Kunst-Wissenschaft Zunchst lsst sich sagen, dass Nietzsches Verhltnis zu Kunst und Wissenschaft nicht ausschließend zu verstehen ist. Es geht um kein Aut-Aut zwischen Kunst und Philosophie, als htte er in den ersten Jahren seiner Lehrttigkeit als Altphilologe eine Neigung zur Kunst gehabt, die dann zur Geburt der Tragçdie gefhrt htte, und dann, whrend der sogenannten „Aufklrungsphase“, die Wissenschaft als den wahren Zugang zur Lebensdeutung entdeckt. Nietzsche selbst behauptet in dem nachfolgenden Versuch einer Selbstkritik gerade in Bezug auf die Geburt der Tragçdie: „Was ich damals [1872] zu fassen bekam, [war] etwas Furchtbares und Gefhrliches, […]: heute [1886] wrde ich sagen, dass es das Problem der Wissenschaf t selbst war – Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwrdig gefasst.“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 2) Kunst und Wissenschaft gehçren zusammen und in die gleiche Vielfalt der Interpretationen, die sich auf das Leben richten, da „die Wissenschaft unter der Optik des Knstlers zu sehn“ sei (ebd.). Das bedeutet gerade nicht, die Kunst umwillen der Wissenschaft aufzugeben. Nietzsche wehrt sich vielmehr gegen die Entzweiung von Wissenschaft und Kunst als getrennte Bereiche des Wissens. Der Unterschied zwischen dem Knstler und dem Wissenschaftler besteht in einer Weisheit, die der Knstler zu verstehen gibt, indem er versucht, an der Verhllung der Wahrheit festzuhalten. Bereits in (Michel Foucault, Nietzsche, la gnalogie, l’histoire, in: S. Bachelard (Hg.), Hommage Jean Hyppolite, Paris 1971, S. 145 – 172, S. 150).
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der Geburt der Tragçdie wird der Knstler als ein Vermittler der Wahrheit beschrieben, insofern er sich dessen bewusst ist, dass „auf diesem directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen“ ist. Die Suche nach dem, was sich dem Menschen entzieht, fhrt ihn auch zu den „wissenschaftlichen“ Entrtselungen: Die „Enthllung“, die dem Wissenschaftler gelingt, kann nur ein „edles Gestein oder Naturgesetze […] entdecken“, anstatt das Antipodenziel zu erreichen (GT 15, KSA 1, S. 98 f.). Wie bekannt, geht die Erneuerung des Denkens beim jungen Nietzsche Anfang der 1870er Jahre die ersten Schritte mit Wagners Musikdrama und Schopenhauers Philosophie. Wagner und Schopenhauer stellen das erste Paradigma des neuen, von Nietzsche ersehnten Philosophierens dar. Es ist aber ebenso bekannt, dass der naive Traum, durch Wagners Musik die griechische Tragçdie wiederherstellen zu kçnnen, scheitern wird. Wenn auch einerseits die Griechen ihre Stellung in Nietzsches Denken nie verlassen werden, so kann man andererseits mit gleichem Nachdruck behaupten, dass sich eine fortschreitende Entfremdung der Kunst2 aus Nietzsches Voraussetzungen der Philosophie beobachten lsst. Zwar wird, etwa in Menschliches Allzumenschliches I, von einer „Auflçsung der Kunst“ gesprochen: „[Sie] streift dabei – was freilich hçchst belehrend ist – alle Phasen ihrer Anfnge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden.“ (MA I 221, KSA 2, S. 180) Das heißt aber gerade nicht, dass Nietzsche die Kunst missachtet oder dass er ihre große metaphysische Aufgabe nicht mehr sieht. Eine der sptesten Notizen des Nachlasses, die Colli und Montinari auf Mai-Juni 1888 datiert haben, erhebt noch einmal Anspruch auf die Unentbehrlichkeit der Kunst fr das Leben und weist darauf hin, dass die Kunst „[d]ie große Ermçglicherin des Lebens, die große 2
Zahlreiche Interpreten haben das neue Verhltnis zur Kunst als radikalen Bruch gedeutet; parallel dazu wurde Nietzsches neue Wendung zur Wissenschaft als eine konsequente Ablehnung seiner frheren Kunstauffassung (Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, 5. Auflage, Stuttgart 1986, S. 42 ff.) angesehen. Unter den maßgeblichen Beitrgen, die diesen Aspekt ausfhrlich behandelt haben, und um die Kontinuitt in Nietzsches Kunstdeutung herauszustellen, weisen wir hin auf: Gnter Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einfhrung, Stuttgart 1999, vor allem S. 120 – 130, wo er den spteren Selbstvorwurf Nietzsches, die klassische Tragçdie durch Wagners Musikspiel wieder ins Leben rufen zu wollen, einfach als ein „Verlieren der Naivitt“ und „Erwachsenwerden“ von Nietzsches Denken ansieht (ebd., S. 122); sowie Carlo Gentili, Nietzsche, Bologna 2001, der Eugen Finks These von der „vçlligen Umkehrung“ (Fink, Nietzsches Philosophie, S. 43) von Nietzsches erster Periode widerlegt (Gentili, Nietzsche, S. 155 ff.).
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Verfhrerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens“ sei (N 1888, KSA 13, 17[3]). Durch Nietzsches Worte mçchte ich auf zweierlei aufmerksam machen. Zunchst darauf, dass die Besinnung auf die Kunst auch in den spteren Werken und Gedanken noch vorkommt, sowie darauf, dass das sthetische auch spter noch die Zge eines offenen Verhltnisses zwischen Kunst und Philosophie und Kunst und Wissenschaft aufweist, weshalb sich Nietzsches Denken ohne das sthetische nicht angemessen verstehen lsst.3 Der Rekurs auf die Kunst bedeutet bei Nietzsche keineswegs eine bloße nostalgische Spur seiner originellen Gedanken ber die Griechen; der Knstler stellt vielmehr eine Ausgleichs- und Gegenfigur zum Wissenschaftler dar. Denn das Enthllungsstreben des Wissenschaftlers bleibt gegen seinen ersten Anschein statischer als die Stellungnahme des ,ekstatischen‘ Knstlers, der sich innerhalb der Phnomenalitt des Werdens aufhlt. Durch die Aufstellung der komplementren Figuren des Knstlers und des Wissenschaftlers gelingt es Nietzsche, eine „tragische Erkenntnis“ zu konzipieren. Die Wissenschaft eile „von ihrem krftigen Wahne angespornt unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert“. An diesen Grenzen ringle sich die Logik um sich selbst, und endlich beiße sie sich in den Schwanz: „[D]a bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.“ (GT 15, KSA 1, S. 101) Die Weisheit4 der Doppelnatur des Wissens als Wissenschaft und Kunst ist ein Wesenszug des neuen Philosophen, den Nietzsche als freien Geist bezeichnet. Er symbolisiert diejenige Form von „Aufklrung“, die sich als kein die Macht der Vernunft entdeckender neuer Gedanke darstellt, sondern eher als Einbezug der Doppelnatur der Vernunft als logischer und zugleich schaffender, die wissenschaftliche Logik nicht einschließender Vernnftigkeit. Mit einem Bild lsst sich die doppelte Natur des Schçpferischen und des Logischen derart verstehen, dass die positivistische Logik mit einer „Schwere“des Seins verbunden bleibt, die nach dem Zarathustra den „letzten Menschen“ charakterisiert, whrend die Kunst durch das von ihr in den 3
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Wie bei Platon ist auch die Kunstauffassung Nietzsches nicht an rein sthetische, d. h. der Kunst fr sich zugeordnete berlegungen gebunden, sondern weist auf diejenigen Weisen der philosophischen Selbstverstndigung hin, die fr eine innere Erneuerung der erkrankten, durch die Sophistik verwirrten Philosophie notwendig geworden sind. Nietzsche begreift die Weisheit als unlogisch, dem Leben verbunden, als „unbedingte Wichtigkeit, welche man seiner Seele beilegt“ (Vgl. N 1875, KSA 8, 6[4]).
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Vordergrund gebrachte Schçpferische in eine „Leichtigkeit“ und einen Aufstieg des Geistes befreit. Im Rckgang auf die Griechen zeigt Nietzsche diese Umkehrung von Schçpfung und Logik und damit sein Wissenschaftsverstndnis paradigmatisch auf. In Bezug auf Sokrates ist von einer Umdrehung von „Instinkt“ bzw. Schçpfung und „Bewusstsein“ bzw. Kritik die Rede: „Whrend doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schçpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebrdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schçpfer – eine wahre Monstrositt per defectum!“ (GT 13, KSA 1, S. 90) Das moderne Denken, das seine Identitt im sokratischen anthropos theoretikos verwurzelt, spaltet die Welt in zwei Horizonte und bestimmt die nun voneinander getrennten Ebenen als Theorie bzw. bersinnliches und Leben bzw. Sinnliches. Die „Monstrositt per defectum“ kommt dadurch zustande, dass das, was frher als schçpferische Ebene erschien, nun als „Instinct“ nachtrglich zum Menschsein hinzutritt, wohingegen das, was vor Sokrates als eine nachtrgliche und erst zu gewinnende Fhigkeit des Menschen galt, nmlich die Dialektik, nun an ihre Stelle tritt. Die von Nietzsche so prgnant vollzogene Umkehrung zielt darauf ab, die Selbstverstndlichkeit einer theoretisch gewordenen Welt, wie sie in der Logik der Wissenschaft auftritt, zu destruieren. Er strebt nach der Befreiung des Denkens,5 das unter dem Namen ,Platonismus‘seit Jahrhunderten dem Joch der Rationalisierung und Logisierung des Lebens unterworfen ist und mit den positivistischen Wissenschaften erneut zur Geltung kommt.
3. Philosophie und Wissenschaft: amor fati versus amor vitae Welche Rolle spielt die Philosophie in dieser Umdrehung? Die Konsequenzen eines durch die Triebe zur Wahrheit und Moral in die moderne Wissenschaft einmndenden Wissens gehen die Philosophie in einer doppelten Weise an: Zum einen als erluterungsbedrftige Themen, auf die die Philosophie Anspruch erheben sollte. Zum anderen weist die Philosophie sie als dominierende Tendenzen der Kultur auf, sofern das moderne Denken die Wissenschaft als das Modell des gelingenden Lebens an die Stelle der Philosophie gesetzt hat. Die Philosophie hat in der Moderne ihren Grundlegungsanspruch verloren. Die Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen 5
Zum Befreiungsanspruch der Dialektik bei Nietzsche vgl. Annamaria Lossi, La dialettica in Nietzsche. Schiavit e liberazione, in: Teoria 2003/1, S. 127 – 137.
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Forschung und die von hier durchgesetzten Wahrheitsmodelle werden von der Wissenschaft bernommen. Sowohl das Natrliche als auch das Geistige6 werden jeweils unter den Namen „Naturwissenschaft“ oder „Geisteswissenschaft“ an einem Forschungsmodell gesichert, das als solches fr ihr methodologisches Verfahren und fr die Objektivitt der Ergebnisse brgen soll. Der wissenschaftliche met-hodos beherrscht auch die Wege von ursprnglich nicht „wissenschaftlich“ geprgten Themen. Dennoch haben sie damit einen Status erlangt, der die Glaubwrdigkeit ihrer Untersuchungen gewhrleistet. Der Terminus „wissenschaftlich“ ist maßgeblich auch in die alltgliche Sprache eingedrungen und wird in allen Kontexten zunehmend mehr gebraucht (und verbraucht), immer mit dem nicht expliziten Ziel, sich Ernsthaftigkeit, Objektivitt, Stabilitt und die damit verbundene Kompetenz zu sichern, die durch keine andere Bestimmung gleichwertig vergeben werden kçnnte. Auf den nihilistischen Status einer auf solche Weise ,apathisch‘ verfahrenden Wissenschaft7 ist Nietzsche immer wieder eingegangen; so erlutert er im Hauptstck Wir Gelehrten von Jenseits von Gut und Bçse (1886), inwiefern der wissenschaftliche Vorrang eine Bedrohung fr die Philosophie darstellt und als Gefahr verstanden werden muss:
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Vor allem Gadamer ist auf dieses Thema eingegangen, insofern er die Geisteswissenschaften wegen ihres strukturellen Selbstverstndnisses, das heißt dem, „Wissenschaft“ sein zu wollen, kritisiert hat. Die Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften habe berhaupt nur dann einen Sinn, wenn es etwas Gemeinsames gbe. Und dieses Gemeinsame sei die Voraussetzung: sie seien beide Wissenschaften. Auch Figal setzt sich damit auseinander und erlutert diese gadamersche These in seinem Buch Gegenstndlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tbingen 2006. Nach Gadamer sei diese Voraussetzung der Wissenschaftlichkeit eher problematisch, weil die Geisteswissenschaften ihren Wissenschaftsbegriff gar nicht originr besitzen, sondern von den Naturwissenschaften bernommen haben. Gadamers berzeugung sei, dass die Geisteswissenschaften keine Wissenschaften sind, wenn man die Wissenschaftlichkeit an den Methoden und Begriffen der modernen Wissenschaft orientiert versteht. Die Geisteswissenschaften sind nicht methodisch, das heißt sie folgen nicht wesentlich einem Verfahren, das auf die systematische Erschließung eines Gegenstandsbereiches und die Sicherung der gewonnenen Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt der Gewissheit ziele. Es geht den Wissenschaften darum, ein mçglichst verlssliches Verfahren zu finden, durch das die Gegenstnde, die durch dieses Verfahren erschlossen werden sollen, tatschlich erschlossen werden kçnnen. Im Anschluss an Nihilismus und moderne Wissenschaft bei Nietzsche vgl. auch Cathrin Nielsen, berwltigte Natur. berlegungen zum Gesicht des Nihilismus im Anschluss an Nietzsche, in: Harun Maye und Hans Rainer Sepp (Hg.), Phnomenologie und Gewalt, Wrzburg 2005, S. 64 – 81.
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[…] nachdem sich die Wissenschaft mit glcklichstem Erfolge der Theologie erwehrt hat, deren „Magd“sie zu lange war, ist sie nun in vollem bermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie Gesetze zu machen und ihrerseits einmal den „Herrn“ – was sage ich! den P h i l o s o p h e n zu spielen. (JGB 204, KSA 5, S. 129 f.)
Was kann hier unter „Wissenschaft“ verstanden werden? Welches Modell von Wissen nimmt Nietzsche auf, wenn er von „Wir Gelehrten“ spricht? Und ist ein anderes Verhltnis zwischen Philosophie und diesem Modell von Wissenschaft mçglich? Nietzsches Stellung gegenber der Wissenschaft lsst sich mit einer Kritik an der heutigen Philosophie verbinden. Die Wissenschaft ist zum Modell des Wissens par excellence geworden, weil sich die Philosophie eine Form der bloßen Gelehrsamkeit, eines leeren Wissens, wie man mit Nietzsche provozierend behaupten kçnnte, angeeignet hat. Das niedrige Niveau der modernen philosophischen Bildung geht nach Nietzsche mit dem sich steigernden Vorrang der Wissenschaft zusammen, da „die Selbstverherrlichung und Selbstberhebung des Gelehrten heute berall in voller Blthe und in ihrem besten Frhlinge“ steht (JGB 204, KSA 5, S. 129). Genauer besehen ist das wissenschaftliche Modell mit demjenigen der Naturwissenschaften und ihrer kulturellen Kurzsichtigkeit verbunden. Nietzsches Einwand einerseits gegen die mechanistischen Naturforscher und andererseits gegen die modernen Philosophen, die er als „WirklichkeitsPhilosophen“ oder „Positivisten“, insgesamt als „Mischmasch-Philosophen“, bezeichnet, betrifft einen allgemeinen Tadel am begrenzten Horizont ihrer Interpretationen und ihrem unhinterfragten Glauben „an eine ,Welt der Wahrheit‘, […] [die] eine der dmmsten, das heisst sinn-rmsten aller mçglichen Welt-Interpretationen“ (FW 373) ist. Eine „Welt der Wahrheit“ ist durch einen Horizont charakterisiert, in dem die Natur des „vieldeutigen Charakters“ des Daseins verarmt und missverstanden ist, und wo die Dinge nicht mehr in ihrer Vollstndigkeit erfahren werden bzw. sich nicht als solche manifestieren kçnnen. Die Welt mit den Augen der „viereckigen kleinen Menschenvernunft“ zu betrachten, heißt nach Nietzsche, etwas nicht zu erkennen, sondern lediglich erstarren zu lassen, womit „das Dasein zu einer Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei fr Mathematiker herab[ge]wrdigt“ wird (FW 373). Diese Einstellung gegenber der Wissenschaft und ihrer Kurzsichtigkeit soll nun in den Vordergrund gestellt werden. Sie betrifft nmlich Nietzsches eigenes Philosophieren sowie die Philosophie berhaupt. Das Gegenbild einer rein wissenschaftlich geordneten Welt, die die Vieldeutigkeit des Daseins, sein nicht logisierbares Wesen negiert und auf eine mathematische
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Gleichung zu reduzieren versucht, ist das Bild der Wissenschaft zur Zeit der Technik und der Moralitt als den platonistischen Formen der Kultur. Der Vorrang vor allen anderen Wissensformen wird nicht zuletzt durch die philosophische dcadence erhellt, die Nietzsche als eine Philosophie der Epigonen beschreibt. Aufgrund der Unfhigkeit der modernen Philosophie blht, so Nietzsche, die Wissenschaft, die „das gute Gewissen reichlich im Gesichte“ hat und zeigt, wohin die „neuere Philosophie allmhlich gesunken“ ist: Philosophie auf „Erkenntnisstheorie“ reduzirt, thatschlich nicht mehr als eine schchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine Philosophie, die gar nicht ber die Schwelle hinweg kommt und sich peinlich das Recht zum Eintritt v e r w e i g e r t – das ist Philosophie in den letzten Zgen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht. Wie kçnnte eine solche Philosophie – h e r r s c h e n ! (JGB 204, KSA 5, S. 131 f.)
Die Reduktion der philo-sophia auf „Erkenntnistheorie“ lsst nach Nietzsche die grçßte Gefahr des Philosophen in Sicht kommen: die „Spezialisierung“ des Wissens, die nicht nur die Wissenschaften charakterisiert, sondern zuerst den Philosophen, „so dass [der Philosoph] gar nicht mehr auf seine Hçhe, nmlich zum berblick, Umblick, Niederblick kommt“ (JGB 205). Diese auf den ersten Blick nur spçttische Behauptung vermag doch die Charakteristika einer „herrschenden“ Philosophie sichtbar zu machen. Als eine solche htte sie ja durch ihre theoretischen und ihrer Perspektivitt bewussten Augen die notwendige Einsicht, ihre eigenen Nicht-Fundamente infrage zu stellen, sie umwandelnd und umkehrend immer neue Interpretationsperspektiven erschließen zu lassen und deshalb einen immer grçßeren und weiteren Blick auf das Ganze zu werfen. Die Wissenschaften hingegen betrachten ihre Objekte, um eine Antwort auf ihre jeweils gleiche Frage Warum? zu finden. Wissenschaftler und moderne Philosophen teilen nach Nietzsche eine hnliche Grundhaltung: Die Gelehrten berhaupt, heißt es in der Frçhlichen Wissenschaft, drfen [d]ie eigentlichen g r o s s e n Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen […]: zudem reicht ihr Muth und ebenso ihr Blick nicht bis dahin, – vor Allem, ihr Bedrfniss, das sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wnschen, es mçchte s o u n d s o beschaffen sein, ihr Frchten und Hoffen kommt zu bald schon zur Ruhe, zur Befriedigung. (FW 373)
Die Wissenschaft kann aber die Philosophie in ihrer Aufgabe, der Suche nach der Wahrheit, nicht vertreten. Selbst wenn Nietzsche unter „Wahrheit“ kein ewiges Paradigma versteht, dem die Welt entsprechen soll, sondern die verwandelnde Kraft des Perspektivischen als Lebensbedingung hervorhebt,
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kann man doch nicht behaupten, dass er auf die „Wahrheit“ als Lebensbedingung verzichtet.8 Sein Streben nach Echtheit, der Versuch, die Komplexitt an den Dingen hervorzuheben, statt sie naiv zu simplifizieren, lsst sich als die anspruchsvolle Aufgabe der Philosophie ansehen, eine ethische Entscheidung im Sinne einer stets neuen Herausforderung des Lebens in sich zu versammeln. Wie kann man dann den Wahrheitsanspruch der Philosophie im Sinne Nietzsches von dem der Wissenschaft unterscheiden? Gehen wir einmal davon aus, dass die Wissenschaft und die Moral zuletzt das gleiche Ziel haben, nmlich das der menschlichen Selbsterhaltung. Der Erhaltungstrieb ist hier als ab-solut zu verstehen, da er in aller Un-bedingtheit von Milieu, Kunst und Natur, ja von den Perspektiven der Interpretation berhaupt abgelçst gedacht wird. Ein derart verabsolutisiertes, sich dem – von Nietzsche ,Wille zur Macht‘ genannten – Grundgeschehen entziehendes Ziel wird zum Mythos, zur Sublimation des Naturtriebes selbst, der sich stets auf einen „Intellekt“9 beruft und damit vom Leben immer mehr entfernt. In Religion und Wissenschaft ist der Erhaltungstrieb zum Gegensatz des Lebens geworden, weil beide ihn zur absoluten Wahrheit machen und damit das ursprngliche, tatschlich unberwindbare Chaos negieren. Nehmen wir den genealogischen Bezug von Wahrheit und Chaos bei Nietzsche ernst, bleibt zu fragen, wie das Chaos hermeneutisch zu verstehen ist.10 Die Antwort lautet: als der ewige Streit der Interpretationen. Wenn die positivistische Wissenschaft das Chaos negiert, heißt das, dass sie nach einer Ordnung sucht, die sich als die Wahrheit ber alle anderen stellt. Da der Positivismus die Wissenschaft zum einzigen gltigen Erkenntnismodell erhoben hat, verliert diese gerade ihren Anspruch auf Gltigkeit und Wahrheit. Sie wird zur Lge und Tuschung des Lebens, weil sie sich nicht mehr als nur eine seiner mçglichen Interpretationen zu verstehen vermag. Nur in einer Mehrzahl von Perspektiven erschließt sich die Mçglichkeitsbedingung einer wahrhaften 8 „Wa h r h e i t i s t d i e A r t v o n I r r t h u m , ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben kçnnte“ (N 1885, KSA 11, 34[253]). 9 „Der Erhaltungstrieb oder die Liebe zum Leben ist entweder etwas ganz Bewußtes oder nur ein unklares irrefhrendes Wort fr etwas anderes: daß wir der Un l u s t entgehen wollen, auf alle Weise, und dagegen nach Lust streben. Diese universale Thatsache alles Beseelten ist aber jedenfalls keine erste ursprngliche Thatsache, wie es Schopenhauer vom Willen zum Leben annimmt: – Unlust fliehen, Lust suchen setzt die Existenz der Erfahrung und diese wieder den Intellekt voraus. -“ (N 1877, KSA 8, 23[12]). 10 Dazu ausfhrlicher Annamaria Lossi, Nietzsche und Platon: Begegnung auf dem Weg der Umdrehung des Platonismus, Wrzburg 2006.
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Wissenschaft, weil sich nur in einer solchen Mehrdeutigkeit von ,Wille zur Macht‘ sprechen lsst. Daran ist auch Nietzsches Bewertung der Kunst und ihrer Funktion geknpft: Erhebt die positivistische Wissenschaft den Anspruch, die Wahrheit zu besitzen, offenbart sie ihren missdeutenden Charakter: ihren Mangel an Stil, d. h. an sthetisch verstandener Perspektivik, die sie als Wissenschaft zuallererst erkennen sollte. Eben dies ist der zentrale Einwand Nietzsches gegen die moderne Wissenschaft: sie gereicht dem Leben selbst zum Schaden, indem sie alles negiert, was nicht auf den ersten Blick zu dessen Erhaltung beitrgt. Wenn das Leben nach Nietzsche jedoch Schicksalsbejahung ist, d. h. die Akzeptanz dessen, dass das Leben Irrtmer, Niederschlge, Tuschung usw. bereithlt, liegt es nahe, den echten amor vitae als einen amor fati zu deuten. Insofern sie den Streit zwischen dem Leben und seinen Interpretationen zur Darstellung bringt, gehçrt die Kunst demnach zu den vielfltigen und zum Teil widersprchlichen Motivationen und ußerungen des Menschen, die das Leben einfach bejahen. Kunst ist nach Nietzsche die Darstellung des Chaos, das das Leben selbst ist. Nur eine Wissenschaft, die die Kunst in sich aufnimmt und mit ihr Stil entwickelt, kann dem Leben dienen. Nur dann kann von einem amor fati die Rede sein: […] nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wnschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst ber das Herz lief, – welcher Gedanke mir Grund, Brgschaft und Sssigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schçne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schçn machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hssliche fhren. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Anklger anklagen. We g s e h e n sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! (FW 276)
Das Verhltnis des amor fati zum Leben stellt den fundamentalen Unterschied dar zwischen der Philosophie auf der einen und der Wissenschaft und Moral auf der anderen Seite. Die Philosophie sollte nicht den gleichen Fehler begehen wie die Wissenschaft: eine fiktive Ordnung anzustreben, die die Verneinung des Lebens impliziert. Durch den amor fati kann eine Wahrheit Gltigkeit gewinnen, indem sie sich als eine orientierende Kraft fr das Denken und Handeln zeigt, wie schon Platons Idee des Guten. Man erreicht zwar niemals eine Erkenntnis des Guten an sich, aber es zeigt sich als eine (mçgliche) Orientierung fr das gute Leben. Bei Nietzsche wird deramor fati auch im Sptwerk Ecce Homo nicht als ein bloßes Ertragen, sondern als berzeugung und Bejahung des Lebens um des Lebens willen verstndlich gemacht:
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Meine Formel fr die Grçsse am Menschen ist a m o r f a t i : dass man Nichts anders haben will, vorwrts nicht, rckwrts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen –, sondern es l i e b e n … (EH, Warum ich so klug bin 10).
Die Wahrheit als Wahrhaftigkeit, die die Philosophie antreibt, ist demnach nach Nietzsche nicht nur eine Aufgabe der Philosophie, sondern die grçßte epithymia, der maßgebende appetitus des Philosophen in Namen des Lebens. Die Unfhigkeit der Wissenschaft, die dargestellte Richtung zugunsten des Lebens einzuschlagen, weil sie eine erstarrte Wahrheit favorisiert und so den Reichtum an Interpretationen einschrnkt, so dass die moderne Kultur bzw. Wissenschaft notwendig in Gegensatz zur schaffenden Natur tritt, kann als Folge ihrer Verfallenheit an den Positivismus verstanden werden.
* Noch radikaler geht Nietzsche auf den wesentlichen Unterschied von Wissenschaft und Philosophie ein, wenn er in der Frçhlichen Wissenschaft zu der Unmçglichkeit einer „voraussetzungslosen“ Wissenschaft schreibt: Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es giebt gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft. Die Frage, ob Wa h r h e i t noth thue, muss nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung darin zum Ausdruck kommt „es thut n i c h t s m e h r noth als Wahrheit, und im Verhltniss zu ihr hat alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs“. – Dieser unbedingte Wille zur Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille, s i c h n i c h t t u s c h e n z u l a s s e n ? Ist es der Wille, n i c h t z u t u s c h e n ? (FW 344)
Wie die „Kurzsichtigkeit“ der Wissenschaften, ist auch die „Voraussetzungslosigkeit“, von der Nietzsche spricht, ein Merkmal der modernen Wissenschaft. Diese Aspekte setzen Nietzsche in Kontinuitt mit einer bestimmten philosophischen Tradition, die bei Platon ihren Anfang hat und die die angebliche Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft als diskriminierendes Merkmal zwischen Wissenschaft und Philosophie herausarbeitet. Platons Dialoge sind der Ort, wo die paradigmatische Unterscheidung von Wissenschaft und Philosophie zum ersten Mal auftritt. Der Dialog, Ort des Wechsels von nchterner Begriffsarbeit und mythischer Vision, wo der Verstndnisvollzug des Wissensunterschieds von Philosophie zur Wissenschaft verdeutlicht wird, ist die Politeia. Die Neigung zum Wissen, heißt es
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hier,11 ist nicht als ein zu erreichendes Ziel zu betrachten, sondern lsst sich vielmehr als ein bestimmter, doch nicht gewisser Weg des Denkens verstehen. Nietzsche strebt nach einer Befreiung des Denkens von den Tuschungen des Rationalismus und Historismus, die zu der positivistischen Weltanschauung beigetragen haben, nach der Umgestaltung des kontemplativen Menschen, der die logisierte Welt unbefragt lsst, als ob die Logik eine Voraussetzung des Denkens berhaupt wre oder sogar die Voraussetzung des Denkens, wie es in der positivistischen Einstellung der modernen Wissenschaft geschieht. Unter diesem Gesichtspunkt benehmen sich die Kontemplativen wie die Geometer im sechsten Buch der Politeia, wo Platon den Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie auf maßgebliche Weise erlutert. Ihre Voraussetzungen (hypothesis) sind auch die Grundlagen jeder Wissenschaft im modernen Sinne: Man fragt nicht nach ihnen, oder besser gesagt, sobald man nach den Voraussetzungen fragt, verlsst man den Rahmen der Wissenschaft. Die Unselbstverstndlichkeit ist das, was hingegen fr die Philosophie konstitutiv ist und sie ausmacht. Keine Wissenschaft prft die Fundamente des eigenen Wissens, und Nietzsche schreibt ganz in diesem Sinne: Es giebt, streng geurtheilt, gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein „Glaube“ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Re c h t auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie „auf streng wissenschaftliche Grundlage“ zu stellen, der hat dazu erst nçthig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber a u f d e n Ko p f z u s t e l l e n . (GM III 24, KSA 5, S. 400)
Der erluterte Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft durch das Thema der Voraussetzungslosigkeit radikalisiert die bereits durch den amor fati und amor vitae hervorgehobene Differenz zwischen beiden. In der Moderne tritt das Streben nach dem Wissen, das die Philosophie ist, wieder in den Vordergrund, z. B. in der Einleitung der Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse Hegels.12 Hier wird behauptet, die Philosophie sei die Wissenschaft als das allein und einzig wahrhafte Wissen. Als solche steht sie allen Einzelwissenschaften als das ganz andere Wissen gegenber. Hegels Ansatz, und noch mehr die platonische Unter11 Platon spricht hier sogar von Begehren: „soph as phsomen pithymetn“ (Resp. 475b). 12 G. W. F. Hegel, Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Bd. 6, Stuttgart 1938, § 1, S. 19.
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scheidung, erlutert Martin Heidegger auf seine Weise, wenn er in seinen Vorlesungen vom Wintersemester 1937/38 radikal behauptet: „Die Wissenschaft denkt nicht.“13 Das „Wesenwissen der Philosophie“ habe „durch ihren stndigen Aufenthalt am schwingenden, selber nicht mehr begrndbaren Anfang ,etwas Schçpferisches‘, gegen das die Begrndung notwendig zu spt kommt.“14 Wenige Jahre spter nimmt Eugen Fink Hegels Grundunterscheidung in seinen Vorlesungen vom Sommersemester 1946 wieder auf, indem er die Differenz zwischen dem der Wissenschaft vorgegebenen Gegenstand und dem nicht vorher bekannten Gegenstand der Philosophie15 aufzeigt. Alles in allem lsst sich sagen, dass smtliche Versuche, der Philosophie eine sich dem herrschenden Wissenschaftsmodell entziehende Definition zu geben, dadurch gekennzeichnet sind, dass sie der Philosophie als Wissen berhaupt einen bestimmenden Grundcharakter zuschreiben, der sie von den Einzelwissenschaften unterscheidet. Nietzsches Wissenschaftskritik geht es darum, die unbewusste Begrenztheit der wissenschaftlichen Perspektive ins Licht zu bringen und diesen Horizont als solchen, d. h. als zeitgebunden und kontingent, zu verstehen. Aufgabe der Philosophie sei dann, diesen Horizont immer von Neuem auszuloten. Um diese Aufgabe besser umreißen zu kçnnen, scheint es sinnvoll, genauer auf die differenzierenden Zge von Nietzsches Perspektivismus und den die Wissenschaft beherrschenden Relativismus einzugehen.
4. Nietzsches Perspektivismus versus Relativismus der Wissenschaft Zunchst einmal lsst sich sagen, dass Nietzsche keinen Weg einschlgt, der das Leben vom Denken ausschließt, sondern eher die Verflechtung beider im Werden hervorhebt. Diese Verflechtung wiederum fhrt zu keiner Relati13 Martin Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewhlte Probleme der Logik, GA 45, Frankfurt a. M. 1984, S. 93 f. 14 Cathrin Nielsen, Die entzogene Mitte. Gegenwart bei Heidegger, Wrzburg 2003, S. 95. 15 „Die Einzelwissenschaften beziehen sich auf Gegenstnde, die vor der wissenschaftlichen Zuwendung schon vorgegeben sind, vorausliegen […]. Die Einzelwissenschaften finden in der thematischen Zukehr zu ihrem Gegenstand diesen schon als vorhanden und bekannt […] als namentlich gekannt in einer vorwissenschaftlichen Kenntnis.“ (Eugen Fink, Einleitung in die Philosophie, Wrzburg 1985, S. 10)
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vierung im Sinne einer Betonung einmal des Werdens, einmal des Seins. Dass von einem Relativismus die Rede sein kçnnte, schließt Nietzsche selber aus. Statt von Relativismus ließe sich von einem sich in der Perspektive und um die Perspektive herum bildenden Denken sprechen. Begriffe wie „Wert“ oder „Wahrheit“ (oder ihre Valenz als Begriffe) werden unter einem bestimmten Blickwinkel und in einem jeweiligen Kontext erçrtert und nicht so gefasst, dass sie zuletzt in eine Gleichgltigkeit der Bestimmungen einmnden. Betrachten wir Nietzsches Denken als ein relativistisches Denken, missdeuten wir den Anspruch seines Philosophierens auf Wahrhaftigkeit und dessen grundlegenden Sprung zu einer Revision und Kritik an der Moderne und deren Kulturformen. In welchem Sinne ist jedoch bei Nietzsche von Relativismus nicht die Rede? Es scheint der Mhe wert, diese Frage eingehender zu untersuchen. Wie bekannt hat sich Richard Rorty im Anschluss an den Pragmatismus besonders eindringlich mit dem Unterschied zwischen Relativismus und Pragmatismus befasst.16 Um das Perspektivische vom Relativistischen unterscheiden zu kçnnen, kann man behaupten, dass der Perspektivismus ethisch und nicht epistemologisch zu verstehen ist. Das soll heißen: Wenn dem „Perspektivismus“ eine ethische Kennzeichnung zukommt, geht es dabei nicht um einen pr-existierenden Objektivismus, der das Spektrum des Realismus’ zu widerlegen vermag. Es ist vielmehr so, dass die eine Phnomenologie der Perspektive konstituierenden Aspekte keinen naiven Realismus ans Licht bringen, sondern sich als Ausgangspunkte des Denkens sichtbar machen lassen, die als kulturell und sprachlich geprgte bereits perspektivisch verfasst sind. Nietzsche zeigt damit, dass gar kein Gedanke mçglich ist, der nicht in eine Perspektive gehçrt. Die Perspektive erschließt jeweils den Weg, auf dem die Dinge begegnen und ins Licht treten, und auf dem sie wiederum die Perspektive selbst als eine solche hervortreten lassen. Diese doppelte, weil von beiden Seiten ausgehende phnomenologische Bewegung des Perspektivischen hat den Sinn einer Untrennbarkeit von Denken und Perspektive: das Denken ist Perspektive.17 Die von Nietzsche entwickelte Kritik am Begriff der Wahrheit sowie die Behauptung, es gebe 16 Richard Rorty, Solidarity or Objectivity?, in: Objectivity, Relativism and Truth. Philosophical Papers Vol. 1, Cambridge 1991; (dt.: Solidaritt oder Objektivitt? Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Stuttgart 1998). 17 Unter den zahlreichen Beitrgen zu einer Deutung des Begriffs der Perspektive bei Nietzsche, vgl. vor allem Volker Gerhardt, Perspektive des Perspektivismus, in: Nietzsche-Studien 18, 1989, S. 260 – 281; Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus. Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, Erster Teil, Tbingen 1990 und Figal, Nietzsche.
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nur Interpretationen,18 lassen sich eher als Willen zum Perspektivismus als Lebensbedingung19 denn als eine bloß relativierende Bestimmung beschreiben. Wrden sie zum Relativismus gehçren, wren alle Perspektiven gleichgltig. Bei Nietzsche verhlt es sich anders, sofern die Perspektiven jeweils einem bestimmten Willen zur Macht entsprechen und ihn somit verkçrpern. Nietzsche zeigt, dass die Existenz des Menschen durch vielfltige Sichtweisen gegliedert wird, die jeweils andere ausschließen mssen, um sich berhaupt als Interpretationen behaupten zu kçnnen. Die Unendlichkeit der Welt, von der Nietzsche in der Frçhlichen Wissenschaft schreibt, entspricht gerade den „unendliche[en] Perspektive[n]“, die unsere eigene, enge Perspektive niemals einzuholen vermag. Eben darin liegt der Unterschied zum Relativismus, nach dem alle Interpretationen bzw. Wertsetzungen einer nivellierenden Gleichgltigkeit unterworfen werden drften.20 Die Welt ist 18 „Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phnomen stehen bleibt ,es giebt nur Thatsachen‘, wrde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir kçnnen kein Factum ,an sich‘ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ,Es ist alles subjektiv‘ sagt ihr: aber schon das ist A u s l e g u n g , das ,Subjekt‘ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nçthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit berhaupt das Wort ,Erkenntniß‘ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders d e u t b a r, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzhlige Sinne ,Perspektivismus‘. Unsre Bedrfnisse sind es, d i e d i e We l t a u s l e g e n : […].“ (N 1886, KSA 12, 7[60]) 19 „Wollte man heraus aus der Welt der Perspective, so gienge man zu Grunde“, schreibt Nietzsche in einer Sptnotiz (N 1884, KSA 11, 27[41]). 20 Der § 374 der FW wirft einen zentralen Blick auf das Verhltnis der Existenz zur Perspektive und deren Zusammengehçrigkeit: „Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ,Sinn‘ eben zum ,Unsinn‘ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir kçnnen nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch fr andre Arten Intellekt und Perspektive geben k ç n n t e : […] Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lcherlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d r f e . Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ,unendlich‘ geworden: insofern wir die Mçglichkeit nicht abweisen kçnnen, dass sie u n e n d l i c h e In t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t . Noch einmal fasst uns der grosse Schauder – aber wer htte wohl Lust, d i e s e s Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergçttlichen? Und etwa das Unbekannte frderhin als ,d e n Unbekannten‘anzubeten? […].“ (FW 374)
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nach Nietzsche zwar unendlich, und auch die Erkenntnis ist an sich unendlich und frei.21 Anders als beim Relativismus (oder Realismus) jedoch gibt es keinen Anspruch auf ewige Gltigkeit.22 Der Perspektivismus basiert auf der berzeugung, dass das Leben nicht ist, sondern wird. Das bedeutet, dass das Leben nur durch neue Wertsetzungen oder Interpretationen bzw. die sich befreiende und zugleich bewusst begrenzende Perspektive berhaupt Sinn bekommen kann. Alles andere ist Meta-physik.
5. Philosophie der Wissenschaft als genealogische Hermeneutik Hat man die von Nietzsche hervorgehobenen komplexen Zusammenhnge des Lebens vor Augen, wird auch deutlich, inwiefern eine wissenschaftliche Erkenntnis durch den Perspektivismus, d. h. die wechselnde Vielfalt von Perspektiven, immer wieder neu zu verstehen ist. Der destruierende und zugleich konstruktive Charakter eines unvermeidlich im Werden lokalisierten Wissens bestimmt eine Philosophie der Wissenschaft dadurch als Hermeneutik, dass die Interpretation die Wahrheitsvalenz des methodologischen Verfahrens der Wissenschaft neu verortet. In Nietzsches Perspektive ist die „genealogische Hermeneutik“23 der kulturellen Bildung und des Wachstums des menschlichen Lebens aus der Moral heraus zu fassen. Moral meint hier keine Kodifizierung der Sittlichkeit, sondern eher das Setzen von Werten. Der genealogisch geprgte Versuch zu einer solchen „Hermeneutik der Wissenschaft“ wird in Nietzsches Denken dort erkennbar, wo das Setzen eines Wertes als eine mçgliche, doch zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt relevante Interpretation aufgefasst wird. Die Wahrheit einer Interpretation liegt gerade in der Bedeutsamkeit dieses bestimmten Verstndnishorizontes fr das Leben, kurz – im Willen zur Macht. Jeder 21 „Die Arbeit […] des Erkennens ist schon Freiheit: Was man erkennt, beherrscht einen nicht mehr wie eine ungreifbare Macht; wo man erkennt, hat man Abstand gewonnen, und zwar dadurch, dass man nicht mehr nur in Blickrichtung sieht und meint, so wie es hier erscheint, sondern im Wechseln der Perspektiven von keiner Perspektive mehr befangen ist“ (Gnter Figal, Nachwort zur Frçhlichen Wissenschaft, Stuttgart 2000, S. 317). 22 „[…] Nietzsches ,Perspektivismus‘ ist keine skeptische Relativierung jeder Einsicht zu einem bloßen, jeweils perspektivisch gebundenen Meinen“ (Ebd.). 23 Dazu in einer klugen, gegen die analytische Philosophie gerichteten Interpretation einer Philosophie der Wissenschaft bei Nietzsche Babette Babich, Nietzsche’s Philosophy of Science, New York 1994, vor allem S. 200 ff.
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Wille zur Macht kommt zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Sprache, nicht weil dies einem einzelnen Willen entspricht, sondern eher, weil dieser zu der Zeit seiner Manifestation gelangt ist. Die die Welt ausmachende Vielfalt der Interpretationen ist durch deren Wertsetzungen noch immer an einen starken und ernsten Begriff von Wahrheit gebunden, denn Wahrheit bei Nietzsche besagt nichts anderes als Interpretation. Wenn die Wissenschaft auf Tatsachen basiert, sollte danach gefragt werden, was „Tatsachen“ berhaupt sind. In Nietzsches hermeneutischer Auffassung von Wahrheit sind Tatsachen gerade Nichtwahrheiten. Die positivistische Wissenschaft begrndet ihren Anspruch auf ewige Gltigkeit darauf, dass sie Meinungen zu Tatsachen erklrt. Und sie ist „falsch“, insofern sie diese grundstzliche Verwechslung nicht anerkennt. Nietzsches gedanklichen Anstrengungen und philosophischen Bemhungen, die durch ihr genealogisches Verfahren die Kontingenz alles Wissens betonen, liegt dagegen der Anspruch auf Wahrheit als ein Weg zur Verdeutlichung und als ein Versuch, das Leben immer neu zur Geltung zu bringen, zugrunde. An dieser Stelle ließe sich Nietzsches Verstndnis von Philosophie mit Husserls Entwurf einer „reinen Phnomenologie“ vergleichen.24 Gegen die alltgliche Einstellung, und das heißt: ber die „natrliche Einstellung“, wie Husserl sie nennt, hinaus, gilt es, einen anderen Blick auf die Alltglichkeit zu gewinnen. Die „Einklammerung“ der alltglichen Welt gelingt aber nicht, wenn die natrliche bzw. die der Wissenschaft verhaftete Welt einfach vergessen wird. Der husserlsche Versuch zielt nicht darauf ab, diese Welt durch eine von ihr abgesonderte Form zu negieren, also sie durch so etwas wie eine platonistische, von der Wirklichkeit abstrahierende Idee zu begreifen. Die ber-sinnliche und d. h. ber die notwendige Kontingenz aller Willen zur Macht hinausgehende Interpretation bedeutet keinen Zuwachs an Kenntnissen bzw. schçpferischen Modellen, sofern die durch Erstarrung zu Wissenschaft gewordenen Perspektiven vielmehr einen irrefhrenden Realismus des Lebens mit sich bringen. Statt dessen greift die Phnomenologie Husserls ganz so wie Nietzsches Wissenschaftskritik auf einen philosophischen Anspruch zurck und entwickelt ein umfangreicheres Wissensmodell, das sich zunchst vom Leben entfernt, um dann zu ihm zurckzukehren. Der Versuch, das Leben als Ganzes auf eine neue Weise zur Erscheinung zu bringen, zwingt die Philosophie zu einer Kritik am eigenen Gegenstandsbezug. Diese theoretisch-phnomenologische Bewegung ließe sich gut mit Nietzsche und seiner Kritik an der Philosophie im Zeitalter der 24 Dazu Jean-Luc Marion, Rduction et donation, Paris 1990, S. 31 – 33.
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dcadence ins Gesprch bringen. Die „unvollendet“ nihilistische Selbstverstndlichkeit der modernen theoretischen Welt sollte nach Nietzsche die erste und leitende Fragestellung des modernen Philosophen werden, um ihre unhinterfragten Voraussetzungen und ihre unbegrenzte Vernunftglubigkeit infrage zu stellen und damit neu zu denken. Damit das Wissen wieder zu einem die philo-sophia auslotenden, ihr zugehçrigen Teil wird, bedarf die Philosophie einer Befreiung. Es geht dabei nicht um eine berwindung der Philosophie selbst, die zu einem naiv konzipierten Fortschritt im Sinne einer qualifizierenden Verbesserung fhrte, sondern eher um eine geistige Haltung, die fhig und willens ist, eine Blickwendung zu vollziehen. Sie bestnde gerade darin, die Dinge unter vielen Perspektiven zu betrachten, um sie berhaupt vor den Blick bringen zu kçnnen. Wie Nietzsche mit einer fast Husserlschen Terminologie sagt: „Aufgabe: die Dinge sehen, wie sie sind ! Mittel : Aus hundert Augen auf sie sehen kçnnen, aus vielen Personen!“ (N 1881, KSA 9, 11[65]) Durch seine genealogische Hermeneutik weist Nietzsche nicht einfach auf die Herkunft der Dinge, sondern vielmehr darauf, wie sie zu Tatsachen geworden sind, d. h. auf einen durch Kontingenz und Zufall gezeichneten Weg der Verwandlung durch Interpretation. Philosophie der Wissenschaft bei Nietzsche wre demnach weder Auflçsung der Philosophie in ihre mçgliche Wissenschaftlichkeit noch Epistemologie noch eine Art Apologie der Wissenschaft als korrekter Methodologie. Die Interpretation der Wissenschaft bei Nietzsche dekliniert sich rein philosophisch: sie will die in ihr verborgenen Ansprche freilegen und sich selbst als Philosophie verstehen.
Wissenschaft und Unendlichkeit Cathrin Nielsen Mensch, erkenne dich selbst!
1 Im Aphorismus 344 der Frçhlichen Wissenschaft, der berschrieben ist mit „Inwiefern auch wir noch fromm sind“, bringt Nietzsche zwei berlegungen ins Spiel, die ein modernes, auch unsere Gegenwart zumindest vordergrndig noch bestimmendes Selbstverstndnis kritisch hinterfragen. Die erste weist die Auffassung zurck, es gebe „voraussetzungslose“ Wissenschaft, das heißt, es gebe eine Form des Erkennens, die auf keinem, ihr Vorgehen offen oder untergrndig lenkenden, „Glauben“ beruht. Die zweite wendet sich gegen die weit verbreitete Ansicht, dieser „Glaube der Wissenschaft“ entspringe zuletzt einem „Ntzlichkeits-Calcul“, also irgend einem instrumentellen Interesse. Es gibt ihn nach Nietzsche vielmehr „trotzdem“, das heißt, obwohl die „Unntzlichkeit und Gefhrlichkeit […] der,Wahrheit um jeden Preis‘ fortwhrend bewiesen wird“. Wenn weder eine unbefangen theoretische, noch eine instrumentelle Vernunft hinter dem stecken, was als wissenschaftliche Methode zunehmend alle Formen des Lebens durchdringt – was ist es dann? „Was“, so Nietzsche, „bedeutet berhaupt, als ein Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft?“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 1) Im Aphorismus 344 findet man eine ebenso lakonische wie beunruhigende und interpretationsbedrftige Antwort auf diese Fragen: „,Wille zur Wahrheit‘ – das kçnnte ein versteckter Wille zum Tode sein. –“ Im Folgenden mçchte ich versuchen, Nietzsches merkwrdige Behauptung eines ,Willens zum Tode‘ im Hinblick auf die gegenwrtige Engfhrung der Wissenschaften auf den Begriff des ,Lebens‘ zu beleuchten. Den vorlufig paradoxen Verbindungspunkt sehe ich dabei in Nietzsches Einsicht, dass der „unbedingte Wille zur Wahrheit“, wie er in der Wissenschaft zum Tragen kommt, in seinem innersten spekulativen Kern eine anthropologische Urproblematik berhrt: die Tatsache, dass der Mensch
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ein, wie Nietzsche sagt, „nicht festgestelltes Thier“ ist, das heißt ein ,Tier‘, das auf ebenso besondere wie dramatische Weise mit seiner inneren Liquiditt und Unendlichkeit konfrontiert ist. In Nietzsches Terminologie bedeutet dies, dass sich nach Abzug der meta-physischen Strukturen der „Fluss“ des reinen Werdens geltend zu machen beginnt, dass also der Mensch der Moderne, der sich wissenschaftlich-technisch herstellende Mensch, in der Gefahr steht, auf bewusste oder unbewusste Weise in diesen „absoluten Fluss“ zurckzusinken.1 Damit tritt eine spezifische Ambivalenz der ,nicht festgestellten‘ menschlichen Natur zutage, die Ambivalenz, nach absoluter Wahrheit ihrer selbst zu drngen und mit dieser Wahrheit und als diese zugleich zugrunde zu gehen. Das berhandnehmen des „Flusses“ nmlich fhrt zu einer Vernichtung des Lebens – die „letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge“, auf die der unbedingte Wille zur Wahrheit stçßt, „vertrgt“, so Nietzsche, „die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet“ (N 1881, KSA 9, 11[162]). Ich mçchte im Folgenden also die These vertreten, dass Nietzsche mit dem Wort vom „Tode Gottes“ vor allem das durch die Wissenschaft drohende Verschwinden des Menschen im Blick hatte. Damit greife ich eine berlegung des Foucault-Interpreten Philipp Sarasin auf, nach der Nietzsches Denken durch einen spekulativen Vorgriff auf jene Verflssigung der Anthropologie durch neutrale Naturprozesse charakterisiert werden kann, dem sich das gegenwrtige Denken zunehmend ausschließlicher widmet: Ist der sich ankndigende Tod des Menschen nicht das Korrelat des von Nietzsche beschriebenen Todes Gottes? Stirbt jetzt nicht dessen Mçrder, der sich mit diesem Mord identifiziert, der ,im Tod Gottes spricht, denkt und existiert‘? Gehçrte dieser Mensch nicht noch als Mçrder Gottes dieser ehemaligen transzendenten Ordnung an? Ist nicht deshalb seine eigene auf der Tçtung Gottes beruhende Existenz ,dem Tode geweiht‘? Und kndet damit Nietzsche nicht […] das Ende jeder Identitt und jeden ,Wesens‘ an, und damit
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Der Begriff des Flusses oder des unaufhçrlichen Fließens gilt fr Nietzsche dabei „als ein gleichsam nur vorlufiges Bild, hinter dem eine ungeheuer komplexe und kaum zu fassende Konstellation des Kontinuums bzw. des Unendlichen verborgen ist“; vgl. Damir Barbaric´, Dichtende Vernunft, in: Metamorphosen der Vernunft. Festschrift fr Karin Gloy, hg. von Alessandro Lazzari, Wrzburg 2003, S. 25 – 40, hier S. 30, Anm.; vgl. ders., Das große Unbekannte. Nietzsches berlegungen zur Genese des Bewusstseins, in: Karen Gloy (Hg.), Kollektiv- und Individualbewusstsein, Wrzburg 2008, S. 123 – 134.
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schließlich auch ,die Identitt der Wiederkehr des Gleichen und der absoluten Zerstreuung des Menschen?‘2
Um das Scharnier zu den gegenwrtigen Entwicklungstendenzen herzustellen, in deren Licht jene ewig wiederkehrende, zerstreuende Unendlichkeit zutage tritt, gilt es, eine Entwicklung in den Blick zu nehmen, die Nietzsche in ihrer konkreten Gestalt nur erahnen konnte, nmlich die Verschmelzung von Wissenschaft und Technik zur „Techno-Wissenschaft“, das heißt zu einem Konglomerat aus technologischen Innovationen und anwendungsorierter Wissenschaft. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges weist dieser Prozess eine Wendung auf, die nicht mehr nur als Radikalisierung neuzeitlichen Verfgungswissens zu begreifen ist, sondern als ein qualitativer Sprung, der darin zu suchen ist, dass sich Wissenschaft und Technik zunehmend nicht mehr auf die Optimierung von Produktionsablufen und Produkten konzentrieren, sondern, so der italienische Philosoph Massimo De Carolis, auf die Produktivitt selbst,3 das heißt auf die traditionell nicht verußerbaren inneren „Vermçgen“ des Menschen. Die kategorialen Unterscheidungen, die die Wissensgebiete und die ihnen zugeordneten Methodologien voneinander abgrenzten, sind damit im Begriff, sich sukzessive aufzulçsen. Mit anderen Worten: Es zeichnet sich eine grundstzliche Infragestellung des Verhltnisses zwischen naturwissenschaftlich greifbarer Natur und conditio humana ab, wobei die Letztere als eine traditionell dem naturwissenschaftlichen Zugriff entzogene Dimension zunehmend in die Erstere verschwindet, und zwar sowohl auf der theoretischen wie auf der 2
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Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt am Main 2009, S. 122 f. (implizite Zitate aus Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, in: ders., Die Hauptwerke, Frankfurt am Main 2008, S. 413). – Sarasin fhrt, mit Blick auf die Gegenwart, fort: „Ist vielleicht also die Genetik jene zuknftige Verschiebung, die […] gemß der Formel von der,Identitt der Wiederkehr des Gleichen und der absoluten Zerstreuung des Menschen‘ auflçsen wird – gemß einer Formel also, die mit Blick auf den stummen, repetitiven und jede ,Essenz‘ notwendig zerstreuenden Replikations- und Rekombinationsprozess der DNA wie ein irritierend kaltes, aber erhellendes Licht aus ferner Vergangenheit erscheint?“ (ebd., S. 124) Massimo De Carolis, La vita nell’epoca della sua riproducibilit tecnica, Torino 2004; dt. Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zrich / Berlin 2009, S. 8 f. „Um es mit einem archaischen, aber zweifellos prgnanten Ausdruck zu formulieren: Die Technik beeinflusst, reproduziert und optimiert nicht mehr nur die natura naturata, sondern auch die natura naturans. Es ist genau dieser qualitative Sprung, der die aktuellen Biotechnologien von den traditionellen Techniken unterscheidet.“ (Ebd., S. 198)
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praktischen Ebene.4 Das wichtigste Zeugnis fr diese Entwicklung ist der brisante Fortschritt der „humanen Technowissenschaften“, die darauf zielen, die klassische Dichotomie zwischen Rationalitt und Biologie, Kultur und Natur zugunsten einheitlicher, unter dem Begriff „Leben“ zusammengefasster Strukturzusammenhnge zu berwinden. Das bedeutet in tiefster Konsequenz, dass sie ausgreifen auf jene Momente, die bislang dem unantastbaren ,Kern‘ des Menschen zugeordnet wurden: die in der „nicht festgestellten“ inneren Natur des Menschen angesiedelte Kategorie der Mçglichkeit und das darin verborgene Verhltnis zum Unendlichen, von dem oben die Rede war. Auch Nietzsche hat bekanntlich umwillen des „Lebens“ eine solche ,Zurckbersetzung des Menschen in die Natur‘ (JGB 230) gefordert. Betrachtete er als seine „Aufgabe“ nicht gerade die Entwurzelung der Anthropologie aus ihrer transzendenten Verankerung, mit seinen Worten, die „Entmenschung der Natur und dann die Vernatrlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff ,Natur‘ gewonnen hat“ (N 1881, KSA 9, 11[211])?5 Zielt er nicht auf eine Tilgung der auf Kant zurckgehenden modernen Wissenstrennung von theoretischer und praktischer, d. h. auf eine intelligible Freiheit bezogener Vernunft, und erscheint damit als Vorlufer der diese Grenzen bewusst auflçsenden „Lebenswissenschaften“? Dass Nietzsche selbst die Konfrontation mit dem Unendlichen ins Zentrum seines Denkens rckt, muss als spekulative Mitte seiner Kritik am Willen zur Wahrheit verstanden werden. Aus ihr, und nicht aus den mçglichen ußeren Gefahren einer auf Naturunterwerfung gerichteten Wissenschaft und Technik, entspringt zuletzt seine kritische Einschtzung der Wissenschaft als einem Symptom „absteigenden Lebens“ oder geheimen „Willens zum Tode“. Gerade weil dem Grundinstinkt des wissenschaftlichen Zeitalters jedes Gespr fr die spekulative Mitte dessen, was sich in ihm und durch ihn ereignet, fehlt, entzieht sich ihm auch die Mçglichkeit eines Unterganges im Sinne einer berwindung seiner selbst; er findet sein Ende statt dessen durch einfachen Zerfall: „[W]enn die Menschheit nicht an einer Leidenschaf t zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwche zu Grunde
4 5
Ebd., S. 9. „Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunklen? Wann werden wir die Natur ganz entgçttlicht haben! Wann werden wir anfangen drfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlçsten Natur zu v e r n a t r l i c h e n !“ (FW 109)
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gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir fr sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? –“ (M 429).6
2 Betrachten wir in einem ersten Schritt den Einwand Nietzsches, es gebe streng genommen keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft, genauer. Er geht zunchst affirmativ von der Einsicht aus, dass der Zutritt in das Reich wissenschaftlicher Erkenntnis fest an die Bedingung geknpft ist, die eigentmliche Bindungskraft unausgewiesener „berzeugungen“ und Voraussetzungen von sich abzustreifen. berzeugungen haben als berzeugungen kein Eintrittsrecht; sie mssen von jeder kontingenten Faktizitt gelçst und zu einer flexiblen Vorlufigkeit umgebildet werden, zur „Bescheidenheit einer Hypothese“ oder „regulativen Fiktion“ (FW 344), wie Nietzsche sagt. Erst als solchen, gewissermaßen in sich gebrochenen Voraussetzungen eignet ihnen die spezifische Aufschlusskraft wissenschaftlicher Operationalitt. Diese Forderung ist zunchst alles andere als selbstverstndlich. Denn eine berzeugung ist nach Nietzsche keine schlichte, korrigierbare Befangenheit, sondern ein langer, ins Blut gewachsener „Irrthum“, dessen Entstehungsprozess im Laufe der Zeit vergessen wurde. So heißt es in dem fr sein ganzes weiteres Denken zentralen frhen Fragment Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne, der Mensch lge „unbewusst und nach hundertjhrigen Gewçhnungen – und kommt eben durch diese Unbewusstheit, eben durch dies Vergessen zum Gefhl der Wahrheit“ (WL, KSA 1, S. 881). Die aus einer vergessenen Lge geborene berzeugung reicht durch die oberflchliche Bewusstseinsschicht hindurch tief in die Geschichte unseres Leibes hinein, in welchem sich im Verlauf allmhlicher Entwicklungen ein hierarchisches Gefge physiologischer Verbindlichkeiten gebildet hat, die jenes „Gefhl der Wahrheit“ ermçglichen, das ein gerichtetes Erkennen und Handeln erlaubt. Darber, dass es „kein eigentliches Erkennen ohne Metapher“ (N 1872/1873, KSA 7, 6
Zur wissentlich sich aufopfernden „Leidenschaft der Erkenntnis“ bei Nietzsche vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis: Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von ,Morgenrçthe‘ bis ,Also sprach Zarathustra‘, Berlin 1997; vgl. auch Claus Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, Wrzburg 1995. Im Folgenden geht es jedoch vor allem um das gegenwrtig realistischere Zugrundegehen des Menschen in Form seines schlichten Verschwindens oder Verendens „im Sande“.
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19[228]) gibt, mit anderen Worten: dass jedes Erkennen ins Fleisch des Vergessens, der Ausdichtungen und „einverleibten Irrtmer“, die unsere Welt bilden, eingewoben ist, lsst Nietzsche an keiner Stelle seines zum Teil so vieldeutigen und widersprchlichen Werkes Zweifel. Wenn es jedoch so ist, dass erst ein „Gefhl der Wahrheit“, jene erste, vorbewusste Urversicherung leiblicher Integritt, so etwas wie Welt erçffnet, wie verhlt sich dann der Wille nach Wahrheit dazu, der diesen Fleisch gewordenen „Glauben“ angreift und in eine vorlufige Hypothese verwandelt? Was bedeutet es berhaupt, eine bestimmte, eingewohnte Physis und Physiologie zu verlassen und in eine flexibel einsetzbare Hypothese zu verwandeln? Der unbedingte Wille zur Wahrheit, der die Voraussetzung der modernen Wissenschaft bildet, ist nach Nietzsche dadurch ausgezeichnet, dass er jenes komplexe und fr das Bewusstsein unerreichbare „Gefhl der Wahrheit“, das „bis in die letzte Zelle hinein[reicht]“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[241]), berspringen, dass er eben „keine bertragung gelten lassen“, sondern „ohne Metapher den Eindruck festhalten will und ohne Consequenzen“ (N 1872/1873, KSA 7, 18 [228]). Wie ist dieser Sprung mçglich? Was bedeutet er? Nach Nietzsche hat dieser Wille zum Sprung selbst eine Geschichte und physiologische Herkunft. Sie wird am Schluss des Aphorismus 344 angedeutet, wo Nietzsche den Willen zur Wahrheit und damit die Wissenschaft zurckstellt in den von ihr nur scheinbar berwundenen „metaphysischen Glauben“ Platons und des Christentums, „dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit gçttlich ist …“. Diese Engfhrung Nietzsches, die in der Forschung bislang vor allem dahingehend interpretiert wurde, dass die Wissenschaft eben noch immer zu voraussetzungshaft, zu anthropomorph, zu metaphysisch vorgehe, ist ihrerseits voller merkwrdiger Voraussetzungen und Implikationen, vor allem, wenn man die sich daran anschließende Frage Nietzsches mitbedenkt: „Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwrdig wird, wenn Nichts sich mehr als gçttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lge, – wenn Gott selbst sich als unsere lngste Lge erweist? -“ (FW 344). Der Sprung der Wissenschaft in die absolute Voraussetzungslosigkeit soll also einerseits selbst aus einem zweitausendjhrigen Glauben erwachsen sein, der unter den Namen „Metaphysik“, „Christentum“, „Gott“ fr uns heute zunehmend historischen Charakter hat. Er bedeutet demnach keinen bedingungslosen Anfang und Neubeginn, wie es das Selbstverstndnis der neuzeitlichen Wissenschaft nahelegt, sondern vielmehr die letzte Konsequenz eines bestimmten geschichtlichen Kçrpers, einer ,physiologischen Epoche‘, wenn man darunter eine sich aus bestimmten Grundfesten organisierende Ausrichtung des Denkens, Fhlens und Handelns versteht. Wie
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angedeutet handelt es sich bei diesen Grundfesten nicht um spontane, beliebig auswechselbare Gedankenmodelle, sondern um ber die Jahrhunderte einverleibte „Metaphern“, die ein Hier, ein Dort, ein Frher und Spter, ein Oben und Unten, ein Ich und Du usw. ermçglichen. Bevor das „Gefhl der Wahrheit“zu jener emphatischen, losgelçsten Evidenz der „Wahrheit selbst“ wird, ist es ber große Zeitrume hinweg ein unmittelbar gelebter Prozess, eine vorbewusste Einhausung und Etablierung von Mçglichkeiten. Wie kulturelle (physiologische) Metaphern daher Jahrhunderte brauchen, um ihre Ordnungskraft bis in die letzten Zellen hinein zu entfalten, bedrfen sie einer ebenso langen Zeit, um bis in ihre letzten Konsequenzen hinein wirklich berwunden zu werden. Der kulturelle Kçrper der Gegenwart begegnet sich selbst „wissenschaftlich“; er „schlachtet“ aus der Perspektive eines unbedingten „Willens zur Wahrheit“ seine eigenen Voraussetzungen unterschiedslos ab. Dieses unterschiedslose Darbringen aller bestimmten Formen des Lebens auf dem „Altar“ der Wissenschaft, d. h. die „Opferung“ eines jeden „Gefhls der Wahrheit“ zugunsten eines reinen „Willens zur Wahrheit“ ist noch immer metaphysisch-religiçs motiviert, und doch ist dieses Motiv in eine andere Voraussetzungshaftigkeit eingebunden als zuvor. Nietzsche bringt diese Zweideutigkeit in der Formulierung zum Ausdruck, dass dies, also jener uralte Glaube, „gerade immer mehr unglaubwrdig wird“, dass der Glaube also besteht und schon nicht mehr besteht, dass er sich gewissermaßen selbst aus sich herauswindet. Dieses Unglaubwrdigwerden drckt sich in der spezifischen Form des Misstrauens aus, das die moderne Wissenschaft charakterisiert. Es handelt sich beim Willen zur Wahrheit nmlich nicht, wie Nietzsche sagt, um den Willen, „sich nicht tuschen zu lassen“, sondern um den Willen, „,nicht [zu] tuschen, auch mich selbst nicht!‘“ (FW 344). Das Misstrauen richtet sich also streng genommen nicht gegen das, was sich uns als wahr darstellt, traditionell gesprochen die Gegenstnde des Erkennens. Es richtet sich vielmehr gegen uns selbst als Erkennende, eben das tragende „Gefhl der Wahrheit“, das wir, insofern es sich dabei um eine leibliche Voraussetzung, einen kulturellen Kçrper handelt, in gewisser Weise selbst sind. Diese Wende ist entscheidend: Die Welt, jener gewachsene, einverleibte Außenhalt wird unglaubwrdig und versinkt, whrend das Erkennen, das scheinbar metaphern- und konsequenzenlose Objektivieren, ins Zentrum rckt. Der unbedingte Wille zur Wahrheit, der das innere Bewegungsmoment der wissenschaftlichen Methode darstellt, berspringt also die physiologischen Grundlagen und Bedrfnisse des Verstehens und tritt in ein ebenso bedingungsloses wie misstrauisches Verhltnis zu sich selbst. An der Art und
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Weise dieses kritischen Selbstverhltnisses zeichnet sich, so meine These, die Grenzscheide zwischen Nietzsches Versuch, „die Wissenschaf t unter der Optik des Knstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 2) und den aktuellen „Lebenswissenschaften“ ab. Um dieses kritische Selbstverhltnis als den vorlufig innersten ,Punkt‘ des „Willens zur Wahrheit“ nher zu fassen, kann auf ein Fragment aus dem Nachlass zurckgegriffen werden, in dem Nietzsche eine Art Standortbestimmung vornimmt. Es heißt dort: Die Physiker sind jetzt mit allen Metaphysikern darber einmthig, daß wir in einer Welt der Tuschung leben: glcklich, daß man nicht mehr nçthig hat, darber mit einem Gotte abzurechnen, um dessen ,Wahrhaftigkeit‘ man zu seltsamen Gedanken kommen kçnnte. Das Perspektivische der Welt geht so tief als heute unser ,Verstndniß‘ der Welt reicht; […] Daß die Zahl eine perspektivische Form ist, so gut als Zeit und Raum, daß wir so wenig ,Eine Seele‘als ,zwei Seelen‘ in einer Brust beherbergen, daß die ,Individuen‘ sich wie die materiellen ,Atome‘ nicht mehr halten lassen […] und sich in ein Nichts verflchtigt haben (oder in eine ,Formel‘), daß Nichts Lebendiges und Todes zusammenaddirt werden kann, daß beide Begriffe falsch sind, daß es nicht drei Vermçgen der Seele giebt, daß ,Subjekt‘ und ,Objekt‘ ,Aktivum und Passivum‘ ,Ursache und Wirkung‘ ,Mittel und Zweck‘ immer nur perspektivische Formen sind, in summa daß die Seele, die Substanz, die Zahl, die Zeit, der Raum, der Grund, der Zweck, – miteinander stehen u n d f a l l e n […]. (N 1885, KSA 11, 40[39])
Die Naturwissenschaftler sollen also – wie die Metaphysiker auch – zu der Erkenntnis gelangt sein, dass die Welt, die sich unseren Sinnen als fest in sich gefgt und bestndig darbietet, eine „Tuschung“ ist. Danach sind nicht nur die sinnlichen Tatbestnde bzw. organischen Formen, die unser Verstehen gewissermaßen fhren, sondern auch die Zahlen, Linien, Flchen, Kçrper, die die erkenntnistheoretisch gereinigte Vernunft als ,hinter‘ diesen Erscheinungsformen liegend ausmacht, lediglich „perspektivische Formen“. Auch „Raum“ und „Zeit“ sind solche perspektivischen, das heißt aus einem ganz bestimmten Blickwinkel gebildeten Formen. So betrachtet Kant Raum und Zeit als subjektive Bedingungen unserer Sinnlichkeit, das heißt als Vorstellungen, die nicht den ußeren Dingen angehçren, sondern die wir von uns aus mitbringen. Die Bedingung der Mçglichkeit aller rumlichen Erfahrung beruht auf der „formalen Anschauung“ des Nebeneinanders der Dinge im Raum; fllt sie weg, bleibt, so Kant, „nichts“ von diesem Nebeneinander brig. Ebenso ist die Zeit nichts, was fr sich selbst besteht; das Nacheinander der Jetztpunkte bildet vielmehr lediglich das formale Gerst unserer Selbsterfahrung und damit ebenfalls eine im menschlichen Subjekt
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liegende „reine Form der Anschauung“. Ohne dieses „Nacheinander“ und „Nebeneinander“ gbe es fr uns weder Einheit noch Vielheit – und doch handelt es sich dabei, so Nietzsche, nur um einen „menschliche[n] Gegensatz“ (N 1881, KSA 9, 11[281]). Die Gegenstze selbst sind zuletzt etwas Perspektivisches: ,Subjekt‘ und ,Objekt‘, ,aktiv‘ und ,passiv‘, ,lebendig‘ und ,tot‘, das Kausalitt ausdrckende Verhltnis von ,Ursache‘ und ,Wirkung‘, ebenso von ,Mittel‘ und ,Zweck‘, ,Sein‘ und ,Nichts‘, ,Bewegung‘ und ,Ruhe‘ sind „Erdichtungen“ – das Denken selber ist nach Nietzsche „eine solche Handlung“, welche unermdlich „ausei nanderlegt, was eigentlich Eins ist“, so dass „die Scheinbarkeit da [ist], daß es zhlbare Vielheiten giebt“ (N 1885, KSA 11, 40[38]). Tatschlich jedoch gibt es „nichts ,Addirtes‘ in der Wirklichkeit“ und „nichts ,Dividirtes‘, ein Ding halb und halb ist nicht gleich dem Ganzen“ (ebd.). In Bezug auf dieses unvordenkbar „Eine“, dessen „Einheit richtig zu bezeichnen“, das heißt nicht wieder durch eine metaphysische „Wahrheit“zu fixieren ist, lçst Nietzsche zuletzt auch den Gegensatz von organischer Naturerscheinung und ,Geist‘ auf: „Daß die Organe sich berall herausgebildet haben, was die morphologische Entwicklung zeigt, darf als Gleichniß gewiß auch fr das Geistige benutzt werden: so daß etwas ,Neues‘ immer nur durch Ausscheidung einer einzelnen Kraft aus einer synthetischen Kraft zu fassen ist.“7 Auch das Geistige mndet demnach nicht in einem zugrunde liegenden „Subjekt“, einer „Seele“ oder einem irgendwie geschlossenen „Individuum“, all diese Grçßen oder Instanzen sind mit der Verflssigung der sinnlichen Außenhalte mitsamt ihrer transzendentalen Rekonstruktion hinfllig geworden. Nach dem Aufweis dieser vorlufig „Eines“, „synthetische Kraft“ oder einfach „x“genannten „Wahrheit“ (N 1885, KSA 11, 40[39]), der gegenber sich alle ontologischen oder psychologischen Bestimmungen als „Tuschung“ erweisen, fhrt Nietzsche fort: „Gesetzt, die Welt wre falsch, Leben nur auf dem Boden des Wahns, unter dem Schirme des Wahns, an dem Leitfaden des Wahns zu begreifen: was bedeutete dann ,der Natur gemß leben‘?“ (N 1885, KSA 11, 40[44]). Die eine mçgliche Antwort lautet, es gelte, sich dieser Perspektivitt zu stellen und die Scheinbarkeit der Welt, den erdichteten Charakter ihrer Formen zu bejahen, gesetzt nmlich, so Nietzsche, „daß wir entschlossen 7
N 1885, KSA 11, 40[38]; Hervorh. C. N. In N 1880, KSA 9, 6[253] heißt es, das Wirkliche sei „irgend eine Triebbewegung“; vgl. hierzu auch Barbaric´, Das große Unbekannte, S. 125 ff.
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sind zu leben“ (N 1885, KSA 11, 40[39]). Aus dieser Antwort, die im Wissen um ihr irrtmliches, jedoch aus der Perspektive des Lebenwollens notwendiges Tun erfolgt, entspringen Nietzsches Versuche, die ontologischen Gegenstze gleichsam als schçpferische Leistung zu deuten, als eine Leistung der Phantasie, deren Innerstes die „Angst“8 ist und die die „Leere“9 nicht ertrgt und so in einem „Sprung ber die Sphren hinweg“ der drohenden Unendlichkeit Formen der Endlichkeit abringt. „Alles flssig! um nur zu sehen brauchen wir Flchen, Beschrnktheiten“ (N 1880, KSA 9, 4[34]). Jemand, der „nicht nach unserer Art als willkrliches Zertheilt- und Zerstcktsein, she“ – hier Baum, hier Ich, hier Berg, hier Vogel, als wre alles ein Sein in sich – wer also „den Fluss des Geschehens she“ als das eigentliche „continuum“, der wrde nach Nietzsche berhaupt „den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen“ (FW 112). Bedingtheit gibt es nur in einer Welt der Dinge und der Abstnde zwischen den Dingen, die sie nebeneinander und nacheinander sein, anfangen und aufhçren lassen. Dagegen erlauben die fortwhrenden bergnge nicht, Dieses und Jenes auseinander zu halten, Grenzen zu ziehen, Konturen wahrzunehmen, Bewegtes und Ruhendes voneinander zu scheiden. Der das Erkennen leitende unbedingte Wille zur Wahrheit zersetzt daher jede Mçglichkeit nicht nur des bestimmten Erkennens, sondern auch des Handelns: Die vollkommene Erkenntniß tçdtet das Handeln: ja wenn sie sich auf das Erkennen selbst bezieht, so tçdtet sie sich selbst. Man kann kein Glied rhren, wenn man vollkommen erst erkennen will, was zur Rhrung eines Gliedes gehçrt. […] Die Erkenntniß ist eine Schraube ohne Ende: in jedem Moment, wo sie eingesetzt wird, beginnt eine Unendlichkeit: deshalb kann es nie zum Handeln kommen. – (N 1860/1870, KSA 7, 3[10])
Es ist nach Nietzsche grundstzlich „nicht mçglich […] mit der Wahrheit zu leben“ (N 1888, KSA 13, 16[40]7): „Wollte man heraus aus der Welt der Perspective, so gienge man zu Grunde“ (N 1884, KSA 11, 27[41]). Diese Einsicht fhrt ihn zuletzt zu einer philosophischen Reflexion auf die lebensbedingende Rolle der Lge, der Tuschung, des Scheins bzw. der Metapher als einem hçchst individuellen und nicht formalisierbaren
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„Die Angst wohnt im Innersten der menschlichen Phantasie“ (N 1876, KSA 8, 19[108]). „Wir ertragen die L e e r e nicht – dies ist die Unverschmtheit unserer Phantasie: wie wenig an Wahrheit ist sie gebunden und gewçhnt!“ (N 1880/1881, KSA 9, 10[D79]). Dieses „spontane Spiel von phantasirender Kraft“ bezeichnet Nietzsche auch als „unser geistiges Grundleben“ (ebd.).
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„Sprung“ der bersetzung in die Welt der diskontinuierlichen, endlichen Formen. Die andere mçgliche Antwort auf das sich auftuende Kontinuum der Natur, in dem sich Seele, Substanz, Zahl, Zeit, Raum, Grund, Zweck usw. als Flschung erweisen, in dem also der „Wille zur Wahrheit“ in den Entschluss zu leben (und das bedeutet: zu tuschen) transformiert werden muss, lsst sich dagegen mit dem Versuch, zum unmittelbaren Spiegel zu werden, d. h. in ihm zu verschwinden, umschreiben.10 Es ist nach Nietzsche die Antwort und Reaktion des wissenschaftlichen Menschen. Bei diesem Versuch handelt es sich um eine „Reaktion“, also um keine Antwort im eigentlichen Sinne, sondern um den ohnmchtigen Versuch, sich dem wissenschaftlich entdeckten Kontinuum um der reinen „Wahrheit“ willen vollkommen zu veranhnlichen. Nietzsche macht das etwa deutlich, wenn er vom wissenschaftlichen Menschen schreibt, er sei ein „Mess-Werkzeug und SpiegelKunstwerk“, aber „kein Ziel“ und „noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache“, nichts „Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will“ (JGB 207). Auf das maßlose Drngen nach restloser Veranhnlichung an die wissenschaftlich fassbare ,Natur‘als letztem Boden der Selbstvergewisserung deutet auch ein Aphorismus der Frçhlichen Wissenschaft, der das Erkennen letztlich auf einen „Instinkt der Furcht“ vor der eigenen innersten Offenheit und Fragwrdigkeit zurckfhrt: „ – [W]ie? Ist unser Bedrfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedrfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewçhnlichen, Fragwrdigen etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst?“ (FW 355)11 10 Nietzsches ,Leben gemß der Natur‘ ließe sich dagegen als der Versuch, aktiv und sehend Spiegel zu sein, beschreiben, vgl. hierzu Konrad Paul Liessmann, Philosophie des verbotenen Wissens. Friedrich Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens, Lizenzausgabe, Hamburg 2009, S. 19 f.: „Im Gegensatz zu den Propandagisten der Aufklrung wußte Nietzsche, daß ein Wissen, das verboten ist, gerade weil es fr den Menschen essentiell und destruktiv zugleich sein kann, nicht einfach verkndet werden kann wie irgendeine neugewonnene Information. Sich diesem Wissen auszusetzen, bedeutet ein Risiko, das Nietzsche wie wenige bereit war, auf sich zu nehmen. Solches gleicht dem Versuch, sich in einem Spiegel zu betrachten, nicht um die richtigen kosmetischen Korrekturen anzubringen, sondern um sich dem auszusetzen, das einer Korrektur offensichtlich bedarf. […] Das Bild des Spiegels fungiert hier als Symbol der Selbsterkenntnis und Selbstreflexion, es soll jene Situation veranschaulichen, in der sich jemand kritisch ins eigene Auge blicken kann oder muß.“ 11 Vgl. FW 347: „ […] jenes ungestme Ve r l a n g e n n a c h G e w i s s h e i t , welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen,
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Danach wre das Erkennenwollen tiefer betrachtet der Wille, erkannt, d. h. festgestellt zu sein, und in diesem Erkanntsein dem unsicheren und trgerischen Charakter des Lebens enthoben – dieser Wille entspricht demjenigen, „lieber noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben [zu] legen“ (JGB 10). Woher aber stammt diese furchtsame, „verzweifelnde“ und „sterbensmde“ (ebd.) Wahrhaftigkeit, die das Leben als Folge des Irrtums umwillen der „Wahrheit“ verneint? Und hier wiederholt sich Nietzsches beklemmende Engfhrung des Aphorismus 344 der Frçhlichen Wissenschaft: [G]esetzt, wir leben in Folge des Irrthums, was kann denn da der ,Wille zur Wahrheit‘ sein? Sollte er nicht ein ,Wille zum Tode‘ sein mssen? – Wre das Bestreben der Philosophen und wissenschaftlichen Menschen vielleicht ein Symptom entartenden absterbenden Lebens, eine Art Lebens-berdruß des Lebens selber? (N 1885, KSA 11, 40[39])
Damit komme ich wieder auf die Frage nach dem misstrauischen Selbstverhltnis des Erkennenden zurck, das als ein Erbe der zweitausendjhrigen Geschichte der Metaphysik als dem nach Nietzsche „lngsten Irrthum“ die Gegenwart maßgeblich bestimmt. Das Misstrauen bestimmt Nietzsche nmlich in einer Nachlassnotiz als „Quelle der Wahrhaftigkeit“ (N 1885, KSA 11, 40[43]): die Vorsicht gegen das Betrogenwerden nach außen verlangt als tiefere psychologische Bedingung eine bedingungslose Skepsis und Vorsicht gegen sich selbst (ebd.) – wie gesagt: Es handelt sich beim „Willen zur Wahrheit“ nicht um den Willen, sich nicht tuschen zu lassen, sondern um den, seinerseits nicht zu tuschen, auch sich selbst nicht (vgl. FW 344). Wenn jedoch alles Leben auf der Tuschung beruht, bedeutet jene Wahrhaftigkeit, sich eher noch dem Tode berantworten zu wollen, als das eigene Leben in seinen scheinhaften, trgerischen Formen zu akzeptieren. Wer nicht tuschen will, will am liebsten gar nicht(s) mehr sein: er leistet Verzicht auf jeden Willen, jede „Zurechtflschung“und Interpretation und damit auf das Leben oder genauer: auf seine eigene Lebendigkeit. Was in uns trotz der Einsicht in den trgerischen Charakter des Daseins Wahrheit will, soll also nach Nietzsche eine Art mde gewordenes, „absterbende[s] Leben, eine Art Lebens-berdruß des Lebens selber“ (N 1885, KSA 11, 40[39]) sein, das danach drngt, in seine eigene Unbestimmtheit zurckzusinken. Nietzsche spricht auch vom „Trieb der Selbst-Zerstçrung : nach Erkenntnissen greifen, die einem allen Halt und Kraft rauben“ durchaus etwas fest haben zu w o l l e n […]: auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Sttze, kurz, jener I n s t i n k t d e r S c h w c h e , welcher Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber – conservirt.“
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(N 1884, KSA 11, 31[25]); „ – wir sind aufgelçst, wenn wir am Ende unserer ,Weisheit‘ sind, – wir haben alle positiven Krfte verbraucht, zur Erkenntniß…“ (N 1888, KSA 13, 14[225]). In ihrem unbedingten Anspruch auf Wahrheit geht die inzwischen alle Lebensformen einschließlich ihrer geschichtlichen Dimension mit unbedingter Gleichgltigkeit durchwuchernde Wissenschaft so weit, dass sie die jeden „Glauben an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion“ zunchst gedanklich, dann zunehmend faktisch eliminiert. Sie „erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung. –“ (N 1870/1873, KSA 1, S. 760). Sollte der „Wille zur Wahrheit“ als ein solcher ihr unbewusster Instinkt und „Wille zum Tode“ damit nebenbei gesagt zuletzt gar nicht Ursache des „Gottestodes“ sein, sondern eine bis heute anhaltende, undurchschaute Reaktion? Die ihr von Nietzsche zugeschriebene Symptomatik, die in jeder Hinsicht auf ein „Verschwinden“, auf „Selbstbetubung“, „Willenslhmung“, „Verfall“, „Sich-zu-Grunde-richten“, den „Wille zur Zerstçrung“, „Selbstverachtung“12, „innerste Leere“, den indefiniten Progress, die „Sucht“ usw. ausgerichtet ist, deutet in diese Richtung. Dabei scheint die Bewegungsform der Sucht in besonderer Weise geeignet, den Instinkt des „absteigenden Lebens“ zu charakterisieren, da sie all diese Symptome aufweist und als ihr innerstes Motiv jenes von Nietzsche genannte massive „Misstrauen gegen sich selbst“ wie einen abgrndigen Glutkern umschließt. So lsst sich die Sucht ganz grundstzlich als Flucht vor einer inneren Verfassung unertrglicher Leere charakterisieren. Anstatt der Leere produktiv entgegenzutreten, wie es die ihres Tuschungscharakters gewisse Kunst tut,13 spiegelt sich der Schtige gewissermaßen in der Leere wider, so dass all seine Versuche, ihr zu entkommen, sie gerade wieder zum Vorschein bringen. Whrend sich seine Bemhungen immer rastloser ablçsen, bewegt sich der Mensch doch auf der Stelle; er tritt gewissermaßen in eine leere Zeitstruktur ein kreist hier um den „phobischen Kern“14 seiner 12 „ A l l e Wissenschaft […] ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe Nichts als ein bizarrer Eigendnkel gewesen sei; man kçnnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mhsam errungene S e l b s t v e r a c h t u n g des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrecht zu erhalten […].“ (GMIII 25) 13 „[ W ] i r h a b e n d i e Ku n s t , damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.“ (N 1888, KSA 13, 16[40]6) 14 Victor E. Gebsattel, Zur Psychopathologie der Sucht, in: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Berlin / Gçttingen / Heidelberg 1954, S. 220 – 233, hier S. 227.
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Verfassung. Das innerste Motiv fr diesen unheimlichen Drang zur Selbstzerstçrung stammt, wie es aus psychopathologischer Perspektive bei Victor von Gebsattel heißt, „aus verleugneter oder aus grundstzlich dem Individuum unzugnglicher Verzweiflung“: Will der Mensch sich selbst nicht annehmen, so heißt das, daß er, obschon er ist, nicht sein will. Er findet die Instanz nicht, die ihn trotz aller Fragwrdigkeiten in einem hçheren und gltigen Sinn rechtfertigt. So ist er ungerechtfertigt da, und diese ungerechtfertigte Daseinweise drngt, als eine Art des Nichtseins den Daseinswillen in ihre Richtung, in die Richtung auf das Nichts. Das Nichts […] zieht den im Dasein Ungerechtfertigten an, es zieht an als der Abgrund, in dem er, so wie er ist, eigentlich erst bei sich selber wre. Weil er aber trotzdem ist, bleibt ihm der Abgrund verschlossen, und doch bewegt er sich in seine Richtung.15
Gerade in der paradoxen Feststellung, dass der an sich selbst Verzweifelte – der mit dem „Tode Gottes“ plçtzlich „ungerechtfertigt Daseiende“ – in eine Richtung drngt, die ihm aufgrund der Tatsache seiner eigenen Faktizitt verschlossen bleibt, dass also das Lebendige dort, wo es von sich absieht und in das „Leben an sich“ hinausstarrt, gerade seine eigene Lebendigkeit verliert, finden wir die Einsicht Nietzsches in die fatale Ambivalenz des Lebens wieder. Danach ist jedes lebendige Sein zuinnerst nichts anderes als ein durch die Phantasie geleisteter Sprung in die Metapher, die vom Leben her „wahr“ wird, sofern das Lebendige sich in ihr wenigstens eine gewisse Zeit im Sein halten kann, die jedoch zugleich „falsch“ bzw. Schein ist, weil sich in ihr fr diese Dauer das eigentliche unendliche Werden, der „absolute Fluss des Geschehens“, verhllt. Wenn Nietzsche also schreibt, es gelte „dem Werden den Charakter des Seins auf zuprgen“ (N 1885/1887, KSA 12, 7[54]), so steht diese Prgung unter einer doppelten Hinsicht. Zum einen markiert sie die Einsicht, dass sich alles Lebendige gegen den Fluss des Verschwindens stemmt, dass wir unser „Sein dem Nichtsein entgegensetzen mssen“ und darin „der Begriff ,Werden‘ geleugnet wird“ (N 1887, KSA 12, 9[62]). Zum anderen erweist sie sich eben darin als „Lge“; das Erkennenwollen dringt darauf, diese Bewegung des Lebens an ihre Grenze zurckzufhren („das Sein [zu] leugnen“; N 1884, KSA 11, 25[513]), eine Grenze, die Nietzsche im Zarathustra als den „großen Mittag“ ins Bild bringt, an dem das Leben fr einen Moment lang den Atem anhlt. Diese Mçglichkeit, die entgegensetzende Ttigkeit fr einen unermesslichen Augenblick außer Kraft zu setzen, bedeutet nach Nietzsche nichts anderes, als sich der Berhrung durch den Tod zu stellen: „Hten wir uns zu sagen, dass der Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr 15 Ebd., S. 233; Hervorh. C. N.
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seltene Art“ (FW III, KSA 3, S. 467). Es ist kaum zu leugnen, dass sich Nietzsches eigene Philosophie in ihrem tiefsten Interesse „mit einem Fuße jenseits des Lebens“ (KSA 14, S. 473) befindet, dass sie ihn, wie er 1887 in einem Brief an seinen Freund Overbeck schreibt, in einem gewissen Sinne stets „in der Nhe des Todes und im Verlangen nach dem Tode“16 festgehalten hat: „Vom Leben erlçst zu sein und wieder todte Natur zu werden kann als Fest empfunden werden – vom Sterbenwollenden. Die Natur lieben! Das Todte wieder verehren! Er ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutterschooß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unvernunft und Schmerz sind bloß bei der sogenannten ,zweckmßigen‘ Welt, im Lebendigen.“ (N 1881, KSA 9, 11[125]) Worin unterscheidet sich aber nun die eigentmlich ambivalente Todesnhe Nietzsches vom „Willen zum Tode“, den Nietzsche selbst dem wissenschaftlichen Erkennen unterstellt? Um diese Frage nher zu fassen, muss neben dem „Willen zur Wahrheit“ auf eine zweite Voraussetzung der Wissenschaft eingegangen werden: ihr Verlangen nach Gewissheit, d. h. ihr methodisches Beharren auf der zumindest logischen Fassbarkeit materieller Substrate, also einen durch ihre sukzessive Annherung an den eigentlichen Fluss des Werdens hindurch festgehaltenen „Glauben an das ,Sein‘“ (N 1884, KSA 11, 26[328]). Das wissenschaftliche Erkennen „will“ nmlich keineswegs untergehen und sterben, sondern strebt vielmehr einen Zustand neutraler Unbestimmtheit an, der es vor dem gnzlichen Versinken bewahrt und doch zugleich dem trgerischen Charakter des Lebens, das heißt der Last seiner Faktizitt, entgehen zu kçnnen verspricht. Dies entspricht Nietzsches Behauptung, wonach der menschliche Wille eher noch „das Nichts wollen als nicht wollen“will (GM III, 28). Gerade in diesem Beharren verbirgt sich jedoch eine Bewegung des Regresses, mit Freud gesprochen eine Art Todestrieb. Der unbedingte „Wille zur Wahrheit“ stellt einen Fortschritt ins Anorganische, Amorphe, in die Unkenntlichwerdung und Indifferenz aller bestimmten Formen des Lebens dar, aber so, dass ihm gerade aufgrund seines Beharrens auf sich als einem neutralen, unbestimmten Sein jeder wirkliche Untergang und damit neue Anfang verwehrt bleibt. Dass im Bereich der neutralen Indifferenz „Alles wi ederkehrt“, kçnnte man in Bezug auf eine berhmt gewordene Formulierung Nietzsches demnach als „die extremste Annherung einer Welt des Werdens an die des Seins“ (N 1887, KSA 12, 7[54]) beschreiben – eine Annherung freilich, die aufgrund ihrer spiegelbildlichen Veranhnlichung an ihren ,Grund‘ diesen selbst in seiner ursprnglichen Lebendigkeit pervertiert und verdeckt. 16 KSB 8, S. 196; vgl. Barbaric´, Dichtende Vernunft.
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3 Ich mçchte im Folgenden versuchen, diese neutralisierende Tendenz mit ihrem impliziten unendlichen Progress mit Blick auf die neuzeitliche Wissenschaft und ihre gegenwrtige Gestalt zu analysieren. Dabei ist zunchst daran zu erinnern, dass sich das Verfahren der neuzeitlichen Wissenschaft im Groben als analytischer oder reduktiver Fortschritt von einem komplexen Ganzen zu einer Detailstruktur erklren lsst.17 Die Reduktion qualitativer Phnomene auf „Zahl und Maß“ dient dazu, Beziehungen bzw. Funktionen zwischen ihnen in einer Weise herstellen zu kçnnen, die sich im Blick auf ihre Verfgbarkeit nutzen lassen. Diese absichtsvolle Herstellung eines funktionalisierbaren Bezugssystem hebt auch Nietzsche hervor, wenn er im Blick auf die wissenschaftliche Vorgehensweise schreibt, „der ganze Erkenntniß-Apparat“ sei „ein Abstraktions-Apparat – nicht auf Erkenntniß gerichtet, sondern auf Bemchtigung der Dinge“ (N 1884, KSA 11, 26[61]). Wir „erkennen“ nicht, sondern „schematisiren“, indem wir „dem Chaos soviel Regularitt und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedrfniß genug thut“ (N 1888, KSA 13, 14[152]). Dabei gewhrt das Verfahren der Quantifizierung das hçchstmçgliche Maß an Formalisierbarkeit, weil es sich ausschließlich auf die raumzeitlich lokalisierbare Extension der Dinge konzentriert. Phnomene, die sich quantitativ nicht fassen lassen, also vor allem der ganze innere Bereich des Psychischen und qualitativ-Sinnlichen, blendete die wissenschaftliche Methodik bislang gezielt aus (zu der spezifischen, von De Carolis geltend gemachten Verschiebung des wissenschaftlichen Selbstverstndnisses in diesem Punkt komme ich weiter unten zu sprechen). Die quantitativen Attribute bzw. die durch sie konstruierbaren Entitten, deren „Sein“ sich durch alle qualitativen Formen des Lebens hindurch als einheitliche Strukturmomente bewhren, steigen so gewissermaßen zu Substanzen und damit „absoluten Wahrheit“ auf. Sie bilden „das Werkzeug der Nivellierung“, „fressen“ als solche, so Nietzsche, „die charaktervollen Formen hinweg“ (N 1880, KSA 9, 6[163]). Es entsteht 17 Ich gehe hier nur auf die grobe Tendenz ein und mit Blick auf meine Grundberlegung zur Amorphisierung und Verflssigung der Wirklichkeit; wie komplex und verworren sich die Genese wissenschaftlicher Objekte tatschlich erweist, ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftsgeschichtlicher Studien; vgl. z. B. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie. Einfhrung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1994 oder Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandorra. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, bers. von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2000 (– engl. Pandora’s Hope: An Essay on the Reality of Science Studies, Harvard 1999).
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eine Art geschlossenes quantitatives Kontinuum, das dadurch charakterisiert ist, dass, wie Husserl einmal prgnant zusammenfasst, eine begrenzte Anzahl von Begriffen, Stzen, Termini, Kalklen den Spielraum des Mçglichseins smtlicher Gestaltungen des Gebietes „in der Weise rein analytischer Notwendigkeit vollstndig und eindeutig bestimmt, so daß also in ihm prinzipiell nichts mehr offen bleibt“18. Gerade in dieser methodischen Engfhrung durch Eliminierung des vieldeutigen Charakters des Daseins (FW 373), verschiedener Interpretationen und damit auch „Controlle“ durch mçglicherweise „heilsame andere Instinkte“ (N 1884, KSA 11, 26[334]) bereitet die Wissenschaft nach Nietzsche ihre Absolutheit, d. h. Abgeschlossenheit in sich und damit ihren Untergang vor. Trotz aller Umwlzungen, die insbesondere innerhalb der Physik den Objektivittsanspruch infrage stellten, ist es bis heute das ausdrckliche Ziel der Wissenschaften, mit „einer beschrnkten Zahl von elementaren Basisbausteinen und ihren dazwischen wirkenden Krften […] die gesamten komplexen Erscheinungsformen der Materie“19 zu erklren. Entscheidend ist dabei, dass der diesem Ziel zugrunde liegende Naturbegriff zunehmend weniger bestimmte (ontische), das heißt den Erscheinungen dieser Natur entnommene, Gesetze enthlt, sondern die unbestimmte „Stilstruktur der ontologischen Gesetzlichkeit“20 berhaupt aufweist. Die Methode moderner Naturwissenschaft liegt nicht lediglich in der Anwendung der Mathematik (Informatik, Kybernetik usw.), also im weitesten Sinne formaler Strukturen, auf die Bestimmung der materiellen Phnomene, sondern im formalen (informatischen, kybernetischen usw.)
18 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Philosophie, Max Niemeyer Verlag, Tbingen 1980, S. 135. Vgl. zum kritischen Spott Nietzsches an einer einseitig durch „Zhlen, Rechnen, Wgen“ zustande gekommenen Interpretation der Welt FW 373: „Gesetzt, man schtzte den We r t h einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezhlt, berechnet, in Formeln gebracht werden kçnne – wie absurd wre eine solche ,wissenschaftliche‘ Abschtzung der Musik! Was htte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr ,Musik‘ ist! …“. Vgl. auch N 1880, KSA 9, 7[226]: „Ohne unsere Leidenschaften ist die Welt Zahl und Linie und Gesetz und Unsinn in alledem das widerlichste und anmaaßlichste Paradoxon.“ 19 Bernulf Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verstndnis der Natur, Darmstadt 1993, S. 92. 20 Eugen Fink, Zur ontologischen Frhgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, Den Haag 1957, S. 32.
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Entwurf dieser Materialitt selbst.21 Zentral ist also nicht die Frage, ob diese oder jene Theorie ,wahr‘ ist, sondern ob sie innerhalb einer bestimmten „Stilstruktur“ berprft und berholt werden kann. Karl Popper spricht diesbezglich bekanntlich von der „Falsifizierbarkeit des Systems“22. Was bedeutet Falsifizierbarkeit jedoch, wenn weder das qualitative Phnomen selbst noch das individuelle Subjekt in seinem Lebenszusammenhang noch so etwas wie „Sinn“ (nach Popper scheitert eine Theorie nie an ihrem Sinn oder Unsinn, sondern ihr Sinn ist gerade ihre Falsifizierbarkeit) zum Ausgangspunkt dieser Falsifizierung werden kann? Es bedeutet, dass sich das System ausschließlich in sich selbst besttigt oder berfhrt, ja dass es sogar seine ihm eigene ,Lebendigkeit‘ ausmacht, Hypothesen aufzustellen, um diese mittels neuer empirischer Daten zu berholen, und damit wiederum eine neue Hypothese entwickeln zu kçnnen. Popper nennt dieses Prinzip der „Falsifizierbarkeit“ die „Logik der Forschung“, und auch Husserl fasst, allerdings kritisch, zusammen: „Es ist das eigene Wesen der Naturwissenschaft […] ins Unendliche Hypothese und ins Unendliche Bewhrung zu sein.“23 Bereits hier, im spezifischen Voranschreiten der wissenschaftlichen Methode finden wir das Problem des Unendlichen in Form des infiniten Progresses angedeutet.24 Zu einem progressus indefinitum, also zu einem Voranschreiten in Richtung Unbestimmtheit trgt nach Nietzsche die in der Methode liegende spezifische Indifferenz gegenber den Phnomenen bei, die etwa aus dem Blickwinkel der Zahl keine Unterschiedenheit als die quantitative bzw. numerische aufweisen: auf den gemeinsamen Nenner ihrer Zhlbarkeit (als der einfachsten Form der Quantifizierung) zusammengenommen verlieren die „charakteristischen Formen“ alles, was sich dieser Kategorie entzieht. Sie entspricht nebenbei gesagt nach Nietzsche dem dem Misstrauen des modernen Erkennenden gegen sich selbst entspringenden Primat der unbedingten Gleichheit,25 wonach keine Rangordnung unter den Phnomenen mehr zugelassen ist, so dass sich zuletzt auch der an 21 Nietzsche fasst das in der Behauptung zusammen: „Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19tes Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode ber die Wissenschaft.“ (N 1888, KSA 13, 15[51]) 22 Karl Popper, Logik der Forschung (1934), hg. von Herbert Keuth, Berlin 2007. 23 Edmund Husserl, Die Krisis der europischen Wissenschaften und die transzendentale Phnomenologie, hg. von Elisabeth Strçker, Hamburg 1982, S. 41. 24 Vgl. hierzu Cathrin Nielsen, Wirklichkeit als unendlicher Progress, in: Phainomena. Journal of Phenomenology and Hermeneutics XVI/60 – 61, Ljubljana 2007, S. 257 – 275. 25 „berall Gleichheit vor dem Gesetz, – die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir“ (JGB 22).
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seiner eigenen Faktizitt verzweifelnde Erkennende bereitwillig im Spektrum rein quantitativer Zusammenhnge wiederspiegelt bzw. darin auflçst. Im Blick auf die gegenwrtigen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen scheint die Hervorhebung der auf den ersten Blick paradoxen Determiniertheit alles Lebenden, einschließlich des Menschen, durch neutrale Prozesse zunehmend ins Zentrum zu rcken. Sie beziehen sich nicht auf die besondere Art und schon gar nicht auf das Individuum, sondern nach gegenwrtigem Forschungsstand auf die hyle „Leben“ als eine molekulare Struktur. Diese Wendung innerhalb der Biologie als einer Beschreibung des Lebendigen wurde bereits im frhen 19. Jahrhundert vorbereitet. Lamarck wandte sich erstmals ab von den Klassifikationsbemhungen der vielfltig ans Licht getretenen Formen des Lebendigen und verfolgte eine die Lebewesen durchgngig bestimmende Struktur des „Lebens“, die belebte Wesen von anorganischer Materie unterscheidet, und zwar nicht durch ihre sichtbare morphologische Struktur, sondern durch ihre innere Organisation. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde mit der Entdeckung der Zelle ein durchgngiges Aufbaumodul des Lebendigen nachgewiesen – eine Entdeckung, die auch Nietzsche, wie eigens zu zeigen wre, nachhaltig beschftigt hat. Heute befasst sich die Molekularbiologie mit der Einheit der genetischen Systeme und den das Funktionieren der Zelle lenkenden Grundmechanismen und gelangt dabei schließlich zu der Erkenntnis, dass alle Organismen unabhngig von ihrem Milieu oder ihrer Lebensweise aus fast identischen Moleklen aufgebaut sind. Die Vielfalt der lebendigen Formen liegt danach allein in ihrer hierarchischen und kombinatorischen Anordnung beschlossen. „Alle Lebewesen“, so der Wissenschaftshistoriker und Pionier der Genforschung FranÅois Jacob, erweisen sich also aus den gleichen, auf unterschiedliche Weise angeordneten Modulen zusammengesetzt. Die lebende Welt ergibt sich aus einer Art Kombinatorik von Elementen in begrenzter Anzahl; sie gleicht dem Produkt eines gigantischen Baukastens und geht hervor aus der fortgesetzten Bastelarbeit der Evolution.26
Die gegenwrtigen Forschungen beziehen sich demnach auf einen Bereich, in dem die spezifisch menschliche Natur ,berwunden‘ zu sein scheint: der mit einem allgemeinen Substrat des Lebens an sich vergleichbaren Ebene molekularer Strukturen, die allen artspezifischen Formen des Lebens vorausgeht. Das Interesse zielt, mit anderen Worten, nicht darauf, mit dem Lebendigen im Sinne einer gewachsenen, in sich differenzierten Struktur 26 FranÅois Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. ber die moderne Genforschung, Mnchen 2000, S. 9 (frz., La souris, la mouche et l’homme, Paris 1997).
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umzugehen. Die prima materia des „Lebens“ zeichnet sich vielmehr, so der Molekularbiologe Hans-Jçrg Rheinberger, „im Sinne der Speicherung, Umschreibung und bersetzung von genetischer Information“27 aus; im Grunde soll ein einziger Code die Proteinsynthese der verschiedenen Organismen regeln. Mit dieser Einsicht verlsst die Molekularbiologie, ob ausdrcklich oder nicht, den Rahmen einer einfachen biologischen Disziplin und wird zu einem „alle biologischen Disziplinen erfassenden, technisch-praktischen Dispositiv der Zerlegung und Synthese lebender Materie“28 berhaupt. Mit Blick auf diese fr die wissenschaftliche Forschung primr gewordene qualitativ neutrale Einfçrmigkeit der Natur gewinnt konsequenterweise alles embryonale, noch undifferenzierte Werden an besonderem Interesse, wie es heute in dem fast heiligen Status, den die sogenannte embryonale Stammzelle und das Prinzip des Klonens erhalten haben, deutlich wird. Auf die Gewaltsamkeit dieser Entwicklung weist etwa der Mediziner Linus Geisler hin, wenn er schreibt: Durch Reprogrammierung soll aus einer voll ausdifferenzierten eine undifferenzierte pluripotente, vielleicht sogar totipotente Zelle entstehen. Diesen Rckweg hat die Natur nie vorgesehen und daher nie ,gebt‘ und ,optimiert‘. Entwicklungsvorgnge laufen in der Biologie immer nur in einer Richtung ab, nmlich vom einzelligen Embryo zum vielzelligen Organismus, niemals umgekehrt. Dieser Rckweg in Richtung der Unbestimmtheit ist ein erzwungener Prozess. Der rckprogrammierte Zellkern […] muss sich molekular einem ,dramatischen Vergessen‘ unterwerfen.29
In einem ersten Schritt haben wir also die Reduktion der vielfltigen Bestimmtheit des Lebens auf die Ebene molekularer Prozesse – Nietzsche spricht analog von den Verfahren der Tçtung, Hutung und Begriffsmu27 Hans-Jçrg Rheinberger, Von der Zelle zum Gen. Reprsentationen der Molekularbiologie, in: Rume des Wissens. Reprsentation, Codierung, Spur, hg. von H.-J. Rheinberger, M. Hagner und B. Wahrig-Schmidt, Berlin 1997, S. 269. 28 Ebd., S. 267. 29 Linus Geisler, Zwischen Tun und Lassen. Ein Panorama bioethischer Streitfragen, Frankfurt am Main 2008, S. 82 f., Hervorh. C. N. – Es scheint in diesem Zusammenhang nicht ganz unerheblich, dass ein wesentliches Merkmal jener zum Heilsbringer avancierten embryonalen Stammzellen die Fhigkeit ist, Tumoren zu bilden. Außerhalb ihres natrlichen Umfeldes, der Gebrmutter, sind embryonale Stammzellen Tumorzellen (vgl. I. Damjanov: From stem cells to germ cell tumors and back, in: Verh. Dtsch. Ges. Pathol. 88, 2004, S. 39 – 44). Sie wuchern und bewegen sich in einer eigentmlichen Zwitterstellung zwischen Leben im Sinne indifferenter Selbstperpetuierung und dem damit verbundenen unausweichlichen Tod der „charakteristischen Form“.
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mifizierung eines Erkennenwollens ohne tragende „Metapher“. Philosophisch kçnnte man auch von einer Verflssigung auf ontologischer Ebene sprechen: die Bestimmtheit des Lebens weicht seiner gleichfçrmigen Offenheit-fr – ich fge hinzu: fr die Verfahren wissenschaftlich-technischer Reprsentation. Gerade seine Unbestimmtheit erlaubt den zweiten Schritt in seine Technologisierung, d. h. in die jetzt ausdrckliche Manipulation im Sinne einer rekombinanten DNA-Technologie. Dieser zweite Schritt der Technologisierung des Lebens ist im ersten, der Rckbersetzung der „charakteristischen Formen“auf seine gleichfçrmigen Grundbausteine oder der Verschiebung des Umgangs mit lebenden Organismen zugunsten „technischer Entitten“30, notwendig angelegt. Insofern sich der Raum des Molekularen von Anfang an nur abstrakt aufschließen ließ, d. h. im Rahmen eines sich unseren leiblichen Sinnzusammenhngen entziehenden Modells, bleibt der Charakter der offenen ,Optimierbarkeit‘ das Wesentliche dessen, was in ihm erscheint. Die natrliche Evolution, die zur Differenzierung strebt, macht durch die wissenschaftliche Favorisierung der Regression „schrittweise der technischen Selektion Platz, weicht einer Art Technodarwinismus“31. Die entscheidende Frage bleibt natrlich: Wer nimmt die Selektion vor? An welchen Kriterien, an welchem „Ntzlichkeits-Calcul“ orientiert sie sich? Was kann berhaupt als Kriterium gelten in einem wesentlich durch Indifferenz und damit Leblosigkeit („Willensschwche“) charakterisierten Kontinuum, einem Kontinuum, das sich zugleich paradoxerweise als das „Leben an sich“ geriert? Wenn die einzelnen Lebensformen und Individuen sich essenziell kaum von Insekten oder Hefekulturen unterscheiden sollen, welches „Subjekt“ bleibt, um „kombinatorisch“ ber das freigesetzte Reich des Mçglichen zu verfgen? Ist es nicht vielmehr die unheimliche Bewegung der Regression und Verflssigung selbst, die sich in den rasanten Fortschritten der biotechnologischen Praktiken auf rational offenbar nicht zu bremsende Weise durchsetzt? Nietzsche zumindest hat das, was sich hier als Selektionsprinzip durchsetzt, den Instinkt des „absteigenden Lebens“ genannt und mit der einfachen Bewegungsform des „Zerfalls“ in Verbindung gebracht. Was sich auf den ersten Blick wie eine rein polemische Bemerkung ausnimmt, berhrt fr ihn in Wirklichkeit die elementare Frage, woher berhaupt „das Endliche stamme“, wenn davon ausgegangen werden muss, dass „[d]ie Unendlichkeit […] die uranfngliche Thatsache“ ist (N 1872/1873, KSA 7, 19[139]). Wie kommt es berhaupt zu den differenzierten Formen des 30 Rheinberger, Von der Zelle zum Gen, S. 275. 31 Geisler, Zwischen Tun und Lassen, S. 210.
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Lebens, wenn doch der „absolute Fluss“mit seinem „stndigen Umschlag ins Neue“ als ihr rtselhafter Grund und Abgrund begriffen werden muss? Wie kçnnen sich die verschiedenen Organismen dem Sog in den bewegungslosen Zustand des Immergleichen zumindest fr eine bestimmte Zeit entziehen? Mit anderen Worten: Wie ist der bergang vom Anorganischen in den Bereich lebender Organismen mçglich?32 Wie kommt es berhaupt zu den bestimmten Formen des Lebendigen? Ich mçchte hier in Form eines kleinen Exkurses auf die Nhe dieser Fragen zu den spekulativen berlegungen Sigmund Freuds zum „Todestrieb“ hinweisen. Freud geht hier bekanntlich von der Frage aus, was den Neurotiker dazu drngt, eine fr ihn schmerzliche Situation in Form der bertragung oder Spiegelung unablssig wiederkehren zu lassen. Wie kommt es zu diesem „dmonischen Zug“ in seinem Erleben, einer Art „ewige[r] Wiederkehr des Gleichen“ innerhalb der konomie des Seelischen?33 Warum repoduziert er untergrndig immer wieder, was sein „Ich“ offenkundig nicht will? Es drngt sich Freud im Durchspielen dieser Beobachtung die Idee auf, dass er mit dieser Frage mçglicherweise einen bislang unerkannten Charakter der Triebe berhrt, nmlich einen das „Lustprinzip“ dunkel unterlaufenden „Drang zur Wiederherstellung eines frheren Zustandes“, eine Art „ußerung der Trgheit im organischen Leben“34. Diese innere konservative bzw. regressive Natur der organischen Triebe strebt danach, sich unter ewig gleichbleibenden Verhltnissen gewissermaßen unablssig als dieselbe zu reproduzieren. „Ziel“ des Lebens wre somit sein „Ausgangszustand“, den „das Lebende einmal verlassen hat, und zu dem es ber alle Umwege der Entwicklung zurckstrebt“. Geht man nun, so Freud 32 Nietzsche deutet den bergang letztlich durch die nicht verußerbare Lebendigkeit des Protoplasma: „Der bergang aus der Welt des Anorganischen in die des Organischen ist der aus festen Wahrnehmungen der Kraftwerthe und Machtverhltnisse in die der u n s i c h e r e n , u n b e s t i m m t e n – weil eine Vielheit von miteinander kmpfenden Wesen (= Protoplasma) sich der Außenwelt gegenber fhlt.“ (N 1885, KSA 11, 35[59]). – „Alles Organische unterscheidet sich vom Anorganischen dadurch, daß es E r f a h r u n g e n a u f s a m m e l t : und niemals sich selber gleich ist, in seinem Prozesse. – Um das Wesen des Organischen zu verstehen, darf man nicht seine k l e i n s t e Form fr die p r i m i t i v s t e halten: vielmehr ist j e d e k l e i n s t e Zelle jetzt Erbe der ganzen organischen Ve r g a n g e n h e i t “ (N 1883, KSA 10, 12[31); vgl. hierzu Cathrin Nielsen, Nietzsches Kritik des Materialismus im Ausgang von der Empfindung, in: C. Nielsen / M. Steinmann / F. Tçpfer (Hg.), Das Leib-Seele-Problem und die Phnomenologie, Wrzburg 2007, S. 107 – 129. 33 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Frankfurt am Main 1969, S. 1 – 69, hier S. 22. 34 Ebd., S. 38.
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weiter, davon aus, dass alles Lebende aus inneren Grnden ins Anorganische zurckkehrt, also stirbt, folgt die beunruhigende Einsicht, dass das „Ziel alles Lebens […] der Tod“ darstellt, und umgekehrt: „Das Leblose war frher da als das Lebende“35. Ebenso wichtig ist jedoch die daraus folgende Einsicht, dass der ganze Reichtum der lebendigen organischen Vielfalt damit auf die Rechnung „ußerer, stçrender und ablenkender Einflsse“ zu setzen wre; mit anderen Worten, dass die verschiedenen Formen des Lebens nicht diesem Trieb selbst entspringen, sondern als „Umwege“ geleistet bzw. „historisch erworben“ sind, das heißt diskontinuierliche berwindungen jenes regressiven, ins Kontinuum des Anorganischen zurckstrebenden Todestriebes darstellen.36 Was kann das im Hinblick auf die vorliegenden berlegungen bedeuten? Ich habe bereits darauf hingewiesen, inwiefern auch fr Nietzsche das „Lebende“ nur „eine Art des Todten“, und zwar „eine sehr seltene Art“ (FW 109) ist. Zwar lsst sich bei ihm nicht grundstzlich sagen, dass das organische Leben von einem ,Todestrieb‘ durchherrscht ist – dagegen spricht gerade sein Versuch, „unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklren – nmlich des Willens zur Macht“ (JGB 36) im Sinne einer „bestndigen Schçpfung“, „Verwandlung“ und „Selbst-berwltigung“ (N 1885, KSA 11, 35[60]).37 Als ein Symptom eben dieses Willens jedoch, und zwar eines seiner Abschwchung, kennt Nietzsche den hinter vordergrndigen Aktivittsbemhungen versteckten ,Willen zum Tode‘ bzw. das psychische Phnomen der Unlust, vitalen Unzulnglichkeit, Regression bzw. des „Zerfalls“ als einem Zeichen der Selbstaufgabe sehr wohl. Er verbindet es vor allem mit der Unfhigkeit zum interpretativen Zugriff, dem Verlust der einheitsbildenden Kraft und der abwinkenden Gleichgltigkeit gegen jede Selbstwertschtzung, die fr sich in Anspruch nimmt, die auf dem reduktiven Zugriff basierende Objektivitt der Wissenschaft und den ihr zugeordneten „progressus 35 Ebd., S. 40. 36 Ebd.; vgl. auch N 1886/1887, KSA 12, 7[54]: „Kunst als Wille zur berwindung des Werdens […]“. 37 Fr Freud dagegen schrumpft „die theoretische Bedeutung der Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe […], in diesem Licht gesehen, ein[…]: es sind Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern und andere Mçglichkeiten der Rckkehr zum Anorganischen als die immanenten festzuhalten, aber das rtselhafte, in keinen Zusammenhang einfgbare Bestreben des Organismus, sich aller Welt zum trotz zu behaupten, entfllt“. Vgl. hierzu auch Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin / New York 1997, S. 101 – 103 und S. 395 – 397.
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in simile“ (JGB 268) zu verlassen – also jener aus dem modernen Misstrauen gegen sich selbst geborenen „Sucht zum Anders, […] Sucht zum Nein, […] endlich Sucht zum Nichts“ (N 1885/1886, KSA 12, 2[129]). Mit anderen Worten: Eine Wissenschaft, die das Leben an sich zum Ausgangspunkt nimmt und alles, was dieses Leben (genauer seinen Begriff ) „verunreinigt“, eliminiert – die Umwege, die Zurechtflschungen und Deutungen, die „irrtmlichen“ Verkçrperungen und Unsicherheiten – arbeitet seiner Vernichtung zu. In diesem Zusammenhang spricht Nietzsche auch von der Gefahr einer Angleichung an die unmenschliche Welt des indifferenten Kontinuums, an die gleichmßige Kreisform alles Bestehenden, in der sich alles in die Potenz-zu-allem zurckzieht, um endlos auf seinen ,optimalen Einsatz‘ zu warten. Dass das bestimmte Leben keine „Selbstverstndlichkeit“, sondern etwas durch eine Reihe produktiver Irrtmer Gewonnenes ist, etwas, das der „Metaphern“ bedarf und dem „Glauben an Wahrheit“, um sich vor dem „absoluten Fluss“ zu schtzen, durchzieht als Grundaufmerksamkeit all seine Schriften: „Die Natur baut nicht fr das Auge, die Form ist ein zuflliges Ergebniß. Man denke, daß in einer Eizelle alle Atome ihre Bewegungen machen, daß Formen nur fr Augen existiren und daß Atome ohne Augen sie auch nicht wollen kçnnen“ (N 1881, KSA 9, 11[306]).38 Die Tatsache, dass die Zelle als amorphe Potenz, als ein zielloses Wuchern heute eine weitaus grçßere Aufmerksamkeit auf sich zieht als das lebendige Individuum, zeugt davon, dass wir auf einem guten Weg sind, sowohl als ,Subjekt‘ wie auch als ,Objekt‘ in die physiko-chemische Anonymitt zu versinken, zu „Atomen ohne Augen“ zu werden, oder aber zu einem technisch extrahierten „bloßen Auge“, das „hinausschaut, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut“ – „vielleicht“ gerade, wie Nietzsche fortfhrt, „um nicht hineinzuschauen? um nicht zurckzuschauen? …“ (GM III, 26).
4 Die wissenschaftliche Methode der Reduktion schlgt also im Verlauf ihrer Forschungen einen zur Natur umgekehrten Weg ein: von der differenzierten Vielfçrmigkeit lebendiger Formen, zu der die Evolution unablssig voranschreitet, zurck zur indifferenten Einfçrmigkeit als ihrem zugrundelie38 Vgl. auch N 1872/1873, KSA 7, 19[144]: „Es giebt keine Fo r m in der Natur, denn es giebt kein Inneres und kein ußeres. Alle Kunst beruht auf dem Sp i e g e l des Auges.“ Der Spiegel des Auges ist hier nicht als passive Angleichung, sondern als ein aktives Spiegeln zu verstehen.
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gendem Baustoff, ihrer abstrakten hyle „Leben“. Wie zu Beginn dargelegt, lsst sich zeigen, dass sich das Konglomerat von Wissenschaft und Technik etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr nur auf die Herstellungsformen des Menschen (im Sinne des genetivus subjectivus) konzentriert, sondern zunehmend die Lebensformen bzw. die flssige Intimitt menschlicher Sinnbildungsprozesse an sich, und das bedeutet: die Herstellungsformen des Menschen im Sinne eines genetivus objectivus betrifft. Die Natur bzw. das Leben als die dunkle, tendenziell chaotische Voraussetzung aller Produktions- und Kulturttigkeit ist in die transparente „Stilstruktur der Gesetzlichkeit“ verschwunden und bildet nun ein prinzipiell verfgbares Korrelat der wissenschaftlich-technischen Operationen. Diese greifen „nun unmittelbar in die Grundprozesse und nicht nur in deren Ergebnisse ein“.39 Das bedeutet, dass die technowissenschaftlichen Praktiken die den spezifisch menschlichen Lebensformen innewohnende Kategorie der Mçglichkeit von den biologischen Invarianten zunehmend weniger abzugrenzen bereit sind, dass also zunehmend „ein einziger Blick menschliche Natur und conditio humana umfasst und dabei jenen Zwischenpunkt fokussiert, an dem die eine in die andere bergeht“. Den fraglichen Moment des berganges zwischen den verschiedenen Formen des Lebendigen und der den Naturwissenschaften bislang vorenthaltenen spezifisch menschlichen Spontaneitt bildet dabei der ebenso schillernde wie missbruchliche Begriff „Leben“.40 Indem die Technowissenschaften aus rein naturalistischer Perspektive auf jene sinnbildende Spontaneitt ausgreifen, reduzieren sie, wie es in Anlehnung an Giorgio Agamben heißt, den bos, die leiblich-geschichtliche Lebensform auf die zo, das ,nackte Leben‘. Das ,nackte Leben‘ ist dabei keine natrliche Gegebenheit, sondern das „Produkt der ,anthopologischen Maschine‘, durch die sich die Macht in jeder geschichtlichen Phase artikuliert“.41 39 De Carolis, Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 197. Ein besonders zynisches Beispiel stellt in dieser Hinsicht die „Pharmakologische Anthropologie“ des Wissenschaftsphilosophen Bernulf Kanitscheider (Die Materie und ihre Schatten. Naturalistische Wissenschaftsphilosophie, Aschaffenburg 2007) dar, der die „Sorgenatur des Daseins“ durch „gezielte Eingriffe in das Rderwerk der Neurotransmitter“ beheben will, auch etwa dort, wo melancholische „berreaktionen“ auf den Verlust eines transzendenten Weltbildes „gedmpft“ werden sollen. Diese Mçglichkeit chemischer Manipulation trgt seiner Ansicht nach nicht zuletzt der Tatsache Rechnung, „dass den Menschen ein Zug zur Virtualitt innewohnt, der sie vielleicht mehr noch als die Rationalitt prgt“ (ebd. S. 154). 40 De Carolis, Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 23. 41 Ebd., S. 286.
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Durch die methodische Rckfhrung des Lebens in Richtung Unbestimmtheit ist dieses „Leben“ also keine gewachsene, vielfltig in sich differenzierte Realitt mehr, sondern wir haben „nunmehr den See des Mçglichen, die Lagersttte der Virtualitten erblickt.“42 Aber um was fr eine Form der Mçglichkeit (dynamis) handelt es sich dabei? Indem die humanen Technowissenschaften einerseits an der reduktiven Methode sowie der fr die Naturwissenschaften typischen Verbindung von Wissenschaft und Technik festhalten, andererseits jedoch auf den Bereich ausgreifen, der als das, wie man vorlufig sagen kçnnte, ins Unendliche ausgreifende, flssige, nicht feststellbare subjektive Vermçgen produktiver Sinnbildung aus dem reduktiven Zugriff systematisch ausgeklammert wurde, evozieren sie eben dieses „Vermçgen“ in Form einer zirkulren, mechanischen Unendlichkeit, die alle sinnvollen Formen des Lebens unterluft. Mit anderen Worten: Sofern die vorweltliche „Lagersttte der Virtualitten“ einseitig aus der technischen Perspektive der Gegenwart beleuchtet wird, sofern sie nicht ihrer wilden und unvordenklichen Potenzialitt belassen, sondern der Erkenntnis und dem manipulativen Eingriff angepasst wird, wird der rtselhafte „See des Mçglichen“ faktisch zu einer „Lagersttte“ des Verbrauchs, der Ressourcen fr eine totalisierte Gegenwart verußert, wie es etwa in dem unzhligen Heer der tiefgefrorenen Embryonen anschaulich wird, die – wenn ein solcher Anthropomorphismus berhaupt noch erlaubt ist – stumm, zeitlos und jederzeit abrufbar auf ihren Einsatz zu warten scheinen. Die Technowissenschaften verwalten gewissermaßen den Konjunktiv vom progressiven Indikativ technischer Beherrschbarkeit her; der Mçglichkeitssinn hat sich daher jenem leeren Progress der Optimierbarkeit anzupassen, der die reale, immer nur mehr oder weniger vernderbare, mehr oder weniger vorhersehbare, ebenso bestimmte wie unsichere Welt lngst hinter sich gelassen hat. In derdeterministischen Zurckfhrung, die stets einen Tod, ein Opfern der sinnlichen Welt des Leibes zugunsten abstrakter Strukturen verlangt, liegt zweifellos metaphysisches Erbe beschlossen. Es liegt in der „ontologische[n] Deckung von Wissen und Tod“43, die in der Philosophie von Platon 42 So Michel Serres in seinem Geleitwort zu der kritischen Selbstverstndigung des Reproduktionsmediziners Jacques Testart, Das transparente Ei, Frankfurt am Main / Mnchen 1988, S. 6; (frz., L’œuf transparent, Paris 1986); „Wir haben die Oberflche des Bildes und der ontologischen Kategorien durchbohrt und schrfen mittels unserer Przisionstechniken nach dem vielschichtigen Potentiellen oder Virtuellen unter den Schichten unseres Phnotyps.“ (Ebd. S. 9) 43 Anik Juhsz u. Dezsç Csejtei, berlegungen zu Nietzsches Todesverstndnis, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 12, Berlin 2005, S. 295 – 311, hier S. 298.
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bis zu Husserl und, wie gezeigt, auch bei Nietzsche selbst, eine zentrale Rolle spielt. In Wissenschaft und Technik bzw. ihrem Kulminationspunkt, der im „Tode Gottes“ als Aufhebung einer zweitausendjhrigen Geschichte ausgesprochen wird, und der die Gefahr eines Verschwindens des Menschen impliziert, wird jedoch auf eine abgrndige Weise die Tatsache offenbar, dass der Mensch, dieses „nicht festgestellte Tier“, ein vor die Unendlichkeit schlechthin gestelltes Tier ist, und zwar nicht nur im metaphysisch-transzendenten Sinne, sondern auch im Sinne schlechter Unendlichkeit. Mit der Wissenschaft und ihrem Glutkern eines Erkennens an sich, dessen Gier ber alle endlichen Ziele und Zwecke hinweggreift, ist der Mensch mit der Mçglichkeit schlechthin: dem reinen Werden, der Maßlosigkeit, der Selbstreferenzialitt, dem unendlichen Progress als der paradoxen und dunklen Seite der Technowissenschaften konfrontiert. Durch den reduktiven und deterministischen Zug ihrer Methodik, die diesen Strom an Potenzialitt in einen reifizierten, biochemisch verifizierbaren Strick verwandelt, wird die spezifische Produktivitt der innersten Kontingenz des Lebendigen gleichsam festgezurrt und lsst, wie De Carolis schreibt, „das Spiel in einer leeren Tautologie erstarren“44. Gerade weil es sich bei dieser prima materia „Leben“ um ein hçchst voraussetzungshaftes Laborkonstrukt handelt und nicht um „Wahrheit“, gerade weil mit destruktiven Metaphern wie der Reduktion menschlichen Lebens auf einen Moleklverband an der konsequenten Dekonstruktion von metaphorischen Inhalten gearbeitet und damit das Verschwinden des Phnotypischen vorangetrieben wird, kann die den Menschen durchherrschende Potenzialitt, die zugleich sein innerstes Vermçgen darstellt wie seinen Abgrund, nur auf zerstçrerische Weise zutage treten. Das wissenschaftliche Streben nach Reduktion der widersprchlichen, trgerischen und unsicheren Bedingungen des Lebens zugunsten der großen, endlichen Ruhe, des „Sabbats der Sabbate“45, an dem der Mensch sich nicht mehr als Bruch erfhrt, ja an dem er zuletzt den unruhigen Strom seines Innern, jenes große, unendlich berschießende „x“, wie Nietzsche schrieb, in den beherrschbaren Konjunktiv eingemeindet hat, erweist sich somit durch seine oberflchliche, ausgreifende Macht hindurch als eine Bewegung der Schwche und des Zerfalls. Was bei Platons noch eine Glut 44 De Carolis, Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 215 Anm. 45 Dem Menschen des „Auflçsungs-Zeitalter[s]“erscheint das Glck als „das Glck des Ausruhens, der Ungestçrtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als ,Sabbat der Sabbate‘“ (JGB 200). Es ist das Glck des Tieres, das in der Gegenwart aufgeht „wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch brigbleibt“ (HL, KSA 1, S. 249).
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war, ist heute in Form ihrer ußersten Schatten, das heißt der tçdlichen Gleichgltigkeit und Klte uns selbst gegenber prsent, die das methodische Vorgehen der Wissenschaft durchdringt. Die Abbreviatur, die beherrschbare Mçglichkeit umgibt eine unertrgliche Leere.
* Dass der unbedingte Wille zur Wahrheit zuletzt mit dieser Wahrheit und als diese zugleich zugrunde geht, oder mit anderen Worten, dass „das Erkennen der Natur nur um den Preis der Selbstaufhebung der eigenen Natur mçglich“46 ist, soll nach einem Wort der Geburt der Tragçdie im Schicksal des Oedipus seinen mythischen Ausdruck gefunden haben. Oedipus, der das Rtsel der Natur, „jener doppelgearteten Sphinx“, lçst, zerbricht als Mçrder seines Vaters und Beischlfer seiner Mutter zugleich ihre heiligsten Ordnungen. Um die vielfltige individuelle Bestimmtheit und Erscheinungsweise der Natur in die Einfçrmigkeit ihrer innersten Strukturen zurckzubersetzen, um ihr, die sich nach einem alten Wort ,zu verbergen liebt‘ (physis kryptesthai philei), die Masken herunterzureißen, ist offenbar eine ungeheuerliche Gewalt und Widrigkeit gegen die Natur vonnnçten. Die intime Zusammengehçrigkeit von Wissen und Untergang scheint nach Nietzsche nahezulegen, dass das Wissen mçglicherweise selbst „ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung strzt, auch an sich selbst die Auflçsung der Natur zu erfahren habe.“47 Wie dargelegt, stellt jedoch weniger das Erkennen als solches bzw. die in ihm liegende Bedrohung eines Verschwindens des Menschen das innerste Zentrum von Nietzsches Wissenschaftskritik dar als vielmehr die Frage nach dem Wie dieses Untergangs, ob er aus „Leidenschaft“ oder aus „Schwche“ geschieht – ob der Mensch also „im Feuer und Licht“ endet oder einfach „im Sande“ verluft.48 „Im Sande“ oder in der schlechten Unendlichkeit des
46 Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, S. 35. 47 GT 9, KSA 1, S. 67: „,Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur‘: solche schreckliche Stze ruft uns der Mythus zu […]“. Vgl. Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, S. 64: „Durch seinen eigenen entarteten Abkçmmling richtet sich das Leben – gerade im Versuch sich zu erhalten – selbst zugrunde“. 48 „Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwche zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die
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quantitativen Kontinuums verluft sich der Mensch, der das Erkennen nicht aus jener innersten Ambivalenz zwischen Leben und Erkennen zu erfahren vermag, der nicht erkennt, dass zwei feindselige, nach verschiedenen Richtungen hin drngende Triebe hier gezwungen werden, gleichsam unter einem Joche zu gehen; der welcher das Erkennen will, muss den Boden, auf dem der Mensch lebt, immer wieder verlassen und sich ins Ungewisse wagen, und der Trieb, der das Leben will, muss immer wieder sich zu einer ungefhr sicheren Stelle hintasten […] (N 1875, KSA 8, 6[48]1).
Der wissenschaftliche Mensch verpflichtet sich vielmehr aus Furcht vor der eigenen Abgrndigkeit dem unendlichen Progress der formalisierenden Vernunft, die sich zuletzt in Angleichung an das unendliche Kontinuum selbst zersetzt. In Oedipus sieht Nietzsche dagegen das Symbol einer um ihre Abgrndigkeit wissenden, gefhrlicheren, sich selber opfernden Wissenschaft,49 einer Wissenschaft offenen Auges, die den Menschen nicht einfach verschwinden lsst, sondern bewusst mit dem von ihr aufgedeckten Abgrund des Humanen konfrontiert – die macht, „dass der Mensch frderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen Natur steht, mit unerschrockenen OedipusAugen […]“ (JGB 230). Dieser „heroische Mensch der Erkenntniß“ verliert sich nicht in der tçdlichen Indifferenz formalisierter, auch formalisierter innerer Natur, er geht wissend in seiner eigenen Flle unter, „ertrinkt“, wie Nietzsche sagt, „zuletzt in seinem eigenen Meere“ (N 1882, KSA 10, 3[1]222).50 Auf die Frage, welchen „Nutzen“ diese abgrndige Aufgabe der Selbstverschwendung und -berwindung haben soll, ja ob sie berhaupt am Hauptfrage. Wollen wir fr sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande? -“ (M 429). 49 „Wollen wir durch die Wissenschaft den Menschen ihren Stolz wiedergeben, wie sie ihn aus Kriegen davon trugen, so muß die Wissenschaft g e f h r l i c h e r w e r d e n , m e h r A u f o p f e r u n g bedingen: sich selber preisgeben“ (N 1880, KSA 9, 4[206]). Zu Oedipus als „Symbol der Wissenschaft“ vgl. N 1870/1871, KSA 7, 7[22] u. 8[19]; JGB 230. 50 „,Wo ist ein Meer, in dem man wirklich noch e r t r i n k e n kann? nmlich ein Mensch!‘ – dieser Schrei klingt durch unsere Zeit.“ (N 1882, KSA 10, 3[1]234); vgl. FW 343: „… In der That, wir Philosophen und ,freien Geister‘ fhlen uns bei der Nachricht, dass der,alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenrçthe angestrahlt; unser Herz strçmt dabei ber von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich drfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ,offnes Meer‘. -“
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Maßstab des Nutzens und der Ntzlichkeit angemessen erfasst werden kann, gibt es nach Nietzsche keine Antwort. Die Antwort verbirgt sich in der Aufgabe des Selbsterkennens selbst: „Warum wir sie whlten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt: ,warum berhaupt Erkenntniss?‘ – Jedermann wird uns darnach fragen. Und wir, solchermaassen gedrngt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere Antwort…“ (JGB 230).
Die Wissenschaft und der „Schatten Gottes“ Carlo Gentili Auf die psychologischen Prozesse, die der Entwicklung des Gottesgedankens zugrunde liegen, geht Nietzsche zum ersten Mal in Morgenrçthe ein. Bei seiner Entstehung wird eine subjektive Sicht willkrlich zu einem universellen und absoluten Wert erhoben. „Wie kann Einer seine eigene Meinung ber die Dinge als eine Offenbarung empfinden?“ (M 32), fragt Aph. 62 (Vom Ursprunge der Religionen). Die Antwort liegt in der Abspaltung des Bewusstseins der eigenen Grenze von der Grçße des Gedankens, dessen man auf einmal doch fhig ist. Dieser „neue Gedanke“, diese „eigene grosse […] Hypothese“, die die Welt und das Dasein einer Erklrung unterwirft, tritt „so gewaltig“ in das Bewusstsein des Menschen ein, „dass er sich nicht als Schçpfer einer solchen Seligkeit zu fhlen wagt und die Ursache davon und wieder die Ursache der Ursache jenes neuen Gedankens seinem Gotte zuschreibt: als dessen Offenbarung.“ (Ebd.) Bei diesem Prozess, bei dem „man sein Erzeugniss ber sich selber erhebt“, empfinden wir dieses zwangslufig als etwas uns ußerliches und eine Eingebung ab alto: Wir sind also vor allem gezwungen, „vom eigenen Werthe“ (ebd.) abzusehen, mit anderen Worten, das Bewusstsein der Begrenztheit, die diese Schçpfung doch erst hervorgebracht hat, auszublenden. In unserer Projektion wird diese Meinung verstrkt: „man entzieht sie der Kritik, ja dem Zweifel, man macht sie heilig“ (ebd.). Dank des „Gottesgedankens“ entziehen wir uns also der uns innewohnenden Endlichkeit. Mit im Spiel ist hier jenes Gefhl der Macht, das das Hauptthema von Nietzsches spten berlegungen bilden wird. Er wird diesen schçpferischen Prozess in einem Fragment (14[124]) aus dem Frhjahr 1888 als eine „psychologische Logik“1 beschreiben. Es handelt sich dabei um dieselbe psychologische Logik, die der transzendentalen Subjektivitt zugrunde liegt, auf die sich nach Nietzsches Ansicht das Gebude der modernen Wissen1
Nietzsche fhrt aus: „Die psychologische Logik ist die: das G e f h l d e r M a c h t , wenn es plçtzlich und berwltigend den Menschen berzieht […] erregt ihm einen Zweifel an seiner Person: er wagt sich nicht als Ursache dieses erstaunlichen Gefhls zu denken – und so setzt er eine s t r k e r e Person, eine Gottheit fr diesen Fall an.“ (N 1888, KSA 13, 14[124])
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schaft sttzt. Die „Fakten“, die sie zu ihrem Gegenstand erhebt, sind nichts anderes als das Ergebnis, zu dem das sie beobachtende Subjekt gelangt. Zu diesem Schluss war Nietzsche schon in Der Wanderer und sein Schatten gekommen, und zwar im Aph. 11: Die Freiheit des Willens und die Isolation der Facta. „Ein Factum“ – erlutert er – ist „eine Gruppe von Erscheinungen“, die „als Eins“ gesehen wird; doch ist dies lediglich das Ergebnis „unsere[r] gewohnte[n] ungenaue[n] Beobachtung“, die die vermeintlichen „Fakten“ isoliert, als wren sie durch „leere Zwischenrume“ voneinander getrennt. Voraussetzung fr diesen Irrtum ist „der Glaube an die Freiheit des Willens“, der davon ausgeht, „dass jede einzelne Handlung isolirt und untheilbar ist“. Da die Willensfreiheit wesentliches Kennzeichen der Souvernitt und Einheit des Subjekts ist, bertrgt dieses die vermeintliche eigene Souvernitt und Einheit auf das Objekt, mit dem es zu tun hat. Die Gemeinsamkeiten, die das Subjekt in einer Reihe von Phnomenen auszumachen meint und die – als Folge dieser Gleichsetzung – als „Faktum“ bezeichnet werden, sind in Wirklichkeit lediglich Reflex der Einheit des Subjekts: „wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Facten: beide giebt es nicht“. Es gilt, sowohl das beobachtende Subjekt als auch die „Fakten“ aus „unser[em] Handeln und Erkennen“ heraus, das sich als „ein bestndiger Fluss“ darstellt, zu begreifen (WS 11). Die Fixierung auf die Fakten einerseits oder das Subjekt andererseits – mit der daraus resultierenden spiegelbildlichen Zuschreibung eines objektiven Charakters der Ersteren und eines transzendentalen Charakters des Letzteren – lsst diesen bestndigen Fluss flschlicherweise außer Acht. Michael S. Green hat auf die Nhe dieses Ansatzes von Nietzsche zu Kants Transzendentalismus hingewiesen: Aus dem Chaos der Sinneswahrnehmung wird durch Anwendung von Kategorien eine Welt konstruiert: „absolute space and time, self-identical substance, and causality“, wenn auch mit der bemerkenswerten Einschrnkung, „that the application of these categories of being occurs within becoming rather than through a transcendental self“2. Green kommt damit zu einem hnlichen Ergebnis wie Volker Gerhardt, der Nietzsches Auffassung ebenfalls unter dem kantischen Vorzeichen der „,transzendentale[n] Bedingungen‘“ der Erkenntnis sieht.3 Dennoch hat die Verschiebung des Anwendungsbereichs des Transzendentalismus vom Subjekt zum Werden entscheidende Folgen. Und es ist anzunehmen, dass es Nietzsche um eben diese Folgen ging. Hier kommt 2 3
M. S. Green, Nietzsche and the Transcendental Tradition, Urbana / Chicago 2002, S. 98. V. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, 4. Aufl., Mnchen 2006, S. 142.
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Gerhardt zufolge die Gottesfrage ins Spiel. „Folglich verliert auch die Rede von Gott ihren Sinn“; es gibt also „keine ,Wahrheit‘“, „kein ,Sein‘“, „keine ,Wirklichkeit‘“: „es gibt berhaupt nichts, das wir unabhngig von unseren eigenen Daseinsbedingungen zu erkennen vermçchten“. Das allgemein bekannte Wort Nietzsches – Gott ist todt! – erklrt sich somit aus „der […] Einsicht in die Endlichkeit des menschlichen Erkennens“.4 Doch wenden wir uns nun wieder dem Aph. 62 von Morgenrçthe zu. Dort hatte Nietzsche eine weitere Bedingung fr die Verwandlung der Meinung in Offenbarung gestellt, nmlich: „dass er [der Mensch] vorher schon an Offenbarungen glaubte“ (M 62). Die moderne Wissenschaft hat es zwar geschafft, uns von dieser Bedingung zu befreien, aber nicht von der ihr zugrunde liegenden psychologischen Logik. Diese Logik bleibt weiter wirksam, indem den von der Wissenschaft als objektiv prsentierten Setzungen Wahrheitswert zugeschrieben wird, obwohl sie in Wirklichkeit noch immer subjektive Meinungen sind. So richtet sich der Apolog des tollen Menschen (in dem berhmten Aph. 125 in Die frçhliche Wissenschaft) gerade an jene, die weiterhin Meinungen vertreten, die objektive Wahrheit fr sich beanspruchen. Auf den Ausruf des tollen Menschen – „,Ich suche Gott! Ich suche Gott‘“ – reagiert die auf dem Marktplatz versammelte Menge mit Gelchter: „Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten“. Es handelt sich um diejenigen, die zwar nicht mehr von einer Offenbarung ausgehen, jedoch noch nicht bemerkt haben, dass infolge dieser Befreiung das gesamte Gebude der wissenschaftlichen Wahrheit in sich zusammengefallen ist. Die Fragen, die der tolle Mensch ihnen stellt – „Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“ (FW 125) usw. – konfrontieren die atheistische Wissenschaft mit jenen extremen Konsequenzen des Todes oder der Tçtung Gottes, die diese nicht sehen kann, weil sie noch derselben psychologischen Logik folgt, die die Gotteshypothese hervorgebracht hatte. Wenn die Wissenschaft uns also von der Gegenwart Gottes befreit hat, hat sie uns noch nicht von seinem Schatten befreit. Das Fortwirken dieses Schattens in der Vorgehensweise der Wissenschaft ist der eigentliche Kontext, in dem die Thematik Nietzsches vom Tod Gottes gesehen werden muss. Auf diese Weise lçst sich das von vielen seiner Kritiker aufgeworfene Pro-
4
Ebd.
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blem,5 dass seine Erbitterung angesichts eines seiner Gegner – dem Christentum – bertrieben gewesen sei, zumal dieses zu Nietzsches Zeit unter dem Beschuss durch die positivistische Wissenschaft vermutlich einen noch schwereren Stand hatte als heutzutage. Dabei hatte Nietzsche nicht so sehr (oder nicht nur) das Christentum als solches im Visier, sondern vielmehr dessen unausgesprochenes Fortbestehen in der fideistischen Einstellung der Wissenschaft. Und das Klima der Angst, von dem der Aph. 125 durchdrungen ist, ist nicht durch die schmerzliche Nostalgie nach dem geschlagenen Gegner ausgelçst – also durch ein Gefhl der Verlorenheit des Glubigen, der seinen Glauben verloren hat, sich aber nach den Sicherheiten sehnt, die dieser ihm bot –, sondern durch das Bewusstsein darum, wie schwierig es sein wird, ihn endgltig aus dem Weg zu rumen. Diesen Zusammenhang wieder herzustellen ist von zentraler Bedeutung fr die Geschichte der philosophischen Interpretation des Aph. 125. Denn in den vorliegenden Interpretationen wurde das Motiv vom Tod Gottes zumeist aus dem Kontext der thematisch verwandten Aphorismen der Frçhlichen Wissenschaft gerissen und als ein eigenstndiger Untersuchungsgegenstand behandelt. Zum einen wurde der Sinn des Apologs ausschließlich auf seine philosophische Dimension reduziert. Dies geschieht etwa in dem berhmten Kommentar von Martin Heidegger. Er gibt zwar den ganzen Aph. 125 sowie Auszge aus anderen Aphorismen der Frçhlichen Wissenschaft wieder, bietet uns jedoch keinen Textkommentar, sondern stellt lediglich die philosophischen Implikationen des verkndeten Sachverhalts, dass Gott tot sei, ausfhrlich dar. Den Tod Gottes auszurufen kommt fr Heidegger einer Umkehrung des Platonismus gleich, da Nietzsche die Ausdrcke „Gott“und „christlicher Gott“ „zur Bezeichnung der bersinnlichen Welt berhaupt“ verwendet. Die Bezeichnung „Gott“ bezieht sich also auf „den Bereich der Ideen und der Ideale“, der seit Platon „als die wahre und eigentlich wirkliche Welt“ gilt und der Sinnenwelt gegenbersteht. Dass Nietzsche das Ende der Metaphysik herbeifhre, ist nur insofern mçglich, als diese in seiner Sicht „die abendlndische Philosophie als Platonismus verstanden“ darstellt.6 Zum anderen verfolgen Kritiken von Heideggers Interpretation – wie die von Karl Lçwith – die Absicht, den vermeintlich ursprnglichen Sinn des 5 6
Siehe dazu z. B. die berlegungen von R. Mller-Buck, Nichilismo e melanconia in Nietzsche, in C. Gentili, V. Gerhardt u. A. Venturelli (Hg.), Nietzsche. Illuminismo. Modernit, Firenze 2003, S. 209 – 23. M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Holzwege, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1980, S. 212.
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Apologs wieder aufzudecken; dieser sei nicht im Verlauf des Schicksals der abendlndischen Philosophie, sondern vielmehr in einer dezidiert antichristlichen Stellungnahme zu finden. Lçwith befrchtet, die Bedeutung dieser Stellungnahme kçnne bei der philosophischen Interpretation Heideggers untergehen. Um zu verstehen, inwieweit der von Nietzsche verkndete Tod Gottes „einen ,Wendepunkt‘ innerhalb der Geschichte des neuzeitlichen Atheismus“ darstelle, muss diese als ein „vereinzeltes Lehrstck“ aufgefasst werden. Whrend das Christentum in Heideggers Sicht nichts anderes als eine Folge des schon immer die abendlndische Vernunft beherrschenden Nihilismus ist – so dass man Nietzsches Position nur verstehen kann, indem man sie auf diese Ursprnge zurckfhrt –, ist der Tod Gottes fr Lçwith etwas, das vor allem das Christentum direkt betrifft. So vertritt er sogar die sicherlich allzu radikale These, dass fr Nietzsche „der Nihilismus eine Folge davon ist, daß wir den christlichen Gott getçtet haben“. Dadurch wird das religiçse Ereignis (wenn auch in seiner atheistischen Bedeutung betrachtet) wieder ber die philosophische Spekulation gestellt. In der Sicht Lçwiths werden somit im Aph. 125 die Prmissen fr die Auseinandersetzung geschaffen, die ihren Hçhepunkt im Zarathustra findet,7 dem Buch, das „von Anfang bis zu Ende ein antichristliches Evangelium“ ist und in dem der bermensch das „Gegenbild zum Gottmenschen Christus“ verkçrpert.8 Diese Hypothese mag durchaus gerechtfertigt erscheinen. Sie enthebt uns jedoch nicht der Rekonstruktion des ursprnglichen Kontexts, in den sich der Gedanke vom Tod Gottes einfgt. Diesen Kontext liefern nmlich Aph. 108 (Neue Kmpfe) und 109 (Hten wir uns!) der Frçhlichen Wissenschaft. Im ersten Aphorismus – in dem brigens der Ausdruck „Gott ist todt“ zum ersten Mal in einem verçffentlichten Werk auftaucht –9 wird die Legende erzhlt, nach der sich der Schatten Buddhas nach seinem Tod in einer 7 8 9
Diese These findet natrlich eine berzeugende Besttigung in der allgemein bekannten Tatsache, dass der tolle Mensch in der ursprnglichen Fassung des Aph. 125 den Namen Zarathustra trug. K. Lçwith, Die Auslegung des Ungesagten in Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Smtliche Schriften, Bd. 8, Heidegger – Denker in drftiger Zeit, Stuttgart 1984, S. 213 – 15. Der Ausdruck erscheint zum ersten Mal im Fragment 12[77] vom Herbst 1881, das die Themen des Aph. 125 vorwegnimmt: „Gott ist todt – wer hat ihn denn g e t ç d t e t ? Auch dies Gefhl den H e i l i g s t e n M c h t i g s t e n g e t ç d t e t z u h a b e n , muß noch ber e i n z e l n e Menschen kommen – jetzt ist es noch zu frh! zu schwach! Mord der Morde! Wir erwachen als Mçrder! Wie trçstet sich ein solcher? Wie reinigt er sich? Mu ß e r n i c h t d e r a l l m c h t i g s t e u n d h e i l i g s t e Di c h t e r s e l b e r w e r d e n ? “ (KSA 9, 590).
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Hçhle gezeigt habe. Dasselbe steht nach dem Tod Gottes zu erwarten, „aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Hçhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt“. Allein schon die Erwhnung der Hçhle – eine Anspielung auf das im siebten Buch der Politeia von Platon erzhlte Gleichnis – stellt den Aphorismus in den Themenkontext der Erkenntnis.10 Aber auf diesen Zusammenhang verweist auch der in Nietzsches Schlusssatz enthaltene, wenn auch nicht offen ausgesprochene Sinn: „Und wir – wir mssen auch noch seinen [Gottes] Schatten besiegen“ (FW 108). Offengelegt wird dieser Sinn im folgenden Aph. 109, in dem Nietzsche zur wissenschaftlichen Deutung der Natur bergeht. Da wir nicht genau definieren kçnnen, was „das Organische“ ist – und folglich die Welt nicht als „ein lebendiges Wesen“ beschreiben kçnnen, drfen wir also nicht (Hten wir uns!) „glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort ,Maschine‘ eine viel zu hohe Ehre an“. Da ein Ziel fehlt, kann „der Gesammtcharakter der Welt“ nichts anderes sein als „in alle Ewigkeit Chaos“: im Sinne „der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schçnheit, Weisheit, und wie alle unsere sthetischen Menschlichkeiten heissen“ (FW 109). Dazu ließe sich en passant anmerken, das auch diese Erklrung wiederum ein von Kant behandeltes Thema zuspitzt: und zwar die Verbindung von sthetischem Urteil und teleologischem Urteil in der Kritik der Urteilskraft. Nietzsche geht jedoch ber Kants Intention hinaus – obwohl er in Wirklichkeit nur extreme Konsequenzen daraus zieht –, indem er den Anthropomorphismus der finalistischen Deutung offenlegt. Ebenso drfen wir nicht (Hten wir uns!) „das All tadeln oder loben“ und ihm somit „Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegenstze nachsagen: es ist weder vollkommen, noch schçn, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen!“ Daher kennt es auch keine Gesetze: „Hten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe“. Und gerade dabei handelt es sich um eine Schlussfolgerung, gegen die der Kant der dritten Kritik alles in allem recht wenig einzuwenden gehabt htte. Wenn aber keine Gesetze existieren, kçnnen wir andererseits auch nicht annehmen, dass das All vom Zufall bestimmt sei, „denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort ,Zufall‘ einen Sinn“. Die Bedeutung dieser kantischen Zuspitzung Kants liegt also darin, dass er die Mçglichkeit einer erklrenden Hypothese mit Nachdruck zurckweist. Wenn selbst das Fehlen von Zwecken insofern, als es immerhin dem Zweck der Erklrung dient, einem Zweck gleich10 Zum Hçhlengleichnis Platons, auf das Nietzsche sich hier bezieht, siehe H. Blumenberg, Hçhlenausgnge, Frankfurt a. M. 1989, S. 632 ff.
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kommt, wrde die Leugnung jeder Zweckhaftigkeit der Natur bedeuten, dass man diese losgelçst von dem hçchsten Prinzip betrachtet, das allen Zwecken zugrunde liegt und in dem der Mensch die eigene Subjektivitt vergçttlicht hat. Das hieße also, Gott aus seiner letzten Hçhle zu vertreiben und sich den neuen Kmpfen zuzuwenden. „Wann werden uns“, fragt Nietzsche am Ende des Aphorismus, „alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln?“ Mit anderen Worten, wann werden dieses hçchste Prinzip und alle dadurch ermçglichten Erklrungen – d. h. das Transzendente und das Transzendentale – aus dem Weg gerumt sein? „Wann werden wir die Natur ganz entgçttlicht haben! Wann werden wir anfangen drfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlçsten Natur zu vernatrlichen !“ (FW 109) Dies wird geschehen – so lautet sinngemß die implizite Anwort –, wenn wir gelernt haben werden, die Natur losgelçst vom Menschen zu betrachten bzw. von jenem Prinzip wissenschaftlicher Wahrheit, das sich letztlich auf Gott sttzt. Wenn wir endlich in der Wahrheit nichts anderes sehen werden als unsere Perspektive. Das Thema der Verbindung von wissenschaftlicher Wahrheit und Glauben wird von Nietzsche in den Aphorismen des fnften Buchs der Frçhlichen Wissenschaft wieder aufgegriffen. Es ist vor allem Gegenstand des Aph. 344 (Inwiefern auch wir noch fromm sind) (dem zweiten Aphorismus des fnften Buchs), der mit der Feststellung beginnt, dass die „Ueberzeugungen“ in der Wissenschaft entweder gar keine Daseinsberechtigung haben oder wenn, dann allenfalls in zweierlei Hinsicht: Entweder werden sie „zur Bescheidenheit einer Hypothese“ herabgewrdigt (wodurch sie jedoch gerade aufhçren, berzeugungen zu sein, also etwas, von dessen Sicherheit man berzeugt ist), oder die Vielzahl der berzeugungen wird auf eine einzige reduziert, „und zwar eine so gebieterische und bedingungslose, dass sie alle andren Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt“. Das ist die Voraussetzung, die eine wissenschaftliche Ttigkeit in Gang setzt. Doch jene berzeugung, die alle anderen ausgeschaltet hat, muss von nun an als „Glaube“ bezeichnet werden: „Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es giebt gar keine ,voraussetzungslose‘ Wissenschaft“. Diese grundlegende Voraussetzung, diese Art Vorbedingung fr die Entwicklung der Wissenschaft ist das entscheidende veritative Kriterium. Es ist also nicht nur notwendig, dass zuallererst die Frage, „ob Wahrheit noth thue“, bejaht wurde, sondern diese Antwort muss auch zwingend „in dem Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung darin zum Ausdruck kommt ,es thut nichts mehr noth als Wahrheit, und im Verhltniss zu ihr hat alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs‘.“ (FW 344, KSA 3, S. 575)
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In Anklang an einen Spruch des antiken Sophisten Gorgias (Frgm. 23, DK), fragt sich Nietzsche, ob dieser „Wille zur Wahrheit“ nicht bloß „der Wille, sich nicht tuschen zu lassen“ oder „der Wille, nicht zu tuschen“ sei. Und in bereinstimmung mit Gorgias fragt er sich weiter: „Aber warum nicht tuschen? Aber warum nicht sich tuschen lassen?“. Da sich die Frage, ob es im Hinblick auf das Dasein ntzlicher ist, zu tuschen und sich tuschen zu lassen, als das Gegenteil, nicht a priori beantworten lsst, kommt Nietzsche zu dem Schluss, dass der Wille, nicht zu tuschen und sich nicht tuschen zu lassen, im Grunde bedeutet: „,ich will nicht tuschen, auch mich selbst nicht‘: – und hiermit si nd wir auf dem Boden der Moral“. Damit zeigt sich die Wissenschaft als der Moral verhaftet, und die Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide von einer anderen Welt ausgehen, die als wahr gesetzt wird, auf Kosten unserer Welt, der „des Lebens, der Natur und der Geschichte“, in der sich nicht a priori behaupten lsst, ob das Wahre oder das Nicht-Wahre, das Tuschen oder das Nicht-Tuschen sich als ntzlicher erweisen. Die Existenz dieser Welt ist der Gegenstand jenes „metaphysischen Glaubens“, auf dem „unser Glaube in die Wissenschaft“ beruht, jener Glaube, durch den auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch u n s e r Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzndet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit gçttlich ist… (FW 344, KSA 3, S. 577).
Deshalb gibt es Nietzsche zufolge in Europa keine Wissenschaft, die sich nicht „,christliche Wissenschaft‘“ nennen kçnne.11 Indem Nietzsche diese Nhe von Wissenschaft und Glauben hinsichtlich des platonisch-christlichen Wahrheitsbegriffs als gemeinsamen Ausgangspunkt aufzeigt, wirft er brigens kein rein theoretisches Problem auf. Ebenso wenig lsst sich seine Kritik auf ein bloßes Kapitel in der Entwicklung seiner antichristlichen Polemik reduzieren. Vielmehr versucht Nietzsche, sich im Spektrum der wissenschaftlichen Forschung – hauptschlich der deutschen – seiner Zeit zu orientieren. Im Grunde ist das, was er der deutschen Wissenschaft vorwirft, nichts anderes als das, was er spter im Antichrist der deutschen Philosophie vorwirft: nmlich „eine hinterlistige Theologie“ zu sein (AC 10). In diesen Zusammenhang gehçrt die Geschichte der Lektre des Buches Die Mechanik der Wrme von Julius R. von Mayer, das Nietzsche auf Anraten 11 So im Manuskript; vgl. KSA 14, S. 272.
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von Kçselitz im Frhjahr 1882 (vielleicht nur teilweise) gelesen hat.12 Dabei handelte es sich um die zweite Ausgabe des 1867 erstmals erschienenen Buches. Kçselitz selbst sandte es Nietzsche zu, zusammen mit einem anderen, dem 1876 erschienenen Aufsatz von Mayers ber Auslçsung. Sehr wahrscheinlich war es auch Kçselitz, der Nietzsche dazu brachte, sich fr von Mayers wissenschaftliche Thesen zu interessieren. In einem Brief, den Nietzsche dem Freund schickte, nachdem dieser ihm die Lektre empfohlen hatte, zeigt er sich jedenfalls erfreut: „Das Buch, zu dem allmhlich in mir ein nicht geringer Hunger entstanden ist, wird wohl heute in meine Hnde kommen“; und angesichts des gemeinsamen Interesses fr die Themen, die in dem Buch (wie Nietzsche vermutet) behandelt werden, preist er sogar das „Zeichen, daß uns viele gute Dinge gemeinsam sind, mehr als wir in Worten sagen kçnnen“ (KSB 6, S. 82). Wenige Tage spter, am 16. April, lsst er sich zu einem geradezu enthusiastischen Urteil ber ein Buch hinreißen, das er wahrscheinlich noch gar nicht gelesen hat:13 „In solchen herrlichen schlichten und frçhlichen Bchern wie dem Mayer’s giebt es eine Harmonie der Sphren zu hçren: eine Musik, die nur fr den wissenschaftlichen Menschen bereitet ist“ (KSB 6, S. 84). Auf diese Begeisterung folgt jedoch fast ein ganzes Jahr des Schweigens. Erst am 20. Mrz 1882 teilt Nietzsche Kçselitz aus Genua mit: „Ich las in R Mayer“, doch der dabei gewonnene Eindruck hat nichts Enthusiastisches mehr: „Freund, das ist ein grosser Spezialist – und nicht mehr“. Seine vermeintliche eiserne Logik wird zu schlichtem Starrsinn herabgewrdigt: „Er meint immer Wunder wie logisch zu sein wenn er bloss eigensinnig ist“ (KSB 6, S. 183). Seinen berlegungen in der Frçhlichen Wissenschaft getreu – in der etwa im Aph. 110 (Ursprung der Erkenntniss) Denkfehler verurteilt werden, nmlich „irrthmliche Glaubensstze“, die Annahme, „dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Kçrper gebe“ (FW 110) – hlt Nietzsche von Mayer vor, immer noch jenes „Vorurtheil vom ,Stoffe‘“ 12 Siehe dazu C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2: Die zehn Jahre des freien Philosophen, Frankfurt a. M. / Wien 1994, S. 73 – 74; und G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin / New York 1998, S. 43 – 49. 13 Hinweise auf die Lektre des Buches von Mayer und Zitate einiger Stellen finden sich in einigen Fragmenten, die sich auf den Zeitraum zwischen Frhjahr und Herbst (also nach dem Brief vom 16. April) datieren lassen. Vgl. die Fragmente 11[24], 11[25], 11[68] e 11[136] (KSA 9, S. 451, S. 452, S. 467, S. 492). Im letztgenannten Fragment erkennt Nietzsche brigens an, dass von Mayer „zu ungemeinen Resultaten“ komme, obwohl er keine „ungemeine Kraft“ besitze.
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aufrechtzuerhalten, das schon Boscovich14 und noch frher Kopernikus ausgerumt hatten. Die Schwerkraft als eine „,Eigenschaft der Materie‘“ zu bezeichnen, ist nicht zulssig, „einfach weil es keine Materie giebt“: was existiert, ist nur Energie.15 Von der Existenz der Materie – und damit eines dauerhaften Stoffes – auszugehen, erscheint Nietzsche offenbar als ein irrtmlicher Glaubenssatz, kurz als theologisches Vorurteil. So schreibt er: „Zuletzt hat auch M noch eine zweite Kraft im Hintergrunde, das primum mobile, den lieben Gott, – neben der Bewegung selber. Er hat ihn auch ganz nçthig!“ (KSB 6, S. 183 f.) Nun ist es durchaus mçglich, dass Kçselitz selbst Nietzsche diese Bemerkung nahegelegt hat (wenn auch vçllig unbeabsichtigt, wie seine spteren Klagen ber dessen negative Reaktion auf von Mayers Thesen zeigen)16, indem er bei seiner Vorstellung des Buches in einem Brief an Nietzsche vom 10. Februar 1881 den Verfasser mit folgenden Worten beschrieben hatte: „ein ganz bestimmter, wortkarger und gedankenreicher Mann, der Alles, was nicht wissenschaftlich ist, abweist (nur den Herrgott nicht)“ (KGB III/2, S. 138). Es lsst sich jedoch mit Sicherheit sagen, dass einige der Themen von Mayers den Absichten der Frçhlichen Wissenschaft zuwiderlaufen – wie sein Versuch, das Organische im Zusammenhang mit den Wandlungen der Materie zu erklren (so das Sachthema der zweiten Abhandlung des Buches)17 und erst recht die Frage, ob es sinnvoll ist, „aus den materialistischen Prinzipien und Konsequenzen“ metaphysische Schlussfolgerungen zu ziehen, wie er in seiner Vorrede explizit ankndigt.18 Allein schon von Mayers methodologischer Ansatz – „Ist einmal eine Thatsache nach allen ihren Seiten hin bekannt, so ist sie eben damit erklrt und die Aufgabe der Wissenschaft ist beendigt“19 –, beruht auf der Selbst14 Zu den unterschiedlichen Positionen von Mayer und Boscovich, die Nietzsche nur ganz knapp anspielt, vgl. Abel, Nietzsche, S. 85 f. 15 Besonders ist hier auf die Meinung Abels (Nietzsche, S. 48) hinzuweisen, derzufolge Nietzsche diesen Gedanken von Schopenhauer bernommen habe: „Da es fr Schopenhauer nur Einen Willen gibt, so sind fr ihn sowohl Materie als auch Naturkraft nur Eine, und beide bleiben, unabhngig vom Wandel ihrer Formen und Zustnde, erhalten.“ 16 Vgl. M. Brusotti, Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin / New York 1997, S. 361. 17 J. R. von Mayer, Die Mechanik der Wrme, in: ders., Gesammelte Schriften, Stuttgart 1867; cap. II: Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. 18 Ebd., S. V f. 19 Ebd., S. 239.
Die Wissenschaft und der „Schatten Gottes“
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evidenz dessen, was als „Tatsache“ definiert wird, und auf einer Teleologie, die die Konvergenz von Dasein und Erklrung voraussetzt, was Nietzsche sicher nicht gern hçrte. Trotz der Vorstellung von einer Welt, die nicht mehr dem Prinzip der gçttlichen Ordnung unterliegt und daher die Form des Chaos angenommen hat – einer Vorstellung, die Nietzsche wahrscheinlich durch die Lektre von Mayers entwickelte –,20 sieht er doch in dieser Konvergenz jenes absolute Bedrfnis nach dem „lieben Gott“ verborgen, das er in dem Brief an Kçselitz kritisiert. Und daher darf dieser „liebe Gott“, von dem zu sagen ist, es sei „unanstndig“, dass er „berall zugegen ist“ – wie in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Frçhlichen Wissenschaft bemerkt –21 auch in der Wissenschaft keinen Platz finden. Gerade in der Ablehnung dieses absoluten Bedrfnisses liegt der Sinn einer „frçhlichen Wissenschaft“, mit dem Ergebnis, dass sie eine zutiefst skeptische Auffassung von Erkenntnis zum Programm erhebt. Aus dem Italienischen von Marianne Krause.
20 Nach Abel, Nietzsche, S. 45 f. geht dieser Gedanke direkt auf die Lektre von ber Auslçsung zurck. Durch von Mayers berlegungen, so Abel, „wird deutlich, wie weitreichend die Konsequenzen sind, wenn die Auslçsungs-, und nicht die Erhaltungs-Kausalitt als Prinzip der Geschehensvollzge angesehen werden muß. Mit dem Rckgang der Erklrungsleistung der Erhaltungskausalitt nimmt auch die Mçglichkeit ab, der Welt eine auf gçttliche Vernunft zurckzufhrende Geordnetheit zuzusprechen. Nietzsche wird spter, in Aufnahme der Auslçsungslehre, den Gesamtcharakter der Welt als ,Chaos‘ bestimmen. Darin ist dann das Ende des Ordo-Gedankens erreicht und zugleich ein neuer Horizont erçffnet“. 21 „,Ist es wahr, dass der liebe Gott berall zugegen ist?‘fragte ein kleines Mdchen seine Mutter: ,aber ich finde das unanstndig‘“ (FW, Vorrede 4).
Nietzsches frhe Fortschrittskritik Wolf Zachriat Nietzsche analysiert bereits in seinem Frhwerk den Tod Gottes und die Reaktionen auf dieses Ereignis: Dabei geraten sowohl die Apotheose von Wissenschaft und Technik als auch das Heilsversprechen eines allgemeinen Fortschritts in sein Blickfeld. Nietzsches frhe Auseinandersetzung mit dem Fortschritts- und Wissenschaftsglauben der Moderne werden in diesem Beitrag thematisiert. Zunchst wird sein Verstndnis der modernen Fortschrittsvorstellung untersucht, ehe Nietzsches Kritik an dieser Idee und schließlich seine positive Fortschrittsvorstellung herausgearbeitet werden.
Nietzsches Verortung der modernen Fortschrittshoffnung Fr Nietzsches Frhwerk scheint das Thema Fortschritt hçchstens von marginalem Interesse zu sein. Der Begriff wird in seinen verçffentlichten Schriften selten explizit verwendet und auch die Fortschrittsbegeisterung seiner Zeit wird kaum thematisiert. Gleichwohl findet sich in der sthetischen Abhandlung ber Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik eine konzentrierte Auseinandersetzung mit der Fortschrittsidee der Moderne, in deren Zentrum der Schlsselbegriff „Sokratismus“ (GT 13, KSA 1, S. 91) steht. Der Begriff des Sokratismus kennzeichnet im Tragçdienbuch die dominierende Lebensform der Moderne, deren Wurzeln in der Antike beim Namenspatron Sokrates liegen sollen. Die außerordentliche Bedeutung der sokratischen Philosophie erkennt Nietzsche in deren folgenschwerer Reaktion auf das antike Absterben der Mythen, die nach einer letzten, knstlerischen Wiederbelebung in der attischen Tragçdie im Dogmatismus erstarrt sein sollen. Sokrates soll als Urvater der antiken Aufklrung eine berwindung der mythischen Weisheiten anstreben, so dass die auf mythischer Autoritt beruhenden Anschauungen durch solche, die auf dem menschlichen Verstand aufbauen, ersetzt werden. Dieser Wandel hat aus Nietzsches Perspektive zu einer kulturellen Transformation gefhrt: auf die tragische Kultur, in deren Zentrum die apollinisch-dionysische Tragçdie steht, folgt die sokratistische Kultur, die vom ontologischen Optimismus der
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sokratischen Philosophie geprgt ist. Dessen Fundament bildet die Annahme einer Wechselwirkung von Wissen, Tugend und Glck, aus der sich die berzeugung des Sokrates ableitet, dass aus der kontinuierlichen Zunahme des menschlichen Wissens notwendig eine Maximierung von Tugend und Glck resultiere. Optimistisch ist diese Weltbetrachtung, weil sie vom Verstand einerseits die Erkenntnis der grundlegenden Struktur der Welt erhofft und andererseits eine dauerhafte und umfassende Verbesserung des als defizitr erfahrenen Daseins erwartet. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniss […] eine tiefsinnige Wa h n v o r s t e l l u n g , welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschtterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalitt, bis in die tiefsten Abgrnde des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i e r e n im Stande sei. (GT 15, KSA 1, S. 99)
Da die menschliche Vernunft als das einzig probate Instrument zur angestrebten Korrektur der conditio humana angesehen wird, kommt es, aus Nietzsches Sicht, mit der sokratischen Aufklrung zu einer Verabsolutierung des Rationalen, die das Unvernnftige als das Verwerfliche stigmatisiert. Alle Bereiche des griechischen Lebens seien dadurch einem Wandel unterworfen, denn viele berlieferte Volkstraditionen seien nun radikal hinterfragt und als unverstndlich aufgegeben worden. Der neu einsetzende Glaube an die Kraft des menschlichen Denkens, von dem ein fortschreitendes Verfgbarmachen des Seienden erwartet wird, ist fr Nietzsche von derart herausragender Bedeutung, dass er in diesem nicht nur eine Transformation innerhalb der Antike erkennt, sondern in Sokrates, der diese Entwicklung zur optimistisch-rationalistischen Kultur personifiziert, „den einen Wendepunkt und Wirbel der Weltgeschichte“ (ebd., S. 100) verortet. Aktualitt gewinnt diese Interpretation der antiken Aufklrungsbewegung durch die von Nietzsche diagnostizierte parallele Entwicklung in der Neuzeit. Analog zum Absterben des Mythos in der Antike konstatiert er in der Neuzeit ein Schwinden der Bedeutung des Christentums, was in der Geburt der Tragçdie in den Formulierungen ber die „blassen und ermdeten Religionen“ (GT 18, KSA 1, S. 117) oder die „ungeheure Verweltlichung“ (GT 23, KSA 1, S. 149) anklingt. Noch deutlicher sind einige Textstellen im Nachlass, die wiederholt das Absterben des Christentums in der Neuzeit feststellen und damit die Formel „Gott ist todt“1 antizipieren. 1
FW 125. Bereits im frhen Nachlass findet sich eine Vorformulierung des berhmten Satzes (N 1870/1871, KSA 7, 5[116]).
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Der neuzeitliche Verfall der christlichen Religion hinterlsst nach Nietzsche eine metaphysische Leerstelle: Die obersten, orientierungsstiftenden Werte und damit die allgemein anerkannte, gemeinschaftsbindende Ordnung verlieren ihre Bedeutung. Damit droht der ungezgelte Kampf der Partikularinteressen, der alle Einheitsbestrebungen unterluft und zu von ihm diagnostizierten „zerrissenen Zustnden“ (N 1870/1871, KSA 7, 5[115]) fhrt. Im Tragçdienbuch sieht Nietzsche dieses Sinnvakuum der Neuzeit hnlich wie nach dem Absterben der tragischen Mythen in der Antike durch einen aufklrerischen Optimismus hinsichtlich der zuknftigen Entwicklung der Menschheit ausgefllt. Zum einen bezieht sich dieser Optimismus auf die Erkenntnismçglichkeiten des Menschen, da der Sokratismus an die „Ergrndlichkeit der Natur der Dinge“ (GT 15, KSA 1, S. 100) glaubt. Den anderen Wesenszug beschreibt Nietzsche in den Kapiteln 13 bis 18 der Geburt der Trgçdie vor allem mit zwei Formulierungen: Einerseits spricht er relativ unbestimmt vom Glauben „an eine Correktur der Welt“2, womit die berzeugung an eine Verbesserung der irdischen Verhltnisse gemeint ist. Andererseits offenbart er deutlicher das Spezifische dieses Optimismus, wenn er in der Sprache des Mediziners von dem Glauben an die „Heilung der ewigen Wunde des Daseins“3 spricht. Mit dieser Formulierung kennzeichnet Nietzsche, worauf sich die anvisierte Verbesserung bezieht: Auf das menschliche Leiden in der Welt. Der diagnostizierte Optimismus glaubt an eine berwindung des als defizitr empfundenen Daseins: Die zu erwartende Heilung verspricht eine erfolgreiche Bekmpfung und dauerhafte Abschaffung der leidverursachenden Momente im Dasein. Die Annahme einer Akkumulation des Wissens ber die Welt und der Glaube an ihre Verbesserung durch dieses Wissen werden von Nietzsche als die wichtigsten Wesenszge des theoretischen Optimismus der Moderne dargestellt. Im Zentrum des modernen Sokratismus steht demzufolge die Idee der universellen Verbesserung bzw. des allgemeinen Fortschritts. Nietzsche verwendet diesen Begriff zwar selten explizit, aber mit der Rede von einem Glauben an eine Korrektur des Daseins spielt er deutlich auf die neuzeitliche Fortschrittsidee an, die eine umfassende Verbesserung bzw. Korrektur der menschlichen Verhltnisse im Verlauf der Geschichte erwartet.
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GT 15, KSA 1, S. 115, siehe auch ebd., S. 99. GT 15, KSA 1, S. 115, siehe auch GT 15, KSA 1, S. 100 u. S. 111.
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Bei der Auseinandersetzung mit der von Nietzsche skizzierten sokratistischen Fortschrittsvorstellung sind einerseits deren Bezug auf die Zukunft und andererseits deren Funktion in der Gegenwart zu beachten. Das prospektive Moment des sokratistisch-neuzeitlichen Fortschrittsdenkens ist offensichtlich, da die vom Sokratismus verkndete Korrektur des Daseins sich vor allem auf die Zukunft bezieht. Das Kommende ist dabei prinzipiell positiv konnotiert, weil in der Zukunft eine umfassende Verbesserung der gegenwrtigen Lebensverhltnisse erwartet wird. Folglich ist das sokratistische Fortschrittsdenken nicht blind, sondern auf einen zumindest ansatzweise definierten Idealzustand ausgerichtet. Dieses anvisierte Ideal ist nach Nietzsche das allgemeine Glck des Menschen, das durch die schrittweise berwindung und Beseitigung der leidverursachenden Momente im Dasein erreicht werden soll. Charakteristisch fr diesen modernen Optimismus ist ein Universalismus, der in der von Nietzsche zitierten Formel vom „Glaube[n] an das Erdenglck Aller“ (GT 18, KSA 1, S. 117) betont wird und der ausdrcklich jedem Individuum die irdische Verwirklichung seiner Vorstellungen vom Glck verspricht. Der zentrale Aspekt des vom Sokratismus angestrebten Idealzustands wird von Nietzsche wiederholt hervorgehoben: die Verwirklichung des Anspruchs aller Individuen auf das gleiche Glck. Da die Realisierung dieses Anspruchs bislang an den vielfltigen Formen der Ungleichheit scheitert, soll die Abschaffung von politischen, sozialen und çkonomischen Ungleichheiten oberste Prioritt bekommen, so dass tatschlich alle Individuen, auch die gegenwrtig Benachteiligten, in gleicher Freiheit das gleiche Glck genießen kçnnen. Von grundlegender Relevanz fr den sokratistischen Glcksanspruch ist nach Nietzsches Deutung die umfassende Befriedigung der menschlichen Bedrfnisse. Neben dem Schutz vor den Unwgbarkeiten der ußeren Natur bedeutet dieses die hçchstmçgliche Versorgung der menschlichen Natur. Die Devise des Sokratismus lautet deshalb: „mçglichst viel Produktion und Bedrfniß – daher mçglichst viel Glck“ (BA 1, KSA 1, S. 667). Die Garanten hierfr sollen die fortschreitende wissenschaftlich-technische Beherrschung der Naturgewalten und die daraus resultierende Verfgbarkeit der ußeren Natur sein: er spricht hier vom „Gott der Maschinen und Schmelztiegel“4. Von der steigenden Befriedigung der materiellen Bedrf-
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GT 17, KSA 1, S. 115. Mit dieser Formulierung beschreibt Nietzsche die moderne Apotheose von Wissenschaft und Technik. Siehe auch Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Beck’sche Ausgabe Werke (BAW) Band 5. Hg. v. H. J. Mette, K. Schlechta u. C. Koch, Mnchen, S. 287.
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nisse werden demnach entscheidende Fortschritte zur Annherung an ein allgemeines Erdenglck erwartet. Die Glcksvorstellung des modernen Sokratismus verkndet somit die Duplizitt eines ethisch-politischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der den Abbau der Ungleichheit zwischen den Menschen und die Zunahme der Verfgbarkeit der Natur garantiert. Im Tragçdienbuch spezifiziert Nietzsche nicht weiter, welche Weltanschauungen der Moderne sich diese Fortschrittsvorstellung auf ihre Fahnen schreiben. Deutlicher wird er im Nachlass, wo er explizit auf den Liberalismus, Sozialismus und Kapitalismus verweist, die letztlich alle die gemeinsame Idealvorstellung eines allgemeinen Erdenglcks teilen sollen. Bei allen Differenzen zwischen diesen Emanzipationsbewegungen der Moderne sieht er gerade in deren Fortschrittsglauben eine gewichtige Gemeinsamkeit. Fr das Verstndnis des modernen Fortschrittsglaubens ist nach Nietzsche aber nicht nur die Kenntnis von dessen Bezug auf einen knftigen Idealzustand des allgemeinen Erdenglcks wesentlich, sondern es ist auch dessen Funktion in der modernen Kultur zu beachten. In der Moderne diagnostiziert Nietzsche eine Erosion der tradierten christlichen Werte, die den Menschen in eine umfassende Verunsicherung und Orientierungslosigkeit zu strzen drohen. Angesichts dieser Erosion des gçttlichen Trostes soll das alltgliche bel nicht mehr zu ertragen sein. Dieser Verlust der religiçs verankerten Wahrheit birgt nach Nietzsches Meinung die Gefahr eines Fortfalls jeglicher gesellschaftlicher Ordnung: Die Negation der religiçs-normativen Werte fhrt zu einer Negation der bergeordneten, gemeinschaftsstiftenden Ziele einer Kultur, wodurch die hemmungslose individuelle Bedrfnisbefriedigung freigesetzt wird. Die Folge des ungebndigten Egoismus wre ein Krieg aller gegen alle, der zu einem Ungengen am Vorhandenen fhrt und in der lebensgefhrlichen Apokalypse des „praktischen Pessimismus“ (GT 15, KSA 1, S. 100) gipfelt. Vor dem destruktiven Ausleben der Partikularinteressen im praktischen Pessimismus schtzt nach Nietzsche der sokratistische Glaube an einen szientistisch-eudmonistischen Fortschritt, womit dieser ein Gegengewicht zum Absterben der Religionen bildet. Auch wird der Sokratismus in diesem Zusammenhang gewrdigt, weil er die egoistisch-destruktiven Krfte der Menschen durch eine neue Aufgabe bindet: die Erkenntnis der wahren Ordnung der Dinge, die eine „unbezifferbare Summe von Kraft“ (ebd.) erfordert. Darber hinaus vermag der Sokratismus gemß Nietzsches Perspektive auch das leidvolle Dasein zu rechtfertigen, weil die Vorstellung eines umfassenden Fortschritts das gegenwrtige Leiden zu einem temporren Defizit marginalisiert. Der Mensch soll dadurch die Unzulnglichkeit des
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Vorhandenen ertragen kçnnen und zum Weiterleben verfhrt werden. Aufgrund dieser lebensantreibenden Kraft wird der sokratistische Fortschrittsglaube im Tragçdienbuch als Daseinsrechtfertigung und „Daseinsform“5 bezeichnet, der einst das nachtragische Zeitalter der Antike beherrschte und heute die Moderne dominiert. Diese Deutung des Sokratismus verweist auf interessante hnlichkeiten zwischen der antiken und neuzeitlichen Aufklrung, die beide von dem Bestreben geprgt sind, einen als defizient demaskierten mythischen bzw. religiçsen Werthorizont abzulçsen. Auch kann mit dem Altphilologen Nietzsche die Person des Sokrates als eine wichtige Wegmarke der antiken Aufklrung im 5. Jahrhundert v. Chr. angesehen werden. Obwohl in dieser Zeit auch verschiedene Anstze eines Fortschrittsdenkens zu erkennen sind, die auf konkrete Fortschrittserfahrungen in den verschiedensten Lebensbereichen zurckzufhren sind, ist es jedoch verfehlt, den ontologischen Optimismus von Sokrates als Glauben an eine das Leid abschaffende Daseinskorrektur zu interpretieren. Die von Nietzsche angefhrte sokratische Annahme einer Interdependenz von Wissen, Tugend und Glck schließt bei Sokrates keinen Glauben an eine kontinuierliche Abschaffung des Leidens aller Menschen ein. Statt Sokrates als Ahnherrn des neuzeitlichen Glaubens an einen allgemeinen Fortschritt zu bestimmen, ist eher auf die Bedeutung des chiliastischen Denkens fr die Fortschrittseuphorie der Moderne zu verweisen. Nietzsches Ausfhrungen ber die Karriere der Fortschrittsidee in der Neuzeit und deren Zusammenhang mit dem evidenten Bedeutungsschwund der christlichen Religion sowie mit den Erfolgen der Wissenschaften erscheint mir weitgehend berzeugend. Der Verlust der dominierenden Stellung des christlichen Glaubens im Zeitalter der Aufklrung ist von zahlreichen Interpreten minutiçs analysiert worden.6 Fr die Entstehung und Verbreitung der Aufklrungsbewegung sind die Naturwissenschaften und die aus ihnen resultierende praktische Verfgungsmacht von herausragender Bedeutung. Die Erfahrung des rasanten Fortschritts in den 5 6
GT 14, KSA 1, S. 98 u. 99. Siehe beispielsweise Wilhelm Schmidt-Biggemann, Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklrung, Frankfurt a. M. 1988. In verschiedenen Aufstzen wird hier der Umschlag der religions-apologetischen Vernunft in eine kritische Vernunft, an der die Apologetik letztlich zerbricht, beschrieben. Auch Nietzsche selbst verweist wiederholt auf die zersetzende historisch-kritische Methode, an der jede Metaphysik zu zerbrechen droht. (GT 23, KSA 1, S. 146 u. 148)
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Wissenschaften hat die Idee eines allgemeinen Fortschritts stark befçrdert.7 Auch betont Nietzsche treffend die fr die aufklrerische Idee eines allgemeinen Fortschritts zentrale Vorstellung einer kontinuierlichen berwindung des menschlichen Leidens. Sowohl die liberalistischen als auch sozialistischen Bewegungen der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts betonen die Bedeutung der Wissenschaften fr eine umfassende Verbesserung der menschlichen Verhltnisse.8 Untersttzt werden sie dabei von Wissenschaftlern wie Helmholtz, die von der „vollkommenen Begreifbarkeit der Welt“9 durch die Wissenschaften und deren Segnungen berzeugt waren. Problematisch sind allerdings Nietzsches Ausfhrungen ber die Funktion des Fortschrittsglaubens im modernen Sokratismus, denen die Annahme eines radikalen Entweder / Oder zugrunde liegt. Entweder ist eine lebenssichernde Rechtfertigung des menschlichen Leidens mçglich, oder es herrscht ein lebensverneinender, praktischer Pessimismus. Dass bei Nietzsche die Frage nach „dem Sinn des Lebens“ (N 1875, KSA 8, 3[63]) von existenzieller Bedeutung ist, hat Volker Gerhardt treffend hervorgehoben: „Das Bedrfnis nach Sinn […] ist konstitutiv fr Nietzsches Begriff der individuellen Existenz. Der Mensch ist das Wesen, das nach Sinn verlangt, nach zweckvollen Zusammenhngen, denen es sich selbst zurechnen kann.“10 Nietzsche untersucht vor allem die Folgen der Lockerung der religiçsen Bindungen und der Erosion der Theodizee in der Neuzeit, mit denen eine Mçglichkeit der Rechtfertigung der bel in der Welt verloren geht. Odo Marquard hat dieses Fehlen im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Theodizee und der Legitimationsproblematik als das Fehlen einer Entlastung bezeichnet, welche in der Moderne abwechselnd die „autonomischgeschichtsphilosophische Revolution“ oder die „Geschichtstheodizee“11 leisten soll. Fr beide Entlastungen ist der Fortschrittsglaube von konsti7 Exemplarisch prsentiert sich der moderne Fortschrittsglaube in den Schriften von Turgot (siehe Anne Robert Jacques Turgot, ber die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von J. Rohbeck u. L. Steinbrgge, Frankfurt a. M. 1990). 8 Henning Ottmann hat die Bedeutung des modernen Fortschrittsdenken fr den Kapitalismus und Sozialismus in seiner Untersuchung des Verhltnisses von Politik und Philosophie bei Nietzsche deutlich erkannt (Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin / New York 1987, S. 31. 9 Hermann von Helmholtz, ber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaften, in: ders., Vortrge und Reden, Braunschweig 1896, S. 375. 10 Volker Gerhardt, Artistenmetaphysik, Stuttgart 1988, S. 52 f. 11 Odo Marquard, Entlastungen, in: ders., Apologie des Zuflligen, Stuttgart 1986, S. 19.
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tutiver Bedeutung, denn der knftige Zustand des Heils, in dem die Ursachen des menschlichen Leidens eliminiert sein sollen, soll das gegenwrtige bel legitimieren. Mit dem Begriff der Daseinsrechtfertigung beschreibt Nietzsche treffend diese elementare Funktion des Fortschrittsglaubens in der Moderne. Nicht nachvollziehbar ist allerdings seine Annahme, mit dem Verlust einer Daseinsrechtfertigung drohe ein Vernichtungskampf der Partikularinteressen und eine „Ethik des Vçlkermordes aus Mitleid“ (GT 15, KSA 1, S. 100). Gegen dieses radikale Entweder / Oder bleibt an Nietzsches eigene Einsicht zu erinnern, dass die Kunst des Menschen, sein Bedrfnis nach Sinn zu befriedigen, nicht unterschtzt werden sollte (GT 18, KSA 1, S. 115 f.).
Nietzsches Kritik am szientisch-eudmonistischen Fortschrittsglauben Nietzsches Kritik am modernen Sokratismus konzentriert sich auf die Demaskierung von Widersprchen von Szientismus und Eudmonismus sowie auf deren problematische wechselseitige Beeinflussung. Die szientistische Annahme des Sokratismus, dass die Wissenschaften die wahre Ordnung der Natur erkennen und verbessern kçnnten, wird von Nietzsche kritisch analysiert. Obwohl er auch temporr positive Aspekte am Szientismus erkennt, lehnt Nietzsche die „theoretische Weltbetrachtung“ (GT 17, KSA 1, S. 111) des Sokratismus letztlich entschieden ab. Denn der Erfolg der szientistischen Verklrung ist nach Nietzsche an eine entscheidende Bedingung geknpft: die Wissenschaftler drfen sich lediglich mit Problemen und Aufgaben beschftigen, die auch garantiert mit wissenschaftlichen Mitteln zu lçsen sind. Nur innerhalb einer bestimmten Bannmeile des Forschens soll der theoretische Optimismus mçglich sein: […] die Heiterkeit d e s t h e o r e t i s c h e n Me n s c h e n […] [die] an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lçsbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: „Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden“. (GT 17, KSA 1, S. 115)
Die Heiterkeit des Sokratismus soll jedoch weichen, sobald der theoretische Mensch den Bannkreis der Aufgaben verlsst. Nietzsche versucht in diesem Zusammenhang, die szientistische Vorstellung von der Omnipotenz der Wissenschaften durch die Entlarvung ihrer unreflektierten Voraussetzun-
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gen, wie der reduktionistischen Konzentration auf begrenzte Problembereiche, zu widerlegen. Vor allem im emphatischen Wahrheitsanspruch der Wissenschaften erkennt er eine unaufhebbare Spannung von absolutem Anspruch und faktischer Bedingtheit. Unter Berufung auf die Transzendentalphilosophie Kants und Schopenhauers negiert er die Mçglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis der wahren Natur der Dinge, die vom Szientismus behauptet wird. Die vom Wissenschaftler erkannten Gegenstnde und Sachverhalte sind aus Nietzsches Sicht immer Objekte und Ereignisse fr ein Subjekt, dessen Erkenntnismçglichkeiten a priori durch bestimmte formale Prinzipien geprgt sind. In der Tradition von Kant verweist er in diesem Zusammenhang auf die transzendentale Idealitt von Raum, Zeit und Kausalitt, welche den forschenden Wissenschaftler nicht die Dinge an sich, sondern lediglich die Erscheinungswelt erkennen lsst (GT 18, KSA 1, S. 118). Bereits in einer frhen, nicht verçffentlichten Textpassage wendet er sich gegen eine historische Gesetzmßigkeit, nach der die Verbesserung der menschlichen Verhltnisse im Verlauf der Geschichte notwendig sei. „Die historischen Gesetze bewegen sich nicht in der Sphaere der Ethik. Der,Fortschritt‘ ist berhaupt kein historisches Gesetz, weder der intellektuelle noch der moralische noch der çkonomische.“ (N, BAW III, S. 322) Begrndet wird seine Ablehnung mit dem begrenzten Erkenntnisvermçgen des Menschen, das seines Erachtens lediglich kleine Kausalketten in der Erscheinungswelt, und nicht den wahren, großen Gang der Notwendigkeit zu erfassen vermag. Alle Versuche, einen notwendigen Fortschrittsprozess in der Geschichte aufzuzeigen, werden von ihm deshalb als „Tuschung“ (N, BAW III, S. 323) abgelehnt. Nietzsches Kritik am Szientismus konzentriert sich vor allem auf den Nachweis von unverrckbaren Grenzen der Wissenschaften.12 berzeugend ist das von Nietzsche angefhrte transzendentalphilosophische Argument gegen den szientistischen Anspruch, dass der wissenschaftliche Fortschritt 12 Der Vorwurf an den Szientismus richtet sich gegen die Missachtung der Erkenntnisgrenzen der Wissenschaften und der Grenzen der Wissenschaften gegenber anderen Bereichen, wie der Philosophie und Kunst. Diese Kritik an einer berschtzung der Wissenschaften ist weder irrational noch gegen die Wissenschaften selbst gerichtet; sie versucht vielmehr, deren hybride Wertschtzung durch die Angabe von guten Grnden infrage zu stellen. Folglich ist der in diesem Zusammenhang von Schndelbach und Habermas erneuerte Irrationalismusvorwurf nicht plausibel (Herbert Schndelbach, Rationalitt. Philosophische Beitrge, Frankfurt a. M. 1984, S. 11 f. und Jrgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1988, S. 106 f ).
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eine fortschreitende Erkenntnis der wahren Ordnung der Dinge ermçgliche. Dieser Anspruch scheitert notwendig an der conditio humana, die die Einnahme eines archimedischen Erkenntnisstandpunktes prinzipiell nicht zulsst. Nietzsches Kritik am szientistischen Wahrheitssanspruch wendet sich allerdings nicht gegen die Vorstellung eines wissenschaftlich-technischen Fortschritts innerhalb der Erscheinungswelt. Ausdrcklich konstatiert er im Nachlass, dass die „Naturwissenschaften ein vçllig berechtigtes Ziel [haben]“ und wrdigt den „glnzende[n] Fortschritt der Technik und Industrie“ (N, BAW V, S. 287). Wenig plausibel erscheinen mir die von Nietzsche prognostizierten Konsequenzen aus der modernen Erkenntnis der Grenzen des Erkennens, die den theoretischen Menschen ohne eine knstlerische Verklrung unvermeidlich „zur Verzweiflung und Vernichtung treiben“13 sollen. In den Wissenschaften und insbesondere in den Naturwissenschaften bieten sowohl die faktischen Erkenntnisfortschritte als auch das Wissen um deren praktische Anwendungsmçglichkeiten einen zumeist wirksamen Schutz vor einer Agonie der Wissenschaften. Auch wenn der szientistische Wahrheitsanspruch grçßtenteils durch einen Fallibilismus abgelçst worden ist, dominiert angesichts der berwltigenden Forschungsergebnisse in den Wissenschaften weiterhin ein Optimismus, der nach Heidegger auf die „technische Herstellung der unbedingten Mçglichkeit eines Herstellens von allem“14 ausgerichtet ist. Das ethisch-politische Fortschrittsversprechen des Sokratismus wird von Nietzsche trotz dessen temporr daseinsrechtfertigender Funktion als gefhrlich eingestuft, weil es nach einer Zeit des passiven Hoffens zu grausamen Versuchen der praktischen Realisierung der angekndigten Fortschritte kommen soll. Der Auslçser fr diese gefhrliche Entwicklung soll in der Sensibilisierung der im Elend lebenden Menschen fr die vermeintliche Ungerechtigkeit der bestehenden Rangordnungen und Hierarchien liegen. Die in der Moderne sich herausbildende Arbeiterschaft – in 13 Ueber das Pathos der Wahrheit, KSA 1, S. 760. Walter Joos erinnert in diesem Zusammenhang zurecht an Nietzsches Wissen um Heinrich von Kleists Kantkrise, die Kleist in eine lebensbedrohliche Verzweiflung gestrzt hat (Walter Joos, Die desperate Erkenntnis. Ein Zugang zur Nihilismusproblematik bei Friedrich Nietzsche, Bern / Frankfurt 1983, S. 64). 14 Martin Heidegger, berwindung der Metaphysik, in: ders., Vortrge und Aufstze, Pfullingen 1985, S. 91. Auch wenn das Bewusstsein fr die Gefahren des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im 21. Jahrhundert gewachsen ist, so hat die Erkenntnis der Erkenntnisgrenzen der Wissenschaften keine Agonie in den Wissenschaften ausgelçst.
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dem Aufsatz Der griechische Staat und in der Geburt der Tragçdie werden die provokanten Begriffe „Sklave“ bzw. „Sclavenstand“ (GT 18, KSA 1, S. 117) verwendet – beginnt durch diese Sensibilisierung ihre frher selbstverstndlich hingenommene gesellschaftliche Position zu hinterfragen, was von Nietzsche als emanzipatorischer Sndenfall gedeutet wird. „Unselige Zeiten, in der der Sklave […] zum Nachdenken ber sich und ber sich hinaus aufgereizt wird! Unselige Verfhrer, die den Unschuldsstand des Sklaven durch die Frucht vom Baum der Erkenntniß vernichtet haben!“ (Der griechische Staat, KSA 1, S. 765) Durch die Indoktrination mit Parolen von der Wrde des Menschen, der Wrde der Arbeit und der Gleichberechtigung Aller sollen diese bei der Arbeiterschaft derart verinnerlicht werden, dass schließlich jede Form von leidverursachender Ungleichheit und Herrschaft als prinzipiell ungerecht identifiziert und deren Abschaffung mit allen Mitteln angestrebt wird.15 Anschaulich lsst sich dieses Phnomen nach Nietzsche an der Geschichte der Franzçsischen Revolution studieren, deren Streben nach einer Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brderlichkeit im Terror der Revolutionsregierungen endet. „Die franzçsische Revolution ist aus dem Glauben an die Gte der Natur entstanden […]. Wir mssen uns belehren lassen. Eine mißleitete und optimistische Weltbetrachtung entfesselt endlich alle Greuel.“ (N 1871, KSA 7, 9[26]) Die fatalen Folgen der drohenden Revolutionen offenbaren nach Nietzsches zentraler kunstmetaphysischer These einen immanenten Widerspruch der emanzipatorischen Ideen des modernen Sokratismus. So stellen die szientistisch-eudmonistischen Fortschrittskonzeptionen eine verklrende Scheinwelt dar, zu deren Erzeugung und Aufrechterhaltung die knstlerischen Produzenten vom leidvollen Broterwerb befreit werden sollen. Dagegen soll eine Mehrarbeit der nicht-knsterlerischen Masse notwendig sein. Damit es einen breiten tiefen und ergiebigen Erdboden fr eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, ber das Maaß ihrer individuellen Bedrftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrckt werden […].16
15 Vgl. GT 18, KSA 1, S. 117 u. Der griechische Staat, KSA 1, S. 765. 16 Der griechische Staat, KSA 1, S. 767. Knapper beschreibt Nietzsche die Voraussetzung des knstlerischen Schaffens im 18. Kapitel der Tragçdienschrift (siehe GT 18, KSA 1, S. 117).
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Nietzsches Kritik richtet sich jedoch nicht allein gegen die Mçglichkeit, das Ziel eines allgemeinen Glckszustandes zu erreichen, sondern wendet sich auch gegen das angestrebte Ziel selbst. So soll nicht nur die Verwirklichung der eudmonistischen Fortschrittshoffnungen illusionr sein, sondern es soll auch eine Illusion sein, anzunehmen, dass eine egalitre Gesellschaft eine Verbesserung darstelle. Dieses skizziert Nietzsche anhand der Bildungsfrage. Von der Abschaffung der Bildungsprivilegien erwarten die fhrenden Emanzipationsbewegungen der Moderne seines Erachtens eine Angleichung des Bildungs- und Glcksniveaus. Die Bildung soll dadurch nicht lnger „ein Mittel fr das Erdenglck der Wenigsten“ (BA I, KSA 1, S. 668) sein. Abgesehen von der ußerst problematischen These, dass Bildung notwendigerweise ein Erdenglck ermçglicht, befrchtet Nietzsche als unabwendbare Konsequenz der ffnung der Bildungsanstalten ein eklatantes Herabsinken des Bildungsniveaus: „[…] die ,mçglichst allgemeine Bildung‘ schwcht die Bildung so ab, daß sie gar keine Privilegien und gar keinen Respekt mehr verleihen kann. Die allerallgemeinste Bildung ist eben Barbarei.“17 Nietzsche begrndet diese nivellierende Entwicklung damit, dass die Schler und Studenten nicht mehr gemß ihrer individuellen Fhigkeiten gefçrdert werden kçnnen, sondern jeder nach dem durchschnittlichen Leistungsvermçgen der Klassen und Seminare unterrichtet wird. Als „Barbarei“ wird die allgemeine Bildung bezeichnet, da sie zu einer Gleichschaltung von natrlicher Ungleichheit fhren soll, zur „uniformierten Mittelmßigkeit“ (BA I, KSA 1, S. 680). Eine Einebnung der natrlichen Ungleichheit boykottiert nach Nietzsche aber eine sinnvolle Bildung, die die hçchstmçgliche Entfaltung der je spezifischen Talente des Menschen anstrebt. Prinzipiell richtet sich seine Kritik gegen alle Unterdrckungsmechanismen, die danach trachten, die individuellen Freirume im Namen des allgemeinen ethisch-politischen Fortschritts abzuschaffen. Wenn das Kollektiv grundstzlich hçher gestellt wird als das Individuum, wird sich das nach Nietzsche in allen Bereichen des menschlichen Lebens negativ bemerkbar machen.18
17 Ebd. In einer Textpassage aus dem Nachlass von 1871/72 behauptet Nietzsche provokant: „Die allgemeine Bildung ist nur ein Vorstadium des Communismus: […]“ (KSA 7, 8[57]). 18 Wohin die Tendenz zur unformierten Mittelmßigkeit fhren kann, hat Nietzsche spter im Zarathustra mit der negativen Utopie des „letzten Menschen“ ironisch skizziert (Za, Vorrede, KSA 4, S. 18 f ).
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Nietzsches Kritik am ethisch-politischen Fortschrittsglauben erhebt hnlich wie seine Szientismuskritik den Vorwurf, dass bestimmte Grenzen verletzt werden. Hier sind es die jeweils unterschiedlichen Grenzen der individuellen Fhigkeiten, die vom „Sokratismus“ nicht angemessen bercksichtigt werden sollen. Den Hintergrund dieser Kritik bildet die trotz gewisser berzeichnungen letztlich treffende Schilderung der mit der Industrialisierung aufkommenden Arbeiterschaft und ihres sich ausprgenden Selbstbewusstseins, das sich in ihren politisch-sozialen Forderungen manifestiert. In Nietzsches Schriften ist weder eine Apologie des freien Spiels der unkontrollierten Krfte im Kapitalismus noch eine Sympathie fr die sozialistisch-egalitaristischen Proteste seiner Zeit zu entdecken. Vielmehr wendet er sich sowohl gegen den Sozialismus, dessen gefhrliche Ziele nicht zu verwirklichen sind, als auch gegen die reine Marktwirtschaft, deren Ziele das Leiden der Arbeiterschaft nicht rechtfertigen.19 Henning Ottmann hat gegen die einseitigen Nietzsche-Interpretationen in der Tradition von Georg Lukcs20 zurecht Nietzsches umfassende Kritik an den verschiedenen Varianten des modernen Fortschrittsglaubens betont. Und doch, man darf Nietzsche nicht mit seinen Zeitgenossen verwechseln. Er wollte ber Kapitalismus und Sozialismus hinaus. Sie galten ihm als feindliche Brder, oberflchlich betrachtet verschieden, in Wahrheit hinter ihrem Rcken geeint … geeint in Optimismus und Eudaimonismus, in Fortschrittsglauben und Glcksverheißung […].21
Die Aktualitt dieses kritischen Ansatzes erscheint angesichts der gegenwrtigen Turbulenzen des Neoliberalismus unbersehbar. Weitsichtig ist auch Nietzsches Absage an die optimistischen Versuche einer vollkommenen Abschaffung von Herrschaft, da diese letztlich zu extremen, totalitren Herrschaftsformen fhren. Im 20. Jahrhundert zeigte beispielsweise der Terror in den Staaten der Sowjetunion die kontraproduktiven Anstrengungen des Egalitarismus.22 Nietzsches provokante Gleichsetzung der modernen Arbeiterschaft mit einem barbarischen Sklavenstand ist dagegen vçllig unpassend, da die Arbeiterschaft sich prinzipiell von antiken oder neuzeitlichen Sklavenstnden unterscheidet. Ebenso ist seine partielle Verteidigung des Sklaventums nicht berzeugend, 19 Siehe: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, KSA 1, S. 667 f. 20 Vgl. Georg Lukcs, Die Zerstçrung der Vernunft. Werke Bd. 9, Neuwied / Berlin 1962. 21 Ottmann, Politik und Philosophie, S. 28. 22 Siehe: Das Schwarzbuch der Kommunismus, hg. von Stphane Courtois, Nicolas Werth u. a., Mnchen 1998.
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da selbige eine Aufgabe von rechtsstaatlichen Prinzipien impliziert, die gerade auch die Entfaltung von geistig-kreativen Minderheiten schtzt. Nietzsches dritter Einwand gegen den Sokratismus konzentriert sich auf die Demaskierung einer problematischen wechselseitigen Beeinflussung der wissenschaftlich-technischen und ethisch-politischen Fortschrittsvorstellung in der Moderne. In diesem Zusammenhang zeigen sich Anstze zu einer Kritik der instrumentellen Vernunft der Wissenschaften sowie zu einer Kritik des wissenschaftlich-technischen Chiliasmus. Die Besinnung auf die erkenntnistheoretischen Grenzen der wissenschaftlichen Perspektive offenbart nach Nietzsche, dass diese den szientistischen Anspruch, wahrhaft sinnvolle Ziele angeben zu kçnnen, nicht erfllen kann. Die außerordentliche Bedeutung der Wissenschaften soll stattdessen in der Realisierung von vorgegebenen, vorwissenschaftlichen Zielen durch die instrumentelle Vernunft liegen, die von einer philosophisch-zwecksetzenden Vernunft unterschieden werden muss. Das Verhltnis von Wissenschaft und Philosophie bestimmt er analog zur Relation von zwecksetzender und instrumenteller Vernunft: die Philosophie kann die Definition von sinnvollen Zielen leisten und die Wissenschaften versuchen diese Ziele durch angemessene Mittel zu realisieren. Der Szientismus hingegen soll die Abhngigkeit der Wissenschaften von der Philosophie ignorieren: „Sie [die Wissenschaft] hngt nmlich in allen Zielen und Methoden durch und durch ab von philosophischen Ansichten, vergißt dies aber leicht.“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[24]) Der vom Szientismus triumphal erhobene Autonomieanspruch der Wissenschaften grndet demnach auf einer mangelnden Einsicht in die Grenzen der Wissenschaften. Im modernen Sokratismus offenbart sich die Bedeutung von vorwissenschaftlichen Zielvorgaben, wenn dieser das allgemeine Erdenglck als das Ziel der Wissenschaften definiert und das Streben nach einer umfassenden Befriedigung der steigenden Bedrfnisse der Menschen. Denn darin sollen sich das egalitaristische und das liberalistische Denken der Moderne gleichen: Von der steigenden materiellen Bedrfnisbefriedigung wird eine Erhçhung des allgemeinen Glcks erwartet. Gemß Nietzsches Deutung bilden die ethisch-politischen Fortschrittskonzepte das motivierende und beschleunigende Moment des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext die anvisierte Steigerung der materiellen Bedrfnisse, denn da diese knstlich geweckt werden kçnnen und damit potenziell unendlich sind, ist auch die „sokratistische“ Fortschrittsvorstellung vom Erdenglck
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prinzipiell unendlich angelegt. Gerade auch die knstliche Erzeugung von Massenbedrfnissen wird von Nietzsche kritisiert.23 Dagegen kann eine Prfung der Bedrfnisse sowie eine Begrenzung der wissenschaftlichen Forschung und ihrer praktischen Anwendungen vom Sokratismus nicht in Betracht gezogen werden, da sie mit den internalisierten ethisch-politischen Versprechen konfligieren. Diese Blindheit des Szientismus gegenber mçglichen Alternativen zu den emanzipatorischen Zielvorgaben der Wissenschaften ist nach Nietzsche ein Resultat der szientistischen Ignoranz gegenber den vorwissenschaftlichen Bedingungen der Wissenschaften. Daneben diagnostiziert Nietzsche in der sokratistischen Kultur eine Beeinflussung der ethisch-politischen Fortschrittsvorstellung durch die Fortschritte in Wissenschaft und Technik. So wird vom wissenschaftlichtechnischen Fortschritt neben der zunehmenden Beherrschung der außermenschlichen Natur auch die indirekte, schrittweise Abschaffung der Herrschaft des Menschen ber den Menschen erwartet. Diese Erwartung grndet nach Nietzsche in der Annahme, dass die politisch-sozialen Herrschaftsverhltnisse auch auf einen Mangel an materiellen Gtern zurckzufhren sind. Die defizitre Versorgung mit Grund- und Luxusgtern nçtige zu dauerhaften Verteilungskmpfen, aus denen eine mangelhafte materielle Bedrfnisbefriedigung der Unterlegenen resultiere. Erst der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt soll diese Quelle von leidbringenden Herschaftsstrukturen versiegen lassen, indem eine steigende wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung eine Maximierung der Gterproduktion erzielt, welche die Bedrfnisse aller Menschen befriedigt: „Mçglichst viel Erkenntniß und Bildung – daher mçglichst viel Produktion und Bedrfniß – daher mçglichst viel Glck – so lautet etwa die Formel.“ (Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, KSA 1, S. 667) Auch in diesem Zusammenhang zweifelt Nietzsche nicht an der Mçglichkeit von wissenschaftlich-technischen Fortschritten. Seine Kritik richtet sich vielmehr gegen eine berschtzung der positiven Wirkungen dieser Fortschritte auf Ethik und Politik. Analog zum Scheitern der egalitaristischen und liberalistischen Glcksversprechen an der unaufhebbaren Heterogenitt und Gewaltsamkeit der Menschen, versagen seines Erachtens auch die Anstze zu einer egalitren Verteilung der Gter an den unaufhebbar inegalitren Strukturen jeder Gesellschaft. Sogar die grçßten technisch-industriellen Fortschritte und die daraus resultierenden Produkti23 So wirft er beispielsweise Lassalle und den Arbeiterbildungsvereinen vor, im Volk immer neue Bedrfnisse zu wecken (vgl. N 1870 – 71/1872, KSA 7, 8[57]).
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onssteigerungen werden die Besitzunterschiede als Quelle sozialer Ungleichheit nicht obsolet werden lassen, so Nietzsches Prognose. Die wechselseitige Beeinflussung der wissenschaftlich-technischen und ethisch-politischen Fortschrittsvorstellungen des modernen Sokratismus ist von Nietzsche als eine Quelle der Selbstzerstçrung der sokratistischen Kultur interpretiert worden. Seine Demaskierung der verdeckten ethisch-polititschen Implikationen der modernen wissenschaftlich-technischen Fortschrittsvorstellungen verweist zurecht auf den instrumentellen Charakter der Wissenschaften, weil deren genuine Aufgabe die Zuordnung von optimalen Mitteln zu vorgegebenen Zwecken darstellt, whrend sie die Verifikation oder Falsifikation von praktischen Normen nicht leisten kann. Das Unvermçgen der Wissenschaft hinsichtlich der Festlegung von praktischen Orientierungskoordinaten hat Gnther Abel in einem Aufsatz zum Verhltnis von Kunst und Wissenschaft treffend kommentiert. Wissenschaft hat zur Destruktion traditionaler Weltbilder beigetragen, aber sie selbst ist ihrer Natur nach – eben weil sie nicht auf der ursprnglichproduktiven Ebene der Welt- und Sinnerzeugung anzusiedeln ist – nicht in der Lage, diese Funktionsstelle einzunehmen oder gar eine neue zu schaffen. Ein wissenschaftliches Weltbild kann es nicht geben.24 Das wissenschaftliche Weltbild des szientistischen Sokratismus ignoriert demnach die Grenzen der instrumentellen Vernunft der Wissenschaften, wodurch zugleich die eudmonistischen Zielvorgaben, denen die Wissenschaften in der Moderne maßgeblich dienen, nicht erkannt werden. Erst wenn diese „wissensmoralische Metaphysik“25 offenbar geworden ist, dann kann nach deren Plausibilitt und nach potenziellen Alternativen gefragt werden. Auch Nietzsches Anmerkungen zur Beeinflussung der ethischpolitischen Fortschrittsvorstellungen des Sokratismus durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt erfassen meines Erachtens ebenfalls ein wesentliches Moment des modernen Fortschrittsoptimismus. Viele seiner Zeitgenossen haben von den wissenschaftlich-technischen Erfindungen 24 Gnther Abel, Wissenschaft und Kunst, in: M. Djuric´ u. J. Simon (Hg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Wrzburg 1986, S. 12. Abel bestimmt die Wissenschaft aufgrund dieser Begrenztheit als sekundr gegenber dem Logischen und sthetischen, die von ihm als sinn- und weltkonstituierende Krfte verstanden werden. 25 Friedrich Kaulbach, Das Drama in der Auseinandersetzung zwischen Kunst und Wissensmoral in Nietzsches Geburt der Tragçdie, in: M. Djuric´ u. J. Simon (Hg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Wrzburg 1986, S. 118. Mit Kaulbachs Ausdruck der „Wissensmoral“ wird Nietzsches Kritik an den verdeckten ethischpolitischen Antrieben von Wissenschaft und Technik prgnant beschrieben.
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fortschreitende Erleichterungen erwartet.26 Gegenwrtig ist dieses Denken immer noch prsent, wenn beispielsweise argumentiert wird, der Fortschritt der Gentechnik sei „notwendig und sittlich geboten“27, damit die steigenden Bedrfnisse und damit das Glck einer steigenden Anzahl von Menschen befriedigt werden kçnnen. Vor solchen berlegungen kann mit Nietzsche nur gewarnt werden. Nietzsches Kritik am szientistisch-eudmonistischen Fortschrittsdenken des Sokratismus offenbart wesentliche Defizite der modernen Fortschrittseuphorie und entlarvt das Versprechen eines allgemeinen Erdenglcks durch die kontinuierliche Abschaffung des menschlichen Leidens als trgerischen Schein. Auch wenn nicht alle seine Argumente berzeugen, so trifft seine Kritik an der vermessenen berschtzung der menschlichen Grenzen ins Zentrum von hybriden Fortschrittsvorstellungen.
Nietzsches positive Fortschrittsvorstellung Nietzsches Auseinandersetzung mit dem fortschrittseuphorischen Sokratismus der Moderne reduziert sich nicht auf eine destruktive Kritik, sondern sie verweist auf Spuren einer mçglichen berwindung des Sokratismus. In den frhen Schriften richten sich Nietzsches Hoffnungen auf eine berwindung des im praktischen Pessimismus scheiternden Sokratismus, auf die Entstehung einer knstlerisch-tragischen Kultur der Moderne. Wenig berzeugend sind in diesem Zusammenhang sein Glauben an den Genius Richard Wagners und die vermeintlich mythenerweckende Kraft seiner Musik.28 Unabhngig von der Person Wagner bleibt aber sein Engagement fr den Genius zu beachten. Fr Nietzsches Fundamentalalternative zur Moderne ist die Fçrderung des genialen Einzelnen und die Ausrichtung des Gemeinwesens auf den Genius von herausragender Bedeutung. Denn die genialen Einzelnen sollen das Ereignis vom Tod Gottes aushalten kçnnen, ohne den illusionren Heilsversprechen eines allgemeinen Fortschritts auf Erden zu erliegen. In seinen kunstmetaphysischen Frhschriften erkennt Nietzsche in dem apollinisch-dionysischen Knstler 26 Exemplarisch manifestieren sich die großen Erwartungen an einen emanzipatorischen Gehalt der Technik bei Fourasti, wenn er schreibt: „Der technische Fortschritt schafft Unabhngigkeit, Freiheit und Individualitt“ (Jean Fourasti, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, 2. Auflage, Kçln 1969, S. 269). 27 Hubert Markl, Pflicht zur Widernatrlichkeit, in: DER SPIEGEL, Nr. 48 vom 27.11.1995. 28 Siehe GT, KSA 1, S. 113 f, 127 f. u. 147 f.
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und dem tragischen Philosophen die hçchsten Daseinsformen und in deren Fçrderung die zentrale Aufgabe der Kultur.29 Alle anderen kulturellen Ziele mssen diesem Zweck untergeordnet werden, so dass der optimalen Entfaltung der außergewçhnlichen Anlagen des Genius oberste Prioritt eingerumt wird. Insofern das geniale Individuum einen Selbstzweck darstellt, kann es auch nicht als Mittel zur Fçrderung der menschlichen Gattung angesehen werden. „Aus alledem wird klar, daß der Genius nicht der Menschheit wegen da ist: whrend er allerdings derselben Spitze und letztes Ziel ist. Es giebt keine hçhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius.“ (N 1871, KSA 7, 11[1], S. 355) Seine Wertschtzung des Genius impliziert die Absage an die Wnschbarkeit einer gleichmßig fortschreitenden Entfaltung aller Individuen, denn Nietzsche distanziert sich entschieden von der anthropologischen Annahme des Romantikers Friedrich Schlegel, nach der „Genie zu haben, der natrliche Zustand des Menschen sei“30. Genial sind seines Erachtens lediglich wenige, außergewçhnlich begabte Individuen. Deren Entfaltung, und nicht der Fortschritt der menschlichen Gattung, sollte dementsprechend gefçrdert werden. Konkretes Ziel Nietzsches ist die Schaffung einer knstlerisch-tragischen Kultur der Moderne. Die Rcksichtnahme auf die individuell ungleich verteilten Anlagen und die individuell ungleich verteilte Kraft diese Anlagen auszubilden, soll die Grundlage fr die Schaffung einer hierarchisch strukturierten, knstlerisch-tragischen Kultur sein. Sowerden beispielsweise die unbegabten Individuen provokant als „Sclavenstand“ (GT 18, KSA 1, S. 117) bezeichnet, deren Aufgabe lediglich die zuverlssige Versorgung der außergewçhnlich Begabten darstellen soll. Der kulturaristokratische Ansatz Nietzsches kulminiert schließlich in einem provokanten Gegenentwurf zur
29 Siehe GT, KSA 1, S. 118, 128. Vom apollinisch-dionysischen Knstler und dem tragischen Philosophen erhofft sich Nietzsche die Renaissance einer tragischen Kultur, „deren wichtigstes Mermal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als hçchstes Ziel die Weisheit gerckt wird, die sich […] mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht“ (ebd., S. 118). 30 Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre 1796 – 1806, in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Bd. 18, hg. von Ernst Behler, Mnchen / Paderborn / Wien 1963, S. 315. Dagegen ist es eine wenig berzeugende Vereinfachung, wenn Nietzsche von C. Pletsch als Vertreter einer „naive or romantic ideology of the genius“ prsentiert wird (C. Pletzsch, Young Nietzsche: becoming a genius, New York 1991, S. 148).
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Idee der natrlichen, unantastbaren Wrde des Menschen.31 „Was aber hier an einem einzelnen Beispiel gezeigt ist, gilt im allgemeinsten Sinne: jeder Mensch, mit seiner gesammten Thtigkeit, hat nur soviel Wrde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist: […].“ (Der griechische Staat, KSA 1, S. 766) Ausdrcklich knpft Nietzsche damit an zentrale Thesen von Platons politisch-praktischer Philosophie an. So wrdigt er in einem von ihm nicht verçffentlichten Fragment einer erweiterten Form der Geburt der Tragçdie von Anfang 1871 den kulturaristokratischen Grundzug des Staatsentwurfs Platons, den dieser gegen die politisch-sozialen Wirren seiner Zeit verteidigt habe. Gemß seiner Auslegung ist die Achtung von zwischenmenschlichen Rangordnungen ein entscheidender Grundsatz der Politeia, die dem genialen Einzelnen den hçchsten Rang zuerkenne und vom Staat vordringlich dessen Fçrderung erwarte. Der vollkommene Staat Plato’s ist nach diesen Betrachtungen gewiß noch etwas Grçßeres als selbst die Ernstgesinnten unter seinen Verehrern glauben […]. Das eigentliche Ziel des Staates, die olympische Existenz und immer erneute Zeugung des Genius dem gegenber alle Anderen nur vorbereitendes Mittel sind, ist hier durch eine dichterische Intuition gefunden: […].32
Nietzsche rekurriert in diesem Kontext auf Platons Bestimmung der Gerechtigkeit, die in mehrfacher Hinsicht fr seine Philosophie von außerordentlicher Bedeutung ist. Das Zentrum dieser Gerechtigkeitsvorstellung bildet die Anerkennung der je unterschiedlichen Anlagen und Entfaltungsmçglichkeiten der Individuen. Gerecht verfasst ist nach Nietzsche ein Gemeinwesen, wenn dafr Sorge getragen wird, dass jeder das Seinige, d. h. das seinen spezifischen Mçglichkeiten Angemessene, verrichten kann. Diese Gerechtigkeitskonzeption grndet auf dem Begriff der proportionalen Gleichheit, der eine Fçrderung der Individuen im gleichen Verhltnis zu ihren je spezifischen Fhigkeiten verlangt. Das gerechte Zusammenleben erfordert aus Nietzsches Perspektive Rangordnungen, die versuchen, die Individuen entsprechend ihren spezifischen Anlagen und Entwicklungskrften einzuordnen. Wobei es nicht zu einer ungeordneten Fçrderung von Talenten kommen soll, sondern auch zwischen den Ttigkeitsbereichen einer Kultur sinnvolle Rangordnungen herrschen sollen: „Das Problem einer Kultur selten richtig erfaßt. Ihr Ziel ist nicht das grçßtmçgliche 31 Zu Nietzsches Begriff der Aristokratie siehe Wolf Zachriat, Nietzsches Entwurf einer geistig-leiblichen Aristokratie, in: Nietzscheforschung, hg. von V. Gerhardt u. R. Reschke. Bd. 5/6, Berlin 2000, S. 177 ff. 32 N 1871, KSA 7, S. 348, vgl. Der griechische Staat, KSA 1, S. 766.
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Glck eines Volkes, auch nicht die ungehinderte Entwicklung aller seiner Begabungen: sondern in der richtigen Proportion dieser Entwicklungen zeigt sie sich.“ (N 1872/1873, KSA 7, 19[41]) Gerade durch die gerechte Fçrderung der Talente in der „richtigen Proportion“ soll sich die von Nietzsche angestrebte knstlerisch-tragische Kultur der Moderne auszeichnen. Gerecht soll in dieser Kultur auch das Verhltnis von Wissenschaft, Philosophie, Politik und Kunst zueinander sein, so dass jeder Bereich auf seine spezifischen Grenzen achtet und die Bedeutung der anderen Bereiche anerkennt.33 In diesem Zusammenhang wird von ihm die Relevanz einer selbstreflexiven Vernunft hervorgehoben, von der sinnvolle Rangordnungen zwischen Perspektiven maßgeblich mitbestimmt werden sollen. Nietzsches Hoffnung auf eine kulturaristokratische Fundamentalalternative zum modernen Sokratismus kann meines Erachtens als Hoffnung auf einen „Kulturfortschritt“34 beschrieben werden. Seine Fortschrittsvorstellung ist von der universalistisch-eudmonistischen Fortschrittsidee klar zu trennen: statt eines linearen, unendlichen Progresses, der zu einer allgemeinen Verbesserung der menschlichen Situation fhrt, wird ein temporrer Fortschritt zu einer Kultur des knstlerisch-tragischen Genius angestrebt. Nietzsches Engagement fr einen Fortschritt zu einer knstlerisch-tragischen Kultur der Moderne wird nicht von der Erwartung an einen weltgeschichtlichen Fortschritt gespeist. Der Fortschritt im Sinne Nietzsches ist bescheidener, aber gleichwohl sehr ehrgeizig: er zielt auf eine hçhere Qualitt des kulturellen Lebens durch die Fçrderung des Genius, in dem er das „eigentliche Ziel des Staates“ (N 1871, KSA 7, S. 348) erkennt. Entscheidend fr das Verstndnis von Nietzsches Hoffnung auf einen Kulturfortschritt ist seine anthropologische Grundeinstellung, die die fundamentalen, unaufhebbaren Differenzen zwischen den Menschen betont. Georg Simmel hat diese Emphase der Ungleichheit der Menschen, die den Unterschied zwischen Nietzsches spezifischem Individualismus und dem Liberalismus offenbart, treffend hervorgehoben. „Fr Nietzsche aber kommt es auf den Einzelnen berhaupt, der als solcher das Element der Gesellschaft bildet, gar nicht an, sondern nur auf bestimmte Einzelne, die 33 Die Figur des „m u s i k t r e i b e n d e [ n ] So k r a t e s “ symbolisiert im Tragçdienbuch Nietzsches Hoffnung auf ein gewandeltes Verhltnis der Kulturbreiche zueinander (GT 15, KSA 1, S. 102). 34 N 1871, KSA 7, 9[6]. In dieser Textpassage wird der Begriff relativ unbestimmt, aber positiv konnotiert verwandt. An eine Fortschrittsschwrmerei erinnert das Ende des 20. Kapitels des Tragçdienbuchs, in dem Nietzsche voller Ergriffenheit die neue, bessere Kultur ankndigt (GT, KSA 1, S. 131 f.).
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den anderen nicht, wie es der Liberalismus will, mindestens a priori gleich, sondern a priori ungleich sind.“35 Die fundamentale berzeugung Nietzsches wird damit von Simmel erfasst, denn das Individuum als solches, der Grundbestandteil der Gesellschaft, ist fr Nietzsche nicht maßgeblich, sondern allein die herausragenden Individuen, denen die Gesellschaft zu dienen hat, genießen bei ihm Wertschtzung. Mit der Annahme der natrlichen Ungleichheit verbindet Nietzsche somit die normative Forderung, dass die ungleichen Anlagen auch entsprechend ausgebildet und nicht zugunsten des Diktats des Durchschnitts eingeebnet werden. Dieser vehemente Einsatz fr die genialen Einzelnen steht in Zusammenhang mit seiner von Platon beeinflussten Bestimmung von Gerechtigkeit, die jeder Lebensform und prinzipiell jeder Perspektive eine je bestimmte, umgrenzte Bedeutsamkeit zuweist. Die weise vergleichende, grenzberschreitende Deutung der verschiedenen jeweils begrenzten Lebensformen und Perspektiven offenbart nach Nietzsche nicht deren gleichberechtigtes Nebeneinander, sondern gemß seiner Annahme der Ungleichheit alles Seienden deren temporr-pyramidiale Ordnungen. Hierauf hat Friedrich Kaulbach im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Gerechtigkeitsbegriff treffend hingewiesen. Auch Nietzsche gehçrt mit seinen berlegungen zur Gerechtigkeit in diese Tradition [von Kant und Lessing, Anmerkung W. Z.] Es kommt darauf an, nicht in irgendeiner ,Winkelperspektive‘ stehenzubleiben, sondern einen umfassenden, weiten Horizont zu gewinnen, in welchem alle mçglichen Weltperspektiven, Lebensformen, Wertberzeugungen vergegenwrtigt werden: aber so, daß sie nicht pluralistisch nebeneinandergestellt, sondern in der Form einer Rangordnung begriffen werden.36
Problematisch erscheint mir Nietzsches Vorstellung eines Kulturfortschritts in mehrfacher Hinsicht. Neben seinem bersteigerten Vertrauen in die mythenerweckende Kraft von Wagners Musik als Geburtshelfer einer knstlerisch-tragischen Kultur der Moderne scheint mir auch die Fortschrittlichkeit dieser Kultur fragwrdig. Sein Versuch einer sthetisch-metaphysischen Begrndung der Abhngigkeit der Menschenwrde von der Fçrderung des Genies berschreitet die von ihm selbst angefhrten Grenzen 35 Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, Mnchen / Leipzig 1923, S. 153. 36 Friedrich Kaulbach, Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen, in: R. Berlinger u. W. Schrader (Hg.), Nietzsche kontrovers I, Wrzburg 1981, S. 61. Dagegen sind auch zumindest temporr verbindliche Ordnungen nicht mçglich, wenn mit Deleuze angenommen werden kann, dass jedes Ereignis einen „multiplen Sinn“ habe (Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt a. M. 1985, S. 8).
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des menschlichen Erkenntnisvermçgens. Darber hinaus fllt eine Kultur, die dem Menschen alle Rechte vorenthalten kann, weil er kein angemessenes Werkzeug des Genius darstellt, hinter den neuzeitlichen Fortschritt zur Rechtsstaatlichkeit zurck.37 Ein derartiger Rckschritt kann meines Erachtens keinesfalls wnschenswert sein. Wenn jedem das Seinige zugestanden werden soll, dann sollte auch das nicht geniale Individuum als Individuum anerkannt werden, das als Mensch sowohl Wrde als auch Rechte und Pflichten besitzt. Aber auch wenn die von Nietzsche geforderte Ausrichtung der Menschenrechte auf den Genius wenig berzeugend ist, so sind damit weder der von ihm verwandte proportionale Gerechtigkeitsbegriff noch sein Einsatz fr sinnvolle Rangordnungen desavouiert. Vielmehr ist sein Bemhen, den je unterschiedlichen Entfaltungsmçglichkeiten der Individuen auch unterschiedliche Freirume zu verschaffen, ein probates Mittel gegen egalitaristische und nivellierende Tendenzen. Trotz der angefhrten Probleme berzeugt an Nietzsches Streben nach einem Kulturfortschritt, dass er sich angesichts des Ereignisses vom Tode Gottes vehement gegen die vermeintlich das Leid abschaffenden Fortschrittsprogramme der Neuzeit wendet und fr eine Kultur einsetzt, in der die komplexe Vielfalt der Wirklichkeit anerkannt wirdund ihr Gerechtigkeit widerfhrt.38
37 Nietzsche zieht selbst die „ethische Consequenz“aus seinem aristokratischen Ansatz, wenn er schreibt, „daß der Mensch an sich, der absolute Mensch, weder Wrde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt“ (N 1871, KSA 7, 10[1], S. 348). Dagegen bleibt mit Hegel zu betonen, dass der Mensch in der brgerlichen Gesellschaft gilt, weil er Mensch ist (siehe Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien einer Philosophie des Rechts, in: Werke, hg. von E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 7, § 209, S. 360). 38 Zur weiterfhrenden Untersuchung der Thematik siehe Wolf Zachriat, Die Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik, Berlin 2001.
Tolle Wissenschaft? Zum Verhltnis von Gottestod und Naturerklrung mit Blick auf Nietzsche Reinhold Esterbauer In seinem Roman Liebeswahn lsst Ian McEwan einen religiçsen Fanatiker in dessen Brief an einen atheistischen Wissenschaftsjournalisten schreiben: „Wen kmmert schon die Kohlenstoffdatierung des Grabtuchs von Turin? Glaubst Du etwa, die Menschen dachten anders von ihrem Glauben, als sie hçrten, es sei eine mittelalterliche Flschung?“1 – Mit dieser kurzen Passage bringt der Autor die Frage auf den Punkt, inwieweit heutige Naturwissenschaft und der Tod Gottes in Verbindung gebracht werden kçnnen, und behauptet, dass Glaube und Naturwissenschaft zu weit voneinander entfernt seien, als dass wissenschaftliche Faktenerschließung den Glauben erschttern kçnnte. Bleibt auch heute Vertreterinnen und Vertretern vornehmlich der Naturwissenschaften nichts anderes brig, als – wie schon der „tolle Mensch“ in Nietzsches Frçhlicher Wissenschaft – zu konstatieren: „Ich komme zu frh.“ (FW 125)? Auf der einen Seite scheint der Ausschluss des Gottesbegriffes aus den Naturwissenschaften lngst vollzogen zu sein. Es ist offenbar dort keine Tollheit mehr, den Tod Gottes zu verknden oder wenigstens methodisch zu implizieren. In der alltglichen Wissenschaftsrezeption scheint diese Botschaft – wie das eingangs zitierte Beispiel zeigt – jedoch auch jetzt „noch nicht an der Zeit“ zu sein, scheint „[d]ies ungeheure Ereignis“ immer „noch unterwegs“ zu sein oder gar aufgehçrt zu haben zu „wander[n]“ (ebd.). Nietzsche selbst bedachte jene mit Ironie, „welche das Christenthum durch die modernen Naturwissenschaften ber wunden glaub[t]en“ (N 1885/ 1886, KSA 12, 2 [96]) – aber das war 1885/6. Es bleibt zu fragen, ob diese Feststellung bis heute gilt, und zwar nicht nur fr die Rezeption von Ergebnissen der Wissenschaften, sondern auch fr deren Grundlagen. Im Folgenden mçchte ich anhand von drei Beispielen gegenwrtiger Diskussionen zeigen, dass einerseits die Botschaft vom Tode Gottes innerhalb der Naturwissenschaften angekommen zu sein scheint, dass aber an1
I. McEwan, Liebeswahn. Roman, aus dem Engl. von H.-C. Oeser , Zrich 1998, S. 194.
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dererseits das Feuer, das vom Brand des Christentums und Platons genommen ist, in den Naturwissenschaften bis heute nicht zu lçschen war (vgl. FW 344). Ich gehe dabei von den naturwissenschaftlichen Vorgaben aus, die sptestens seit Laplace und Darwin akzeptiert sind und besagen, dass die Gotteshypothese in den Naturwissenschaften – jenseits kreationistischer Fundamentalismen – keinen Ort mehr hat. Zu berprfen ist, ob bzw. wie auf der Basis dieser Vorgabe vom Tod Gottes innerhalb der Naturwissenschaften gesprochen werden kann. Dazu wende ich mich zunchst dem Problem naturwissenschaftlicher Wahrheit und Perspektivitt zu. Dann reflektiere ich den aktuellen Streit um die Naturteleologie. Und zuletzt geht es mir um die Versuche, Gott zum Gegenstand der Naturwissenschaft zu machen. An diesen Beispielen hoffe ich verdeutlichen zu kçnnen, dass gegenwrtig die Gottesfrage fr die Naturwissenschaften zwar erledigt scheint, dass der Rekurs auf den Wahrheitsbegriff aber immer noch theistische Schatten auf sie wirft und dass die Emphase, mit der man atheistische Positionen vortrgt, die naturwissenschaftlich begrndet werden, oft nicht mehr ist als ein Ressentiment. Abschließend wird zu fragen sein, welche Formen des Gottestodes in den Naturwissenschaften anhand dieser Beispiele greifbar werden.
1. Wahrheiten und Perspektiven in den Naturwissenschaften Nietzsche hat bekanntlich nicht nur Gott fr den Garanten der Metaphysik gehalten, sondern auch die Metaphysik fr die Absicherung des Wahrheitsbegriffes.2 Wenn die „wahre Welt“ zur „Fabel“ wird, wie es in der Gçtzendmmerung heißt, und damit nicht nur die wahre, sondern auch die scheinbare Welt abgeschafft ist (GD 6, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde),3 so liegt diese Entwicklung daran, dass man nach dem Tod Gottes die Wahrheit nur mehr ohne Gewhr haben kann. Umgekehrt betonen Versuche, den christlichen Gott begrifflich zu sichern, gerade die Zusammengehçrigkeit von Gott und universaler Wahrheit. So bemerkt etwa Robert Spaemann bei seinem Versuch, den eigenen Gottesbeweis „Nietz2 3
Vgl. J. N. Hofmann, Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 28), Berlin 1994, S. 15 – 44. Vgl. R. Margreiter, Die Verwindung der Wahrheit und der Entzug des Gçttlichen. Zur Rekonstruktion der Gottesbegriffe Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 20, 1991, S. 48 – 67, hier S. 49.
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sche-resistent“4 zu machen: „Wenn es den Blick Gottes nicht gibt, gibt es keine Wahrheit jenseits unserer subjektiven Perspektiven.“5 Wird der Wahrheitsbegriff zu einem „geschichtlichen“ gemacht oder gar fr „eine[n] geschichtlich berholten Begriff“6 gehalten, faltet sich die eine Wahrheit in eine Vielzahl von Wahrheiten auf, denen subjektive Perspektiven entsprechen. Es gilt also: „Wenn die durch Gott verbrgte Universalperspektive wegfllt, wird die Vielfalt der individuellen Perspektiven freigesetzt.“7 Wie sieht es aber mit der Perspektivitt der Naturwissenschaften aus? Solange sie die Gottesperspektive fingieren, indem sie universale Objektivitt zu ihrem Ziel haben, scheinen sie am Gottesbegriff, und sei es als einem methodischen Ideal oder einer regulativen Idee, indirekt noch immer festzuhalten. Neuere wissenschaftstheoretische berlegungen – beispielsweise bei Ludwik Fleck8, Thomas S. Kuhn9, Hans-Jçrg Rheinberger10 oder Evelyn Fox Keller11 – zeigen hingegen die historische und soziale Bedingtheit naturwissenschaftlicher Wahrheit auf. Wissenschaftsgeschichtlich war die Entwicklung der Hermeneutik nicht unmaßgeblich davon geprgt, dass Perspektivitt zunchst als etwas genuin Geisteswissenschaftliches angesehen wurde, whrend man meinte, die Naturwissenschaften htten sich gesetzesmßiger Objektivitt zu verschreiben.12 So bestimmt beispielsweise Wilhelm Windelband 1894 in
4 Robert Spaemann, Rationalitt und Gottesglaube, in: R. Langthaler u. W. Treitler (Hg.), Die Gottesfrage in der europischen Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts, Wien 2007, S. 119 – 132, hier S. 132. 5 Ebd., S. 130; vgl. R. Spaemann u. R. Schçnberger, Der letzte Gottesbeweis, Mnchen 2007. 6 Werner Stegmaier, Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit, in: Nietzsche-Studien 14, 1985, S. 69 – 95, hier S. 71. 7 A. Grøn, Jenseits? Nietzsches Religionskritik revisited. Zum Stand der Forschung in Sachen Nietzsche und die christliche Religion, in: Nietzsche-Studien 34, 2005, S. 375 – 408, hier S. 375. 8 L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Theorie. Einfhrung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1994. 9 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1973. 10 H.-J. Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. 2006. 11 E. F. Keller, Das Jahrhundert des Gens, aus dem Amerik. von E. Schçller, Frankfurt a. M. 2001. 12 Vgl. H. Vetter, Philosophische Hermeneutik. Unterwegs zu Heidegger und Gadamer (Reihe der sterreichischen Gesellschaft fr Phnomenologie, Bd. 13), Frankfurt a. M. 2007, S. 43 – 76; Jean Grondin, Einfhrung in die philosophische Hermeneutik, 2. Aufl., Darmstadt 2001, S. 115 – 118; M. Jung, Hermeneutik zur
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seiner Straßburger Rektoratsrede13 die methodische Trennlinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mit folgendem Kriterium: Fr die Naturwissenschaft behauptet er, dass diese „ihre Tatsachen feststellt, sammelt und verarbeitet nur unter dem Gesichtspunkte und zu dem Zwecke, daraus die allgemeine Gesetzmßigkeit zu verstehen, welcher diese Tatsachen unterworfen sind“14. Whrend es den Naturwissenschaften also darum gehe, Tatsachen zu sammeln und daraus Gesetzmßigkeiten abzuleiten, gelte fr die Geisteswissenschaften: „Demgegenber ist die Mehrzahl derjenigen empirischen Disziplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet, entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschçpfender Darstellung zu bringen.“15 Whrend Windelband den Geisteswissenschaften die geschichtliche Einmaligkeit zuordnet und damit ihrer Perspektivitt das Wort redet, den Naturwissenschaften hingegen perspektivenlose Allgemeinheit attestiert, macht Nietzsche auch die Naturwissenschaften zu Perspektivenwissenschaften. Schon 1881 schreibt er: „Unsere Gesetze und Gesetzmßigkeiten sind es, die wir in die Welt hineinlegen – so sehr der Augenschein das Umgekehrte lehrt und uns selber als die Folge jener Welt, jene Gesetze als die Gesetze derselben in ihrer Wirkung auf uns zu zeigen scheint.“ (N 1881, KSA 9, 15[9]) Das rhre daher, dass die Naturwissenschaften ihrerseits aus einem berlebens- und Herrschaftswillen stammten.16 Daher sind sie fr Nietzsche eine bestimmte Form von Weltauslegung, die relativ bleibt, weil wir nicht – wie er sagt – „um unsre Ecke sehn“ kçnnen und weil es zudem heute unmçglich ist, „von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben drfe“ (FW 374). Genau diese Frage, wie es mit der Geltung der Perspektiven bestellt sei, ist heute allerdings eine zentrale Frage in der philosophischen Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften. Dazu ist vorweg zu bemerken, dass fr einen strikten Perspektivismus, wie ihn Nietzsche in dem ange-
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Einfhrung, Hamburg 2001, S. 66 – 70; B. Vedder, Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit, Stuttgart 2000. W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, in: ders., Prludien. Aufstze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, 5. Aufl., Tbingen 1915, S. 136 – 160. Ebd., S. 143. Ebd., S. 144. Vgl. K. Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 24), Berlin 1992, S. 86 f.
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fhrten Zitat aus der Frçhlichen Wissenschaft vertritt, die Frage nach der bergeordneten Geltung der einen oder der anderen Perspektive nicht zu stellen ist. Denn sobald man einzelne Deutungen dadurch zueinander in Bezug setzt, dass man fragt, welche die „richtige“ sei, wechselt man auf eine Metaebene, die eine universale Wahrheit unterstellt. Bringt man etwa wie Wolf Singer eine Erste-Person-Perspektive und eine Dritte-Person-Perspektive ins Spiel, um zu erklren, wie die Neurobiologie im Unterschied zur Philosophie Ich, Bewusstsein oder Willensfreiheit ansetzt, fhrt man vordergrndig zwei gleichberechtigte Deutungen ein.17 Auf der einen Seite meint man, man habe einen freien Willen und sei ein freies Subjekt, auf der anderen geht man jedoch davon aus, dass gehirnphysiologisch nur von streng kausalen neuronalen Vorgngen zu reden sei. Die heutige Debatte zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Neurowissenschaften und jenen nicht-naturalistischer Positionen besteht im Kern darin, dass man an dieser Stelle die beiden Perspektiven nicht bloß nebeneinander bestehen lsst, sondern die Geltungsfrage stellt. Dabei geht es nicht darum, welcher der beiden Aspekte der wahre ist, sondern meist subtiler darum, welcher den anderen fundiert oder begrndet. Damit wird freilich ein gemeinsamer Horizont eingefhrt, der es erlaubt, davon zu sprechen, dass das ins Auge gefasste Phnomen eigentlich und gltig nur aus einer Perspektive zu fassen sei. Das Entscheidende fr die Debatte ist also die Schnittstelle zwischen den beiden Perspektiven bzw. die Frage, ob es dazwischen eine Verknpfung gibt oder nicht. Neurobiologen wie Singer erkennen zwar meist die beiden Perspektiven an, leugnen aber indirekt ihre Gleichrangigkeit. Vielmehr setzen sie die eigentliche Realitt als die an, die in der Dritte-Person-Perspektive zum Vorschein kommt. Dann ist das Ich ein Erlebnis, das gleichsam durch das Gehirn verursacht wird, und der freie Wille ein soziales und kulturelles Konstrukt. Die Vorstellung davon werde zwar durch die Kultur tradiert, habe aber, naturwissenschaftlich gesehen, kein reales Fundament. Singer spricht auch von der „Illusion“ des freien Willens, schrnkt aber ein, dass dieser als Erfahrung fr uns dennoch real sei.18 Damit ist die eine Perspektive in die grçßere zweite gleichsam aufgehoben und dadurch marginalisiert. Auf der Seite der Philosophie wird umgekehrt meist der Naturalismus-Vorwurf gegen die Behauptung erhoben, nur die Dritte17 Vgl. Wolf Singer, Das Ende des freien Willens? Neue Erkenntnisse der Hirnforschung verndern unser Bild vom Menschen, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 2, 2001, S. 72 – 75. 18 Vgl. ebd., S. 75.
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Person-Perspektive kçnne „eigentlich“ Geltung beanspruchen, indem man diese Position als Reduktionismus aufzuweisen versucht,19 der nur einen Aspekt eines grçßeren Ganzen aufzuzeigen in der Lage sei und sich deshalb vollmundiger Aussagen ber die Nicht-Existenz von Bewusstsein, Freiheit oder Ich enthalten msse. Auch hier wird von einem bergeordneten Standpunkt aus einem anderen sein Platz zugewiesen. Beide Male ist radikale Perspektivitt verlassen, weil man die eine Perspektive vor die andere stellt, damit wieder eine bergeordnete Wahrheit unterstellt und wider Willen ein bergeordnetes Prinzip als Garanten solcher Wahrheit setzt – eine Funktion, die nach Nietzsche auch der christliche Gott erfllt. Neben dem Versuch, Perspektivitt allein den Geisteswissenschaften zuzuordnen, wogegen Nietzsche die Naturwissenschaft selbst als perspektivisch vorgestellt hat, ist zu bedenken, inwieweit innerhalb der Naturwissenschaften ein Perspektivenpluralismus Platz gegriffen hat. Mir scheint diesbezglich nicht so sehr die Mçglichkeit unterschiedlicher Zugnge von Bedeutung zu sein, wie sie der Welle-Teilchen-Dualismus des Lichtes aufzeigt, sondern vielmehr die Rolle des Subjekts innerhalb naturwissenschaftlicher Theorien. Mit dem Einbruch des Subjekts in eine als subjektlos veranschlagte Theorie sollte nmlich Perspektivitt konstitutives Moment der Theorie selbst werden. In der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie sind bekanntlich Beobachterin und Beobachter fr die erfasste Wirklichkeit entscheidend. Ob die Katze in Schrçdingers Gedankenexperiment tot oder lebendig ist, kann erst durch die Beobachtung selbst entschieden werden. Die Messung legt die Situation fest, in ihrem Vorfeld berlagern sich die beiden mçglichen Zustnde der Katze noch und sind nicht eindeutig bestimmbar, sondern miteinander verschrnkt. Doch selbst in diesem Fall ist Perspektivitt nicht streng durchgefhrt. Denn es ist zu fragen, wer oder was hier interpretiert. Nach Nietzsche geht es allerdings nicht um das interpretierende Individuum, denn „das Interpretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, [habe] Dasein (aber nicht als ein ,Sein‘, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt“ (N 1885/ 1886, KSA 12, 2[151]). Wenn man hingegen nicht das Unternehmen Naturwissenschaft in seiner Ganzheit als eine bestimmte Perspektive versteht, in der die Gattung Mensch dem Willen zur Macht nachkommt, sondern wenn man auch innerhalb der Naturwissenschaften Perspektiven 19 Vgl. S. Rinofner-Kreidl, Phnomenales Bewußtsein und Selbstreprsentation. Zur Kritik naturalistischer Selbstmodelle, in: dies., Mediane Phnomenologie. Subjektivitt im Spannungsfeld von Naturalitt und Kulturalitt (Trierer Studien zur Kulturphilosophie, Bd. 5), Wrzburg 2003, S. 21 – 55.
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annimmt, ist freilich zu fragen, wer das Subjekt Beobachterin bzw. Beobachter sei bzw. welche Perspektiven hier zum Vorschein kommen. Offenbar ist in der Kopenhagener Deutung zwar der Mensch in die Naturwissenschaften eingefhrt, sodass diese nicht mehr subjektlos erscheinen. Aber wie schon Hermann Broch festgestellt hat, handelt es sich dabei um ein „abstraktes Gebilde, dem außer den Eigenschaften einer przis bestimmbaren, przis messbaren physikalischen Beobachtungsgabe nichts Menschliches belassen worden ist und das daher als ,physikalische Person an sich‘ bezeichnet werden kçnnte“20. Demgemß fhren die Naturwissenschaften Perspektivitt nicht konsequent durch, abstrahieren von typisch menschlichen Dimensionen des Subjekts und setzen bloß eine „physikalische Person an sich“ als subjektive Grçße an. Die Perspektive bleibt auf den Messvorgang beschrnkt und negiert so jede Individualitt. Wie man sieht, ist auch hier zu konstatieren, dass es mit der Zerschlagung der einen Wahrheit nicht allzu weit her ist. Der „point of nowhere“, der an dieser Stelle nicht Multiperspektivitt ohne feste Standorte meint, sondern den einen globalen Messpunkt bezeichnet, den alle in den Naturwissenschaften einnehmen sollen, ohne selbst je in Erscheinung zu treten, gelangt ber die Umkehrung des Gottesgedankens nicht hinaus. Universale Wahrheit hat zwar keinen Namen mehr, es wird aber davon ausgegangen, dass es die eine und einzige Perspektive innerhalb der Naturwissenschaften noch gibt. Das „ungeheure Ereignis“ des Todes Gottes ist in diesem Kontext – wie man sieht – letztlich noch nicht angekommen, sondern immer noch „unterwegs“.
2. Naturteleologie Derzeit befindet sich ein neuer Atheismus im Aufwind, der mittlerweile sogar in Wochenmagazinen seinen Niederschlag gefunden hat. So titelte etwa der SPIEGEL im Mai 2007 mit „,Gott ist an allem schuld!‘ Der Kreuzzug der Atheisten“. Fr den „Neo-Atheismus“ scheinen besonders zwei Aspekte charakteristisch zu sein, zum einen die Einbeziehung des Islam in die von Jan Assmann zum Thema gemachte Gewaltkritik am Monotheismus, eine Entwicklung, die vor allem der 11. September befçrdert hat; 20 H. Broch, Politik. Ein Kondensat (Fragment), in: ders., Erkennen und Handeln. Essays, Bd. 2, hg. von H. Arendt, Zrich 1955, S. 203 – 255, hier S. 216; vgl. Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht?, S. 98.
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und zum anderen die Debatte um Evolution und Schçpfung.21 Der zweite Aspekt hat auch durch einen Gastkommentar des Wiener Kardinals Christoph Schçnborn in der New York Times breite ffentlichkeit erlangt, in dem sich dieser mit dem Verhltnis zwischen Evolution und Schçpfung auseinandersetzt. Schçnborn sagt in diesem Artikel Folgendes: „Evolution in the sense of common ancestry might be true, but evolution in the neoDarwinian sense – an unguided process of random variation and natural selection – is not. Any system of thought that denies or seeks to explain away the overwhelming evidence for design in biology is ideology, not science.“22 Mit dieser Aussage kritisiert Schçnborn den Evolutionsbegriff. Zunchst erkennt er zwar die gemeinsame Abstammung von Mensch und Tier an, bestreitet aber den neo-darwinistischen Evolutionsbegriff, der von einem nicht gelenkten Prozess zuflliger Vernderung und natrlicher Selektion ausgehe. Er bezeichnet eine Position, die „design“ in der Natur leugnet, im Unterschied zu Wissenschaft als Ideologie. Damit liegt eine doppelte Kategorienverwechslung vor. Zum einen wird von einem nicht-naturwissenschaftlichen Standpunkt aus eine naturwissenschaftliche Theorie beurteilt und fr falsch erklrt. Zum anderen wird ein Ideologievorwurf erhoben, und zwar in dem Sinn, dass behauptet wird, dass jemand, der in naturwissenschaftlichem Kontext das Vorliegen von „design“ leugne, von der Wissenschaft in eine Ideologie gewechselt habe. Offenbar ging es im folgenden Streit zwischen Biologinnen und Biologen und dem Wiener Kardinal um eine weltanschauliche Frage in Bezug auf Natur. Sieht man ber die erwhnte Kategorienverwechslung hinweg, bleibt die Frage, ob in der Natur Finalitt zu finden sei, die es unter Umstnden ermçglicht, auf eine planende Macht zu schließen, oder ob die vorgefundene Natur als das Produkt eines richtungslosen und bloß zuflligen Evolutionsgeschehens anzusehen ist, das die Existenz einer solchen Intelligenz unwahrscheinlich macht.23 21 Vgl. J. Figl, Der Atheismus kehrt wieder. ber die Rckkehr eines totgesagten Phnomens, in: Die Furche Nr. 14, 2007, S. 10. 22 C. Schçnborn, Finding design in nature, in: New York Times, 7.7.2005. [identisch mit: Finding design in evolution, in: International Herald Tribune, 7. 7. 2005, http://www.iht.com/bin/print_ipub.php?file=/article/2005/07/07/opinion/edschon.php (abgerufen am 11. 7. 2005). Der Gastkommentar erschien unter dem Titel „Finding design in nature“ am 7. 7. 2005 in der New York Times und zeitgleich sowie mit gleichem Wortlaut in der International Herald Tribune. Nur die berschrift lautete in dieser Zeitung anders, nmlich: „Finding design in evolution“. 23 Die Frage, ob der Kardinal mit der Anspielung auf den im amerikanischen Kreationismus wichtigen Begriff „intelligent design“ religionspolitische Absichten ver-
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Die implizite Gottesfrage, die zu einer weltanschaulichen Position extrapoliert wird, hat in diesem Fall ihr Fundament in dem Streit um die Naturteleologie. Es geht um die Voraussetzung, die auf der Seite der Philosophie einen sogenannten Gottesbeweis als Finalittsbeweis ermçglicht. Jenseits der sonstigen Schwierigkeiten eines solchen Beweises wird von den Kritikerinnen und Kritikern Schçnborns schon sein Ausgangspunkt bestritten. Whrend der Kardinal Finalitt in Anspruch nimmt,24 stellen sie bekannte Biologen in Abrede. Evolution schließe Finalitt aus und mache daher den Gottesbegriff obsolet. So meint etwa Richard Dawkins: „[Es] vermag die Evolution theoretisch die Aufgabe zu erfllen, die einst Gott vorbehalten schien.“25 Daraus folgert er, dass der teleologische Gottesbeweis „als Grund fr den Glauben an einen Gott ausgerumt“26 sei. Das damit noch nicht ausgerumte Problem, warum es berhaupt Religion gebe, wird mit dem Hinweis zu lçsen versucht, dass man den Glauben an Gott als einen Evolutionsvorteil interpretiert. Die bei einigen frhen Menschen zufllig auftauchende Gottesvorstellung habe sich im evolutionren Wandel als genetischer Vorteil erwiesen und diesen Individuen geholfen, besser zu berleben als diejenigen, die von dieser Vorstellung frei geblieben seien. Darber hinaus vertritt Dawkins die These, dass die Weitergabe religiçser, fr ihn „unbegrndete[r], willkrliche[r] berzeugungen und Vorschriften“ durch die „Programmierbarkeit des Kindergehirns“ begnstigt worden sei.27 Eltern wrden bloß durch ihre Autoritt Unsinn genauso weitergeben kçnnen wie Sinnvolles, sodass bis heute lokal unterschiedliche Traditionen bestnden, in denen wissenschaftlich Unhaltbares von Generation zu Generation verbreitet werde. In soziobiologischer Fortsetzung dieses Erklrungsversuchs kann Edward O. Wilson sogar die These aufstellen, „dass gewisse Genhufigkeiten sich in bereinstim-
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folgte, mag hier dahingestellt bleiben. Auffllig ist jedenfalls, dass er im gesamten Text nur von „design“, nicht jedoch von „intelligent design“ spricht. Schçnborn betont ausdrcklich, dass sein Begriff „design“ mit „Finalitt“ zu identifizieren sei: „Note that in this quotation the word ,finality’ is a philosophical term synonymous with final cause, purpose or design.“ (Schçnborn, Finding design in nature) R. Dawkins, Die Unwahrscheinlichkeit Gottes, in: E. Dahl (Hg.), Brauchen wir Gott? Moderne Texte zur Religionskritik, Stuttgart 2005, S. 23 – 30, hier S. 28. Ebd., S. 29. R. Dawkins, Der Gotteswahn. Aus dem Engl. von Sebastian Vogel, 8. Aufl., Berlin 2007, S. 247.
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mung mit der ekklesiastischen Auslese nder[t]en“28, und meinen, damit eine hinreichende Erklrung fr den Kirchenglauben gefunden zu haben. Fr die Auseinandersetzung um die Naturteleologie mindestens genauso interessant ist der Umgang mit finalen Strukturen innerhalb der Evolutionsbiologie. Mit dem viel diskutierten anthropischen Prinzip versuchen einige, die Frage zu beantworten, wieso es in der Evolution schließlich zum Menschen gekommen sei. Wenn man dieses Prinzip betont, fhrt es zur Annahme, dass Natur immer schon auf den Menschen ausgerichtet gewesen sei. Damit aber wre eine Naturteleologie biologisch attestiert. Aus diesem Grund versuchen die meisten, das anthropische Prinzip nicht als starken ontologischen, sondern als schwachen heuristischen Grundsatz zu verstehen,29 das heißt, davon auszugehen, dass man zwar fr die Erklrung des Menschen Kausalitt annehmen muss, dass sich diese aber erst ex post als final erweisen kann. Dass hier freilich ein sensibles Terrain betreten ist, das die Gottesfrage virulent werden lsst, ist fr philosophierende Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen klar. So schreibt Bernulf Kanitscheider: „Der ganze Wirbel um das anthropische Prinzip ist weniger eine intellektuelle Revolution, sondern ein Widerhall der nicht zum Ende gelangten Auseinandersetzung von Religion und Wissenschaft.“30 Nietzsche, der konstatiert, dass ihn „gelehrtes Hornvieh“ wegen des bermenschen „des Darwinismus verdchtigt“ habe (EH, Warum ich so gute Bcher schreibe 1, KSA 6, S. 300), und in dessen Werk sich nicht bloß darwinistisch, sondern auch lamarckistisch anmutende Stellen finden lassen,31 lehnt die Annahme von Zwecken in der Natur jedenfalls kategorisch ab, wenn er meint: „Die Wissenschaft aber kennt keine Rcksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt […].“ (MA I 38)32 Fr ihn ist die Betonung der Zwecklosigkeit der Natur aber bloß die Umkehrung 28 E. O. Wilson, Religion – eine List der Gene?, in: E. Dahl (Hg.), Brauchen wir Gott? Moderne Texte zur Religionskritik, Stuttgart 2005, S. 43 – 61, hier S. 48. 29 Vgl. Bernulf Kanitscheider, Die Feinabstimmung des Universums, in: E. Dahl (Hg.), Brauchen wir Gott? Moderne Texte zur Religionskritik, Stuttgart 2005, S. 31 – 42, hier S. 35. 30 Ebd., S. 41. 31 T. H. Brobjer, Art. „Zchtung“, in: H. Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2000, S. 360 f. 32 Vgl. FW 109: „Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort ,Zufall’ einen Sinn.“ Vgl. N 1873, KSA 7, 29[73], eine Stelle, die jedoch nicht auf die Natur, sondern auf Hegels Geschichtsauffassung gemnzt ist: „Particular- und CollectivEgoismen im Kampf mit einander – ein Atomenwirbel der Egoismen – wer wird da nach Zwecken suchen wollen!“
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der Annahme der Existenz Gottes, wenn „,Gott‘ […] eine viel zu extreme Hypothese“ geworden ist. „Und so ist“ – nach Nietzsche – „der Glaube an die absolute Immoralitt der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit [bloß] der psychologisch nothwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist.“ (N 1886/1887, KSA 12, 5[71], 3 f.) Falls Nietzsche Recht hat, befinden sich heute viele Evolutionsbiologinnen und -biologen, wenn sie energisch gegen eine Naturfinalitt anschreiben, in eben diesem Affekt, der aus der Ablehnung der Gotteshypothese resultiert, dieser aber als bloße Umkehrung verhaftet bleibt.
3. Gott als naturwissenschaftliches Objekt Die Reflexionen sowohl ber die Versuche, Perspektivitt in die Naturwissenschaften einzufhren, als auch ber den Streit in Bezug auf Naturteleologie haben gezeigt, dass die Loslçsung von Gott wenigstens als regulativer Idee oder als Kontrastfolie, an der man sich abarbeitet, selbst den Naturwissenschaften bislang nicht gelungen ist. Zwar hat man sich bemht, theologische Implikationen loszuwerden, indem man sich auf das Diktum von Laplace berief, dass er Gott als Hypothese in seiner „Himmelsmechanik“ nicht brauche.33 Zugleich fand mit der Frage, woher die Gottesidee in den Menschen gelangt sei, der Gottesbegriff auf andere Weise wieder Eingang in die Naturwissenschaften. Wenn nmlich Gott als transzendentes Einheitsprinzip, das Wahrheit als prinzipiell mçglich verbrgt, und als Garant fr Naturteleologie infrage gestellt ist, wird der Weg frei, ihn zum Objekt naturwissenschaftlicher Analyse zu machen. Gott wird deshalb kein empirisches Objekt wie ein sinnlich wahrnehmbares Ding, wohl aber wird die Genese der Gottesidee mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschbar. Verstndlicherweise ist dafr die evolutionsbiologische These vom Selektionsvorteil derjenigen Menschen, die eine Gottesvorstellung hatten, ein gnstiger Ausgangspunkt. Wird diese Position akzeptiert, liegt die weitere Frage nahe, wie eine solche Idee aufkommen konnte. Ihrer Beantwortung widmen sich heute vornehmlich die Neurowissenschaften. Dabei zeigt sich, 33 Als der franzçsische Mathematiker und Astronom Pierre Laplace (1749 – 1827) 1799 Napoleon die beiden ersten Bcher seines Werkes Mchanique cleste berreichte, soll dieser gefragt haben, warum er in seiner Himmelsmechanik den Namen Gottes nicht einmal erwhnt habe. Laplaces Antwort soll gelautet haben: „Je n’avais pas besoin de cette hypothse.“ (http://www.geophys.tu-bs.de/geschichte/laplace.htm; abgerufen am 5. 9. 2007)
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dass die Theorien ber den Evolutionsvorteil religiçser Menschen und ber die Gottesgeburt im Gehirn das grçßte atheistische Potenzial innerhalb der Naturwissenschaften enthalten – neben dem Theodizee- und dem Gewaltproblem, die nicht primr Gegenstand naturwissenschaftlicher Auseinandersetzung sind. Dies ist auch der Grund, warum glaubenskritische Naturwissenschaftler wie Edward O. Wilson in geradezu euphorischen Ton verfallen, wenn es um Religion oder Gott als naturwissenschaftliches Objekt geht. Wilson schreibt: „Das Bedeutsamste ist, dass wir jetzt die entscheidende Etappe in der Geschichte der Biologie erreicht haben, wo die Religion selbst zum Gegenstand der naturwissenschaftlichen Erklrung wird.“34 Freilich ist es nicht einerlei, ob man Gott oder Religion zum naturwissenschaftlichen Gegenstand macht. So etwa betrachtet Daniel Dennett Religion als „natrliches“ – im Unterschied zu „bernatrliches“ – Phnomen, das den Gesetzen der Physik und der Biologie unterliegt. Er betont, dass Religion selbst dann, wenn Gott existieren sollte, ein rein natrliches Phnomen bleibe.35 Entscheidend fr den vorliegenden Zusammenhang ist allerdings die Frage nach Gott. Mit dem Rekurs auf die Religion ist die Geltungsfrage in Bezug auf die Existenz Gottes noch nicht notwendig im Blick. Geht es dort bloß um selektive Vorteile und neuronale Korrelate, steht hier darber hinaus auch die Frage im Raum, ob und wie Gott jenseits solcher Erklrungsversuche noch als existierend gedacht werden kann. Sobald man eine naturalistische Position einnimmt, die davon ausgeht, dass Wirklichkeit als Ganze hinreichend allein durch biologische Methoden erklrt werden kann, ist die Frage, ob Gott auch noch jenseits des Gehirns existiert, bereits entschieden. Wenn Gott nmlich im Gehirn entsteht, ist er neuronal verursacht und hat in Gehirnaktivitten seinen Ursprung. Beide Perspektiven – die evolutionsbiologische vom Selektionsvorteil religiçser Menschen und die neurobiologische von der Genese der individuellen Gottesvorstellung aus dem je eigenen Gehirn – kann man sich mit einem Beispiel von Newberg, D’Aquili und Rause illustrieren.36 Demnach hat ein prhistorischer Jger, der fr seine hungernde Sippe auf der Pirsch ist, die von keinem Erfolg gekrçnt wird, vielleicht einmal in seiner Ermattung das Bild eines großen Hirschen phantasiert, der allen Hunger stillen kann. 34 Wilson, Religion – eine List der Gene?, S. 60. 35 Vgl. D. C. Dennett, Breaking the spell. Religion as a natural phenomenon, New York 2006, S. 25: „Notice that it could be true that God exists, that God is indeed the intelligent, conscious, loving creator of us all, and yet still religion itself, as a complex set of phenomena, is a perfectly natural phenomenon.“ 36 Vgl. zum Folgenden A. Newberg, E. D’Aquili, V. Rause, Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht, 2. Aufl., Mnchen 2003, S. 185 ff.
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Dieses Wunschbild wird ihm in der Folge zu einer Art Mantra, das dann, wenn er bei weiteren Jagdversuchen durch Konzentration auf es erfolgreich ist, zur verehrungswrdigen Gottheit mutiert, sodass der Jger in deren Namen auch in Zukunft auf die Pirsch gehen wird. Daraus ziehen die Neurowissenschaftler den Schluss: „Aus neurologischer Sicht setzt [der Jger] […] die gleiche biologische Ereigniskette in Gang, wie sie durch die kontemplativen Techniken religiçser Mystiker ausgelçst wird […].“37Gçtter sind im Gehirn auftauchende Phantasiegebilde, die in der Lebenspraxis verstrkt werden und sich bei Erfolg evolutionr verfestigen. Mir scheint, dass mit dieser naturwissenschaftlichen Entwicklung eine im Sinne Nietzsches paradoxe Situation eingetreten ist. Man hat zwar Gott klein gemacht, sodass er ein naturwissenschaftliches Objekt geworden ist, doch ist der Wahrheitsanspruch, mit dem die außerzerebrale Nicht-Existenz Gottes behauptet wird, ein emphatischer, der nicht die eigene These als eine mçgliche Interpretation neben andere stellt, sondern allgemeingltige Akzeptanz einfordert. ber den emphatischen Wahrheitsbegriff wird Gott gleichsam lateral immer wieder gesetzt, auch wenn man empirisch seine Nicht-Existenz behauptet. Denn wenn es stimmt, dass der Wahrheitsbegriff nicht ohne den Gottesbegriff zu haben ist, kann ein theoretischer Atheismus insofern nicht wissenschaftspraktisch werden, als die Wahrheitsbehauptung immer dazwischenkommt. Eines aber hat dieser Umgang mit dem Gottesbegriff verndert: Gott kommt als Instanz fr die Sicherung menschlicher Unantastbarkeit nicht mehr in Frage. Da der Gottesbegriff ein rein naturwissenschaftlicher geworden ist, hat die Biologie die Interpretationshoheit errungen und sich zur Universalperspektive aufgeschwungen. Das setzt eine Biopolitik38 frei, die im Letzten nur biologischen Maximen verpflichtet ist, weil alles und selbst Gott zum Gegenstand der Biologie geworden sind. Heute glaubt man nicht mehr an den transzendenten Gott, der die Unverfgbarkeit des Menschen verbrgt, wohl aber an die als objektiv und universal angenommene Wahrheit naturwissenschaftlicher Theorien. Die Gotteschimre „universale biologische Wahrheit“ ermçglicht so die Produktion von Menschenchi-
37 Ebd., S. 185. Newberg / D’Aquili / Rause lassen zwar offen, ob Transzendenz damit erschçpfend erklrt ist oder ob es Gott jenseits menschlicher Vorstellung gibt. Der Tendenz ihrer Auffassung nach scheint sich Gott aber in neuronalen Schaltungen zu erschçpfen. 38 Zu Nietzsches Biopolitik-Auffassung siehe F. Balke, Die Figuren des Verbrechers in Nietzsches Biopolitik, in: Nietzsche-Studien 32, 2003, S. 171 – 205.
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mren.39 Um diese biopolitisch legitimieren zu kçnnen, musste Gott erst naturwissenschaftliches Objekt werden.
4. Verschiedene Formen des Todes Gottes Fr die heutige Situation, in der die Behauptung des Todes Gottes keine Tollheit mehr ist, war zu fragen, ob die Sorge des „tollen Menschen“, dass seine Ankndigung zu frh kme, nun haltlos geworden und seine Behauptung von den Naturwissenschaften eingelçst worden ist. Die angestellten Analysen haben gezeigt, dass trotz naturwissenschaftlicher Versuche, Gott in seiner Bedeutung fr die eigene Wissenschaft zu minimieren, dieser bislang nicht vçllig abgeschttelt werden konnte, sondern zumindest indirekt immer noch prsent ist. Der Einfluss des Gottesbegriffes hat freilich vernderte Formen angenommen, die je nach der Weise, wie man versucht, den Gottesbegriff zu beseitigen, variieren. Die erste Form, Gott auszuschalten, war der Tçtungsversuch durch Perspektivierung. Der Versuch, radikale Perspektivitt40 einzufhren, galt zunchst als Charakteristik der Geisteswissenschaften, sollte aber auch fr die Naturwissenschaften Bedeutung gewinnen. Die Einbeziehung des Beobachters oder der Beobachterin in der Quantenmechanik – wenigstens nach deren Kopenhagener Deutung – kann aber nicht darber hinwegtuschen, dass der naturwissenschaftliche Perspektivenpluralismus vor der Individualitt des Subjekts Halt macht und bloß eine einzige subjektive Grçße ansetzt, also die Differenzen zwischen einzelnen Individuen nicht ernst nimmt. Was dadurch bestehen bleibt, ist ein universaler Geltungszusammenhang, der nach wie vor intersubjektiv angesetzt wird. Insofern dieser einen gemeinsamen Bezugspunkt verlangt, ist der Tçtungsversuch durch Perspektivierung nicht bis ans Ende durchgefhrt. Denn die scientific com39 Vgl. die Zulassung der Stammzellengewinnung durch die Einpflanzung menschlicher Zellkerne in tierische Eizellen in Großbritannien (I. Sample, Human-animal embryo study wins approval. Mixing cells and eggs to be allowed in search for new medical treatments, in: The Guardian, 4. 9. 2007, http://www.guardian.co.uk/ science/2007/sep/04/stem.cell.research/print (abgerufen am 5. 9. 2007). 40 Zu Nietzsches eigenem Versuch, radikale Perspektivitt zu denken, siehe H.-W. Ruckenbauer, „[G]erade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“. Vom Schwinden des Realittsbezugs bei Nietzsche, in: R. Esterbauer, E. Pernkopf u. M. Schçnhart (Hg.), Spiel mit der Wirklichkeit. Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften, Wrzburg 2004, S. 195 – 209.
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munity verbindet nach wie vor der Bezug auf die eine gemeinsame Wahrheit, die einzelne Perspektiven auf einen gemeinsamen Fokus ausrichtet. Die zweite Form des Gottestodes war der durch Entfinalisierung. Die methodische Beseitigung finaler Kontexte und die Ablehnung jeder transzendenten Lenkung sollte nur Kausalittsformen gelten lassen, die extramundane Verursachung ausschließen, also auch Gott aus naturwissenschaftlichen Kontexten eliminieren. Obwohl Gott keine naturwissenschaftliche Hypothese mehr ist, die Verwendung des Schçpfungsbegriffs innerhalb naturwissenschaftlicher Erklrungsversuche einen Kategorienfehler darstellt und Gottes Erlçsung der Natur naturwissenschaftlich undenkbar geworden ist, treten auch durch den Vorgang der Entfinalisierung die Naturwissenschaften nicht vçllig aus dem Schatten Gottes heraus. Denn wie Nietzsche selbst festgestellt hat, ist die Ablehnung der Teleologie bloß der Affekt, der dann auftritt, wenn man Gott in der Natur leugnet. Die Annahme, die Natur sei zwecklos, ist lediglich die Umkehrung der Gotteshypothese und bleibt dieser negativ verhaftet, insofern man sich noch immer im selben Schema von Zweck und Zwecklosigkeit bewegt. Die Natursicht hat sich bloß umgekehrt, es wurde aber keine neue Kategorie erschlossen. Als dritte Form des Gottestodes habe ich die Tçtung durch Objektivierung untersucht. Sobald Gott methodisch nicht mehr opportun ist und keinen Naturfaktor mehr darstellt, kann er als menschliches Produkt erklrt werden. Als solches wirder naturwissenschaftlich objektivierbar. Inder Folge nimmt man Natur nicht mehr quasi von Gott her – beispielsweise in ihrer Erlçsungsbedrftigkeit – in den Blick, sondern umgekehrt Gott unter den Bedingungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Obwohl Gott zum naturwissenschaftlichen Objekt geworden ist und evolutions- oder neurobiologischen Deutekategorien unterworfen wurde, ist die Naturwissenschaft nicht frei von Voraussetzungen, die vormals mit Gott in Verbindung standen. Wieder ist es der bei solchen Objektivierungen vorausgesetzte Wahrheitsbegriff, der seine Herkunft aus theistischen Bezgen nicht leugnen kann. Wenn man Gott durch Objektivierung historisieren und marginalisieren mçchte, schleicht er sich ber den Begriff der Wahrheit, dem solche Aussagen verpflichtet sind, wieder in den Wissenschaftsdiskurs ein. Die Leugnung der Existenz Gottes setzt nmlich allein dadurch, dass behauptet wird, dass es ihn nicht gebe, den Rekurs auf Wahrheit voraus. So bleibt auch der Gottestod durch Objektivierung eine Nekrobiose. Das Zitat am Anfang dieses Beitrags stellte einen religiçsen Fanatiker vor, der einem atheistischen Wissenschaftsjournalisten an den Kopf wirft, dass die Kohlenstoffdatierung des Turiner Grabtuches, die dieses als mittelalterliche Flschung aufgedeckt hat, den Glauben der Menschen nicht
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erschttern kçnne. Wollte man die Geschichte im Licht der eben durchgefhrten berlegungen kommentieren, msste man sagen: Die Wissenschaft hat Gott klein gemacht, kann ihn aber nicht zu Grabe tragen, weil sie sonst die eigene Wahrheit als Flschung akzeptieren msste.
„Von Natur aus gut“: Schatten Gottes und Neuroethik Maria Cristina Fornari Angesichts der Allgemeingltigkeit der moralischen Systeme muss die Neigung, sie zu entwickeln und ihnen Geltung zu verschaffen, integraler Bestandteil der menschlichen Natur sein. (F. de Waal) Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschtzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schtzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedrfnisse einer Gemeinde und Heerde: Das, was i h r am ersten frommt – und am zweiten und dritten –, das ist auch der oberste Maassstab fr den Werth aller Einzelnen. (F. Nietzsche)
Die berschrift dieses Beitrags, „Von Natur aus gut“, greift den Titel eines bekannten Buches von Frans de Waal mit dem bezeichnenden Untertitel Les bases naturelles de la morale auf.1 In diesem inzwischen klassischen Text kommt de Waal auf den Darwinismus zurck, um zu zeigen, dass auch die Tiere „gut“ sind, also jene Eigenschaften des Wohlwollens, der Geselligkeit und des Altruismus besitzen, die uns Menschen auszeichnen, und dass in der Moral zwischen dem Menschen und den ihm verwandten Primaten im Grunde – mit Darwin – bloße Gradunterschiede bestehen. Zusammen mit James Rachel, Peter Singer und vielen anderen zhlt de Waal zu den Verfechtern eines neu aufgelegten Darwinismus, der nicht nur zur Verkndung verschiedener Formen von Antispeziesismus, sondern vor allem zu neuerlichen Begrndungsversuchen von Ethik aufgrund unserer natrlichen
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F. de Waal, Le Bon Singe. Les bases naturelles de la morale, Paris 1996; der Titel der italienischen bersetzung lautet: Naturalmente buoni. Il bene e il male nell’uomo e in altri animali.
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Wirklichkeit gefhrt hat.2 Mit anderen Worten seien die moralischen Zge des homo sapiens nicht nur in seinen tierischen Vorfahren anzutreffen, sondern das „moralische Vermçgen“ (verstanden als Neigung, Mçglichkeit und Fhigkeit, moralische Urteile zu formulieren und auf eigenes und fremdes Verhalten anzuwenden) wird immer mehr als Folge der Entwicklung spezifischer Hirnstrukturen, sozusagen in Verbindung mit einem bestimmten Phnotyp des Verhaltens betrachtet. Diese These vertritt in Italien zum Beispiel Giovanni Boniolo, der betont, dass die Entstehung des moralischen Vermçgens (im Unterschied zur Entstehung verschiedener moralischer Systeme) nur mçglich sei bei Lebewesen, die ber instinktive soziale Verhaltensweisen im Sinne Darwins verfgen und zugleich einen Entwicklungsprozess bestimmter Hirnstrukturen durchlaufen. Oder denken wir an Daniel Siegels „relational mind“, das aus der Interaktion zwischen Hirnstrukturen und -funktionen und Erfahrungen interpersonaler Beziehungen resultiert, die ihrerseits in der Lage sind, die durch das Nervensystem genetisch bestimmten Programme zu beeinflussen und zu modellieren.3 Ich werde weiter unten versuchen, zu verdeutlichen, wie diese unsere ,Neigungen‘ und formalen ,Fhigkeiten‘ zur ußerung moralischer Urteile, die heutzutage durch die neurobiologische Forschung belegt und inzwischen allgemein anerkannt sind, bei einigen Autoren unmerklich, auf fast wundersame Weise, zu Grundlagen einer normativen Ethik werden.4 In dieser 2
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berzeugt davon, dass menschliche Ethik ihren Ursprung in entwickelten Verhaltensmustern sozialer Tiere habe, definiert Singer die Bevorzugung der Artgenossen, der Reziprozitt und des Altruismus als universell und biologisch wohlbegrndet (vgl. P. Singer, The Expanding Circle: Ethics and Sociobiology, New York 1981). Diese Art von Soziobiologie (wie die von Lumsden und Wilson) sttzt sich allerdings nicht auf die Ergebnisse der jngeren Neurowissenschaft. Vgl. G. Boniolo, Il limite e il ribelle. Etica, naturalismo, darwinismo, Milano 2003; D. J. Siegel, The Developing Mind: Toward a Neurobiology of Interpersonal Experience, New York 1999. Boniolo warnt: „Das moralische Vermçgen mag eine biologische Grundlage haben, nicht so die moralischen Systeme. Dieser Unterschied ist wichtig, genau wie der zwischen Verhalten und moralischer Beurteilung des Verhaltens: Ein moralisches Vermçgen zu besitzen – d. h. die aus der biologischen Entwicklung hervorgegangene Fhigkeit zur Formulierung und ußerung moralischer Urteile – ist etwas anderes, als ein System moralischer Urteile, das heißt eine eigene ethische Sichtweise, zu haben. Oftmals werden die beiden Aspekte verwechselt, vor allem wenn man die Moral zu naturalisieren sucht, und man geht, ohne gebhrend nachzudenken, von der Tatsache, dass das moralische Vermçgen ein Resultat der darwinschen Evolution ist, zur These ber – die ich fr das Ergebnis einer schlechten Philosophie halte –, dass dann auch die Moral als Werte- und Urteilssystem biologisch begrndet oder begrndbar sei.“ (Boniolo, Il limite e il ribelle, S. 3)
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postmodernen Epoche, dieser ,hypernervçsen‘ Gegenwart (wie Nietzsche von der seinen sagte), die sicher nicht weniger von reaktionren Triebkrften bewegt ist und kein geringeres Sicherheitsbedrfnis hat als das vorangegangene Jahrhundert, scheinen manche von den Neurowissenschaften und von gewissen Zweigen der Philosophie des Geistes (philosophy of mind) betriebene Untersuchungen zum natrlichen Ursprung der Moral erneut das Bedrfnis nach Begrndung des Seinsollens durch das Sein oder zumindest nach Ableitbarkeit des ersteren von letzerem auszudrcken – wobei ,das Sein‘ jetzt die Tatsache unseres biologischen Erbes darstellt. Laura Boella hat diesen Themen jngst eine objektive, ausgewogene Studie gewidmet, in der sie sich nicht verhehlt, dass das wishful thinking, das der Suche nach einer biologischen Basis unseres Verhaltens zugrunde liegt, in der ersehnten Besttigung einer „universellen Moral“ besteht, die uns in den Stand versetzen wrde, Trennungen und Konflikte im Namen der Gattung zu berwinden: „Man kçnnte meinen, dass die Wissenschaft am Ende eines tragischen Jahrhunderts wie dem zwanzigsten und in einer zerrissenen Welt wie der heutigen erneut den aufklrerischen Traum von der Gleichheit der menschlichen Natur verfolgt.“5 Ein weiterer „Schatten Gottes“, wrde Nietzsche sagen – der, wie wir wissen, ein meisterhafter und ußerst scharfsinniger Kritiker des naturalistischen Trugschlusses war, den er in den Moralisten seiner Zeit verdeutlicht und sogar verkçrpert fand. Jene Zeit ist am Ende gar nicht so fern, wenn man bedenkt, dass viele Themen und Probleme, mit denen wir uns heute befassen (beispielsweise die Physiologie der Wahrnehmungen oder die biologische Grundlage unseres Verhaltens), im ,Jahrhunderts Darwins‘ ihren Ursprung und ihre erste Formulierung finden. Es erscheint mir daher zum einen interessant, Nietzsches Auseinandersetzung mit der Debatte ber unser moralisches Vermçgen, die zu jener Zeit unter dem Ansporn der evolutionistischen Theorien und der neuen biologischen Auffassungen auflebte, kurz darzustellen; zum anderen mçchte ich die Aufmerksamkeit auf Nietzsches Kritik an den falschen Schlssen vom Sein auf das Sollen lenken und fragen, ob sie nicht noch immer aktuell ist. Vielleicht lohnt es, Nietzsches ernchterten Blick einzunehmen, um uns selbst zu betrachten, oder um wenigstens kritisch auf gewisse heutige Begrndungsversuche der Moral zu schauen, die sich wissenschaftlich geben, in denen Nietzsche aber wohl wiederum die Triebe und einseitigen Werte derer am Werk gesehen htte, die sie vorlegen. 5
L. Boella, Neuroetica. La morale prima della morale, Milano 2008, S. 77.
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Dass Nietzsche tiefen Anteil nahm an den Fragen der wissenschaftlichen Diskussion seiner Zeit, ist bekannt. Ebenso wissen wir, wie viel er von dem kulturellen Klima aufnahm, das die darwinsche Revolution hervorgebracht hatte. „Der moralische Mensch […] steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht nher, als der physische Mensch“ (MA I 37): Diese Erkenntnis gilt dem Nietzsche, der in Menschliches, Allzumenschliches die moralischen Empfindungen erforscht, als feste Errungenschaft, genau wie er sich bei seinem unablssigen Bemhen, Ursprung und Natur unserer moralischen Begriffe und Werte zu erkunden, nie mehr von der historischen Philosophie abwenden wird, die – man beachte – „gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist“ (MA I, Vorrede 1). Als wissbegieriger, unermdlicher Leser hatte sich Nietzsche auf seiner Reise in das „ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral“ bereits der Anthropologie, Ethnografie und Soziologie zugewandt,6 aber insbesondere war es der spencersche Evolutionismus, der ihn in den beginnenden 1880er Jahren anzog und zu einem ausdrcklich biologischen Verstndnis der Frage nach Ursprung und Entwicklung der Moral hinfhrte.7 Die Briefe, die Nietzsche an seinen Verleger schickte, kaum dass er von der Verçffentlichung von Spencers The Data of Ethics (London 1879) erfahren hatte, zeugen von einem unzweifelhaften Interesse an dem Denker, der damals als einer der Vter der neuen Philosophie galt,8 und obwohl er am Ende ein negatives, scharfes Urteil ber Spencer fllte, ndert das nichts daran, dass dieser eine alles andere als marginale Rolle fr Nietzsches Reflexionen spielte. Seine Ablehnung bildete sich heraus, indem er alternative Antworten auf die wichtigen Anregungen Spencers gab, die zum Großteil dem allgemeinen Empfinden der Zeit entsprachen und das Paradigma einer ganzen Epoche darstellten.9
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In die Zeit vor Entstehung von Menschliches, Allzumenschliches fllt die Lektre von Tylor, Lubbock, Spencer, Bagehot u. a. Vgl. etwa. A. Orsucci, Orient-Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslçsung vom europischen Weltbild, Berlin 1996, insbesondere Teil 1: Nietzsches philologische Lektren und ethnologische Studien in der Entstehungszeit von Menschliches, Allzumenschliches. Vgl. G. Moore, Nietzsche, Biology and Methaphor, Cambridge 2002, ders., Nietzsche, Spencer and the Ethics of Evolution, in: The Journal of Nietzsches Studies 23, 2002, S. 1 – 20. Vgl. Briefe an Schmeitzner, KGB II/5, S. 466 und S. 474. Vgl. dazu M. C. Fornari, Die Spur Spencers in Nietzsches ,moralischem Bergwerke’“, in: Nietzsche-Studien 34, 2005, S. 310 – 328; dies., Die Entwicklung der Herdenmoral. Nietzsche liest Spencer und Mill, Wiesbaden 2009.
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Wie Spencer bereits in einem innerhalb kurzer Zeit berhmt gewordenen Brief an John Stuart Mill erlutert hatte,10 schlug er als Antwort auf die „Chemie des Geistes“, die aus der Moral das Resultat von Ideenassoziationen machte, welche durch Gewohnheit, Erziehung und gesellschaftliche Urteile bekrftigt werden, eine starke Lçsung vor, die von seinen Gegnern unmissverstndlich als „Intuitionismus“ gebrandmarkt wurde. Nach Spencer – der den Entwicklungsgedanken noch vor Darwin vertrat und zu einem universellen Fortschrittsgesetz erhob – ist unser Vermçgen der moralischen Anschauung das Ergebnis ursprnglicher Erfahrungen des Ntzlichen, die im Verlauf unserer Entwicklungsgeschichte nach und nach angehuft und organisiert und schließlich in Form von Abnderungen in unserem Nervensystem an sptere Generationen weitervererbt wurden: eine Art „psychophysische Ausstattung“, die der Einzelne von der angesammelten und in den Nervenfasern einer langen Folge von Generationen gespeicherten Erfahrung erbt und die ihn auf ganz und gar unbewusste Weise beeinflusst.11 Die Wende ist offenkundig. Es handelt sich um eine Lçsung, die Innatismus und Umwelteinflsse, psychophysische Automatismen und selektive Funktion des Bewusstseins (wrden wir heute von genetischem und epigenetischem Bewusstsein sprechen?), individuelle Erfahrungen und universelles Gesetz miteinander verknpft. Keine bloße Neuauflage des assoziationistischen Utilitarismus; nicht die zuflligen Variationen Darwins, die aufgrund ihres Nutzens im struggle for life ausgewhlt werden; sondern (mit Lamarck) eine allmhliche Anpassung der Organismen an die Anforderungen der Umwelt – also sozusagen eine zweckmßige Antwort auf die Naturbedingungen – und die Vererbung der Resultate, die als unanfechtbare, dauerhafte Prinzipien im organischen Gedchtnis der Gattung verankert sind.12 10 Publiziert in Mental & Moral Science von Alexander Bain (1868), das Nietzsche in deutscher bersetzung besaß (A. Bain, Geist und Kçrper. Die Theorien ber ihre gegenseitigen Beziehungen, Leipzig 1874). 11 Geteilt wird Spencers Annahme von Emile Ferrire, dem zufolge alle Sinnesakte in eine Vernderung der Nervenzellen bersetzt werden. Erziehung, Geschichte, Gesetze usw. haben „den Gehirnzellen aller Angehçrigen eines Volkes gleichfçrmige und bleibende Vernderungen aufgeprgt. Durch jahrhundertelange Einbung fixiert und an die gesamte Nachkommenschaft weitervererbt, werden die erworbenen Vernderungen Natur“ (E. Ferrire, L’me est la fonction du cerveau, 2 Bde., Paris 1883, Bd. 2, S. 246). 12 Von „organischem Gedchtnis“ als einem in jeder Kçrperzelle verbreiteten Gedchtnis hatte der Physiologe Henry Maudsley gesprochen (H. Maudsley, Physiology and Pathology of the Mind, London 1867). Auch Maudsley nahm an, dass
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Da nun nach Spencer – diesen „Verherrlicher der SelektionsZweckmßigkeit“ (N1881, KSA 9, 11[43]) – das Leben fr seine Erhaltung und Entwicklung arbeitet, kann das Ergebnis dieses Prozesses nur in der Fixierung uneigenntziger, wohlwollender und frsorglicher Triebe bestehen. Das, was der Weg der Entwicklung seines Erachtens vervollkommnet und was unsere organischen Strukturen aufnehmen und besttigen, sind die Handlungen, die der Fçrderung und Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens (unseres spezifischen Milieus) dienen; und wenn das Gedchtnis die moralischen Dispositionen enthlt, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet haben, dann wird die Moral die Bekrftigung und Fortfhrung des von der Natur Erzeugten sein. Auf diese Weise entsteht eine unumstçßliche Gleichung zwischen ntzlich, natrlich und tugendhaft. Nietzsche verfolgt die Frage auf den mit zahlreichen Randbemerkungen von ihm versehenen Seiten der Thatsachen der Ethik sehr aufmerksam.13 Dass die Strukturierung des moralischen Bewusstseins aus der Fixierung von Wiederholungen des Nervensystems resultiere, ist ein Gedanke, den er nicht nur bei Spencer und Espinas (der als einer der ersten die Vorstellung vom „Herdencharakter“ verbreitete), sondern auch bei Bain, Tyndall und Guyau dargelegt fand, den er aufmerksam las. Bekanntlich erschien Nietzsche die Hypothese, dass die „unv ergessenen und unvergessbaren Erfahrungen ber ntzlich-zweckmssig“ in den Akten der Menschheit verzeichnet wrden, sogar „in sich vernnftig und psychologisch haltbar“, im Gegensatz zu der – in der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches von ihm selbst vertretenen – Annahme, wonach der Ursprung der Moral im Vergessen der anfnglichen Ntzlichkeitsgrnde bestimmter Handlungen zu suchen sei. Auch die erstgenannte Hypothese ist „wie gesagt, falsch“, przisiert Nietzsche indes, denn die Mçglichkeit einer eindeutigen Bestimmung jenes Zwecks bestreitet er und erst recht den vermeintlichen Anpassungsvorteil eines altruistischen Triebes (vgl. GM I 3). Das Thema berhrt auch die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften, die sogenannte „indirekte Vererbung“, die der Physiologe Wundt als eine vom neurologischen Standpunkt aus unhaltbare ,fantastische Theorie‘ bezeichnete, vor allem wenn sie die moralische Dimension beerworbene Ideen, Gefhle und Kategorien durch einen organischen Prozess in Struktur und Organisation der Nervenzentren der Art fixiert seien. 13 H. Spencer, Die Thatsachen der Ethik, Stuttgart 1879. In hnliche Richtung geht A. Espinas, Des socits animales, Paris 1875. In Nietzsches Bibliothek findet sich die deutsche bersetzung der zweiten Auflage (Die thierischen Gesellschaften. Eine vergleichend-psychologische Untersuchung, Braunschweig 1879), die Nietzsche im Februar 1882 erstand.
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trifft,14 die heute aber neue, ernstzunehmende Verfechter findet.15 Die Idee, dass durch Anpassung bewirkte organische Vernderungen an sptere Generationen vererbt werden (auch in Form von Ideen und Gefhlen), wurde von vielen Wissenschaftlern geteilt, darunter Bain, Hering und Haeckel. Zwar kann nicht behauptet werden, dass Nietzsche sie voll bernahm, doch scheint er einzurumen, dass die moralischen Gefhle offensichtlich bertragen werden, wenigstens in Form starker Neigungen und Abneigungen.16 Jedenfalls macht sich in Nietzsche immer mehr der Gedanke breit, dass die Moral aufs Engste mit dem biologischen Gewebe verquickt sei. Auch in der Auseinandersetzung mit Spencers Vorschlgen und mit der Dynamik der Triebe, denen jener vertrauensvoll den teleonomischen Fortgang des Evolutionsprozesses anheimstellt, ermittelt Nietzsche in den Trieben – an deren Heterogenitt er allerdings festhlt – die neuen Agenzien bei der Abfassung der moralischen Gtertafeln.17 Der Trieb bestimmt das Hervortreten des Wertes, auch dieses durchaus nicht ,selbstverstndlichen Werths der Werthe, des Lebens‘, den die modernen Moralforscher und Soziologen verfechten (vgl. N 1880, KSA 9, 6[105]); der herrschende Trieb ruft zu seiner Besttigung nach einem ethischen System, das, wie die Eule der Minerva, im Nachhinein auftaucht, um ihn zu rechtfertigen und zu begrnden.
14 „Nun lsst es sich allenfalls begreifen, dass sich in dem Nervensystem im Laufe der generellen Entwicklung gewisse Nervenverbindungen ausbilden, und dass dadurch die Anlagen zu Reflexbewegungen und automatischen Bewegungen von einem bestimmten zweckmssigen Charakter vererbt werden; viele Beobachtungen sprechen in der That fr diese Annahme. Wie aber aus Anlagen des Nervensystems moralische Anschauungen entstehen sollen, ist und bleibt ein Mysterium. […] In der That, die wirkliche Neurologie verhlt sich zu solchen phantastischen Vorstellungen ungefhr wie die wirkliche Astronomie und Geographie zu den Entdeckungsreisen eines Jules Vernes.“ (W. Wundt, Ethik, eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 1886, S. 344 f.) 15 Vgl. beispielsweise E. Jablonka u. M. J. Lamb, Evolution in Four Dimensions. Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life, Springer Netherlands 2005. Nach Ansicht der namhaften Autorinnen wirkt die natrliche Selektion auch auf die Variation, die auf epigenetischer Ebene entsteht und zum Großteil vom Verhaltens- und Symbolsystem abhngt. Spezifische Umweltbedingungen fhren vererbbare Vernderungen im epigenetischen Zustand des Erbguts herbei, die in spteren Generationen wieder auftauchen. 16 Vgl. z. B. M 34, M 35, M 310 u. a. 17 „Ich schlage das Bild vor: reizt es euch, so werdet ihr es nachahmen mssen. Nicht die Ziele, sondern die Befriedigung des bereits vorhandenen Triebes zwingt zu dieser oder jener Moral. Ni c h t die Vernunft! wenn nicht im Dienste eines Triebes!“ (N 1880, KSA 9, 6[108])
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Die Moral kann nur befehlen – d. h. durch Furchterregung sich durchsetzen (also mit Hlfe eines Triebes), oder sie kann mit Hlfe eines anderen Triebes sich legitimieren – sie s e t z t immer schon ihre unmittelbare Bewiesenheit und berzeugende Kraft v o r a u s , sie k o m m t , w e n n der Trieb und die Werthschtzung bestimmter Art s c h o n d a i s t . 18
„Dies gilt von allen Ethiken“, schließt Nietzsche, nachdem er die Aufzeichnung jedoch ausdrcklich der Widerlegung des vermeintlichen ,Regulativs‘ der physiologischen Ethik Spencers gewidmet hat.19 Was soll man also von einer Ethik halten, welche die Erhaltung und Fçrderung des Lebens zum Ziel hat und im Einklang mit einer gesamteuropischen Stimmung den physiologischen Vorrang des Altruismus behauptet? Um welchen mchtigen Trieb hat sich diese Konkretisierung der Moral entwickelt, wie ein schmerzhaftes Sandkorn in einer Perlauster, das uns zur Umhllung und Fossilisierung dessen gezwungen hat, was Nietzsche als schdlich fr die Geschicke der Menschheit aufzeigt? Grundlegende Determinante, Ausstattung des Menschen und natrliche Grundlage der primitiven Moral ist in Nietzsches Augen bekanntlich die Furcht, die den Menschen in jener schrecklichen vorgeschichtlichen Zeit geleitet hat, in der er den Schwankungen einer feindlichen Umwelt ausgesetzt und das Alleinsein eine furchtbare Verdammnis war. Dank der Antworten auf diese Triebkraft, die so tief verwurzelt sind, dass sie den Anschein der Natrlichkeit erwecken, spricht das als beruhigend empfundene Gemeinschaftselement noch heute strker in uns als jegliches individuelle Bestreben. Wenn Spencer in gewisser Weise recht hat, dann berrascht es nicht, dass sich ein entsprechendes spezifisches Rstzeug in uns festgeschrieben hat, das Nietzsche als Herdeninstinkt bezeichnen wird. 18 N 1880, KSA 9, 6[123]; vgl. auch 6[127] und 6[130]. Die Moral bietet Vorbilder, die je nachdem, ob sie dem zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschenden ,Geschmack’ entsprechen, angenommen oder zurckgewiesen werden kçnnen, z. B.: „Das Loben und Tadeln derselben [der Triebe], der zeitweilige G e s c h m a c k an diesen und jenen ist ein ziemlich oberflchliches Phnomen, abhngig vom Bewußtsein ber ,ntzlich’ ,schdlich’ – welches sehr u n w i s s e n s c h a f t l i c h ist!“ (N 1881, KSA 9, 11[122]) 19 „Zu wissen, ,dies ist gesund, dies erhlt am Leben, dies schdigt die Nachkommen’ – ist durchaus noch kein Regulativ der Moral! Warum leben? Warum durchaus froh leben? Warum Nachkommen? – Gesetzt, es wre dies alles angenehmer als das Gegentheil, sterben, krank sein, ohne Nachkommen isolirt sein: so wre vielleicht irgend etwas angenehmer als diese Annehmlichkeiten z. B. das Gefhl seiner Ehre oder einer Erkenntniß oder einer Wollust, deretwegen wir das Sterben oder die Krankheit oder die Einsamkeit whlen mßten.“ (N 1880, KSA 9, 6[123])
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Ich mag nun mit gutem oder bçsem Blicke auf die Menschen sehen, ich finde sie immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit: Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt. Und zwar wahrlich nicht aus einem Gefhl der Liebe fr diese Gattung, sondern einfach, weil Nichts in ihnen lter, strker, unerbittlicher, unberwindlicher ist, als jener Instinct – weil dieser Instinct eben d a s We s e n unserer Art und Heerde ist. (FW 1, KSA 3, S. 369)
Die historische und physiologische Vorzeitigkeit eines solchen moralischen Modells ist unbestreitbar. Auf seiner Seite hatte es die Hartnckigkeit eines Instinkts, der den Niederschlag eines unwiderstehlichen Triebes bildet, gleichsam ein physiologisches Substrat unserer Natur. Sogar das Gewissen als letztes, ausgeklgeltes Produkt des Organischen geht aus unserem Herdencharakter, aus dem „Genius der Gattung“ hervor, der in uns zu Wort kommt und uns dazu bewegt, durchschnittliche Wertmaßstbe als vorrangige Bedingung fr unser berleben zu bernehmen. So denkt Nietzsche fraglos daran, wie machtvoll sich die psychologischen Folgen in das organische Gedchtnis der Gattung einschreiben, wenn er den Herdeninstinkt als wichtigsten Entstehungsherd fr unsere Werteskala begreift:20 Diesbezglich ist die Rolle Spencers und des Spencerismus (neben anderen Quellen) meines Erachtens unabdingbar. Wenn das aber stimmt, so bedeutet es paradoxerweise das Ende von Spencer als Moralforscher und Moralhistoriker. Seine physiologische Ethik ist nmlich das Symptom einer tiefen Verflochtenheit mit dem Herdeninstinkt, der sich zur Norm des soziologischen Werturteils aufschwingt.21 Sie bedeutet die Besttigung der Unsicherheit, die dem modernen Menschen eigen ist. Mit seiner erschçpften Lebenskraft, physiologisch alternd, versprt er das Bedrfnis nach Selbsterhaltung, Versçhnung und Schutz. Aus einer so gearteten Ethik, die sich als wissenschaftlich ausgibt, aus Stuart Mills „goldener Regel“, aus Comtes „vivre pour autrui“, aus Schopenhauers neminem laede, spricht ein unter dem Stachel einer uralten Furcht entstandener und dann in Fleisch und Blut bergegangener Trieb, der Wohlwollen und wechselseitige Kooperation zu Werten erhebt und das Individuum dadurch unauflçslich an die Geschicke seiner Gemeinschaft und seiner Gattung bindet. Doch kehren wir zur Gegenwart zurck. Dass moralisches Verhalten biologische Grundlagen hat, ist inzwischen eine anerkannte Tatsache. Von 20 Vgl. Brief an F. Overbeck vom 4. Januar 1888, KGB III/5, S. 224. 21 Siehe die Kritik an der allgemeinen Richtung der „Englnder“ in der Genealogie der Moral bzw. die Kritik an der Moral des Altruismus in der Gçtzen-Dmmerung (Streifzge eines Unzeitgemssen 9).
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Damasios Untersuchungen zum Prfrontalkortex22 bis zur Hypothese des Medizinnobelpreistrgers Eric Kandel, wonach dem Lernen eine bleibende Vernderung der Neuronenverbindungen entspricht, luft alles auf die Besttigung der Wechselbeziehung zwischen den kognitiven, emotionalen und affektiven Prozessen des Individuums und den anatomisch-physiologischen Ablufen des Nervensystems hinaus. Wie es das 19. Jahrhundert in gewisser Weise vorweggenommen hatte, ist es tatschlich mçglich, dass unsere moralischen Fhigkeiten aus Selektions- und Organisationsmechanismen im Verlauf der Geschichte des Nervensystems entstanden sind und ihren Ursprung der Herausbildung spezifischer Hirnstrukturen verdanken, welche die Menschen dazu gebracht haben, sich als soziale Tiere zu entwickeln, also die Gesellschaft von ihresgleichen zu suchen und zu schtzen. Neben dem komplexen kortikalen System, das fr die kognitiven Funktionen zustndig ist, wrde beispielsweise die Prsenz eines affektiven Systems dafr sprechen, das den Primaten gemeinsam ist – ein berrest unseres Urzustands – und das im Fall der Zuwiderhandlung gegen sozial bedeutsame Verhaltensweisen aktiviert wird (das ,moralische Gehirn‘ von Jonathan Haidt).23 Es folgt daraus, dass moralisches Verhalten mçglicherweise innerlich verankert ist, wobei ,innerlich‘ bedeutet: das Ausgestattetsein mit einem besonderen biologischen und neuralen System, das sich aus dem Zusammenspiel genetischer und epigenetischer Faktoren bildet und den Menschen zu moralischem Handeln prdisponiert. Allerdings erscheint mir die Bedeutung von „moralisch“ hier noch problematisch. Die Prsenz des anderen gilt als notwendige Bedingung fr die Entwicklung des Bewusstseins und der Moralitt. Der homo sapiens scheint ber ein Ensemble von Nervenkreislufen zu verfgen, die auf die Beziehung zu Mitmenschen ausgerichtet sind, wie auch jngere neurobiologische For22 A. R. Damasio, Descartes’ Error, Emotion, Reason, and the human Brain, New York 1994. 23 Auf hnliche Weise wie Nietzsche nimmt Haidt an, dass moralische Urteile nicht aus moralischen Erwgungen entspringen. Die moralischen Erwgungen sind vielmehr oft Konstruktionen a posteriori, die erzeugt werden, wenn das Urteil bereits gefllt ist. Haidt schlgt ein sozio-intuitionistisches Modell vor, wonach das moralische Urteil aus sehr raschen, automatischen Bewertungen (Intuitionen) hervorgeht, die sozial und kulturell beeinflusst sind. Auch Nietzsche hlt fest: „Das Urtheil ist etwas sehr Langsames im Vergleich zu der ewigen unendlich kleinen Thtigkeit der Triebe – die Triebe sind also immer viel schneller da, und das Urtheil ist immer nach einem fait accompli erst am Platze: entweder als Wirkung und Folge der Triebregung oder als Wirkung des m i t e r r e g t e n e n t g e g e n g e s e t z t e n Tr i e b e s . “ (N 1880, KSA 9, 6[63])
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schungen besttigen. Nietzsche wre beispielsweise erstaunt, kçnnte er entdecken, dass seine relationale Hypothese – man denke an den Aphorismus 354 aus der Frçhlichen Wissenschaft – durch heutige Erkenntnisse bekrftigt wird, etwa die, wonach „die Art der Interaktion, welche die Bewusstseinsfunktionen und die individuelle Bewusstseinsentwicklung am besten untersttzt, jene Form der Kooperation ist, die die Wahrnehmung einer grundstzlichen Gleichheit oder Gleichgestelltheit zwischen sich und dem Anderen beinhaltet“;24 oder die bekannte Lehre von den Spiegelneuronen (mirror neurons), die sich mit den angeborenen neurologischen Grundlagen der Fhigkeit befasst, das zielgerichtete Verhalten eines anderen nachzuahmen, also die Intentionalitt in der Geste des anderen zu erfassen und in sich selbst zu reproduzieren. (Diesbezglich denke ich etwa an den Aphorismus 26 der Morgenrçthe und die entsprechenden Aufzeichnungen, in denen Nietzsche das gesamte Phnomen der Moral als „thierhaft“ bezeichnet, nmlich als Bestreben, die Absichten des andern vorauszusehen und zu erraten, um nicht von ihm berrascht und geschdigt zu werden.) Aber von dieser natrlichen organischen Fhigkeit zur Empathie wird nicht selten auf eine Sympathie im Smith’schen Sinne geschlossen – als Haltung wechselseitiger Frsorge, eine Art ,natrliche Gte‘ –, welche die Erforschung der biologischen Voraussetzungen des moralischen Vermçgens in den Versuch verwandeln, eine spezifische ethische Sicht, ein bestimmtes Moralsystem fr gltig zu erklren. Man geht mit anderen Worten von der Tatsache, dass das moralische Vermçgen ein Evolutionsergebnis und biologisch gebunden ist, zu der These ber, dass die Moral im Sinne eines Systems bestimmter Werte und Urteile biologisch begrndet oder begrndbar sei. Die von Nietzsche ermittelte trgerische Zirkularitt – Werte als Maske empirischer Bewertungsprozesse, abstrahiert und in natrliche Bedingungen umgewandelt –, die mindestens das Ergebnis einer schlechten Philosophie, wenn nicht gar einer gewollten Ideologisierung ist, scheint in einem legitimatorischen Optimismus hinsichtlich unserer bio-moralischen Strukturen eine Neuauflage zu erleben. Lassen wir die Theorien beiseite, die aus dem Altruismus einen unmittelbaren Ausfluss biologischer Gesetze machen, wie die von Ruse, EiblEibesfeldt (fr den der kategorische Imperativ ein biologisches Erbe ist, das 24 G. Liotti, La dimensione interpersonale della coscienza, Roma 2005, S. 4. Genau wie Nietzsche meinte (vgl. FW 354), entwickelt sich das Bewusstsein notwendigerweise in der Dimension der Intersubjektivitt. Zum Bewusstsein als einem intentionalen, relationalen Phnomen: Edelmann, Tononi, Panksepp. Zur relationalen Natur des Bewusstseins aus psychologischer Sicht Mead, Vygotskij, Lurija.
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uns vor der Gefahr des Kulturrelativismus bewahrt) oder von Wickler, der nicht davor zurckschrak, uns vor einigen Jahren eine Biologie der zehn Gebote vorzulegen,25 und wenden wir uns als Beispiel einem der bekanntesten und meistdiskutierten Autoren, Jean-Pierre Changeux, zu. Der Verfasser des berhmten Buches Der neuronale Mensch gibt auf die Frage, „wie der neuronale Mensch ein moralisches Subjekt sein kann“, Antworten, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. In seiner Beschftigung mit dem Problem der Grundlagen der Moral26 siedelt Changeux diese auf halber Strecke zwischen unserem biologischen und unserem kulturellen Erbe an. Wenn die bertragung der kulturellen Tatsachen sich auf epigenetischer Ebene vollziehe, vor allem in Folge von Lernvorgngen und Erfahrung,27 so fnden jedoch im Gehirn Selektionsprozesse darwinscher Art an dem vom „genetischen Gedchtnis der Gattung“ bereitgestellten Material statt. Das kortikale Gedchtnis speichere in erster Linie Gesichter, Tiere, Gegenstnde, in zweiter Linie – warum nicht? – symbolische Vorstellungen, gesellschaftliche Konventionen, moralische Regeln (warum nicht die vier Wahrheiten des Buddha oder die Gesetzestafeln?, fragt sich Changeux). Diese Erinnerungsspuren seien von einer Generation zur nchsten bertragbar, und zwar „durch neurobiologische Mechanismen, die einen offenkundigen biologischen Zwang bei der bertragung und Entwicklung der gesellschaftlichen und moralischen Normen darstellen“.28 Die außergewçhnlich lange Dauer der kindlichen Entwicklung nach der Geburt erleichtere die Festsetzung kultureller (religiçser, symbolischer, praktischer) Vorstellungen in unserem Gehirn. Letzteres, das anerkanntermaßen ber eine neuronale Plastizitt verfge, „besitzt die Fhigkeit zur ethischen Innovation der Selektion und bertragung der Normen des moralischen Lebens“.29 „Entwicklungskonflikte innerhalb des Gehirns lçsen die biologische Evolution der Gattung ab“, meint Changeaux, auch wenn ihre Mechanis25 Vgl. z. B. M. Ruse, Taking Darwin seriously: a naturalistic approach to philosophy, New York 1998; I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, Mnchen 1984; W. Wickler, Die Biologie der zehn Gebote, Mnchen 1971. 26 Untersucht werden hier die Ausfhrungen in J.-P. Changeux u. P. Ricœur, La nature et la rgle, Paris 1998, insbesondere Kap. 5. 27 Die natrliche Selektion wirkt nicht nur auf die genetisch erzeugte Mutation, sondern auch auf die epigenetisch erzeugte, die zum Großteil vom Symbol- und Verhaltenssystem abhngt. 28 Changeux u. Ricœur, La nature et la rgle S. 231. 29 Ebd., S. 232.
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men noch nicht ganz geklrt seien. Sie „schaffen folglich organische Verbindungen zur physischen, sozialen und kulturellen Umwelt. So ergibt sich auf ganz natrliche Weise eine hçchst produktive Schnittstelle zu den Human- und Sozialwissenschaften.“30 Changeux bezeichnet sie als „Physiologie unserer kulturellen Prgung“, die das Zeugnis der genetischen Evolution enthalte. Genau dies gelte nun auch fr das moralische Empfinden, und so htte sich in unseren biologischen Strukturen die Neigung zu Altruismus und Kooperation verankern kçnnen, die der Gefahr genetischer Variationen zum Trotz „selektiert“ worden und im Verlauf unserer Entwicklung fortwhrend hervorgetreten sei. Der Darwin der Abstammung des Menschen mit seiner These von der Etablierung des sozialen Instinkts im Zusammenhang mit der fortschreitenden Entwicklung von Vernunft, Gedchtnis und Sprache besttigt Changeux, dass dies der von der Natur (von unserer Natur) beschrittene Weg sei und Altruismus und Mitleid lediglich die Fortfhrung einer unterbrochenen genetischen Entwicklung „auf nicht genetische Weise und mit einer weitaus schnelleren Dynamik“ darstellten.31 (Changeux betont unter anderem die Wiederaufnahme dieses Weges auf normativ-kultureller Ebene, der die Aufgabe zukomme, ihn zu vertiefen und in Richtung einer universalistischen Ethik zu lenken, worin deutliche Anklnge an Spencer vernehmbar sind.) Trotz der Komplexitt des Systems, auf die hier nicht nher eingegangen werden kann, scheint mir eine starke moralische Voraussetzung erkennbar, die nicht die Veranlagung zu moralischer Bewertung, sondern deren Inhalte betrifft, welche sich in der goldenen Regel resmieren lassen, man solle die anderen so behandeln, wie man selbst behandelt werden will.32 Diesen 30 Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 212. Es sei angemerkt, dass auch Nietzsche, der an der Diskussion mit Darwin geistig Anteil hatte, 1877 die Hypothese formuliert hatte: „Vielleicht ist der u n e g o i s t i s c h e Trieb eine spte Entwicklung des s o c i a l e n Triebes; jedenfalls nicht umgekehrt.“ (N 1877, KSA 8, 23[32]) 32 Nietzsches Kritik an der „goldenen Regel“ richtet sich insbesondere gegen den Utilitarismus von John Stuart Mill: „R a n d b e m e r k u n g z u e i n e r n i a s e r i e a n g l a i s e . – ,Was du nicht willst, daß dir die Leute thun, das thue ihnen auch nicht.‘ Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral – als ,gldener Spruch‘. John Stuart Mill und wer nicht unter Englndern glaubt daran… Aber der Spruch hlt nicht den leichtesten Angriff aus. Der Calcul ,thue nichts, was dir selber nicht angethan werden soll‘ verbietet Handlungen um ihrer schdlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer v e r g o l t e n wird. […] Dagegen ist der Spruch werthvoll, weil er einen Ty p u s Me n s c h verrth: es ist der In s t i n k t d e r H e e r d e , der sich mit ihm formulirt – man ist gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir – Hier wird wirklich an eine q u i v a l e n z d e r
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Eindruck hat auch Paul Ricœur, der im Dialog mit Changeux den Tuschungseffekt eines retrospektiven Blicks bei seinem Gesprchspartner feststellt.33 „Es ist ein Blick, der aus der Position eines moralischen Subjekts entspringt, das, indem es sich selber setzt, auch die Norm setzt“34 : Die vorgngige Anerkennung der goldenen Regel beeinflusst die Ermittlung der eigenen Ursprnge und des eigenen Weges. Ricœur hlt dem entgegen: „Alle Fragen hinsichtlich der natrlichen Veranlagung zur Moralitt sind retrospektive Fragen, denn die gesetzten Normen suchen Antizipationen in der Vergangenheit. Wenn die Natur nicht weiß, wohin sie geht, dann liegt es in unserer Verantwortung, ein wenig Ordnung dort hineinzubringen.“35 Wir sind hier, denke ich, nicht weit entfernt von den scharfsinnigen Vorwrfen, die Nietzsche gegen Spencer erhob: „Der Werth des Altruism ist nicht das Ergebniß der Wissenschaft; sondern die Menschen der Wissenschaft lassen sich durch den jetzt vorherrschenden Trieb verleiten, zu glauben, daß die Wissenschaft den Wunsch ihres Triebes besttige.“ (N 1880/1881, KSA 9, 8[35]) Anregend und viel diskutiert sind auch die Positionen des Evolutionstheoretikers Marc Hauser, der in seinem Buch Moral Minds 36 von der Existenz einer angeborenen moralischen Veranlagung (einer universellen moralischen Grammatik) analog zu unserem Sprachvermçgen ausgeht.37 Genau wie die Sprache sich von bloßen akustischen Zeichen unterscheide, so unterscheide sich eine moralische Entscheidungsfrage von einer neutralen Entscheidungsfrage, und wir seien im Besitz unbewusster und automatischer Mittel fr seine Entzifferung, das heißt (angeborener) Regeln, um unmittelbar und jenseits jeder rationalen oder utilitaristischen Erwgung die Lçsung zu bewerten. Wir wrden mit anderen Worten automatisch und
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H a n d l u n g e n geglaubt, die, in allen realen Verhltnissen, einfach nicht vorkommt.“ (N 1888, KSA 13, 22[1]) „Aufgrund eines Trompe-l’œil-Effekts, der aus dem Vergessen unserer moralischen Frage entsteht, kçnnen wir das Mitleid nunmehr als pro oder kontra die Natur bewerten […]. Von unserer moralischen Frage getrennt, geht die Natur in gar keine Richtung.“ (Changeux u. Ricœur, La nature et la rgle, S. 216) Ebd., S. 209. Ebd., S. 204. M. D. Hauser, Moral Minds: How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong, London 2008. Die Positionen von Hauser haben Stellungnahmen von J. Mickhail, E. Dupoux, P. Jacob in Trends in Cognitive Sciences (2007) ausgelçst. Der Verfasser interpretiert die moralische Grammatik („ein Instrumentarium, um spezifische Moralsysteme zu errichten“) analog zu der von Noam Chomsky und Steven Pinker theoretisierten universellen Grammatik (Hauser, Moral Minds, XVXVI).
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unbewusst Prinzipien anwenden, die wir rational nicht zu rechtfertigen wssten (zum Beispiel das sogenannte Prinzip der Doppelwirkung 38), die jedoch von einem ursprnglichen moralischen Vermçgen zeugten, das als Grundlage einer universellen Moral zu betrachten sei.39 Wir haben einen moralischen Instinkt, ein Vermçgen entwickelt, das natrlicherweise in jedem Kind heranwchst und dazu dient, rasche Urteile ber das moralisch Richtige oder Falsche zu erzeugen, indem man sich auf eine unbewusste Grammatik des Handelns sttzt. Ein Teil dieser Anlage wurde durch die blinde Hand der darwinschen Selektion Jahrmillionen, bevor unsere Gattung entstand, entworfen; andere Teile wurden im Verlauf der Evolutionsgeschichte unserer Gattung hinzugefgt oder verbessert und bilden Vorzge der Menschen und ihrer moralischen Psychologie.40
Hauser ist der Ansicht, dass die Aversion gegen den naturalistischen Trugschluss diejenigen, die sich auf die Ergebnisse der biologischen Wissenschaften beziehen wollten, eingeschchtert und den ethischen Naturalismus – „eine philosophische Perspektive, die das Gute durch Berufung auf die Natur zu erklren suchte“41 – verdchtig gemacht habe. Dagegen bestehe „die einzige Weise, um per Gesetz oder Religion feststehende prskriptive Prinzipien zu erarbeiten, [darin], zu verstehen, wie sie angesichts der Neigungen, mit denen Mutter Natur uns ausgestattet hat, in sich zusammenfallen wrden“.42 Derlei Neigungen gehen wiederum in Richtung des Altruismus und der wechselseitigen Sorge: Die Sorge fr Kinder, die Gewalthemmung und das Praktizieren der Empathie („the spark of human concern for others, the glue that makes social life possible“43) seien universelle moralische Grundstze, 38 Gemß dem in der Psychologie bekannten „Prinzip der Doppelwirkung“ wrden wir beispielsweise nie entscheiden, eine gesunde Person zu opfern, um fnf andere durch die Transplantation von deren Organen zu retten – ein in rein utilitaristischer Hinsicht durchaus vorteilhaftes Ergebnis – und zwar, weil wir nach dem besagten Prinzip eine schlechte Wirkung bei der Erreichung eines hçheren Guts nur in Kauf nehmen, wenn es sich um eine bloße Nebenwirkung handelt, nicht aber als Mittel zum Zweck. 39 „Die intuitive Erkenntnis, die unseren moralischen Urteilen zugrunde liegt, entspricht der intuitiven Erkenntnis von Sprache, Physik, Psychologie, Biologie und der Musik […] wenn es um unser entwickeltes moralisches Vermçgen, unsere moralische Kompetenz geht, sprechen wir anscheinend mit einer einzigen Stimme: der Stimme unserer Gattung.“ (Hauser, Moral Minds, S. 136 und S. 137) 40 Ebd., S. XV. 41 Ebd., S. 5. 42 Ebd., S. 7. 43 Zitat aus M. Hoffman (Hauser, Moral Minds, S. 32). Der Sozialpsychologe John Bargh hingegen definiert die Tatsache, dass wir daraufhin angelegt sind, „andere
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deren natrliche Folie von psychologischen wie biologischen Untersuchungen belegt werde.44 Viele Denker – vom Schopenhauer der Preisschrift ber die Grundlage der Moral bis zu Dawkins in Das egoistische Gen – haben sich das Problem gestellt, die Existenz kooperativer und uneigenntziger Haltungen trotz des darwinschen struggle for life zu erklren (aber schon Darwin hatte anti-eliminatorische Verhaltensweisen beobachtet, fr die Patrick Tort spter den Ausdruck „Bumerang-Effekt“ der Evolution geprgt hat45): Die Berufung auf die Natur scheint da die tragfhigste Lçsung zu sein. Farben zu suchen, die mit dem Substrat unserer sozialen Partner zusammenpassen“, als „Chamleon-Effekt“ (vgl. ebd., S. 33). Wie sollte man nicht an die Mimikry im Aph. 26 der Morgenrçthe denken? 44 Beispielsweise haben einige inzwischen klassische empirische Studien (Elliott Turiel) zur bertretung der Konventionen und zu den Mechanismen der Gewalthemmung erwiesen, dass sich bei Kindern ab drei Jahren spontan zwei unterschiedliche Begriffsdomnen herausbilden hinsichtlich der „gesellschaftlichen Konventionen“, also der Dinge, die in der kulturellen oder religiçsen Gemeinschaft, in der das Kind aufwchst, verlangt oder verboten sind, und der „moralischen Imperative“ wie nicht lgen, nicht stehlen, nicht grundlos angreifen oder anderer Menschen Eigentum zerstçren. Das bertreten der Konventionen wird fr weniger schwer wiegend erachtet als die Missachtung der (vermeintlich) allgemein gltigen moralischen Regeln. Im Alter zwischen vier und sieben Jahren lassen Kinder außerdem von ihrer Aggression ab, wenn der Angegriffene weint, schreit oder besondere Gesichtsausdrcke macht. In diesem Zeitraum wrden auch die ,moralischen Gefhle‘ (oder Empfindungen) – Sympathie, Empathie, Schuldgefhle, Gewissensbisse – heranreifen. Die Untersuchungsdaten „fhren uns eine automatische, unfreiwillige neurobiologische Komponente des moralischen Verhaltens vor, einen Sachverhalt, der als vormoralische Funktion oder als spontane moralische Reaktion bezeichnet werden kçnnte“ (Boella, Neuroetica, S. 43). 45 „In der Abstammung des Menschen wird nmlich ausgefhrt, dass im Zuge des Zivilisationsprozesses allmhlich eine Umkehr beim Menschen stattfand. Aufgrund des vereinten Weges von (durch Selektion erfolgtem) Fortschritt der Rationalitt und (ebenfalls durch Selektion erfolgter) Entwicklung der sozialen Instinkte, der entsprechenden Zunahme des Gefhls der Sympathie, der Herausbildung moralischer Gefhle berhaupt sowie der gesamten Verhaltensweisen und Institutionen, die fr das individuelle Leben und die Organisation des Gemeinwesens in zivilisierten Nationen prgend sind, stellte Darwin fest, dass die natrliche Selektion in diesem Entwicklungsstadium nicht mehr die wichtigste Kraft fr das Werden der menschlichen Gemeinschaften ist, sondern in dieser Funktion von der Erziehung abgelçst wurde […]. Die sozialen Instinkte wurden durch natrliche Selektion erlangt und haben ihrerseits antiselektive und antieliminatorische Verhaltensweisen und ethische Veranlagungen begnstigt sowie entsprechende institutionelle Dispositive und Rechtsmittel hervorgebracht. Auf diese Weise hat die natrliche Selektion an ihrem eigenen Untergang gearbeitet […], indem sie dem Vorbild der selektiven Entwicklung gefolgt ist: dem Absterben der lteren Form und der Ent-
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Auch die Wirtschaft kommt uns entgegen. Die kooperativen Wirtschaftsspiele (als bekanntestes das Ultimatumspiel) belegen beispielsweise mit wissenschaftlicher Sicherheit, dass „allen Menschen ein universeller Sinn fr faire Verteilung (distribution fairness) gemein ist“46. Angesichts einer wirtschaftlichen Alternative bringt ein entwickeltes geistiges Vermçgen unbewusst universelle Urteile ber Gerechtigkeit und Betrug hervor, die das Feld der interkulturellen Variationen einschrnken – meint Hauser mit Rawls. Wenn „der menschliche Geist auf Gewinnmaximierung hinsichtlich Geld, Nahrung, Gefhrten, Nachwuchs hin angelegt ist“, so besteht ein anderes moralisches Prinzip also im Gerechtigkeitssinn: „zwar mçgen wir uns als Homo economicus entwickelt haben, aber wir sind auch mit einem tiefen Gerechtigkeitssinn geboren, dem das Wohlergehen der anderen am Herzen liegt, auch wenn unsere Handlungen uns um einen persçnlichen Gewinn bringen.“47 Unser ,moralisches Organ‘ enthlt Gerechtigkeitsprinzipien, und genau wie die Schwalbe, von der Darwin spricht, die einem eigenen Antrieb nicht gehorcht, zu Bedauern und Schuldgefhlen gezwungen ist, so mssen wir auf Konflikt und Instabilitt vorbereitet sein, warnt Hauser, „wenn wir sie ablehnen und entscheiden, dass andere Prinzipien besser zu unserem Gerechtigkeitssinn passen“48. Die „starke Reziprozitt“ (strong reciprocity), die sich aus der von unseren Vorfahren ererbten egoistischen Natur heraus entwickelt hat, prdisponiert uns zu Kooperation und zur Bestrafung derer, die die Normen jener Kowicklung einer neuen an ihrer statt. Im gegebenen Fall ist es ein Wettkampf, dessen Ziele in wachsendem Maße Sittlichkeit und Selbstlosigkeit sowie die Werte der Intelligenz und Erziehung sind.“ (P. Tort, Darwin et le darwinisme, Paris 1997, Kap. 5) 46 Hauser, Moral Minds, S. 91. – An der Universitt Princeton haben sich verschiedene Freiwillige Brain Imaging-Techniken unterzogen, whrend sie am Ultimatumspiel teilnahmen, das praktisch darin besteht, ein Geldangebot von einem Fremden, der bereit ist, eine gewisse Summe mit uns zu teilen, anzunehmen oder abzulehnen. Das Ergebnis hat gezeigt, dass ungerechte Angebote unabhngig vom Gewinn emotionale Reaktionen auslçsen (kurz gesagt, zieht man einer als ungerecht empfundenen Verteilung vor, nichts zu bekommen). Mein ,angeborener‘ Gerechtigkeitssinn ist getroffen und daraus entsteht der Wille, den Verletzer der Regeln der Kooperation zu bestrafen. Geht Strafe aus dem Gerechtigkeitssinn hervor? Schon Nietzsche und sein Freund Paul Re hatten darber diskutiert, genau wie ber die Tatsache (die heute als weiteres ,Moralgesetz‘ gilt), dass der Gerechtigkeitsbegriff, den jeder hat, eine nach der Schwere der Folgen bemessene Strafe zu beinhalten scheint – was Nietzsche bestreitet (vgl. Fornari, Die Entwicklung der Herdenmoral, 1.5.5: Das Recht zu strafen). 47 Hauser, Moral Minds, S. 84 und S. 86. 48 Ebd., S. 77.
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operation verletzen. Es ist eine Disposition, die viele konome und Anthropologen als wesentliches Merkmal einer nur dem Menschen eigenen kognitiven Anpassung ansehen und die sich fr ihre Hauptverfechter mit reinem Altruismus deckt.49 Eine solche Lesart, die Nietzsche als vorurteilsbehaftet bewertet htte, vernachlssigt unter anderem den wichtigen Hinweis, der das Gerechtigkeitsgefhl an den Wertmaßstab bindet, den jeder von uns subjektiv darstellt. Die Strafe entsteht nach Nietzsche als Notwendigkeit der Wiederherstellung eines beschdigten Machtgleichgewichts und nicht als Vergeltung eines erlittenen Unrechts: „Unserem Schdiger muß vergolten werden, weil er das Bewußtsein unserer Macht gemindert hat: es ist ein Verbrechen an unserer Selbst-Schtzung.“ (GM II 12) Vielleicht ist es genau das, was das Opfer des Ultimatumspiels empfindet; vielleicht spricht sein Machtgefhl und kein angeborenes moralisches Empfinden. Oder denken wir an Nietzsches in der Genealogie entwickelte Kritik an der irrtmlichen Ableitung der Strafe von ihrem vermeintlichen Zweck (vgl. GM II 12): Ließe sie sich nicht auf hnliche Weise auf den angeborenen Gerechtigkeitssinn beziehen, dessen Wnschbarkeit und gegenwrtige Ziele als seine causa fiendi an den Ursprung zurckverlegt werden? Auch in diesem Fall gilt Nietzsches ußerung hinsichtlich des Ursprungs der Strafe; an der strengen methodologischen Voraussetzung dieser ußerung muss festgehalten werden: „alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.“ (GM II 12) Mit Ricœur sollten wir uns also fragen, ob wir heute erneut unter der gide eines retrospektiven Blicks, der von der als gegeben begriffenen Moralitt ausgeht, die Verhaltenszge herausstellen, die die Moralitt antizipieren. Genau dies wre die schlechte Genealogie, die Nietzsche seinen Gegnern zur Last legte und die Foucault sehr klar gekennzeichnet hat: Was die Genealogie – als Geschichte – meidet, ist die Suche nach jenem Ursprung, der vermeintlich die Essenz dessen, was sich historisch entwickelt, im Vorhinein birgt.50 Ist die Debatte ber die natrlichen Grundlagen der Moral weiterhin offen, so ist der „Wunsch aus jetzigen Idealen heraus“ (N 1881, KSA 9, 49 Vgl. E. Fehr u. U. Fischbacher, The nature of human altruism, in: Nature 425 (23 October), 2003, S. 785 – 792. 50 Vgl. M. Foucault, Nietzsche, La gnalogie, l’histoire, in: Hommage Jean Hyppolite, Paris 1971, S. 145 – 172.
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11[98]) immer noch stark.51 Nietzsche selbst wnschte sich, dass „das ursprnglich so sprçde, so misstrauische Verhltnis zwischen Philosophie, Physiologie und Medicin in den freundschaftlichsten und fruchtbringendsten Austausch“ (GM I 17) umgestaltet werden kçnne. Darber aber muss der Blick des Philosophen wachen. Nietzsches große genealogische Lehre ist somit aktueller denn je. Aus dem Italienischen von Leonie Schrçder.
51 Vgl. den Wortlaut des ganzen Fragments: „Von jedem Augenblick im Zustand eines Wesens stehen zahllose Wege seiner E n t w i c k l u n g offen: der herrschende Trieb aber heißt nur einen einzigen g u t , den nach seinem Ideale. So ist das Bild Spencer’s von der Zukunft des Menschen nicht eine n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e No t h w e n d i g k e i t , sondern ein Wu n s c h aus jetzigen Idealen heraus.“
Morphologie. Eine philosophische Perspektive?1 Federico Vercellone 1. Vorbemerkungen Wir alle wissen, dass der ,Tod Gottes‘ ein absolut religiçses Ereignis ist. Im Aphorismus 125 der Frçhlichen Wissenschaft sowie in der anschließenden theologischen Reflexion klingt die religiçse Natur des Ereignisses in ihrer ganzen tragischen Macht wieder – die gerade als religiçse tragisch ist und die religiçs und tragisch ist, insofern sie sich als Opferereignis vollzieht. Der „tolle Mensch“ fragt unter anderem: Das Heiligste und Mchtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser kçnnten wir uns reinigen? Welche Shnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden mssen? Ist nicht die Grçsse dieser That zu gross fr uns? (FW 125)
Aber wir haben es nicht nur mit einem tragischen, sondern auch mit einem sehr fruchtbaren Ereignis zu tun, das laufend Wiedergeburten dessen hervorbringt, der totgesagt wird. Wie ich auch an anderer Stelle zu zeigen versucht habe,2 gilt dies nicht nur fr den ,Tod Gottes‘, sondern auch fr andere symbolische Tode und Morde, die das 19. Jahrhundert durchziehen. Denn bekanntlich finden zahlreiche Tode von Seienden, Substanzen und universellen Entitten im 19. Jahrhundert statt, die schwerlich einem biologischen Tod entgegengehen kçnnten und stattdessen prunkvolle symbolische Tode erleiden, die ihnen die Gelegenheit zu zahlreichen Wiedergeburten geben. So hat sich beispielsweise Hegels Lehre vom ,Ende der Kunst‘ in den Vorlesungen zur sthetik schließlich in die Diagnose vom ,Tod der 1
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Zum Teil entspringen die hier dargelegten Gedanken der gemeinsamen Arbeit mit Olaf Breidbach an einem in Vorbereitung befindlichen Band zur Morphologie. Ich danke ihm fr sein freundschaftliches Einverstndnis zu dieser ,gesonderten‘ Ausarbeitung von Elementen, die aus einer gemeinsamen Diskussion hervorgehen. Federico Vercellone, Der symbolische Mord. Der Mord der Kunst, des Menschen und Gottes zwischen Hegel und Nietzsche, in: D. v. Engelhardt / M. Oehmichen (Hg.), Der „Mord“. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Knsten, Lbeck 2007, S. 163 – 171.
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Kunst‘ verwandelt, ber den sich von Croce bis Bosanquet eine breite Debatte entspann, die bis auf unsere Tage andauert. Nach der Kunst, die sterbend bei bester Gesundheit bis heute fortlebt, starb im 19. Jahrhundert auch der Mensch. Dies verkndeten Stirner und Dostojewski3 – und der Tod des Menschen wurde seinerseits zur Voraussetzung fr eine neu auflebende Liebe zu der unglcklichen Gattung, fr die Wiedergeburt jener Humanismen und jener Leidenschaft fr den Menschlichkeitsgedanken, die sich in der zweiten Hlfte des 19. und der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts verbreiteten. Der ,Tod Gottes‘ ist in diesem Rahmen der letzte Tod, gleichsam die Besiegelung und Vollendung einer Reihe prachtvoller Katastrophen. Auch in diesem Fall handelt es sich um einen Tod, der die Erben nicht enttuscht zurcklsst. Fast erbrigt es sich, daran zu erinnern, so sehr steht es allen vor Augen: Seit wie vielen Jahrhunderten wurde nicht mit gleich großer Erbitterung im Namen Gottes gekmpft wie heute? Fast erbrigt es sich auch zu betonen, was so oft betont worden ist: dass nmlich mit dem ,Tod Gottes‘ nicht der lebendige Gott stirbt, sondern der ,Gott der Philosophen‘, um es mit dem berhmten Titel eines Buches von Wilhelm Weischedel zu sagen.4 Die Frage interessiert uns hier nicht unter einem theologischen, sondern unter einem semantischen Gesichtspunkt. Mit anderen Worten beinhaltet der Tod Gottes – dies meine These – im Verhltnis zu der starren Ordnung der Begriffshierarchie, die innerhalb der von Heidegger so genannten Onto-Theologie vom hçchsten Seienden beherrscht ist, unter anderem die Blte eines neuen Wissens, das der weiten, schillernden und zum Teil konfusen Sphre angehçrt, die als das ,Prdiskursive‘ definiert werden kann. Anders gesagt soll hier die These vertreten werden, dass der Tod Gottes – verstanden als Ende des hçchsten Seienden, der wahren Vollendung der diskursiven, begrifflichen Ordnung – das InErscheinung-Treten und die Anerkennung neuer Symbolstrukturen reicher und zugleich beunruhigender Art hervorbringt, die sich seit den Anfngen jener Verkndigung vor Nietzsche, vielleicht schon in dem entsetzten Blick andeuten, der in der Rede des toten Christus von Jean Paul auf das leere Auge Gottes gerichtet wird.5 3 4 5
Fr einen Gesamtberblick ber die Hauptthemen des Nihilismus, die hier nur angedeutet werden, vgl. F. Vercellone, Einfhrung in den Nihilismus, Mnchen 1998. Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bde., Darmstadt 1972. Jean Paul, Rede des toten Christus vom Weltgebude herab, dass kein Gott sei, in: ders., Werke, Bd. 2, Mnchen 1973, S. 270 – 275.
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Im Prdiskursiven mischen sich Gefhle und Anschauungen, Bilder und Vorauswissen. Man kçnnte sagen, dass darin vor allem jene Sphre hervortritt, die – sehr vage und allgemein ausgedrckt – innerhalb der Erkenntnistheorie im Denken der Moderne dem Bereich der Passivitt zugeordnet worden war. Beschrnken wir uns, wie im gesamten vorliegenden Beitrag, auf ein knappes Beispiel, Bezug nehmend auf das Bild im metonymischen Sinn, in der Hoffnung, dank dieses Beispiels einen Blick auf die Frage als Ganze zu gewinnen. Insofern das Bild Ergebnis einer Objektivierung seitens des Subjekts ist, lsst es sich als bloß Angeschautes in gewisser Weise auf rationale Mechanismen zurckzufhren; es wird eine Gegebenheit des Bewusstseins, das Gegenstand der begrifflichen Erkenntnis ist. Dies ist die erste Seite seines ,Passiv-Seins‘. Wenn das Bild sich dagegen in seiner Unabhngigkeit vom Subjekt darstellt, dann wird es als das Andere der Vernunft und folglich in einer anderen Dimension der Passivitt gesehen, der des Residualen, dessen, was nicht mehr aktiv ist, weil es in der Gegenwart seine alten Rechte eingebßt hat. Wie Heinrich in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen von seinem Vater vorgehalten wird, ist dies nicht mehr die Zeit, in der der Traum eine prophetische Rolle spielen kann: „In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr Statt.“6 Hier deutet sich die von den Romantikern und von Schelling weithin anerkannte Mçglichkeit eines Wissens (von) der Natur im objektiven und subjektiven Sinne des Wortes an. Es ist ein Wissen, das die Natur auch als ihre eigene Ausdrucksmodalitt betrifft. Will man den Ursprung dieses Wissens allgemein definieren, so kann man behaupten, dass es aus der Anschauung entspringt, aus dem, was als sinnlich Gegebenes definiert wurde, indem man durch diese Verwandlung wenigstens teilweise seine Abstammung von der Erfahrung des Sichtbaren verdrngt. Gerade als Gegebenes ist es das passive Korrelat eines aktiven oder zumindest performativen Elements wie des Begriffs. Ich mçchte hier nicht zuletzt auf der Basis der Resultate jener Wende der Gegenwartskultur in Richtung auf das Bild, die unter dem Namen iconic turn luft, die These vertreten, dass die Anschauung der objektivierte berrest eines weitaus komplexeren Wissens, nmlich des Bilderwissens, ist. Denn das Bilderwissen ist ein Wissen, das sich als Selbstdarstellung der Natur auffassen lsst. Insofern sich die Natur der Erkenntnis als Phnomen dar6
Novalis, Heinrich von Ofterdingen, in: ders., Schriften I, Das dichterische Werk, hg. von P. Kluckhohn und R. Samuel, 3., nach d. Hs. erg., erw. u. verb. Aufl., Stuttgart 1977, S. 198.
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bietet, stellt sie sich – wie Goethe sehr gut gesehen hat – anschaulich dar, das heißt in Bildern. Sie neigt mit anderen Worten dazu, ihre Struktur eines unzugnglichen Prinzips an der Oberflche zu erweisen, sich in Bildern zu enthllen.7
2. Die ,Ikonische Wende‘ Wie bereits angedeutet, stehen wir aller Wahrscheinlichkeit nach vor einer weiteren großen Wende im Wissen, die auf die postmoderne Wende folgt, wie Jean-FranÅois Lyotard sie vor dreißig Jahren definiert hatte.8 Bekanntlich war Lyotard der Ansicht gewesen, dass man sich einem Verfall der großen Erzhlungen und einem Diskursgewebe gegenberfand, das eine ,eingeschrnkte Universalitt‘ besaß, also nicht mehr imstande war, eine Kultur insgesamt zu resmieren und womçglich deren Hoffnungen auszudrcken und den Wertehorizont fr sie bereitzustellen. Man wohnte mit anderen Worten einer Zersplitterung des Diskurses in seinen Universalittsansprchen bei. All dies hatte auch in Italien – um den reizvollen Titel eines berhmten Buchs aus jenen Jahren aufzugreifen – die Vorstellung von einer Krise der Vernunft hervorgebracht,9 die sich mit dem deckt, was Hegel die Zerrissenheit des Geistes nennt. Gerade die Wirkung dieser Zerrissenheit ist im brigen ambivalent: Zum einen konnte sie Nostalgie nach dem verloren Gegangenen auslçsen, zum anderen schien sie die Idee oder das Ideal einer mçglichen Befreiung der Vernunft von den Fesseln der klassischen Vernunft hervorzubringen, also die Idee einer Vernunft, die Differenzen freisetzt und sie nicht unter ihr Joch spannt. Dies ist das Projekt, das unter dem Namen „schwaches Denken“ lief und insbesondere von Gianni Vattimo vertreten wurde, der – zumindest unter diesem Gesichtspunkt – das Modell eines neuaufklrerischen Denkens reprsentiert.10 Ein wenig schematisch gesagt, sind die – bisweilen heftig umstrittenen – Begriffe der vorgenannten Alternative nicht mehr die unseren. Die Wende, vor der wir heute stehen, ist grundstzlich anders als die vor dreißig Jahren von Lyotard beschriebene, auch wenn sie deren Folge und zum Teil schon von Lyotard erkannt worden ist. Wie dieser nmlich in Le Diffrend gesehen 7 Zu dieser These vgl. F. Vercellone, La malinconia della natura. Da Goethe a Schelling, in: Annuario filosofico 24, 2009. 8 J.-F. Lyotard, La condition postmoderne: rapport sur le savoir, Paris 1979. 9 A. G. Gargani (Hg.), La crisi della ragione, Torino 1979. 10 Eingeleitet wurde diese Phase bekanntlich durch den Band von P. A. Rovatti u. G. Vattimo (Hg.), Il pensiero debole, Milano 1983.
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hatte, ließ der Konflikt der Interpretationen ffnungen auf das NichtDiskursive, auf eine vor- oder nachrationale, da tragisch unentscheidbare Dimension zu, die auf allen Ebenen der Kultur ein zunehmendes Gewicht erlangt hat.11 Es ist, als habe man einen ursprnglichen Zugehçrigkeitsbereich der Sprachen und Kulturen entdeckt, einen Bereich, den man als ,hçchst anthropologisch konnotiert‘ bezeichnen kçnnte und der sich durch eine dichte, aber nicht begriffliche Semantik auszeichnet. Er ergibt sich aus einer Neubelebung des Anschauungswissens, jenes Wissens, das sich entwickelt, wenn selbiges seine ursprngliche (und letzte) Dimension – die des Bildes – wiedererlangt. Er entspringt aus einer Umkehrung der objektivierenden Dimension, die der Anschauung von… innewohnt, und stellt sich auch als Zugehçrigkeit zu…, wechselseitiger Austausch, als „berkreuzung der Blicke“ dar.12 Die Bildlogik in ihrer Abstammung vom natrlichen Sein, das sich in der Vision erschließt, prsentiert sich in dieser Perspektive als eine Logik der lebenden Formen. All dies ist auch in seinen mçglichen nicht nur theoretischen, sondern auch – in mehr oder weniger weitem Sinn – ,çkologischen‘ Folgen grundlegend. Hier drngt sich ein ausdrcklicher Hinweis auf die Phnomenologie und das Denken von Maurice Merleau-Ponty auf. Die Frage betrifft allerdings nicht ausschließlich – um bei Merleau Ponty zu bleiben – die Kçrperlichkeit als gemeinsames Reich, in dem Subjekt und Welt sich verweben. Dieser Zusammenhang verbindet sich mit der Notwendigkeit, jener Zusammengehçrigkeit semantisch Ausdruck zu verleihen. Die These, die ich hier vertreten mçchte, ist, dass die Zusammengehçrigkeit auf der Bildebene zu suchen ist und hier zutage tritt. Es handelt sich um eine Art Vermittlungspunkt zwischen Subjekt und Objekt, der in gewissem Sinn ber jede schroffe Alternative zwischen dem einen und dem anderen Pol ,hinausgeht‘. Vor diesem Hintergrund ist man auch versucht, einen weiteren Schritt zu tun. Es sei frs Erste nur angedeutet, dass man vor diesem Hintergrund auch denken kçnnte, dass die lebenden Formen in ihrem bergehen in Bilder das Modell eines kosystems darstellen. Ein solcher Gedanke wrde vor allem naheliegen, wenn wir Edgar Morin Recht geben wollen, der meint, der Mensch sei das einzige Wesen, das sich ein eigenes kosystem schafft, und wenn wir diese Einsicht in Richtung einer Onto11 J.-F. Lyotard, Le Diffrend, Paris 1984. 12 Ich bernehme diesen Ausdruck von G. Boehm, der sich seinerseits auf MerleauPonty bezieht. Vgl. G. Boehm, Die Wiederkehr der Blicke, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, Mnchen 1994, S. 21.
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logie des Bildes weiterentwickeln wollen. Eine objektivierende Annherung an diese Themen wrde gerade den Aspekt der Zusammengehçrigkeit der lebenden Formen im kosystem in Frage stellen. Es zeichnet sich damit ein symbolischer Zugehçrigkeitsbereich ab (das kosystem kçnnte das heutige Modell einer Natursymbolik sein), der einer neuen, in der Anschauung geborgenen und verdichteten Rationalitt den Weg erschließt. Die Anschauung hat so Gelegenheit, sich im Bild, auf dem ,wissenden‘ Gebiet des Bildes zu entwickeln. Wir haben es mit einer Transformation des Wissens zu tun, die den dichten Hintergrund emportauchen lsst, der vorher da ist. Wollten wir also von einem „pictorial turn“ der sptmodernen Kultur sprechen, wie es seit W. T. J. Mitchell13 wiederholt geschehen ist, so mssten wir es genau in diesem Sinne tun, insofern wir nmlich zu einer grundlegenden Ebene zurckgefhrt werden, die jedoch keine letzte Ebene ist. Es handelt sich um die Logik einer komplexen Zugehçrigkeit zu dem Hintergrund, nmlich der versteckten Logik der Anschauung, deren Einfachheit und Status der Gegebenheit – dies sei nochmals betont – jetzt endlich eine Struktur erkennbar werden lsst, die man als ihre unerreichbar gewordene, tiefe Struktur bezeichnen kçnnte. Gleichzeitig wrde damit auch die frhere Vereinfachung ihrer ursprnglichen kognitiven Mçglichkeiten deutlich werden. Durch diese Auslotung der Tiefe der Anschauung tritt eine Logik der Struktur des Bildes hervor, die mindestens neben die diskursive Logik zu treten scheint. Es ist eine Logik der Form als Struktur der Zusammengehçrigkeit von Ich und Natur, Subjekt und Welt. Da es sich um eine Struktur der Zusammengehçrigkeit handelt, haben wir es mit einer Integration von Subjekt und Objekt zu tun. Diese Integration bringt eine ußerst komplexe Struktur hervor, denn – wie oben angedeutet – ist es eine Integration, in der eine Welt Gestalt annimmt. Andererseits haben wir es mit einer Form von Integration zu tun, welche die anfngliche Komplexitt dagegen zu reduzieren vermag. Dem Ausdruck ,Reduktion der Komplexitt‘ lege ich hier eine ganz persçnliche Bedeutung bei, und zwar deckt er sich im gegebenen Zusammenhang mit der Fhigkeit, ein sehr vielschichtiges Informationsuniversum in krzestmçglicher Zeit zu bertragen, und die krzestmçgliche Zeit, in der ein komplexes System die Gesamtheit von Informationen, die es selbst darstellt, bertragen kann, ist die Gleichzeitigkeit. Wir haben es hier folglich mit einer Logik besonderer Art zu tun, nmlich mit einer Logik, die den Bedeutungen der Form ,Bild‘als Ergebnis des Systems der Zusammengehçrigkeit/en von Subjekt und Objekt Ausdruck verleiht. Vorlufig kçnnte man sie als eine Morpho-logik defi13 Vgl. W. J. T. Mitchell, Picture Theory, Chigago / London 1994, insbes. S. 11 – 34.
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nieren, und zwar nicht so sehr und nicht nur als eine Logik der Form, sondern vielmehr als eine Form-Logik, eine Form, die sich logisch ausdrckt.
3. Morpho-logik. Jenseits der sthetisierung des Bildes Wie wir gesehen haben, handelt es sich also vor allem um eine Morpho-logik, eine Logik, welche die Anschauung in der vielschichtigen Struktur des Bildes als komplexe Struktur ausdrckt. Es ist andererseits eine Morpho-logik, insofern es sich um eine Logik der Zugehçrigkeit zu jener Anschauung handelt, die nun in dem Status anerkannt wird, der ihr zukommt, nmlich als ,Derivat‘ des Bildes und nicht mehr als ursprnglich Gegebenes. Es lsst sich in etwa folgende These formulieren: Die Mitteilungsform der Anschauung ist das Bild. Die Anschauung erzeugt ihre tiefe Struktur, ihren Logos, im Bild. In dieser Perspektive handelt es sich um eine tiefe Struktur, die n-mal differenzierbar ist, so viele Male, wie es Bilder gibt, die deren Mitteilungsschwelle erreichen. Wenn man, wie in diesem Fall, von Mitteilungsschwelle und ihrer Erreichung spricht, rumt man mehr oder weniger implizit ein, dass diese auch eine Interpretationsschwelle ist. Bei wem liegt in diesem Fall die Verantwortung der Interpretation? Paradoxerweise auch bei dem interpretierten Gegenstand, insofern er eine Ausdrucksstruktur darstellt, das heißt eine Struktur, die durch ihren Aufbau in Bildern ein Bedeutungssystem ausdrckt. Wir haben es unter diesem Gesichtspunkt mit einer Logik zu tun, die den Interpreten und die Interpretation infrage stellt, da die besagte Mitteilungsschwelle eben nichts von Anfang an eindeutig Vorausgesetztes ist, sondern eine Interpretationsschwelle darstellt. Folgt man der Hypothese, wie sie bis hierher entwickelt wurde, so wird klar, wie irrefhrend die Vorstellung von einer vorwiegend ,sthetischen‘ Bestimmtheit letztlich ist. Mit ,sthetischer Bestimmtheit‘ des Bildes meine ich hier die Vorstellung, wonach das Bild vollstndig auf die Gebiete des Scheins bergeht, wo diese der Kunst und ihren Einrichtungen – darunter vor allem das Museum – zugeordnet sind.14 Das der Kunst entsprechende Bild wird im Rahmen einer Geschichte, die uns zum zehnten Buch der 14 Vgl. diesbezglich: H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, Mnchen 1990; H. Belting, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, 2. erweiterte Aufl., Mnchen 2002; A. Nehamas, Only a Promise of Happiness. The Place of Beauty in a World of Art, Princeton 2007.
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platonischen Republik zurckfhrt, auf die Gebiete des Scheins und der Illusion verwiesen. In diesem sthetischen Rahmen versteht es sich, dass das Bild außerhalb der Grenzen, auf die es verwiesen wurde, keinerlei Wirkung entwickelt. Vielleicht sind schon diese sehr oberflchlichen Betrachtungen ausreichend, um die Reichweite eines Problems zu erfassen, das mit aller Deutlichkeit die Frage nach der Bestimmung des gesamten brigen Bilduniversums aufwirft. Um es ein wenig ironisch zu sagen, fllt einem hier in gewissem Sinne die Marxsche ,Ideologiekritik‘ wieder ein. Wohin ist die Macht des Bildes verschwunden? In welchen Schlupfwinkeln hlt sie sich verborgen? Das ist die Frage, die sich stellt. Wo ist jene Macht, die der Mythos so wirkungsvoll auszudrcken vermochte, indem er aus seiner Erzhlung ein wahres Geschehen machte? Man erinnere sich an Hesiods Erzhlung ber Aphrodite, die glnzend dem Schaum des Meeres entstieg und einem leidvollen Konflikt ein Ende setzte, so dass sie gleichzeitig Zeugin der Entstehung einer anziehenden und geordneten Welt aus einem chaotischen, qualvollen Konflikt war. Es ist eine Macht, die heute mehr oder minder verborgen in den unterschiedlichsten Formen sozialer Persuasion, von der Werbung bis zur Politik, fortzuleben scheint – um uns hier mit einer kurzen Andeutung zu begngen. Auch dies ist wahrscheinlich eine Folge der sthetisierung des Bildes, die das mythische Bild, wie gesagt, seiner ursprnglichen Macht beraubt und sein Potenzial fr ganz andere Verwendungen verfgbar gemacht hat. Das entmachtete sthetische Bild entwickelt seinerseits eine sterile Anziehungskraft, die in der kantischen Formel vom „interesselosen Wohlgefallen“ resmiert wird. Dieses sthetische Bild ist das Gegenstck des in den Formen der Anschauung objektivierten Bildes. Wie die Anschauung das Bild entmachtet, indem sie es objektiviert, so entreißt auch das sthetische Bewusstsein das Bild seinem lebenden Zusammenhang, isoliert es und macht eine Art separaten Kosmos ohne Einfluss außerhalb der eigenen Mauern daraus.15 Wann entsteht also die Anschauung? Versuchen wir eine erste hypothetische Antwort. Sie entsteht, wenn das Bild sein magisches Potenzial verliert, das sein sthetisches und sein im weiteren Sinne als epistemisch zu bezeichnendes Gesicht zusammenhielt. Die Anschauung ist eine Ansthetisierung des Bildes zu Erkenntniszwecken. Sie wird vor allem ein Repertoire der epistemologischen Reflexion (wenigstens bis Kant). Das Aufkommen der sthetik ihrerseits scheint die drohende Gefahr eines Erwachens des 15 Grundlegend dazu natrlich die Analysen von Gadamer in H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Tbingen 1986, S. 7 – 174.
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hinter der Anschauung schlummernden Bildes zu bannen; furchtsam zieht sich die sthetik vor dem Wiederauftauchen des Bildes zurck und macht so aus der Anschauung weniger ein ,Derivat‘ des Bildes als vielmehr ein sekundres Moment im Verhltnis zum Begriff. Der Prozess der Ansthetisierung des Bildes im Gewand der Anschauung wird schließlich durch die Verwandlung der sthetik in Kunstphilosophie vollendet. Wie Hegel, der wichtigste Urheber dieser Verwandlung, exemplarisch bezeugt, beinhaltet dies, dass das Bild sich vollstndig sthetisiert und – zumindest gilt dies fr den Bereich der Romantik – in Form des sthetischen Scheins prsentiert, nunmehr endgltig ohne irgendeinen Einfluss auf die Welt.16 Fr Hegel ist die Schçnheit nurmehr allein knstliche Schçnheit, die fr das moderne sthetische Bewusstsein bestimmt ist, whrend dem Naturschçnen jede Tragweite abgesprochen wird und die Natur jede autonome Bedeutung verliert. Gerade auch in diesem Sinn ist die ikonische Wende zu verstehen, von der weiter oben kurz die Rede war: im Sinn einer Rckkehr des Bildes in seiner ,machtvollen‘ Qualitt, in der die natrliche und die kulturelle Bedeutung sich erneut berschneiden. Da das technisierte Bild die alte Macht herstellt, die dem Erkennen innewohnt – eine Macht mythischen Ursprungs, die auf die Mçglichkeit der Beherrschung der ußeren Natur verweist17 – zeigt auch dieses Bild ein archaisches Antlitz, wie schon Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklrung erkannten.
4. Erscheinungen In dieser Optik und in diesem Rahmen lsst sich auch die objektive und subjektive Struktur des Bildes bestimmen. Dabei erweist sich die Kategorie des Erhabenen als ntzlich. Sie erweist sich als ntzlich, wenn wir versuchen, eine Strukturierung des Bilduniversums vorzuschlagen, einen ersten Anfang zur Bestimmung seiner semantischen Struktur zu machen bzw. einen ersten Baustein dessen zu formulieren, was ich als Morpho-logik zu definieren versucht habe. Wie bereits angedeutet, besitzt das Bild eine semantische Struktur, die wesentlich zu einem Mindestmaß an Energieaufwand berufen ist. Es ist eine Struktur, die auf den Energiehaushalt der Mitteilung achtet 16 Vgl. Nehamas, Only a Promise of Happiness; F. Vercellone, Oltre la bellezza, Bologna 2008. 17 Vgl. dazu H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, insbes. den ersten Teil, S. 7 – 162.
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und einen komplexen Inhalt in krzestmçglicher Zeit, nmlich gleichzeitig, bertrgt. Die konomie des geringsten Aufwands drngt sich im Rahmen einer wachsenden Komplexitt und aufgrund der Notwendigkeit auf, jene Komplexitt zu berwinden, ohne sie zu verraten, indem man an dem – der Logik des Bildes innewohnenden – Anspruch festhlt, ein komplexes System in entschieden krzerer Zeit zu bertragen als die auf der Subjekt-KopulaPrdikat-Struktur beruhende diskursive / begriffliche Logik es gestattet. Angenommen also, dass das Bild als solches, selbststndig, ein komplexes System sei, stellt sich die Frage nach der Art des Zusammenhangs zwischen den Bildern selber, alternativ zum Zusammenhang der diskursiven Struktur. Wie kann ein Zusammenhang zwischen den Bildern entstehen? Auf welche Weise kçnnen sie sich so miteinander verbinden, dass irgendeine organisierte Sequenz entstnde, die sich in einem weiteren Sinn als ,logisch‘ bezeichnen ließe? Ich mçchte hier eine berlegung in Gang bringen, indem ich versuche, einen anfnglichen Blick auf die Frage zu werfen. Zunchst kçnnte man sagen, dass die Bedingung fr den Zusammenhang der Bilder auch die Bedingung fr ihr Erscheinen ist. Es sei diesbezglich an eine Lehre der Romantik erinnert, die von Philipp Otto Runge stammt. Um erscheinen und die Gestalt annehmen zu kçnnen, die ihnen zukommt, brauchen die Bilder einen dunklen Hintergrund, vor dem sie sich abheben. Eben dies bezeugen die Bltter von Runge, die sich – wie es in der Natur nie mçglich wre – gerade dank dieses Hintergrundes erkennen lassen, der sie in ihren Umrissen hervortreten lsst. Vielleicht kann man noch weiter gehen und auch an den Einfluss denken, den Jakob Bçhme auf Runge gehabt hat. In dem Hintergrund kçnnte man auch den Ursprung des Bildes, sein Auftauchen aus dem Gewebe der Schçpfung, gewahren. Stimmt man dieser Interpretation – wenigstens was Runge angeht – zu, so kann man sagen, dass das Nichts als Hintergrund die Seinsbedingung fr das Bild ist. Eine These dieser Art ließe sich auch abgesehen von dem romantischen Kontext ihrer ursprnglichen Formulierung weiterentwickeln. Lçst man sie aus ihrem ursprnglichen Kontext, so kçnnte man behaupten, dass die Bilder, um sich manifestieren zu kçnnen (statt sich auf ausdehnungslose Punkte zu reduzieren), stets ber sich selbst, ber ihren Umfang und ihre Grenzen, hinausweisen. Wie bei Runge, ist der Hintergrund die Seinsbedingung der Bilder. Um ihr Sein und damit auch ihre Identitt und Bedeutung hervortreten zu lassen, mssen die Bilder sich von jenem Nichts abheben, das ihr Ursprung ist. Um das drohende Nichts zu bannen und zugleich Nutzen daraus zu ziehen – die Gegenstze gehen hier zusammen – suchen die Bilder die Verbindung mit anderen Bildern, ohne die Formel fr deren Realisierung im Voraus zu kennen. Sie sind also tendenziell immer ber dem Abgrund des
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Nichts aufgespannt. Sie bilden eine besondere Grammatik, die nicht auf der Deutlichkeit der Kopula, sondern auf der Bannung des Nichts beruht, die nicht allein die Voraussetzung bildet, damit sie berhaupt erscheinen kçnnen, sondern auch, damit sie als Bilder erscheinen kçnnen. Im Gegensatz zum Diskurs wre das Bild also – wenigstens in erster Linie – erkennbar, insofern es sich in seiner nicht-zeichenhaften Eigenschaft aufdrngt, insofern es sich wesentlich in seiner Einzelnheit vor einem Hintergrund darstellt, der es bedroht, aber auch fassbar macht. Dies geschieht gerade, weil sich das Bild durch seine innere Komplexitt zu verstehen gibt, weil es sich vor allem aus sich heraus darbietet. Das ist seine hauptschliche Anlage. Es ist sozusagen gezwungen, durch sich selbst ber sich hinauszublicken. Dergestalt kann es außerdem – abgesehen von seiner Verbindung mit dem Rest des Bilduniversums und mit anderen semantischen Welten – die eigene Minimalbeziehung herstellen: die Referenz. (Ein im brigen nicht unabdingbares Element, wird man sagen…). Jedenfalls ist aber gerade die konstitutive Transzendenz des Bildes die Bedingung fr seine Erkennbarkeit und folglich fr das, was sein ontologischer Status genannt werden kann. Rekapitulieren wir: Nur insofern die Bilder auf den Grund des Nichts zurckgreifen kçnnen, vor dem sie sich entsprechend abheben und durch den der ontologische Unterschied hervortritt, der sie wesentlich als Bilder von… kennzeichnet, sind sie Manifestationen dessen, was durch sie auftaucht. Wenn nun das Bildwerden einer bestimmten Zeichenstruktur von deren Herausragen aus dem Nichts abhngt, so haben wir es ipso facto mit der Struktur des Erhabenen zu tun. Etwas kann als Bild bedeuten, indem es den Blick auf das Nichts, der es vernichten kçnnte, in das Unendliche verwandelt, in das N, das die unendlichen Verweise anzeigt. Auf diesem Weg wird das Bild erst Bild, das heißt, es gewinnt eine Semantik gemß seiner besonderen Struktur. So betrachtet, ist das Bild unweigerlich Subjekt und Objekt seines Sich-Strukturierens, da wo selbst die Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen fast, ich wiederhole: fast nichtig ist, da man nicht sieht, von welchem Standpunkt sich der Blick von oben oder von vorn gewinnen ließe, welcher der Subjekt-Objekt-Struktur ihre Eigenheit verleiht. Wir stehen eben an einem Punkt nach dem ,Tod Gottes‘. Aus dem Italienischen von Leonie Schrçder
Namenregister Abel, Gnther 133, 139, 241–243, 260 Adorno, Th. W. 123, 140, 148, 154, 158, 311 Agamben, Giorgio 149, 227 Arendt, Hannah 139f., 155f., 165, 273 Aristoteles 124, 131, 144, 163 Aristoxenos 112 Assmann, Jan 273 Babich, Babette 111, 123, 128f., 131–135, 137, 141, 145f., 149, 151, 155, 157, 163, 166, 168, 199 Bacon, Francis 117 Bain, Alexander 287–289 Barbaric´, Damir 174, 176f., 204, 211, 217 Bargh, John 297 Barth, Karl 31f., 43 Baudrillard, Jean 148 Behler, Ernst 46, 262 Benz, Ernst 47 Biser, Eugen 3, 181 Boella, Laura 285, 298 Bonhoeffer, Dietrich 42, 44 Bçning, Thomas 119 Boniolo, Giovanni 284 Bourget, Paul 97f. Bricmont, Jean 141 Broch, Hermann 273 Brochard, Victor 27 Brusotti, Marco 1, 3, 5, 8, 11, 13f., 54, 60, 207, 242 Buddha 19, 27, 83–85, 89, 93, 158, 237, 294 Butterfield, Herbert 135f. Caspari, Otto 94 Celan, Paul 118
Changeux, Jean-Pierre 294–296 Chladni, Ernst F. 153f. Colli, Giorgio 10, 186 Comte, Auguste 7, 92f., 102, 141, 291 Damasio, A. R. 292 Dante Alighieri 90 Darwin, Charles 9, 32, 38, 47, 50, 54f., 58, 133–135, 205, 268, 283–285, 287, 294f., 298f. Dawkins, Richard 275, 298 De Carolis, Massimo 205, 218, 227, 229 Dear, Peter 135, 150f. Deleuze, Gilles 149, 265 Demokrit 38, 87f. Dennett, Daniel 134, 278 Descartes, Ren 4f., 137, 140, 143, 163, 292 D’Iorio, Paolo 94 Dostojewskij, Fjodor 44 Dhring, Eugen 3–5, 7f., 11, 94f., 131 Eamon, William 150 Ellul, Jacques 147f. Emden, Christian 108, 111, 114 Emerson, R. W. 90 Empedokles 88, 127, 164 Epikur 27 Espinas, A. 288 Ferrire, Emile 287 Feuerbach, Ludwig 35f., 55, 63 Feyerabend, Paul 131, 136, 142 Fichte, J. G. 36f., 39, 56, 58f., 61f. Ficino, Marsilio 90 Figal, Gnter 186, 189, 197, 199 Fink, Eugen 31, 186, 196, 219
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Namenregister
Fleck, Ludwik 131, 135, 141, 218, 269 Foucault, Michel 3, 133, 138, 149, 184f., 204f., 300 Fourasti, Jean 261 Freud, Sigmund 21, 40, 53f., 56f., 59, 64f., 91, 138, 166, 217, 224f. Friedrich der Große 26 Fuchs, Carl 108–110, 113, 115 Gadamer, Hans-Georg 149, 184, 189, 269, 310 Gasser, Reinhard 57, 225 Gebsattel, Victor E. 215f. Geisler, Linus 222f. Gentili, Carlo 2, 186, 233, 236 Georgiades, Thrasybulos 119 Gerhardt, Volker 3, 18, 125, 177, 197, 234–236, 251, 263 Gçdel, Kurt 131, 151 Goethe, J. W. von 7, 55, 61–63, 117, 134, 164, 183, 306 Gmez Dvila, Nicols 92 Granier, Jean 129 Green, Michael S. 234 Gnther, Friederike 107, 120 Guyau, J.-M. 102–105, 183, 288 Haeckel, Ernst 7, 131, 289 Haidt, Jonathan 292 Harnack, A. von 41f., 44 Harr, Rom 145 Hauser, M. D. 296f., 299 Hegel, Georg Wilhelm F. 31f., 38, 49, 176, 195–197, 266, 276, 303, 306, 311 Heidegger, Martin 31, 39, 44f., 119, 123f., 129, 137, 139f., 143, 146f., 151, 168, 184, 196, 236f., 254, 269, 304 Heine, Heinrich 86f. Heller, Peter 69, 78 Hello, Ernst 99 Heraklit 34, 40, 89, 164 Herder, Johann Gottfried 36 Hçlderlin, Friedrich 123, 127 Holton, Gerald 142, 145
Holub, Robert C. 132 Husserl, Edmund 200f., 219f., 229 Jablonka, E. 289 Jacob, FranÅois 221 Jacobi, Friedrich H. 39, 139 Janicaud, Dominique 129 Jaspers, Karl 41, 46, 176 Jean Paul 40f., 46, 304 Jesus 2, 6, 27, 42–45, 55, 65 Joos, Walter 254 Joubert, Joseph 90–92 Kandel, Eric 292 Kanitscheider, Bernulf 219, 227, 276 Kant, Immanuel 4f., 8, 32, 58, 64, 87, 128, 131, 137, 139, 141, 143, 146, 149, 155, 159, 162, 184, 197, 206, 210, 234, 238, 253, 265, 310 Kaufmann, Walter 10, 40 Kaulbach, Friedrich 197, 260, 265 Keller, Evelyn Fox 269 Kepler, Johannes 125 Kierkegaard, Sçren 46, 59 Kleinpeter, Hans 132 Kleist, Heinrich von 139, 254 Klopstock, Friedrich Gottlieb 41 Koeppen, C. F. 84, 86 Kopernikus, Nikolaus 14, 58, 125, 242 Kçselitz, Heinrich 241–243 Kçster, Peter 20 Kuhn, Thomas S. 15, 21, 51, 131, 136, 141, 269 Lamarck, Jean-Baptiste 221, 287 Lamb, M. J. 289 Lange, F. A. 2, 22, 32–34, 38, 131 Laplace, Pierre 104, 268, 277 Latour, Bruno 136, 218 Le Rider, Jacques 118 Leibniz, Gottfried Wilhelm 40, 125, 131 Lema tre, J. 99 Lçwith, Karl 49, 236f. Lossi, Annamaria 188, 192 Luhmann, Niklas 4, 8 Lukcs, Georg 257
Namenregister
Lukrez 142 Luther, Martin 39, 58 Lyotard, Jean FranÅois 149, 306f. Mach, Ernst 132 Maier, Mathilde 88 Mainlnder, Philip 86, 95 Marx, Karl 138 Mattenklott, Gert 11, 108 Maudsley, Henry 287 Mayer, Julius R. von 131, 240–243 Mayr, Ernst 135 McEwan, Ian 267 Merleau-Ponty, Maurice 307 Meyer, Kathrin 118, 154 Mill, John Stuart 92f., 102, 134, 286f., 291, 295 Mitchell, W. T. J. 308 Newton, Isaac 125, 131, 142, 150 Nielsen, Cathrin 2, 119, 169, 189, 196, 203, 220, 224 Novalis 305 Occam, William 153 Oedipus 230f. Otis, Laura 154 Ottmann, Henning 20–22, 51, 251, 257, 276 Overbeck, Franz 6, 43, 65, 217, 291 Parkes, Graham 132 Pascal, Blaise 13, 59, 63, 65 Paulus 6, 27, 42 Philon von Alexandrien 89 Picht, Georg 134, 176, 181 Platon 4, 13, 55, 60, 124, 142, 159, 172, 187, 192, 194f., 228, 236, 238, 240, 263, 265 Plutarch 39, 86 Popper, Karl 220 Porter, James 107 Pçschl, Viktor 113 Pyrrhon 27 Pythagoras 114 Rachel, James 283 Re, Paul 132, 299
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Renan, E. 84, 98f. Rheinberger, Hans-Jçrg 222f., 269 Ricœur, Paul 138, 294, 296, 300 Rohde, Erwin 109, 113f. Rorty, Richard 123, 197 Ross, Werner 65, 141 Ruckenbauer, H.-W. 280 Runge, Philipp Otto 312 Russo, Lucio 124–126 Salaquarda, Jçrg 10, 63 Sarasin, Philipp 204f. Sartre, Jean-Paul 147 Schipperges, Heinrich 133 Schlegel, Friedrich 262 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 250 Schçnborn, Christoph 274f. Schopenhauer, Arthur 2–10, 14, 61, 85, 88, 111, 127f., 149, 163f., 186, 192, 242, 253, 265, 291, 298 Schrmann, Reiner 129, 139 Serres, Michel 228 Siegel, Daniel 177, 284 Simmel, Georg 264f. Simon, Josef 18, 119, 135, 176, 260 Singer, Peter 283f. Singer, Wolf 271 Sokal, Alan 141f. Sokrates 5f., 55, 63, 85f., 144, 146, 164, 188, 245f., 250, 264 Sommer, Andreas Urs 3f., 7, 12, 17, 22, 43, 53 Sophokles 127 Spaemann, Robert 268f. Spencer, Herbert 134, 286–291, 295f., 301 Stegmaier, Werner 1, 3, 8f., 13–16, 24, 108, 129, 269 Stengers, Isabelle 168 Strauß, David F. 34, 48, 54f., 167 Taine, H. 84 Tanner, Michael 11f. Tertullian 39, 42 Testart, Jacques 228 Thales 86 Thomas von Aquin 31
318
Namenregister
Tort, Patrick 298f. Turgot, Anne Robert Jean 251 Vattimo, Gianni 149, 306 Vercellone, Federico 303f., 306, 311 Waal, Frans de 283 Wagner, Richard 88, 98, 103, 133, 162–164, 186, 261, 265
Weber, Max 15, 153 Weizscker, Carl F. von 132, 134 Westphal, Rudolf 109f. Wilson, Edward O. 275f., 278, 284 Windelband, Wilhelm 269f. Zittel, Claus 207, 230
Sachregister Abgrund 33, 60, 174f., 215f., 224, 229–231, 313 absoluter Fluss 89, 204, 216, 224, 226 Angst, Furcht 7, 33, 35, 37–39, 91, 116f., 212f., 231, 236, 290f. Anthropologie 18, 20, 79, 107f., 111, 114, 116, 119f., 133, 135, 144, 203f., 206, 215, 227, 286, 307, 311 Anthropomorphismus 208, 228, 238 asketisches Ideal 7, 23, 67–72, 74–77, 80f., 100, 130, 143, 155–161 Atheismus 6f., 17f., 31f., 34, 41, 45, 50, 54f., 59, 61, 67, 99, 235, 237, 267f., 273f., 278f., 281 Auferstehung 48 Aufklrung 1f., 5f., 8, 15, 137, 156, 213, 311
Christentum 2–9, 12, 16, 18, 23f., 26, 31, 33f., 39f., 42–44, 46f., 50–53, 61, 63, 65, 67f., 70, 72–76, 78–81, 86, 92f., 99, 103, 151, 160, 172, 175–179, 181f., 208, 236f., 240, 268f., 272 circulus vitiosus deus 57 conditio humana 2, 10, 107, 205, 227
Bewusstsein 1, 10, 12, 18, 23, 37, 43, 45f., 65, 79, 111, 120, 129, 132, 139f., 147f., 155, 158f., 174f., 204, 206, 208, 231, 233, 236, 271f., 287f., 292f., 305, 310f. Bild 7–9, 11, 13f., 35, 44, 55, 83–85, 89f., 105, 116, 139, 143, 147, 154, 160, 166, 204, 208, 213, 216, 218, 222, 228, 233, 271, 278, 289, 297, 301, 305, 307–313 Biologie, biologisch 9, 38, 59, 131f., 135, 165, 205f., 221f., 227, 269, 274–279, 284–286, 289, 291–295, 297f., 303 Biopolitik 279 Buddhismus 23, 52, 76, 84, 86, 97, 99
Ekel 52, 94, 100 Empirie 34, 36f., 111, 126, 130, 157, 163, 165, 220, 270, 277, 279, 293, 298 Endlichkeit 77, 212, 233, 235 Entwertung, Umwertung 23, 25, 28f., 45, 51, 61, 144, 161 Erbe 135, 146, 161, 214, 224, 228, 285, 287f., 293f., 304 Erkenntnis 2, 5, 8f., 11f., 15, 22, 26, 37f., 47, 54, 73, 76, 78–80, 89, 93, 107, 111, 116f., 119, 150–152, 171, 183f., 187, 193, 199, 207, 210, 214, 228, 232, 234, 238, 241, 243, 246, 249, 253f., 281, 297, 305 Erkenntnistheorie 22f., 26f., 31, 35, 38, 139f., 191, 210, 258, 305 Erlçsung 43, 60f., 70, 75, 79, 86, 95, 281
Chaos, chaotisch 21, 33, 35, 37f., 95f., 149, 218, 227, 234, 238, 243, 310 chaos sive natura 101
Darwinismus 9, 32f., 50, 62, 134, 176, 274, 276, 283 dcadence 22, 29, 42, 96f., 108, 164 der Gekreuzigte 39 deus absconditus 33 Dionysos 1, 16–18, 40, 56, 59–61, 64, 127, 144f., 163, 176 Dogma 9, 20, 26, 31, 34, 51, 98, 102, 181
320
Sachregister
Europa 5, 7f., 10, 12, 16, 21f., 24, 34, 48, 50–52, 55, 96, 108, 147f., 177f., 220, 240, 269, 286 Evolution 9, 38, 47, 103, 134f., 221, 223, 226, 274–276, 279, 281, 284, 286, 288f., 294f., 298 ewige Wiederkunft 20, 23–26, 29, 49, 51, 53, 57, 59f., 64, 94f., 100–104, 139, 241 Experiment, experimentell 18, 25–29, 40, 64, 102, 153
Gleichgltigkeit 2, 99, 160, 215, 217, 220, 222f., 225f., 230f. Gott 1–10, 12f., 16–21, 23–26, 29, 31–36, 38–50, 52–65, 67f., 79, 83, 85–105, 117f., 120f., 123, 127, 138, 146f., 150, 152, 159–162, 168, 171–182, 204, 206, 208, 210, 231, 233, 235–240, 242f., 268f., 272f., 275–283, 285, 303f. Gte 5, 11, 15, 33–35, 40–42, 50, 61, 96, 150, 173, 180, 293
Faktizitt 207, 216f., 221 Fluch 24 Fortschritt 1, 3, 5–7, 9f., 12, 14–18, 20, 22, 77, 80, 101, 103, 105, 126, 135, 150, 166, 206, 217f., 223, 298 Freiheit 4, 11, 17, 26, 28, 49, 61, 78, 91, 171, 176, 206, 234, 272 Frçmmigkeit 12, 36, 97
Horizont 13f., 21, 34, 38, 45, 51, 57, 63f., 79, 89, 95f., 100–102, 116, 119, 171, 173, 178f., 231, 243, 271 Hypothese 6, 20, 24, 31f., 40, 58, 94, 101f., 104, 171, 207f., 220, 233, 237–239, 277, 281, 288, 292f., 295, 309f.
Geist 1, 7, 11, 15f., 38f., 49, 54f., 60f., 64f., 67f., 74, 81, 86, 88, 90f., 96, 108, 126, 128, 130, 132, 134, 138, 145f., 151f., 156, 162, 164f., 171, 178f., 211, 231, 285, 287, 299, 306 Geisteswissenschaften 113, 270, 272, 280 Genealogie, genealogisch 15, 33, 67–71, 79–81, 124, 130, 132, 143, 146f., 155–157, 160, 162, 205, 291, 300f. Gesetz, Naturgesetz 6, 9, 38, 46, 50, 60f., 88, 94, 104, 115, 117, 143, 149, 161, 167, 219f., 238, 270, 278, 287, 289, 293, 297 Gewissen 33, 54, 67 Gewissheit 8, 40, 165, 189, 217 Glaube 1–13, 15–20, 23f., 31, 34f., 37f., 41, 43f., 46–50, 52, 56–58, 60, 64f., 67, 76f., 83f., 86, 96, 99, 101f., 104, 109, 137f., 140f., 146, 152f., 158–161, 171f., 177–179, 182, 203, 208f., 215, 217, 226, 234, 236, 238–240, 267, 275, 277f., 281, 296
Instinkt 4, 32, 60, 73, 97f., 213–215, 219, 223, 284, 291, 295, 297f. Kausalitt 9, 162f., 165–167, 180, 210–212, 243, 271, 276 Kontingenz 207, 229 Kontinuum 128, 204, 212f., 219, 223, 225f., 231 Kosmos, kosmisch 21, 46, 48, 58f., 62, 88, 95, 114, 181, 310 Kunst 8f., 11, 16, 18, 20, 35, 45, 55, 61, 69, 71, 77, 88f., 97, 101, 103, 118f., 129–131, 133, 139f., 143f., 149, 157, 163, 167, 173, 176, 180f., 210, 215, 225f., 303f., 309 Leben 1–4, 6–9, 12–14, 16, 18, 20f., 24f., 27–29, 33, 35f., 44, 47, 50–52, 56, 60–64, 69–77, 83, 85–88, 93–100, 102f., 105, 108, 116–119, 124, 127, 129f., 139f., 146–148, 156, 158, 161, 163–165, 168f., 172f., 176–178, 181f., 203–206, 209–218, 221–231, 240, 276, 288–290, 294, 298, 305 Lebenswissenschaften 206, 210
Sachregister
Leere 5, 45, 49, 51–54, 56, 85, 98, 101, 119, 212, 215, 228–230, 234f., 304 Leib 19, 36, 52, 71f., 133, 147, 175, 207–209, 223f., 227f. Leid 3, 5–8, 12f., 17f., 22, 38, 43f., 49, 53, 60–62, 91, 95–97, 101, 103, 152, 157 Leidenschaft der Erkenntnis 54, 60, 69, 74, 79, 207, 242 Licht, Sonne 7, 17, 31, 37, 45f., 50, 53, 72, 78, 83f., 90, 96, 117, 119, 132, 139f., 143, 145f., 173f., 177f., 205, 207, 221, 225, 230f., 272, 282 Materialismus 33, 168, 224 Mathematik 124f., 129, 149, 151f., 165, 219, 277 Mechanistik 13, 32, 125, 132, 147, 153f., 157, 162, 166f., 219, 228 Melancholie 31, 39, 47, 53–59 Mensch 1–26, 29, 33–39, 41–52, 54–60, 62–65, 68f., 71, 73, 75–81, 83–91, 93–103, 107f., 111, 116–121, 127, 133–135, 138f., 141, 143f., 147f., 150, 152–154, 158, 160, 162, 164, 166, 168, 173–178, 180–182, 203–207, 210–217, 221, 227, 229–231, 233, 235, 237–239, 241, 267, 271–281, 283–286, 288, 290–292, 294–301, 303f., 307 Metaphysik 1–3, 6–8, 10, 16, 18, 21, 29, 34, 36, 50, 64f., 67–70, 72, 78, 85–89, 91, 94, 96, 101–103, 107f., 114, 116, 118–120, 141, 146f., 159, 162, 165, 172f., 176–179, 181f., 208–211, 214, 228f., 236, 240, 242, 268, 286 Methode 1, 6, 8, 14, 32f., 120, 125, 130f., 137, 143, 157, 203, 209, 219f., 226, 228, 277f., 310 Misstrauen 8, 12, 27, 138f., 158, 172, 209, 214f., 220, 226 Moderne 1–14, 16–18, 20–22, 31–33, 52, 54, 64, 68f., 76f., 80f., 85, 95, 97, 99, 107, 110–112,
321
114–120, 123f., 126, 128–131, 136, 138, 141–143, 146–148, 150f., 153, 156–158, 160f., 168, 171f., 203–206, 208f., 218–221, 226, 233, 235, 237, 267, 269, 275f., 289, 291, 305, 311 Monotheismus 41, 86, 182, 273 Morphologie 303 Mdigkeit, Ermdung 25, 53, 73f., 92, 214 Musik 1, 3, 11, 13f., 17, 21, 54, 98, 103, 108, 111, 113f., 126, 146, 148, 154, 162–164, 219, 241, 297 Nacht 45f., 63, 72f., 96, 166, 174 Natur 3–6, 8f., 11f., 15f., 32–34, 36, 38, 42, 50, 53–55, 58, 63, 85f., 88–91, 93f., 100, 103–105, 125, 130, 143, 146–152, 160, 164, 166f., 172, 179, 204–206, 211, 213, 217, 219–222, 224, 226f., 230f., 238–240, 270, 274–277, 281, 283, 285–288, 291, 293–300, 303, 305, 308, 311f. Naturalismus 152, 271, 297 Naturwissenschaft 6–8, 10, 50, 93, 125, 128, 131f., 141, 144, 149–151, 154, 159, 219f., 227f., 267–270, 272f., 277f., 280f., 286 Negation 5, 12, 22, 25, 34, 36, 40f., 44–46, 52, 71f., 75f., 95, 118, 134, 159, 173, 181f., 242, 281, 286 Nichts 2, 21, 24, 31, 49, 51, 68, 81, 92, 101, 160, 162, 174, 182, 210f., 214–216, 235, 312f. Nihilismus 2, 12, 17, 21–25, 27–29, 31f., 34, 39, 44, 48–53, 55–58, 88f., 96f., 99, 101f., 128, 161, 168, 176, 237, 304 Objekt 9, 86, 150, 210f., 218, 226, 234, 277–281, 307f., 313 Objektivitt 15, 37, 108, 117, 143, 154, 225, 269 Offenbarung 233, 235 Ontologie, ontologisch 1f., 6, 35f., 42, 44, 120, 211f., 219, 223, 228, 276, 308, 313
322
Sachregister
Opfer 3, 7, 54f., 60f., 171, 228, 239, 297, 300 Optimismus 1, 3f., 6, 8, 10, 13, 117, 146, 149, 158, 164, 293 Ozean, Meer 14, 45, 116f., 179, 231, 310 Pantheismus 105 Patripassianer 41, 43f. Pessimismus 5, 7, 17, 20–23, 52, 69, 76f., 99, 127, 163 Physik 21, 32, 131, 143, 153f., 165, 167, 210, 219, 270, 273, 278, 297 Physiologie 8, 22, 24, 27, 107, 112, 118, 120, 133, 154, 163f., 207–209, 230, 285, 290–292, 295, 301 Positivismus 92f., 102f. Potenzialitt 228f. Priester 86, 141 Quantifizierung 13, 59, 104f., 114, 119, 143, 154, 210, 213, 218–220, 229 Rache 56f., 69–71, 73–75, 78, 80, 176 Rationalitt 9, 126, 137, 206, 227, 269, 298, 308 Raum 1, 9, 45, 104, 115, 148, 174, 210, 213, 219, 223, 235, 278 Redlichkeit 8, 11, 18, 33f., 43, 52, 61, 64, 77, 93, 129 Reduktion 47, 153, 218, 222, 226, 229, 272, 308 Religion 2–10, 12–14, 16f., 26, 33, 35f., 39, 42, 46f., 51, 53, 55, 59f., 62, 64f., 67f., 72f., 75, 79, 84f., 87–89, 91, 93f., 97–99, 101–104, 129, 141, 143, 147, 151, 156, 158f., 161f., 172f., 176f., 179, 209, 214, 233, 237, 267, 269, 275f., 278f., 281, 294, 297f., 303 Schatten 2, 7, 9, 12, 19f., 33, 54, 65, 68, 76, 83–85, 87–98, 100–102, 104f., 117f., 177f., 206, 227, 230,
233–235, 237–239, 268, 281, 283, 285 Schçpfung 32, 42, 58, 87, 225, 233, 274, 312 Schuld 7, 78, 155, 273 Selbstaufhebung 34, 40, 51, 75, 176, 230 Selbsterkenntnis 56, 69, 71–80, 140, 152, 213 Selbstmord 40, 42 Selbstverachtung, Selbstverkleinerung 52, 69, 71, 73f., 76, 78, 80f., 215 Skepsis, Zweifel 17f., 19, 22, 24–29, 31, 37, 40, 43, 50, 56, 119, 139f., 142, 158, 172, 208, 214, 233, 243 Spiegel 33, 64, 71, 213, 226 Subjekt 9, 20, 37, 76, 78, 138, 140, 166, 175, 210f., 220, 223, 226, 228, 233–235, 239, 269, 271–273, 280, 294, 296, 300, 305, 307f., 311–313 survival of the fittest 33, 134 Technik 1f., 4f., 10, 14–17, 125f., 135, 142f., 146–148, 150, 158, 204–206, 221–223, 226–229, 279, 299 Teleologie 32, 38, 87, 93, 95, 238, 243, 275, 281 Theodizee 6f., 16, 31–34, 40, 43, 56, 60, 278 Theorie 8, 10, 22, 36, 48, 76, 95, 101f., 104, 109, 125, 128, 132, 149, 153f., 158, 166, 218, 220, 269, 272, 274, 278f., 285, 287f., 293 Tod 3, 7, 39, 43, 53, 59, 83, 86f., 94, 116f., 153, 161, 164, 172, 175, 177, 204, 206, 210, 214, 216f., 222, 224f., 228, 303f. Tod Gottes 1–7, 9f., 12, 16–23, 29, 31, 39f., 42–44, 46–49, 53, 57, 59, 65, 83, 95f., 98f., 107, 120, 173f., 176–181, 204, 215f., 229, 235–238, 267f., 273, 280f., 303f., 313
Sachregister
Transzendentalismus 9, 165, 211, 220, 233f., 239 Transzendenz 35, 42, 204, 206, 227, 229, 239, 277, 279, 313 Trieb 9, 35, 38, 56f., 71f., 92, 102, 150, 214, 224f., 231, 283, 285, 288–292, 295f., 301 Trinitt 41f. Trost 5, 24, 53f., 78, 89, 147 bermensch 23, 47, 51, 60, 63, 95, 100f., 237, 276 berzeugung 2f., 6, 21, 110, 136, 141, 145, 152f., 171f., 207, 239, 275 Unendlichkeit 14f., 20, 26, 32, 45, 49, 52, 95, 104f., 114, 116, 144, 154f., 160, 174, 179, 203–206, 212, 216, 218, 220, 223, 228–231, 235, 292, 313 Vergçttlichung 14, 47, 61, 86, 107, 120, 239 Vernunft 1f., 4, 6, 8, 13f., 16, 20, 32, 34, 37f., 56, 94, 123, 126, 131, 133, 137, 142, 146, 149, 156, 163, 165, 175, 180, 203f., 206, 210, 217, 231, 237, 243, 289, 295, 305f. Verzweiflung 10, 24f., 42, 216 Virtualitt 148, 160, 227f. Vivisektion 47 Voraussetzungslosigkeit 152, 159, 171f., 203, 207f., 239 Wahrhaftigkeit 4, 24, 27, 33f., 46, 48, 50, 54, 61, 67, 144, 172, 175f., 178, 182, 210, 214 Wahrheit 4–7, 9f., 12f., 15, 18, 23, 25–27, 31–35, 37, 44, 46, 50, 54f.,
323
62, 67f., 75, 90f., 97, 120, 123, 126f., 129f., 137–139, 141, 143–145, 149, 151, 153, 158–160, 166f., 169, 171–173, 176, 179, 181, 203f., 207–215, 218, 226, 229f., 235, 239f., 268f., 271–273, 277, 279, 281f., 294, 310 Wert 1–3, 5, 10f., 18, 21, 23–25, 28f., 34, 36f., 46, 48, 51f., 58, 61, 67–69, 77, 87, 93, 97f., 100f., 103, 127, 136f., 145, 153, 156, 159, 161, 171f., 233, 284–286, 289, 291, 293, 299 Wertneutralitt 1, 15 Willensschwche 52, 223 Wille zum Leben 61, 71, 76 Wille zum Nichts 51, 68 Wille zum Tode 172, 203, 214f. Wille zum Wissen 27, 69 Wille zur Macht 24–26, 29, 45, 69, 118, 139, 175, 241, 272 Wille zur Wahrheit 11, 67f., 153, 159, 171f., 176f., 180, 182, 203f., 206, 208f., 212–215, 217, 230, 240 Zeit 1f., 6f., 9–13, 15, 19–21, 42, 44, 46, 49, 52, 54, 62, 69–73, 83, 89, 91, 94, 97–101, 103f., 108–110, 112, 115, 117, 119f., 124, 129, 131–133, 135, 137, 141, 150, 157, 160, 164–168, 174f., 177, 207, 209f., 213, 216, 219, 224, 231, 236f., 240, 267, 270, 285–288, 290, 305, 308, 312 Zufall 33, 38f., 63, 90, 94, 164, 166, 238, 276 Zweck 16, 18, 29, 41f., 94, 146, 156, 210f., 213, 217, 229, 238f., 270, 276f., 281, 287–289, 297, 300