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Inhalt 1 Für eine Philosophie der Überreaktion . , . . . . . . . . .
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11 Die Sonne und der Tod Die Menschenpark-Rede und ihre Folgen . . . . . . . . .
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111 Zur allgemeinen Poetik des Raums Über »Sphären I« . . . . . . . . . . , . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV Ich prophezeie der Philosophie eine andere Vergangenheit Über »Sphären 11~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V Arbeit am Widerstand . . . . . , . . . , . . . , . . . . . . . . . . . .
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VI Amphibische Anthropologie und informelles Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...*. @ Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Erste Auflage 2001 I z 3 4 j 6 - 06 05 04
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I Für eine Philosophie der Überreaktion Die Schrecknisse der eigenen Epoche im Ohr
Hans-Jürgen Heinrichs Herr Sloterdijk, der Titel Ihres Buches
Selbstversuch von 1996 hat für mich etwas Unheimliches an sich, er erinnert an die Kälte eines Laboratoriums, in dem Selbstverstümmelungen möglich sind, vielleicht sogar Selbsttötungen, Es scheint ein Versuch auf Leben und Tod gemeint zu sein. In den Ecrits der Schriftstellerin Laure, der Lebensgefährtin von Georges Bataille, gibt es eine Erzählung, in der sie berichtet, daß sie sich als kleines Mädchen oft vor den Spiegel ihrer Mutter gesetzt hat. Dieser Spiegel bestand aus drei Teilen, die man gegeneinander verdrehen konnte. Mit Hilfe dieser Vorrichtung zerlegte sie ihren Körper und setzte ihn wieder neu zusammen. Sie hat diese existentielle Erfahrung der Zerstükkelung und Wiederzusammensetzung als die Vorbedingung ihres Denkens und Schreibens begriffen. Wenn man etwa die Arbeiten von Unica Zürn, von Hans Bellmer oder die Schriften von Lacan heranzieht, findet man dieses Element der Selbstzerlegung, des verstümmelten und zerstückelten Körpers wieder. Hat Ihre Art des Philosophierens ebenfalls die Quelle in einer solchen Dimension von persönlicher Erfahrung mit Zerrissenheit und Ganzheit? Peter Sloterdijk Ganz sicher, denn ohne den existentiellen Antrieb wäre die Philosophie eine schale Affaire. Zugleich bin ich der Meinung, daß Sie mit dieser hoch ansetzenden Kontextuierung des Ausdrucks »Selbstversuch« ein wenig über das Ziel hinausschießen, das ich mir mit dieser Formulierung gesetzt hatte. Ich bin kein Liebhaber des deutschen Expressionismus, in dem die Haltung des Philosophierens auf Leben und Tod gängig war. Diese Gestik machte vielleicht Sinn, als man 1918 aus den Schützengräben stieg und ahnte, daß man nie mehr so richtig nach Hause kommt, wie Hermann Brach eine
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seiner Figuren in den SchlaJivandlern sagen ließ. Wenn ich von Selbstversuch spreche, denke ich nicht an vivisektorische Experimente am eigenen Leib, auch nicht an die Psychose-Romantik der französischen Psychoanalyse. Mit diesem Wort schließe ich weder an Camus an, der behauptet hatte, es gebe nur ein wirkliches Problem in der Philosophie, den Selbstmord, noch an Novalis, von dem die aufschlußreiche Bemerkung stammt, die Selbsttötung sei die einzige »ächt philosophische« Handlung. Ich nehme eher Bezug auf ein Phänomen in der Geschichte der neuzeitlichen Medizin, die homöopathische Bewegung, die auf Samuel Hahnemann zurückgeht. Dieser erstaunliche Kopf hat im Jahr 1736 - das ist jetzt fast genau 2OO Jahre her - erstmals das Prinzip des effektiven Heilmittels formuliert. Zudem war er einer der ersten Heiler, die auf die moderne Ungeduld der Patienten mit adäquaten ärztlichen Angeboten zukamen. Seiner Überzeugung nach bestand für den Arzt die Notwendigkeit, sich selbst mit allem zu vergiften, was er später den Kranken zu verordnen gedenkt. Von dieser Überlegung stammt das Konzept des Selbstversuchs: Wer Arzt werden möchte, muß Versuchstier sein wollen. Der tiefere Grund für diese Wendung zum Experimentieren am eigenen Leib ist in der romantischen Idee des aktiven Bezugs zwischen Bild und Sein zu finden. Hahnemann war der Ansicht, daß die Wirkungen der Dosis beim Gesunden und beim Kranken sich spiegelbildlich zueinander verhalten. Dem liegt eine anspruchsvolle Semiotik des Arzneimittels zugrunde: Der große optimistische Gedanke der romantischen Medizin, zu der die Homöopathie wesentlich gehört, besteht ja darin, daß eine Abbildbeziehung zu unterstellen sei zwischen dem, was die Krankheit als Phänomenganzheit ist, und den Effekten, die ein pures Mittel am gesunden Körper hervorruft. Die Homöopathie denkt auf der Ebene einer spekulativen Immunologie. Und insofern Immunprobleme immer mehr ins Zentrum der künftigen Therapeutik und Systemik rücken werden, haben wir es mit einer sehr aktuellen Tradition zu tun, obschon
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9 die Wirkungsweise der homöopathischen Dosen weiterhin im dunkeln bleibt. So gesehen gehört die Formulierung meines Buchtitels eher in die Tradition der romantischen Naturphilosophie, genauer der deutschen Krankheitsmetaphysik, als in die Linie der französischen Diskurse über den zerstückelten Körper. Aber mehr noch geht er natürlich auf Nietzsche zurück, der gelegentlich mit homöopathischen und häufig mit immunologischen Metaphern gespielt hat. Nicht umsonst läßt Nietzsche seinen Zarathustra zur Menge sagen: »Ich impfe Euch mit dem Wahnsinn«; auch das ominöse »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker<{, hat einen durch und durch immuntheoretischen Sinn. Nietzsche sah sein ganzes Leben als eine Impfung mit Dekadenzgiften an und versuchte, seine Existenz als integrale Immunreaktion zu organisieren. Er konnte sich nicht mit der gepanzerten Harmlosigkeit des letzten Menschen abfinden, durch die sich dieser gegen die Infektionen der Zeitgenossenschaft und der Geschichte abschirmt. Daher trat er in seinen Schriften als ein Provokationstherapeut auf, der mit gezielten Vergiftungen arbeitet. Diese Konnotationen klingen in meinem Titel mit. Das schließt nicht aus, daß die Bilder oder die Assoziationen, die Sie herantragen, andere Obertonbereiche treffen und für diese Bedeutungsschichten richtig sind. H.-J. H. Von Hahnemann zu Nietzsche - das ist ein weites Feld. Zwischen den homöopathischen Kügelchen, die zur Gesundung führen sollen, und den philosophischen Gedanken, die wohl nicht so direkt heilsame Wirkungen entfalten können, besteht auf jeden Fall eine große Kluft. Doch erscheint mir in dem, was Sie gesagt haben, ein Aspekt besonders wichtig: dieses Infiziert-Sein, diese quasi psychosomatische Teilhabe an den Gebrechen der eigenen Zeit. Dieser Gedanke taucht in Ihrem Buch Selbstversuch an einer Schlüsselstelle auf wo Sie in einer Anmerkung zur Polemik um Botho Strauß Ihre Idee der Autorschaft definieren. Diese Passage hat bekenntnishafte Züge. In Ihrem Plädoyer erklären Sie, daß es für den
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Autor die Pflicht zu gefährlichem Denken gibt. Der Schriftsteller, sagen Sie, ist nicht dazu da, Kompromisse mit der Harmlosigkeit zu schließen, Autoren, die zählen, denken wesenhaft gefährlich. Ihre experimentelle Philosophie setzt also mehr als nur ein metaphorisches Verständnis von Homöopathie voraus. Sie wäre vielleicht besser zu charakterisieren durch Ihr Verhältnis zu den künstlerischen und philosophischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. P.S. Das kann man so sehen. Auch muß man zugeben, daß die Homöopathie aufgrund ihres Zusammenhangs mit den reformistischen Lebensphilosophien des Kleinbürgertums eine Imago besitzt, die mit gewagtem Denken schlecht verträglich ist. Dennoch zeigen sich im Hinblick auf Hahnemanns Person auch andere Züge. Er war ein Virtuose der Selbstvergiftung. Er hat seinen Körper geprüft, getestet, belastet, aufs Spiel gesetzt in einer Weise, die aus ihm eine große Orgel der Krankheitszustände gemacht hat. Er hat die Dekonstruktion der Gesundheit als psychosomatisches Experiment an sich selber durchgeführt. Das hat eine Dämonie eigenen Ranges, die sich schwerlich vergleichen läßt mit den geborgten Unheimlichkeiten, mit denen manche Autoren der Moderne ihre Exzesse ausmalen. Ich warne vor der Unterschätzung des Gefährdungspotentials der homöopathischen Medizin. Es ist ein sehr komplexer und durchaus nicht harmloser Ansatz, der sich unter einer biederen Maske verbirgt. Andererseits haben Sie recht, es geht mir nicht um Homöopathie als solche. »Selbstversuch« ist eine Metapher, die aus der medizinphilosophischen Sphäre stammt, aber sich nicht in ihr erschöpft. Sie hat auch eine zufällige Seite: Ich habe die homöopathische Terminologie zur Zeit im Kopf, weil ich vor kurzem, im September 96, in der Frankfurter Paulskirche die Festrede zum zoojährigen Jubiläum der homöopathischen Bewegung gehalten habe und zu diesem Zweck in die Geschichte der frühbürgerlichen Medizin-Ideen eingetaucht bin. Mir ist bei dieser Gelegenheit bewußt geworden, in welchem Aus-
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maß die Geschichte des modernen Denkens von Heilungsphantasmen und ärztlichen Metaphern durchzogen ist. Die wirkungsmächtigste Idee des 19. und 20. Jahrhunderts, das Konzept Entfremdung, zielt auf eine universale Therapeutik. Über weite Strecken laufen Politik und Klinik parallel, selbst die Antipoden Marx und Nietzsche haben dies noch miteinander gemeinsam. Was mein Buch angeht, bleibt es in jedem Fall ratsamer, an Nietzsches Devise vom Leben als dem »Experiment des Erkennenden« zu denken. Ich wollte mit dem Titel an Bedingungen von Zeitgenossenschaft erinnern. Man muß die Traumüberschüsse der eigenen Epoche und ihren Terror in sich spüren, um als zeitgenössischer Intellektueller etwas zu sagen zu haben. Man redet in gewisser Weise mit einem Sprechauftrag des Staunens und des Schreckens oder, allgemeiner gesagt, der ekstatischen Potentiale der eigenen Zeit. Wir haben keine anderen Mandate. Als Schriftsteller von heute sind wir nicht durch einen Gott und nicht durch einen König in unseren Beruf eingesetzt. Wir sind nicht die Briefträger des Absoluten, sondern Individuen, die die Detonationen der eigenen Epoche im Ohr haben. Mit diesem Mandat tritt der Schriftsteller heute vor sein Publikum, es lautet in der Regel nur »eigene Erfahrung«. Auch diese kann ein starker Absender sein, wenn sie ihr Zeugnis vom Ungeheuren ablegt. Sie ermöglicht unsere Art von Mediumismus. Wenn es etwas gibt, wovon ich überzeugt bin, dann davon, daß es nach der Aufklärung, wenn man sie nicht umgangen hat, keine direkten religiösen Medien mehr geben kann, wohl aber Medien einer historischen Gestimmtheit oder Medien einer Dringlichkeit. H.-J.H. Da Sie jetzt selbst auf das religiöse Feld angespielt haben, würde ich gerne gleich auf ein Phänomen zu sprechen kommen, das in diesem Bereich ein Jahrzehnt lang für Aufsehen gesorgt hat, auf Bhagwan Shree Rajneesh oder, wie er sich später nannte, Osho, den Sie für eine der größten spirituellen Gestalten des Jahrhunderts hielten und dem Sie während eines längeren Aufenthalts in Indien vor nicht ganz zwanzig Jahren
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persönlich begegnet sind. Ihm ist eine der für mich interessantesten Passagen Ihres Selbstversuchs gewidmet. Sie nennen ihn den »Wittgenstein der Religion« und führen in wenigen Strichen aus, daß ihm zufolge die historischen Religionen nur durch »aktive Religionsspiele« neu formulierbar werden. Sie zeigen, auf welche Weise Osho seine Religionsexperimente durchgeführt hat, und erläutern in diesem Zusammenhang, daß wirkliche Untersuchung der Religion nur im Experiment entsteht und nicht so sehr durch die theoretische oder diskursive Kritik. Bei Osho, diesem großen Religionsentertainer, konnte man eine Art von Religionskritik lernen, wie sie in theologischen Seminaren nicht möglich ist. Unter den wichtigen Autoren der letzten Jahrzehnte war es bei uns nur Luhmann, der auf eine analoge Weise - aber mit völlig anderen Mitteln - gezeigt hat, daß die Religion nach allen Versuchen, sie zu überwinden oder aufzulösen, als ein irreduzibles Phänomen angesehen werden muß. Sie verschwindet unter modernen Bedingungen nicht nur nicht, wie oft behauptet wurde, sondern wird in ihrem Eigensinn noch deutlicher profiliert als in der Zeit der traditionellen Hochkulturen, wo die Religion sich mit allen anderen Lebensaspekten vermischte, besonders mit der Politik und der Moral. Diesen irreduziblen Kern hat Osho, wie Sie darlegen, in experimentellen Formen herausgearbeitet. Er hat die Religion in einem chemischen Sinn »radikalisiert«. Er war in gewisser Weise der extremste und ironischste Buddhist des Jahrhunderts. Offenbar hatte er die Ambition, die Prinzipien der Avantgarde auf das religiöse Feld anzuwenden. Das ist ein Zug in Ihrem Denken, der mir sehr sympathisch ist: wie kompromißlos Sie sich mit den maßgeblichen Figuren des 20. Jahrhunderts befassen und wie radikal Sie sich dem Werk der innovativsten Autoren ausgesetzt haben. Sie erwähnen in diesem Zusammenhang noch einen anderen Entertainer: Jacques Lacan. Mir schien, Sie spielten sogar die beiden gegeneinander aus, wobei man den Eindruck gewinnt, daß bei Ihnen Lacan schlechter abschneidet.
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Aber ich will meine Eindrücke von der Lektüre Ihres Buchs ein wenig ordnen: Auf der einen Seite gibt es jenes leichtfüßige Umgehen mit schweren Gewichten, auf der anderen verbinden Sie ein sehr ernstes philosophisches Anliegen mit dem eigenen existentiellen Experiment. Sie sagen in diesem Zusammenhang, daß Sie eigentlich einen Roman oder eine Erzählung über Ihre indische Exkursion hätten schreiben sollen. An diese Anspielung auf ein literarisches Genre möchte ich meine nächste Frage anschließen, die nach den Darstellungsformen und nach dem Zusammenhang zwischen Denken und Schreiben: Wie ist beides für Sie miteinander verknüpft? Ich stelle die Frage noch einmal anders: Ist das Denken wesentlich ein Schreiben-Über, also eine Operation, die vom Autor kontrolliert wird? Ist also das Verfassen eines Textes primär eine Ich-Leistung? Oder empfinden Sie sich - Sie sind ja auch ein Meister der Sprache wie Lacan und Osho - eher als ein Medium, durch das hindurch etwas sich spricht? P. S. Es ist gut, daß Sie die Namen von Lacan und Rajneesh gleich zu Beginn erwähnen. Beide markieren einen Raum, den ich in früheren Jahren frequentierte und aus dem ich einige entscheidende Lektionen mitgenommen habe. Außerdem sind solche Namen nützlich im Sinne der Vorsortierung von Begegnungschancen. Wenn man sie nennt, melden sich sofort eine Menge Leute ab, mit denen man seine Zeit verloren hätte. Das gilt vor allem für den zweiten von den Genannten. Es ist eine bedauerliche Tatsache, daß die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen, zumal der Philosophieprofessoren, an außereuropäischen Kulturen absolut nicht interessiert ist und mit Wut und Hochmut reagiert, wenn man sie daran erinnert, daß es ein so komplexes Universum wie das des indischen Denkens und Meditierens gibt, das dem alteuropäischen in vielen Hinsichten ebenbürtig, in manchen vielleicht überlegen war und mit dem man sich wohl auseinandersetzen sollte, wenn man sein Metier ernst nimmt. Sie meinen, ihre eigenen Versuche, die abendländische Metaphysik zu überwinden, bedeuten automa-
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tisch einen Freibrief, die großen Systeme anderer Kulturen ignorieren zu dürfen, Sie möchten nichts davon hören, daß eigensinnige indische Wege in die Moderne existieren, sogar ein indischer Typus von romantischer Ironie, ein indischer Surrealismus, ein indischer Ökumenismus, ein indischer Dekonstruktivismus. Sie wollen nur in Ruhe ihre häuslichen Diskurspartien spielen und die Grenzen dicht halten. Alles, nur keine Ost-Erweiterung der Vernunft! Solange diese Abwehr überwiegt, ist es klug, es vermeintlichen und wirklichen Gegnern leicht zu machen. Ein Name genügt, und sie drehen ab. So können diese Leute weiter in ihrem Hochmut rotieren und aufgrund falscher Überlegenheitsgefühle glücklich sein. Es wäre unphilosophisch, sie dabei zu stören. Um Ihr Stichwort »Beschäftigung mit großen Gestalten« aufzunehmen: Wollte ich autobiographisches Material über meine Anfangszeit zusammentragen, so müßte ich zunächst vor allem Namen wie Adorno und Bloch nennen, die ich in meiner Studienzeit völlig absorbiert habe, obschon die Spur ihres Einflusses in meiner Arbeit nur noch indirekt nachzuweisen ist. Von einer höheren Abstraktionsebene her gesehen bleibe ich trotzdem mit diesen Autoren verbunden, weil ich nie aufgehört habe, mich für den versöhnungsphilosophischen Impuls zu interessieren, der vom messianischen Denken ausgeht. Auch ist die von Bloch begonnene politische und technosophische Tagtraumdeutung weiter aktuell, weil man als philosophischer Zeitdiagnostiker sich für das Visionsmanagement und die Illusionswirtschaft der Massenkultur interessieren muß - ich sehe darin immer noch einen Teil meines Berufs. Doch weil Vereinigungs- und Versöhnungsphilosophien im eigentlichen Wortsinn theologische Voraussetzungen machen, die ich nicht teile, habe ich über nicht-theologische Äquivalente für diese Begriffe nachgedacht. Man kann in meinem Buch Weltfremdheit von 1 9 9 3 sehen, wie ich die theologischen Motive der kritischen Theorie durch eine Anthropologie der Weltabgewandtheit zu ersetzen versuche. Auf eine etwas andere Weise habe ich mich durch
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Husserl und weitere Figuren aus der phänomenologischen Tradition hindurchgebissen, und schließlich bin ich in Foucault eingetaucht, von dem noch immer erst wenige erkannt haben, was für einen Einschnitt sein Werk bedeutet. Der Hinweis auf den Roman, den ich meinem Publikum über das indische Abenteuer möglicherweise schuldig geblieben bin, zielt aber schon richtig. Es gibt in bezug auf diese Dinge ein tiefsitzendes Darstellungsproblem. Es ist fast unmöglich, die eigenen Erfahrungen nicht zu karikieren, wenn man die üblichen Formen heranzieht, die für die Mitteilung gruppendynamischer oder meditativer Erlebnisse zur Verfügung stehen.Von daher glaube ich, daß es gut gewesen wäre, in größerer zeitlicher Nähe an diesen Komplex heranzugehen, mit den Mitteln des modernen Romans, mit der Technik des Bewußtseinsstroms und der multiplen Perspektiven - aber das hätte, wie gesagt, gleich nach 1980 geschehen müssen . . . Jetzt ist es dafür zu spät, weil der Wind in jeder Hinsicht gedreht hat. Die Worte, die damals zu formulieren gewesen wären, sind heute irgendwo zerstreut. Der Zeitgeist ist ein epochal anderer geworden. Wir lebten damals in der Illusion, man könnte die Gesellschaft mit einer Freundschafts- und Freundlichkeitsethik umstimmen. Es war die Zeit der offensiven Kleingruppenträumereien. Was das sprachphilosophische Motiv Ihrer Frage anbelangt, so glaube ich, daß Sie im Prinzip recht haben. Ich verstehe mich als einen Menschen, der unter technischen Medien wie ein Medium zweiten Grades funktioniert, falls man so etwas sagen darf. Man muß bedenken, daß der Begriff des Mediums zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen hat - die übrigens umgangssprachlich leichter zu fassen sind als theoretisch. Es gibt apparative Medien, die Programme übertragen, und es gibt personale Medien, sprich Menschen mit einer gewissen Durchlässigkeit, die Epochenaufgaben oder Zeitstimmungen übertragen. Zieht man diese beiden Medienbegriffe zusammen und wendet sie auf die eigene Rolle an, so kann man zu
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einer Art von Apparatverdacht gegen sich selbst kommen. Die jüngere Literatur- und Medientheorie redet über den Autor wie über eine neurologische Schreibmaschine, und das entspricht manchmal der Selbsterfahrung in der auktorialen Position. Ich wurde mich am liebsten mit einem Klavier vergleichen, das plötzlich von selber zu spielen anfängt. Ein automatisches Klavier des Zeitgeistes. Ich nehme Stimmungen leicht auf, aber ich sortiere ziemlich streng. Auf der anderen Seite bin ich immer auch bereit gewesen das möchte ich hinzufügen, um jetzt nicht das Klischee von einem, dem alles leichtfällt, zu bestätigen -, den Preis für neue Erfahrungen zu entrichten. Das ging öfter, als mir lieb war, bis an die äußersten Grenzen. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, mit welchem Radikalismus man sich noch in den späten siebziger Jahren in Exerzitien und Begegnungsgruppen stürzte. Da war immer ein Hauch von Weltrevolution in der ersten Person im Spiel. Als ich nach Indien gefahren bin, war ich genau in dieser Lage. Ich war ideologiekritisch aufgekratzt, psychologisiert und moralisch erregt, wie es dem Geist der Zeit entsprach, ich war ein mehr oder weniger typischer Adept der älteren Frankfurter Schule und der Siebziger-Jahre-Alternativszene, ein Teilnehmer an dem depressiv-aggressiven Komplex, der damals als die Linke auftrat. Aber ich wußte, Rajneesh hat nicht vor, nach München zu kommen, und wenn ich herausfinden will, was es mit ihm auf sich hat, dann ist es an mir, mich zu bewegen. Die Frage, ob sechs- oder siebentausend Kilometer Anreise für ein paar lectures und einige Blickkontakte nicht zu weit sind, hat sich für mich keine Sekunde gestellt. Ich habe nie daran gezweifelt, daß Menschen sich dorthin auf den Weg machen müssen, wo die nächste Seite ihres Lebens geschrieben werden kann. Das ist der Sinn von Mobilität. Meine Reise wurde entscheidend, weil sie zur richtigen Zeit stattgefunden hat. In Indien ist ein neues Kapitel aufgeschlagen worden, ich habe eine radikale Umstimmung erlebt, ich habe Impulse aufgenommen, von denen ich bis auf den heutigen Tag lebe,
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besser gesagt: von den Metamorphosen dieser Impulse, denn die Anregungen von damals sind längst wieder anonym geworden, sie haben sich ein paarmal gedreht und sich in eine eigensinnige Richtung entwickelt. Eines ist sicher: In Indien war ich einer Einstrahlung ausgesetzt, die lange nachwirkte. Ohne die Alchemie, die dort vor sich gegangen ist, dieses Herausspringen aus der alteuropäischen Melancholie und aus dem deutschen Masotheorie-Kartell wäre meine Schriftstellerei in ihrer Anfangszeit nicht zu denken. Es gibt in ihr, besonders in den Büchern der achtziger Jahre, eine Art von Hintergrundstrahlung, ein Echo auf den vitalen Urknall, der damals passiert ist. Seither sende ich auf einer Frequenz, auf der die deutsche akademische Intelligenz nicht empfangt, auch die dominierende Publizistik nur zum Teil, wohl aber das breitere Publikum. Als die Kritik der zynischen Vernunft erschien, da wurde sichtbar, daß es möglich war, nach langer Zeit wieder andere, hellere Tonarten in die Philosophie zu bringen, ohne in Naivität zurückzufallen. Darum tobten seinerzeit viele der alten Genossen vor Zorn, besonders die Brüder und Schwestern vom Beschädigten Leben, die mir meinen Verrat an den Ordensregeln jahrelang nachtrugen, manche von ihnen grollen sogar bis heute. Sie konnten und wollten um nichts in der Welt zugeben, daß Aufklärung etwas mit dem Aufklaren der sozialen und individuellen Stimmung zu tun hat. Wie gesagt, das hätte alles ein Thema für eine romanhafte Darstellung sein können. Vielleicht wird es in zehn oder zwanzig Jahren wieder möglich, darüber zu schreiben. Dann könnten sich diese Substanzen in irgendwelchen vorbewußten Kellerabteilen so abgeklärt haben, daß sie wieder sprachfähig werden. Im Augenblick sieht es nicht danach aus. Das Beste, was ich a posteriori sagen konnte, habe ich vielleicht im Selbstversuch angedeutet, wo ich unter dem Eindruck von Carlos Oliveiras Fragen ein wenig zu plaudern angefangen habe. H.-J. H. Ich möchte zwei Begriffe aufgreifen, die Sie eben verwendet haben, Einstrahlung und Echo. Lassen Sie mich mit
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ihrer Hilfe die Vorstellung vom personalen Medium und vom »Es, das schreibt«, noch einmal näher kommentieren. LeviStrauss spricht gelegentlich davon, daß er sich wie eine Tür empfinde, durch die die Mythen der fremden Kulturen hindurchgehen. Somit wäre der Autor - und das findet man bei vielen Schriftstellern und Philosophen von Rang - ein Kanal, durch den, wenn er offen ist, die Gedanken fließen. Ich erinnere auch an eine Formulierung von Wittgenstein, der sagte: Man sollte Abschied nehmen von einer Formulierung wie »ich denke« und statt dessen sagen, »dies ist ein Gedanke«, und ich sehe zu, wie ich zu diesem Gedanken in Beziehung trete. Im Ernstfall wird man von dem Gedanken »ergriffen«. In einem Roman von Yoko Tawada fand ich die bezeichnende Formulierung: »Man lehrte mich in Deutschland, wenn man von sich selbst spricht, Ich zu sagen.« Das gibt einen Hinweis darauf, wie sehr dieses Ich eine kulturelle Konvention ist. Ich lese Ihr Buch als einen Versuch, Ihren Abschied von diesem konditionierten, lokal verengten und aggressiven Ich zu kommentieren. In dem Gespräch mit Carlos Oliveira gibt es eine Reihe von Formulierungen, ob von Ihnen oder von Ihrem Gesprächspartner, die diesen Grundgedanken bestätigen. Es bildet sich in Ihrem Dialog mit dem jungen spanischen Philosophen ein Raum heraus, in dem Formeln auftauchen konnten wie »nomadischer Zombie in der Ego-Gesellschaft« - das war eine Pointe von Oliveira, oder: »Designer-Individualismus«, eine Wendung, mit der Sie die jüngste Wendung der Alltagskultur charakterisieren. Mir scheint, man kann in solchen Formulierungen ein gewisses dekonstruktives Engagement wahrnehmen. Das regional fixierte Subjekt steht radikal in Frage: In dieser Einsicht spiegelt sich Ihre langjährige Auseinandersetzung mit den östlichen Traditionen. Auf der anderen Seite konvergiert dieser Befund mit Tendenzen der westlichen Theorie-Avantgarde zwischen Lacan und Luhmann. Vielleicht ist vor diesem Hintergrund Ihre für mich zunächst irritierende Bemerkung in Selbstversuch
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zu verstehen, Lacans Faszination sei für Sie erloschen. Die Äußerung wäre erstaunlich, wenn sie einen wirklichen Gegensatz oder gar einen Bruch mit Lacans Revision der Psychoanalyse ausdrücken wollte, denn in gewisser Hinsicht führen Sie Grundeinsichten Lacans auf einer philosophischen und kulturtheoretischen Ebene fort. Es zeigt sich hieran wohl nur, daß Namen von einem bestimmten Moment an unwichtig werden. In Ihrem Buch finden sich Formulierungen wie die von dem »möblierten Nichts«, in dem die Modernen sich aufhalten, oder von der »Nullpunkt-Situation« nach der Auflösung der Subjektillusion -Wendungen, die von der Lacan-Tradition mit angeregt sein könnten. P.S. Aus meiner Sicht ist die polemische Intention bei dem Vergleich zwischen Lacan und Rajneesh anders zu gewichten. Ich wollte meinen intellektuellen Freunden signalisieren, daß sie unrecht haben, immer nur den einen zu zitieren und den anderen zu ignorieren. Man weiß doch, wie das Spiel bei uns läuft: Ein Lacan-Zitat bringt intellektuelles Prestige ein, mit einem Rajneesh-Zitat macht man sich unmöglich. Nun muß ich zugeben, daß ich mich seit jeher eher für Möglichkeiten, sich unmöglich zu machen, interessiert habe. In dieser Hinsicht gibt es keine besseren Lehrer. Ich bin überzeugt, daß die beiden eng zusammengehören, weil sie eine ähnliche Arbeit in Angriff genommen haben, nur daß Rajneesh noch viel weiter gegangen ist als sein europäischer Kollege. Im übrigen hat man auch die Lacanianer als satanistische Sekte bezeichnet, um die Parallele zu komplettieren. Kurzum, ich sehe die beiden als Figuren an, die sich gegenseitig erläutern. Bei beiden gab es diese Synthese aus Psychoanalyse, Theatralität und spiritueller Provokation - zwei zukunftweisende Arten, sich unmöglich zu machen. Ich meine, wir sollten auch im Skandalösen ökumenischer denken. Wenn ich den indischen Meister auf Kosten des französischen mattre absolu herausgehoben habe, dann war dies ein Bekenntnis zu meiner Dankbarkeit, die gegenüber ihm, trotz unvermeidlicher Nachfragen und Abweichungen, inten-
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siver ist als gegenüber Lacan, von dem ich immer nur Leser war - obendrein ein Leser, der die Chance der Lektüre oft mit gemischten Gefühlen bezahlte, weil ich von manchen abstoßenden Komponenten in seinem Stil und Habitus nie ganz habe absehen können. Es gibt bei ihm einen Zug zur Verkalauerung des Unbewußten, der mir auch auf theoretischer Ebene problematisch erscheint. Daß wir uns nicht mißverstehen: Ich habe mein Exemplar der Ecrits im August 1969 in Paris gekauft. Ich hätte über Lacan fast nur Rühmendes zu sagen, aber wir leben nun einmal nicht in einer Kultur, die lobt. Außerdem lobt man einen Autor am besten dadurch, daß man anknüpft und weiterdenkt. Ich werde mich in meinem Buch Sphären I mit Lacans Theorie des Spiegelstadiums auseinandersetzen und dabei einen Vorschlag zu einer Neuformulierung dieses Theorems vortragen, die darauf hinausläuft, daß wir die Überbewertung des Imaginären, die für die Wiener Psychoanalyse und ihre französische Nachfolge typisch ist, einschränken und statt dessen die psycho-akustischen Grundverhaltnisse ausführlicher reflektieren. Ich möchte dazu anregen, ein Sirenenstadium an die Stelle des Spiegelstadiums zu setzen. Das Theorem vom Spiegelstadium ist zwar der berühmteste Punkt des Lacanschen CEuvres, aber zugleich der schwächste - deswegen sollte man, wenn möglich, den großen Impuls, den das Theorem enthält, konstruktiv umformulieren. Bei einem Lehrer, der als spiritueller Meister auftritt, ist die Anknüpfung in gewisser Hinsicht viel einfacher. Auch die Abwicklung des Mißtrauens gegen einen solchen Lehrer folgt einer offeneren Logik. Man sieht von Anfang an, daß man selber die Entscheidung trifft, ob man es für attraktiver hält, ihn zu entlarven und seiner Verführung zu widerstehen oder mit seinem Angebot zu arbeiten, Man übernimmt die Verantwortung für die eigene Interpretation - etwas, das westlichen Intellektuellen schwerfällt, die ihre Verdächtigungen habituell am Objekt festmachen. Trotz seiner Originalität und seines radikalen Nonkonformismus steht Rajneesh-Osho in einer
Alternative Geschichtsschreibung
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Tradition der metaphysischen Ego-Kritik, die im Osten seit Jahrtausenden besteht. Man muß nur an die buddhistische Anatman-Doktrin denken, an den Vedanta, an die unzähligen yogischen und tantrischen Schulen der älteren Zeit, an den islamisch-hinduistischen Synkretismus in der jüngeren nordindischen Mystik sowie an einflußreiche Gestalten der indischen Spiritualität in diesem Jahrhundert wie Yogananda, Meher Baba, Ramana, Aurobindo und Krishnamurti, um einige Namen zu nennen, die bis in den Westen gewirkt haben. Die ganze indische Kultur ist mit Non-Ego-Theorien vollgesogen, die gewissermaßen nur darauf warteten, von einem Genie neu kombiniert zu werden. Was also die bei uns seit ein paar Jahrzehnten so genannte Subversion des Subjekts angeht, hatten die Europäer zunächst einmal Rückstände aufzuholen.
Von der Notwendigkeit einer alternativen Revolutionsgeschichtsschreibung H.-J. H. Ich möchte diese Überlegungen nun auf einen anderen Aspekt verlagern, nämlich auf die Frage, ob in der modernen Welt überhaupt noch soziale und spirituelle Revolutionen möglich sind. In diesem Kontext könnte man Lacan neu lesen, etwa von seiner Formulierung her, daß das Ich die Geisteskrankheit des Westens ist. Das hat durchaus einen kulturrevolutionären Ton. Wenn man diese These ernst nimmt und einsieht, daß Lacan auf eine Art von Buddhismus hinaus will, dann erweisen sich vor allem seine frühen Schriften als ein bedeutsamer Schritt aus der idealistischen und subjektivistischen Tradition heraus. Es scheint, das alltägliche Ich mußte erst in seiner Selbstherrlichkeit zerstört werden, bevor sich ein befreiter Zugang zu einer nicht ich-bezogenen Funktionsweise des Seelischen umschreiben ließ. In diesem Kontext finde ich Ihren Begriff des Sirenenstadiums interessant, der mich an Michel Serres’ Neuinterpretation der Odyssee erinnert.
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Ich schlage vor, daß Sie Ihre Anregung präzisieren, die Philosophie wieder enger an das Abenteuer der politischen und mehr noch der technischen Revolutionen zu binden. Es ist, sagen Sie, Ihre Ambition, so etwas wie eine nach-marxistische Revolutionstheorie zu erarbeiten. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem Weltform-Umbruch, der sich in unserer Zeit vollzieht. Die Frage bleibt: Ist Revolution, so wie Sie sie interpretieren, überhaupt noch das, was man in der politischen und ästhetischen Tradition der Moderne unter diesem Begriff verstanden hat? Eines Ihrer früheren Bücher trägt den Titel Weltrevolution der Seele, ein umfangreiches, zweibändiges Lese- und Arbeitsbuch zur Gnosis, das 1991 erschien, mit Einleitungsessays von Thomas Macho und Ihnen, in denen Sie, wahrscheinlich zur Überraschung Ihrer bisherigen Leserschaft, mit einer weitgespannten religionsphilosophischen These auftraten. Sie erklären in diesem Text, an Thesen des jungen Hans Jonas anknüpfend, daß die metaphysische Revolution der Gnosis und des frühen Christentums zu einer Art von Ausbruch aus dem antiken Weltgefängnis führt, und zeigen, wie diese Sprengung ideengeschichtlich weiterwirkte. Sie ziehen die Linien durch bis in die moderne messianische Linke und die zeitgenössischen Alternativkulturen. Wie steht es nach diesen Begriffsausweitungen mit dem Zusammenhang zwischen den politischen, den kulturellen, den ästhetischen, den ökologischen Revolutionen.? Soll man in diesen Phänomenen nur Partialansichten eines umfassenderen revolutionären Geschehens erkennen? P. S. Zunächst einmal ist es nötig, sich zu vergegenwärtigen, wie es kam, daß der Begriff der Revolution in seiner modern politischen und sozioökonomischen Bestimmung so eng gefaßt werden konnte. Wir dürfen hier die astronomische Vorgeschichte des Begriffs revolutio als Gestirnsumlauf beiseite lassen. Seit der Französischen Revolution verstehen wir unter Revolution einen Umsturz der Machtverhältnisse in der Gesellschaft zugunsten einer aufrückenden Mittelschicht, die sich
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stark genug fühlt, nach einer gewaltsamen Entfernung der alten Herren selbst die Macht zu kontrollieren. Diese numerisch relativ kleine Mittelschicht arbeitet zunächst mit einer charakteristischen rhetorischen Strategie: Sie tritt unmittelbar und ohne Umschweife als die Menschheit auf und gibt sich als der Teil, der das Ganze ist. Auf diese Weise verkörpert sie das real existierende Paradox einer »universalen Partei«. Hier hat die klassische Ideologiekritik ansetzen müssen, mit den Argumenten, die man sich bei einer solchen Sachlage leicht vorstellen kann. Man wird Anstoß nehmen an der Pseudouniversalität der Bourgeoisie ebenso wie an der Pseudoinklusivität der bürgerlichen Gesellschaft. Solange die Spannung zwischen einer inklusiven Rhetorik und einer exklusiven Politik fortbesteht, zieht sich die revolutionäre Uhr immer wieder von selber auf. Die politische Urszene - der Eintritt der bisher Ohnmächtigen und Ausgeschlossenen in Machtpositionen und Mittelstellungen - wird seither mit allen möglichen Akteuren ständig von neuem nachgespielt. Das heißt, daß alle Gruppen und Klassen der Gesellschaft darauf aus sein müssen, Mittelschicht zu werden. Folglich wird die durchrevolutionierte Gesellschaft nur noch aus Mitte bestehen. Umgekehrt gilt, wo es nur noch Mitte gibt, ist die Zeit der Revolutionen, und in diesem Sinn vielleicht sogar die politische Geschichte überhaupt, vorbei. Die Mitte ist der Ort ohne Transzendenz. Alle streben zu einem Ort, von wo aus es nicht weitergeht. Der geistreichste christliche Revolutionstheoretiker, Eugen Rosenstock-Huessy, hat schon um 1930 die Serie der europäischen Revolutionen - unter äußerst idealistischen, genauer teleologischen Vorzeichen - als eine Prozession in die Mitte interpretiert. In der befreiten Gesellschaft, sagt er, werden alle Gruppen oder »Stände«, vom Hochadel bis zum Proletariat, ihren politisch starken Augenblick gehabt und die Freiheitsgeschichte weitergeschrieben haben. Erst nachdem also alle »Stände« und Kollektive in der öffentlichen Arena aufgetreten sind, wenn alle gekämpft und ihre Sache geltend gemacht
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haben, wenn alle sich im erfolgreichen Aufstand selbst konstituiert haben und den Stolz kennen werden, ein kompetenter Akteur und ein politisches Subjekt geworden zu sein, wenn also alle Klassen und Gruppen die Passion des Auftretens und Selbst-Werdens auf der politischen Bühne konkret erfahren hätten, erst dann, und keinen Augenblick früher, könnte der Zyklus der Revolutionen zu seinem Ende gelangt sein, Nun dachte Rosenstock tatsächlich, daß mit der russischen, der angeblich proletarischen und damit letzten Revolution, die eigentliche pneumatische Weltgeschichte an der Basis angekommen sei und daß das Reich Gottes unter den Menschen dabei sei, sich zu vollenden - zwar im atheistischen Incognito, aber immerhin. Man darf diese Konstruktion ruhig für das nehmen, was sie ist, ein höheres Märchen, wie Theologen es früher gern erzählt haben. Aber selbst wenn es die Wahrheit wäre: Gerade Theologen könnten ahnen, daß es mit den menschengemachten Revolutionen eine eigene Bewandtnis haben wird. Im Revolutionsbegriff selbst schwingt ja eine Obertonreihe mit, die auf die religiöse Tradition zurückverweist. Schauen wir näher hin, so entdecken wir, daß die Grammatik des Begriffs Revolution eine Familienähnlichkeit mit dem Begriff der Konversion aufweist - insbesondere in der Bestimmung, die Augustinus dem Ausdruck gegeben hat. Konversion, radikal verstanden, ist etwas, was die Menschen nicht von sich aus vollziehen können, sondern etwas, was ihnen allein durch die Gnade zustößt. So will es zumindest die Orthodoxie. Demnach ist Konversion ein Terminus, der nicht in eine Grammatik des Handelns paßt. Sie müßte vielmehr als »Ereignis« gedacht werden. Zieht man nun die Analogie zum Phänomen Revolution, dann wäre auch diese etwas, was Menschen nicht aus eigenen Stücken machen können, wie die Modernen glauben möchten, sondern müßte etwas sein, das mit den Menschen geschieht. Der ontologische Revolutionär Heidegger hat das in seinem Begriff der Kehre angedeutet und sich vom Konzept der gemachten und zu ma-
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chenden Revolution zunehmend entfernt - zumal nach seinen üblen Erfahrungen mit der »nationalen Revolution« von 17 3 3, von der ergriffen zu sein er vorgegeben hatte. Wenn es darum geht, große Umwendungen zu deuten, nach denen sich der Sinn von Sein im ganzen neu darstellt, dann braucht man ein Konzept von Bewegung, das mächtiger ist als der konventionelle moderne Revolutionsbegriff Ich sehe in dem Ausdruck Kehre die Modernisierung des augustinischen KonversionsGedankens in Verbindung mit einer Aktualisierung des platonischen Motivs der Umdrehung, das wir aus dem Höhlengleichnis kennen. Mit dem erweiterten Begriff von Revolution als Umdrehung, Weltwende, Konvertierung aller Texte kommen wir nolens volens auf augustinisches Terrain und eo ipso in die heiße Zone der christlichen Geschichtstheologie. Sie ist als Korrektiv gegen die Naivitäten der schlicht modernen Auffassungen vom revolutionären Handeln noch immer nützlich, auch wenn sie im übrigen für Menschen, die von dieser Welt sein wollen, unannehmbar ist. Nach der Auffassung des Augustinus ist das Revolutionsgeschehen durch die Menschwerdung Gottes in Gang gesetzt worden. Die Revolution Gottes läge dann freilich für uns zweitausend Jahre zurück - in ihr hätte der radikal transzendente Gott beschlossen, sich mehr als bisher auf die Welt einzulassen.Vor diesem Hintergrund erscheint die Weltgeschichte als die Geschichte der Konterrevolutionen des Menschen gegen die Revolution Gottes. Ein analoger Sachverhalt ließe sich im Blick auf den Osten konstatieren: Dort wäre Geschichte die Konterrevolution der seinsverhafteten Menschen gegen die Revolution des Nichts, die der Buddhismus vollzogen hat. Wenn ich heute dazu neige, den Revolutionsbegriff so weit zu fassen, dann wohl auch deswegen, weil ich durch religionsgeschichtliche Studien im Lauf des letzten Jahrzehnts dazu verleitet worden bin, mit einem sehr extensiven Gegenwartsbegriff zu operieren. Ich empfinde Autoren, die erst zweitausend Jahre alt sind, noch wie Zeitgenossen - und Zeit-
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genosse ist jemand, der keine Zeit hatte, eine Autorität zu werden. Aus dieser Optik folgt, daß man die größten geschichtlichen Namen wie die von Kollegen und nicht von Autoritäten behandelt. Das ist sicher eine berufliche Deformation des historischen Bewußtseins, aber ich kann nicht mehr anders. Wenn man sich erst einmal durch Religionsgeschichte, Ethnologie und andere kulturhistorische Disziplinen an ein Denken in großen Zeiträumen gewöhnt hat, dann erscheint einem ein Begriff von Revolution sehr kurzatmig, der solche Umbrüche in der Ökologie des Geistes, wie es das Aufkommen der Hochreligionen gewesen ist, nicht umfaßt. Daher mache ich in Selbstversuch den Vorschlag, eine veränderte Revolutionsgeschichtsschreibung zu beginnen und mit der metakosmischen Revolution der Denkungsart in der Achsenzeit einzusetzen. Es kommt darauf an zu zeigen, wie Menschen den Respekt vor dem Sein verloren haben - und wie sie das Wünschen gelernt haben, das in die Technik führt. Man könnte im übrigen noch weiter gehen und Technik schlechthin als Aufstand gegen die Natur definieren - wobei Technik ein Geschehen bezeichnet, das bis in sehr alte Evolutionsstufen zurückreicht. Aber für den Augenblick genügt es, bei dem metakosmischen Einschnitt, das heißt beim Aufkommen des idealistischen Dualismus und beim Protest der Apokalyptik gegen die bestehende Welt, Halt zu machen. Die Gnosis-Studien, die Thomas Macho und ich anfangs der neunziger Jahre veröffentlicht haben, gehören in diesen Kontext. Darum haben wir unser Buch unter dem anzüglichen Titel Weltrevolution der Seele publiziert. Darin ist so etwas wie eine metaphysische Deduktion des »Prinzips links« enthalten - ironischerweise auch eine Urgeschichte der Frankfurter Schule, eine feine, verwikkelte Linie, die von Alexandria ins Institut für Sozialforschung und den Hörsaal VI der Johann Wolfgang Goethe-Universität führt. Ich brauche nicht zu erklären, warum die Begeisterung der Betroffenen wie der konventionellen Linken im allgemeinen über diese Zuordnungen sehr verhalten ausgefallen ist.
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Lob der Übertreibung H.-J. H. Sie sprechen in Ihrem Buch Selbstversuch davon, daß sich die Revolution auch als Wiederholung der eigenen Geburt auf einer anderen Bühne vollziehen könne. Zudem erinnern Sie an den platonischen Seelen-Umschwung, durch den die Menschen sich »entirren«. Das scheinen schwere, unhandliche Begriffe mit einem großen therapeutischen und ideengeschichtlichen Tiefgang zu sein. Zugleich habe ich wie viele Leser Ihrer Schriften den Eindruck, daß in Ihrer Schreibweise eine ironische Gebrochenheit vorherrscht und eine satirische Spitze, stellenweise sogar ein gewisser Zynismus. Gibt es nicht doch auch so etwas wie ein Pathos oder einen hintergründigen Idealismus bei Ihnen? Haben Sie also eine verdeckte Vision, die Sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht ungeschützt exponieren mögen? P. S. Dazu möchte ich zwei Dinge sagen. Erstens: Ich habe ein Pathos, einen gewissen Sinn für die Kantilene, auch mitten im Argument. In den meisten meiner Bücher ist eine Belcantostelle zu finden, hier und da auch eine lyrische Insel und ein langsamer Satz, wenn ich so sagen darf. Zweitens: Ich gehe mit Pathosmitteln sparsam um. Schon mit den wenigen Lyrismen, die ich mir erlaubt habe, habe ich eher schlechte Erfahrungen gemacht. Es gibt in unserem Land einen Habitus, sich auf ungeschützte Stellen zu stürzen und ihren Autor für blamiert zu halten. Oft meint man, ein Autor sei widerlegt, wenn man ihn bei zu schönen Formulierungen überrascht. Ich selber prüfe die Zulässigkeit von Pathoswendungen aus dem Kontext. Wenn er stimmig ist, gebe ich nach, allerdings nur zu Bedingungen, die literarisch überschaubar bleiben. Ich gehe nie so weit wie Ernst Bloch, der als Pathosmeister der deutschen Philosophie im 20. Jahrhundert allein dasteht. Hohe Töne in der philosophischen Prosa sind ein Kunstmittel, um Existenz in großen Kontexten sprachlich zu markieren, das hat
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mit messianischen Aufwallungen und universalistischen Anmaßungen nichts zu tun. Im übrigen tut die Ironie das Ihre, um die schweren unhandlichen Begriffe in Fluß zu halten. Was nun die sogenannte visionäre Komponente der philosophischen Arbeit anbelangt, so steht diese auf einem ganz anderen Blatt. Ich bin kein Idealist, aber noch weniger ein Zyniker, allenfalls ad hoc. Diesen beiden Fallen entgehe ich durch eine einfache Überlegung. Ich definiere den Philosophen als jemanden, der wehrlos ist gegen Einsichten in große Zusammenhänge. Das genügt völlig, um Idealismus zu ersetzen. Mir scheint, daß bekennende Idealisten, Neoplatoniker oder Denker des angestrengt holistischen Typs allesamt von der Illusion befallen sind, sie müßten zu den Problemen, die ihnen zu denken geben, noch einen Zusatz an eigener Aufgeregtheit oder gutem Willen hinzufügen. Diese Illusion oder besser diese Vornehmtuerei des Denkens kommt mir seltsam vor, mir fehlen die Mittel, dergleichen wirklich zu verstehen. Ich neige eher zu der Auffassung, daß Menschen Wesen sind, die, sobald sie zu denken anfangen, eine Art Geiselnahme durch große Themen erleiden. Sobald wir unser Gehirn öffnen, erleben wir, daß wir Geiseln von Problemen geworden sind, die uns irgendwohin verschleppen. Nietzsche hat in einem Brief an Overbeck sinngemäß geschrieben, es sei sein Schicksal, an ein Rad von Problemen gebunden zu sein, Ich denke, das ist eine deutliche Formulierung. Da stellt sich die Frage, wie wir mit den Problemen, die uns kidnappen, umgehen. Ich finde, es ist eine Überforderung, wenn man seine Entführer auch noch lieben soll. Wenn ich mich darauf einlasse, über politische Philosophie für die postimperiale Weltform zu diskutieren oder eine neue Version von historischer Anthropologie zu entwickeln, dann fühle ich mich ohnehin wie von Aliens entführt. Es wäre zuviel verlangt, auch noch so zu tun, als wäre man erfreut, solche Probleme zu haben. Philosophie heute ist die Kunst, unmittelbar zum Überkomplexen zu sein. Das ist eine athletische Aufgabe, die ein
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einigermaßen belastbares Gemüt voraussetzt. Dafür ist es nicht notwendig, zusätzlich als Visionär aufzutreten und eine Extraportion Idealismus zu bestellen, Verfügbarkeit für große Fragen ist schon genug. In meinen Augen reicht es vollauf, wenn ein Mensch sich in der Wehrlosigkeit gegenüber den großen Themen einigermaßen anständig verhält, indem er seinen Beitrag zur Entidiotisierung des eigenen Ich leistet. Die Probleme, die uns heute entführen und mitnehmen, sind, wie gesagt, sehr großräumig, zudringlich, beängstigend und komplex. Es geht dabei darum, daß Menschen aus ihrer kleinräumigen Wunsch- und Phantasiestruktur, aus ihrer regionalen und nationalen Identitätsverfassung herausgebrochen werden - ob sie wollen oder nicht. Die Seelenformen des Bürgertums und Kleinbürgertums in der Ersten Welt werden aktuell umformatiert. Wir werden umgeprägt von einem humanistischnationalistischen Welthorizont auf einen ökologisch-globalen. Wir stecken in Bildungsprozessen, die uns verwickeln in die Synchronwelt des Kapitals, des globalen Waren- und Informationenverkehrs, also in das, was man die Weltwirtschaft nennt. Nicht weil wir Idealisten wären, sondern weil wir Realisten werden wollen, suchen wir nach Formen von Denken und Verhalten, die uns in der aktuellen Globalwelt zur Verkehrsfähigkeit verhelfen. Es gibt hierfür eine antike Analogie: Ganz ähnlich hat Platon mit der Gründung der Akademie rechtzeitig den Bedarf an einem neuen Menschentypus erkannt, der in der Großwelt der sich ankündigenden hellenistischen Kultur verkehrsfähig werden sollte. Sein Idealismus war ein pädagogischer Realismus. Gut eine Generation nach der Gründung der Akademie war durch den Aufstieg des mazedonischen Reiches die Konjunktur voll entwickelt. Der Ernstfall für die megalopsychische Persönlichkeitsstruktur war eingetreten. Natürlich erschienen auf dem Erziehungsmarkt dann auch gleich die konkurrierenden Anbieter, die Peripatetiker, die Skeptiker, die Stoiker, die Epikuräer. Wir wissen, daß es nicht die Platoniker waren, die
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sich auf dem antiken Markt der Persönlichkeitsbildung durchgesetzt haben, sondern die Stoiker. Im antiken Ideenwettbewerb wurden Trainingsprogramme für Seelenformen lanciert, die im neuen ökumenisch-imperialen Horizont verwendbar und belastbar werden sollten. Man darf nicht vergessen, daß die antike Philosophie ein mentales work-out war - Pierre Hadot hat das überzeugend aufgezeigt, Die logischen Formen dienten in ihr als Übungsgeräte. Wir erleben heute, daß die soziale Evolution uns wieder eine solche Größerformatierung abverlangt - eine neue Bemühung um Verkehrsfähigkeit mit allen möglichen koexistierenden Kräften in einem globalisierten Großraum. Die Philosophie ist heute ein super-work-out für die kommunikativen Energien, die weltweit Anschlüsse finden. Darin steckt schon ein so anspruchsvolles pragmatisches Programm, daß ich für Idealismus keine Verwendung sehe. H.-J. H. Ich möchte bei den drei Ausdrucken Vision, Pathos, Erkenntnis doch noch einmal nachfassen. Zunächst das Visionäre. Vielleicht müssen wir visionär denken, wenn wir überhaupt denken wollen. Ich habe etwa die buddhistische Ethik im Blick mit ihrer Aufforderung, sich immer an einer besseren Welt zu orientieren, selbst wenn man in einer verdorbenen Umwelt lebt. Eine ähnliche Anmerkung möchte ich bezüglich Ihrer Einstellung zum Pathos machen. Ist ein Denken, das authentisch zu sein versucht, nicht immer notwendigerweise pathetisch? Ist nicht das Pathos eine Erkenntnisqualität? Ist es vielleicht nur in unserem akademischen Betrieb, in unserer Kulturindustrie, zu einem Symptom von Irrationalität oder Naivität degeneriert.? Nehmen Sie einen Schriftsteller wie Hans Henny Jahnn, dessen Literatur ohne das Pathos nicht denkbar wäre. Oder erinnern Sie sich an das, was Roland Barthes über Jules Michelet gesagt hat: daß die von ihm inaugurierte Geschichtsschreibung einen »Exzeß der Wörter« biete. Denken Sie an das, was Ranciere in einer jüngeren Arbeit die »Poetik des Wissens« nennt: Muß man dann nicht von der Einsicht ausgehen, daß ein Denken, das überhaupt noch welthaltig
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sein will, per se eine Übersteigerung vollzieht? - eine Übersteigerung ins Visionäre oder ins Pathetische oder ins Poetische. Ist also nicht das Denken als solches immer schon trans-, transrational, transsubjektiv, transroutiniert, in welcher Richtung auch immer? P.S. Nun, in diesem Sinne bin ich als Pathetiker überführt. Meine ganze Arbeit bewegt sich in solchen Trans-Dimensionen, sie wandert ständig zwischen den Fächern, den Sprachen, den Aspekten. Man könnte das als literarische Materialisierung eines erweiterten Aufklärungsbegriffs verstehen. Außerdem gibt es in vielen meiner Texte wohl diesen erwähnten existentialistischen Faktor, beinahe hätte ich jetzt die alte 68er-Formel von der »Wissenschaft in der ersten Person« benutzt. Aber der Ausdruck ist falsch, weil es nicht angeht, für die Ich-Form die erste Stelle zu fordern. Ich bin beeindruckt durch die Kritik, die Eugen Rosenstock-Huessy an der alexandrinischen Schulgrammatik geübt hat, die der Ich-Fom des Verbums die Stelle der »ersten Person« in der Konjugationsreihe zusprach - ein Brauch, der sich bis heute behauptet hat. Rosenstock-Huessy hält das für den Sündenfall der Linguistik schlechthin, und auch für den der Philosophie, weil die wahre und wirkliche »erste Person« des Verbums natürlich der Appellativ ist, die Anredeform. Alles andere kann erst auf diese folgen. Ein nichtverrücktes Ich entsteht nur, wenn ihm jemand zuvorgekommen ist, der in der richtigen Weise Du zu ihm sagte. Insofern ist jede Form von Denken, die dieses Gezeichnetsein durch etwas Vorausgehendes, Zuvorkommendes, Ernennendes anerkennt, ein pathetisches. Unter diesem Blickwinkel bin ich mit der Verteidigung des Pathos völlig einverstanden. Doch was Sie mit dem Begriff »Übersteigerung« andeuten, scheint mir noch wichtiger zu sein. Der Ausdruck gefällt mir, weil er die Transzendenz auf die Übertreibung zurückführt. Er signalisiert, daß die Rhetorik ihre Rechte gegenüber der Philosophie wiederherstellt. Vor allem widerspricht er dem biologischen Positivismus, der alle Kultur- und Lebensphänomene
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immer nur unter dem Gesichtspunkt von Anpassung beschreibt. Der Affe paßt sich an die Savanne an, der Künstler paßt sich dem Publikumsgeschmack an, die Orthographie paßt sich dem Sprachgebrauch an. Und wenn all diese Anpassungsdiskurse nur Produkte einer optischen Täuschung wären Projektionen des Lebensgefühls von Angestellten auf die Evolution? Die Wahrheit ist doch viel eher, daß Leben von Grund auf Überreaktion ist, eine Expedition ins Unverhältnismäßige, eine Orgie an Eigensinn. Der Mensch ist das Überreaktionstier par excellence. Kunst schaffen heißt überreagieren, denken heißt überreagieren, heiraten heißt überreagieren. Alle entscheidenden menschlichen Tätigkeiten sind Übertreibungen. Schon der aufrechte Gang war eine Hyperbel, die sich nie ganz in biologische Vorteile aufrechnen ließ. Da ist von vorneherein ein Zug ins Verruckte, Überhöhte im Spiel. Jedes Menschenwort ist ein Schuß ins Offene. Das haben die älteren Anthropologien noch viel klarer im Auge gehabt und aus Einsicht in die Allgegenwart des Übertriebenen im menschlichen Verhalten das Maß und die Zurückhaltung gepredigt. Man muß so verkorkste Konzepte wie »kommunikative Kompetenz« ersetzen durch eine Theorie der anschlußfähigen Übertreibungen. Im übrigen ist Ironie eine Überreaktion auf die Dauerbelästigung durch Tatsachenbehauptungen. Erst auf diesem Niveau könnte die Rede von Kommunikation vielleicht wieder aufregend werden. Ich habe in meinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen Zur Welt kommen - Z u r Sprache kommen - das war im Jahr 1988 - das Bild vom »tätowierten Autor« verwendet. Ich habe gesagt, ein Autor ist eine verrückte Silbe, ein Wortstück, das nach Mit-Silben sucht, um Platz in einer Sinnkette zu finden. Daraus ergibt sich wie von selbst, daß man subjektzentrierte Strategien aufgeben muß, wenn man nicht einsilbig und autistisch bleiben will.
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Von Europa und seinem Trauer-Monopol H.-J. H. Gestatten Sie mir eine Ausweitung unserer Überlegungen ins politische Gebiet. Mein Stichwort lautet hier »Europa«. Sie zitieren Albert Camus, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemerkte: »Das Geheimnis Europas ist, daß es das Leben nicht mehr liebt.« Vielleicht, so heißt es bei Ihnen, finden manche Europäer von heute in den Kommentaren des indischen Mystikers Osho zu Nietzsches Also sprach Zarathustra Anregungen für eine neue »Religion der Liebe zum Leben«. Ich frage mich: Wie hätte man sich das vorzustellen, eine neue Religion der Liebe zum Leben? P.S. Habe ich das wirklich gesagt? Dann wollen wir hoffen, daß es einen tieferen Sinn hat. Nimmt man die Formulierung zum Nennwert, ist sie tautologisch. »Liebe zum Leben« genügt in jeder Hinsicht, der Zusatz »Religion« ist überflüssig. Die Formulierung ist ein indirektes Zitat, wie Sie wissen, ich spiele auf den Untertitel von Hans Peter Duerrs Sedna an - ein Buch, das eine kulturphilosophische Abrechnung mit dem metaphysischen Pessimismus enthält, eine bedeutende Arbeit. Offen gesprochen, »Religion der Liebe zum Leben« kann nur ein Reklamespruch sein. Warum habe ich davon geredet? Sinnvoll wird eine solche Wendung vielleicht unter der Prämisse, daß Religionen wie Theorien und Kunstwerke im Lauf des 20. Jahrhunderts Handelsgüter und Dienstleistungen geworden sind und sich als solche auf allgemeine Marktbedingungen einlassen müssen. Man muß Theologien mit Verlagsprogrammen vergleichen. Die Einsichten Adornos über den Einfluß der Warenform auf das Kunstwerk treffen, wenn man näher hinsieht, auch auf die Religion zu und ebenso auf den Moralismus: Alle diese hehren Geistesphänomene existieren heute wie seit jeher in erster Linie als Betriebe, es fragt sich nur, ob als Monopolbetriebe oder als Wettbewerbsbetriebe, als Monopolprodukte oder als konkurrierende Produkte. Es ist vor allem die
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Entdeckung der Konkurrenz, die in diesen Dingen noch immer schockierend wirkt. Wir haben das ganze 20. Jahrhundert gebraucht, um uns an den Gedanken zu gewöhnen, daß diese bisher für transzendent und autonom gehaltenen Sphären bis ins Innerste durchdrungen sind von dem, was Karl Mannheim seinerzeit subversiv den »Einfluß der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen« genannt hat. Die aktuellen Medienanalysen machen klar, daß man den Moralmarkt und Weltbildermarkt genauso kühl untersuchen muß, wie man es beim Kunstmarkt schon seit längerem tut. Auch bei den Religionen in der Moderne hat man es mit Produkten zu tun, die sich bei den Klienten bewähren müssen. Nun sind Religionen, solange sie dominieren, es nicht gewohnt, sich als Dienstleistungen zu präsentieren. Sie tun sich schwer damit, Angebote zu machen, die mit anderen verglichen werden können. Sie begründen sich von oben und nicht von Bedürfnissen her, in diesem Punkt sind sie wie Suhrkampbücher. Aber wo die Bewährungsprobe auf dem Markt explizit verweigert wird, ist das ein Indiz dafür, daß sich ein träger Monopolist um die Leistungs- und Attraktivitätsbewertung durch nicht von ihm unterworfene Instanzen herumschwindeln möchte. Der Satz von Camus gibt einen Hinweis auf diese Zusammenhänge: Was heißt das denn - »das Geheimnis Europas ist, daß es das Leben nicht mehr liebt«? Zunächst ist dieser Ausspruch nichts anderes als die Paraphrase eines zorniges Worts von Georges Clemenceau über den deutschen Charakter, der angeblich das Leben nicht liebt. Der kriegerische Franzose hatte sein Staunen über die deutsche Kultur und Unkultur in diesem Satz zusammengefaßt und somit die unheimlichen Nachbarn moralisch an den Rand der Menschheitsfamilie verbannt. Er hat die Deutschen gleichsam auf einer völkerpsychologischen Ebene zu Feinden des Menschengeschlechts erklärt. Indem Camus das Wort Clemenceaus auf die Europäer insgesamt bezog, gab er zu verstehen, daß sich der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland in diesem Punkt nicht länger auf-
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rechterhalten läßt. Darum ist die These von Camus in meinen Augen ein Schlüsselwort der Nachkriegszeit, sie vollzieht die deutsch-französische Versöhnung in einer gemeinsamen Verdüsterung. Sie resümiert eine Epoche, in der sich die Europäer im Namen von anmaßenden Abstraktionen gegenseitig zerfleischt hatten. Aber Camus spricht nicht nur von diesem »Zeitalter der Extreme«, als welches man das 20. Jahrhundert bezeichnet hat. Er hat ein europäisches Kontinuum im Auge, das viel weiter zurückreicht. Er stellt fest, daß die Europäer die Freude aus der Welt vertrieben und auf irgendein nebelhaftes Danach, ein Jenseits oder eine Endzeit, vertagt haben. Dieses Zitat, das ich häufiger anführe, weil es übertrieben genug ist, um wahr zu sein, nimmt eine von Nietzsche formulierte Einsicht auf. Nach dessen Diagnose haben die europäischen Christen durch eine tausendjährige Praxis des Lebensaufschubs die Fähigkeit verloren, die Welt und das Dasein in ihr umfassend zu bejahen. Sie sind infolgedessen - immer noch in Nietzsches Terminologie gesprochen - decddents oder, wie man nationalökonomisch sagen würde, Monopolisten. De’cadence man sollte das nicht vergessen - ist nur ein anderes Wort für Lebensbedingungen unter einem schützenden Monopol. Der typische dekadent ist auf Subventionen angewiesen und lebt in einer wettbewerbsfreien Nische. Denn für das Gute gibt es keinen Ersatz, nicht wahr? Das heißt, es gibt keine Vergleichsmöglichkeit. Ohne Zweifel war es Nietzsches entscheidende Intuition, daß er zuerst bei Platon, dann bei Paulus, bei der katholischen Kirche und weiter bei Aufklärern einer bewußten Art diesen bequemen Rückzug auf das konkurrenzlos Gute gewittert hat. Er hat den Moralwahnsinn durchschaut, der zu einer Besessenheit durch das bloße Gute führt und davon träumt, man könne für dieses ein Monopol einführen und die im Realen wie im Logischen unüberwindliche Bipolarität von Gut und Böse eben doch nach einer Seite auflösen. Im Grunde ist die ganze europäische Metaphysik ein Monopolisten-Delirium
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gewesen. Die moralisierenden Metaphysiker sind in Nietzsches Augen wie Schiffbrüchige, die glauben, dem Meer Bedingungen stellen zu dürfen. Mehr noch, sie beschließen, während sie untergehen, das Meer trockenzulegen, Klassisch ausgedrückt ist dieses Motiv in der Johannesapokalypse, wo es an einer entscheidenden Stelle heißt, daß nach der Wiederkunft des Messias auch das Meer nicht mehr sein werde. Die moraldämonische, vom Guten besessene Haltung kommt mit dem antiken Idealismus und Prophetismus auf und lebt in christlichen Mutationen weiter, sie setzt sich fort bei den modernen Philanthropen, bei den Sozialdemokraten des 19. Jahrhunderts, bei der deutschen Reichspost, beim Roten Kreuz, bei der sowjetischen Psychiatrie, in der jüngeren Kritischen Theorie, mit einem Wort bei all denen, die von ihrem eigenen Gut-und-vernünftig-Sein auf ihre Monopolberechtigung schließen. Man könnte also sagen, daß Nietzsches Leistung in der Wiedereinführung des Wettbewerbsgedankens in die Kultur liegt und eo ipso in der Wiederherstellung der Einsicht in den polarischen Charakter von Gut und Böse, man könnte auch sagen in die Mehrwertigkeit der moralischen Sachverhalte. Dieser Impuls läßt sich in die Frage fassen: Wie kommen die Europäer zu einem fünften Evangelium? Nietzsche hat in einem Brief an seinen Verleger sein Werk Also sprach Zarathustra mit diesem eher ungewöhnlichen Ausdruck beschrieben. Aber was in aller Welt ist ein fünftes »Evangelium«? Nach meiner Meinung wird man dieser Formulierung gerecht, wenn man sie als Auftakt zu einer Epoche der Evangelienwettbewerbe liest: Was künftig als gute Botschaft gelten darf, kann nur noch agonal, im Wettstreit zwischen guten Botschaften, ermittelt werden. Vergessen wir nicht, alle Gesellschaften klimatisieren sich selbst durch Kommunikationen über ihre Hoffnungen und Verheißungen - aber erst für die moderne Welt gilt explizit, daß keine Monokultur der guten Botschaft mehr akzeptabel sein kann, weder christlich, noch völkisch, weder sozialistisch, noch liberalkapitali-
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stisch. Wenn die Vier die Zahl des Monopolisten war, dann ist die Fünf die Zahl des freien Geistes, genauer: des Unternehmers der eigenen Überzeugung, des Künstlers. Damit ist die Initiative des Zarathstra definiert: Nietzsche wirbt für einen Menschentypus, der auch in Sinn-Angelegenheiten an eine frühgriechische Grundhaltung anknüpft - an den Wettbewerb, die agonale Gesinnung, die Freude am Kräftemessen. Er feiert die Differenz, die sich offen zeigt, er praktiziert die Großzügigkeit, die in der freimütigen Selbstmitteilung liegt. Man darf sich nicht davon beirren lassen, daß bei Nietzsche die Reklame noch Verkündigung heißt.Vielmehr kann man bei ihm rückwirkend lernen, daß die sogenannte Verkündigung nichts anderes war als die Reklame des Monopolisten. H.-J. H. Das klingt so, als wollten Sie sagen, daß nur der Wettbewerb der Lebensformen das ist, was uns Europäer kulturell verjüngen könnte. P.S. Jedenfalls bricht er das depressive Kartell auf. Zahllose Europäer sind 1914 in einen Maelstrom hineingerissen worden, aus dem sie, wenn man sich’s recht überlegt, erst heute, am Ende des Jahrhunderts, wieder anfangen aufzutauchen. Die Ereignissequenzen von 1914-1918 und von 1939-1945 bezeichnet man als den Ersten und Zweiten Weltkrieg, als wären die Zahlen eins und zwei Behälter, in denen kategorial verschiedene Ereignismengen aufbewahrt werden. In Wahrheit bilden beide eine zusammenhängende Sequenz, einen einunddreißigjährigen Krieg, dessen Kernschatten bis 1990 reicht. Diese kommunizierenden Röhren der Gewalt, des Wahnsinns, des Rachebedürfnisses und des Traumas durchziehen das Jahrhundert bis an sein Ende. Sie übergreifen mehrere Generationen und erzeugen komplizierte psychische Erbgänge. Man muß berücksichtigen, daß in sozialpsychologischer Sicht Nachkriegszeiten länger dauern als die Kriege selbst. Das 20. Jahrhundert ist ein kurzes Jahrhundert genannt worden, das »inhaltlich« von 1917 bis 1991 dauert, so lange wie das sowjetische Experiment. Das ist nicht schlecht gesehen. Doch auch in einem kurzen Jahrhun-
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dert altern die Menschen überdurchschnittlich, wenn sie, wie die Europäer, speziell die Deutschen und mehr noch die Osteuropäer, allen voran die Russen, eine Folge von vier verlorenen Generationen durchlebt haben. H.-J. H. Haben Sie selber eine Alternative gefunden? Gibt es ein Mittel gegen die Vergreisung? P. S. Auf Privatrezept, vielleicht. Ich bin 1947 geboren, ein typisches Nachkriegsgewächs. Ich habe die Nachkriegsluft in unserem Land geatmet bis zu dem Zeitpunkt, wo ich das Glück hatte, durch erste Reisen andere Atmosphären zu entdecken. Es sind nicht andere Länder, die man durch Reisen kennenlernt, sondern andere Freiheitszustände. In den sechziger Jahren fing das mit der italienischen Freiheit an, dann kam die proveqalische Freiheit dazu, zuletzt die nordamerikanische. Ich habe durch das Atmen in fremder Luft bemerkt, was Entgiftung bedeutet. Danach habe ich mich systematisch entgermanisiert. Ich habe dem heimatlichen Maso-Patriotismus den Rücken gekehrt. Psychisch war ich unter meiner deutschen Adresse lange nicht mehr erreichbar. H.-J.H. Das Rezept hieße demnach reisen und Abstand erzeugen? P.S. Nicht nur. Das beste Gegenmittel gegen die Depressionsmonopolisten und die Ressentimentverwalter bleiben die Klassiker. Sie sind das Ausland gegenüber der eigenen Zeit. Auch die wesentlichen Autoren des 20. Jahrhunderts muß man ständig im Auge behalten. Nicht daß wir sie direkt nachahmen könnten. Das ist unmöglich, weil unsere Lage so völlig anders ist als die ihre. Aber in einem Punkt bleiben wir mit ihnen verwandt. Auch sie haben Werke geschaffen in einer Zeit, als es schon hieß, Werke seien nicht mehr möglich.
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Blickwechsel zwischen Napoleon und Hegel H.-J. H. Ich frage mich, ob das, was Sie eben gesagt haben, die sozialpsychologische These bestätigt, daß wir erst jetzt, in den späten neunziger Jahren, das Ende der Nachkriegszeit erreichen. Oder unterstützt es eher die Theorie vom »Ende der Geschichte«, die seit dem Kollaps der Sowjetunion erneut zu zirkulieren begann? P. S. Nach meiner Meinung trifft das erste unbedingt zu. Man muß sich an den sehr harten Gedanken gewöhnen, daß eine Nach-Weltkriegszeit zwei volle Generationen dauert, in manchen Ländern sogar länger. Nach Dramen von der Größenordnung dessen, was die Mitteleuropäer in diesem Jahrhundert erlebt haben, müssen mindestens fünfzig Jahre vergehen, bevor eine Nach-Nachkriegszeit beginnen kann. Es sieht so aus, als sei die deutsche Gesellschaft gegenwärtig zum ersten Mal in der Verlegenheit, sich eine Definition geben zu müssen, die nicht mehr nur von der festgehaltenen Nachkriegssituation geliehen ist. Was das »Ende der Geschichte« angeht, so bin ich als Zeuge für Aspirationen dieses Typs nur bedingt tauglich, weil ich mit Hegelianismen der bisherigen Machart nichts im Sinn habe. Man sollte die Tatsache im Auge behalten, daß dieses Theorem auf Alexandre Kojeve zurückgeht, einen Emigranten aus dem revolutionären Rußland, der vor seiner Naturalisierung in Frankreich um 1930 Kojewnikow hieß, bei Jaspers studiert und über russische Theosophie promoviert hatte und in einer undurchsichtigen Beziehung zum KGB stand. Kojeve nimmt an, daß in Hegels Phänomenologie des Geistes, wie in der späteren Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, so etwas wie ein prinzipielles Ende der Geschichte erreicht worden sei - was immer »prinzipiell« hier heißen mag. Als es zum virtuellen »Blickkontakt« zwischen Hegel und Napoleon gekommen war, nach der Schlacht von Jena, war Kojeve zufolge die Geschichte in ihrer
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»Substanz« vollendet. Die französische Gegenwart hatte über die preußische Vergangenheit gesiegt, auch im Denken des Philosophen. Die letzten weltgeschichtlichen Individuen, Napoleon und Hegel, wirkten also auf gleicher Höhe. Ihre Spiegelung hätte gegenseitig sein können, wäre Napoleon auf die Idee gekommen, bei Hegel sein Portrait zu bestellen. Nach diesen beiden Endgestalten der notwendigen Geschichte gibt es nur noch beliebige Subjektivitäten ohne historisches Gewicht, mit einer einzigen Ausnahme, und die meint Kojeve entdeckt zu haben. Sie ist natürlich niemand anders als Stalin. Am Verhältnis zwischen Napoleon und Hegel nimmt Kojeve Maß, um sein Verhältnis zum Führer der Sowjetunion zu bestimmen. Das Theorem vom Ende der Geschichte ist also in einem sophistischen Stalinismus zu Hause, erst später mutiert es zum Lob des siegreichen Liberalismus. Stalin war in Kojeves Augen das letzte Individuum, das in einem weltgeschichtlichen Skript agierte und darum einen ebenbürtigen Interpreten brauchte. Nach Stalins Tod hat Kojeve sein Theorem über die finale universal-homogene Gesellschaftsordnung von der Sowjetunion auf die USA und teilweise auf eine lateinisch dominierte europäische Union verschoben. Fukuyama mußte keinen neuen Gedanken denken. Man kann der Meinung sein, daß diese fabelhafte Konstruktion eine Anmaßung ausdrückt, wie sie für Berufsmegalomanen typisch ist. Ich glaube trotzdem, daß das Theorem vom Ende der Geschichte suggestive Seiten hat oder, um vorsichtiger zu reden, daß es sich lohnt, es ernst zu nehmen, bis man ganz sicher ist, Besseres zu wissen. Der Gedanke, der sich in Kojeves Hegeldeutung artikuliert, läßt sich in einer sehr freien Umschreibung etwa so wiedergeben: Die modernen Gesellschaften sind in ein Stadium eingetreten, in dem es keine grundlegenden Innovationen mehr geben kann, sondern nur noch Steigerungen oder Variationen innerhalb von gut abgegrenzten und ausgebauten Dimensionen. Die heutige Weltgesellschaft ist wie ein Feld von Mara-
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thonläufern, die in der Mehrheit unter zwei Stunden dreißig laufen können und Steigerungsspielraum von ein paar Minuten haben. Aber sie wissen alle, daß in den nächsten Jahren und Jahrhunderten niemand unter zwei Stunden laufen wird, es sei denn, genmanipulierte Läufer träten an den Start, doch selbst wenn das geschähe, wurde es hinsichtlich der Rahmenverhältnisse nichts Grundlegendes ändern. Und weil alle wissen, daß die anderen es auch wissen, traben sie mehr oder weniger ordentlich und mehr oder weniger ehrgeizig in der Gruppe dahin. Die Wahrscheinlichkeit von Ausreißversuchen ist nicht sehr groß, weil die Kosten zu hoch sind. Die Überanstrengung ist von vorneherein evident. Dieses Sicheinschwingen der nachgeschichtlichen, vom Gedanken der Versicherung beherrschten Gesellschaften in stabil gerahmte Grundsituationen wird mit einem enormen Aufwand an Innovations- und Differenzrhetorik kompensiert. In Zukunft darf alles revolutionär sein, weil Revolutionen alten Stils in der dichten Welt unmöglich sind. Alles darf und soll sogar anders und unterschieden sein, weil Unterschiede letztlich keinen Unterschied mehr machen. Das Extreme, das Andere und ganz Andere, das sind von jetzt an nur noch ästhetische Kategorien. Luhmann hat das Einrasten in Grundsituationen mit dem Ausdruck »Ausdifferenzierung der Teilsysteme« belegt. Statt Grundsituationen und Subsysteme könnte man auch Ordnung der Zuständigkeiten sagen. Wer Zahnweh hat, geht zum Dentisten, wer Fußweh hat, geht zum Orthopäden, wer Weltschmerz hat, geht zu einem Guru. Wer lernen will, geht auf eine Schule. Wer Geld braucht, geht zur Bank oder zur Arbeit. Wem die ganze Richtung n i c h t paßt, wählt die Opposition oder fährt nach Ibiza. Es gibt kein Bedürfnis, für das die ausdifferenzierte Gesellschaft keine zuständige Adresse hätte. Allenfalls die große Liebe ist nicht mehr zustellbar. Durch die Ausdifferenzierung entsteht eine Lage, in der immer mehr Leute begreifen, daß man kein Verhältnis zum Ganzen haben kann. Das Ganze ist keine mögliche Adresse.
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Dieses Eintauchen in eine Weltlage, in der unendlich viel passiert, aber nichts mehr Geschichte machen kann, wird von dem Konzept fin de I’histoire gar nicht so schlecht zusammengefaßt. Es steht für das Gefühl der Heutigen, in der Nachsaison des Extremismus zu leben, der um jeden Preis den Menschen Geschichte machen lassen wollte. Wir blicken auf diese Agonie des Subjektivismus zurück, der hier als Rassenpolitik und dort als Klassenpolitik alles der planenden Verfügung unterwerfen wollte. Die Frage ist nur, was aus dem denkenden Menschen werden soll, der Einsicht in diese seine Situation gewonnen hat. Was kann die Maxime: »Erkenne die Lage!« jetzt noch bedeuten? Ist die Figur des Weisen in der gegenwärtigen Weltsituation möglich? Anders gesagt: Haben die Ausdrucke Weisheit, Erleuchtung, absolutes Wissen weiter einen möglichen existentiellen Sinn? Kann es noch Individuen geben, auf die solche Titel zuträfen? Sind Menschen vorstellbar, die im Wissen am Ende sind oder im Ende leben? Die Hegelsche Philosophie war attraktiv in dem Maß, wie sie entschlossen schien, diese Fragen zu bejahen. Sie war nicht umsonst die letzte affirmative Metaphysik, also Theorie der real existierenden absoluten Intelligenz. Es bleibt freilich unbestimmt, was das für uns noch heißen kann und in welcher Weise eine solche Intelligenz mit uns etwas zu tun hätte. Nur soviel ist klar, daß menschliche Teilhabe an einer absoluten Intelligenz einzig als Theorie der fertigen Welt möglich gewesen wäre. Eine solche Welt war die der klassischen Metaphysik; in ihr galt unbeschränkt der Primat der Vergangenheit, in ihr legt die Herkunft den Spielraum des Zukünftigen fest. Doch inzwischen haben sich die Wege der Futuristen von denen der Passeisten getrennt. In welchem Sinn dürfte man die moderne Welt fertig nennen, die sich wie keine zuvor durch Einsicht in ihre Unfertigkeit charakterisiert und ganz auf den Vorrang der Zukunft setzt? Immerhin, der Hegelsche Weise, als logisches Gewissen des etablierten finalen Rechtsstaats und der Spätkultur, verkörperte das westliche Pendant dessen, was der Osten
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als den Erleuchteten kennt, sei es in der hinduistischenversion des jivanmukti, des zu Lebzeiten Erlösten, und des bhagawan, des göttlichen Herrn, sei es in der buddhistischen Version des Vollerwachten, des arhat oder bodbisattva. Und so wie der indische Erwachte sich nach orthodoxer Lehre an die Serie seiner früheren Existenzen erinnert, so bewahrt der Hegelsche Geist die Erinnerung an seinen eigenen Prozeß, der Weltgeschichte heißt. In beiden Fällen würde der Mensch, der am Ende ist, zum Lehrer - aber zum Lehrer einer seltsamen Art. Er könnte nämlich gar nichts anderes mehr tun, als auf die anderen zu warten. Das Posthistoire wäre das Warten der Erleuchteten auf die in der Geschichte Zurückgebliebenen. Seltsam ist die Stellung dieser Lehrer deswegen, weil sie auf ihre Schüler warten müssen, ohne wirklich etwas für sie tun zu können - so wie die Toten auf die Lebenden warten oder die Entspannten auf die Verkrampften. Kojeve hat übrigens zu verstehen gegeben, daß der Weise nach dem Ende der Geschichte aufhören kann, von seiner Weisheit Aufhebens zu machen. Sobald die weltgeschichtliche Antithese von Macht und Geist erloschen ist, entfällt der Zwang, als Denker ein ernstes Gesicht zu ziehen. Der Weise kann Politiker werden oder Künstler oder Unternehmer. Er kann auch seine Weisheit wegwerfen und let it be sagen. Mit der historischen Antithese von Macht und Geist lösen sich auch andere historische Gegensätze auf, etwa der von Tragödie und Komödie und der von Männlich und Weiblich. Der Mann kann abrüsten und sich androgyn entfalten, er kann ein glückliches Tier werden. Er kann Ohrringe tragen und ins lauwarme Wasser steigen. Die Frau beginnt, mit den Attributen der historischen Männlichkeit zu spielen, und erfindet für sich neue Textbücher, Stellungen, Erscheinungsbilder. Darum ist das Posthistoire das tausendjährige Reich der Geschlechterkonfusion und der erotischen Komik. Das alles sind Beschreibungen, die Sinn machen im Hinblick auf das,was mit den Frauen und Männern des letzten Jahrhunderts geschehen ist.
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Es steckt also in diesen Hegel-Kojeveschen Suggestionen eine Fülle von Wahrheitsgehalten, die man nicht schnell abschütteln kann. Aber natürlich ist mir wie den meisten Zeitgenossen klar, daß die Geschichte nicht in der Weise zu Ende ist, wie ein idealistischer Vollendeter oder, was dasselbe ist, ein Hegelscher Beamter, es suggerieren könnte. Ich halte es eher mit Heideggers Einwendungen gegen Hegels Vollendungskonzept und denke wie er, daß die historische Irre nicht nur nicht beendet ist, sondern in eine Epoche noch höherer Spannungen und Gefährdungen übergeht. Man muß also zwischen Vollendung und Ende unterscheiden. Selbst wenn das zurückliegende Weltalter, das metaphysische, seine letzten Möglichkeiten erschöpft und insofern das Stadium der Vollendung erreicht hat, ist der Prozeß des Denkens, des Handelns, des Wollens in keiner Weise abgeschlossen. Auch die Frage nach dem Fortgang des Revolutionsgeschehens läßt sich nicht klar beantworten, weder im affirmativen noch im ablehnenden Sinn.Von einem Posthistoire könnte nur die Rede sein, wenn gewiß wäre, daß der Schrecken, der zur Geschichte gehörte, hinter uns liegt. Nichts ist weniger garantiert als das. Es ist nicht wahr, daß wir nach der Angst leben, die Mehrheit der Menschheit lebt nicht einmal nach der Not. Von einer fertigen Welt oder von einer abgeschlossenen Selbsterkenntnis des Menschen in ihr ist im Blick auf unsere Verhaltnisse beim besten Willen nicht zu reden. Im Gegenteil, das Drama der Anthropologie hat eben erst begonnen. Was vor uns liegt, ist ein Weltalter des Maschinenbaus und der vertieften Selbsterfahrung des Menschen angesichts seiner wachsenden Fähigkeit, sich in höheren Maschinen zu spiegeln und über den Unterschied zwischen sich selbst und diesen seinen Kreaturen nachzudenken. Heidegger hat einen zweiten Sokratismus gestiftet, in dem es darauf ankommt, genauer denn je zu wissen, daß man nichts weiß und inwiefern man bei allem vom Nichtwissen ausgehen muß. Das zweite Abstandnehmen von den Einbildungen des Wissens unterscheidet sich vom ersten dadurch, daß es sich
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auf den Komplex der neuzeitlichen Wissenschaften und Techniken bezieht. Das gibt der Sache des Denkens einen Ernst, den die Alten so nicht kannten. Das »besinnliche« Denken tritt jetzt auf als Sokratismus der Macht und der Technik, auch als Sokratismus des Gehirns in der Welt und der Welt im Gehirn. Das geht über die antike Situation hinaus. Man muß einfach feststellen: Das Wissen vom Nichtwissen ist verbindlicher geworden.
Subtexte einer Debatte
II Die Sonne und der Tod Die Menschenpark-Rede und ihre Folgen
Humanismus und Trauma-Spuren - Subtexte einer Debatte H.-J. H. Lassen Sie mich für den Einstieg in unser neues Gespräch eine Erinnerung Alain Robbe-Grillets an Roland Barthes’ Antrittsvorlesung am College de France im Januar 1777 wählen, bei welcher Barthes seine ominöse Bemerkung machte, jedes Sprechen sei »faschistisch«, um freilich diese Aussage, die auch ihn selbst betroffen hätte, wenn sie wahr wäre, sogleich mit einer glänzenden Rede matt zu setzen. Er lieferte, sagt Robbe-Grillet in Der wiederkehrende Spiegel, »das verwirrende Beispiel eines Diskurses, der keiner war; eines Diskurses, der jede Versuchung des Dogmatismus Schritt für Schritt in sich zerstörte«. Was er an dieser Stimme bewundert habe, fährt er fort, war, »daß sie mir meine Freiheit ließ, besser:
daß sie ihr mit jedem Nebensatz neue Kräfte verlieh«. Ich greife diesen Gedanken auf und möchte fragen: Sind die Menschen in unserer Gesellschaft überhaupt bereit oder fähig, mit dem Freiheitsangebot umzugehen, das ihnen in einer poetischen Sprache, einem informellen philosophischen Diskurs entgegenkommt? Müssen sie so »reagieren«, wie wir es während der Affaire, die mit Ihrem Namen verbunden wird, haben beobachten können? Ist es übertrieben zu sagen, daß zahllose Einzelne die Freiheit offensichtlich nicht wollen, da sie doch ihren persönlichen Verzicht auf deren Gebrauch an fiktiven Gegnern festmachen müssen, an Gegnern, denen sie Übles nachsagen, weil diese ein schwebendes, gewagtes, zukunftsoffenes Denken praktizieren ? Bestimmt die jüngeren Debatten in Deutschland nicht dieser eine Grundzug: das Nicht-loslasSen-Können des Gewesenen als Denk- und Erfahrungshorizont, die gequälte Unfähigkeit, das Zukünftige zu gestalten?
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Und wird nicht diese ganze Verkehrungsmaschinerie in den Dienst des selbstverordneten Unglücks gestellt? P. S. Der Ausdruck »selbstverordnet« soll vermutlich andeuten, daß auch auf das Unglück kein Verlaß mehr ist. Seit Jahren testet die deutsche Gesellschaft in Form von Skandalen ihre sozialpsychologische Kondition, indem sie sich immer wieder ihrer Standards an innerer Unsicherheit und Unfreiheit vergewissert. Sie führt in gewissen Abständen die Rituale der Labi-
lität durch, in denen sie das stärkste Wir-Gefühl erreicht. Es gibt einen Text von Doris Lessing, der unser Problem präzis bezeichnet: Prisons we choose to live inside. Die Formulierung trifft sehr gut manche Aspekte des großen Medien-Kollers vom Herbst 1999, Die Affaire anläßlich der MenschenparkRede verlief vor allem in ihrer Anfangsphase wie ein Wettbewerb zur Ermittlung der unfreiesten von allen möglichen Deutungen. Je näher man an den Kern der deutschen Unfreiheit herankommt, desto mehr nehmen die zwanghaften Assoziationen zu - bis zuletzt nur noch das Nazi-Eine übrigbleibt. Es gibt bei uns offenbar ein Bedürfnis, die mentalen Gitterstäbe immer wieder zu justieren, hinter denen zu leben hierzulande Unzählige beschlossen haben. Man muß darin ein Selbsteinsperrungsphänomen sehen - ich nenne es das masopatriotische Syndrom. Wenn »die Strafe die Ehre des Verbrechers« ist, so wollen viele Deutsche von dieser Ehrung gar nicht mehr lassen, zumindest was ihr Moralfeuilleton angeht. Sie machen sich ihre Normalisierung so schwer, daß man sie einer gewissen Eitelkeit verdächtigen muß. Es scheint, sie haben den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung nie recht verstehen wollen und glauben offenbar noch immer, sie könnten Glaubwürdigkeitspunkte sammeln, wenn sie sich eher schuldig als verantwortlich benehmen. So mancher merkt gar nicht mehr, welchen Eindruck es macht, wenn er im Designerbüßerhemd daherkommt. Im Freudianismus wurde man wohl von einem sekundären Schuldgewinn sprechen. Leider sind diese Phänomene noch nicht ausreichend beschrieben,
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weil Psychoanalytiker eher auf die Wiederholungszwänge achten, die dem Unbewußten entstammen, als auf jene, die ihren Ursprung im Kalkül und in der Unsicherheit haben. Ich erinnere mich bei diesem Thema an die Nachricht, daß sich zur Zeit, ausgehend von den USA, wo das Einsperren aus anderen Gründen zur Epidemie geworden ist, eine technische Revolution des Strafvollzugs ankündigt, die den Gefängnisbau zum Teil überflüssig macht. Jetzt wird mit Hilfe einer elektronischen Fußfessel der fernüberwachte Hausarrest installiert. Die elektronische Fessel besteht in einem Signalgeber, der anschlägt, sobald der Häftling einen Schritt tut, mit dem er die Grenzen des Arrestterritoriums überquert. Ich glaube, dieses virtuelle Gefängnissystem ist die technische Implementierung dessen, was auf mentaler Ebene bei uns seit geraumer Weile gilt. Seit dem Ende des Krieges sind in Deutschland die elektronischen Fußfesseln installiert, und das mochte einen guten Sinn gehabt haben, solange dieses Land seine demokratische Grunderziehung absolvieren mußte. Friedrich Sieburg hat 1954 in einem Aufsatz melancholisch notiert, daß die Deutschen nach der Befreiung von der Diktatur nicht ins Offene traten, sondern Kerker zum Mitnehmen bevorzugten. Das trifft zwei Generationen später merkwürdigerweise noch immer zu, in einem anderen Dekor und mit anderen Akteuren - und mit einer völlig veränderten sozialen Funktion, obwohl wir oder besser weil wir seit den 68er Jahren spürbar mehr Demokratie gewagt haben. Auf der Ebene der Diskurse leben wir mehr denn je unter der Überwachung von Alarmsystemen, mit denen die Grenzen der Denkareale markiert sind, wobei entscheidend ist, daß der Alarm nur auf lexikalische Signale, also auf einzelne Wörter, anspricht, losgelöst von der grammatischen oder syntaktischen Ebene. H.-J. H. Also hätten wir es mit einer Regression in einen Bereich von sozusagen präsyntaktischen Verständigungsverhältnissen zu tun. P. S. Sagen wir ruhig Primatenkommunikation. Die Forscher
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streiten noch darüber, ob unsere nächsten tierischen Verwandten bis ins Stadium der Satzbildung vordringen oder sich mit Einzelwort-Lexika begnügen müssen. Daß Großaffen bis zu hundert distinkte Zeichen ausbilden können und diese kommunikativ effizient einsetzen, gilt als sicher. Aber ob sie bis in den syntaktischen Bereich aufsteigen, also Zeichen kombinieren und einen primitiven Satz bilden können, ist noch unklar, Der deutsche Journalismus hat im Hinblick auf meine Rede, vor allem zu Beginn der Debatte, in großen Teilen nach einem puren Reizwort-Schema, ganz auf der Pawlowschen Ebene, geantwortet und vom Vorkommen eines bestimmten, unvermeidlich problemträchtigen Vokabulars in einem Text an der Syntax vorbei, an der Argumentation vorbei, an der Textarchitektonik vorbei, an der Autorintention vorbei, das Vorhandensein von elitistisch eugenischen Intentionen erschlossen oder vielmehr nicht erschlossen, sondern hinzu halluziniert, eben nach dem Gesetz der gesuchten unfreien Assoziation, weswegen solche Diagnosen wirklich einen sehr selbstverordneten Eindruck machen. Darin manifestiert sich ein Späterfolg der NS-Zeit in den Nervensystemen der Nachlebenden, den man aufgrund seiner Obszönität nicht genug denunzieren kann. Damit wir uns recht verstehen: Ich will mit der Kritik, der ich begegnet bin, nicht nur defensiv umgehen, ich bin bereit, über eigene Irrtümer nachzudenken, wenn man mich überzeugend auf solche hinweist. Ich gehöre zu einer Generation von Intellektuellen, die nichts so gut eingeübt hat wie die Neigung, sich durch Spiegelungen in anderen zu befragen. Das gehört zum Erbe von 68. In dem psychologisierten und politisierten Milieu, in dem ich lebe, ist es der primäre Reflex, wenn einem der Wind entgegenbläst, die Schuld auch bei sich selbst zu suchen, Aber was da in den Medien geschehen ist, liegt weit außerhalb dessen, wofür sich ein irrender Autor verantwortlich fühlen könnte. Es war doch eher, als wäre eine alte Zyste geplatzt und hätte den ganzen Organismus in Mitleidenschaft gezogen. Es
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ist, als hielte Hitler immer noch wichtige Zonen deutscher Gehirne besetzt, so daß entscheidende Denkoperationen in unseren Köpfen nicht mehr ausgeführt werden können. Ganze Wortfelder sind für intelligenten Gebrauch gesperrt oder zumindest schwer zugänglich. Ich verstehe, daß manche Menschen gegen den Begriff der Züchtung eine Aversion haben, wenn er auf die menschliche Sphäre angewandt wird, und daß ihnen das gesamte Begriffsfeld der pädagogischen Menschenformung unheimlich ist. Aber es bleibt eine Tatsache, daß Konzepte dieser Art, vor allem die Triade Erziehen, Zähmen, Züchten, zu einer philosophischen oder didaktischen Tradition gehören, die von Platon bis Nietzsche reicht - und ich habe mir die Freiheit genommen, angesichts der aktuellen Biotechnik an diese Unterströmung zu erinnern, die vom literarisch orientierten Humanismus bisher meist verdeckt wurde. Was könnte an einer solchen Verknüpfung des Klassischen mit dem Aktuellen falsch sein? Man möchte mich gern auf die Rolle des Provokateurs festlegen, und ich habe dafür Verständnis, weil ein Philosoph heute nur Wirkung erzielt, wenn er sich als Projektionsfläche für affektgeladene Irrtümer zur Verfügung stellt, Das ist eine öffentliche Variante von Psychoanalyse, bei der die Klienten in Form von Rezensionen »frei« assoziieren dürfen. Aber machen wir uns keine Illusionen: Wenn ein Ausdruck wie »Selektion« bei Sprechern der deutschen Sprache unter Quarantäne gestellt wird, wie es in der Debatte praktisch gefordert wurde, dann ist die intellektuelle Paralyse vorprogrammiert, weil es sich um einen Basisausdruck der modernen Wissenschaften handelt. Ließen wir dieses Verbot gelten, könnten wir zentrale Teile der Mathematik nicht mehr praktizieren, die Spiel- und Entscheidungstheorie wurde lahmgelegt, die formale Linguistik wurde völlig unmöglich, die Biologie und Metabiologie, Zentralwissenschaften des kommenden Jahrhunderts, wären in ihrem logischen Zentrum blockiert. Da geschähe nicht weniger als ein Angriff auf den Grundwortschatz der Lebens- wie der Strukturwissenschaften. Auch die
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Systemtheorie und die Kybernetik müßten ihren Betrieb einstellen, denn für sie hat der Ausdruck »Selektion« die Funktion eines Fundamentalbegriffs. Sollen wir am Ende zugeben, daß die Deutschen aus historischen Gründen zu sensibel sind für die modernen Wissenschaften? Der Kuriosität halber merke ich an, daß im Französischen der Trainer der Fußballnationalmannschaft s~/..ctionneur heißt. H.-J . H. Lassen Sie mich versuchen, meine eigenen Eindrucke vom Stand der Diskussion zu ordnen. Ein erstes folgenreiches Resultat der Debatte scheint zu sein, daß eine breite Öffentlichkeit endgültig hat zur Kenntnis nehmen können, wie eine neue Paradigma-Wissenschaft auf die Bühne getreten ist, die Biologie, im Bündnis mit der Informatik. Man hat ja in den letzten Jahrzehnten ständig neue Paradigma-Disziplinen in den humanities ausgerufen. Anfangs war es die Linguistik, bei der man sich formale Denkmodelle auslieh, später sollte dann die strukturale Anthropologie die Führungsrolle übernehmen. Es ist von enormer Tragweite, daß jüngst die Anthropologie ihre Imago als Leitwissenschaft an die Biologie und biologieverwandte Wissenschaften abgegeben hat, weil damit die Kulturwissenschaften einen neuen Anschluß an die Natur- und Technikwissenschaften finden. Der zweite Punkt, an dem ich diagnostisch einhaken möchte, ist die Beobachtung, daß die Debatte über die MenschenparkRede, wie gesagt, meistens auf eine präsyntaktische Ebene reduziert war, eine reine Lexikonschlacht. Erst recht ist es von Bedeutung, zu betonen, daß, wie man in der Ethnologie seit Beginn dieses Jahrhunderts erkannt hat, das vermeintlich Chaotische, Regellose, Wilde keineswegs unstrukturiert ist und daß auch das Präsyntaktische seine Strukturen, seine Gesetzmäßigkeiten besitzt. In dieser Debatte kommt zwar etwas scheinbar Dereguliertes, Spontanes, Naturwüchsiges zum Vorschein, aber dieses Regellose unterliegt seinerseits bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die wir entschlüsseln müssen, um der Sache auf den Grund zu kommen, und zwar auf der
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Ebene der medialen Inszenierung ebenso wie auf der Ebene des kulturell geprägten Diskurses. Ein dritter, ganz wesentlicher Aspekt scheint mir zu sein, daß der Begriff des Obszönen, den Sie eben gebraucht haben, eigentlich noch viel weiter zu fassen wäre. Er müßte auch auf einen ökonomischen Sachverhalt bezogen werden, der bisher zu wenig Berücksichtigung gefunden hat.Vor kurzem habe ich eine Fernsehdebatte verfolgt, mit Bill Gates und Edmund Stoiber unter anderen, in deren Verlauf der bayerische Ministerpräsident wörtlich die Feststellung von sich gab: »In der Gentechnologie müssen wir klotzen.« In Äußerungen dieser Art wird erst die eigentliche Obszönität faßbar, die in der öffentlichen Diskussion als politischer Subtext ständig mitläuft. Die Gesellschaft der Bundesrepublik erhebt zwar routinemäßig ihren Anspruch auf Wohlstand, Wachstum, Umverteilung und so weiter. Aus welchen Quellen die zu verteilenden Reichtümer hervorgehen sollen, davon möchten die schönen Seelen nichts wissen, da wird gerade unter Rot-Grün geheuchelt wie kaum je zuvor. Solange wir uns dieser Obszönität moralisch, mental, diskursiv nicht stellen, müssen Projektionen und Verlagerungen der unvermeidlichen Spannungen in der Gesellschaft stattfinden. Man hält sich dann an öffentliche Figuren, die politisch und ökonomisch weder Macht noch Einfluß haben, das heißt an Intellektuelle, die die Reflexion vorantreiben und die diese abgedunkelten Probleme zur Sprache bringen. An denen tobt sich die veröffentlichte Meinung aus. P. S. Wobei noch einmal das Phantasma aufblühen darf, daß es doch die Hermeneutiker wären und nicht die Ingenieure, die in letzter Ins tanz Geschichte machen. H.-J. H. Mein vierter Punkt wäre schließlich, daß der aktuellen Debatte über die Gentechnik, den »neuen Menschen«, das artificial life und ähnliches zusätzlich ein imaginärer Subtext zugrunde liegt, in den ungelebte Phantasien und Glücksutopien einfließen. Die utopischen Potentiale der Gesellschaft können auch in einer scheinbar entzauberten Zeit wie der un-
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seren nicht einfach sterben, sie tauchen nur ab und verbinden sich mit anderen Konzepten, anderen Realitätsfeldern, etwa mit dem Körperkult, mit der Massenästhetik, mit sexuellen Phantasmen und mit medizinischen Visionen. Es wäre wichtig herauszufinden, an welchen Stellen sich dieser Subtext Geltung verschafft, wo er sich sprachlich, bildlich, kulturell manifestiert und wo er verdrängt wird, um sich dann, man kennt solche Verschiebungen, in anderen Formen um so wirkungsvoller Geltung zu verschaffen. P. S. Ich hatte ebenfalls von Anfang an den Eindruck, daß der Eklat ein stark überdeterminiertes Geschehen war. Wir hatten es mit mindestens drei ineinandergekeilten Skandalphänomenen zu tun und mit entsprechend vielen Entladungen von aufgestauter Energie, daher auch mit einer Dreizahl von Subtexten, selbst wenn wir für jede Komponente nur eine einzige »Fassung« annehmen - was nicht ganz realistisch ist, denn auch die Teilskandale waren noch einmal in sich komplex und mehrdeutig. Darum hatte man schon wenig später das Gefühl, daß das Ganze nur eine Hysterie war und man zur Tagesordnung übergehen sollte. Ich denke, es kommt zunächst darauf an, die Einzelschichten oder die Subskandale, die in dem »Event« zusammengeflossen sind, jeweils für sich zu untersuchen, damit wir verstehen, wovon wir eigentlich reden und worüber die Öffentlichkeit sich während der Turbulenz erhitzt hat. Mit dieser Drei-Faktoren-Analyse stehe ich übrigens nicht allein. Norbert Bolz hat schon im Oktober 1777 während einer Fernsehdebatte in Baden-Baden eine solche Ansicht vorgeschlagen. Ein erster Faktor liegt nach meiner Überzeugung in dem Umstand, daß das Binnenklima der deutschen Gesellschaft seit einigen Jahren durch einen Generationenwechsel geprägt wird, der ihre bisherig gültigen Selbstbeschreibungen antastet. Man könnte sagen, daß der nervliche Gesellschaftsvertrag der Nachkriegsgeneration aus zeitlichen Gründen überarbeitet werden muß. Die Nervensysteme, die noch direkte Berührun-
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gen mit dem Nationalsozialismus hatten, werden ausgetauscht gegen Gedächtnisse, die ausschließlich auf einer symbolischen Ebene, also durch Zeichen, einen Eindruck vom Charakter der NS-Herrschaft erworben haben - durch Zeichen, die nicht mehr, wie bisher, von der politischen Pädagogik geformt werden, sondern zunehmend von der Unterhaltungsindustrie, die in jüngerer Zeit von einer sehr merkwürdigen Komplizin ergänzt wird, einer Art Moralindustrie, von deren Funktionsweise man sich nur sehr zögernd einen Begriff zu machen beginnt. Wir beobachten seit einer Weile, wie die Derivatgeschäfte des Entsetzens in den Vordergrund treten - ein Phänomen, dessen Gefahrenpotential man noch nicht abschätzen kann. Ich neige dazu, es für bedrohlich zu halten. Diese Derivatgeschäfte mit dem Schlimmsten sind es übrigens, auf die Martin Walser in seiner Paulskirchen-Rede 1998 hingewiesen hat, mit dem Argument, daß der Holocaust zu ernst ist, als daß man ihn durch mediales Getöse instrumentalisieren dürfte weswegen das Gedenken der Opfer, nach Walsers Meinung, mehr auf das forum internum der Einzelnen gehört als in den öffentlichen Betrieb. Dies ist eine These, die so lange richtig ist, wie man Erinnerung als Erschütterung denkt. Das erschütterte Gewissen darf und muß vielleicht sogar den Veranstaltungen mißtrauen. Allein in diesem Kontext ist Walsers umstrittenes Wort vom »Wegschauen« zu verstehen. Man hat diese Formulierung dekontextuiert, wie üblich, und für strategische Fehldeutungen mißbraucht. Ich habe, wenn ich das anmerken darf, nie nachvollziehen können, wie man in Walsers Konfession etwas anderes hat sehen können als eine Anwendung der protestantischen Gewissensidee auf die Dunkelheiten der deutschen Geschichte - was an sich schon bemerkenswert ist, da Walsers persönliche Hintergründe in eine sehr düstere, bedrückte Form von Katholizismus deuten; er selbst hat hierüber bereits in den achtziger Jahren eindrucksvoll Auskunft gegeben. Man versteht in diesem Kontext seine Gereiztheit gegen jede Art von Priesterherrschaft und Moralgeschäft. Walsers
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These verliert an Evidenz, sobald Erinnerung als politische Institution verstanden wird - denn in der politischen Arena wird Erinnerung immer als Pharmakon und als Waffe gebraucht. Auf diesem Feld ist souverän, wer über die Dosis entscheidet. Wie genau Walser den neuralgischen Punkt der Hochdosierungspartei getroffen hatte, zeigte der Aufruhr, der dem Hinweis folgte. Die Affäre war ein Indiz dafür, daß der Kampf um die Rechte an den Zeichen und über die Zumessung der Dosis künftig härter geführt wird. Dabei ist vor allem der Zeitpunkt signifikant - und damit bin ich wieder bei meinem Argument. Die letzten lebenden Nervensysteme, die wissen, wie das damals war und zum Teil auch noch, wer es war, erreichen in diesem Jahrzehnt die Grenze des biologisch Möglichen. Folglich kommt, ganz legitim, eine Sorge auf, wie sich dieses Wissen in den nächsten Generationen erneut verkörpern soll, und zwar so, daß es auch die heilsame Kraft des unmittelbaren Zurückschreckens vor dem Schlimmsten überträgt. In der Generationenfrage ist also die Besorgnis darum mit angelegt, wie ein neurologisch und existentiell hinreichend tief verankertes Tabu sich reproduzieren kann in einer Kultur, die von ihrem Grunddesign her eine tabulose oder tabufeindliche Lebensform ist. Um diese Sorge zu würdigen, muß man berücksichtigen, daß der Westen spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein zivilisatorisches Labor geworden ist, in dem man mit der Aufhebung der Tabufunktionen und der Erweiterung des moralisch Zulässigen an allen Fronten experimentiert. Die aufgeklärte und weiter aufklärende Gesellschaft versteht sich selbst ja im Prinzip als tabulos. Sie muß über alles reden dürfen und alles für Verhandelbar halten, sie muß auch den archaischen Abwehrschrecken durch gewöhnliche »strafbewehrte« Verbote ersetzen. Das ging bis zu dem Punkt, daß die Europäer nur mit Hilfe eines polynesischen Importwortes, das über englische Ethnologen zu uns kam, sich diese Funktion in ihrer Alltagssprache vergegenwärtigen konnten.
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H.-J. H. In Sicht der vergleichenden Ethnologie entspricht das tabu der Polynesier in etwa dem sacer der Römer, dem ääus der Griechen oder dem kodausch der Hebräer. Freud hat in dem Begriff Tabu zwei Bedeutungen auseinanderzuhalten versucht, einerseits: heilig, geweiht, numinos, unantastbar, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein. In Polynesien gilt noa, »gewöhnlich, gemein«, als Gegenteil von tabu. Wundt nennt das Tabu den ältesten ungeschriebenen Gesetzeskodex der Menschheit. In Totem und Tabu ging Freud davon aus, daß das Tabu seiner »psychologischen Natur« nach ein Äquivalent zu Kants kategorischem Imperativ sei, der in der Art eines unbewußten Zwangs wirke. Der Totemismus dagegen sei eine unserem heutigen Fühlen entfremdete, de facto längst aufgegebene religiössoziale Institution. Der Fortschritt der Menschheitsgeschichte habe dem Tabu weniger anhaben können als dem Totem. Freud hatte den ursprünglichen Sinn des Totemismus »aus seinen infantilen Spuren erraten« wollen. In der Ethnologie wurde jedoch der Begriff des Totemismus zunehmend demontiert: er sei überwiegend ein von Sozialwissenschaftlern kreiertes Phantom und als kulturhistorischer Begriff wenig brauchbar. Freuds Buch war fortan unter Ethnologen out und galt vielen Fachleuten als Beleg dafür, daß mit der Psychoanalyse empirisch nicht viel anzufangen sei. Was Freuds Tabu-Begriff betrifft, so hatte er eine bessere Erfolgskurve. Er übertrug klinische Einsichten in den Zwangscharakter bestimmter Handlungen auf die Ebene der Kultur. Seither wissen wir: Zwanghaft wirkenden Verboten begegnen wir gerade dort, wo die Mitglieder der Gesellschaft ein starkes Bedürfnis haben, diese Verbote zu übertreten. P. S. Ich denke, wir Europäer hatten für das Phänomen auch deswegen keinen eigenen Ausdruck, weil wir uns bis vor kurzem nicht klargemacht hatten, daß Kulturen im allgemeinen gewisse Tabufunktion für ihre Selbstregulierung nötig haben. Mit dem Konzept des Tabus wurden wir quasi zu An-
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thropologen in eigener Sache und lernten nach und nach, daß auch in der eigenen Kultur dunkle regulative Mechanismen am Werk sind. Dieser Lernprozeß war alles andere als kostenlos. Gewiß, wir kannten das fünfte Gebot, doch erst durch die intentionalen Überschreitungen des Gebots in diesem Jahrhundert haben wir gelernt, daß es nicht eine Vorschrift wie jede andere ist, sondern daß ihm primär die Tabu-Funktion zukommt - es ist der Text, mit dem etwas quasi Absolutes ins menschliche Bewußtsein eintritt und eine unbedingte Grenze zieht. Die aufklärenden Gesellschaften haben einsehen müssen, daß es auch im säkularen Raum so etwas wie das schlechthin Böse gibt und daß sie nolens volens eine Tabufunktion für die Demokratie in Betracht zu ziehen haben. Etwas von dieser Problemmasse wird mit berührt, wenn einige Kommentatoren es für nötig hielten, meine - wie ich noch immer denke - ziemlich leise formulierten Hinweise auf die Risiken einer in den Horizont gerückten biotechnischen Menschenformung und die Notwendigkeit einer aktiven Auseinandersetzung mit den neuen Gegebenheiten schon als einen »Tabubruch« zu denunzieren, Dabei ist nicht so sehr die abenteuerliche Fehllektüre des Textes interessant, der in gewisser Hinsicht eben die Bedenken artikuliert, die meine Kritiker meinten gegen mich wenden zu müssen - interessant ist die Haltlosigkeit, mit der sich gewisse Journalisten und andere Diskussionsbeiträger auf die Unterstellung gestürzt haben, es sei hier eine Grenze überschritten worden. Das zeigt, zumindest in meinen Augen, wie begierig man auf die Überschreitung wartet. Die tabu-dynamischen Aspekte alleine hätten aber nie ausgereicht, um Turbulenzen zu produzieren, wie wir sie im Herbst 1999 erlebt haben. Die Affaire wurde von zwei zusätzlichen Subskandalen überlagert und in die Höhe getrieben: zum einen von der Gentechnologiedebatte als solcher, die in Deutschland überfällig war, zumindest als Politicum, denn hinter den Türen war schon einiges gesagt worden; zum anderen von der Einsicht in die Dekadenz der Kritischen Theorie, die beim Publik-
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werden gewisser Habermas-Briefe an seine Helfer in den Medien aufbrach. Man mußte mit einem Mal zur Kenntnis nehmen, daß in Deutschland die Gentechnikdebatte öffentlich nie auf der Höhe geführt worden war, die von der Sache verlangt wird - und zwar nicht zuletzt aufgrund der bekannten historischen Blockaden. Wir haben erlebt, wie der Korken von der Überdruckflasche gesprungen ist, nun war der Flaschengeist der Biotechnologie freigelassen. Im übrigen hat sich durch die zeitliche Nachbarschaft zwischen der Menschenpark-Debatte und der Beschleunigung des Human GenomProjekts eine starke Objektivierung der Problemlage ergeben. Nur am Anfang konnten die deutschen Empfindlichkeiten den Ton vorschreiben, mit der Zeit hat die Sachdiskussion die Oberhand gewonnen. Es ist doch klar, daß die von mir mehr angedeuteten als ausgeführten Hinweise einen Realitätsgehalt haben, den man nicht länger verdrängen kann. In der Affaire wurde diese Verdrängung aufgehoben. Das bedeutete für uns den Anschluß an den internationalen Stand der Kunst. Aus einem lokalen Mißverständnis ist schließlich etwas geworden, was man in Frankreich einen de’bat national nennen wurde, Für unsere Verhältnisse war das ein Quantensprung in Diskussionskultur. Ich sollte vielleicht noch einmal anmerken, daß meine Rede als solche mit Phantasien über die sogenannte Menschenzüchtung nichts zu tun hat - sie enthält in dieser Hinsicht lediglich die konventionelle These, daß die Evolution von h o m o sapiens einen biologischen Sonderweg darstellt, der bei einem Kulturlebewesen mündet, einem Lebewesen, bei dem - und das ist der weniger konventionelle Teil meiner These - auch in seinem Kulturzustand fortlaufend biologische Prägungen geschehen, allerdings auf eine eher naturwüchsige und überwiegend unbewußte Weise, indessen man künftig auch mit bewußt vollzogenen Beiträgen zu diesem Prägungsgeschehen rechnen muß. In der Hauptsache ist die Menschenpark-Rede ein szenisches Zwiegespräch mit Heidegger über den Sinn der »Lichtung«,
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unter Mitwirkung Nietzsches und Platons als Gästen im Studio. Ich habe diese Rede gelegentlich als ein Notturno bezeichnet, um den leisen und unheimlichen Charakter meiner Überlegungen anzudeuten. Bei diesem nächtlichen Gespräch wird gegen Heidegger zu bedenken gegeben - und zwar unter Hinweis auf Beobachtungen Platos und Nietzsches -, daß in der Lichtung vielleicht doch mehr stattfindet als nur ein stilles Gewahrwerden der Welt als Welt. Nach meiner Überzeugung haben die Menschwerdung im allgemeinen und die Öffnung der Lichtung im besonderen etwas mit Domestikation zu tun, also mit der Verhäuslichung von homo sapiens. Die Menschwerdung ist als solche ein spontanes Selbstzüchtungsgeschehen gewesen. Mit dieser These wird der Blick auf die biologische Konstitution der Gattung gelenkt, aber mehr noch, wie gesagt, auf deren kulturgeschichtliche Bedingtheit. Worauf es mir ankommt, ist die These, daß Menschen Geschöpfe einer Verwöhnungsgeschichte sind und sie allein in diesem Sinne »Haustiere« genannt werden können. Man muß sich Gedanken machen über die Art von Häuslichkeit, die bei homo sapiens gilt. Das Wohnen in Häusern führt immer zu Verwöhnungen: Das auf Herder und Gehlen zurückgehende Theorem vom Menschen als Mängelwesen ist eine Deckform dieser Einsicht. Die ungeheuerliche Unwahrscheinlichkeit von Sapiens-Lebensformen muß seit jeher, besonders aber auf der Hochkulturstufe, durch eigene Bemühungen um Menschenformung kompensiert werden. So läßt sich verstehen, warum in den Hochkulmren ein ständiger Streit um die Erziehung und Dressur des Menschen stattgefunden hat. Mein anzüglicher Hinweis auf Zarathustras Besuch in der Stadt der kleinen Häuser sollte das anzeigen - in diesem Zusammenhang findet sich der Nietzsche-Satz, daß der Mensch »des Menschen bestes Haustier« sei. Ein ähnlicher Hinweis steht hinter der von mir zitierten platonischen Pastorale aus dem Po~&~,&r, in dem das Wesen der Politik mit der Metapher der freiwilligen Aufsicht über freiwillige, vernunftfähige »Herden« umschrieben wird. In Platons
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Park sollen bekanntlich die tapfere und die besonnene Gemütsart miteinander kombiniert werden. Die Metapher vom »Menschenpark« ist also eine Platon-Paraphrase - wobei ich selber zum Ausdruck »Park« eher amerikanische als europäische Bedeutungen assoziierte. Man hätte eigentlich auf Nachbarbegriffe wie Maschinenparks und Themenparks kommen müssen, meinetwegen auf Eurodisney oder auf die Insel Utopia des Thomas Morus - warum auch nicht, da dort ziemlich unverblümte Brautschaurituale üblich waren. Ich hätte es, um ehrlich zu sein, nie für möglich gehalten, daß ein paar Zitate aus Klassikern der Ideengeschichte bei philosophisch Unvorbereiteten solche Wirkungen provozieren könnten, Aber vielleicht sollte man positiv denken und sich sagen, daß der Skandal ein gutes Zeichen war. Ließ er nicht erkennen, daß die öffentliche Intelligenz wieder bereit ist, auf einen ProblemAlarm anzusprechen? Zu den ersten Resultaten der Affaire gehört jedenfalls, daß man zu verstehen beginnt, wie die Sache der sogenannten »Anthropotechniken« zur Sache einer Anthropopolitik werden muß. Auf diese Ausdrücke kommen wir zurück. Die Gattungsfrage wird also zu einem Politicum - das ist ein Sachverhalt, auf den Michel Foucault vor fünfundzwanzig Jahren in seinen Überlegungen zu der von ihm so bezeichneten Biopolitik hingewiesen hat. Im übrigen habe ich Grund festzustellen, daß die Kenner der Forschungssituation in Deutschland sich in der Affaire überwiegend versachlichend geäußert haben. ErnstLudwig Winnacker, der Vorsitzende der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Hans Lehrach, Koordinator des deutschen Genomprojekts, Wolf Singer, Leiter des Max-Planck-Instituts für Gehirnforschung in Frankfurt, und andere Wissenschaftler haben inmitten der Turbulenz zu den Sachfragen in einer, wie mir schien, angemessenen Tonart Stellung genommen. Selbstverständlich wurde mir nicht in allen Punkten recht gegeben, aber die meisten halten ganz zu Recht die Aufregung für übertrieben. Sie fanden in meinem Text nichts, was sie beunruhigt
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hätte. Es waren gewisse »engagierte« Feuilletonisten und einige Borderliner des Humanismus, die sich zu meiner Rede etwas einfallen ließen. Der dritte Skandal im Skandal warf ein Schlaglicht auf die Diskurshegemonien in der deutschen Öffentlichkeit. Ich habe in meinem Nachruf auf die jüngere Kritische Theorie in der Zeitvorn 9. September 1999 Die Kritische Theorie ist totdie technischen Sachverhalte offengelegt, die zu der Affaire geführt hatten. Ich wollte den okkulten spiritus rector der Affaire, Jürgen Habermas, daran erinnern, daß es nicht angeht, sich in einer Angelegenheit von solchem Streitwert durch Journalisten vertreten zu lassen. Leider hat er sich der Herausforderung zum Austausch der Argumente nicht gestellt. Wiederholten Einladungen seitens Dritter, sich über unsere Differenzen auf einem Podium zu verständigen, hat er sich verweigert. Was die Parteigänger von Habermas angeht, haben sie erst gar nicht versucht, meine Darlegung zu entkräften. Ich verstehe, daß die Fakten für die Partei der Angreifer beschämend sind, so daß sie an einer weiteren Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Zeugnisse kein Interesse haben. Habermas hat den Wiederabdruck seines Leserbriefs an die Zeit, in dem er seine Nichtbeteiligung an der Montage der Affaire beteuerte, in einer holländischen Dokumentation der Debatte verboten. (Regels voor het Mensenpark. Kroniek van een Debaat, Boom, Amsterdam, 2000). In diesem Band sind Beiträge von Richard Dworkin, Rüdiger Safranksi, Antje Vollmer, Slavoj ZiZek, Robert Spaemann, Bruno Latour, Lorenz Jäger, Wim Boefink, Henri Atlan und anderen versammelt - man sollte meinen, das sei eine Gesellschaft, in der sich ein Argurnentierer sehen lassen kann. Habermas hat es vorgezogen, seine Verantwortung abzustreiten. Ich habe zur Person und zur Sache die einzig mögliche Konsequenz formuliert: daß von der vielgerühmten Frankfurter Schule, die zu Adornos Lebzeiten und bis zur Kritik der zynischen Vernunft auch meine Schule und mein wichtigstes Bezugssys tem war, nicht viel mehr übriggeblieben ist als ein
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Klüngel zur Ausübung von Mentalitätsmacht und ein paar akademische Seilschaften. Es hat sich im konkreten Fall gezeigt, daß sich in diesem Verein kein konfliktfähiges Gegenüber mehr ausmachen läßt. Nach meiner Definition ist eine Theorie dann tot, wenn sie nur noch Selbstgespräche führen kann. Diese Feststellungen sagen aber nicht die ganze Wahrheit, denn wenn es auch zutrifft, daß es mit der Kritischen Theorie aufgrund ihrer prinzipiellen Fehlanlage nicht mehr weitergeht und daß es ihr nicht gelungen ist, eine überzeugende dritte Generation hervorzubringen - was typisch ist für jede nur konjunkturelle Bewegung -, so bleibt es doch eine Tatsache, daß der Breitenerfolg der Frankfurter Schule auf der Ebene diffuser Mentalitätsprägungen nach wie vor beachtlich ist. Man könnte sogar behaupten, daß der ganze linksliberale Block, das mentale Mittelfeld der deutschen Medienlandschaft, aus ihren vagen Adepten besteht, das heißt aus Leuten, die für sich den Vorzug in Anspruch nehmen wollen, kritischer zu sein als der affirmative Rest. Für diese überwältigende Mehrheit ist es charakteristisch, daß sie sich als eine bedrohte Minderheit ausgibt - weswegen sie ihre Hegemonie gern im Stil von Widerstand gegen eine Übermacht ausübt. H.-J. H. Ich möchte aus Habermas’ Stellungnahme zu Ihrem satirisch-polemischen Manifest Die Kritische Theorie ist tot zwei Wendungen aufgreifen. Habermas bezeichnet in seinem Brief .. an die Zeit, der unter der Überschrift »Post vom bösen Geist« erschien, Ihr Denken als »neuheidnisch«. Er fügt die Bemerkung hinzu, Sie gehörten zur »gesunden Vorhut einer nachrükkenden Generation«, von der er sich offenbar wenig Gutes verspricht. Zwischen dem Prädikat »neuheidnisch« und dem Wort von der »gesunden Vorhut« gibt es einen latenten Zusammenhang, den man explizit machen muß, um die Absichten des Verfassers zu würdigen. Wenn man den Brief von Habermas an die Zeitliest, so merkt man als erstes, wie fassungslos er darüber ist, daß es jemand gewagt hat, das Konsensussystem seiner Schule in Frage zu stellen.
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P. S. Die Antwort von Habermas ist priesterlich im technischen Sinn des Wortes, wenn man von Nietzsches Definition des Priesters ausgeht. H.-J.H. Der Philosoph als Vorsprecher des Konsensus und bloßer Nach-Denker von Vorgedachtem - und eine Spur mehr von den befreienden denkerischen Möglichkeiten, die von den wesentlichen Autoren dieses Jahrhunderts, von Bataille,Valcry, Canetti, Adorno, Benjamin, Foucault und Deleuze offengelegt wurden. Ich frage nur, können diese Abgrenzungszwänge, diese Verhärtungen innerhalb der akademisierten Philosophie selbst aufgelöst, können die Gräben überbrückt werden? P.S. Wollte man ein wenig boshaft sein, könnte man wahrheitsgemäß konstatieren, daß die historische Leistung der zeitgenössischen Schulphilosophie in der vorbildlichen Selbstverwaltung ihrer Überflüssigkeit besteht - einer Überflüssigkeit, die Bestandsgarantien besitzt dank ihrer Festschreibung in den Kultushaushalten der Länder. Der offizielle Philosophiebetrieb - ich meine jetzt nicht die Kritische Theorie im besonderen - ist vor allem ein System, in dem Anpassung an selbstreproduktive Zwanghaftigkeit belohnt wird. Unnötig zu sagen, daß es auch ein paar seriöse Ausnahmen gibt, einige wirkliche Talente und einige produktive Forschungszweige. Aufs Ganze gesehen ist der Eindruck von Stagnation überwältigend. Wer Analogien ziehen möchte, kann Ähnliches bei den entgeisterten Geistlichen des 19. Jahrhunderts beobachten, die in die Laufbahnen der protestantischen Kirchen eingerückt sind, obwohl es mit ihrer Spiritualität weil3 Gott nicht mehr weit her war. Um so tüchtiger waren solche Leute seit jeher beim Ausschauen nach Reproduktionsmöglichkeiten und beim Sich-Einnisten in Pfründensystemen. Für sie ist die Universität einfach eine ökologische Nische, Der Philosophieprofessor ist an die Universität angepaßt wie der Pinguin an die Antarktis. In evolutionärer Sicht ist der Akademismus in der Philosophie ein Nebeneffekt aus der chronischen Überproduktion von Habilitierten, der zum Wettbewerb um falsche
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Vorzüge führt - es werden über Generationen hinweg Unarten belohnt und Fehlhaltungen hochgezogen. Die Beobachtungen von Max Weber zu diesem Thema gelten heute noch genauso wie am Anfang des Jahrhunderts. Ob diese strukturellen Voraussetzungen der Entgeisterung aufgelöst werden können, wie Sie sagen, das weiß ich nicht - ich zweifle daran, denn Universitäten sind nach allem, was wir von ihnen wissen, stark selbstbezügliche, völlig kritikresistente und kaum reformfähige Institutionen. Aber lassen Sie mich noch etwas zu diesem ominösen Terminus »neuheidnisch« sagen, der wie ein erratischer Block in der Klischeewüste der Debatte über meine Rede liegenblieb. H.-J. H. Die Auffälligkeit des Ausdrucks läßt vermuten, daß er als Symptom gelesen werden kann. Sollte man um diesen Block umherwandern und ihn genauer untersuchen? P. S. Genau das ist es, was wir hier tun sollten. Mir scheint, wenn man verstanden hat, was »neuheidnisch« bedeutet und wann der Ausdruck eingesetzt wird, dann begreift man, was die Kritische Theorie im Habermas-Stil eigentlich ist und seit jeher war: der Entwurf einer Zivilreligion für die deutsche Nachkriegsgesellschaft auf der Basis eines intersubjektiven Idealismus. Zivilreligionen sind Entwürfe für erwünschte Illusionen. Man hat in jüngster Zeit die Kritische Theorie als ein Schlüsselphänomen in der »intellektuellen Gründung der Bundesrepublik« beschrieben und dabei den paraphilosophischen, mentalitätspolitischen Faktor des Phänomens auf den Begriff gebracht. Was in den sechziger Jahren zugunsten von Habermas sprach, war sein Sinn für die historische Lage: Damals brauchte man angesichts der deutschen Zustände so etwas wie einen Religionsfrieden in den Sozialwissenschaften und in den ideologiekritischen Diskursen. Habermas hat den overkillAspekt in der Gesellschaftskritik der älteren Kritischen Theorie und im Neomarxismus abzufangen versucht und ganz auf Westintegration der Vernunft gesetzt. Das ist eine Leistung, über die sich reden läßt. Alexander Kluge hat einmal sehrgeist-
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reich seinen Freund Jürgen Habermas einen Melanchthon des 20. Jahrhunderts genannt: Das ist gut gesehen und vornehm formuliert, denn so wie Melanchthon gewissermaßen der Justiziar der Reformation war, wenn auch selbst kein Reformator, war Habermas in seiner produktiveren Phase eine Art Theoriediplomat und ein Diskursmanager mit Sinn für historische Kompromisse. Ich würde ihn allerdings weniger als einen Melanchthon, sondern als einen David Friedrich Strauß des 20. Jahrhunderts bezeichnen, einen Gelehrtentypus, über den Nietzsche in der ersten U n z e i t g e m ä ß e n Betrachtung das Nötige gesagt hat. Aber die Zeiten haben sich geändert, inzwischen merken auch die Uneingeweihten, daß die Habermasschen Formeln stumpf geworden sind. Sie greifen an den realen Verhältnissen zwischen Kommunikatoren vorbei, ob von Anfang an oder durch Veränderung der historischen Umstände, das sei dahingestellt. Der Ausgangspunkt beim zwanglos konsensusproduktiven Gespräch unter Freunden läßt sich auf kryptomonologische Prämissen hin durchschauen. Luhmanns Diagnose hatte trocken gelautet, daß man es mit dem Ausfluß eines alteuropäischen Wahrheitskonzepts zu tun hat, wobei das Wort alteuropäisch hier synonym mit monologisch zu lesen ist: Obschon das Habermas-Modell dialogtheoretisch angelegt ist, hat es einen nicht mehr zu verhehlenden monologischen Zug, ja einen jakobinischen Kern - wenn man unter Jakobinismus die ständig ansprechbare Bereitschaft zur Vollstreckung des Konsensus versteht. Die Verständigung a la Habermas beruht auf der Unterwerfung der Teilnehmer unter eine Vor-Verständigung, von der er hofft, sie ließe sich methodisch kontrollieren. Mit ein wenig Distanz sieht man aber, daß der intendierte Konsensus und seine Herstellung in überwachten kommunikativen Prozeduren eine religiöse Phantasie darstellt, die dem Abendmahl nachempfunden ist. Doch wird man ohne Brot, ohne Wein an den Konferenztisch des Herrn zitiert. Wer sich nicht im voraus unterwirft, wird erst gar nicht eingeladen. Ich betone, daß diese Bemerkungen sich an den Wortlaut der Texte
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halten. Habermas hat seine Nähe zu theologischen Motiven, zumindest solchen aus der jüdisch-christlichen Tradition, in seinen späteren Publikationen offen reklamiert. Er spricht in eigener Sache von der »diskursiven Verflüssigung religiöser Gehalte«. Damit ist eine Aufgabe bezeichnet, die ernst genommen werden könnte, wenn sie gut gemacht würde. Das Problem mit Habermas ist, daß er an seine eigene Theorie nur bei gutem Wetter glaubt. Auf der strategischen Ebene denkt er konsequenter als irgendwer sonst in Freund-Feind-Kategorien. Carl Schmitt steht ihm viel näher als Karl Barth. Aber nun zum kritischen Punkt: Der Ausdruck »neuheidnisch« stammt aus dem Antimodernismuskampf der Kirchen, die sich mit der Heraufkunft einer säkular orientierten Gesellschaft im 19. Jahrhundert um nichts in der Welt haben abfinden wollen. In den kulturkämpferischen Reden der Kirchenmänner wird etwa Goethe routinemäßig als der erfolgreichste und gefährlichste von allen Neu-Heiden attackiert. Er verkörpert das Böse, sofern er die Kunst über die Moral stellte und das Unendliche eher in der Natur finden wollte als in den Kirchen. Habermas, als Pastorenenkel, hat solche Wendungen natürlich noch im Ohr. Allein, er möchte suggerieren, daß auch Hitler ein Heide war. Ist aber nicht in Friedrich Heers Studie über die Geschichte des Judentums Gottes erste Liebe ausdrücklich und im wesentlichen richtig von dem verirrten »österreichischen Katholiken Adolf Hitler« die Rede? Habermas unterstellt ferner, daß die sogenannten Heiden eine Neigung haben, aus der abendländischen Tradition auszusteigen, um wieder Menschenopfer einzuführen und Bäume anzubeten. Wo von Heiden die Rede ist, da kann der Missionar nicht weit sein. Im Grunde ist Habermas ein Theoretiker der Reedukation geblieben - wie gesagt, eine historisch respektable, aber kontraproduktiv gewordene Position. Wenn Habermas gegen das »neuheidnische« Element im modernen Denken stichelt, so spricht aus ihm der deutsche Ziviltheologe im Philosophenhabit. Er will vorschreiben, daß man vom antiken Erbe Euro-
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pas nur soviel annehmen darf, wie mit dem regelmäßigen Besuch von diskursphilosophischen Seminaren vereinbar ist. Der weltliche Humanismus soll nur legitim sein, wenn er unter christlich-monotheistischer Kontrolle bleibt. Wie angedeutet, ist dieses Kulturkampfschema seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland und Mitteleuropa virulent. Wenn es um »Athen oder Jerusalem« geht, entscheidet der gute Europäer sich entweder für Jerusalem, sofern er für sein Ethos exklusiv die jüdisch-christliche Quelle in Anspruch nimmt, oder er entscheidet für Athen mit Jerusalem, wie es im Juste milieu üblich ist. Aber er darf, wenn es nach den Kontrolleuren ginge, nie für Athen als erste Adresse votieren. Seltsam genug ist nur, daß die progressiven Europäer seit dem 18. Jahrhundert fast ohne Ausnahme Graecophile sind, die Athen gewählt haben und insofern durchweg das Prädikat neuheidnisch verdienen. Aber auf dieser Ebene ist das Wort ohnehin längst ein Nonsens-Ausdruck. Wissenschaft, Technik, Parlamentarismus, Geldwirtschaft, Kunst, Massenunterhaltung, Medizin, Körperkultur - praktisch alles, was die moderne Welt ausmacht sind keine christlichen Projekte, sie haben auch keine spezifisch monotheistischen Voraussetzungen. Bei allem Respekt vor der Bemühung um das religiöse Erbe der regionalen Hochkulturen darf man sogar fragen, ob der Monotheismus als Matrix für eine zeitgenössische Ethik taugt oder ob man in ihm nicht vielmehr die Mutter aller Fanatismen sehen muß. Der Friedensforscher Johan Galtung hat hinsichtlich der polemogenen Energie der monotheistischen Religionen eine verheerende Bilanz aufgestellt, und selbst wenn man die positiven Momente gegenrechnet, bleibt ein starker Überhang an Bedenken. Die religiöse Kultivierung des Schuldgefühls, Kern der monotheistischen Über-Ich-Bildungen, ist keine geeignete Affektbasis für einen modernen Gesellschaftsentwurf. Gewiß steht die Aufklärung, von der wir herkommen, hier und da in der Schuld des Christentums, aber ihr way of life ist kulturell breiter angelegt als die vita christiana und führt darum mit Not-
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Wendigkeit in eine nachchristliche und nachreligiöse Situation, Eugen Rosenstock-Huessy, über den wir schon im ersten Interview sprachen, hat diese Einsicht bereits in den zwanziger Jahren formuliert und aus ihr einen offensiven Begriff von praktizierender Nachchristlichkeit entwickelt. Ich glaube, daß dies nach wie vor dem Stand der Kunst entspricht. Habermas hat üblicherweise einen gut entwickelten Sinn für strategische Begriffsbildung. Wenn er in diesem Fall so danebengreift, dann aus idiosynkratischen Gründen. Er macht dem theologischen Antimodernismus schöne Augen, weil er zu seiner Kommunikationstheorie, in der radikale Gesellschaftsbewegungen nicht vorgesehen sind, ein wenig Radikalismusabwehr hinzukaufen muß - bezeichnenderweise bei der Theologie und nicht bei der Sozialpsychologie. Sein Pech ist, daß die NS-Bewegung essentiell kein »Neuheidentum« gewesen ist, obschon manche Kirchenleute und Ideologen das bis heute gern so sehen möchten. Gewiß, der Nationalsozialismus besaß wie alle Großideologien des 20. Jahrhunderts eine Kultoberfläche, die manche Interpreten - Eric Voegelin an erster Stelle - dazu verführte, ihn als eine »politische Religion« zu interpretieren. Solche Deutungen beweisen nur, daß oft gerade kluge Interpreten nicht imstande sind, hohle Gegenstände so hohl zu lassen, wie sie sind. Sie legen etwas Geisthaftes, Prinzipielles in sie hinein, was ihrem trivialen Charakter nicht entspricht. Diese Interpretationen spielgeln die Eitelkeit der Interpreten, die über weniger als eine Religion nicht reden wollen. Aus der Addition von Rassistendummheit, Bürokratendummheit und Soldatendummheit entsteht noch lange kein religiöses Phänomen. Auch die Tatsache, daß manche Nazis zwanghaft mit der Unterscheidung zwischen dem deutschen Guten und dem nichtdeutschen Bösen gearbeitet haben, ist kein Indiz dafür, daß hier gnostischer Dualismus am Werk war, wie der unselige Denunziant aller Moderne, Voegelin, vermutete, sondern es handelt sich um simples binäres Denken am grenzdebilen Pol. Die impulsive pseudometaphysische Überinterpretation des Faschismus ist
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ein Symptom dafür, wie schwer es vielen Kommentatoren fällt, die von Hannah Arendt konstatierte Banalität des Bösen in ihren ganzen Bodenlosigkeit nachzuvollziehen. Daß sich hinter Verbrechen größten Ausmaßes nicht eine Spur von höherem Sinn verbirgt - das ist eine hermeneutische Zumutung, der .. viele Zeitgenossen und Uberlebende nicht gewachsen waren. Die Verbrechen legen allenfalls umfassende Verwahrlosungen bei den Tätern offen. Zugegeben, die Faschismen haben, wie die real existierenden Sozialismen, von Anfang an die Pubertät symbolpolitisch ausgebeutet. Man hat aus Zeltlagerritualen und Sonnwendfeiern einen Mehrwert an Feierlichkeit produziert, der von den Betroffenen als Gottesdienst mißverstanden werden konnte. Aber solche Rituale haben nicht mehr spirituelles Gewicht als, sagen wir, die Eröffnungsfeier eines Sportfests oder die Sitzung eines Elfer-Rates. George Mosse hat übrigens in seinem Buch Die Nationalisierung der Massen sehr klar gezeigt, wie die politischen Liturgien der NS-Versammlungen nicht auf religiöse Vorbilder, sondern auf Formen des öffentlichen Klassikerkults im 19. Jahrhundert zurückgehen. Daß wir uns richtig verstehen: Es hat in Deutschland und anderswo einen kleinen religiös motivierten Widerstand gegen den Nationalsozialismus und andere Manifestationen von Faschismus gegeben, sehr punktuell, ohne Massenbasis und ohne ausreichende Wirkung, aber immerhin vorhanden. In diesem engen Widerstandskontext hat - trotz des katastrophalen Versagens der Kirchen im »Dritten Reich« - die Antithese christlich-heidnisch noch einmal einen relativ annehmbaren Sinn erhalten. Außerhalb dieses Zusammenhangs ist die Sprachregelung unbrauchbar, um nicht zu sagen lächerlich. Die NSIdeologie war eine Mixtur aus militaristischer Fitness-Bewegung und völkischer Event-Kultur, auf der Basis einer sehr flachen und sehr groben naturalistischen Machtlehre. Mit Religion hat das nicht das geringste zu tun. Faschismus ist eine Politik der integralen Rache; er spricht Verliererkollektive an und verführt sie zu selbstzerstörerischen Kompensationen.
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Nichts anderes ist die Hitler-Formel. Der Faschismus bietet abgeschlagenen Ambitionsträgern alternative Aufstiegsmöglichkeiten an - das ist sein Geheimnis. Er bringt trotzige Verlierer auf Nebenwegen zum Genuß. Darin besteht seine Attraktivität. Wilhelm Reich hat den Faschismus als eine Form der emotionalen Pest definiert, womit wir wieder auf den Boden der politischen Sozialpsychologie zurückgeführt werden. Noch in der Gegenwart kann man diese Mechanismen lokal wie in Laborversuchen beobachten, etwa im ostdeutschen Nationalhooliganismus oder bei den in ihrer Kränkung fixierten Serben unter dem Linksfaschisten Milosevic, der sich die ganze Zeit über als unbeirrbarer nationaler Sozialist präsentierte. Wotan und andere rezyklierte Götter haben bei solchen Inszenierungen des Größenressentiments nichts zu suchen, das mythologische Geflunkere tat nie etwas zur Sache. Was den Ausdruck »neuheidnisch« bei Habermas völlig unmöglich macht, ist die Tatsache, daß er von einem fatalen Kulturprovinzialismus zeugt. Sein Verwender möchte nicht wahrhaben, was Toynbee-Leser, Leser Max und Alfred Webers, Leser von Marcel Granet, Leser von Heinrich Zimmer und nicht zuletzt Leser von Karl Jaspers und Gotthard Günther über den Pluralismus der Hochkulturen wissen. Ich bin sicher, daß Habermas früher einmal auf diese Diskussionen einen Bli c k geworfen hat, sich aber nur wenig von ihnen aneignen wollte. Man versteht, wieso, denn er konnte die reale Vielheit der Kulturen in seinem Konsensusmodell nicht brauchen. Seine »idealen Sprechsituationen« sind durch und durch monokulturell vorbehandelt, die »Einbeziehung des Anderen« macht genau dort halt, wo man die Kulturgrenzen überschreiten müßte, um den wirklichen Anderen zu Gesicht zu bekommen. Wäre es nicht so, müßte darauf eingegangen werden, daß seit der sogenannten Achsen-Zeit mindestens fünf »Kulturen des Durchbruchs« zu hochkulturellen, universalistischen, potentiell menschheitsethischen Weltauslegungen existieren, Jaspers hat bekanntlich China, Indien, Persien, Palästina und
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Griechenland aufgezählt, während andere Autoren, insbesondere Jan Assmann, darauf bestanden haben, daß Ägypten in einer solchen Liste, wenn sie sinnvoll sein soll, unmöglich fehlen darf. Assmann hat das Nötige dazu beigetragen, die chronologische Mystifikation im Achsenzeittheorem aufzulösen, indem er zeigen konnte, daß die bewußten Kulturen des »Durchbruchs« keine anderen sind als die Kulturen, die zur Schrift übergegangen waren und deshalb eine neue Ökologie der Erinnerung und eine neue Persönlichkeitskultur entwickelten, die um die Figuren der Schriftkundigen und Weisen gravitierten - mit diesen Annahmen läßt sich die ägyptische Verfrühung gegenüber der angeblichen temporalen Achse plausibel deuten: Es geht in Wahrheit um eine Schriftachse. Aber was im Augenblick zählt, ist die Tatsache, daß wir bei einer solchen Sicht schon über den Athener wie den Jerusalemer Regionalismus hinaus sind. Wir hätten sechs hochkulturelle Formationen, die als virtuelle Ausgangspunkte für Pfade in Weltkulturen in Frage kommen, vielleicht müssen wir sogar acht solcher Ansätze anerkennen, wenn wir die mesopotamischen und die mittelamerikanischen Versuche dazurechnen, was strittig ist. Sicher ist nur, daß sich in einer Mehrzahl von Hochkulturen ein Durchbruch zum Denken des Umgreifenden vollzogen hat. Es kommt etwas arg Provinzielles zum Vorschein, wenn Habermas suggeriert, daß Europa oder die christlich-hellenistische Synthese die einzige Kultur wäre, die den Übergang zum Denken des Universalen geleistet habe. In Wahrheit haben wir es in weltkultureller Sicht mit einem Pluralismus der Universalismen zu tun - wobei man in bezug auf alle einschränkend sagen muß, daß sie einen regionalen Charakter besitzen und nicht tel quel globalisiert werden können. Wie eine umspannende Weltkultur aussehen wird, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich zu sagen, doch alles spricht dafür, daß sie eher pluralistisch als monotheistisch und eher technologisch als metaphysisch orientiert sein wird; in ihr wird der säkular-multikulturelle Faktor ebenso stark sein wie
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der religionsökumenische, vermutlich stärker. Da stellt sich die Frage: Soll es durch eurozentrische Moraldogmatiker demnächst verboten werden, sich für außereuropäische Möglichkeiten universaler Weltauslegung zu interessieren, etwa für die chinesischen, die hinduistischen, die buddhistischen Formen? Soll etwa suggeriert werden, daß der Sinai-Standard der Ethik auf dem Spiel stehe, sobald man sich als westlicher Philosoph die Freiheit nimmt, sich für die Ethik des achtfachen Pfades zu interessieren? Ich lehne den Ausdruck »neuheidnisch« wegen seiner polemogenen Implikationen ab; es ist ein mit Theologenressentiment vollgesogenes Wort von gestern und vorgestern, es ist auch innertheologisch Symptom einer überwundenen Situation. Einen Theologen, der einen solchen Ausdruck heute noch öffentlich einsetzen wollte, wurde man sofort als einen integristischen Reaktionär identifizieren. Was man einem Theologen nicht durchgehen lassen kann, darf man einem Soziologen erst recht nicht zugestehen, andernfalls wurden die Voraussetzungen für zivilisierten Verkehr zwischen den weltanschaulichen Fraktionen der säkularisierten Gesellschaft zerstört. Es ist eine pure Brandstiftervokabel. Symptomatisch hierfür ist, daß das Wort »neuheidnisch« praktisch immer in kunstfeindlicher Absicht eingesetzt wird. Es dient frustrierten Moralverkäufern dazu, Suchbewegungen von Schriftstellern und Künstlern in der nachchristlichen Situation schlechtzumachen. Die Nachchristlichkeit unserer Weltlage ist eine historische Gegebenheit. Sie verlangt nach Gestaltungen, nicht nach Vorwürfen. Ich fürchte also, bei unserem Neuheidentums-Experten kommen mehrere problematische Erbschaften zusammen. Vor allem eine starke Kurzsichtigkeit in anthropologischen, ethnologischen und kulturwissenschaftliche Fragen, ein Befund, der nicht nur die jüngere Frankfurter Schule trifft, sondern auch schon für die meisten Vertreter der älteren Kritischen Theorie gegolten hat. Sie alle sind entschlossen eurozentrisch geblieben. Sie sind Leute, die die Welt durch ein zu schmales
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Lektüre-Fenster beobachten. In ihrem Weltbild fehlt alles, was zur ethnologischen Bibliothek des 20. Jahrhunderts gehört; es fehlt alles, was kulturell Osten oder Süden ist, bei den jüngeren fehlt zudem jeder glaubhafte Bezug zur modernen Kunst, und das ist für eine Philosophie, die zeitgenössisch sein will, ein fataler Befund.Wenn in der Habermasschule von »Lebenswelt« geredet wird, ist das eine Phrase für ein unbebautes Feld, auf dem kein Halm an konkreten Kenntnissen mehr wächst. Hannah Arendt hat einmal im Blick auf John Dewey gesagt, sein Denken sitze in einem »Elfenbeinturm des Common Sense« ein Wort, das die jüngere Kritische Theorie im voraus resümiert. Die andere schwierige Erbschaft der Kritischen Theorie rührt daher, daß das hastig gerettete Gewissen des nachträglichen Antifaschismus mit ihr verbunden ist. Genug dazu. H.-J. H. Diese Erörterung über das angeblich Neuheidnische schließt an das an, was wir soeben unter den Stichworten Freiheit und Selbsteinsperrung diskutierten. Freiheit ist ja nicht nur ein individuelles Begehren, sie ist auch eine Manifestation von kulturellem Möglichkeitsbewußtsein. Was bestimmten Theorie-Vertretern in unserer verengten Sphäre offenbar nicht möglich ist, das ist: die längst ermöglichten realen Erweiterungen des Kulturbewußtseins und des Identitätsbewußtseins in ihr Eigendenken zu integrieren. Die rhetorische Wirksamkeit von Begriffen wie »neuheidnisch« besteht darin, daß sie eine Doppelfunktion haben. Sie zielen einerseits auf ein Unbewußtes, sie rekurrieren also auf etwas, was für die Benutzer der Ausdrücke selbst nicht greifbar ist, was aber andererseits im kulturellen Unbewußten codiert und abgelagert ist. Insofern haben diese etwas erratisch in die Diskussion eingebrachten Ausdrücke eine viel höhere Signifikanz als Begriffe, die mit Überlegtheit verwendet werden. Solche Ausdrücke erzielen Wirkung dadurch, daß sie das real Heterogene und Komplexe auf polarisierende und exklusive Optionen reduzieren. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang folgende Frage
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stellen: Sehen Sie die Debatte um Ihren Vortrag in der Folge des 1986 begonnenen »Historikerstreits« über die Vergleichbarkeit oder Unvergleichbarkeit des Holocaust mit den Großverbrechen Stalins? Sehen Sie sie in einem Zusammenhang mit früheren deutschen Debatten, also in der Folge des 1993 geführten Streits über Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang mit seinen provozierenden Thesen zum »verklemmten deutschen Selbsthaß« und zur Unfähigkeit der Modernen, das Tragische zu erfahren? Und weiter in der Folge der 1996 geführten Debatte um Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker? Und natürlich auch in der Folge des Walser-Bubis-Streits von 1998?
P.S. Zunächst einmal: Ich bin überzeugt, daß jeder Skandal ein Phänomen eigenen Rechts ist und jede Skandaltotalität ein individuiertes Ereignis darstellt. Damit hängt die Beobachtung zusammen, daß man weder Debatten noch Skandale »machen« kann; bei jedem Versuch, einen Skandal oder eine nationale Debatte willkürlich zu inszenieren, wird man mit Sicherheit scheitern. Bloße Provokationen besitzen keinen Mehrwert, die Eskalation, die dem Skandal seine Macht oder seinen Sog verschafft, findet nicht statt. Die Aufschaukelung von ein paar brauchbaren Sätzen zu einem nationalen Eklat ist ein Geschehen, das man autopoietisch nennen könnte. Kein noch so schlauer Regisseur wäre imstande, es als Kampagne zu inszenieren, Das heißt nicht, daß es keine Drahtzieher oder Einheizer gäbe, doch sie spielen nur am Anfang eine Rolle. Der Rest ist Mechanik. Natürlich darf man fragen: Gibt es zwischen diesen vier oder fünf größeren Skandalindividuen der jüngeren Zeit in Deutschland ein Verwandtschaftssystem? Existiert eine identische Kerbe, in die bei all diesen Anlässen geschlagen wird? Diese Fragen sind öffentlich gestellt und bejahend beantwortet worden, etwa durch Roger de Weck in einem Leitartikel in der Zeitvorn Herbst 1999. Doch zog er für mein Empfinden eine etwas zu glatte Linie durch die Punkte hindurch, als habe es »im Grunde« immer nur den einen und
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selben Skandal in mehreren Lieferungen gegeben. Unter spekulativen Auspizien ist eine solche Kohärenzthese nicht uninteressant. Sie könnte aber noch mehr hergeben, wenn man sie medientheoretisch formulieren wurde. Vor allem in einer Hinsicht hatten wir offensichtlich immer denselben Skandal, insofern nämlich, als bei allen Aufführungen des Dramas die große Mehrheit der Gesellschaft nie eine Chance hatte, aus den Vorgängen etwas zu lernen. Das einzige offiziell zugelassene Ergebnis der Skandale ist die Erschöpfung, das plausible Ende der Überdruß. Systemtheoretiker werden dies vielleicht mit der Bemerkung quittieren, daß Gesellschaften als ganze ohnedies keine lernfähigen Entitäten sind und weder eine »vernünftige Identität« ausbilden noch ein globales Gedächtnis besitzen, so daß man auch aus dem kollektiven Nicht-Lernen keine übertriebenen Folgerungen ziehen darf. Was mir zu denken gibt, ist der Umstand, daß die Erregungswellen während der letzten Jahre dichter aufeinandergefolgt sind: In Deutschland wird seit Mitte der neunziger Jahre praktisch in jedem Herbst eine Alarmdebatte geführt. Das könnte ein Krisensymptom sein, vielleicht aber auch ein Zeichen der Unsicherheit in der trotz allem beginnenden Normalisierung. Wir wissen noch nicht, was diese Herbstunruhen bedeuten. H.-J. H. Und was meinen Sie selbst: Besteht hier eine Kontinuität? Worin liegt die Verwandtschaft zwischen den Debatten? P. S. All diese Affairen sind in erster Linie Demonstrationen der Medienmacht in modernen Gesellschaften. Darin besteht ihr innerer Zusammenhang. Sie zeigen, daß das bekannte Wort Renans, die Nation sei ein tägliches Plebiszit, auf einer viel buchstäblicheren Ebene wahr ist, als man bisher zu denken gewagt hat. Nur müßte man den Ausdruck Plebiszit präzisieren - denn worum es geht, sind tägliche Abstimmungen der Bevölkerung über Erregungsvorschläge, die ihr durch die Medien präsentiert werden. Im Skandal kommt die Wahrheit über die mediale Konstruktion der Massengesellschaft ans Licht -
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doch nimmt man sie gerade dann in der Regel nicht wahr, weil man immer auf das Thema des Skandals schaut und nicht auf die medialen Mechanismen. Auf diesen Sachverhalt zielt meine Bemerkung in Die Kritische Theorie ist tat, daß nur ein Metaskandal die Machart des Skandals aufdecken kann. Ein solcher Metaskandal hat sich in meinem Fall tatsächlich vollzogen, vielleicht nicht so umfassend, wie zu wünschen gewesen wäre, aber doch deutlich genug. Man muß sich mehr als bisher klarmachen, daß moderne Gesellschaften wie Themenbörsen organisiert sind. An diesen werden ständig neue Themenwerte emittiert und in Tagesgeschäften gehandelt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist die Öffentlichkeit viel weniger ein Medium der Aufklärung als ein Forum zur Abwicklung von Themengeschäften. Die großen Massenmedien, egal ob Druck- oder Funkmedien, befinden sich in einem permanenten Kampf um den Höchstkurs ihrer Themen. Und wenn sich ein Skandalthema gesellschaftsweit durchsetzt, dann bedeutet das zunächst nur, daß es einer Redaktion gelungen ist, einen Erregungsvorschlag zu machen, der von den Konkurrenten unter allen Umständen nachgeahmt werden muß - bis an den Punkt, wo quasi eine ganze Gesellschaft monothematisch wird und in ein und derselben Erregung synchronisiert ist. Ich wurde den Nationalstaat als ein System definieren, in dem Monothematiken oder Mono, hysterien für die Integration des Ganzen eingesetzt werden. Zwischen Napoleon und Hitler vollzogen sich solche ‘Totalsynchronisierungen hauptsächlich durch die Kriege, danach überwiegend durch Katastrophen und Affairen. Seit einigen Jahren arbeite ich an einem Beschreibungsversuch für moderne Mediengesellschaften, der durch Anregungen von Rene Girard und Gabriel Tarde motiviert ist. Dazu kommen neuerdings Anstöße von Heiner Mühlmann und Bazon Brock, die mit ihrer Kritik der Ernstfall-Vernunft etwas Wichtiges in Bewegung gebracht haben. Ich denke, daß das Medien-Buch, das ich vorbereite, in zwei, drei Jahren unter einer
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Überschrift wie »Die autogene Erregung« oder »Die kommunikative Illusion« erscheinen kann. Ich werde den Vorschlag machen, moderne Gesellschaften nicht mehr wie üblich unter dem Gesichtspunkt ihrer Synthesis durch Information oder durch Wertgemeinschaften und geteilte politisch-moralische Sinnstrukturen zu erklären. Viel eher scheint es plausibel, die großen massenmedial integrierten Gesellschaftskörper als selbststressierende Ensembles zu charakterisieren. Ich habe dieses Modell in meiner Berliner Rede von 1997 zum 9. November unter dem Titel Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnermgen an die Erfindung des Volkes schon einmal durchgespielt und bin sicher, daß das Ergebnis des Vorversuchs die Fortsetzung rechtfertigt. Bei dieser Probe sieht man bereits in nuce, wie das Modell einer Deutung der sozialen Synthesis durch Stress funktioniert. Alles spricht dafür, daß Menschen, die keinen reellen Grund zum Zusammenleben unter demselben symbolischen oder politischen Obdach haben, sich einen solchen Grund autogen induzieren, indem sie sich als Teilnehmer an den Aktivitäten einer Selbsterregungskommune engagieren. Dabei finden zwischen semantischen und stressorischen Mechanismen Austauschvorgänge statt, die noch nicht ausreichend beschrieben sind. Um hier voranzukommen, erprobe ich eine Umstülpung der psychoanalytischen Denkweise. Diese hat im Hinblick auf Individuen eine Brücke zwischen Energetik und Semantik aufgebaut, indem sie gezeigt hat, wie körpereigene Triebspannungen mit kulturell vermittelten Bedeutungsketten, also Sprachäußerungen und Ausdrucksgesten, zusammengeschlossen sind; die Analyse kann darlegen, daß und wie die Energetik des Individuums sich symptomproduktiv in die Signifikantenkette einhängt. Alle großen Psychoanalytiker haben diesen Sinn für die Subversion des Semantischen durch das Energetische -und umgekehrt - besessen. Ich wurde von der Psychoanalyse den Ansatz, Energetik mit Semantik zu koppeln, beibehalten, aber in entgegengesetzter Richtung. Ich frage darum nicht mit Freud
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oder deMause: Welche individual- und familienpsychologischen Affekte können auf kollektiven und politischen Bühnen agiert werden - zum Beispiel Ambivalenzen in der Vaterbindung oder Abkömmlinge des Geburtsdramas? Mich interessiert die umgekehrte Perspektive, ähnlich Deleuze: Welche genuin gruppen- und massendynamischen Energien artikulieren sich in den Kollektiven und nur dort? Welche Erregungsabläufe, welche Phantasmen, welche thematischen Epidemien sind für soziale Großkörper typisch und wie breiten sie sich aus, wie teilen sie sich den Individuen und den Gruppen mit? Welche Spannungen kann man nur dadurch erleben, daß die Erregung der Gruppe auf dich übergreift, und inwiefern und in welchen Fällen ist das, was einzelne erfahren, bloß eine scheinindividuelle Manifestation von kollektiven Kraftflüssen und Sensationsnachahmungswellen? Mit einer Feldtheorie der epidemischen Erregung kommt man also zu einer Gesellschaftsbeschreibung in mimetologischen Ausdrücken - und das bedeutet: man kehrt zurück zu Gabriel Tarde. Das ist etwas Seltsames - diese Rückkehr zu einem, der nie so richtig da war! Etwas übertrieben gesprochen: Es gibt ein Verhängnis der französischen Sozialwissenschaften namens Durkheim (und analog dazu ein deutsches Verhängnis in der Gesellschaftstheorie namens Max Weber). Durkheim ist durch seinen akademischen Erfolg - der natürlich unter anderen Aspekten hoch verdient war - direkt verantwortlich dafür, daß die TardeLinie in der französischen Soziologie praktisch neutralisiert wurde. Erst heute läßt sich überblicken, wie fatal das für die Wissenschaften von der Gesellschaft war, denn nur bei Tarde hätte man das Vokabular und die Syntax lernen können, mit deren Hilfe sich eine moderne Gesellschaft angemessen beschreiben läßt. Er hat die informatische und moralische Mystifikation der Gesellschaftstheorie, die heute überall an der Macht ist, schon im Ansatz aufgelöst. Tarde hatte die Gesellschaft in Ausdrücken von überlegener Beschreibungs- und Deutungskraft erfaßt, zum einen mit dem parapsychoanaly-
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tischen Konzept der gemeinsamen Halluzination, mit dem dynamischen Konzept der Nachahmungsflüsse, dem energetischen Konzept der kollektiven Erregung und dem ontologischen Konzept der Komplexität oder der Zusammengesetztheit von Ensembles aus Monaden und Zellen. Es ist kein Zufall, daß wir Gilles Deleuze am Beginn der Tarde-Renaissance finden, die sich zur Zeit mit der Edition einer neuen Werkausgabe bei dem französischen Verlag Les em$cbeurs de penser en rond abzeichnet - in meinen Augen einer der Glücksfälle in der Theoriegeschichte unseres Jahrzehnts. Kein Zufall auch, daß einer der produktivsten jüngeren Philosophen in Frankreich, der Deleuze nahestand, Eric Alliez, bei der Neuausgabe der Werke von Tarde eine wichtige Rolle spielt. Man darf vielleicht anmerken, daß Rene Girard, der inzwischen bei uns durch seine Theorie der mimetischen Konkurrenz und der Triangulierungskonflikte bekannt wurde, ein Tardianer reinsten Wassers ist - man könnte ihm allenfalls vorhalten, daß er seinen großen Vorgänger zu selten zitiert. Immerhin wissen wir durch sein Werk wieder etwas besser, daß es bei den Prozessen der Mimesis oder der eifersüchtigen Nachahmung um das realissimum der Gesellschaften geht, Bei beiden knüpfe ich in meinen neueren Arbeiten an, bei Girard schon länger, bei Tarde erst in jüngster Zeit. Mit Hilfe dieser Autoren, zu denen, wie gesagt, die kulturgenetische Theorie von Heiner Mühlmann zur Natur der Kulturen hinzukommt, läßt sich darstellen: Die virtuellen Körper der großen sozialen Ensembles werden durch stress-mimetische Mechanismen integriert. In ihrem Innern fließen Energien von einer Art, die ich diskrete Paniken beziehungsweise Mikro- oder Makro-Epidemien nenne. Unter ihrer Wirkung werden Einheits-,Verwandtschafts- oder Kohärenzhalluzinationen in künstlich geschaffene soziale Einheiten projiziert oder besser in diesen induziert, und dies um so intensiver, je jünger, künstlicher und willkürlicher diese Einheiten sind. Man kann das mit einer furchterregenden Deutlichkeit an den jüngsten »Nationen« beobachten, die sich unter den Au-
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gen der Weltöffentlichkeit in ethnogene Delirien versetzen diesen ganz jungen Wahnkollektiven, die als Groß-Serben, Groß-Mazedonier oder als was weiß ich auftreten. Die älteren Ethnien haben dies im Prinzip nicht anders gemacht, als sie Nationalstaaten wurden, aber sie haben inzwischen eine gewisse Tradition oder eine Abgeklärtheit gewonnen, die ihnen hilft, ihre ethnohalluzinatorischen Mechanismen ein wenig ruhiger einzusetzen. Elias Canetti hat vor mehr als einem halben Jahrhundert schon das Entscheidende ausgesprochen, als er in seinen Aufzeichnungen Die Provinz des Menschen schrieb: »Die Einheit eines Volkes besteht hauptsächlich darin, daß es unter Umständen wie ein einziger Verfolgungswahnsinniger handeln kann.« In unserem Kontext muß man auch die Umkehrung des Satzes berücksichtigen: Die Rechtfertigung eines einzelnen Paranoikers besteht darin, daß er gelegentlich wie die Inkarnation eines ganzen Volkes handeln kann. Beide Thesen zusammen umreißen das Feld, auf dem sich die Beziehungen zwischen nationalisierten Massen und ihren Führern organisieren. Eine vergleichbare Sicht hatte schon Nietzsche während seines letzten luziden Jahres entwickelt, als er nicht mehr entscheiden konnte, wovor er sich mehr ekelte: vor dem Hochmut der mickrigen Hohenzollern im besonderen oder vor dem Gesamtbild der europäischen Politik, die sich die Aufreizung der Völker zu sinnloser Selbstüberhebung zum Prinzip gemacht hatte. Alle diese Intuitionen zielen in dieselbe Richtung: Ohne ein gewisses Maß an Paranoisierung sind Nationen neuzeitlichen Typs nicht vorstellbar und nicht herstellbar. Die für diesen Effekt entscheidende Agentur ist der Verbund aus Printmedien und Schulen - der früher auch die Mitwirkung der nationalkirchlichen Institutionen nötig machte. Nur in diesem Medienverbund kann die Zeichenglocke produziert werden, unter der die Nationen je für sich in ihre kulturellen Klausuren eingesponnen sind - allenfalls die universaleren Kontexte der Kirchen, der Universitäten und der Hochkünste, seit den sechziger Jahren auch der Popkultur, entziehen sich teilweise dem
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Selbstabschottungseffekt der nationalen Pressen und der nationalsprachlichen Schulsysteme, Wenn man aber sieht, wie sich 1914 die Gelehrten und Studenten Europas in der Mehrheit verhalten haben, dann weiß man. daß es mit den vielgerühmten universalistischen Potentialen der Gymnasialkultur, der Wissenschaftskultur und der Aufklärung durch Druckmedien nicht so weit her war. Allgemein gilt, daß moderne Nationalgesellschaften in ihren Gründungsphasen dazu verurteilt sind, so zu tun, als seien sie vom Anfang der Zeiten her bestehende Kommunen im schlafenden Zustand gewesen und müßten jetzt endlich zu sich selbst erwachen. Sie brauchen, um in Form zu kommen, immer so etwas wie einen »Ruck«, der in der Regel durch die Provokation eines äußeren Feindes induziert wird, in dessen Abwesenheit auch durch die eines inneren. Ernest Gellner hat die Aufwachdelirien der medial ))zu sich« gebrachten modernen Nationalgesellschaften sehr treffend beschrieben, und Thomas Macho hat in einer spannenden Studie gezeigt, wie das Pflanzen von Freiheitsbäumen diesen Neustart von schlummernden Bürgernationen aus dem Selbstalarm symbolisch interpunktiert. All diese erst vor kurzem, das heißt vor höchstens acht bis zehn Generationen entstandenen Groß-Ensembles der Amerikaner, der Franzosen, der Italiener, der Belgier, der Deutschen und so weiter haben es ohne Ausnahme mit der Aufgabe zu tun, sich mit Hilfe der ebenfalls erst vor kurzem eingeführten massenmedialen und nationalpädagogischen Techniken selbst zu synthetisieren. Vergessen wir nicht: Es gibt den Nationalstaat erst seit zweihundert Jahren in der Folge der Französischen Revolution und der pressebasierten Telekommunikation, und es gibt daher erst seit dieser Zeit die Synergie von Bürgerpolitik und Massenmedien. Marshall McLuhan hat nicht umsonst die Presse als »Baumeisterin der Nationalismen« charakterisiert - einen Umstand, den man so lange nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen konnte, wie die Mystifikation des Buchdrucks und der Zeitungspresse als Träger
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der sogenannten Aufklärung sich an der Macht halten konnte. Diese pressefromme Sicht bestimmt etwa noch ein Buch wie Strukturwwandel der Öffentlichkeit von Habermas, einen Klassiker der medientheoretischen Unschuld. Inzwischen hat sich eine härtere Sicht der Dinge durchgesetzt: Nur durch Interaktion zwischen Massenmedien und mit Massenmedien kann der Synchronstress hergestellt werden, durch den große Bevölkerungen innerhalb von wenigen Wochen, neuerdings sogar von wenigen Tagen oder Stunden in synchrone Alarmstresszustände und militante Erregungsrhythmen versetzt werden. Diese thematischen Epidemien gehören zu den gefährlicheren Katastrophenpotentialen unserer Zeit, und sie sind die am wenigsten untersuchten; die »Massenwahntheorie«, die Hermann Broch gefordert und vorbereitet hat, ist seit den vierziger Jahren kaum von der Stelle gekommen. Man darf bei diesen Überlegungen den Faktor Zeit nicht außer Betracht lassen: Früher haben Gerüchte und andere semantische Erreger nicht schneller reisen können als die schnellsten Transportmittel, also etwa so schnell wie der Kurier des Zaren oder im Tempo einer königlichen Poststafette. Es kursieren bezeichnende Anekdoten über den diplomatischen Verkehr zwischen den USA und dem französischen Direktorium. Zum Beispiel wird überliefert, daß Thomas Jefferson während seiner ersten Amtszeit als US-Präsident sich einmal nach dem damaligen Gesandten der USA in Frankreich erkundigte, wobei sein sommerliches Gespräch mit dem Außenminister etwa wie folgt verlief: »Mister Miller ist jetzt seit anderthalb Jahren in Frankreich, und wir haben von ihm noch keine Nachricht. Sollten wir bis Weihnachten nichts von ihm hören, schreiben wir ihm einen Brief.« Heute würde man den verschollenen Botschafter über sein mobil phone zur Strecke bringen. Wir würden ihm die Pflicht zur Verfügbarkeit im Dort und Jetzt aufnötigen - also Daueransprechbarkeit von ihm verlangen. Die ist systemisch gedacht nichts anderes als ein Ausdruck des Vernetzungs- oder Globalisierungsprozesses in seinem aktuellen Verdichtungsschub. Wovon reden wir dem-
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nach, wenn wir Globalisierung sagen? Wir reden in der Sache von der Durchsetzung des Synchronstress-Systems im Weltmaßstab. Dieses hat so große Fortschritte gemacht, daß für asozial gilt, wer sich für den Synchronstress nicht ständig zur Verfügung hält. Erregbarkeit ist jetzt die erste Bürgerpflicht. Wir brauchen daher keinen allgemeinen Militärdienst mehr.Was verlangt wird, ist der allgemeine Themendienst, also die Bereitschaft, seine Rolle zu spielen als Reizleiter für opportune kollektive Psychosen, Gefordert wird Verfügbarkeit in der Mobilmachung der Adressen. Wer das verweigert, ist heute in einem höheren Sinne ein Dissident gegenüber dem Identitätsdienst, den die Gesellschaft ihren Mitgliedern abverlangt, als jemand, der erklärt: »Bevor ich für das Vaterland eine Waffe anrühre, pflege ich einen inkontinenten Alten.« H.-J. H. Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Subversion des Semantischen durch das Energetische einen auffälligen Nebeneffekt produziert: nämlich daß dort, wo diese Unterwanderung akut geschieht, auch der stärkste Widerstand gegen die Einsicht in diesen Wirkungszusammenhang auftritt. Das hat die Geschichte der Psychoanalyse gezeigt. Heiner Müller hat vor einigen Jahren pointiert gesagt: »Analyse findet nicht mehr in der Philosophie, sondern auf dem Theater statt.« Kann denn die Sozialwissenschaft überhaupt noch der Ort gesellschaftlicher Klärungen sein? Spielt sich die Aufklärung nicht eher an anderen Schauplätzen ab, etwa in Form von lokalen Ontologien, worauf ja ein Teil Ihrer Argumentation in den Sphären zielt? Oder liegt die aktuelle Stagnation daran, daß wir uns zu sehr in der deutschen Sondersituation eingerichtet haben? Sie haben einmal angedeutet, daß Sie einen »Anarchismus im Gewande des Konformismus« kommen sehen. Diese selbstverordnete Harmlosigkeit, dieser neue globalisierte Konformismus und der Rückzug auf das Nachdenken, wie wir gesagt haben - zu welchen Folgen wird diese intellektuelle Mutlosigkeit führen, in der Gesellschaft im ganzen und ihren Wissensinstitutionen?
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P. S. Sie sagen es selbst. Man muß sich darauf gefaßt machen, daß die effektive Aufklärung von einer Seite her kommt, wo man sie nicht erwartet. Sie geht dort weiter, wo ihre Kontrolleure und selbsterklärten Platzhalter nicht hinschauen. Man kann das am Beispiel der abgeflachten Psychoanalyse erläutern: Ein Stuck floskelhafter Selbstanalyse ist heute bereits in die allgemeinen Verkehrsformen eingebaut. Die meisten Angehörigen der Mittelschichten mit höherem Bildungsgrad haben sich an den Gedanken gewöhnt, daß sie nicht Herr im eigenen Haus sind - sie geben also ihrem Unbewußten eine Chance und spielen in der individualpsychologischen Komödie mit, so gut sie können. Sie haben sich damit abgefunden, daß es denkt, wenn ich denke, und daß es redet, wenn ich rede. In dieser Hinsicht sind alle längst immun und gegen weitere Aufklärungsschocks abgefedert. Für die Analyse, die das Außen bearbeitet, ist diese ironische Stoßdämpfung noch nicht gegeben, weil man nicht bemerkt hat, was sich hier theoretisch tut. Darum werden die Scheinaufklärer eine besonders heftige Abwehr entwickeln, wenn man ihnen nachweist, daß sie in den stress-verteilenden Systemen nicht autonom agieren, sondern nur als Reizleiter und intermediäre Batterien funktionieren. Man kann ohne Aufwand zeigen, daß alle Einzelnen einen Erregungs-Input und einen Erregungs-Output besitzen und daß sie, je nach dem Organisationsgrad ihrer Individualität, den Input mehr oder weniger unprozessiert wieder aus sich entlassen, vielleicht ein wenig gedämpft, vielleicht mit verstärkter Amplitude. Jedenfalls sind Individuen Transformatoren, die in den Durchsatz von themengebundenen Energieflüssen eingeschaltet sind. Ihre sogenannten Meinungen sind die thematischen und moralischen Formen der Mode. Psychohistorisch gesehen entspricht diese optische Drehung einer realen Umstellung von Endoneurose auf Exoneurose, das heißt von Eigenkonfusion auf Mitmachkonfusion. Einiges hiervon hat Hermann Broch in seiner Massenwahntheorie vorweggenommen - einer Theorie, die erklärt, wieso die Mitmacher nach dem
Subtexte einer Debatte Exzeß in eine wiedergefundene Normalität zurückschwingen, als ob sie nie am Wahnsinn teilgenommen hätten. Ich provoziere deine Autonomie-Illusion nie zuverlässiger, als wenn ich dir am konkreten Beispiel zeige, daß du unfähig bist, eine Erregungskette in dir enden zu lassen. Damit taste ich deine Souveränitätsillusion an. Das könnte eine nützliche Provokation sein. Nichts anderes wäre ja die Definition von Souveränität - sich von Meinungsepidemien distanzieren können: den Erregungsdienst verweigern. Wir leben immer in kollektiven Erregungsfeldern, daran ist, solange wir soziale Wesen sind, nichts zu ändern. Der stressorische Input reicht unweigerlich in mich hinein: die Gedanken sind unfrei, jeder kann sie erraten. Sie kommen aus der Zeitung und führen in die Zeitung zurück. Meine Souveränität, falls sie existiert, kann sich allein darin zeigen, daß ich den aufgenommenen Impuls in mir absterben lasse oder daß ich ihn, wenn überhaupt, in völlig verwandelter, geprüfter, gefilterter, umcodierter Form weitergebe. Es hilft ja nichts, es abzustreiten: ich bin frei nur in dem Maß, wie ich Eskalationen unterbrechen und mich gegen Meinungsinfektionen immunisieren kann. Genau das macht noch immer die Mission des Philosophen in der Gesellschaft aus, wenn man für einen Augenblick pathetisch reden darf: zu beweisen, daß ein Subjekt ein Unterbrecher sein kann und nicht nur ein einfacher Kanal für den Durchlaß von thematischen Epidemien und Erregungswellen. Die Klassiker drücken das mit dem Wort Besonnenheit aus. In diesem Konzept rühren Ethik und Energetik aneinander: Als Träger einer philosophischen Funktion darf ich und will ich weder Reizleiter in einer stress-semantischen Kette sein noch Automat eines ethischen Imperativs. Bei kleineren Themen und niederen Spannungen sind Intellektuelle im übrigen daran gewöhnt, aufgenommene Impulse sofort durch ein Negationsprogramm hindurchlaufen zu lassen - man hat dann immer sofort die Befriedigung, anders zu denken als der Autor einer These. Dies wird als schnelle Kritik-Prämie genossen. Bei hohen Spannungen ge-
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lingt das kaum mehr, weil die Gleichrichtungsenergien stärker sind als die Dissidenzgewohnheiten. Durch hochenergetische Themen wird fast alles mitgerissen. Man kann im Blick auf die Affaire, die mit meinem Namen assoziiert wird, sehr gut zeigen, daß zahlreiche Journalisten, doch mehr noch Kollegen aus dem Fachbereich Philosophie, denen wahrscheinlich viel daran liegt, als autonome, sachlich urteilende Intellektuelle zu gelten, in ziemlich mechanischer Weise als Kanäle für den Transport von Aufreizungsimpulsen fungiert haben, und zwar in den meisten Fällen deswegen, weil man für eine Umarbeitung des Inputs keine Zeit aufbringt. In solchen Situationen funktioniert die intellektuelle Askese, die Bemühung um Abstand, nicht mehr. Bemerkenswert wenige haben es fertiggebracht, sich eine eigene, das heißt von der Erregungsinduktion unabhängige Meinung zu bilden und die Nachahmungswelle zu unterbrechen. Man wird sich in Zukunft immer fragen müssen: Leiste ich einen Beitrag zu einer Debatte, oder laufe ich in einer Hetzmeute mit? Oder ist es dasselbe? Für Anhänger der Subjektautonomie ist diese Analyse nicht schmeichelhaft; aber sie hat beschreibende Kraft, sie schließt gut an erklärende Theorien an, und sie ist mit unseren alltäglichen Intuitionen kompatibel. Man sieht hier, daß auch die umgestülpte, nach außen gedrehte Form der Analyse - nennen wir sie probeweise Stress-Feldanalyse - in subjektivitätskritischer Hinsicht zu einem ähnlich subversiven Ergebnis kommt wie die anspruchsvollere Psychoanalyse, zumal in ihren französischen Varianten: Unter beiden Optiken wird das Subjekt als etwas angesehen, das nur imaginär im Kontrollzentrum der eigenen Unternehmungen stehen kann, in Wahrheit aber ein Agent ist, der am Rande eines eigengesetzlichen und nichtsubjektiven Sinn- und Energiegeschehens dahintreibt. Wir beide teilen ja die Skepsis gegen das Phantasma der modernen Sozialphilosophie und der dialogphilosophisch aufgeprotzten Soziologie, daß sie der Ort wären, wo die Gesellschaft am meisten von sich weiß. Wo solche Delirien am Werk sind, da
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glaubt man gern, die Gesellschaft schlüge im Sozialphilosophen die Augen auf und sähe sich zum ersten Mal selbst voll und ganz, wie sie ist. Wo ein Soziologe ist, da wird es wie von selber Licht. Heiner Müller hat aus Zweifel am Soziologenwahn auf einen anderen Ort für produktive Wahrheitsspiele hingezeigt, das Theater. Dies paßt mit dem, was eben über Psychoanalyse und Stressanalyse gesagt wurde, gut zusammen, weil das europäische Theater seit den Griechen ein Auftauchort ist, an dem eher die energetischen Lebensaspekte als die semantischen prozessiert werden - nicht umsonst bedeutet drama Ereignis. Theater ist eine Klammerinstitution, eine Art von ästhetischem Orakel, ein teuer bezahlter, aber in seiner Leistungskraft noch lange nicht zu Ende durchdachter Ort, an dem das Auftauchen, das Zur-Sprache-Kommen und das Sichtbarwerden des bis dahin Unsichtbaren sich vollziehen kann. Es ist eine mirakulöse Institution. Man kann nicht genug darüber staunen, daß es einer Gesellschaft zuweilen gelingt, ihr Unbewußtes an bestimmten Schauplätzen spielen zu lassen.
Schwebendes Denken: Zur Kritik des Unsagbaren H.-J. H. Ich nehme noch einmal Bezug auf die Bewunderung Robbe-Grillets für Roland Barthes’ »gleitendes Denken«, ein Denken, das unaufhörlich etwas in Worte faßt, ohne dieses Etwas erstarren zu lassen. Von Georges Bataille kennen wir die These, daß der Diskurs nur von Nutzen sei, wenn er sich selbst ausstreicht und sein Verschwinden vorbereitet. Ich knüpfe hieran die Frage, wie sich die Rolle des Philosophen in sprachphilosophischer und poetologischer Hinsicht bestimmen ließe. Bataille hat davon gesprochen, daß man die Philosophie aufheben müsse, um zu ihr zurückzufinden. In der Sprache könne man nicht ergreifen, worauf es ankomme. Wie ist das Unsagbare philosophisch faßbar? P. S. Vielleicht sollte ich sofort zugeben, daß ich, was das soge-
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nannte Unsagbare angeht, keine besonderen Ambitionen hege. Es genügt, scheint mir, die Grenzen regulärer Sprachspiele ein wenig hinauszurücken. Außerdem ist zu bedenken, daß das Konzept des Unsagbaren äußerst vieldeutig ist - mir kommen im Augenblick drei oder vier grundlegend verschiedene Bestimmungsmöglichkeiten in den Sinn. H.-J. H. Ich sollte wohl zum Hinweis auf das Unsagbare den Freudschen Begriff des Unheimlichen hinzufügen. Unheimlichkeit ist zunächst eine Angelegenheit des Blicks, aber auch der Macht des Angeblickten über den Blickenden, eine Macht, die Walter Benjamin im Kultwert auratischer Objekte erkannte. P. S. Nach meiner Meinung kommt das Unheimliche innerhalb des Komplexes, den man das Unsagbare nennt, erst an späterer Stelle. Ein primäres Bestimmungsmerkmal wäre wohl, daß unsagbar notwendigerweise all das sein wird, was außerhalb eines Ensembles eingespielter Sprachspiele liegt - das ergibt das codespezifisch Unsagbare. Man bekommt es mit ihm zu tun, wenn man zwischen die Sprachen gerät - eine Erfahrung, die in der Moderne mobilitätsbedingt immer häufiger auftritt. Zum Beispiel können die meisten Sprachen den Sinn des deutschen Worts »unheimlich« nicht adäquat wiedergeben. Bedenken Sie, wie sich die Franzosen, beim Versuch, Freud zu übersetzen, mit ihrer etrangete’ ingui&ante abquälen; das englische uncanny hat seinerseits eine Klangfarbe, in der die Konnotationen des deutschen Ausdrucks weitgehend verschwinden. Wenn man in einem solchen Kontext auf etwas »Unsagbares« aufmerksam wird, hat dies mit dem Anstoßen an den Grenzen einer Sprache zu tun. Man bemerkt dann, daß in dem einen Code komplexe Vorstellungen artikuliert werden können, die sich in einem anderen Code verlieren. Daneben gibt es ein zweites Unsagbares: Nennen wir es das Wahrnehmungs-unsagbare. Mit ihm kommen wir dem Ansatz von Bataille schon näher. Es gründet in der Tatsache, daß zwischen symbolischen Operationen und Wahrnehmungsakten
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ein Graben klafft, den man im allgemeinen unbemerkt überwindet, weil er von der alltäglichen Sprachspielroutine zugeschüttet wird. Die einfachste Meditation, die elementarste Sensibilisierungsübung bringt zu Bewußtsein, daß zwischen der sinnlichen Gewißheit - besser gesagt zwischen der »primitiven Präsenz«, ein Ausdruck, der sich bei dem Neo-Phänomenologen Hermann Schmitz findet - auf der einen Seite und den symbolischen Operationen, die wir in Sätzen ausführen, auf der anderen kein Kontinuum besteht. Das gehört zu den Grunderfahrungen, von denen die Meditierer sprechen: Sie machen sich mit Hilfe von diskreten Schizotechniken bewußt, daß wir üblicherweise ständig von einem sprachlich artikulierten Bewußtseinsstrom durchflossen werden, der uns vortäuscht, Wahrnehmung und Sprache seien zur Deckung gebracht. Sobald man den inneren Sprachprozeß neutralisiert, blühen die Wahrnehmungen so sehr auf, daß man anfängt, unter Ausdrucksnot zu leiden, sofern man sagen will, was man jetzt sieht und spürt. Die Differenz ist so dramatisch, daß manche Künstler mit der Empfindung kämpfen, sie müßten entweder eine neue Sprache erfinden oder völlig verstummen. Hofmannsthal hat in seinem Chandos-Brief eine unfreiwillige Schizo-Krise gestaltet, denken Sie an die berühmte RattenSzene und an seine Formel von dem »ungeheuren Anteilnehmen« an der Agonie dieser Tiere, diesem Hinüberfließen des Gefühls in die Kreaturen, das sich neben oder jenseits der Sprache vollzieht, Die Illusion von der Absorbierung der Wahrnehmung in den vertrauten Sprachwendungen ist eine Art von Ekstaseschutzvorrichtung, denn wurde man die radikale Eigenwertigkeit und Außerverbalität der Wahrnehmung eigens meditieren, so würde man ständig aus sich selbst herauskatapultiert, man wurde sozusagen fortwährend in die Dinge hinausfallen, sofern jedes Ding eine Einladung zur Exzentrierung ist. Also ist nicht nur das Individuum ineffabel, auch alles Komplexe, Situative, Umgebungshafte, Atmosphärische ist es. Die ganzheitlich verfaßten Situationsgefühle und Umblicke
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übersteigen immer den Ausdruck. Deswegen sind soziale Systeme so organisiert, daß sie das Luxurieren von explizitgemachter Wahrnehmung bei ihren Mitgliedern normalerweise unterdrücken, da sonst mehr Mystiker entstehen wurden, als eine Gesellschaft absorbieren kann. H.-J. H. Ezra Pound vergleicht in Vortizismus den Schriftsteller, der sich dem Unsagbaren öffnet und dadurch über das vorhandene Sprachrepertoire hinausgeht, mit dem Maler, der mehr Farbtöne und Farbstufen kennen und ausprobieren muß, als Farbnamen vorhanden sind. Er spricht auch einmal von der »Ballung« und den »ausstrahlenden Schwingungsknoten, aus dem, durch den und in den immerfort Ideen dringen«. P.S. Das entspricht dem eben angedeuteten Überschuß der Nuancen im Wahrnehmungskontinuum über die lexikalischen Möglichkeiten der Sprache. Übrigens haben Farbphysiologen in jüngerer Zeit erklärt, daß der menschliche Sehapparat bis zu zehn Millionen Farbnuancen unterscheiden kann. Auch wenn nur jeweils tausend davon ein sprachliches Äquivalent hätten, müßte man zehntausend Farbwörter lernen: Kein Menschenleben wäre lang genug, um diese Ausdrücke in erfolgreichen Sprachspielen einzuüben. Man darf daran erinnern, daß die meisten Menschen mit einem aktiven Vokabular von drei- bis fünftausend Wörtern ihre gesamte Existenz bestreiten. Nur dank extremer Vergröberungen kommt man sprachlich durch die Wahrnehmungswelt hindurch. Was die Aussagbarkeit von Formen, von Gestalten, von Anmutungsqualitäten und Atmosphären angeht, so ist das Gefalle zwischen den sprachlichen Möglichkeiten und den sinnlichen Präsenzen noch exzessiver als bei den Farben, und dabei haben wir über Menschengesichter, Stimmtimbres und andere extrem individuierte Phänomene noch nicht einmal gesprochen. Darüber hinaus gibt es ein logisches Unsagbares, das für die Europäer von der Seite des philosophischen Denkens hereinbrach, seit im hohen Mittelalter Philosophen und Theologen angefangen haben, mit dem Begriff des Unendlichen ernst zu
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machen. Damals hat sich so etwas wie die Dämonie einer logischen Unsagbarkeit ins Denken eingeschlichen, denn nach dem bekannten scholastischen Lehrsatz hat das Endliche mit dem Unendlichen kein gemeinsames Maß. Operationen mit dem Wert unendlich sind seither als eine ständige Selbstgefährdung der menschlichen Intelligenz hintergründig präsent. Im Grunde geht es hier mehr um das Unvorstellbare als das Unsagbare, weil eben das Unendliche per definitionem das ist, was das Vorstellen übersteigt. Zugleich ist unsere Intelligenz so organisiert, daß wir dennoch versuchen, das Unvorstellbare vorzustellen. Ein gewisses Maß an Unendlichkeitsstress gehört zum modus operandi der europäischen Intelligenz. Über Fragen dieser Art hat Spengler aufschlußreiche Bemerkungen zu Papier gebracht, als er die Kulturen im Hinblick auf ihre mathematischen Stile unterschied. Er hat etwa gezeigt, daß für die Antike die Quadratur des Kreises ein charakteristisches Problem war, also der Versuch, den Abgrund zwischen zwei endlichen geometrischen Figuren zu überbrücken. Hingegen hat sich der Geist der abendländischen Kultur in der Infinitesimalrechnung des Leibnizschen oder des Newtonschen Typs manifestiert, also in Rechnungen mit dem Wert Unendlich. Leibniz hat vormachen können, wie man den Unendlichkeitsdämon mathematisch zähmt, indem man einen diskreten Sprung ins unendlich Große oder unendlich Kleine vollzieht und trotzdem so tut, als sei man in einem rechnerisch kontrollierten Kontinuum geblieben. Was Bataille angeht, so kommt bei ihm, scheint mir, noch eine vierte Abschattung ins Spiel, ich würde sie das dionysische Unsagbare nennen. Bataille ist fasziniert durch die unverfaßte Wirklichkeit, die im Subjekt als das energetisch Unheimliche oder das dynamisch Erhabene auftaucht - so lese ich sein Konzept von »innerer Erfahrung«. Wenn man sich an die Kantsche Definition des Erhabenen erinnert, wonach nur die sittliche Erhebung des Subjekts angesichts der Möglichkeit seiner Vernichtung durch eine Übermacht erhaben heißen darf, dann
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ist das Bataillesche Unsagbare dieser Definition benachbart allerdings mit verkehrtem Vorzeichen, denn da, wo das Kantsche Subjekt auf sich beharrt und sich angesichts des Überwältigenden selbst bewahrt, dort wurde das Bataillesche Subjekt sich hingeben oder, wie er sagt, sich verschwenden. Lassen Sie mich hier eine ideengeschichtliche Fußnote anfügen, das einigermaßen dramatische Verhältnis zwischen Bataille und Alexandre Kojeve betreffend, wie es Dominique Auffret in seiner Monographie über Kojeve dargestellt hat. Bataille ist in der Begegnung mit Kojeve klargeworden, daß für ihn der Weg zur Souveränität, was immer das jetzt heißt, nicht mehr über die Philosophie führen konnte. Kojeve hatte vor Batailles Augen diese Möglichkeit verbraucht, so daß es für Bataille nie in Frage kam, mit diesem »absoluten Meister« in Konkurrenz zu treten - erst Lacan hat, wie Insider wissen, mit Kojeve in dieser Hinsicht die Konkurrenz aufgenommen. Anekdoten berichten, Bataille sei zuweilen wie tot aus dem »Seminar« gekommen, in dem Kojeve seine Exegese der Phänomenalogie des Geistes zelebrierte. In ihm bleibt die entscheidende Frage zurück: Ist eine nicht-logische Souveränität möglich? Gibt es einen Weg zum Gipfel, der nicht über Hegel führt? Die Antwort liefert er in seinem Werk, das den Sprung vom Logizismus zum Vitalismus vorführt. H.-J. H. Also: Wie ist es möglich, von der Idee eines souveränen Denkens zu der Idee eines souveränen Seins zu gelangen? Was Bataille betrifft: Er vertritt nicht nur die individualistische oder egomanische Seite, sondern partizipiert schon an einer dyadischen Form des Souveräns. Ich habe ihn einmal einen verkappten Buddhisten genannt, weil er die monologische Souveränität überwinden will, weg von der Souveränität des Denkens und hin zu der Souveränität des Seins. Oder wie es bei Gurdjieff heißt: Lebenswissen und Seinswissen sind miteinander in Verbindung zu bringen. Es stellt sich die Frage, ob wir beides verwirklichen können, ein energetisch starkes Leben und ein energetisch starkes Denken. Bisher scheint es, daß
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die großen Denkenden am Ende vital ausgepumpt zurückgeblieben sind, während umgekehrt die großen Vitalen denkerisch leerlaufen. Gurdjieff sprach von der Pflicht, »gemäß der eigenen Individualität der Nachwelt nützliche Kenntnisse zu überliefern« - wohlgemerkt: gemäß der eigenen Individualität, also der individuellen Kombination von Lebens- und Seinswissen. Foucault bemerkte kurz vor seinem Tod, man müsse »in jedem Augenblick, Schritt für Schritt, das, was man denkt und sagt, mit dem konfrontieren, was man tut, was man ist«. Der Schlüssel zur »persönlichen poetischen Einstellung des Philosophen« dürfe nicht in seinen Ideen gesucht werden, »sondern vielmehr in seiner Philosophie-als-Leben, in seinem philosophischen Leben, seinem Ethos«. So gesagt 198 3. Lassen Sie mich noch eine Erwägung einbringen in bezug auf das, was wir hier das »schwebende Denken« nennen. In den letzten Jahren seines Lebens wurde Roland Barthes von der Frage heimgesucht, ob er im Verhältnis zu den Gelehrten der Sorbonne nicht ein Hochstapler sei. »Umsonst habe er ihm«, schreibt Robbe-Grillet, »entgegnet, daß er natürlich ein Schwindler sei, weil er eben ein richtiger Schriftsteller sei, und nicht ein )Schreibender<, um seine eigene Unterscheidung aufzugreifen, denn die )Wahrheit( eines Schriftstellers, falls sie existiert, könne nur in der Anhäufung, dem Exzeß und der Überwindung seiner notwendigen Lügen bestehen. Er war nicht überzeugt, gewiß, ich hätte das Recht, ja die Pflicht zu schwindeln, er aber nicht, denn er sei nicht kreativ.« Was ist ein Denker in unserer Zeit? Kann er noch Meisterdenker sein, einer, der versucht, in einer letzten Terminologie endgültige Gewißheiten zu liefern? Doch wohl nicht. Aber auf welche Weise soll sein Denken gesellschaftliche Wirkungen freisetzen? Durch Affirmation? Durch Subversion? Worin besteht die Chance des schwebenden Denkens? Hat der poetische Diskurs die Möglichkeit, das Starre und Substantielle auszuhebeln, etwa wie ein unbewaffneter T’ai-Chi-Kämpfer gelegentlich den gerüsteten Soldaten besiegt?
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P. S. Ich erinnere mich an ein Wort, das Bataille im Blick auf Hegel formuliert hat: Er fand zu Lebzeiten das Heil, von ihm blieb nichts übrig als ein Besenstiel. Ein starker Denkender und ein schwacher Lebender, das ist die Standard-Diagnose des Vitalisten über den Logizisten. Durch Batailles Bemerkungen klingt die Rede aus dem Zarathustra über die Hinterweltler hindurch. Nietzsche hatte seinen Propheten sagen lassen, noch die höchsten Wesen, die der alte Kontinent hervorgebracht hat, seien nur Zwitter aus Pflanze und Gespenst gewesen. Da hört man das Vitalistische Argument in Reinkultur: Es äußert sich als Pflanzenverdacht gegen alle Philosophie und als Gespensterverdacht gegen alle Philosophen, beides vor dem Hintergrund einer neuen Intensitätsutopie, nämlich daß ein nicht vom Leben ausgeschlossener Typus des Denkens entstehen soll. Was könnte man gegen eine solche Vision einwenden? Vielleicht nur, daß man niemandem trauen dürfte, der sich selber als Verwirklicher dieses Doppellebens anpreisen wurde. Roland Barthes’ Selbstzweifel drucken sicher die Verlegenheit eines Autors aus, der dem Leben wenig schuldig blieb und dafür mit dem Verdacht bezahlte, er sei der Wissenschaft etwas schuldig geblieben. Ich lebe, also kann ich nur ein Scharlatan sein. Für die Option, die getrennten Stärken zu vereinigen, muß man den Titel Scharlatanerie wohl bis auf weiteres akzeptieren. Michel Foucault zum Beispiel, der das Votum für eine starke Liaison zwischen den beiden Intensitäten eindrucksvoll verkörpert hat, mußte sich den Scharlatanerie-Vorwurf des öfteren anhören, aber er schaute sich die Leute, die solche Vorwürfe erheben, an und amüsierte sich. Er war ein Vitalist großen Stils, trinkfest wie ein Sokrates redivivus, Nächte hindurch die anatomische Ausstattung seiner Liebhaber diskutierend, ein Athlet im Archiv, ein Ausdauersportler vor der Schreibmaschine und vor Mikrophonen. Wissen Sie, was mit dem Begriff Scharlatan gesagt ist? Ich habe mich vor kurzem einmal mit der Wortgeschichte befaßt, um einen medizinphilosophischen Vortrag über den Unterschied
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zwischen Operieren und Zaubern in der modernen ärztlichen Praxis vorzubereiten. Der Ausdruck geht zurück auf einen im Italien der Renaissance aufgekommenen Typus von Marktschreiern aus der Stadt Cerreto, die für ihre Heilkräuter bekannt war, die Cerretani, aus denen auf dem Umweg über das Französische die charlatans wurden. Was haben Heilkräuterausrufer und Philosophen gemeinsam? Ich denke, eine ganze Menge. Die einen preisen Wundermittel an, die meistens versagen, die anderen handeln mit Weltformeln, die sich immer blamieren. Ich wurde so weit gehen zu sagen, daß seit Fichte die meisten Philosophen, die sich außerhalb der Universität einen Namen gemacht haben, als Scharlatane gelten dürfen, weil sie vorgaben, die Krankheiten der Welt oder der bürgerlichen Gesellschaft aus einem Punkte zu kurieren, sei es durch die Setzung des Ich, sei es durch die Rückführung des Produkts zum Produzenten, sei es durch die Anpreisung der idealen Kommunikationssituation. Heute scheint es uns, als seien solche Ärzte gefährlicher als die Krankheiten, die sie zu beheben versprechen. Dagegen hätten wir gern mehr von jener foucaultianischen und lacanschen Scharlatanerie, die ihren Klienten von vornherein erklärt, ich helfe euch selbstverständlich, so gut ich kann, aber ich rate euch, bei euren Symptomen zu bleiben, ihr habt nichts Besseres, Das ist freilich nicht eben das, was die einfache Therapievernunft sich unter einem Helfer der notleidenden Menschheit vorstellt. H.-J. H. Zu der Figur des Scharlatans im Philosophen sollte man die des Narren hinzunehmen, vielleicht auch die Figur des Homöopathen, und nicht zuletzt die des Aktionskünstlers. Hierher gehört wohl auch alles, was Bataille als das »lachende Denken« bezeichnet hat. Im übrigen, selbst wenn man bei Foucault nicht wie üblich die kurzschlüssige Verbindung zwischen Biographie und Werk herstellt, zeigt sich in seiner Existenz doch eine ungeheure Paradoxie: sich vorzustellen, daß der Denker dort am vitalsten ist, wo er sich triebdynamisch unterwürfig gibt. Das masochistische Element im Triebleben
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von Foucault hat offensichtlich mit einer gesteigerten aktivistischen Form des Denkens koexistieren können. P.S. Man muß hierzu die Ausführungen von Deleuze und Guattari über die Suche des Masochisten nachlesen. Die Autoren zeigen, wie die quälerischen Prozeduren nur eine Methode sind, sich einen »organlosen Körper« zu schaffen. Ich verstehe den Ausdruck so, daß der organlose Körper kein Objekt mehr sein kann, kein festgestelltes leidendes Ding. Indem der Masochist Leiden übersteht, überzeugt er sich davon, daß seine Lebendigkeit unteilbar ist und daß seine innere Energie weiter geht als jede qualvolle Objektivierung. H.-J. H.: Lassen Sie uns noch einmal auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des diskursiven Ausdrucks zurückkommen. Der Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt hat behauptet, ein Werk wie Kafkas Schloß erreiche eine Dimension, die der Philosophie, sosehr sie sich bemüht, immer verschlossen bleibe. Das Scheitern des Menschen und das Schaudern angesichts des Äußersten seien in der Sprache der Philosophie nicht faßbar. Nicht zufällig haben Denker wie Nietzsche oder Cioran literarische Ausdrucksformen gesucht. Foucaults schönstes Buch, das über Raymond Roussel, ist zugleich dasjenige, das sich am weitesten von der Philosophie entfernt, es ist neben die besten Texte von Jabes, von Blanchot, von Leiris, von Bataille und einige der großen Essays von Sartre zu stellen. Unvergeßlich ist mir, wie Foucault in Roussels Haut schlüpft, wie er seine Sprachmagie aufnimmt, wie er sich blitzschnell einzurichten weiß in den minimalen Abweichungen zwischen zwei Wörtern oder Sätzen, die gleichwohl explosive Bedeutungsunterschiede markieren, und wie zwischen diesen Wendungen (etwa >billard«, Stoßkugelspiel, und ~~~il~ard«, Plünderer) ein, wie Foucault sagt, »Gewebe aus Worten, Geheimnissen und Zeichen«, ein »Sprachereignis« hervorgeht. P. S. Ich muß gestehen, ich bleibe zunehmend ungerührt, wenn ich Äußerungen wie die von Goldschmidt höre. Es hat doch
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keinen Sinn, so zu tun, als seien nur das Grauen und das menschliche Scheitern dem Ausdruck transzendent. Jedes Dies-Da ist unaussprechlich, dieses Glas, dieser Hosenknopf, dieser Lichtreflex auf dem Kaffeelöffel da. Ich mißtraue der Attitüde von Schriftstellern, die Grenzen ihrer literarischen Möglichkeiten mit den gesammelten Schrecknissen des Jahrhunderts zu erklären. H.-J. H. Dennoch, der Philosoph sei meist »eine Art Mischgattung zwischen Dichter und Gelehrtem«, hat noch Flaubert behaupten können - und wie sehr haben sich heute die Pole auseinandergelebt! Darum stehen wir vor dem verschärften Problem: Wie weit kann man dem Dichterischen und dem unmittelbar Werdenden, dem Prozeßhaften und Ereignishaften des Denkens überhaupt im philosophischen Diskurs Geltung verschaffen, wie kann sich das »Schwebende« und »Frei-Flottierende« im Text materialisieren? Safranski spricht von den »Sichten«, die sich im Kommen und Gehen des Gedankens verschieben, so wie der Begriff disctirsus ursprünglich ein mentales Hin- und Herschreiten zwischen den Örtern der Rede meinte. Ich frage ganz direkt: Wäre der entscheidende Fortschritt der Philosophie nicht der Schritt am der Philosophie? Man findet diese Anregung bei Edmond Jabes offen ausgesprochen: »In den letzten Jahren«, schreibt er, »hat die Philosophie einen entscheidenden Schritt atis der Philosophie heraus gemacht, um in das einzutreten, was ich das Poetische nenne, und um es zum ersten Mal philosophisch zu denken. Es gibt ein Denken in der Poesie, das nur Dichter kennen, weil es eine poetische Logik gibt, verschieden von der, die wir mit einem solchen Namen bezeichnen. Die Philosophie hat jetzt verstanden, daß es nicht die eine Logik gibt, sondern daß es viele gibt, darunter auch die poetische Logik.« »Die Romanfiktion«, hat Robbe-Grillet gesagt, als wollte er Jabes antworten, »die Romanfiktion ist bereits so etwas wie das Weltwerden der Philosophie.« Könnte man analog von der phi-
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losophischen Fiktion sagen, sie sei Vorschule für den Roman? Oder ist der Roman doch etwas, das sich nur in der Welt des Romans schreibt? Nathalie Sarraute hat diese These vehement vertreten, ähnlich Harry Mulisch, der darauf insistiert, »die Psychoanalyse könne viel vom Roman, der Roman aber nichts von der Psychoanalyse lernen«. Ist die Philosophie nicht auch ihrerseits etwas, das sich für immer nur in der Geschichte der Philosophie ereignen kann? P.S. Der Schritt der Philosophie aus der Philosophie: Die Wendung hat etwas Frappierendes. Das liegt wohl daran, daß Jabes auf eine scheinbar selbstverständliche Weise ein Problem überspringt, mit dem sich andere, auch ich, wie mit einer unlösbaren Aufgabe abplagen. Jabes geht von etwas aus, was andere meinen, erst beweisen zu müssen: daß es eine Pluralität der Logiken gibt, also nicht irgendein nebelhaftes Anderes, sondern auskristallisierte Vielfalten, konkrete Verfahren der Welterzeugung. H.-J. H. Für Jabes spricht, daß er weiß, wovon er redet, wenn er sagt, »die Philosophie ist durch irgendein unsichtbares oder vielleicht auch sichtbares Tor in den poetischen Bereich hinübergegangen«. Die Verzweiflung des Schriftstellers - notiert Jabes einmal in seinem Kleinen unverdächtigen Buch der Subversion - besteht darin, »in unbestimmter Weise auf ein Buch hinarbeiten zu müssen, das er nicht schreibt«. Worte sind »Schattengeschöpfe, Sinnbilder des Mangels«, Schreiben heißt: mit einem unbekannten Gesicht aussehen. P. S. Auch hier möchte ich einwenden, daß man dem Mangeldenken mit etwas mehr Reserve begegnen muß. Es ist problematisch, das Abwesende zu fetischisieren und die Kreativität vom Mangel her zu denken. Doch zu dem Motiv »Pluralität der Logiken« gibt es auch einen Zugang aus der Geschichte der älteren Philosophie. Wie der junge Nietzsche in einem inspirierten Passus über die Rettung der antiken Poesie im platonischen Dialog angedeutet hat, ist die philosophische Prosa aus einer Sprachen- und Formenmischung hervorgegangen, in der
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sich die Situation der antiken Sprachkultur im Ausgang der klassischen Periode spiegelt. Da bildet sich der Roman heraus als das große Fahrzeug, auf dem sich die Fragmente der verlorenen großen Form, des Epos, sammeln können - es kommen Trümmer der Tragödie und der Komödie hinzu, Reste der Lyrik, Überbleibsel der Spruchkultur und der gnomischen Weisheitsüberlieferung, Spuren des Rätsels, auch größere Fetzen des Mythos, der ja seit langem über seine naive Zeit hinaus ist, zudem eine gute Dosis an Juristen-, Sophisten- und Rhetorensprachspielen, ein letzter Rest von Mysteriengeflüster nicht zu vergessen. Der antike Romancier ist also eine Art Sprachlumpensammler, der mitnimmt, was an ausgehöhlten Formen herumliegt. So formiert sich ein Sprachenknäuel, das den Roman ergibt und dessen Genie, bei Licht besehen, Platon gewesen ist. Die besten Romane der Antike sind die platonischen Dialoge, sie bieten gleichsam die noblere Version der »kynischen Buntschriftstellerei« - Nietzsches Ausdruck. Der Roman ist, das hat Lukacs in seiner genialen Phase gezeigt, die Sprachform derer, die die Wahrheit nicht haben. Er liefert die Form, wie man in der entzauberten Welt eins zum anderen fügt. Von da an gilt das Motto, viel lügen die Dichter, die Wahrheit hingegen ist in der Prosa - denn die Prosa sagt die Wahrheit über unsere Lage in der Abwesenheit der Wahrheit, oder wenigstens angesichts des erschwerten Zugangs zu ihr. Wer das ernst nimmt, versteht erstens, warum Platon, als er die Bezeichnung philosophos erfand, die Revolution der Prosa sanktionierte, die der Suche als Lebensform entspricht - die Zeit der wirklichen Weisen ist vorüber, die vom Dreifuß herab reine Ergebnisse vorsangen; und versteht zweitens, warum die Geschichte der Philosophie über weite Strecken die Geschichte einer Sprachverarmung ist, weil sie ihre ursprüngliche Form, das romanhafte Aggregat zahlreicher Redegattungen, immer mehr ausdünnt, um am Ende auf den puren Traktat und die syllogistische Anorexie zusammenzuschrumpfen. Nur wenn man diese Verarmungsgeschichte vor Augen hat, ermißt man,
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welche Renaissance das 19. Jahrhundert beim nicht traktatgebundenen Typus von Denken gebracht hat - es genügt, an Schopenhauer, Heine, Marx, Michelet, Kierkegaard und vor allem an Nietzsche zu erinnern. Von dieser Wiederkehr der Sprache in der Philosophie hängt fast alles ab, was im 20. Jahrhundert an lesbarem und wiederlesbarem Denken entstand. Lukacs hat den Roman als Ausdrucksform der »metaphysischen Obdachlosigkeit<< zwar dem modernen Menschen zugeordnet, aber schon die Antike hatte das Risiko dieser Obdachlosigkeit gespürt und sich durch die neureligiösen Formen von Paraphilosophie - so nennt Kojeve die dogmatisierten Schulsysteme - den Unschlüssigen als Führer angeboten. Am relativen Vorrang der Suche war aber auch in den erbaulichen und doktrinären Restaurationen der späten Antike nicht mehr zu zweifeln. Dabei bleibt es im wesentlichen bis zum Anbruch der Moderne, wenn wir für den Augenblick von dem enormen Interludium der Renaissancephilosophie absehen. Bis an die Schwelle der modernen Verhältnisse herrscht zwischen der Prosa der Wahrheit und der Poesie des Scheins ein Verhältnis, das man mit einer schönen mittelalterlichen Metapher als das einer Magd zur Herrin umschreibt. Durch einen historischen Kompromiß der Sprachen bleiben Poesie und Rhetorik als ancillae philosophiae angestellt. Sie dürfen nützen, aber nicht selbst etwas sein wollen. Für den metaphysischen Text gilt, was Nicholson Baker in einem geglückten Satz festgehalten hat: »Große Wahrheiten werden wie gütige Madonnen von Dutzenden geschäftiger, fröhlicher Engel des Details hochgehalten.« Das kann heißen: Über die tödlichen Abstraktionen legt sich ein farbiger Sprachschleier, der die Lebbarkeit und Lesbarkeit des Unlebbaren und Unlesbaren vortäuscht. Dann aber ist im 19. Jahrhundert die Lage entstanden, in der die dienende Funktion der Poesie gegenüber der Herrin Philosophie nicht mehr durchgehalten werden konnte. Nun geht die poetische Funktion in Führung, und hier knüpfen wir an.
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»Regeln für den Menschenpark« oder: Bedenke den Blitz! H.-J. H. Regeln für den Menschenpark
lautet der Titel Ihres Vor-
trags, im Untertitel heißt es: Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Diese beiden Formulierungen scheinen auf ganz unterschiedlichen Denk- und Sprachebenen angesiedelt. Im Titel werden Codierungen oder Normierungen in Erinnerung gerufen, Regeln für das Zusammenleben von Menschen in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft; im Untertitel wird eine interne philosophische Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsdenken und mit dem Humanismus angekündigt. In ästhetisch verdichteter Textgestalt, in der neben einer reflektierten Metaphernstrategie auch Humor und Ironie ihren Platz haben, versuchen Sie eine mehrschichtige Erörterung der für die Menschheit entscheidenden Frage, welche Regeln sie sich selbst auferlegen muß, wenn sie am Projekt der Gentechnologie festhält und zugleich an einer menschenwürdigen Zukunft interessiert ist. Für diesen Komplex von Fragen und Verhaltensweisen haben Sie den Ausdruck »Anthropotechniken« eingeführt - eine Wortprägung, die sofort Wirkung gezeigt hat. Warum hat Ihre Form der Darstellung, fast mehr noch als der Inhalt, eine solche massive Aggression hervorgerufen und zu geradezu widersinnigen Lesarten geführt? P.S. In meinen Augen kommen alle Mißverständnisse und Entstellungen, soweit sie nicht private Absichten und die erwähnten unfreien Assoziationen spiegeln, aus einer Leseverweigerung. Das drückt sich in dem Umstand aus, daß von denen, die meine Rede bisher öffentlich kommentiert haben, fast keiner bereit war, dem Hinweis nachzugehen, daß es sich um eine »Antwort« handelt - um die Suche nach der Möglichkeit eines Antwort-Schreibens oder einer Zuschrift zu einem als Brief bezeichneten Text von Martin Heidegger aus dem Jahr 1946, der seinerseits eine Antwort hatte sein wollen
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auf eine suggestive Frage, gestellt von dem jungen Franzosen Jean Beaufret: Wie kann man dem Wort Humanismus einen neuen Sinn geben.? - comment redonner un sens au mot >Humanisme Nun, was heißt es, im Jahr 1997 in der Schweiz oder 1999 vor der deutschen Öffentlichkeit auf Heideggers Gedanken zum Humanismus eine Antwort zu formulieren? Nach dem deutschen Herbst 1999 wissen wir etwas mehr über die Risiken, die an dem Versuch haften, Heidegger einer Antwort zu würdigen, die auf seiner eigenen Ebene ansetzt. Zumindest auf indirekte Weise hat sich gezeigt, wie explosiv es sein kann, Heidegger das Wort zu geben - indem man ihn ernsthaft mit den Autoren ins Gespräch setzt, die in seine Nähe gehören, eben Nietzsche und Platon, die in meiner Rede als Gastredner mit Heidegger zusammentreffen. Man hatte sich schon so sehr an eine Situation gewöhnt, in der die Maxime »Nie wieder große Kulturpolitik!« in Kraft war. Und jetzt dieser Hinweis auf ein Problem, bei dem man mit Sichkleinstellen nicht weiterkommt. Der darauf einsetzende Skandal ist ein Beweis dafür, daß die Heidegger-Rezeption im Nachkriegsdeutschland nie zu sinnvollen Ergebnissen geführt hat, weder in der Frühphase noch in der Spätphase, also weder in der frömmelnden Anlehnung, die bis in die sechziger Jahre hinein dominierte, noch in der von Adornos Jargon der Eigentlichkeit inaugurierten Ablehnungsphase, die summarisch gesehen bis heute anhält und deren Merkmal darin besteht, daß sich jetzt Feuilletonisten für berechtigt halten, moralisierende Gesamturteile abzugeben über einen Denker, der sich ohne Zweifel in die Höhenlinie der europäischen Philosophie eingetragen hat - vielleicht der einzige in unserem Jahrhundert, den man auf lange Sicht in einem Atemzug mit Platon, Augustinus, Thomas, Spinoza, Kant, Hegel und Nietzsche wird nennen dürfen. Anlehnung und Ablehnung sind nur zwei Arten und Weisen, einen Denker zu mißbrauchen, wobei es scheint, daß das Mißbrauchen für die Ablehnung bei uns ein besonders tief eingespielter Mechanismus ist. Die Voraussetzung dafür ist eine seit längerem
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völlig verzerrte Rezeption. Der Name Heidegger ist bei uns immer ein Joker innerhalb einer politisch-narzißtischen Diskussionskultur geblieben, den man ausspielt, um zu zeigen:Wir sind hier im Lager der anständigen Leute. Ich muß wohl eines zugeben: Mein Versuch, Heidegger von seiner stärksten Stelle aus wieder zum Zeitgenossen zu machen, ist in dieser Rede exemplarisch gescheitert. Und zwar gescheitert deswegen, weil ich es in meinem Text mit zwei Höchstschwierigkeiten zu tun hatte, von denen ich nicht wahrheitsgemäß behaupten dürfte, ich hätte sie bis auf den Grund durchdrungen, Beide haben einen sehr empfindlichen Bezug zur Frage nach dem Menschen und tragen darum eine hohe ideenpolitische und affektive Ladung. Die erste Schwierigkeit betrifft die ontologische Zurückstufung des modern verstandenen Menschen als Subjekt, die zweite hat mit der Titanenschlacht zwischen Seele und Maschine zu tun, die in der hochtechnologischen Phase der Geschichte losgebrochen ist. Damit liegen zwei große Komplikationen vor, die in zwei große menschliche oder kulturelle Empfindlichkeiten hineinwirken - trennbar oder untrennbar, das sei dahingestellt. Auf jeden Fall wäre es falsch zu sagen, daß der Eklat unvermeidlich war. Die Rede war zwei Jahre vor der deutschen Debatte schon einmal auf einer Basler Theatermatinee vor großem Publikum gehalten worden, und zwar als Schlußvortrag einer langen Serie von Reflexionen über Aspekte des Humanismus in der Gegenwart. Vor mir hatten in dieser Reihe Imre Kertesz, Joachim Gauck, Vittorio Hösle, Elisabeth Bronfen, Wolfgang Rihm, Annemarie Schimmel,Vittorio Lampugnani und andere gesprochen, ich durfte sicher sein, einem Publikum zu begegnen, das dem Thema »Humanismus heute« in seiner ganzen Zerklüftung zu begegnen bereit war. Diese Serie von Vorträgen ist inzwischen im Schwabe Verlag Basel unter der Herausgeberschaft von Frank Geerk, dem Initiator der damaligen Veranstaltung, erschienen - ich würde wünschen, daß sich die deutschen Feuilletonisten die Mühe machten, das Ganze im
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Kontext nachzulesen. Man wurde dann den Gedanken plausibel finden, daß Denunziation nur ein anderes Wort ist für Kontextzerstörung. Ich erinnere mich gut daran, wie mein Text, den ein bekannter Schauspieler an meiner Stelle verlas ich hatte damals Probleme mit der Stimme -, in einer Atmosphäre von Heiterkeit und Angeregtheit rezipiert wurde, wie es der zugleich ironischen und ernsten Diktion der Ausführungen entsprach. In der Lesung durch einen professionellen Sprecher kam vor allem die Komik der Plato-Passage sehr gut heraus, der Scherze-Charakter meines Umgangs mit dem antiken Dialog wurde glänzend hervorgehoben. Das Basler Publikum amüsierte sich auf eine sehr hörbare Weise während dieses ganzen Abschnitts, bei dem Habermas in seiner unveröffentlichten, aber von vielen Leuten eingesehenen Privatrezension in Panik gerät. Lassen Sie mich zunächst die erste Schwierigkeit skizzieren, bei deren Auslegung man, all things considered, auf Heideggers Beitrag nicht verzichten kann. Nennen wir sie noch einmal, um bei der Abkürzung zu bleiben, die Dezentrierung des Menschen. Sie ist im Spiel, wenn Heidegger behauptet, die bisherige Metaphysik habe »nicht hoch genug<< vom Menschen gedacht. Zu niedrig denkt man ihm zufolge, wenn man den Menschen als ein animal mit einem Zusatz an Vernunft vorstellt, wie es der Tradition entspricht. Hoch genug setzt man an, wenn man den Menschen als den Da-Seienden bedenkt, das heißt als das Wesen, das in der Lichtung des Seins steht oder die Lichtung selbst ist. Ich habe versucht, Heideggers Denkbewegung nach der ominösen Kehre, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg, in sehr knappen Umrissen nachzuzeichnen, ausgehend von der äußerst katholisch klingenden These, daß es auch in der modernen Welt nicht so sehr auf den Menschen ankommt, sondern auf etwas, das über den Menschen hinausgeht und wofür er nur Medium oder Resonanzboden sein kann - Heidegger sagt »Hüter« und »Nachbar« -, nämlich auf das Sein. Die christliche Tradition hätte hier von
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Gott gesprochen, aber seit Heideggers Intervention wissen wir, daß man von der sorglosen Gleichung von Gott und Sein die Finger lassen soll. Das sind Gedanken, die zwar sehr anspruchsvoll, aber so ganz neu und befremdend nun auch nicht sind. Die christliche Tradition, wo sie augustinisch war, ist durchsetzt vom theozentrischen oder theonomen Denken. Augustinus rechnet mit einem unheilbaren Zug zur Verkehrtheit beim Menschen, mit einer unausrottbaren Liebe zum Falschen, die zurückgeht auf die Neigung, sich selbst auf Kosten des Schöpfers zu bevorzugen, und dies bis zu einem solchen Grade, daß ohne das Entgegenkommen Gottes mit Menschen schlechterdings nichts Heilsames mehr anzufangen wäre. In Heideggers berühmtem Diktum aus dem Gespräch mit Rudolf Augstein, »Nur ein Gott kann uns noch retten«, kann man einen fernen Nachhall des augustinischen Ansatzes hören. Es kommt nicht nur auf den Menschen nicht an - selbst wenn es auf ihn ankäme, wäre ihm nicht zu helfen, weil nur der Gott oder ein Gott ihn noch retten kann. Selbsthelferturn ist menschlicherseits nicht möglich, wird uns da nachdrücklich versichert. Deswegen führen menschengemachte Revolutionen zu nichts - das ist und bleibt die Grundüberzeugung des abgedankten Revolutionärs Heidegger von dem Moment an, in dem er das Nazi-Unwesen durchschaute und sich von der falschen Revolution, ja von der Revolutionsillusion überhaupt zurückzog -, sie machen alles immer nur schlimmer, weil sie unweigerlich erneut anthropozentrisch und gestell-immanent ansetzen und niemals mehr zuwege bringen können als die Fortsetzung der schicksalhaften Gestell- und Selbstermächtigungsdynamik mit anderen Mitteln. Diese dunkle und menschenskeptische Anthropologie geht den Modernen gegen den Strich, denn die Moderne stellt sich alternativelos als ein Ermächtigungs- und Fortschrittsprojekt der politischen Vernunft und der Technik vor, ein Projekt, das nur Sinn ergibt, wenn der Mensch aus eigener Kraft gut und
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klug sein kann, zumindest klug und gut genug, um nicht sofort an sich selbst zu scheitern, Aufklärung ist nur möglich, wenn der Mensch nicht schon kurzfristig der Gnade bedarf, um das Richtige zu tun. Die Modernen sind eben keine Augustiner mehr, sondern Pelagianer oder humanistische Semi-Monotheisten, meistens jedoch nur diffuse Atheisten mit einer Aussteuer an quasi-transzendenten Menschenrechten. Für die Verfechter von theonomen oder ontonomen Denkformen ist dieser pelagianische Humanismus hingegen nichts als die fortgeschrittenste Form von kreatürlich-rebellischer Verblendung und die Matrix der subjektivistischen Selbstgerechtigkeit, die nach ihrer Überzeugung in die Vernutzung, Entstellung und Vernichtung von allem führen muß. Diesen Irrungen gegenüber wäre in der Sicht der Theonomisten eine radikale Dämpfung angesagt - bei Heidegger ist von Besinnung die Rede -, und zwar mit der Betonung darauf, daß auch diese etwas ist, was man nicht Selbsthaft machen kann, sondern was uns vom Sein »gegeben« oder »geschickt« werden muß, wenn sie denn statthaben soll. Das Problem, das sich bei solchen Reden stellt, ist nicht, daß sie beim ersten Anhören so schwer zu verstehen wären, denn schwierig werden sie erst in der Tiefenstruktur, wo man die Grammatik der Handlung gegen die Grammatik des Ereignisses austauschen müßte. Die Krux mit diesen Reden ist vielmehr, daß sie so peinlich sind - sie verstoßen gegen den guten humanistischen Ton und den neo-pelagianischen Konsensus, kurzum gegen den bürgerlichen, den kritischen, den subjektautonomistischen Geschmack. Es ist ja wahr, Theonomie ist geschmacklos, weil radikal gegen jede Art von Menscheneitelkeit gerichtet, und Ontonomie ist es genauso. Man sollte in guter Gesellschaft solche Reden einfach nicht führen. Nur, was gibt Heidegger auf gute Gesellschaft? Das Zentrum in Gott und der Mensch ein Punkt in der Peripherie, das Sein im Zentrum und das Da-Sein als Hüter des Seins an den Rand versetzt: dergleichen will man nicht mehr hören.
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Nichtsdestoweniger läßt sich zeigen, daß es sich bei Heideggers Zurückweisung des gewöhnlichen Humanismus um eine Denkgebärde handelt, die im alteuropäischen Bestand verankert ist und über die man sich nicht so sehr aufregen müßte, wenn man noch eine Ahnung hätte von dem, was das theonome Denken seit jeher gewollt und gelehrt hat. Nun sagt Heidegger im Jahr 1946, »daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der (menschlichen) Ek-sistenz«. Der Satz war wohl eine Zeitbombe, die nach 50 Jahren durch meine Paraphrase gezündet H.-J. H. Vor diesen Hintergründen erscheint die Gentechnik im Grunde nur als die aktuellste Phase in dem, was Sie als den Selbstermächtigungsprozeß bezeichnet haben und was bei Heidegger das Ge-Stell heißt. Mit ihr rückt die Objektivierung des Seienden eine Stufe weiter vor bis ins Innerste der Lebensmechanik. Die Diskussion über den Griff nach den Genen ist als solche nicht neu. Sie wird seit mindestens zwanzig Jahren geführt und hat inzwischen geradezu etwas Gebetsmühlenhaftes, man hat jedes Argument von jeder Seite unzählige Male gehört.Was ist eigentlich passiert, daß jetzt ein solcher Schub einsetzt? Ich sehe für den Moment davon ab, daß die Menschenpark-Rede nur indirekt mit der Gentechnik zu tun hat und daß Ihre Intention als Autor nicht auf einen Beitrag zu dieser Debatte im engeren Sinn aus war, wie viele Kritiker unterstellt haben. Ich frage Sie trotzdem:Warum und wie hat man diese Biotechnikdimension in den Text hineinlesen können? Was ist das Neue an der heutigen Situation? P. S. Nun, das Neue liegt in zwei zeittypischen Momenten: akut in der Zuspitzung des genetic ingeneering-Problems und chronisch in der Zuspitzung des Humanismus zum Fundamentalismus der westlichen Kultur. Beide Phänomene haben mit dem zu tun, was ich vorhin die zweite Höchstschwierigkeit in der Menschenpark-Rede genannt habe. Zu dem ersten Moment möchte ich bemerken: Wir leben imaginär schon jetzt in
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einem Kalender post Dolly creatam. Seit der Publikation der Botschaft von der schafgewordenen Klonzelle im Februar 1997 ist in den Köpfen der Menschen nichts mehr wie zuvor. Man spürt mit einem Mal, daß der Eintritt in die Ernstfallphase des Biotechnik bereits hinter uns liegt. Nun passiert etwas ganz Bemerkenswertes - etwas, was unsere religiösen Programme reaktiviert, Es folgt eine rein metaphysische Debatte. Die Phantasie springt mit einem Satz an ein potentielles Ende der Entwicklung, kaum daß vage Anfange sich gezeigt haben, und schon wird vom Schaf auf den Menschen geschlossen - vielleicht auch deswegen, weil die Assoziation zwischen Gott und Lamm das alteuropäische Imaginäre anspricht, wer will das ausschließen. Sicher ist nur, man wittert die metaphysische Sensation. Alle ahnen irgendwie, der Klon-Mensch wäre der erste Mensch nach Christus, auf den die nizäische Formel genitus non factus wieder anzuwenden wäre, zumindest sinngemäß, denn genitus heißt im Theologencode: von Gottvater direkt durch Selbstmitteilung hervorgerufen und nicht durch physische Kausalität erzeugt, aber auch nicht nach dem AdamVerfahren hergestellt. Mithin, so wie Dolly kein schafgemachtes Schaf mehr ist, so wäre auch der homo clonatus kein menschengezeugter Mensch mehr, und zugleich erst recht in einem verschärften Sinn ein menschengemachter Mensch, er wäre der Homunculus, von dem die Europäer durch ihre alchemistischen Avantgarden seit der Renaissance reden. Mit ihm würde die bisherige genealogische Logik auf den Kopf gestellt. Das Klonen gäbe, wurde es häufiger angewandt - was unmöglich ist -, dem ohnehin schon angeschlagenen biparentalen System den letzten Stoß. Was sollte man etwa von einem weiblichen Individuum denken, das die Zwillingsschwester ihrer Mutter wäre und ihre Tochter? Man kann nicht leugnen, daß diese Fragen einen gewissen Streitwert haben. Wenn man liest, daß im Byzanz des 4. Jahrhunderts die Menschen für den Unterschied zwischen Gottgleich und Gottähnlich auf die Straße gegangen sind, dann scheint es nicht abwegig, daß um 2000 die
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Menschen für ihre Auffassung vom Unterschied zwischen Menschengleich und Menschenähnlich demonstrieren. H.-J. H. Mit diesen Andeutungen setzen Sie die aktuellen Entwicklungen in einen religionsphilosophischen Kontext, der bis ins Frühchristliche zurückreicht. Wir können das Neue offenbar nur wahrnehmen, wenn man es vor eine solche historische Folie stellt. Ich frage mich aber, ob man so der Neuheit des Neuen wirklich gerecht wird. P. S. Lassen Sie mich, um diesen Einwand aufzunehmen, ein paar Worte über die zweite von den erwähnten Höchstschwierigkeiten sagen. Wir leben heute inmitten von etwas, was dem von Platon erwähnten Riesenkampf um das Sein entspricht, in dem Streit um die Neuziehung der Grenzen zwischen dem Seelischen und dem Maschinellen oder dem Subjektiven und dem höheren Mechanismus. Daß diese Grenzen neu vermessen werden müssen, ist eine Folge aus der modernen Naturwissenschaft und der psychologischen und soziologischen Aufklärung, Ich definiere, in Anlehnung an Gotthard Günther, die ontologische Aufklärung, mithin den Basisvorgang der Modernität, als einen epochalen Beweisprozeß - nämlich als progressiven Nachweis, daß dem Mechanismus sehr viel größere Anteile am Gesamtbestand des Seienden gehören, als die traditionelle Subjekt-, Geist- und Seelenmetaphysik angenommen hatte. Diese Beweise geschehen durch Maschinenbau, Man findet, je weiter man eindringt, immer mehr Mechanisches im Herzland dessen, was man für das genuin Seelische und Subjektive hielt. Die Folge davon ist, daß die Menschen in ein Zeitalter eintreten, das ihnen auf eine ganz überpersönliche Weise das Herz aus dem Leib reißen wird, sofern sie auf alten und offenbar unhaltbaren, metaphysisch codierten Unterscheidungen beharren. Durch die Offenlegung des Mechanischen im scheinbaren Kernbereich des Subjektiven wird so gut wie alles angetastet, was unantastbar schien oder scheinen wollte: das Verhältnis zum Kind, das Verhältnis zum Tier, das Verhältnis zum eigenen Körper einschließlich seiner Ei- und
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Samenzellen, das Verhältnis zum erotischen Erleben, das Verhältnis zu den Gefühlen und den subjektiven Zuständen, das Verhältnis zur Sprache und schließlich das Verhältnis zu dem Absoluten, das uns in den unverfügbar scheinenden Grenzereignissen von Geburt und Tod gegeben war. Man darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß auch heute auf den am meisten zeugnishaften Zeichen des Menschenlebens, auf den Grabsteinen, die beiden Kontaktstellen mit dem Unverfügbaren oder Absoluten, das Geburtsdatum und das Todesdatum, angegeben werden. Gleich ob man, wie christlich üblich, ein Kreuz hinzufügt oder eine Pyramide, wie manche Freimaurer es taten, oder einen Stern, wie man ihn auf Heideggers Grabstein in Meßkirch sehen kann, die Daten von Geburt und Tod als solche fehlen nie. Sie sind die unübersteigbaren Markierungen - die Berührungspunkte zwischen dem Zufälligen und dem Unbedingten. Und dennoch sieht man in der Gegenwart, wie diese Daten, diese Merkzeichen unserer Berührung mit dem Unverfügbaren, in Bewegung geraten sind. Wie keine Zivilisation zuvor hat die gegenwärtige dazu angesetzt, die Grenzenmarken zu verschieben. Die Geburt wird planbar, der Tod wird in gewissen Spielräumen aufschiebbar, der Körper wird in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß operabel, Sexualität und Fortpflanzung werden auseinandergelegt, die Gefühl e werden pharmakologisch moderiert, die psychischen Zustände von ästhetischen und chemischen Techniken geformt, das logische Denken, das Sprechen, das Übersetzen und viele andere mentale Operationen können als Rechnungen angeschrieben und von Computern wiederholt werden - man könnte mit dieser Liste fortfahren. Was ist aus diesen Beobachtungen zu lernen? Sie betreffen katastrophische Vorgänge von einer kulturtheoretischen Tragweite, die niemand überblickt. Man soll vielleicht angesichts so großer Fragen nicht den Narren auf eigene Faust spielen und sofort selber antworten, sondern erst einmal zusehen, wie sich einige der grijßten Autoren des Jahrhunderts über diese groß-
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räumigen Wandlungen geäußert haben. Sollte ich den Menschenpark-Vortrag noch einmal schreiben, so wurde ich ihn anders aufbauen, ich wurde zwei der eminentesten intellektuellen Äußerungen von Denkern nach den beiden größten Sozialkatastrophen des 20. Jahrhunderts nebeneinanderstellen - ich verwende jetzt das Wort Katastrophe doppelsinnig, zugleich prozeßtheoretisch und umgangssprachlich: Zum einen wurde ich Bezug nehmen auf Paul Valerys Aufsatz Lu cr& de PeJprit von 1319 (mit einem Nachtrag 1922), zum anderen .. eben wieder auf Heideggers Brief Uber den H~rnanismu~ von 1946. Zwei Texte, von denen jeder auf seine Weise unmittelbar zum Monströsen ist. In beiden taucht die Frage auf: Wer war eigentlich das Subjekt dieser Krise? Wer ist es, der aus dem Vorgefallenen etwas lernt? Und was ergibt sich für die, die das Ereignis überdenken, aus dem, was sie von ihm erfassen? Beide Autoren fällen über die Katastrophenkomplexe, auf die sie zurückschauen, nicht so sehr moralische Urteile, sondern sehen in ihnen Aussagen über die Technik als eigentliche Weltmacht. Valery hat das in einer zivilisationstheoretischen Tonlage getan, Heidegger in einer humanismus- und subjektivitätskritischen Form. Valery sagt: Wir wissen nun, daß auch die Zivilisation sterblich ist und »daß der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle«. Das ist ein Satz, der seit seiner Formulierung nicht aufgehört hat zu wachsen. Ich habe keinen Zweifel daran, daß er unter die zwei oder drei absoluten Jahrhundertworte gerechnet werden muß. Er bedeutet, verbindlich und buchstäblich: Nicht nur der Mensch ist sterblich, wie die griechische, die christliche und die humanistische Tradition annahmen; nicht die Individuen allein sind sterblich, sondern auch die Zivilisation muß jetzt als sterbliche und fallible Unternehmung begriffen werden, auch nachdem sie ihre bisher fürchterlichste Krise mit knapper Not überlebt hat.Valery hat in einer kühnen Wend ung Sterblichkeit und Zivilisation miteinander so konfiguriert, daß schon das ökologische Problem hervortritt. Ganze Kulturen, ganze Daseinsstil-Kollektive - insbesondere
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die Hochtechnologiegesellschaften - müssen sich von nun an zu ihrer Endlichkeit verhaltenwenn das immanente Selbstvernichtungsrisiko der Kultur steigt, müssen die Menschen zu ihrer Macht und deren Ausübung zunehmend bewußt Stellung nehmen. Sie schulden sich spätestens seit dem Ersten Weltkrieg eine Antwort auf die Frage, ob sie aus dem, was ihnen zugestoßen ist, etwas über sich selbst haben lernen können. Wie würden wir heute antworten, wenn man uns drängen wollte, auf dieselbe Frage einzugehen? Haben die Europäer aus dem Ersten Weltkrieg, aus der Offenbarung des Prinzips Materialschlacht, aus der Epiphanie der totalen Mobilmachung und der Vernutzung von allem und jedem entscheidende Schlüsse hinsichtlich ihrer eigenen Kultur gezogen? Sind sie andere geworden durch das, was mit ihnen geschehen war? Hat es bei ihnen eine Metanoia, ein Umdenken in den letzten Motivschichten, gegeben? Man darf skeptisch bleiben. Wollte man bejahend antworten, könnte man allenfalls auf Minderheiten-Lernprozesse verweisen. Heidegger wiederholt vor einem noch dunkleren Hintergrund die Valerysche Bewegung und fragt seinerseits: Was erfahren wir denn über den Menschen, wenn wir auf den Katastrophenkomplex zurückblicken, aus dem wir aufgetaucht sind? Spricht aus den Riesenschlachten unserer Zeit nicht so etwas wie eine Anthropodizee, ein Lehrsatz über die Menschen, die die Akteure des Geschehens waren und die sich schließlich, auch wo sie als Täter auftreten wollten, fast ohne Ausnahme auf der leidenden Seite der Geschichte wiederfanden? Wenn Heidegger im Brief an den jungen Franzosen im Jahr 1946 das Etikett Humanismus zurückweist mit der Bemerkung, solche Begriffe hätten schon genug Unheil angerichtet, dann muß man die historische Szene mitbedenken - dieses Bilanzziehen nach dem Schlimmsten und dieses Hinwirken auf eine tiefere Diagnose hinsichtlich der modernen Menschenwelt, die in ihren Massenvernichtungsorgien gewissermaßen ihre Selbstdarstellung vollzogen hätte. Man müßte eher in den Blitz der Kata-
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Strophe schauen, um zu erfahren, wie es um die Sache des Seins und des Menschen wirklich steht. Le soleilni la mort ne se petivent regarder fixement, heißt ein bekanntes Wort von La Rochefoucauld, man kann weder unverwandt in die Sonne blicken noch in den Tod. Nach Heidegger wäre hinzuzufügen, man kann auch nicht in den Menschen oder in die Lichtung blicken. H.-J. H. Heideggers skandalträchtige Geste in seinem Humanismus-Brief bestand darin, zu fordern, trotzdem in diesen Blitz zu sehen, der durch den Menschen, den »Hüter des Seins«, zuckt? P.S. Wenn dergleichen verlangt wird, weiß man zunächst nicht, ob es Aufklärung oder Mystik ist. Üblicherweise versteht man unter Aufklärung oder Erfahrungsdenken: daß man beleuchtete oder selbstleuchtende Dinge anschaut und in öffentlichen Beschreibungen festhält, was man sieht. Wo die erste Ansicht nicht tief genug geht, deckt oder schneidet man die Dinge auf und setzt ihr Inneres der Beleuchtung aus. Die für die Aufklärung typische Grundgeste ist: Verborgenes in die Sichtbarkeit bringen. Sie ist eine universale Praxis des Verdachts gegen das Latente. Nun macht Heidegger einen ziemlich subversiven Vorschlag. Er regt an, daß man nicht nur das anschaut, was im Licht liegt, sondern daß man darüber nachdenkt, wie das Licht und die Dinge zusammenkommen, anders gesagt, man soll die Lichtung als solche meditieren. Die Lichtung ist gleichsam der weltgebende Blitz, und diesen sollten wir jetzt eigens vergegenwärtigen. Aber wer direkt in ihn schaut, wird geblendet. Wenn man es sich recht überlegt, geht es Heidegger darum, eine Art von anonymer Religion zu stiften, abseits der klassischen Metaphysik und doch auf eine konservative Weise, eine Religion der Lichtung. Deren Grundsatz lautet, daß die Menschen noch verhaltener und noch gesammelter zu werden haben, als sie je waren. Sie sollen nicht nur die Zehn Gebote beachten oder auf dem achtfachen Pfad wandeln, was gut und
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ehrenhaft bleibt, eins wie das andere, und für immer unverzichtbar. Sie sollen zusätzlich ein elftes, ein ontologisches Gebot beachten und einen neunten Zweig des Pfads betreten, wenn man so sagen dürfte.Voraussetzung dafür ist, daß sie den Blitz bedenken und sich in seinem Licht selber als die Unheimlichen fürchten lernen. Wenn man es auf eine einfache Formel bringen will, beginnt die besinnliche Empfehlung des Humanismus-Briefes mit der Diagnose: Der Mensch kennt sich selber noch gar nicht, weil er noch nie richtig nach sich selbst gefragt hat. Wenn er sich konventionell als animal rationah definiert, fügt er nur zwei scheinbar vertraute Größen zusammen: Er bildet sich ein, zu wissen, was Tiere sind, und er glaubt zu verstehen, was die Ratio ist, und indem er die beiden Trivialitäten addiert, meint er zu guter Letzt, er habe Übersicht hergestellt und sei bei sich zu Hause. Auf dieser Ebene argumentieren auch heute noch oder schon wieder all diejenigen, denen die Ungewißheiten und Unübersichtlichkeiten, alt oder neu, zu viel geworden sind und sich in einen »neuen Humanismus« retten wollen, zum Beispiel die reaktionären Neokantianer in Frankreich, die das angeblich antihumane Denken von 1968 zuerst verhunzt und dann in seiner Verhunzungsgestalt scharf abgelehnt haben. Human, da weiß man, was man hat. Der Humanismus ist der Fundamentalismus unserer Kultur, er ist die politische Religion des globalisierten okzidentalen Menschen, der sich für so gut und klarsichtig hält, daß er sich gern überall nachgeahmt sähe. Heidegger ist ein Ontologe der Unheimlichkeit des Menschen bei sich selbst, wenn er darauf hinweist, daß der Mensch den Ort im Seienden innehat, wo sich die Seinsfrage überhaupt erst stellt. Durch den Menschen hindurch geschehen all diese explosiven Ereignisse wie der Weltkrieg als planetarische Projektion der Machtfrage und die Totalbenutzung der Erde und des Lebendigen für die Produktion, den Verkehr, den Konsum. Wo so gefragt wird, ist es mit der Erbaulichkeit des Humanismus in Schule und Sonntagspolitik vorbei. Ich will damit nicht sa-
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gen, daß Heidegger letztlich in allem Recht gehabt hätte. Sein großes Versäumnis war es, daß er dem Abgrund der NS-Judenvernichtung und den Ungeheuerlichkeiten des sowjetischen Exterminismus aus dem Weg ging. Damit war sein Scheitern als Denker des Gegenwärtigen nach einer entscheidenden Seite vorprogrammiert, denn er hätte seine Grundanfrage an die Technikwelt nur angemessen entfalten können, wenn er die Phänomenologie der Todespolitiken so explizit entfaltet hätte, wie die Geschehnisse des Jahrhunderts es forderten. In diesen Vernichtungsblitz konnte er auch nicht schauen, Er sieht einen Augenblick lang in die gefährliche Richtung, dann muß er den Blick abwenden. Was hat er gesehen? Eine noch umfassendere Vernichtung?Was er in der Blendung danach noch wahrnimmt, sind gespenstische Abstraktionen, in denen die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern, Angreifern und Verteidigern, Totalitaristen und Demokraten noch nicht wieder so evident sind, wie sie dem normalsichtigen Auge erscheinen.Von da an kann es nur noch Mißverständnisse geben. Versuchen wir, die ontologische Exzentrik der menschlichen Situation, dieses Hinausstehen ins Offene, näher zu charakterisieren. Die Natur wird von der modernen Wissenschaft beschrieben als eine sich selber bauende Hypermaschine. Der gängige Ausdruck für Selbstbau heißt Evolution. Innerhalb des großen physikalischen Maschinenbaus, von dem die Kosmologie und die Geologie handeln, finden zwei Prozesse des Sondermaschinenbaus statt: Zum einen werden Lebensmaschinen gebaut, und zwar autoplastisch oder autopoietisch. Das ist schon unheimlich: daß es da auch noch lebt und nicht nur »ist«, daß es spürt und treibt, daß in die Welt punktuell so etwas wie beginnende Weltoffenheit eingebaut wird, durch arganismische Sensibilität, durch Pflanzlichkeit, durch Tierwerdung. Seltsam, daß die leidlosen Atome so leichtsinnig waren, sich auf Nervlichkeit, auf Schmerz und Gedächtnis einzulassen, lange vor dem Menschen. Ist das nicht eine Unfaßbarkeit für sich? Das ist sie ohne Zweifel, aber nur, wenn der
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Mensch da ist, dem sie auffällt. Sie kann ihm freilich nur auffallen vor dem Hintergrund seiner eigenen, noch größeren Ungeheuerlichkeit, seiner noch enormeren Auffälligkeit, seiner ontologischen Ekstase, die man diskret mit dem Allerweltswort Existenz bezeichnet. Damit kommen wir zu dem zweiten Sonderaspekt: daß beim Menschen zusätzlich zur Lebensmaschine evolutionär so etwas wie eine Geistmaschine entstanden ist als die Möglichkeit, zu denken und im Denken die Welt als Welt aufgehen zu lassen. Heidegger hat in einem quasinaturphilosophischen Passus der Grundbegriffe der Metaphysik, 1929- 19 30, nach den berühmten Langeweile-Abschnitten, die Differenzen zwischen der Weltlosigkeit der Steine, der Weltarmut des Tieres und dem weltbildenden Wesen des Menschen herausgearbeitet, im übrigen mit einer Darstellungskraft, die kaum ihresgleichen hat, zugleich professoral und dämonisch. Das läßt sich auch so lesen, als sei beim Menschen zu allem Bisherigen eine Art von ontologischem Organ hinzugekommen, ein Welt-Sinn oder eine Totalitätsfühligkeit, wie sie kein Tier besitzen konnte - vorausgesetzt, der Mensch »macht auf« und hebt den Kopf und existiert, Ansonsten bliebe auch für Mitglieder der Menschengattung wahr, was Heidegger bemerkt: »der vulgäre Verstand sieht vor lauter Seiendem die Welt nicht«. Diese potenzierte Unheimlichkeit der Seinsfrage, als Menschenfrage oder besser als Sein-durch-Menschen-Frage gestellt, macht den enormen Angriffswert der scheinbar so betulichen Heideggerschen Reflexionen aus. Manche Zeitgenossen haben gespürt, daß Fragestellungen von einer ähnlichen Mächtigkeit nur in den Zeiten der Schöpfung der Hochreligionen aufgekommen waren. So umfassend, wie ein Religionsstifter nach einem Heilsweg fragt, fragt Heideeger nach der Wahrheit über den Menschen oder vermittels des Menschen. Man versteht ihn besser, glaube ich, wenn man ihn mit Lehrern der zurückgezogenen Weisheit wie Lao-Tse, mit indischen Denkmeistern wie Shankara und Nagarjuna oder Religionsgründern wie Paulus, Mani oder Luther in eine Linie
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stellt. Bei Gestalten dieses Ranges geht es um Neufassungen des modus vivendi. Bei Heidegger wird es für uns deswegen so unheimlich, weil uns die Zurückführung seiner Gedanken auf die mystischen Muster und die christlichen Analogien letztlich nichts nützt.Wir können nicht sagen, bei Meister Eckhart steht das alles schon, denn Meister Eckhart hat die Atombombe nicht erlebt, aber Heidegger hat sie erlebt, und mehr noch als das, er hat sie gedacht. Im Herbst 1946, als er den Humanismus-Brief redigierte, war nicht nur die Wahrheit über Auschwitz gelüftet und über die Hitlerei, da waren seit einem Jahr die beiden amerikanischen Bomben über Japan abgeworfen. Gewiß hat Heidegger damals auch apologetische Interessen verfolgt, doch sie spielen im grundgedanklichen Bereich nicht die Rolle, die man ihnen zuweist, wenn man nur das hervorkehren will, worin Heidegger unrecht hatte. Die Blitze von Hiroshima und Nagasaki waren so etwas wie Offenbarungen des Stands der Dinge auf der Linie seiner Betrachtungen. Die beiden Atompilze kamen, seiner Sicht gemäß, aus dem Kern des Humanozentrismus, sie waren Menschenwitz-und-Kunst in quintessentieller Form, sie waren Gestell und Explosion in einem, sie waren der Offenbarungseid der modernen Physik und in gewisser Hinsicht die deutlichste Selbsterklärung nicht nur der amerikanischen, sondern der modernen Stellung zur Welt überhaupt. Deswegen hat es keinen Sinn, Heidegger nach rückwärts zu lesen, als habe er dasselbe gesagt wie die deutschen Mystiker, nur angepaßt an den Geist der Zeit. Die Versuche, Heidegger von den Blitzen unseres Jahrhunderts zu trennen, verarmen die Diskussion und verkleinern die Sicht. Er war in seiner Zeit der stärkste Interpret des historischen Ereignisses, daß die Menschen Herren über das nukleare Feuer geworden sind, obschon er die strategischen und physikalischen Details der neuen Situation nirgendwo so ausführlich behandelt hat, wie es Jaspers in Die Atombombe und die Zukunft des Menschen tat. Aber ihm war klar, daß sich die Seinsfrage durch die Macht- und
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Technikfrage hindurch stellt. Und wie richtig das gesehen ist, bemerken wir heute nicht zuletzt daran, daß die Spitzentechnologien in den life sciences sich daran machen, die Codes des Lebendigen umzuschreiben.
Arena-Mediologie H.-J. H. Wenn wir versuchen, von der Turbulenz der Menschenpark-Debatte jetzt noch einen Schritt weiter zurückzutreten:Was läßt sich an ihr in bezug auf die historische Situation und die innere Verfassung unserer Gesellschaft und ihre kulturelle Lage ablesen.? Ich denke, wir sollten unsere oben begonnene Subtext-Analyse noch ein Stuck voran treiben und fragen, worin das bisher Ungesagte und Ungesehene der Affaire liegt. P. S. Mir scheint, daß sich in der medialen Abwicklung der Affaire etwas Entscheidendes über Aufmerksamkeitsproduktion in der Massenkultur lernen ließ und darüber hinaus über die mediale Fabrik der modernen Gesellschaft, Im Grunde wurde ich jedem Kulturwissenschaftler und Philosophen, der wissen möchte, wie die soziale Konstruktion von Wirklichkeit außerhalb von Fachzeitschriften geschieht, wünschen, daß er einmal die Erfahrung machen dürfte, zum Gegenstand eines nationalen Skandals zu werden. Ich habe in diesen Monaten mehr über die Funktionsweise unserer Öffentlichkeit gelernt als in meinem ganzen bisherigen Leben. Nun, ich übertreibe, aber diese Erfahrung ist mit soziologischen Doktorhüten nicht aufzuwiegen. Ich erwachte eines Morgens und fand mich berüchtigt. Was war da passiert? Welchen Spaß haben sich die Medien und das Schicksal mit mir erlaubt, als sie beschlossen, einen eher marginalen, in einer umfangreichen Arbeit vergrabenen Intellektuellen zu skandalisieren? Für mich ist dieses Erlebnis wie ein empirischer Beweis dafür, daß es in der Moderne auch noch in einem ganz anderen Sinn, als Nietzsche dachte, zu
Arena-Mediologie einer Wiederholung der Antike unter zeitgenössischen Pseudonymen gekommen ist. Man sieht von der Moderne wie von der Antike nicht genug, wenn man nur die Hochebene des Streits zwischen den anciens und den modernes in Literatur und bildender Kunst ins Auge faßt. Denn unterhalb der offiziellen, sublimen literarischen Traditionen, unterhalb der Gymnasiumantike gibt es Renaissancen, über die man erneut eine Querelle führen müßte Wiedergeburten von der dunkleren Art. Man hat bisher unter Renaissance immer nur die Wiederanknüpfung der europäischen Wissenschafts- und Kunst-Eliten an den literarischen und ästhetischen Modellen der Antike verstanden. Aber dabei hat man etwas ganz Wesentliches übersehen. Auch die römisch-antike Massenkultur hat inzwischen bewiesen, daß sie renaissancefähig ist, und zwar in einem Ausmaß, das den Beobachtern noch immer nicht ganz klar geworden ist - das ist die Lektion, die man aus dem 20. Jahrhundert in zivilisationshistorischer Perspektive ziehen muß. Denn es ist eben nicht mit der Feststellung getan, daß die Modernen die griechische Wettkampfkultur wiederaufgenommen haben und die Olympischen Spiele wiederholen. Worauf es vielmehr ankommt, ist die Wiederkehr der römischen Arena und die tendenzielle Verwandlung der zeitgenössischen Gesellschaft in eine Zuschauerkulisse für das neue Theater der Grausamkeit, Die frühe Kritische Theorie hatte schon einige Intuitionen in dieser Richtung entwickelt, nicht umsonst hat sie den Begriff der Kunst- oder Kulturindustrie von Alois Riegl, einem Kenner der römischen Kunstgeschichte, übernommen, der sich mit spätantiker Kulturmassenware, Vasen, Haushaltsgegenständen, Wandbildern, Grabschmuck et cetera befaßt hatte. Aber diese Intuitionen stoßen nicht zum Entscheidenden durch. Die Mitte der römischen Kulturindustrie waren grausame Circus-Bilder, man könnte sagen, ihr Hauptartikel waren snuff movies live. Man hat nicht genug darauf geachtet, daß das stärkste Symbol und Medium der antiken Massenkultur, nämlich die
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römische Arena, erst im 20. Jahrhundert wiedergekehrt ist, und zwar als architektonische wie als dramaturgische Form. Wenn es neben unseren Altphilologen auch Altgymnastiker oder Altgladiosophen gäbe, dann wüßte man über das Drama, das sich im Lauf des 20. Jahrhunderts vollzogen hat, wohl etwas mehr, leider gibt es nur Sportjournalisten, die in der Regel keine Ahnung haben von den Spielen, in denen sie selber engagiert sind. So berichten sie zwar über die Spiele, die sie beobachten, aber sie haben keinen Blick für die Arena, in der sie selber agieren. Indem sie berichten, wirken sie mit bei der Umwandlung der Gesellschaft in eine virtuelle Gesamtarena. Dabei entsteht die totalitäre Mediengesellschaft, die tendenziell alles ins Innere der Arena zieht. Darum spricht die wichtigste Subtextdimension, die in den Medienskandalen des letzten Jahrzehnts mitschwingt, von der Wiederkehr der Arena in den Unterhaltungsmedien der nachchristlichen Gesellschaft. Dieser Befund geht noch über die Annahmen von Guy Debord in seiner Analyse der soci&’ du spectacle hinaus. Die Römer hatten, ausgehend von den Schwertkämpferspielen, die ursprünglich im etruskischen Begräbnisritual ihren Ort gehabt hatten, schon um 1 0 0 vor Christus eine Art von Protokulturindustrie aufgebaut. Rom wurde auf diese Weise zu einem grausamen Hollywood. In der Kaiserzeit expandierte das System zu einem förmlichen Europapokal der Bestialität, in dem die Landesmeister unter den Totschlägern aus allen Provinzen und in allen Waffengattungen rings um das Mittelmeer involviert waren. Man hatte das Ritual inzwischen primitivästhetisch weiterentwickelt zum Unterhaltungsduell und zum faszinatorischen Blutsport. Der Bezug zum einstigen Begräbnisritus lag zuletzt nur noch darin, daß es der unverhohlene Sinn der Spiele war, die Verlierer auf der Sandbahn ins Jenseits zu schicken. Mythische Überhöhungsversuche waren in den Eröffnungs- und Abschlußritualen zwar immer noch anzutreffen sowie in manchen Themenmassakern, etwa in nachgespielten Schlachten, aber sie
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bedeuteten so gut wie nichts mehr, abgesehen vom Kult des Erfolges oder des Resultats. Fortuna war damals eine Stadiongöttin. Faktisch war eine Umwandlung des Rituals zum Gemetzel in Gang gebracht worden. Sein Sinn lag darin, Sieger zu produzieren, mit deren Schicksalen sich deprimierte Massen identifizieren konnten. Auf dieser Funktionsebene haben sich die Spiele 500 Jahre lang mit ungeheurem Erfolg gehalten - das ist zivilisationsgeschichtlich einzigartig: das Unterhaltungsmassaker als Langzeitinstitution, im übrigen unter zunehmendem Einsatz von seltenen, großen Tieren, deren Abschlachtung man als Kampfspektakel aufmachte. Ein direkter Ausläufer der römischen Tiermassaker oder, wie man sagte, der Venationen, wörtlich: der Jagden im Stadion, hat in Spanien bis heute überlebt. Man könnte dieses System mit guten Gründen als einen Entertainmentfaschismus bezeichnen. Diese Sprachregelung hätte den Vorteil, von vorneherein den Akzent darauf zu setzen, daß zwischen Massenunterhaltung und Ressentiment-Management faschistoiden Typs ein klarer Zusammenhang besteht. Sozialpsychologen haben die Hypothese vorgebracht, die Gewalt in den Arenen habe die Gewalt in der übrigen Gesellschaft gebunden - eine sehr prekäre Annahme gerade dann, wenn sie zuträfe. Aus ihr würde folgen, daß quasi nur ein Ventilfaschismus den Realfaschismus psychopolitisch bändigen könnte. Dies gäbe dem Ausdruck »Energiepolitik(( eine ziemlich pikante Nebenbedeutung. Nun muß man auf folgenden Mechanismus achten: Unsere Zivilisation besitzt in den Parlamenten, den Nachrichtensystemen und den Sportarenen, um nur diese drei Instanzen der Öffentlichkeit zu nennen, ein System von Unterscheidungen oder Diskretionen, die das Funktionieren der modernen Massengesellschaft in halbwegs beruhigten Formen garantieren. Aber es gibt einen Ausnahmezustand, bei dem zwischen den Feldern die Grenzen verschwinden, so daß die soziale Fusion, die Totalisierung durch die Krise möglich wird. Dieser plötz-
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liche Ausnahmezustand heißt bei uns der Skandal oder die Affaire. Affairen und Skandale sind dramatische Entdifferenzierungen der Gesellschaft, in denen mit einem Mal alle über alles alles sagen können, und das überall. Das Parlament wird Arena, die Arena wird Nachrichtenmedium, das Nachrichtenmedium wird Parlament - die Krise hebt die Trennung der Funktionsbereiche auf. Alle genießen diesen Ausnahmezustand, wenn auch ein wenig mit schlechtem Gewissen, weswegen man bei diesen Walpurgisnächten der Empörung nur Leute opfern soll, denen man wirkliche Fehler nachsagen zu können glaubt. Denn wenn das Opfer nicht selber schuld ist, wie dürfte man sich an der Jagd auf es beteiligen? Bei der Fusion übernimmt die Arenafunktion die Führung, sie steuert die Versammlung der schaulustigen Masse angesichts des Spektakels, das fasziniert und synchronisiert. Was die neue Arena eigentlich ist, nämlich eine Erregungs- und Fusionsmaschine für die Massenkultur, das können die Modernen nur wissen, nachdem sie sich selber hineinbegeben haben, aber nicht als Zuschauer, sondern als Kämpfer - das letztere geschieht, sobald man eine öffentliche Person wird, ein Politiker, ein Medienstar, ein Spitzensportler oder ein Skandalobjekt. Die Kämpferposition ist deswegen so informativ, weil man in die Arenamitte gerät und von dort aus die entscheidende Information mitnimmt: daß die Tribüne rundum aussichtslos geschlossen ist und daß nur der Kampferfolg darüber entscheidet, ob und wie man aus dem Kessel herauskommt eine Frage, die sich für die Leute auf den Rängen niemals stellt, weil es von ihnen keiner weit hat zum Ausgang. Für den Zuschauer stehen die Christen und die Löwen auf derselben Stufe, wodurch garantiert ist, daß man sich immer amüsiert. Was auf der einen Seite eine diskutierende Demokratie, ist aus der anderen Perspektive gesehen schon das totale Stadion. Was meinen Fall angeht, so muß man bedenken, daß das Fanfarensignal zum Beginn der Spiele von Medien ausgegangen ist, die sich der Kritik und der bürgerlichen Wachsamkeit verschrie-
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ben haben, von der Zeit und vom Spiegel. Soll man daraus schließen, daß das kritische Bewußtsein auf die Formel Panik, et circenses umgestellt hat? Damit will ich aber nicht sagen, es gebe keine authentische Kritik mehr. Doch ich weiß jetzt, daß Kritik vor allem als Widerstand gegen den neu-römischen Feuilletoncircus ausgeübt wird. Ich denke an den bewundernswerten Artikel von Antje Vollmer Die Ritter der Übermoral in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, an Klaus Podaks klare Problemanalyse in der Siiddeutschen Zeitung und einige andere Interventionen. Es gab eine kleine Anzahl von Publizisten, in den Funkmedien wie in der Presse, die den Mißbrauch und die Mißfunktion der Öffentlichkeit in der Affaire begriffen hatten. Sie stellten Wellenbrecher gegen die Flut dar. Wenn man den Subtext solcher Vorgänge entziffern will, sollte man darauf achten, daß der Stand der europäischen Kultur sich unter anderem daran ablesen läßt, wie die Antike wiederverwendet wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist unsere Beziehung zum römischen Präzedenzfall dramatisch. Man muß sich nur gewisse Daten der europäischen Architekturgeschichte vergegenwärtigen: In karolingischer Zeit hat die christliche Monarchie zuerst römische Bauformen wie die Basilika und das Rundgebäude wiederholt, das 16. Jahrhundert wiederholt die Villa, im 17. und 18. Jahrhundert kommen auch die gräzisierenden Formen wieder herauf, der Tempel, der Rundtempel, die Wandelhalle; dem folgt ein halb absolutistischer, halb bürgerlicher Gebrauch des Amphitheaters fürs Hoftheater, dann für die Sitzordnung der neuen Parlamente, die älteren Universitätshörsäle nicht zu vergessen. All das sind Bauformen, in denen einzelne Menschenstimmen zu hören sind. Die antike Form, deren Wiederholung am längsten auf sich hat warten lassen, war die Arena, das neue Sportstadion, der WettkampfZirkus. Diese sozial-architektonische Raum- und Versammlungsidee erlebt erst im 20. Jahrhundert eine Wiederkehr, dann aber sofort in epidemischen Ausmaßen, ohne Zweifel deswegen, weil das römische Rundtheater die suggestivste Raumfor-
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mel für die Bedürfnisse der wiedererstandenen Massenkultur liefert. Das Stadion ist die pure Neo-Antike an ihrem dunklen Grenzwert. Es ist die Kultstätte des Fatalismus, der wieder zur Religion der Massen geworden ist. Das Fatum ist der Spruch, der den Unterschied zwischen Siegern und Verlierern feststellt. Zugleich ist es die VOX omnium, das Gebrüll der Menge. Die großen Stadien sind seine architektonische Form, von ihr her ist die neue Massenzivilisation am schlüssigsten zu denken. In der antiken Arena strömten die Zuschauer zusammen, um dabeizusein, wenn der Sieger den Fuß auf den Verlierer stellt. In der modernen Arena haben sich immerhin Spielformen der unblutigen Unterscheidung zwischen Siegern und Verlierern durchgesetzt. Der sogenannte Sport beruht aber weiter auf der Faszination durch die Beobachtung der Unterscheidung von Sieg und Niederlage. Man muß jetzt nur noch begreifen, daß diese Faszinationen auch außerhalb der sichtbaren Stadien inszeniert werden, und zwar in dem Maß, wie die Gesellschaft als ganze zeitweilig eine totalitäre Meta-Arena wird. Sobald die Gesellschaft sich entdifferenziert, im Skandal, in der Affäre, springt die Arenafunktion auf die Massenmedien über, die bei der Menschenjagd auch im Realen bekanntlich nicht zimperlich sind. Dann bildet die durchmediatisierte Gesellschaft ein einziges Stadion, in dem man fachmännisch amüsiert die Venation beobachtet. Und von jedem, den es trifft, kann man wahrheitsgemäß sagen, er ist ja nicht der erste. In meinen Augen ist die Clinton-Lewinsky-Affaire ein Bruchpunkt in der jüngsten Zivilisationsgeschichte. Spätestens von diesem Moment an wird niemand mehr behaupten dürfen, er habe nicht gewußt, welche Spiele jetzt begonnen haben. Mit der globalisierten Medientreibjagd auf den US-Präsidenten und seine kleine Freundin ist eine kritische Schwelle überschritten worden. Man konnte damals konkret verfolgen, wie das sogenannte öffentliche Interesse vom Arenainteresse aufgesaugt wurde. Die Politik war für Monate zu einer Funktion
Noch einmal: Nach dem Humanismus des Circus geworden. Clinton ging aus der Affaire nur deswegen halbwegs unbeschädigt hervor, weil er selber die Regeln des Circus akzeptierte und wie ein erprobter Gladiator bis zum Ende durchhielt. Ich denke, daß angesichts dieser Dammbrüche für die Faschismus- und Massenwahntheorie der Zukunft und für den konkreten Widerstand gegen die erneute schleichende Umwandlung der res publica in die Arenagesellschaft alles noch zu tun bleibt.
Molekularbiologie und Bio-Gnosis - Noch einmal: Nach dem Humanismus H.-J. H. Versuchen wir, im Rückblick auf dieses Gespräch das Thema der Menschenpark-Rede noch einmal auf den kritischen Punkt zu bringen. Sie beginnen eine philosophischliterarische Reflexion über die Potentiale der Barbarei inmitten der Zivilisation und ihre Eindämmung. Vor diesem Hintergrund ist die Frage akut geworden: Wie steht der Mensch zu sich selbst, wenn er sich im Spiegel der künftigen gentechnologischen Praxis anschaut? Aber auch im Spiegel der modernen Chirurgie und verwandter Praktiken. Ich denke an die Praxis der Organ-Implantation, an das Einsetzen von Herzschrittmachern und zahllose prothetische Techniken. Das stellt eine anthropologische Umstrukturierung dar, einerseits eine Art unheimlicher Selbstkolonisierung und Selbstentfremdung, andererseits eine Chance und eine Ausdehnung des Lebendigen über seine bisherigen Grenzen hinaus. Diese Praxis ist eigentlich per se ein Skandal, weil sie vom Menschen extreme Selbstverdinglichungen verlangt im Austausch gegen die erstaunliche Erweiterung von Aktionsspielräumen. Das Unheimliche kommt uns in diesen Techniken unmittelbar nahe. Man fragt sich unwillkürlich: Kann dieses Unheimliche ins Barbarische übergehen.? Oder ist es nicht schon dieses selbst?
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Da diese Techniken den meisten Menschen nicht direkt zugänglich oder verfügbar sind, richten sich ihr Befremden und ihr Protest gegen diejenigen, die den Wandlungsvorgang artikulieren oder nachstellen, wie manche Künstler es in Performances tun. Oder gegen Romanciers wie Michel Houellebecq, der in Frankreich zum Objekt der heftigsten Aggressionen geworden ist. Also werden Künstler, Philosophen und Schriftsteller zu Projektionsflächen für Aggression, Wut, Trauer, die an den anonymen Prozessen nicht unmittelbar ausagiert werden können. P.S. Diese Betrachtung trifft einen Aspekt der Affaire ganz genau. Ich möchte nur hinzufügen, daß die MenschenparkRede über drei Schlüsselworten aufgebaut war: Lichtung, Domestikation, Anthropotechnik. Von diesen Ausdrücken hat bisher nur einer, der letzte, den Weg zum Bewußtsein des Publikums gefunden. Er hat gewirkt wie eine Hagelrakete, die eine Gewitterwolke zum Abregnen gebracht hat. Ich kann mir schon vorstellen, daß in manchen Reaktionen so etwas wie eine hilflose Verbitterung über die Thematik als solche und die globale Tendenz, die in ihr erscheint, zum Ausdruck gekommen ist. Dafür spricht, daß in manchen Voten der Vorwurf zu hören war, ich hätte zwar nur allzu reale Probleme berührt, aber vergessen, mich von den erwähnten Unheimlichkeiten moralisch zu distanzieren. Ich verstehe, daß gerade der beiläufige Charakter meiner Hinweise zu Projektionen eingeladen hat. H.-J. H. Man ging so weit, zu unterstellen, Sie hätten einer »Menschenzüchtung« auf der Linie platonischer Elitekonzepte das Wort geredet. Wer den Text liest, braucht sich mit dieser Absurdität nicht aufzuhalten. Was bleibt, ist die Einsicht, daß eine neue anthropologische Selbstverständigung auf der Tagesordnung steht. Der Mensch, so scheinen Sie im Anschluß an gewisse Wendungen von Heidegger zu fordern, sollte nicht definiert werden, bevor man nicht gründlicher über ihn nachgedacht hat, als die metaphysische, die humanistische Tradi-
Noch einmal: Nach dem Humanismus
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tion es vermochte. In diesem Sinn geht es Ihnen meines Erachtens vordringlich nicht um ein wissenschaftliches oder moralisches Problem, sondern um die Frage des angemessenen Hörens, des Anhörens und Zuhörens, des Andenkens und Bedenkens, um Anthropo-Poesie, um die Hervorrufung des Menschen, um sein Zur-Welt-Kommen, seine Menschwerdung. P. S. Nicht umsonst ist mein Vortrag als ein Antwortschreiben auf Heideggers Humanismus-Brief angelegt. Ich ging, als ich ihn schrieb, davon aus, daß in diesem mehr als fünfzig Jahre alten Text die Frage nach dem Menschenwesen so weit vorausgedacht ist, daß man bei ihm anschließen muß, wenn man als philosophischer Anthropologe weiterdenken will - was heute im übrigen eher eine minoritäre Position ist. Zahlreiche smarte Intellektuelle haben inzwischen das Thema Mensch als eine überholte Theoriefigur abgeschrieben. Mein Interesse an Heideggers Vorgaben wird besonders durch die pastoralen Formulierungen geweckt, für die der Humanismusbrief berühmt ist, nicht zuletzt bei denen, die sich darüber mokieren. Nun ja, was um alles in der Welt sind Hirten des Seins?Was sind die Hüter, was sind die Nachbarn in bezug auf dieses seltsame Abstraktum? Soviel ist klar, daß Heideggers Pastoral-Diskurs eminent ethisch ist, weil durch ihn eine besondere Form von Verhaltenheit, von Sammlung, von Bescheidenheit, von Hinhören, von Vorbereitung gefordert wird, man könnte fast von einem Katalog ontologischer Sekundärtugenden sprechen. Man spürt die Ermahnung, sich zu verhalten wie die fünf klugen Jungfrauen aus Matthäus 2 5, die ihre Lampen am Brennen hielten, bis der Bräutigam eintraf. Bereitsein für Seinszuspruch ist alles. Aber mit dieser Ethik der Verhaltenheit hat es eine eigenartige Bewandtnis. Heideggers Verständnis des Hirt-Seins ist sicher aus zwei Quellen gespeist: zunächst vom Bild des christlichen guten Hirten, der für seine Schafe alles tut, daneben auch von bukolisch-bäuerlichen Hüterbuben-Metaphern. Beide Male hat
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man es mit relativ schwachen und untechnischen Rollen zu tun, denn Heideggers Hirt, das ist sehr wichtig, ist eigentlich kein Könner von diesem und jenem, sein einziges Vermögen besteht darin, daß er gut wach sein kann und merkt, was bei der Herde los ist. Es macht einen Teil des Zaubers von Heideggers Metaphern aus, daß sie ein scheinbares Nichtstun, das hütende Wachen, als eine Höchstmöglichkeit des Daseins auszeichnen. Ich bin sicher, daß dies ein Grund ist, warum nicht wenige Schüler aus dem fernen Osten den Weg nach Freiburg und Todtnauberg gefunden haben. Was tun die Heideggerschen Hirten? Sie wachen eben, das heißt, sie tun das Ihre dazu, daß die Welt Welt sein kann, und sonst nichts. Dem liegt die spirituelle Einsicht zugrunde, daß wenig viel ist, während viel so gut wie gar nichts ist, wenn die Voraussetzungen falsch sind. Es ist nichts, solange der Vieltuer nur ein rasender Schläfer bleibt, der aus der aktivistischen Hypnose nie erwacht. Zu diesen Heideggerschen Hinweisen, die aus der Weisheitstradition kommen und wieder in ihr verklingen, habe ich eine Beobachtung hinzugefügt, die sein idyllisches Hüterbild modifiziert. Ich sage, in der Lichtung sitzen nicht nur stille Hirten und gelassene Hüter. Da sind noch andere, nicht so gute Hirten am Werk, von denen eigens die Rede sein muß. Man hat zur Kenntnis zu nehmen, daß es zwei radikal verschiedene Pastoralen gibt, eine idyllische und eine unheimliche - kulturgeschichtlich gesprochen, eine bäuerliche und eine hirtennomadische. Diese Differenz hat der Berliner Philosoph Thomas Macho, von dem man noch nicht genug wahrgenommen hat, daß in seinem Werk ein neues Paradigma philosophischer Kulturgeschichte sich abzeichnet, kürzlich in einem Aufsatz unter dem Titel Lust auf Fleisch? scharf herausgestellt. Man kann hier lernen, daß es den guten und den bösen Hirten gibt, den agrarischen Viehhalter und den nomadischen Viehzüchter. Nun, während Heidegger, wie man leicht erkennt, an der christlichen und bäuerlichen Semantik vom guten Hirten anknüpft, habe
Noch einmal: Nach dem Humanismus ich mir erlaubt, an die hirtennomadische Imago des bösen und unheimlichen Hirten zu erinnern, sicher in einer viel zu lakonischen Form. Auch dies ist ein Subtext, den man explizit machen muß. Für die Agrarhirtentradition ergibt es einen guten Sinn, das Zusammensein von Hirt und Tier im Zeichen der Gelassenheit, also eines untechnischen Offenseins fürs Anwesende, zu charakterisieren. Allenfalls muß dieser Hirt dafür sorgen, daß kein Tier verlorengeht. So hat es die christliche Tradition mit diesem Bild gehalten, ja, sie ging so weit, zu lehren, daß sich der gute Hirt für seine Schafe opfert. Ganz anders beim hirtennomadischen Typus: Dieser spekuliert mit den Fortpflanzungsprozessen seiner Herden, aus einem Grund, den man leicht errät: Er will von ihr genau das, was man bei einem Kuchen angeblich nicht kann, nämlich ihn sowohl haben als auch essen. Die Hirten sind ihrem Zivilisationsdesign nach Fleischesser, sie hüten ihre Herden folglich nicht nur, sondern überwachen und steuern ihre Fortpflanzung im höchstmöglichen Ausmaß, so daß sie ständig Tierüberschüsse zum Verzehren erhalten, Diese Hirten tragen nicht das Merkmal Gelassenheit an sich, sondern das Merkmal Produktion, sprich Tierverwertung, like it or not. Sie sind Züchter und eo ipso Biotechniker, auf einer schlichten Stufe, wie sich versteht. Sie manipulieren die Lebensprozesse in aller Konsequenz. Sieht man näher zu, dann erkennt man, daß auf der anderen Seite auch die bäuerliche Existenz den Lebensprozessen keineswegs nur in der Haltung untechnischer Betreuung beiwohnt, sondern daß auch in ihr Lebensmanipulationen die entscheidende Rolle spielen, allerdings eher in bezug auf die pflanzliche Welt. Folglich ist in der Lichtung viel mehr im Gang als nur ein stilles Hüten dessen, was von sich her da ist. Das Wachsein in der Lichtung ist mehr als die Betreuung einer Offenheit. Nichts anderes habe ich in meinem Basler Kommentar zur Problematik der Pflege des Menschlichen durch den Menschen gesagt. Gleich, ob es Bauern oder Viehzüchterkulturen sind, die hier
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agieren, eine gewisse Prototechnik des Zugreifens auf Lebensprozesse ist in beiden Formen immer schon gegeben. Tiere und Pflanzen züchten heißt Fortpflanzungschancen ungleich verteilen, also aufziehen und bevorzugen, ausscheiden und unterdrücken, nach Kriterien, die vom menschlichen Vorteil abgelesen werden. Vor diesem Hintergrund läßt sich verstehen, daß quer durch die moderne Welt ein ungeheurer Konflikt läuft nämlich der zwischen Lebensschützern und Lebensverbrauchern, typologisch gesprochen, zwischen dem bäuerlichen und dem nomadischen Habitus. Das ethische Dilemma der Modernen besteht darin, daß sie wie Pflanzenesser denken und wie Fleischesser leben. Deswegen können Ethik und Technik bei uns nie parallel laufen. Wir wollen so gut sein wie die guten Hirten, aber so gut leben wie die bösen Hirten, die für ihre Schlachtfeste und ihre lebenverschwendenden Prassereien nachteilhaft berühmt sind. Dieser Dualismus bewirkt, daß alle heutigen Debatten über Ethik einen falschen Ton haben. Der moderne Mann spricht mit gespaltener Zunge, er ist ein Nomade im Schafspelz oder der böse Hirte im Gewand des guten: ein Endverbraucher. Wenn man dem heute intellektuell populär gewordenen Lob der Nomaden begegnet, sollte man daran denken, daß damit letztlich die hirtennomadische Seinsweise rehabilitiert wird - niemand soll glauben, daß dies ein harmloser Diskurs ist. Um diesem Thema näher zu kommen, könnte es nützlich sein, ein Buch von Jeremy Rifkin aus der Phase, in der seine Position klarer war als heute, wiederzulesen: Das Imperium der Rinder, 1994, in dem der monströse Parallelismus zwischen Machtgeschichte und Großviehzuchtgeschichte bis zu seiner letzten Überspitzung im zeitgenössischen Fleischkapitalismus entwickelt wird. Man muß zudem einen bisher zu wenig beachteten Punkt betonen: Mit der modernen Gentechnik nimmt der Begriff Züchten eine Bedeutung an, die mit seinen traditionellen Konnotationen überhaupt nichts mehr zu tun hat, denn hier gibt es
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das Problem der Zwischengenerationen nicht mehr, die nur als Mittel für eine spätere Generation mit den gewünschten Zieleigenschaften verbraucht wurde. Die Idee der genetischen Konstruktion impliziert ja den direkten Zugriff auf das Resultat, ohne Umweg über die mittleren Generationen. Damit fällt auch das anstößigste Moment der alten Züchtungspraxis weg, das Eliminieren der nichtgewünschten Exemplare. Das mag bei Obstbäumen und Rosen noch angehen, bei Tieren ist es bereits problematisch, beim Menschen wäre es ein Horror außerhalb jeglicher Debatte. Man muß kein Kantianer sein, um zu verstehen, daß Menschen nicht Mittel sein dürfen, schon gar nicht Mittelglieder in einer Züchtungssequenz, sondern daß sie in jeder Lebenslage, in jeder Kultur und in jeder Zeit ihren Daseinszweck in sich selber tragen. Damit ist im übrigen angedeutet, warum unsere Kultur, sowie sie anfängt, evolutionistisch, naturalistisch, futuristisch zu denken, sich auf der schiefen Ebene befindet, weil zum Evolutionismus per se die Versuchung gehört, eine gegebene Generation zu relativieren im Hinblick auf das, was eine nächste erreicht haben wird. Darum hatte der alte Leopold von Ranke so ganz unrecht nicht, als er meinte, der Begriff der Entwicklung sei eine Beleidigung für die menschliche Würde. Diese läßt sich nur bewahren, wenn jede Zeit unmittelbar zu Gott ist und jede Epoche als eine eigenwertige Realisation des Ewigen gilt. Wollten wir diesen Gedanken aufheben und die Evolution absolut setzen, dann verstricken wir uns in einen unheilbaren Zynismus gegenüber jeder Vergangenheit und Gegenwart, weil das Leben in beiden Zeitstufen für den Evolutionisten wenig bedeutet gegenüber dem, was die sogenannte Höherentwicklung der Späteren erreicht haben wird. In diesem Kontext darf man noch einmal an die Großdiagnose Heideggers über das abendländische Denken erinnern, an dem er die Seinsblindheit bemerkt haben wollte. H.-J. H. Man versteht jetzt zugleich besser, was Sie meinen, wenn Sie sagen, daß man über die Heideggersche Infragestel-
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lung des Humanismus noch hinausgehen muß. Der Humanismus ist in allen seinen Varianten ein von Philosophen, Ideologen und Kolumnisten je nach Bedarf benutztes Programm. Jörg Haider hat seinen Wahlkampf im Herbst 1 9 9 9 österreichweit mit humanistischen Slogans geführt. Der französische Philosoph Philippe Lacoue-Labarthe hat daher mit guten Argumenten sagen können: »Der Nazismus ist ein Humamsmus.« Ich möchte eine letzte Frage in bezug auf das so schwierig gewordene Thema von Menschenwurde und Technik stellen, nachdem die Prozeduren der Menschenproduktion jetzt bis an den biologischen Kern herangekommen sind. In der christlichen Tradition besitzen Menschen Würde als Geschöpfe oder Ebenbilder Gottes. Was soll aus dieser Würde werden, wenn Menschen an Menschen gentechnisch herumpfuschen? In einer Fernseh-Diskussion haben Sie dieses Problem einmal in der Weise berührt, daß Sie ein Pfuschverbot aufgestellt sehen wollten, etwa in der Form eines gentechnischen Moratoriums. Das drückt aber, wenn ich recht sehe, die Vorstellung aus, daß die Menschen auf lange Sicht das Recht haben sollen, Nachbesserungen an ihrer natürlichen Kondition vorzunehmen, sofern solche Maßnahmen sinnvoll zu verantworten sind. P.S. Ich fürchte, wir haben uns das Schwierigste für den Schluß aufgehoben und werden es nicht angemessen zu Ende diskutieren. Soviel vielleicht, um die Komplikationen anzudeuten, die vor uns liegen: In der christlichen Haupttradition wird Gott als ein Schöpfer vorgestellt, bei dem Wollen und Können eins sind. Das klassische Attribut »Allmacht« bringt dies zum Ausdruck. Weil er sie besitzt, muß Gott keine Schöpfungsfolgenabschätzungskommission anhören. Er kann und darf sich geradewegs ausdrücken und gibt seine Vollkommenheit an das Geschaffene linear weiter, ohne daß er ein Pfuschproblem fürchten müßte, das bei jedem schwächeren Urheber sofort aufträte. Gegen das vollkommene Werk eines vollkommenen Urhebers gibt es keine Reklamation und braucht es
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keine zu geben. Was aus der Hand des vollkommenen Schöpfers hervorgeht, ist eo ipso immer akzeptabel, Auf der Linie der platonischen Ontologie tritt derselbe Gedanke als das Axiom auf: »Alles Seiende ist gut.« Die Autoren der biblischen Genesis und Platon hatten je auf ihre Weise das Interesse gemeinsam, mit einer Optimal- und Maximaltheologie anzufangen, um die konkurrierenden imperialen Kosmo- und Theogonien auszuschalten. Das ist einer der Gründe, warum die beiden Suprematismen miteinander fusionieren konnten und die christliche Theologie ergaben. Zwischen dem 2. und dem 4. Jahrhundert nach Christus fingen Menschen in der östlichen Wetterecke des römischen Imperiums an, über das Schöpfer- und Demiurgentum aus einer veränderten Interessenlage heraus nachzudenken. Zwischen Jerusalem und Alexandria kommt jetzt die Idee eines Gottes auf, bei dem Können und Wollen nicht mehr eins sind. Sobald die Vorstellung eines zweitklassigen Urhebers die Bühne des Denkens betreten hat, ist es um den prinzipiellen Respekt vor der Schöpfung geschehen.Von nun an ist es möglich zu denken, daß Seiendes auch aus der Hand eines Pfuschgottes hervorgehen kann. In der Folge sind die Gedanken der frühen Europäer in bezug auf den ersten Macher gespalten in solche, die gutkatholisch die Optimalität der Schöpfung verteidigen, weswegen Eingriffe in die genetischen Tiefenstrukturen nicht in Frage kommen, und solche, die kritisch gegen das Seiende meinen, daß die Schöpfung ein Ergebnis aus unzureichendem Können, also punktuell oder generell mißlungen, ist. An der letzteren Diagnose hängt naturgemäß die These, daß Nachbesserungen legitim sein werden, Vorausgesetz, ihre Vertreter wären an irdischen Optimierungen noch interessiert. Wir stehen also - inmitten der modernen Ingenieurskulturen - in der Sukzession einer Theologie des Machens, die von einer gnostischen Gegenströmung unterspült ist.Wir habendeswegen nicht nur helle Empfindungen in bezug auf Macherturn - in bezug auf göttliches nicht und auf menschliches erst recht nicht.
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Man möchte geradezu glauben, daß wir im Augenblick eine spätantike Szene auf der modernen Bühne nachspielen. Die eine Menschheitsfraktion tritt dabei als der Macher auf und die andere reklamiert dagegen. Die Differenz zwischen Schöpfergott und Erlösergott wiederholt sich in der Differenz zwischen Mächermensch und - wie sollen wir den anderen nennen, vielleicht Hütermensch oder Heideggermensch? Vor Jahren saß ich einmal auf einem Podium mit Pinchas Lapide, der eine merkwürdige para-gnostische Anekdote von einem Rabbi aus dem spätantiken Judentum erzählte. Dieser nicht ganz talmudkonforme Theologe soll gelehrt haben, daß Gott siebenundzwanzig Mal vergeblich versucht hatte, die Schöpfung ins Leben zu rufen, und erst beim achtundzwanzigsten Anlauf sei es ihm gelungen, eine Welt hervorzubringen, die hielt. Das zeigt, Denker unserer Traditionskette haben das Pfuschproblem viel früher entdeckt, als man gemeinhin annimmt. Unter der Decke des katholischen Schöpfungsoptimismus, der sich mit dem platonischen Bonitätsvorurteil gegenüber allem Seienden zu beiderseitigern Vorteil vermischt hat, verbirgt sich eine Unterströmung an dissidenter Ontologie, in der man den göttlichen und menschlichen Machern mißtraut und ihnen nicht von vornherein Können und Gelingen unterstellt. Das zwingt dieselben um so mehr, zu beweisen, daß sie wirklich können, was sie zu können behaupten. Die modernen Gen-Ingenieure argumentieren hier übrigens aus einer Position der Stärke, denn sie dürfen darauf hinweisen, daß Menschen, die an Erbkrankheiten leiden, keine guten Beispiele für göttliche Schöpfungskunst darstellen. Wenn solche Menschen bloß aus der Hand eines dummen Zufalls defekt hervorgegangen sind, so sind gekonnte Maßnahmen zur Kompensation des Zufalls a priori legitim. Ein letztes Wort über die Technikfurcht in unserer Kultur. Alle Technik ist bisher kontranatura1 gewesen, weil sie Prinzipien eingesetzt hat, die in der Natur so nicht vorkommen, zum Beispiel den Schnitt der geraden Messerklinge, die reine Rotation
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des Rades, die ballistische Bahn des Pfeils, der vom Bogen schnellt, die Knotenkunst und so weiter. Technik war über Jahrtausende hinweg Alletechnik, das heißt auf gegennatürlichen Funktionen und abstrakten Geometrien aufgebaute Mechanik. Alletechnischen Maschinen sieht man auf den ersten Blick an, daß sie Konstrukte und keine Gewächse sind. Das spiegelt sich in den Technik-Aversionen zahlloser Menschen wider. Jetzt ist zum ersten Mal die Schwelle erreicht, wo die Technik anfängt, eine naturähnliche Technik zu werden Homöotechnik statt Alletechnik. Sie bricht nicht mehr so sehr mit dem modm opemndi der Natur, sondern knüpft an, sie kooperiert, sie schleust sich ein in Eigenproduktionen des Lebendigen, die aufgrund langfristig bewährter evolutionärer Erfolgsmuster in Gang sind. Da beginnt eine neue Form von Kooperation und Symbiose mit der alten Natur, ein Vorgang, der auf seine Weise genauso unheimlich ist wie die erste Technik. Doch werden die neuen Epinaturen der zweiten Technik etwas ganz anderes sein als die Kontranaturen der erstenTechnik. Vielleicht ist das, was ich hier Homöotechnik nenne, nichts anderes als das, was in der Kabbala vorausgeträumt worden ist. Sie stellte bekanntlich einen Versuch dar, die skripturalen Prozeduren Gottes aufzufinden und nachzuahmen. Die Kabbalisten waren die ersten, denen klar wurde, daß Gott kein Humanist ist,’ sondern ein Informatiker. Er schreibt keine Texte, sondern er schreibt die Codes. Wer wie Gott schreiben könnte, der würde dem Konzept von Schrift eine Bedeutung geben, wie sie kein menschlicher Schreiber bisher verstand. Genetiker und Informatiker schreiben schon anders. Auch in diesem Sinn hat eine posthumanistische Ära begonnen.
Archäologie des Intimen
Ill Zur allgemeinen Poetik des Raums Über »Sphären I«
Archäologie des Intimen H.-J. H. Herr Sloterdij k, die Blasen, die Sphären und das Intime das sind drei Begriffe oder richtiger Quasi-Begriffe, vielleicht sogar Nicht-Begriffe, also verbale Spielformen von eher evokativem Charakter, die den Titel und die Konzeption Ihres neuen Buches prägen. Ich möchte vorschlagen, daß wir mit diesen Begriffen/Nicht-Begriffen daher nicht wie mit Definitionen umgehen, weil dies kontradiktorisch wäre zu dem von Ihnen eingeschlagenen Denkweg und zu dem, was diese Begriffe, diese Wörter und Bilder wollen, nämlich den Raum weit machen. Lassen Sie mich mit der Frage nach dem Status des Intimen in der zeitgenössischen Kultur beginnen. Trotz der übermächtigen Telepräsenz des Intimen, der randvoll mit sogenannten Tabuthemen gefüllten Unterhaltung, sind Nähe und Zärtlichkeit, die Fragilität der menschlichen Begegnungen, das Wagnis einer tiefen erotischenverbindung ferner gerückt denn je. Und so sind die vor Jahren von Richard Sennett diagnostizierte ))Tyrannei der Intimität« und die damit einhergehende Entkräftung der öffentlichen Sphäre nur ein Oberflächeneffekt, der einen falschen Schein von Nähe hervorruft. Die intimistische Unterwanderung der Gesellschaft, die Sennett kritisiert, hat ja nicht wirklich zu einem vertrauteren Verhältnis mit den verborgeneren Schichten des Selbst geführt. Eher hat man den Eindruck, daß die Selbsterfahrung der einzelnen und das Potential zu Phantasien und Visionen für die Gemeinschaften heute mehr blockiert sind als je zuvor. Der Intimitätskult ist bizarre Verbindungen und Allianzen mit der Entfremdung, der Anonymität und der Technologie eingegangen.
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Ihre philosophische »Archäologie des Intimen« - so lautete der ursprünglich geplante Untertitel von Sphären I - setzt darum bei einer völlig anderen Vorstellung von Intimität an und bringt an allererster Stelle den schon erwähnten, so völlig unphilosophisch klingenden Ausdruck »Blasen« ins Spiel. Eine Philosophie, die sich unter das Bild der Blase stellt und damit allen Assoziationen um Seifen- und Luftblasen, also eher Nichtigem, Instabilem, fast Ungegenständlichem, freien Lauf läßt, situiert sich selbstbewußt in den Randzonen des akademisch und kulturell Gefestigten und spielt - das wäre schon meine erste Frage: sehe ich das richtig? - mit der Phantasie, von der Peripherie her das Zentrum aufzuweichen. So steht denn auch eine Gedichtzeile von Henri Michaux: »Wenn man erst wußte, wie weich ich geblieben bin im Grunde« an zentraler Stelle des ersten Bandes Ihrer »Sphären«-Trilogie. P.S. Es ist ein wenig riskant, in der deutschen Sprache den Ausdruck »Blasen« zu verwenden, um eine philosophische Untersuchung über Intimität in Gang zu bringen. Die Konsequenz davon ist, daß sich bei vielen Hörern und Lesern urologische Assoziationen einstellen, in zweiter Linie Vorstellungen, wie Sie sagen, aus dem Bereich des Flüchtigen, Nichtigen, Substanzlosen, die wir mit Bildern wie Seifenblase, Luftblase, Sprechblase verbinden. Die Clinton-Lewinsky-Affaire hat dem Wort wohl auch nicht gutgetan. Aber diese Risiken mußte-ich eingehen, ich mußte diese Assoziationen zulassen, um die Intention des Buches, beinahe hätte ich gesagt seine Stxategie, schon im Titel offenzulegen. Es geht mir darum, etwas dazu beizutragen, die übermächtigen Erbstücke der Substanz- und Einzelding-Metaphysik, die in den Köpfen der Menschen immer noch festsitzen, aufzulösen, Vorstellungen, die seit z 5 oo Jahren die Europäer mit einer grammatischen Luftspiegelung über den sogenannten harten Kern des Wirklichen blenden. Das Substanzdenken hat uns seit kaum vordenklichen Zeiten dazu verführt, das Wesentliche von Welt und Leben in dem und nur in dem zu suchen, was man dinglich
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und einzeln anfassen kann, was stofflich und formal Bestand hat, was in den Objekten und Zuständen, die uns begegnen, als deren Essenz sich immerfort bewährt. Folglich begreifen wir in der Regel das Wesenhafte unter einer dingontologischen Auffassung. Die Substanz ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält, und nur solche Dinge und Regelmäßigkeiten, die das Prädikat substantiell tragen, gelten nach allgemeinem Dafürhalten der Rede wert. In der Ordnung der Dinge und in der Ordnung der Worte herrscht dieselbe Voreingenommenheit für das Solide, Handgreifliche, Substantielle, Grundlegende in Verbindung mit dem Glauben, daß Einzeldinge, individuelle körperliche Objekte und Personen das Rückgrat des Wirklichen bilden. So gesehen ist unsere Kultur ihrer philosophischen Grammatik nach immer noch, wie in den Tagen des Aristoteles, ganz substantialistisch und individualistisch engagiert - daran hat die jüngere Wende zu einem funktionalistischen und kybernetischen Denkstil viel weniger geändert, als gelegentlich behauptet wird. Im Alltag sind wir nach wie vor Hardcore-Metaphysiker - der Festkörperglauben, das hardware-Credo und der metaphysische Individualismus sitzen bei uns tiefer als alle neu hinzugelernten Reden über die Immaterialien, die Medien und die auftauchende Halbwelt zwischen Geist und Silikon, die sich Information nennt. Wenn ich das Bild der Blase ins Zentrum meiner Überlegungen stelle, signalisiert das die Absicht, mit der Revision des Substanzfetischismus und des metaphysischen Individualismus ernst zu machen. Das heißt, wir setzen beim Zerbrechlichsten und beim Gemeinsamen an, wir beginnen jetzt im gehauchten Raum, in einer dünnwandigen Struktur, die schon durch ihre fragile Form und durchsichtige Erscheinung zu verstehen gibt, daß wir uns nicht auf einer Grundlage aufstützen oder Sicherheit suchen bei einem Fundament, schon gar nicht bei einem inconcti~~tim oder einem anderen äußeren oder inneren Felsengrund, sondern daß wir uns auf den Vorschlag einlassen, bei einer schwebenden Bewegung mitzugehen, wie ein Kind, das
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Seifenblasen aus einer Schlaufe in die Luft bläst und mit Begeisterung seinen eigenen Kunstwerken hinterherblickt, bis die bunten Dinger zerplatzen. Um dasselbe ohne Bild zu formulieren: Das philosophische Engagement von Sphären 1 besteht in dem Vorsatz, die in der philosophischen Tradition stiefmütterlich behandelte Kategorie der Relation, der Beziehung, des Sehwebens in einem Ineinander-Miteinander, des Enthaltenseins in einem Zwischen, zu einer erstrangigen Größe zu erheben und die sogenannten Substanzen und Individuen nur als Momente oder Pole in einer Geschichte des Sehwebens zu behandeln. Dies alles aber nicht im Stil einer Dialogphilosophie, wie sie unter den Theologen populär geworden ist, sondern mit Hilfe einer profanen oder anthropologischen Theorie des geteilten Raums oder des subjektiven Feldes. H.-J. H. Genau besehen, setzten Sie ja mit solchen Manövern nur konsequent fort, was Sie mit jeder Ihrer Schriften getan haben: An den Stellen, wo sich das Starre und das Begrenzte etabliert hatte, wo der Substanzfetischismus, wie Sie sagen, sich festgesetzt hatte, den Raum wieder zu öffnen, um bewegliche Formeln für eine moderne Selbsterfahrung zu entwikkeln, um Figuren eines konvulsivischen und Vitalistischen Denkens zu erproben. Es geht Ihnen offensichtlich darum, diesen, wie Sie es nennen, gehauchten Raum weit zu machen, eine schwebende Bewegung einzuführen und dabei experimentelle Kombinationen, Rückgriffe auf Ältestes, Fernstes zu wagen. Sie sprachen früher einmal von »Subversionsübungen gegen den Absolutismus der Geschichte und der Vergesellschaftung«. Sie wollten die »Aufmerksamkeit für Seitenbeweglichkeit<< schärfen. Statt den Menschen nur hinzunehmen als ein fertig in-der-Welt-seiendes Wesen, gilt Ihr Augenmerk jetzt einer Maieutik, dem geburtlichen Ankommen auf der Erde, dem Hervorbringen von Welten, dem In-Sphären-Sein des Menschen. Wo liegt der Übergang von Ihrer Kritik der gvzischen Hrnunf,
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198 3, von Ihrem E.wotaoi.mm, 1989, und Ihren Ausführungen über die fortbestehende Notwendigkeit einer Revolutionstheorie im Selbstvermcb, 1996, zu dieser jüngsten, schwebenden Bewegung in Sphären 1, zu diesem in seiner Offenheit sich jetzt noch radikaler artikulierenden Denken? Lassen sich hierfür auch biographische Motive nennen? Und habe ich recht mit meiner Vermutung, daß zwischen Ihren jüngsten Arbeiten und Ihren älteren Büchern ein gewisser Einschnitt beobachtbar
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P.S. Lassen Sie mich mit der biographischen Anmerkung beginnen. Ich gehöre, wie früher angedeutet, zu der ersten Nachkriegsgeneration in Deutschland, die in den beginnenden sechziger Jahren angefangen hat, sich eigene Gedanken zu machen - wie man das so schön und irreführend nennt, denn die eigenen Gedanken, mit denen man anfängt, sind die massivsten Klischees der Zeit, in der man lebt. 1962 war ich fünfzehn, welche eigenen Gedanken konnte ich mir da machen? Natürlich habe ich mich vollgesogen mit den Ideen, Konzepten, Sprachen, die damals in der Luft lagen, zuerst mit dem französischen Existentialismus und danach mit der Kritischen Theorie in beiderlei Gestalt. Von dem, was literarisch möglich war, bekam ich einen Begriff durch Benn, Valery, Cesare Pavese, auch durch den jungen Rühmkorf, durch Alexander Kluge und Oswald Wiener.Von 1967 an tauchte ich in den Strukturalismus ein, der damals aufkam, gleichzeitig in die Phänomenologie der Merleau-Pontyschen Richtung, ich las Max Bense, den frühen Foucault, den frühen Derrida, und zum ersten Mal Gotthard Günthers Das Be~ti$‘~se& der Maschinen, die erste große Philosophie der Kybernetik, die für mich heute noch einmal wichtig wird. Ich wog damals nicht mehr als der Suppenkasper am dritten Tage, litt aber in Theoriesachen an grenzenloser Freßsucht. Die Schulen und Autoren, die ich damals studierte, waren ausnahmslos eingebettet in ein Klima von sozialwissenschaftlicher Aufklärung und in eine im weite- _ sten Sinne szientistische Atmosphäre.
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Es waren zwei einschneidende Erlebnisse am Ende jener Jahre, durch die mir bewußt wurde, daß wir trotz all unserer Diskurswut für entscheidende Lebensinhalte so gut wie gar keine Ausdrucksmittel haben - ich denke an meine psychoanalytischen Experimente und an die Indienerfahrung. Durch beides bin ich aus der akademischen und bürgerlichen Standardkultur herauskatapultiert worden. Mit einer Beobachtung wie der, daß es uns bei aller offiziellen Diskurskultur an Ausdruck für Wesentliches fehlt, stand ich weiß Gott nicht allein. Alle, die damals mit einem experimentierenden Leben jenseits der gängigen Wirklichkeitsdefinitionen begonnen haben, waren an der Suche nach einem höheren Code beteiligt. Wir haben die Mangelempfindung aber meistens in die ästhetisehen Subkulturen abgedrängt und uns für Arbeitsteilung entschieden: im Alltag und in den Seminaren die trockenen Sprachen der lebensweltlichen und der szientistischen Trivialität; was darüber hinausging, verschob man in die Poesie, in die Encountergruppen, in die Esoterik, ins Kino. Für einen Intellektuellen mit einer gewissen Ausdrucksambition war diese Spaltung auf die Dauer unannehmbar. Ich habe aus meinen Indientagen das Bedürfnis mitgebracht, eine Sprache für den fehlendenTeil zu finden. Meine sämtlichen frühen Arbeiten, die Kritik der qniscben LG-nunft, 198 3, Der Zawberbazma, 198 5, Der Denker atif der Biihne, 1986, und was sich dem anschließt, waren Versuche, mit einem barocken Gemisch aus erzählerischen, argumentierenden, satirischen, lyrischen und vielleicht sogar pantomimischen Redeformen die Grenzen des expressiv Möglichen ein wenig weiter zu ziehen und die Grenzsteine auf dem abgezirkelten Feld der philosophischen Diskursspiele zu verrücken. Ich hätte zu jener Zeit noch nicht geglaubt, daß möglich ist, was ich heute tue. Inzwischen gehe ich mit grundbegrifflichem Ernst an Ungegenständliches heran, das bislang immer nur im Klangbereich poetischer Sprachen indirekt mitnotiert war. Das ist, als ob man aus einer Obertonreihe eine Begriffsliste macht.
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Ich übe jetzt eine Sprache ein für Vorgegenständliches, Ungegenständliches, Mediales, und wenn mich nicht alles täuscht, wurde Sphären Ivan der Kritik überwiegend als ein mehr oder weniger gelungener Versuch in dieser Richtung verstanden, obschon manche Blätter gegen den »Wahn und Kitsch« meiner Darstellungsexperimente gewütet haben. Ich fasse das als ein gutes Zeichen au< denn alles, was den theoretisierenden Panzerlurchen zu nahe tritt, wird von ihnen totgebissen, und das bestätigt, daß wirklich etwas Neues im Raum ist. Um dieses Buch schreiben zu können, habe ich im Lauf der letzten Jahre einen Sprachkurs für mich selbst entwickelt, denn die Sphären, soviel ist klar, sind in einer Hybridsprache geschrieben, in einem Deutsch, das es nicht gibt und das den Lesern wie eine seltsame, ich hoffe: schöne Fremdsprache erscheinen muß. Die Rede ist in meinem Buch von den tonalen Zuständen oder den mikroklimatischen Ganzverhältnissen, in denen die Menschen »leben, weben und sind« und in denen sie aufgelöst und so selbstverständlich eingetaucht sind, daß sie üblicherweise nie thematisiert werden. Wir leben in einer Kultur, die über das Offenkundigste, über die Grundlichtung, die Atmosphären, in denen wir uns bewegen, so gut wie überhaupt nicht sprechen kann, allenfalls in Form der groben Unterscheidung zwischen guter und schlechter Stimmung. Ich wollte mit meinen Theorien über die sphärische Verfaßtheit menschlicher Existenz einen Sprachzuwachs erzielen, der es möglich macht, in Zukunft diese normalerweise nicht beachteten Grundöffnungen in den Vordergrund zu rücken, auch als Intellektuelle, als Philosophen, als Akteure in einer Kultur der klimatologischen Genauigkeit. Man könnte sagen, ich kehre das Verhältnis von Figur und Grund um, wie es einer technischen Kultur entspricht, in der Implizites zu Explizitem und Vages zu Exaktem wird. Seit es Klimaanlagen gibt, steht eine förmliche Klimatheorie auf der Tagesordnung. Das führt nun dazu, daß ich mit dem Bild der Blase versuche, den Ort zu beschreiben und zu evozieren, in dem oder an dem.
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Menschen zuerst und eigentlich und wirklich sind. Wir sind nämlich so gut niemals umstandlos »in-der-Welt«, um die ominöse Formel aus Sein und Zeit auch einmal mit einer gewissen Reserve auszusprechen, sondern üblicherweise in einer getönten Raum-Blase, an einer bestimmten und gestimmten Stelle, einem Ort, der seine eigentümliche sphärische Ausgespanntheit besitzt. Nur in Katastrophen, wenn alle Behausungen implodieren und das nackte Außen offen liegt, sind die Sterblichen vielleicht tatsächlich hineingehalten in das Nichts, wie Heidegger sagt, aber in der Regel gilt für sie das Gesetz des Aufenthalts in einem geteilten Raum, das Prinzip der selbstdichtenden Sphären. In gewisser Weise knüpfe ich bei dem durch Sigmund Freud bekannt, wenn auch nicht populär gemachten Versuch an, den Menschen als ein topologisches Rätsel zu charakterisieren, genauer als ein Wesen, bei dem man immer die Frage stellen muß: Wo ist es eigentlich? Auf welcher latenten Bühne agiert es, wenn es tut, was es manifest tut? So entsteht eine neue Philosophie des Ortes, die in Analogie zur zweiten Freudschen Topologie - die den seelischen Raum in drei Felder, Es, Ich, Über-Ich, eingeteilt hat - eine philosophische Auskunft auf die Frage: Wo ist der Mensch? formulieren will. Die Antwort ist bei mir keine psychologische, sondern eine raumtheoretische, sie lautet: Zunächst sind Menschen einbezogen in eine bipolare Sphäre, einen intim getönten Beziehungsraum, den .es nur geben kann kraft der Zugehörigkeit und der Zugewandtheit von Zusammenlebenden zueinander einen Nähe-Raum also, den man kaum bemerkt, solange man ihm angehört, und den man vermißt, wenn man ihn verloren hat. Damit Sphären als solche auffallen, müssen sie zerplatzt sein. Erst als verlorene werden sie theoriefahig. Nähebeziehungen sind autogene Gefäße - ein bizarrer Ausdruck, der einem bizarren Sachverhalt entspricht, weil er andeutet, daß hier der Inhalt sich selbst enthält. Ein »dichtes« Paar ist ein solcher autogener Container, ein Selbstbehälter. Die verbunde-
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nen Zwei sind zuvor in ihrem selbsterzeugten Innenraum, und dann erst an ihrer äußeren Weltstelle. Sobald man sich der Erinnerung an diese Grundverhältnisse unterzogen und eine gewisse Sphären-Aufmerksamkeit entwickelt hat, kann man nicht mehr so leicht in die Banalitäten konventioneller und neutraler Raumvorstellungen zurückfallen. Die Antworten der Physiker, der Kartographen und der Einwohnermeldeämter auf die Frage: Wo ist der Mensch?, können nicht mehr befriedigen. Mir geht es im Widerspruch zu den alltäglichen Ortsvorstellungen und veräußerlichten Behälter- und Kartenaussagen darum, Menschen als Teile eines akuten Beziehungsgeheimnisses zu beschreiben. Darum sage ich, es gibt keine Individuen, sondern nur Dividuen - es gibt die Menschen nur als Partikel oder Pole von Sphären. Es existieren ausschließlich Paare und ihre Erweiterungen - was sich für das Individuum hält, ist bei Licht gesehen meist nur der trotzige Rest einer gescheiterten oder verhohlenen Paarstruktur. Davon handelt dieses monströse Buch.
Zwischenweit-Denken H.-J. H. Sie haben jetzt schon das Koordinatensystem dessen umrissen, was bei Ihnen Sphärologie oder Innenraumtheorie heißt. Nach dem, was Sie bisher gesagt haben, könnte Sphäre am ehesten als eine neue raum-ontologische Bestimmung verstanden werden, die sich an topologischen und psychologischen Merkmalen orientiert, an einer Orts- und Raumbestimmung für koexistierende Wesen. Dafür war offenkundig eine andere Sprache als die akademisch erstarrte vonnöten, eine Sprache, die sich zu eigen macht, was in den poetischen Diskursen ausgebildet worden ist, und dabei gleichwohl, das haben Sie betont, einen grundbegrifflichen Anspruch bewahren will. Daher bekennen Sie sich, mehr als je zuvor in Ihren Schriften, zu einem sehr ernsten philosophischen Engagement.
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Deckt sich Ihre Neubestimmung des menschlichen Orts nicht in manchen Aspekten mit dem, was Wissenschaftler am Rande der akademischen Institutionen wie Ken Wilber, Katja Walter oder die Chaos-Theoretiker, formuliert haben? -Autoren, die erkennen lassen, daß die avanciertenTheorien der Natur- und Humanwissenschaften ein Mandala von kosmischen und universalen Bezügen zu beschreiben begonnen haben, das tiefer und weiter reicht als alles, was bisherige Standardwissenschaften gekannt haben? P. S. Ich meine, der Zugang zu meinem Buch ergibt sich nicht so sehr durch wissenschaftskritische Überlegungen, sondern durch eine formale Betrachtung der menschlichen Situation. Tatsächlich gehe ich von einer Formfrage aus, die man am besten erklären kann, wenn man sich danach erkundigt, was der Gegenstand der Psychologie sei. Wollte man weiterhin als Subs tanzialis t und Individualist alteuropäischen Typs argumentierenwürde man, auf das Objekt der Psychologie angesprochen, selbstverständlich erklären, dieses könne in nichts anderem bestehen als im Einzelmenschen, mitsamt seinem internen Funktionieren und seinen externen Beziehungen. Die okzidentale Psychologie ist eine der szientifischen Formen des metaphysischen Individualismus. Dieser stellt gewohnheitsmäßig Wer-Fragen und Wie-Fragen. Die Sphärologie setzt von vornherein anders an. Wie gesagt, geht sie von der Frage aus: Wo ist das Individuum? Und beantwortet sie, wie eben gehört, mit dem Hinweis auf eine elementare Form: Es ist-in einer Sphäre - es ist in einem gewölbten psychischen Feld, als Pol unter Polen. An dieser Stelle kommt schon das Griechische ins Spiel, denn wir müssen das Wort sphaira zunächst etymologisch korrekt mit »Kugel« übersetzen. Was folgt daraus? Wenn wir sagen, ein Mensch sei ein Teil oder ein Pol einer Sphäre - dann sagen wir implicite: Menschen sind Wesen, die in unrunden Kugeln vorkommen. Bis auf weiteres müssen wir noch darauf verzichten, die Kugelform präzise und mathematisch aufzufassen - obschon die
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mittelalterliche Metaphysik gelegentlich so weit gegangen ist, zu behaupten, auch die Einzelseelen hätten, so wie Gott und die Welt im ganzen, eine vollkommene Kugelgestalt. Der explizite geometrische Idealismus geht uns hier noch nichts an - im Bereich der Intimsphären kommen exakte Kugeln nicht in Betracht. Diese werden erst bei den Makrosphären ihre Rolle spielen, also bei den umgreifenden Totalitäten, von denen ich in Sphären 14 Globen handle. Im intim-psychischen Feld haben wir es immer nur mit vagen, relativ amorphen sphärischen Formen zu tun, gewissermaßen mit unsichtbaren Nestern, mit subtilen Zelten, in denen die Zwei sich gegenseitig klimatisieren. Noch einmal also fragen wir: Wo ist das Individuum? Und geben die sphärologische Antwort: Es ist zunächst und zumeist Teil eines Paares - wobei es darauf ankommt, nicht nur das manifeste Paar zu beobachten, sondern vor allem die unsichtbare oder virtuelle Paarstruktur. Das Paar wäre also die primäre sphärische Form, die es zu beachten gilt. Die dyadisehe Verfaßtheit ist die Situation der Situationen. Diese Antwort ist absolut nicht-trivial, sie versteht sich für niemanden von selbst - wäre es anders, so hätte ich nicht fast 700 Seiten auf die Konsolidierung der These verwenden müssen. Das ganze Unternehmen der Blasentheorie - also die Mikrosphärologie, die Suche nach dem Modus menschlicher Bezogenheit im Bereich der subtilsten, beinahe unstofflichen Beziehungsstrukturen - kreist um ein Darstellungsproblem: Wie müssen wir von den weniger offensichtlichen Verhältnissen zwischen Paaren reden, wenn wir sie gut beschreiben wollen? Nicht wie ein Standesbeamter oder ein Paartherapeut, nicht wie ein Voyeur oder ein Leser vonTrivialromanen, sondern mit philosophischer Radikalität und morphologischer Aufmerksamkeit. Die Mikrosphärologie also, die Lehre von den kleinen Binnenräumen, ist eine Untersuchung der psychischen Seifenblase, in der mindestens zwei Menschen vorkommen - zwei und mehr: Ich gebe in meinem Buch Gründe an, warum man im Bereich des Seelischen bisfiinfiählen können muß, um eine
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minimal-komplette Struktur zu erreichen. Zunächst aber genügt es, bis zwei, oder besser ab zwei zu zählen. Ich lasse die Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen. Dabei verschwindet ein Problem, das die klassische Metaphysik bis zum Überdruß diskutiert hat:Wenn man die Eins an den Anfang stellt, ist man gezwungen, darüber nachzudenken, wie dieses Eine sich derart selbst teilen konnte, daß es aus sich den Übergang in die Zwei- und Mehrzahl schaffte. Die klassische spekulative Metaphysik ist ein einziges Phantasieren über die Selbstzerreißurig und Selbstbegattung des Einen, über seine Ur-Teilung oder Ur-Entzweiung und seine Wege zur Wiedervereinigung - hier liegt die Matrix der sogenannten Großen Erzählungen. Auch was das 19. Jahrhundert philosophisch unter Geschichte versteht, bleibt diesem Schema unterworfen. Der Spuk fallt weg, wenn wir mit der Zwei beginnen. Mit dem Denken der Zwei beziehe ich den Standpunkt einer minimalpluralistischen Ontologie. Was ich die Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben. Und diese hat eigene Zeitstrukturen, die sich nicht reduzieren lassen auf die Form der Urerzählung: Einheit-Trennung-Wiedervereinigung. H.-J. H. Bevor wir auf diese spezifischen Paarbildungen zu sprechen kommen, will ich gerne noch einige Dinge allgemeinerer Art klären, und zwar den schon von Ihnen angesprochenen Zug zur Totalität, den universalen Anspruch Ihres Ansatzes und dieses wie mir scheint neue, um informelle Aspekte erweiterte Wissenschaftsverständnis. Dazu zwei Gesichtspunkte: Zum einen möchte ich eine Formulierung des Philosophen Georges Bataille ins Spiel bringen, der bemerkt hat, die Wissenschaft abstrahiere immer den von ihr untersuchten Gegenstand aus der Totalität der Welt. Sie untersuche ihn gesondert, sie erforsche das Atom oder die Zelle je für sich, vom Kontext der singulären Geschichte abgetrennt. Und selbst wenn sie diese Objekte wieder in größere Einheiten einfügt, fahre sie immer fort zu isolieren. Gegenstände der
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Wissenschaft sind die Dinge also insoweit, als sie getrennt betrachtet werden können. Ist diese von Bataille formulierte Grenze Überschreitbar? Stellt die Sphärologie einen Versuch dar, innerhalb der Wissenschaft die Trennung aufzuheben und die Totalität in den Blick zu bekommen, auch auf eine sprachlich befriedigende Weise? Zum anderen: Ihre Sphärologie - Sie machen kein Hehl daraus - will so etwas wie eine alternative Kosmogonie sein, also ein umfassender Entwurf vom Weltganzen, der Menschen, Götter und Engel umfaßt, sagen wir eine Individualkosmogonie. Da es sich bei Ihrem Projekt um ein zeitgenössisches, und das heißt durch viele Götterverehrungen und Götzenentthronungen hindurchgegangenes, sehr individualisiertes und avanciertes Denken handelt, müssen manches Ideal und mancher Gott daran glauben, an allererster Stelle das Bild des Menschen als Heros, als ein in das Nichts hineingehaltenes einsames Wesen - hineingehalten wohin eigentlich? Das ist eine zentrale Frage bei Ihnen, dieses Hinein, das Innen als »Falte des Außen«, um mit Deleuze und Foucault zu reden. Sie bestimmen in diesem Buch Intimität als »Abgründigkeit im Nächstliegenden« und entwickeln von Kapitel zu Kapitel immer neue Winkel der Annäherung an den intimen Raum. Sie hatten früher gelegentlich behauptet, die Existentialphilosophie habe ausgedient, aber ist nicht der Eindruck berechtigt, daß diese jetzt bei Ihnen expliziter denn je zurückkehrt, und zwar anthropologisch gewendet? Jede Geburt, sagen Sie, ist eine Chance zu einem Weltaufgang, ja, inzwischen rühmen Sie sogar mit einem gewissen erkenntnisträchtigen Pathos, wie ich meine, die »auserwählte Hohlheit« des Menschen und sprechen von seiner »Eignung, ein Kanal für Einblasungen zu sein«. Könnten Sie das noch etwas näher erläutern und darlegen, ob und wie diese Vorstellung von »Einblasurigen« sich unterscheidet von dem, was wir unter medialen Prozessen oder MediumSein verstehen? Wollen Sie auf eine Untersuchung medialer
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Fähigkeiten beim Menschen selbst hinaus und ist die Sphärologie in diesem Sinne eine philosophische Form von MedienTheorie? P.S. Mir scheint, ich habe jetzt zwei sehr verschiedene Dinge zu behandeln: Zum ersten, Batailles Bemerkung entspringt, wenn ich sie richtig verstehe, aus einem impulsverwandten Gedanken, nämlich dem des Vorrangs der Ganzverhältnisse oder der holistisch aufgefaßten Sachlagen vor den thematisch herausgehobenen Einzelheiten. Wenn er die Wissenschaften in ihrem Grundgestus als isolierende Tätigkeiten beschreibt, sagt er im Grunde genommen nichts anderes, als daß die Wissenschaften durch Modellabstraktion zu ihren Gegenständen kommen, Das ist heute die Standardmeinung unter Epistemologen, kein kritischer Einwurf. Ein wissenschaftlicher Gegenstand ist immer schon einer, der durch eine Ausgrenzung, man könnte auch sagen durch bewußte Herausreißung aus seinem natürlichen Ort und durch Verfremdung im Modell die Konturschärfe erreicht, die er braucht, um den Ansprüchen an wissenschaftliche Methodik zu genügen. Die Erfolge der neuzeitlichen Wissenschaften hängen bekanntlich mit der Mathematisierung zusammen, und diese setzt die Reduktion der Objekte auf die sogenannten Primärqualitäten voraus. Ohne Primat der Analyse ist Wissenschaft nicht zu haben. Der Habitus des Isolierens ist natürlich ein starker Faktor in der modernen Mentalitätsbildung. Wir bleiben dem Substanzfetischismus nach wie vor verfallen in dem Maß, wie wir glauben, daß zuerst die Dinge als einzelne kommen und dann ihre Beziehungen zueinander. Die bislang letzte und subtilste, überaus erfolgreiche Form des individualistischen Substantialismus tritt heute unter einem fast perfekten Incognito auf, in der Gestalt der Systemtheorie. In ihr werden Systeme als Quasi-Monaden angesetzt, die sich von ihren spezifischen Umwelten unterscheiden, wobei die Reihenfolge immer strikt beachtet wird: zuerst und vor allem die Binnenbeziehungen des Systems zu sich selbst, dann die Außenbeziehungen. Luh-
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mann macht aus diesem Motiv seines Theoriedesigns kein Geheimnis, da er offen erklärt, Systeme verhalten sich vorrangig zu sich selbst und nur marginal zum sogenannten Anderen. Er sagt an einer Stelle unverblümt, Selbstbezug schlägt Fremdbezug tausend zu eins. Im Gegensatz dazu machen Autoren wie Bataille und zahlreiche andere, darunter auch ich, im übrigen vor allem die Dialogphilosophen auf der Linie von Buber und Rosenzweig, die Annahme, daß wir von einem autonomen Zwischen auszugehen haben. In der Sprache der philosophischen Tradition gesprochen, wir rehabilitieren endlich die Relation auf Kosten der Substanz; wir rehabilitieren auch das Akzidentielle auf Kosten des Essentiellen, die Situation auf Kosten der Komponenten. Die klassische Metaphysik hatte immer das Wesentliche auf die erste Stelle gerückt und dann das zufällig Hinzukommende folgen lassen; sie hat die Substanz, die Essenz, glorifiziert und das Akzidens, das Attribut, eher kavaliersmäßig behandelt. Die Sprachspiele der Alltagsontologie verfahren bis heute nicht anders: zuerst das Zugrundeliegende, dann das Daraufgestellte; zuerst der Träger, dann die zufällig angehängte Eigenschaft; zuerst die Sache selbst, dann ihre Beziehungen zu anderem. Unsere Sprachen sind so gebaut, daß wir praktisch mit jedem Satz diesen Habitus bestätigen. Aber wer vom menschlichen Feld sprechen will, muß radikal anders anfangen. Das bringt uns zu dem zweiten von Ihnen befragten Punkt, der Medialität. Ich verstehe den Menschen als ein raumlösliches Wesen, als einen psychischen Feldeffekt doch muß ich mich hier schon korrigieren, weil die Rede von einem menschlichen Raum ihrerseits wieder substanzfetischistische Implikationen ins Spiel bringen könnte. Wenn ich Raum sage, dann meine ich nicht das, was Amerikaner reklamieren, wenn sie erklären, sie bräuchten, um sich wohl zu fühlen, ihren eigenen s-acc. Das ist derselbe individualistische Murks noch einmal, und all das muß logisch und psychologisch abgeräumt werden, wenn man richtig anfangen will: als
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wäre im Zentrum der Einzelne, und um ihn herum sein Privateigentum an space. In Wahrheit hat das humane Feld von sich aus die Struktur einer Ellipse oder einer mehrpoligen Sphäre, von welcher Menschen, als individuelle Dividuen, per se nicht die Zentren sein können. Was Pol ist, kann eben nicht den Mittelpunkt darstellen. Die Provokation beim Gebrauch des Bildes der Blase besteht darin, sich eine vage Kugel mit zwei und mehr Brennpunkten vorzustellen, so daß wir von Anfang an, durch das Denkbild selbst, die Zentristische Ideologie hinter uns lassen. Der Gewinn aus diesem Neuansatz ist beträchtlich: Wir haben kein primäres oder absolutes Zentrum mehr, das sich zu einer Umwelt verhält, sondern Pole, die sich gegenseitig anstrahlen, durchdringen, auf Abstand halten und evozieren. Die UmWelt ist hier durch die In-Welt oder Mit-Welt ersetzt. In der In-Welt sind Resonanzen bestimmend. Sie beruhen auf Akten des Sich-ins-Leben-Rufens und des Selber-zum-Leben-Erwachens durch das Angesprochensein, und genau das ist es, was ich mit der bizarren Formulierung, die Sie zitiert haben, zu charakterisieren versuche: auserwählte Hohlheit. Mit diesem Konzept will ich auf eine Medientheorie hinaus, in der die Einzelnen als Zwischenstationen in kommunikativen Netzen beschrieben werden. Klassische Beispiele für Seelen-Raumauffassungen dieses Typs finden wir in der religiösen Überlieferung und in der religionsphilosophischen Literatur. Ich mache mir, wie Sie wissen, die Mühe, in der Einleitang zum ersten Band der Sphären eine etwas heterodoxe Lektüre des biblischen Schöpfungsberichtes zu geben, indem ich zeige, wieso Adam als keramischer Hohlkörper geschaffen werden mußte und warum der Gott der Genesis mit solchem Nachdruck als Töpfer charakterisiert wird, mithin als ein Demiurg, der den ersten Menschen ausgerechnet in Lehm und keinem anderen Werkstoff modelliert. Der Grund dafür ist, daß die Menschen ihre erste Idee des Hohlseins, des Behälter-Seins, des Durchgang-Seins bei der kerami-
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schert Gefäßproduktion eingeübt haben. Alle Medientheorie, ja vielleicht die Technik überhaupt, ruht auf dem elementarsten und genialsten Gedanken der frühen Menschheit, auf der Idee der Gefäßherstellung. Sie hatte zur Folge, daß man auch den Menschen vom Prinzip Gefäß her zu denken begann. Menschen schaffen heißt also in erster Linie Gefäße machen. Der Gott der Bibel verhält sich in diesem Punkt nur keramisch korrekt.Was man später Metaphysik nennt, ist eigentlich Metakeramik. Gott will bekanntlich einen Menschen schaffen, der ihm gleicht, aber er gleicht ihm eben nur dadurch, daß auch er hohl ist - denn hohl sein heißt, etwas durchgehen lassen können. Hohlheit ist die erste Rate des Seelischen und des Göttlichen. Wäre der Mensch nur ein kompakter Körper, hätte er in der Gott-Unähnlichkeit verbleiben müssen, wie die übrige nicht-leitfähige Materie. Erst durch die Nicht-Massivität kann die Ähnlichkeit mit einem Durchlässigkeitswesen, sagen wir einem Geist, beginnen. Infolge der Tatsache, daß Adam hohl ist, daß er Gefäßeigenschaften hat, und nur ihretwegen, gewinnt der Lehmling, die androide Plastik, eine Chance, gottähnlich zu sein. Gottähnlichkeit besteht, wie gesagt, in nichts anderem als in dieser auserwählten Hohlheit. Wenn man etwas ins Hohle hineinbläst, entsteht eine Schwingung, aus dieser wiederum entstehen Sprache, Beseeltheit, Intentionalität, KoSubjektivität. Je tiefer man in diese Geschichte eindringt, desto deutlicher sieht man, daß Gott selbst gar nicht dagewesen sein kann vor seiner Verausgabung in den Hauch für Adam. Bei einer kritischen Lektüre des Schöpfungsberichtes ergibt sich der Befund, daß Gott nur zum Schein vor der Erschaffung des Menschen existiert, in Wirklichkeit aber gleichzeitig mit ihm entsteht, und zwar aus dem Akt der Inspiration, den er mit Adam austauscht. Sobald es in Adam klingt und widerhallt und in ihm die »lebendige Seele« erwacht, wird Gott seinerseits erst existent. Er kann kein Prius haben vor der Resonanz. Die Einhauchurig ist also kein Einwegprozeß, vielmehr entstehen
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Gott und Mensch gleichzeitig im Regelkreis der dyadischen Resonanz. Soviel, denke ich, gibt schon der biblische Mythos fast unerzwungen her. Damit haben wir das Konzept »primäres Paar« in einer respektablen mythologischen Version etabliert. Jetzt ist es nicht mehr allzu schwierig, die Zwischenschritte zu gehen, die uns zu modernen Auffassungen von menschlichen Tiefenbeziehungen bringen, Ich denke jetzt vor allem an das, was während der beiden letzten Generationen an psychoanalytischer und paläopsychologischer Forschung zutage gebracht worden ist, an diesen imposanten Komplex aus Erkenntnissen über die psychodynamischen Gewebe der frühen Mutter-Kind-Beziehung - ich erwähne hier nur die Strömungen der prä- und perinatalen Psychologie zwischen Gustav Hans Graber und Ludwig Janus, die sich in letzter Zeit zu einer konsolidierten Disziplin entwickelt hat, Was sich in den letzten fünfzig Jahren an Einsichten in den dyadischen Primärraum aufgetan hat, übersteigt die Vorstellungskraft der meisten Zeitgenossen bei weitem. Ich erinnere an die Arbeiten von Kafkalides, von Grunberger, von Grof, von Tomatis, von DeMause und anderen. Nichtsdestoweniger will in den szientistischen Kulturen kaum jemand mitwissen, was hier gewußt wird. Auch die sogenannte kritische Theorie verhält sich in diesen Fragen offen reaktionär. Man kommt, wenn man sichs recht überlegt, nicht umhin, festzustellen, daß die aktuellen Business-Gesellschaften insgesamt sich in einer Art von kognitivem Streik gegen das humanwissenschaftliche Wissen verbunden haben. Sie wollen nichts hören und sehen von dem, was von den Pionieren der Psychologie, der Ethnologie, Pränatalistik, der Neurolinguistik, der Psychoakustik zu Tage gebracht wurde. Wäre das alles rezipiert, wurde es Risse an den individualistischen Panzern der Mehrheiten hinterlassen. Sphären 1 ist in einer gewissen Weise der Versuch, diese unerträglich gewordene Spaltung der Wissenswelten zu relativieren und so etwas wie eine demokratische Esoterik zu kreieren.
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Den Ausdruck »kreieren« muß ich sofort zurücknehmen, denn im Grunde habe ich nur gesammelt, angeordnet und scharfgemacht, was man heute über den psychischen Raum allgemein wissen kann, auch und gerade wenn es oft ein wenig esoterisch und somnambulisch klingt - ich tat dies in dem Gefühl, ein Zwischenarchiv anzulegen für die Jahrzehnte des Vergessens, die wir im Augenblick durchqueren und deren Ende nicht abzusehen ist. Wenn man sich erinnert, was wir in den sechziger und siebziger Jahren schon einmal für zum Greifen nahe hielten und welche Öffnungen sich ankündigten, kommen einem die heutigen Verhältnisse unsäglich vor, als eine einzige Betäubung, Neuspießerturn im Sozialen, Neuscholastik im Theoretischen, Verblödung in den Medien, Ressentiment bei den Älteren, böse gewordener Ehrgeiz bei vielen Jüngeren, eine entgeisterte Zeitvon den wenigen, die das Feuer hüten, sitzen die meisten isoliert in ihren Tunneln. Das mindeste, was man sagen darf, ist wohl, daß die Zeit für große Zusammenfassungen nicht günstig ist. Eigentlich ist mein Buch eine antizyklische Investition in die Intelligenz von zeitgenössischen und späteren Lesern, die sich dafür interessieren werden, was vor ihnen gewußt wurde. H.-J. H. Die erwähnte dyadische Beziehung wird von Ihnen ontologisch verstanden und gelegentlich sogar mit kosmologisehen Bedeutungen aufgeladen. Sie wird bei Ihnen offenbar nicht nur individual-lebensgeschichtlich gedacht und therapeutisch rekonstruiert wie in der klassischen Psychoanalyse, sondern ist darüber hinaus ein Gegenstand ontologischer und anthropologischer Bestimmungen. Sie sagen an einer hervorgehobenen Stelle, daß während des größten Teils der menschlichen Evolution nahezu die Gesamtheit dessen, was einzelne Menschen dachten und fühlten, für ihre Umwelt in so hohem Maße durchsichtig war, als wären es ihre eigenen Erlebnisse. »Die Vorstellung von privaten Ideen hatte noch keinen Anhalt in der Erfahrung oder im sozialen Raumkonzept.« Sie schreiben weiter: »Noch waren für die einzelnen keine Zellen er-
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richtet, weder im Imaginären noch in den physischen Architekturen der Gesellschaft.« Um Ihr Verständnis vom Dyadisehen richtig wiederzugeben, ist es wichtig, es in dieser weiten historisch-anthropologischen Perspektive wahrzunehmen, und überdies in einer poetischen Dimension. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie Rilke zitieren, ich erinnere mich im Augenblick an seine wunderbare Zeile: »Durch alle Wesen reicht der eine Raum -Weltinnenraum«, - eine Vorstellung, die auch bei Bataille Bedeutung gewinnt. Dieser wirft die Frage auf, wie die »innere Erfahrung«, wie das Intime überhaupt darstellbar ist, und seine Antwort ist eindeutig: man kann Intimität nicht diskursiv artikulieren. Ist der begriffliche Ernst, zu dem Sie vorhin sich bekannten, womöglich nur verlorene Liebesmüh? Ist er vielleicht ein vergeblicher Tribut, den Sie der Wissenschaft zollen, für den man Ihnen aber nicht danken wird? Ist nicht letztlich Ihr Denken ähnlich wie es Bataille für sich behauptete - eines, das sich nur im Verschwinden findet, eines, das auf das Verdunsten des Diskursiven angelegt ist und nicht auf die begriffliche Affirmation, so daß es Ihnen gelegentlich selbst etwas schwindlig werden mußte bei Ihrem Vorhaben? Ich habe den Eindruck, daß Sie die Intimität, das Innenräumliche oder, wie Leo Frobenius sagte, den »Innensinn der Dinge«, mit begrifflichen Mitteln mehr festhalten möchten, als es der Sache nach möglich ist. Da drängt sich mir die Frage auf, ob die angemessene Orientierung vielleicht nicht besser in der Kunst zu suchen gewesen wäre. Mir kommt der japanische Performancemaler Katsua Shiraga in den Sinn: der sich meditierend in ein Seil hängt, dabei spontan Farbmassen am Boden aufhäuft, dann rhythmisch darüber schwingend mit den Füßen die Farbe verteilt, aus dem Bild schwingend, zurückschwingend neue Farbe dazugebend, bei neuen Schwüngen die Farben vermengt zu schillernden Kurven, um schließlich oft am Rande des psychischen Zusammenbruchs das Aktionsfeld zu verlassen. Shiraga spricht von einem »Ergreifen« der eigenen Beschaffenheit. Er
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postuliert, daß eine Gesellschaft geschaffen werden müsse, in der die Menschen sich gegenseitig voreinander kreativ offenbaren. P. S. Die Frage beschwört den Bekenntnisfall herauf. Nun gut, ich habe mich in der Tat bis an die Grenze zur autonom künstlerischen Schreibweise vorgewagt, mich aber meistens davor gehütet, sie zu überschreiten. Ich verbleibe, zumindest nach meiner Selbstlektüre, im Raum der erweiterten philosophischen Prosa und daher im Bezirk der Begriffe, auch wenn mehr als üblich Bildliches, Metaphorisches, Klanghaftes dazukommt. Ohnehin bin ich der Meinung, daß die evokative Rede ein legitimes Element der Philosophie ist. Kurzum, ich glaube, daß die Alternative, die Bataille beschreibt zwischen den positiven Diskursen und dem Diskurs im Verschwinden und im Rückzug keine vollständige ist. Es gibt zwischen der Sprache der Wissenschaft und den Sprachen der Poesie ein breites Zwischenreich, über dessen Ausdehnung und Bedeutung noch nicht abschließend geurteilt werden kann. Mein Buch ist in dem Zwischenreich angesiedelt, und ich behaupte, daß es in beiden Richtungen einen ständigen Austausch gibt. Dabei kann die Wissenschaft bei der Poesie viel lernen, sobald sie weiß, welche Fragen sie an die poetischen Sprachen zu richten hätte. Für mich bedeutet die sphärologische Analyse ein Verfahren, die Fragen zu formulieren, die durch poetische, mythische, religiöse Redeformen beantwortet sind, ohne daß kaum je ein Philosoph auf die Idee gekommen wäre, diese Quellen sinnvoll zu benutzen. In ihnen besitzen wir ein Schatzhaus des Ausdruckswissens über sphärische Realitäten, man muß nur lernen, es mit der begrifflichen Dimension zu konfigurieren. Die Literaturen haben unendlich viel mehr geglückt und gültig formuliert, als das akademische Wissen weiß - wie ja überhaupt die Philosophie des 20. Jahrhunderts fast überall verspätet ist gegenüber dem, was in den Künsten und den Techniken geschieht. Es geht jetzt darum, aufmerksamer als bisher aufzuholen, zu übersetzen, zu sammeln, zu verknüpfen. Einer der
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Grunde, warum mein Buch so umfangreich geraten ist, besteht darin, daß es mit einer gewissen Geduld und einer gewissen Detailliebe eine solche Sammlung ausschreibt. Ich gebe als philosophischer Prosaschriftsteller einigen intimistischen Motiven eine Breite, die sie sonst vielleicht noch nie gehabt haben. Aber ich lege Wert auf die Feststellung, daß ich nichts erfinde. Das gilt besonders für die inzwischen berüchtigten PlazentaKapitel von Sphiiren I, für die ich viel Spott und Wut auf mich gezogen habe, als hätte ich ein Organ, das es nicht gibt, in die Humanwissenschaften einführen wollen. Man hat getan, als sei die Plazenta das Ungeheuer von Loch Ness und ich der Scharlatan, der es gesichtet haben will. Die Wahrheit ist, daß ich ein biologisch gegebenes Organ mit kulturell gegebenen Diskursen und Praktiken, die es betreffen, neu in Zusammenhang gebracht habe, und jeder Leser ist frei, daraus seine persönlichen Folgerungen zu ziehen, Allerdings, wenn ich den sehr massiven Widerstand bestimmter Kritiker gerade in bezug auf diese beiden Kapitel in einer ruhigeren Stimmung auf mich wirken lasse, dann muß ich zugeben, daß ich mich nicht beklagen darf. Ich wußte, auf welches Gebiet ich mich begeben hatte. Ich war außerdem inkonsequent hinsichtlich meiner eigenen Bedenken gegen die Versuchung, den Organnamen hinzuschreiben, denn ich habe zwar die Grunde zu zögern ausführlich dargestellt, aber dann habe ich mich doch über sie hinweggesetzt und das Geheimnis ausgeplaudert. Diese Veräußerlichung rächt sich, denn eine noch so diskrete und schwebende Darstellung kommt gegen die Brutalität der physiologischen Bezeichnungen nicht auf. Es wäre vielleicht besser gewesen, bei dem Symbol des Lebensbaums haltzumachen. Aber ich komme auf Ihre Frage zurück: Solange ich kann, werde ich mich gegen die Zumutung wehren, zwischen Poesie und Philosophie zu wählen. Die Philosophie hat alle Grunde, den virtuellen rationalen Reichtum der poetischen Sprachen
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genauer anzusehen und das Wissen der poetischen Rede für die theoretische Modellbildung fruchtbar zu machen.
Logik der Symbiose H.-J. H. Es gibt wohl noch einen anderen Grund, warum Sie an der Option festhalten, für beide Seiten und in beide Richtungen zu sprechen. Das ist die Tatsache, daß Ihre philosophischen Untersuchungen doch mit Dringlichkeit auf Wahrheit zielen, wenn auch eine ausweichende Wahrheit, die sich eher durch Verbergung offenbart. Der Wahrheitsorientierung zuliebe wählen Sie eine vergleichsweise starke Wissensposition, wobei das Entscheidende wiederum zu sein scheint, daß dies eine paradoxe Stärke meint, denn die Position des erkennenden Subjekts wird bei Ihnen ja nicht überhöht und gefestigt, sondern »versenkt« und aufgeweicht, sie wird erweitert um Qualitäten, derer man sich im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte mühevoll entledigt hatte: das Intime und das Ekstatische. Ich möchte noch einmal die Frage wiederholen, ob die Abgründe und die Turbulenzen, die den Untergrund Ihres Nachdenkens über die Sphären bilden, überhaupt in eine verallgemeinerbare Erkenntnisform eingehen können. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Henri Michaux zu sprechen kommen. Zufällig habe ich Ihr Buch Spkären 1 gleichzeitig mit Michaux’ Band Erkenntnis dwcb Abgrinde gelesen, dem letzten seiner sogenannten Drogenbücher, und ich glaubte feststellen zu können, daß Ihre Sphärologie in dieser durch Drogenerfahrung, man könnte sogar sagen durch Drogenerkenntnis inspirierten Schrift eine vollkommen mühelose und nahezu selbstverständliche Parallele findet, denn Michaux denkt und praktiziert seine lyrischen Operationen gelegentlich in fast gleichlautenden Begriffsbildungen oder Begriffsauflösungen. Mich hat frappiert, wie er die Idee des Ununterbrochenen be-
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schwört, wie oft er von Sphärenmusik spricht, von Entrükkungszuständen, von dyadischen Vorstellungen, von der Gegenwart des Unendlichen, und wie all diese Konzepte sich in seiner Philosophie der Ekstase mit größter Selbstverständlichkeit darstellen. Ich wiederhole meine Frage: Wie ist dieser Raum, dieser sphärische Raum der inneren Erfahrung, in Sprache einholbar? Oder ist die Frage anachronistisch? Stellt sie sich vielleicht immer erst nachträglich, nach dem Verlust der Selbstverständlichkeit, mit der die innere Erfahrung, das Bewußtsein des In-Seins in anderen Zeiten hingenommen und ausgesprochen wurde? P. S. Meines Erachtens trifft diese Vermutung uneingeschränkt zu. Die meisten Menschen der älteren Antike und des Weltalters davor hätten für die Probleme, die wir hier erörtern, kein Verständnis aufgebracht - aus dem einsichtigen Grund, daß sie in einem durch und durch partizipativ ausgelegten oralen Universum lebten, in dem die Vorstellung einer isolierten, zur »Umwelt« Abstand haltenden oder transzendenten Seele völlig abwegig gewesen wäre. Die Beobachter-Seele ist erst mit der Schrift entstanden. Wer in der Lösung lebt, der versteht das Problem nicht. Nach einer älteren Auffassung ist der Mensch ein Wesen, das an allem, was ihm begegnet, teilhat. Man kann keinen Baum sehen, ohne selber baumförmig zu werden, keinem Jaguar begegnen, ohne das Jaguarförmige in sich zu spüren. Keiner kann eine Frau anschauen oder berühren, ohne ein Stück weit zu ihr hinüberzufließen. Das alles gilt immer auch in umgekehrter Richtung, darum gehen beim Prä-alphabetischen Menschen die fremden Präsensen ein und aus. Seele ist etwas, was ständig Besuch hat. In frühen Kulturen haben sich die Menschen als Wesen vorgestellt, die andauernd mit der Möglichkeit einer Invasion durch die Seelen der Anderen rechnen, wobei die menschlichen, die tierischen, die pflanzlichen, die göttlichen Anderen anfangs nur graduell verschieden waren. Sie kommen
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in dich hinein wie die Sprache: durch das Ohr. Wie das große Thema der Neuzeit Selbständigkeit heißt, so ist das große Thema aller vorneuzeitlichen oder oralen Epochen Besessenheit oder Besitzbarkeit - und vielleicht ist es das Merkmal der Postmoderne, daß das Denken in Besessenheitsbegriffen zurückkommt, weil jetzt das transzendente, von Gott versiegelte Ich dahin ist. Deswegen phantasiert die Massenkultur wieder so viel über psychische Invasoren und die Schwierigkeit, sie loszuwerden. Es liegt mir daran, zu zeigen, daß unter den erstarrten Masken der Selbständigkeitskultur die Plasmen der alten invasiven Erfahrungsformen, der frühen partizipativen, obsessiven, penetrativen Erlebnismuster nach wie vor oder wieder da sind. Davon weiß, wie immer, Hollywood mehr als die akademische Philosophie. Die klassische Formulierung für das Dasein in resonanter Teilhabe hat, was den christlichen Kulturkreis angeht, der Apostel Paulus in der berühmten Rede auf dem Areopag gegeben, wo er von dem Unbekannten Gott spricht, dem die Athener in weiser Voraussicht einen Altar errichtet hatten. Von dem behauptet Paulus listig, er antizipiere den Gott, den er verkünde. In diesem Zusammenhang fällt die epochale Charakterisierung jenes Gottes, »in dem wir leben, weben und sind« - wie Luther großartig übersetzt, in Worten, die das Existieren im Modus des teilhabenden Einfließens in eine sphärische Gesamtform unüberbietbar zum Ausdruck bringen. Man muß die Kläglichkeit der Übersetzung in der Neuen Jerusalemer Bibel danebenhalten, um Luthers Prägnanzwunder zu würdigen, denn da heißt es dürr und traurig: »Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir
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liegengelassen werden. Wer noch ein Minimum an guter kommunitarischer Erfahrung mitbekommen hat, wer jemals Mitglied einer dichten Gemeinde war, religiös oder nichtreligiös, wer je gespürt hat, wie sich in politischen, künstlerischen, theoretisierenden Gruppen, auch unter Arbeitskollegen und sportlichen Teams, so etwas wie intensive Gemeingeister ausbilden, wer also jemals ein deutliches Animations- und Solidaritätserlebnis gehabt hat, den braucht man zur sphärologischen Denkweise nicht umständlich zu bekehren. H.-J. H. Ich möchte Sie bitten, Ihre Vorstellung von Innenraum und Intimität noch etwas weiter zu präzisieren, so wie Sie es in Ihrem Buch Blasen exzessiv tun. Ihre ))Archäologie des Intimem< setzt bemerkenswerterweise nicht auf die psychotische Zersplitterung, die Lacan vor allem interessiert hat, sondern auf die Rundheit des Daseins, wie Sie mit Gaston Bachelard betonen. Es geht Ihnen um die Erkundung geglückter gemeinsamer innenraumhafter Bereiche, um Überlappungen und verschränkte Raumschöpfungen für »Wesen, an denen das Außen arbeitet«. Sie sagen, alle Geschichte sei »eine Geschichte von Beseelungsverhältnissen«. Im gegebenen Zusammenhang ist es wohl wichtig, zu betonen, daß in Ihrer Sicht die These, alles sei außen, und das Verlangen, alles nach innen zu ziehen, nur zwei verschiedene Formen desselben autistischen Deliriums sind, Beide Postulate streben, wie Sie sagen, illusorisch hinweg von der ekstatischen Verflechtung der Subjekte in den gemeinsamen Innenraum, »in dem die real Zusammenlebenden aneinander zehren<<. P. S. Mit Hilfe des sphärischen Grundmodells läßt sich die Verflechtung oder Verschränkung der Pole in einem Paar-Dual leicht plausibel machen, denn ich generalisiere lediglich das bekannte Phänomen der psychischen Symbiose von seinen biologischen und anthropologischen Prämissen her. Ich ziehe die äußersten Folgerungen aus der normalen und doch exzessiv anmutenden existentiellen Verschränkung von mehreren Leben ineinander, wie sie bei Mutter und Fötus oder in der
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Relation zwischen Hypnotiseur und Somnambule oder in der Paarverliebtheit auftritt. Wenn ich Paar sage, soll man besser nicht an zwei Leute denken, die sich zu einem genitalen Team zusammengetan haben, sondern wenn möglich an ein romantisches Paar, bei dem jeder von beiden weiß, wie es ist, wenn man die eigenen Eingeweide mit denen des anderen verwechselt hat. Geht man vom Symbiose-Paradigma aus, dann versteht man sehr wohl, was es mit den Formulierungen auf sich hat, von denen Sie eben Beispiele zitiert haben. Man begreift, warum Intimität zunächst ohne jede Vermittlung durch Drogenerfahrung auftritt, es sei denn, man betrachtet die MutterKind-Intimität oder die Paar-Symbiose als einen naturwüchsigen endokrinologisch gesteuerten Drogeneffekt. Daß der von Ihnen zitierte Michaux in seinen späteren Jahren zum Drogenexperimentator wurde, steht auf dem einen Blatt seines Lebensbuchs, doch auf einer früheren Seite steht, daß er ein großer Liebender, ein unverbesserlicher Symbiotiker gewesen ist. Er hatte in seinen jüngeren und mittleren Jahren eine unersetzliche Lebensgefährtin, er war mit ihr verschmolzen, wie die platonischen Urmenschenhälften es je nur sein konnten, und er wurde durch ihren frühen Tod zu einem von jenen tragischen Überlebenden, denen die Aufgabe zufällt, die zur Unzeit verstorbene andere Hälfte zu überdauern. Er verlor seine Lebensgefährtin Ende der vierziger Jahre, wenn ich mich recht erinnere, und mußte danach seine Existenz neu definieren. Er machte also erst in der Mitte des Lebens die Verlusterfahrung, die für zahllose Menschen schon ganz am Anfang ihres Daseins steht - die traumatische Entdeckung, daß der intime Andere unerreichbar geworden ist, daß man sich folglich in sich selbst einrichten und Härte entwickeln muß. Im allgemeinen gilt ja die Weisheit, daß zu einem selbständigen Individuum nur jemand werden kann, der ein für allemal weil3 oder zu wissen glaubt: »Ich bleibe letztlich alleine übrig.« Dagegen war es für den frühen Michaux selbstverständlich, daß Menschen zu zweit einen gemeinsamen Innen- und Re-
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sonanzraum haben - was zugleich die Voraussetzung für die Ausbildung von intensiven Eigenräumen ist. Kurzum, Michaux’ psychonautisches Talent kommt, glaube ich, daher, daß er seiner Grundstruktur nach ein Symbiotiker großen Stils gewesen ist, ein Mensch, für den das Hinüberfließen ins andere zur ersten und zweiten Natur gehörte. Wenn er danach als unfreiwilliger Solitär mit Hilfe der Drogen so etwas wie ein Kosmonaut im seelischen Weltraum wurde, dann illustriert das nur eine spätere Phase desselben Talents in derselben psychischen Matrix. Ich denke, für die Philosophie hat der Fall Michaux etwas Exemplarisches. Denn Philosophen sind ex officio immer im LMichauxschen Feld unterwegs, zwischen Symbiose und Distanz, schon Platon konnte Mathematik und Erotik nicht voneinander trennen. Ich suggeriere im Vorwort zu Sphären 1, daß jede Liebesgeschichte im Grunde ein geometrisches Exerzitium ist, nämlich der Versuch, ins Runde zu kommen und die erste Kugel zu rekonstruieren. H.-J . H. Ich würde Sie bitten, zwei, drei weitere Formulierungen aus Ihrem Buch zu erläutern. Es ist von einer »Drift« die Rede, die den Denkenden auf den »lymphischen Flüssen der präsubjektiv primitiven Selbsterfahrung vorwärts« ziehe. Wenn man Ihr Buch liest, dann sieht man, daß das keine Anthropologie der primitiven Mentalität im Sinne von Levi-Bruhls Formel ergibt, und doch klingt das unweigerlich mit an. Es ist von einem »auratischen Universum« die Rede, das sich entfalte »ganz aus Resonanzen und Schwebstoffen gesponnen«; in diesem bleibe »die Urgeschichte des Seelischen« zu suchen. Es gehe darum, sich an die Nähe zu erinnern, in der sich konturierte Subjekte entgrenzen und neufassen können, also um Allianzen zwischen -Schwebewesen statt harter Abgrenzung zwischen Einzelnen. Und in diesem Zusammenhang fällt Ihre Feier des Idioten als eines »Engels ohne Botschaft« auf, sowie Ihre Theorie des offenen Fließraums, des ich-erfüllten Klangraums. Sie gehen an einer Stelle sogar so weit zu sagen, »die
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Welt klingt nach mir, wenn ich mich zeige, wie ich mir versprochen bin«. Spürten Sie nicht manchmal eine Scheu, so zu sprechen und sich zu konfrontieren mit dem Unverständnis, auf das Sie stoßen werden? Wie konnten Sie mit der Schwierigkeit umgehen, auf dieses Weiche, Zarte, Schwebende, Offene, Fließende so insistent hinzuweisen angesichts einer Gesellschaft, in der Verhärtung, Unoffenheit, Häme, Gewalt den modzu vivendi bestimmen? P. S. Mir ist, als hörte ich hier zwei verschiedene Fragen, die man nicht mit einer gemeinsamen Antwort abdecken kann. Zunächst möchte ich betonen, daß Intimität, so wie ich sie erläutere, kein zusammenhangloses Phantasma oder ein Luftgespinst ist, sondern eine szenische Realität, die sich auf angebbare Grund-Szenen abbilden läßt. Hier liegt die methodische Gemeinsamkeit meiner Arbeit mit dem psychoanalytischen Verfahren zutage, denn hier wie dort bekommen alle Beschreibungen und Deutungen nur Hand und Fuß, wenn sie sich auf konkrete, erinnerbare, konturscharfe Szenen beziehen lassen - man mag diese Urszenen nennen oder nicht. Wir brauchen also ständig szenische Evidenz, gerade für das Subtilste. Ich gebe ein Beispiel: Es gibt in Sphären Iein Kapitel über Interfazialität - darunter verstehe ich die Gesamtheit dessen, was zwischen den Gesichtern von Menschen geschieht, all das, was Gesichter mit anderen Gesichtern zu tun haben. Dieses Vis-a-vis oder Face-a-Face - das ist für mich eine szenische Realität von großer Tragweite. Ich leite aus diesem Interesse das Recht ab, die interfaziale Realität als eine Zone eigensinniger Verhältnisse gründlicher zu untersuchen, als dies meines Wissens zuvor irgendwo geschehen ist. Ich zeige, daß Menschen mit ihren Gesichtern, diesen einander anblickenden Flächen, immer aneinander arbeiten - ja daß sie das Gesicht der anderen erst in die Sichtbarkeit, Bedeutsamkeit, Lesbarkeit herausziehen, ein Vorgang, den ich die Protraktion nenne, also den Prozeß, der zum Portrait hinführt. Zwischen Gesichtern
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ist mithin eine sehr feine, sehr aufgeladene resonante Zone besonderer Art gegeben, die vielleicht mit besserem Recht als die Genitalien es verdienen würde, Intimzone zu heißen. Danach beschreibe ich, im dritten Kapitel, das der Proto-Psychoanalyse des Renaissancezeitalters gewidmet ist, jene Affekttransaktionen zwischen Menschen, die von den Philosophen der Renaissance unter dem Begriff der Magie oder Faszination diskutiert wurden: Wie kommt es, fragen die Denker der frühen Neuzeit zwischen Ficino und Shakespeare, wie kommt es, daß Menschen andere mit ihren eigenen Affekten anstecken können? Wie müssen Menschen beschrieben werden, wenn man sie unter dem Aspekt ihrer Beeinflußbarkeit und Infizierbarkeit durch die Gemütsregungen der anderen verstehen will? Wie lassen sich die faszinatorischen und erotomagischen Wirkungen zwischen ihnen und den übrigen Wesenheiten systematisch ordnen und manipulieren? Man kann von Ian Coulianu hierüber eine Menge lernen, diesem großen Religionshistoriker, der vor einigen Jahren unter mysteriösen Umständen in den USA ermordet worden ist. Er hat in der besten Studie, die je über Erotik und Magie in der Renaissancephilosophie geschrieben wurde, an die vor-cartesische Resonanz-Ontologie erinnert. Das alles sind Überlegungen, die offenkundig im Vorfeld der Tiefenpsychologien und Massenpsychologien angesiedelt sind. Diese konnten ja seit dem späten 18. Jahrhundert nur in Gang kommen, weil sich die Erwartungen der Renaissance-Magier an eine Technologie der Affekte in einem jahrhunderteübergreifenden Experiment bestätigt und erfüllt haben - denn wie die magnetapathische, die hypnotische und zuletzt auch die psychoanalytische und die gruppendynamische Praxis zeigen, gibt es tatsächlich so etwas wie Verfahren der Affektentfesselung, die kunstmäßig eingesetzt werden können. Was man im 18. und 19. Jahrhundert den Rapport, im 20. Jahrhundert die Übertragung nannte, gehört zu einem szenischen Arrangement, in dem der Seelensturm einer früh blockierten oder
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verirrten Leidenschaft wieder zum Aufbrechen gebracht wird. Das ist das Geheimnis der psychoanalytischen Grundsituation, von der ich zeigen wollte, daß sie in ihren Prämissen bis ins ~j. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Die szenischen Kerne, die diesen Experimenten im zwischenmenschlichen Nähe-Feld die Grundlage bieten, gehen nach meiner Darstellung auf die Urszene der Urszenen zurück, die fötale Einwohnung in der Mutter. Unumgänglich war nach diesen Prämissen ein Kapitel, das vierte von acht insgesamt, das ich unter die etwas irritierende Überschrift »negative Gynäkologie« gestellt habe, worin ich erkläre, daß und warum Menschen immer eine bestimmte Stellung gegenüber dem mütterlichen Raum einnehmen. Alles, was ich dort zu Papier gebracht habe, geht von der Einsicht aus, daß die Mutter zunächst nicht als Person zu denken ist, sondern als ein Ort, eine Gefäßform, eine räumliche Immunstruktur - und als ein Klangraum, eine Stimme. Seit jeher stehen Menschen vor der Aufgabe, ihre Position in oder gegenüber diesem Gefäß zu deuten. Ich behaupte, daß bis zur antiken Dämmerung der großen Weltbilder in Asien und in Europa die Menschen sich bemüht haben, zu beweisen, daß sie selbst als Geborene immer noch in der Mutter sind, wenn auch nicht in der biologischen Mutter, sondern in der metaphorischen, in der Mutterphysis oder im Schoß des Alls. Daraus folgt die Annahme, daß menschliche Geburten zunächst nur aus einem engeren in ein weiteres Innen führen. Hier ist alles Höhle. Für das archaische Denken bedeutet In-der-Welt-Sein wie selbstverständlich ein erweitertes In-der-Mutter-Sein - erst das metaphysische Weltalter wird daraus ein In-Gott-Sein machen und das nach-metaphysische ein In-die-Welt-GeworfenSein. Da entsteht zum ersten Mal ein reales Außen. Nur vor diesem Hintergrund läßt sich verstehen, warum für die Modernen die Geburt unweigerlich eine Katastrophe darstellt. Emile Cioran hat das in seinem Buch De I’inconvt$zient d’&-e ne luzide herausgearbeitet - er sagt: das Schlimmste für uns liegt
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immer in der Vergangenheit, denn wir fürchten uns nicht so sehr vor dem Tod, wir fliehen vor der Katastrophe der Geburt. I/om Nachteil, geboren x~ sein - das könnte als Überschrift über die gesamte moderne Philosophie gesetzt werden. Für die archaischen Kulturen wäre eine solche Formulierung wenig sinnvoll. Erst Hiob hat das Niveau erreicht, auf dem ein Mensch den Tag seiner Geburt verfluchen konnte - indessen die Weltbilddichtungen der vor-antiken Völker daran arbeiten, die Geburt zu relativieren und den Schock des Hinausfallens in die Nichtmutter ontologisch abzumildern. Das konnte bis zur völligen Ableugnung des Geborenseins gehen - zumindest bis zur Leugnung der These, wir seien draußen. Und warum sind wir es angeblich nicht? Weil alles Mutter ist, weil die eigene Mutter als die große allgemeine Mutter ewig wiederkehrt, weil die ganze Welt in Fruchtwasser schwimmt - denken Sie an die ägyptischen und mesopotamischen Vorstellungen von einem ))Weltumgebungswasser«, das alles Seiende wie in einer amniotischen Blase enthält. An Bildern wie diesen zeigt sich, in welcher Form die frühen Kulturen für eine Art von matriarchalisch gefärbter All-Immanenz optiert haben. Ich merke hier nur nebenbei an, daß die Moderne ein komplementäres Delirium entwickelt hat, die Innenraum-Leugnung, Man könnte daraus ein Kriterium machen: Modern ist, wer abstreitet, jemals innen gewesen zu sein. Damit komme ich zu dem anderen Moment, nach dem Sie fragen, dem Risiko einer so fragilen und peinlichen Rede. Ich teile es mit jedem Leser. Wer sich durch Sphdren I hindurchliest, durchläuft einen topologischen Kurs, in dem Urszenen des geteilten Lebens durchgearbeitet werden. Daß dabei manches extremistisch erscheint und oft an Grenzen des Darstellbaren und des Annehmbaren rührt, liegt in der Natur der Sache. Die gynäkologischen, plazentologischen, psychoakustischen Kapitel sind für die Leser eine Zumutung. Ich begleite sie, wenn sie wollen, bis an den Punkt, an dem sich die wichtigste sphärologische Einsicht mitteilt, nämlich daß alle Menschen Zwillinge
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sind, ohne es zu wissen. Im Anschluß an Thomas Machos Theorie der Nobjekte, das heißt psychischen Prä-Objekte und innerer Un-Gegenstände, trage ich Evidenzen zusammen für die These, daß Menschen allesamt infolge ihrer intra-uterinen Kohabitation mit der Plazenta Wesen darstellen, die bleibend auf anonyme Begleitung hin angelegt sind. Der hierfür einschlägige Hauptmythos der Europäer, der Zentralmythos der Oper, die Geschichte von Orpheus und Eurydike, ist in Wahrheit ein Mythos des plazentalen Doubles und keine Geschichte des erotischen Paares. Eurydike ist von vorneherein in der Unterwelt, nur scheinbar verlieren wir sie mitten aus dem Leben, Darum muß die Gefährtin als immer schon verlorene besungen werden, sämtliche Versuche, sie wieder herbeizusingen, stehen im Zeichen des Unmöglichen. Alle Menschen sind Zwillinge, aber von okkulter Art, denn die meisten haben den Zwilling verworfen und erinnern sich nicht, je einen gehabt zu haben. Durch die Verwerfung der Erinnerung an das Proto-Dual entsteht eine allgemeine Disposition zu schlechten Ersatzbildungen. Man verlernt das Finden, wenn das Suchbild zerstört ist. Die tiefere Taktlosigkeit fangt mit der verworfenen Dualerinnerung an. Die Menschen, die gegen maligne Beziehungen am meisten immun sind, das sind nach meinen Beobachtungen diejenigen, die mit ihrem okkulten Zwilling in einer diskreten Beziehung leben - sie haben den berühmten Schutzengel, zeitgemäßer gesprochen, sie passen gut auf sich selber auf. In den USAverabschieden sich Freunde mit den Worten Lake care ofJIoasel& was eigentlich ein diskreter Engelsgruß ist.
Zwischen Heidegger und Lacan H.-J. H. Sie haben mit Ihren Erläuterungen jetzt schon übergeleitet zum Schlußteil meiner Überlegungen und Nachfragen, den ersten Band Ihres Sphären-Werks betreffend. Es soll in
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unserem nächsten Zyklus von Fragen und Antworten um die Nutzbarmachung der Psychoanalyse für Ihre Sphärologie gehen und um Ihre Abgrenzung gegen sie. Das Konzept der Nobjekte haben Sie bereits erwähnt, das die intimen Ergänzer des archaischen Subjekts zusammenfaßt - ein Ausdruck, der in die Nähe einer verwandten Konzeption gehört, ich meine die Ding-Konzeption (Chase) von Jacques Lacan. Sie versuchen, mit Hilfe erweiterter psychoanalytischer Bestimmungen - Nobjekte, plazentales Double, psychoakustisches Bonding,vokale Nabelschnur - und gestutzt auf Gaston Bachelards Phänomenologie des erlebten Raumes Freuds Szientismus zu überwinden, wobei zu sagen bleibt, daß dieser Szientismus wohl auch bei Freud selbst sehr viel durchlässiger ist, als man das nach Ihrer zugespitzten Kritik vermuten möchte. Was mir besonders auffällt, das ist neben der Abweisung Freuds, vor allem seiner Trieblehre, eine pointierte Distanzierung von Latan, während Sie eine andere Position stark machen, diejenige Martin Heideggers. Lassen Sie mich zu Lacan zwei Dinge anmerken. Sie greifen seine Idee vom Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion an als einen »Urpsychosedogmatismus, der seinen Motiven nach nicht psychoanalytischen, sondern kryptokatholischen, surrealistischen und paraphilosophischen Interessen verpflichtet« sei. Nichtsdestoweniger gilt für Lacan, daß bei ihm ein gleitendes, ein schwebendes Sprechen laut wird, das dem Ihren sehr verwandt ist und das sich auch der Heideggerschen Euphorie des »Es-spricht«, des »Die-Sprache-spricht-uns-ihr-Wesen-zu« verpflichtet weiß. Das Entscheidende aber scheint mir zu sein, daß Lacan zu seiner Zeit ein nahezu unübersteigbares Hindernis überwinden mußte, um zu dem neuen Ort der Rede durchzudringen, nämlich das, was er die Geisteskrankheit des westlichen Menschen genannt hat, die Fiktion der Identität, den Glauben an ein von Grund auf mit sich versöhntes, solides und identisches Ich. In diesem Identitätsfetischismus haben sich der europäische Ethnozentrismus, die bürgerliche Anpas-
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sungsideologie und die neurotische Abschottung gegen den anderen widergespiegelt. Dagegen konstruierte Lacan das Ich als ein Ich-der-Andere. Diese subversiv neue Konzeption hat sich ihren bekanntesten Ausdruck verschafft in der Umkehrung der Freudschen Regel »Wo Es war, soll Ich werdentc zu »Wo Ich war, soll Es werden<<. Ein solches Wagnis verlangte nach der Entmystifizierung des kohärenten, transparenten, integren Ich, weswegen für Lacan gewisse psychologische und ästhetische Durchbrüche jener Zeit, zumal die künstlerischen Erkundungen eines Salvadore Dati oder eines Hans Bellmer, gerade recht kamen, denn da tauchten Darstellungen gespaltener und zerstückelter Körper auf. Auch was bei Ihnen die dyadische Struktur heißt, ist in Lacans Formel vom Begehren als dem »Begehren des anderem< auf bestimmte Weise schon da, einer Formel, die Raum schafft für ein Denken in Dyaden, Symbiosen, Resonanzen, Durchdringungen, Sphären. Für mich sind daher die Abstände zwischen Freud und Lacan einerseits, Bachelard und Macho andererseits gar nicht so dramatisch. P.S. Das ist wohl richtig gesehen, Meine sachliche Nähe zu dem, was Lacan sagt, ist ganz eng, noch größer ist die Verwandtschaft in den Prozeduren. In meinen Augen und für meine Ohren hat Lacan immer viel mehr recht in dem, was er tut, als in dem, was er sagt. Er scheint ständig daran erinnern zu wollen, daß die Wahrheit in der Performance, nicht in den Aussagesätzen erscheint. Daher kommt niemand mit ihm zurecht, der in einer buchhalterischen Einstellung herauskriegen will, was genau gesagt wurde. Lacan entzieht sich meistens der Erwartung, man könne ihn zum Komplizen dessen machen, was man von ihm weiß und wodurch man sich im Kopf gut fühlt. Man konnte ihn nie fassen, um ihn ins eigene Meinungssystem einzubauen - erst posthum kam es zu dem ziemlich abstoßenden Effekt, daß sogenannte Schüler in seinem Namen Posten besetzen, Kolumnen füllen und immer ganz genau wissen wollten, wie was gemeint war.
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Das Problem mit Lacan fängt für mich dort an, wo er dem Freudianismus, dem Medizinerfuror, der Weißkittelideologie des 17. Jahrhunderts Tribut zollt und sich dem klinischen Dogma unterwirft, Einsicht ins Seelische sei von der Pathologie her zu entwickeln. H.-J. H. Er war immerhin Psychiater. P.S. Leider war er das. Man sollte als Psychotherapeut aber nicht Arzt sein, sondern Unternehmer. Vielleicht auch Reklame-Experte oder Dramaturg, auf jeden Fall müßte man einen Beruf ausüben, in dem es darauf ankommt, wie man mit Menschen redet, im Appellativ, durch Evokationen, durch Resonanz, durch Aufhau von Erwartung, durch emanzipierende Abstinenz in Verbindung mit einem Projekt. Die Medikalisierung der Psychologie ist eine Verirrung, eine Kulturkatastrophe. Im siebten Kapitel von Sphären 1versuche ich, die psychoakustische Konstitution des Subjekts vor dem Subjekt herauszuarbeiten, indem ich andeute, wie bei der allerersten Kommunion oder Intimberührung, lange vor allem Zeichenaustausch, eine nach innen gerichtete Begrüßung geschieht. Es gibt da so etwas wie eine evangelische Frequenz der Begrüßung. Der älteste seelische Raum ist eine tönende Kammer, in der Begrüßungsspiele und klangliche Prophezeiungen geschehen, prä- und postnatal. Durch ihn ziehen sich akustische Nabelschnüre, die Stimmen und Gehöre aufeinander abstimmen. Vielleicht sind viele Menschen deswegen so heimatlich soundabhängig, und manchmal auch so musiksüchtig, weil sie auf die Frequenz ihrer Begrüßung geeicht sind. Sie können sich nicht leicht aus ihrer Erstmusik lösen, weil sie an ihre akustischen Proto-Evangelien, die frühesten akustischen Prophezeiungen ihres Lebens, gebunden bleiben. Das übrigens hat Lacan als Sprachzauberer, Evokateur, Improvisator, Stammler und Clown glänzend getroffen. Mir wäre nur lieber, er hätte nicht mit einer so optisch fixierten Theorie wie der des Spiegelstadiums begonnen, sondern mit einer musikologischen Theorie, in der das Dual als Duett interpretiert worden wäre.
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Lacan hat ja die Tatsache entdeckt, daß die Patienten wie Musiker sind, die ihre Stücke nicht richtig können. Die Neurose ist ein chronisches Falschspielen. Wenn wir von einem Unbewußten reden, sagen wir ja im wesentlichen nur, daß ein Sprecher vieles von dem, was in seiner Sprache spricht, nicht selber sagt - oder umgekehrt, daß er versucht, das, was sich in ihm verraten möchte, nicht zu sagen. Die Fehler, die er macht, sind nicht so sehr seine eigenen, sondern durch den wesentlichen Anderen in ihn hineinkopiert worden. Deswegen wird der Sprechende von seiner Sprache verraten. Diesen Verrat kann das Ohr des Psychoanalytikers aufgrund einer professionalisierten Intuition hören. Das analytische Arrangement dient dazu, das Verratene an den Selbstverräter zurückzugeben, Es wäre zu wünschen, daß die Psychoanalyse es lernen könnte, von ihrem Imagofetischismus und ihrem Objektbeziehungswahn ein wenig abzurücken, auch von der Romantik der Psychose, die auf dem Höhepunkt der Lacansekte in Paris böse Blüten getrieben hat. Nun, es macht die Stärke der psychoanalytischen Bewegung aus, daß man mit den Fehlern der Meister schöpferisch weiterarbeiten kann. Die psychologischen Lernprozesse, die das moderne Wissen vom Menschen voranbringen, gehen über die Biographien großer einzelner Beiträger hinaus, sie haben die Verfassung einer echten lernenden Institution gewonnen, die über die Lebenszeit einer Forschergeneration hinausreicht und Langzeitgeduld ermöglicht - weswegen die Sache des Seelischen und des Wissens von ihm noch lange nicht zu Ende ist und Überraschungen wahrscheinlich bleiben. Es geht in diesem Feld vor allem durch geniale Irrtümer voran. Meine Arbeit gehört in die Korrekturphase des Vorstoßes, der sich bei Lacan und anderen vollzogen hatte. H.-J. H. Die Freudsche Triebtheorie ist in der Tat, nicht nur von Ihnen, als eine Form der Abwehr von Nähe gelesen worden. Dagegen machen Sie anstelle des Triebbegriffs den Gestaltbegriff stark, das morphologische Denken, den Sinn für Wandlung und Metamorphose, für permanente Geburt.
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Meine Frage lautet nun, wie können Sie im Rahmen dieser Überlegungen so stark an Heidegger festhalten? Ich habe Ihre Arbeiten insgesamt noch einmal auf Heideggerbezüge hin durchgesehen, und mir ist aufgefallen, daß nahezu in allen Büchern dieser Denker eine Rolle spielt. An ihm arbeiten Sie sich ab, vor allem wenn Sie Heideggers In-der-Welt-Sein umdenken und erweitern zu einem Zur-Welt-Kommen. In Ihrem Buch Ewotaoimm von 1989 schreiben Sie: »Sobald eine psychologisch und anthropologisch geerdete Philosophie in eine Meditation selbstgeburtlicher Strukturen eintritt, gelangt sie zu einer inhaltsreicheren Rettung der metaphysischen Diskurse über das Sein und das Nichts, als Heideggers Andenken des Seins es zu leisten vermochte.« In Ihrem jetzigen Buch wird die Heideggersche Frage »was bedeutet In-Sein überhaupt?« neu aufgegriffen, ja es scheint, sie dient Ihnen als Keimform Ihres eigenen Entwurfs. Sie entwickeln die Idee, daß bei Heidegger nicht nur eine Abhandlung über Sein und Zeit, sondern auch über Sein und Raum vorliege, wenn auch erst in larvenhafter Form. Das in Sein undZeit »subthematisch eingeklemmte Projekt Sein und Raum«, so sagen Sie, gelte es zu befreien, um die Vorstellung einer von Grund auf ergänzten Existenz des Menschen zur Entfaltung zu bringen. Ist,aber Heideggers Ontologie wirklich kompatibel mit Ihrem Vorhaben? Der wunderbare Cioran, den Sie eben erwähnten, hat einmal in einem Gespräch mit mir vor zwanzig Jahren gesagt: Heidegger denkt nicht wirklich, er denkt über das Denken, er ist in gewissem Sinn ein Hochstapler. P.S. Ich kannte diese erstaunliche Äußerung nicht, aber sie überrascht mich nicht, denn Heidegger und Cioran bilden in meinen Augen so etwas wie Antipoden im Feld der ontologisehen Grundreaktionen - da sind Antipathien vorprogrammiert.Wenn der eine erklärt, der Sinn von Denken sei Danken, und zwar für die Gabe des Seins, so hält der andere dagegen, der Sinn von Denken sei Zurückzahlen, und zwar für die Zu-
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muturig des Seins - ich habe das kürzlich in einem kleinen Aufsatz skizziert.1 Was beiden gemeinsam ist, das ist ihr Mißtrauen gegen alles, was nicht die naturbelassene Seinswelt ist, gegen die Willenswelt, die Technikwelt, die Welt als Projekt und Experiment. Beide empfinden ein enormes Ressentiment gegenüber der Kultur der Menschen, die wollen können, das bezeichnet eine ihnen gemeinsame Grenze. Beide entwickeln darum also die masochistische Grundreaktion gegenüber dem Erhabenen in der geschehenden Geschichte, wobei Cioran das Genießen eher im Widerstand und der Herabsetzung findet, Heidegger eher im Mitgehen mit dem Schicksal. So viel oder so wenig zu dieser seltsamen Konstellation. Damit ist aber nicht erklärt, warum Heidegger wichtig bleibt. Die Antwort haben Sie selbst vorhin angedeutet, als Sie darauf hinwiesen, daß mir im Verhältnis zu ihm nur eines zu tun blieb: ich brauchte bloß seine Grundformel vom Dasein als In-derWelt-Sein zu dynamisieren, und damit war die Alternativformel Zur-Welt-Kommen erreicht. Zudem habe ich auf diese Weise eine Wendung gefunden, die mehr die Anfänge als die Enden betont. Dadurch wird es möglich, das biologische Phänomen Geburt ontologisch zu befragen. Man kann klarmachen, warum der Mensch das Wesen ist, bei dem Geborenwerden nicht ausreicht, um zur Welt zu kommen. Denn Menschen müssen nicht nur aus einer Mutter ins Freie gesetzt werden, sie stehen zudem vor der Herausforderung, ins »Haus des Seins« einzuziehen. Zur-Welt-Kommen ist die philosophische Formel für ein biologisches Ereignis von ontologischem Charakter. Die Geburt ist dafür eine zwar notwendige, aber nicht zureichende Bedingung. Der Weltaufgang im Weltankömmling Mensch das ist es, was ich unter Heideggers Anregung etwas beharrlicher in den Blick nehme, als dies in der bisherigen philosophischen und anthropologischen Tradition möglich war. I »Der selbstlose Revanchisw, in: Textbuch zu dem H6rbuch »Cafard«, Originalaufnahmen von E. M. Cioran Ig74-19yo,Verlag suppose, Köln 1998; auch in: l? SI., Nicht gerettet.Versuche nach Heideger. Frankfurt a. M. 2001
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Heidegger ist für mich so anregend geworden, weil er derjenige ist, der das Problem der ekstatischen Immanenz eines existierenden Wesens in der Welt auf beispiellos ernsthafte Weise durchdacht hat. Seine Formel vom In-der-Welt-Sein enthält dieses sehr rätselhafte »in«, diese scheinbar evidenteste aller räumlichen Präpositionen, die zugleich die dunkelste ist. Wir sind »in der Welt«: Was heißt das eigentlich? Wo sind wir, wenn wir in der Welt sind? Was hat es mit diesem In- oder Inne-Sein auf sich? In-Sein wird üblicherweise abgeleitet von der Erfahrung gewöhnlicher Behälterbeziehungen. Wir sind in einem Zimmer, dieses Zimmer ist in einer Stadt, die Stadt ist in einem Land, das Land ist auf der Erde, die Erde ist im Weltraum. Das ergibt Babuschka-Physik, orientiert am Enthaltensein von Etwas in Etwas, vom kleinsten »In«halt bis zum Behälter aller Behälter, dem All. Heidegger hat mit dieser Gewohnheit, das In-Sein alltagsphysikalisch auszulegen, gebrochen und gezeigt, daß das menschliche In-etwas-Sein gar keine Behälteranalogien zuläßt, sondern im Gegenteil ein Hinausstehen, eine ekstatische Positionalität oder ein Hinausgehaltensein bedeutet. Wenn ich über Heideggers Exposition des Raumproblems einen Schritt hinaus tue, so diesen, daß ich den Ort des Menschen als Sphäre interpretiere und mich nicht ganz abfinde mit der kahlen, einsam klingenden Formel vom In-der-Welt-Sein, Der Begriff Welt, den Heidegger benutzt, ist nach meinem Dafürhalten seinerseits noch zu metaphysisch gedacht, er ist totalistisch überspannt, weswegen ich diesen Ausdruck durch den der Sphäre ersetze. Sobald ich »Sphäre« an die Stelle von »Welt« setze, ziehe ich mir das Problem zu, das Sie vorhin angesprochen haben, nämlich daß ich zu einem Individualkosmologen werde. Ich müßte für jeden einzelnen Menschen die Weltgeschichte erzählen. Für jeden und jede wäre zu zeigen, wie er oder sie in einer unverwechselbaren Bewegung des Zurwelt-Kommens sich in seiner oder ihrer Sphäre einlebt und wie diese Sphäre dann so anwächst, daß sie in verschiedenen Stu-
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fen und Formaten für diesen Menschen das Weltganze darstellt - die Welt eines Säuglings, die Welt eines Dorfmenschen, die Welt eines Volksmenschen, die Welt eines Imperiummensehen, die Welt eines Menschen im Zeitalter der Globalisierung. Das alles sind verschiedene Formate des In-der-WeltSeins, wenn man es sphärologisch auslegt.
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H.-J. H. Lassen Sie uns versuchen, ein Fazit zu ziehen und schon den Übergang von Sphären 1 zum zweiten und dritten Band Ihrer Sphärologie anzudeuten. Wird Heidegger, den ich hier als Stellvertreter der traditionellen, trotz allem akademisch gebliebenen Philosophie erwähne, auch im weiteren Verlauf des Projekts noch eine Rolle spielen? Ist es nicht vielmehr so, daß Ihr gestalthaftes, poetisches, in Wandlung begriffenes Denken sich an solchen letztlich doch statischen, der Begriffswelt verhafteten Autoren nur abarbeitet wie an Übungspartnern, die Sie hinter sich lassen wollen? Ich hatte, je mehr ich in Ihre Texte eindrang, zunehmend den Eindruck, daß die Zauberformel in Ihrer Suche nach dem »Gold« des menschlichen Daseins eher in der Morphologie gefunden wird, für die ja der Begriff des Sphärischen selber zeugt. Sie ist es, die Ihre philosophische Poetik des Raums ermöglicht, die zugleich eine Poetik des Gestaltwandels, des Übergangs von Raum zu Raum erschließt. Unübersehbar ist hier die Nähe zu Rilke, zu Spengler, zu Michaux, zu Bachelard, zu Bataille. Was Oswald Spengler angeht, so würdigen Sie ihn als einen der bedeutendsten Theoretiker des Raums - wir haben oben Leo Frobenius erwähnt, von dessen Unterscheidung zwischen Kulturen des Höhlengefühls und solchen des Weitegefühls Spengler entscheidend inspiriert wurde. Aber Sie setzen sich auch deutlich von ihm ab, indem Sie betonen: Nach Spenglers gescheitertem Gewaltstreich, »Kulturen insgesamt als Lebewe-
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sen höchsten Ranges zu isolieren«, sei der von Ihnen vorgelegte »Rechenschaftsbericht vom Anfang und Gestaltwandel der Sphären« der erste erneute Versuch, einem Formbegriff eine höchstrangige Stellung in den Kulturwissenschaften zuzuweisen. Frage: Welche Rolle spielt in Ihrem Entwurf die »Form«? Oder ist Form nur ein anderer Ausdruck für Gestalt? P. S. Ich gebrauche in meinem Buch die Ausdrücke Gestalt und Form synonym. Natürlich bin ich darauf gefaßt, daß jemand, der heute als Kulturtheoretiker von Gestalt redet, sein Verhältnis zu Spengler klären muß. Ich bin, ich sage es ohne Hintergedanken, überzeugt: man wird mit Spengler, wenn man erst einmal versteht, wovon er redet, nicht fertig, weil man mit dem Problem selbst, das er hatte oder das ihn hatte, nicht fertig wird. Warum? Spenglers zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben haben - sein ganzes Genie steckt in diesem Motiv. Für ihn sind, wie für die Großen unter den Strukturalisten nach ihm, Propp und Levi-Strauss vor anderen, die Menschen nur von Bedeutung als Agenturen von Formen, die vor ihnen beginnen, durch sie hindurchwirken und über sie hinausgehen. Man könnte ihm, analog zu dem bekannten Marxwort, den Satz in den Mund legen, alle Geschichte ist die Geschichte von Form-Spannungen. Die Form, die Spengler vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt. Nun ist Spenglers Formbegriff, der über Goethes Idee der Urpflanze bis auf die aristotelische Zoologie zurückgeht, durch und durch organologisch geprägt, er gehört zu einem lebensphilosophischen Sprachspiel, in dem das Leben als Substanz betrachtet wird und die Individuen als Akzidentien. Nur darum konnte Spengler die von ihm so genannten »Kulturen« als »Lebewesen höchsten Ranges« bezeichnen: Er meint damit, daß es ein Gestaltgesetz gibt, ein strukturelles Muß, welches bewirkt, daß in einer Kultur an dieser oder jener Steile ihres Gestaltbogens nur Ereignisse, Akteure und Institutionen
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von einer gewissen formal vorherbestimmten Qualität auftreten müssen und keine anderen. Man kann dieser Idee eine gewisse logische Mächtigkeit nicht absprechen, obschon Spenglers Beispiele zweifelhaft bleiben und oft mehr verblüffen als überzeugen. Im Denken des 20. Jahrhunderts blieb der morphologische Impuls stets präsent, obwohl Humanisten und Historisten alles getan haben, ihn in den Hintergrund zu drängen. Morphologen und Strukturalisten haben soviel gemeinsam, daß sie beeindruckt sind von formalen Ordnungen, die sich über das Leben, Arbeiten, Sprechen der einzelnen und der Völker legen und sich wie Strukturgötter an der Macht halten, bis andere Ordnungen sich gegen sie durchsetzen - auch Strukturen kennen Götterdämmerungen. Das sind Ideen, mit denen man nicht fertig wird, weil sich in ihnen im wahren Sinn des Wortes unausdenkbare Verhältnisse anzeigen. Aber um zu erklären, wie ich zu meinem Verständnis des Formalen gekommen bin, muß ich anders ansetzen. Spenglers Ideen zu einer Morphologie der Weltgeschichte spielen dabei keine Rolle, eine um so größere hingegen Bachelards Programm einer Poetik des Razkmes. Es gibt in seinem unermeßlich kenntnisreichen, überaus sympathischen, sehr klugen und sehr naiven Buch gleichen Namens ein kleines Kapitel unter der Überschrift »Die Phänomenologie des Runden«, in dem ich zwei wegweisende Aussagen gefunden habe. Von denen lautet die erste: »Die Welt ist rund um das runde Dasein« - daraus ist die ganze Mikrosphärologie von Sphären 1 hervorgegangen, wobei eine zweite These mitwirkt, nämlich: »Die Kugel der Geometrie ist die leere, wesensmäßig leere Kugel. Sie kann uns kein gutes Symbol abgeben für unsere phänomenologischen Studien über die volle Rundung.« Für die Mikrosphärologie im ersten Band sind diese Motti verbindlich, weil ich es dort, wie gesagt, mit den zartwandigen Kleinwelten der Paarverbundenheit, der symbiotischen Partizipation, der intimen Resonanz zu tun habe, von denen auf der
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Hand liegt, daß sie keine Kugelgestalt im geometrischen Sinn haben können und daß sie eher als »erfüllte« Rundungen oder schwangere Raume vorzustellen sind. Darum eben Blasen, nicht präzise Kugeln; metaphorische Sphären, nicht mit dem Zirkel konstruierte Rundbauten oder Rundkosmen. Das ändert sich von Grund auf, sobald wir die großen Formen ins Auge fassen, von denen der zweite Band spricht - er trägt nicht umsonst den Titel Globen und handelt nicht zufällig von Gott und der Welt, sofern beide von der Tradition als inklusive Kugeln gedacht wurden. Aber ich meine zeigen zu können, daß auch Gott und der Kosmos nie als leere Kugeln vorgestellt werden durften. Im Zentrum von Globen steht die Weltbildrevolution der griechischen Aufklärung, von der man nachweisen kann, daß sie hinsichtlich des philosophischen Weltbilds nichts anderes bedeutet als die Durchsetzung eines geometrischen Idealismus in der Kosmologie und eines logischen Idealismus in der Theologie - und die Verknüpfung beider. Hier, in den Doktrinen der alten Akademie, wurde der Begriff der Kugel erstmals metaphysisch scharf gemacht. Vom Platonismus, der effektiv ein morphologischer Idealismus war, nimmt die unermeßliche Tradition der Kugelmetaphysik ihren Lauf, durch die gesamte abendländische Ideengeschichte hindurch bis an die Schwelle der Neuzeit, wo mit dem Anbruch des anti-platonischen Experiments, das wir Moderne nennen, das klassische Erbe Alteuropas wie über Nacht in Vergessenheit geriet. Mehr als zweitausend Jahre Kugelmetaphysik sind keine Kleinigkeit, Trotzdem ist dieser Komplex von der jüngeren Schulphilosophie nicht nur vernachlässigt, sondern praktisch ignoriert worden, so daß meine Arbeit, bis auf sehr wenige Ausnahmen, etwa Dietrich Mahnkes Studie über die All-Sphäre aus den dreißiger Jahren, keine wirklichen Vorgänger hat. Die Vergeßlichkeit der zeitgenössischen Schulmänner in bezug auf Ideen, mit denen sie nicht selber unmittelbar etwas anfangen können, ist imponierend. Der Form-Begriff, mit dem ich in Sphären 1 und Sphären 11
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arbeite, wird also nicht, wie bei den Morphologen und den Strukturalisten üblich, als Ordnungsmuster in die Gegenstände hineingelegt oder als deren latente Struktur, quasi als ihr formales Unbewußtes expliziert, sondern ich habe es, zumal im zweiten Band, schon mit einer artikulierten Geschichte von prägnanten Vors tellungen über die Welt-Form als Kugeltotalität zu tun. Von Platon über Plotin zum Bzrch der 24 P/Xosophen und weiter zu Kusanus, Kepler, Leibniz, Novalis spannt sich eine goldene Kette von höchstrangigen Aussagen über die notwendige Kugelgestalt des Göttlichen und des Kosmos. Ich lese die klassische Metaphysik als eine Bibliothek von wirksamen Aussagen über das Weltganze als Immunsystem. Ontologie ist also erste Immunologie und kann daher nie irrelevant werden. Aber ein Ontologe von heute ist, dem Fortschritt des Immunproblembewußtseins entsprechend, nicht mehr dasselbe wie ein klassischer Theoretiker des Seins. Ich darf nun weiter anmerken, daß ich der Meinung bin, in Globen erstmals die eigentliche und wirkliche Geschichte dessen dargestellt zu haben, was in der gegenwärtigen Soziologie, in der Politik und im Journalismus unter dem hysterischen Reizwort Globalisierung diskutiert wird. Denn Globalisierung, soviel ist klar, ist seit über zweitausend Jahren das Hauptanliegen der alteuropäischen philosophischen Theologie und Kosmologie gewesen, nämlich die Rationalisierung von Gott und Welt mit Hilfe des mächtigsten konstruktiv beherrschbaren Formgedankens, der Kugel. Was wir heute darunter verstehen, ist nur ein aufgeregtes Nachspiel zu einem Stuck, das tief in die Vergangenheit reicht und von dessen wahren Dimensionen und Prämissen zur Zeit so gut wie niemand mehr etwas ahnt, Das Emblem dieser alten Geschichte ist der Globus selbst, dieses von der Antike erfundene Mittel der geometrischen, besser uranometrischen Weltdarstellung, das seit dem Beginn der Neuzeit, exakt vom Jahr der Kolumbusfahrt an, 1492, bis heute eine Triumphgeschiche gekannt hat, deren Ausmaße ans Unglaubliche rühren.
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Ich lege Wert auf die Beobachtung, daß es von den Globen bis vor kurzem immer zwei gegeben hat, den himmlischen und den terrestrischen. Daß wir heute den Erdglobus isoliert vor uns stehen haben, verrätselt schon etwas von der metaphysischen Krise des menschlichen Orts. Wenn die Alten die Rundheit des Kosmos meditierten, so geschah dies hauptsächlich in erbaulicher Absicht. Die Welt ist rund - deswegen gehen am Ende alle Dinge gut, dies war das philosophische Evangelium der Antike. Für die Modernen hingegen folgt aus dem Satz, daß die Welt rund ist, etwas Entgegengesetztes, nämlich, daß wir vor den anderen nicht mehr sicher sind - dies ist das Dysangelium der Neuzeit. Bezeichnenderweise haben die Europäer über die sogenannte Globalisierung erst zu klagen begonnen, als sie die Gewißheit verloren hatten, beim Ausgriff auf den umrundeten Planeten stets die Gewinner zu sein. Solange wir, über mehr als vierhundert Jahre hinweg, als Entdecker zu den Entdeckten kamen und die Fremden als Zubehör unserer Weltnahme mit in Kauf nahmen, hat kaum jemand an der »Globalisierung
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Geschichte der Neuzeit zwischen Christoph Kolumbus und George Soros - und zwar unter dem Gesichtspunkt, wie sich die Erde für die moderne Wahrnehmung als die einzige und letzte Kugel ins Zentrum geschoben hat. Von 1492 bis 1945 reicht die Kernepoche der terrestrischen Globalisierung. Von der metaphysischen Globalisierung und der terrestrischen ist eine dritte zu unterscheiden, die sich für uns vor allem in der Virtualisierung des Raums darstellt, bewirkt durch schnelles Geld und schnelle Information. Wenn Gesellschaften eine Überproduktion von Bildern und Texten betreiben, entsteht »Schaum« - Gerede ohne Kontrolle an äußeren Referenten, chaotische Sinnproduktion, chronischer Schwindel, Surferideologie. Davon wird der dritte Band handeln, unter demTitel Schätime. Menschen, die Schaumproduktion betreiben, können weder ideale Paare bilden noch sich in die Hyperkugel des Einen Kosmos oder des Einen Gottes retten, Das centrzkm seczrtitatis - so hat die Metaphysik ihren Gott genannt - ist für sie unerreichbar geworden. Für sie gelten die Spielregeln des psychischen Überlebenskampfs in überkomplexen Situationen - globalisierte Guerilla. Für diese nicht immer leicht verständlichen Trends mache ich im Schlußband einen neuen Interpretationsvorschlag. H.-J. H. Sie haben eindringlich für den Nutzen Ihrer Philosophie zum Verständnis zeitgenössischer Prozesse plädiert. Meine letzte Frage will diesen Anspruch testen am härtesten aller möglichen Gegensätze zu Ihrem Sphärendenken: Wie lassen sich mit Ihrer Sphärologie die Extremformen der sozialen Entzweiung und ideologischen Verneinung des Anderen begreifen, wie sie sich im 20. Jahrhundert exemplarisch im Nationalsozialismus und anderen Formen des politischen Exterminismus manifestiert haben? Hannah Arendt, und nach ihr Alain Finkielkraut, haben darauf hingewiesen, daß in den großen Dramen dieses Jahrhunderts der Mensch den anderen Menschen nicht als seinesgleichen erkannt hat. Ist dieses Nichterkennen nur eine historische Ausnahme, oder ist es
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nicht vielmehr ein charakteristischer Zug der modernen Zivilisation? Ist also, wie Sie sagen, »die Faszination des Menschen durch den Menschen« die Regel oder nicht vielmehr die gegenseitige Abschottung? Sind die chronischen Vernichtungen von Menschen durch Menschen in unserem Jahrhundert wirklich nur momentane Entgleisungen? Bei der Lektüre Ihres Buches stellen sich bei mir zwei entgegengesetzte Empfindungen ein: Auf der einen Seite erscheint es suggestiv, wie Sie für einen geometrischen Vitalismus plädieren, für eine intensivierte Konfiguration von Leben und Theorie, von Erotik und Formbildung. Man fühlt sich eingeladen, sich in kosmischen Gewölben zu entspannen und eine >>Übertragungsliebe zum Ganzen« auszubilden, ja, gerade dieses letztere Motiv, die Emanzipation der Übertragung von den neurotischen Projektionen und ihre Freisetzung in schöpferische Vorgänge, empfinde ich als eine der Bereicherungen Ihres Buches. Frappierend, wie Sie sagen, was man auf andere übertrage, seien weniger Affekte als primäre Raumerfahrungen. Aber, und das ist die andere Empfindung, gleichsam der skeptische Widerspruch: Glauben Sie wirklich, daß Ihr Entwurf sich angesichts der geschichtlichen Erfahrungen behaupten kann, vor allem im Blick auf die Greuel des 20. Jahrhunderts. P. S. Ihre Frage klingt für mich so, als wollten Sie mich auffordern, zu aktuellen Büchern Stellung zu nehmen, die versprechen, das 20. Jahrhundert zu verstehen. Da ist über Nacht und ad hoc eine eigene Gattung entstanden, die man Bilanzliteratur nennen könnte. Ich gebe zu, ich bin gegenüber der Leistungsfähigkeit der bisherigen Jahrhundertzusammenfassungen aus der Feder von Historikern und Moralphilosophen ein wenig skeptisch, denn ich bin davon überzeugt, daß man von dieser Epoche und ihren Katastrophen nur Oberflächenansichten erhält, solange die Konfiguration von Räumen, Bevölkerungen und Ideologien nicht auf viel tieferer Ebene durchdacht worden ist, als dies auf Basis der bis heute gängigen Theorien
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möglich war. Ich schlage, um eine schärfere Optik zu entwikkeln, eine politische Poetik des Raumes vor, und erst von dieser könnten sinnvolle Diagnosen über gescheiterte politische Raumbildungen abhängen. Um hierfür den richtigen Anfang zu finden, ist es wichtig, den Kleingruppencharakter der menschlichen Erstbeseelungen und die Kleinformatigkeit der primären Sphärenbildungen ernst zu nehmen, viel ernster, als die kuranten Formen politischer Philosophie es tun, die wie aus der Pistole geschossen mit dem Menschen als -on pol&%on anfangen. Dagegen hat schon Thomas von Aquin, den ich im übrigen nicht so oft als Zeugen anrufe, Einspruch erhoben mit seinem Satz: >>Humo est animal magis familiale g#am politi6gm.c~ Über dieses Argument darf man nicht hinweggehen, weil man sich sonst zur anthropologischen Blindheit verurteilt - was ein Kennzeichen der modernen politischen Ideologien ist, der völkischen wie der kommunistischen, die den Menschen allesamt ignorant überpolitisieren, übersoziologisieren, überpolemisieren. Um dem wahnhaften Element in diesen politischen Anthropologien auszuweichen, gehe ich regelmäßig zurück auf einfache Situationen vom Typus der Mutter-Kind-Relation, des Liebespaares, der Klein- und Großfamilie, meinetwegen der Urhorde. Der Vorzug des Ansatzes bei der kleinen Form ist, daß er das Staunen lehrt angesichts von sozialen Ensembles, die größer sind als eine primitive Horde oder ein einfacher Clan und doch nicht über Nacht zerfallen. Die Ethnologie ist ein wunderbares Korrektiv gegen die Soziologie, weil sie das Augenmerk auf die vorpolitischen Lebensformen der Menschen und die kleinformatigen Grundverhältnisse gerichtet hat. In allen größeren Einheiten muß man bereits die Wirksamkeit von Amplifikationstechniken und Übertragungsmechanismen voraussetzen, die sich von den einfachen Formen her keineswegs von selbst verstehen. Schon die Stabilisierung der Einheit eines kleinen ))Volkes« erfordert einen abenteuerlich komplexen ethnopoietischen Prozeß. Wie ist es möglich, daß zehntausend, hundert-
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tausend Menschen zusammengefaßt sind in eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Rhythmik und Ritualistik, in ein Feld gemeinsamer ethnokulinarischer, ethnomedizinischer, ethnobotanischer Gewohnheiten? Das sind die Fragen, die man stellen muß, um sich im Bewußtsein zu halten, daß man es mit unglaublich komplizierten, überaus unwahrscheinlichen und nichtsdestoweniger durch und durch wirklichkeitsmächtigen Vorgängen zu tun hat. Was geschieht da eigentlich, wenn aus Horden Völker entstehen? Wie sind solche ethnotechnischen Prozesse, solche Selbsterzeugungen von Großgruppen zu denken? Wie funktionieren die ethnopoietischen Rückkoppelungen über lange Zeitspannen hin und in welchen Medien? Die soziologische Anthropologie, als deren wichtigsten Autor ich Dieter Claessens nenne, hat für das Größenwachstum von Kulturen eine bezwingende Deutung vorgeschlagen: nach ihr ist die Konstruktion von abstrakteren Großeinheiten zurückzuführen auf einen allgemein wirksamen Mechanismus von Anheimelungstechniken und Befreundungsverfahren, der in der Übertragung von Vertrautem auf Unvertrautes und von Familiärem auf Unfamiliäres beruht. Dies erklärt die Allgegenwart von familialistischen Rhetoriken in allen sozialen Großstrukturen, gerade in solchen, die mit Familien am wenigsten gemeinsam haben, wie Armeen, Kirchen, Universitäten, Imperien, Nationalstaaten. Die Großformen leben davon, daß sie einen imaginären Fundus an kleinsphärischen Erlebnisweisen absaugen und transferieren können - wo solche Vertrautheitsübertragungen mißlingen, wie zum Beispiel in der aktuellen Europa-Konstruktion, dort bleibt die große Struktur unteranimiert und wird von den Einwohnern als Unwirklichkeit oder als Moloch erlebt. Das Geheimnis der großen Politik ist in gewisser Weise ein ständiger Umcodierungsvorgang von Klein zu Groß, von Konkret zu Abstrakt, man könnte auch sagen: ein permanenter Formatstress. Sie beruht auf einer nachhaltigen Vortäuschung von imaginären Gemeinschaften durch die
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Verwendung des intimen, familialen Codes zugunsten des nicht-familialen Nicht-Intimen. Ich nähere mich der Frage, mit der Sie mich konfrontiert haben, Kann die Sphärologie die Explosionen zwischenmenschlicher und interethnischer Gewalt im abgelaufenen Jahrhundert mit ihren Grundannahmen verträglich deuten? Aus meiner Sicht muß die Antwort heißen, daß man das Gewaltproblem noch gar nicht richtig beschrieben hat, wenn man das Phänomen der platzenden Sphären und der implodierenden Lebensgemeinschaften nicht von seinem Ursprung her sieht. Gerade aus sphärologischer Sicht läßt sich gut verstehen, daß unzählige Menschen des 20. Jahrhunderts in katastrophische Umformatierungen ihrer Lebenswelten hineingerissen worden sind, ohne daß sie die psychischen Mittel vorgefunden oder entwikkelt hätten, sich ihre neuen Verhältnisse anzuheimeln und zu befreunden. Die Unheimlichkeit der modernen Lebensverhältnisse macht insgesamt die Befreundung prekär. Übertragbare positive Heimat- und Familiengefühle sind zu einer knappen Ressource geworden. Die Ausgangspunkte für positive, schöpferische Übertragungen als solche sind bereits kompromittiert, schon die Symbiosen sind kontaminiert, die familialen Schutzräume, die Vertrautheitsbiotope schrumpfen. Das 20. Jahrhundert ist ein Zeitalter der politischen Psychosen, in deren Kern sich überall Formatpsychosen und RaumstressSymptome verraten. Diese haben so gut wie immer die Form von Zugehörigkeitsstörungen. Die losgerissenen Einzelnen wissen nicht mehr, wie und wo sie wohnen, mit wem sie zusammengehören, in welchen Formaten sie kommunizieren, was sie konvertieren können und was nicht. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind und wer die anderen sind - und sie können es nicht wissen, denn solches Wissen entsteht, wie sphärologisch zu zeigen ist, immer nur dort, wo hinreichend gute Primärsphären gedeihen, von denen aus Übertragungen ins Weitere ohne Selbstverlustangst geschehen können: das wären
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die modernen Äquivalente zu den Frobeniusschen Kulturen des »Weitegefühls«. Die Sozialphilosophie führt hier das traditionelle Argument ins Feld, daß die typischen Soziopathen der modernen Gesellschaft - insbesondere Individuen mit einer Neigung zu rechtsextremen Haltungen - unter einem Mangel an »Anerkennung« leiden, ein Ausdruck, der seine Herkunft aus der Begriffswelt des jungen Hegel nicht verleugnet. Aber mit dem Konzept der gewährten oder verweigerten Anerkennung, so sehr es für die Rhetorik der Integration unentbehrlich ist, läßt sich nur eine Oberfläche beschreiben. Die Mikrosphärologie wirft einen viel gründlicheren Blick in die Strukturen der menschlichen Teilhabeverhältnisse und ihre Deformationen. Tatsächlich gehört die Moderne den politischen Höhlenbauten und ihren Hysterien. Daß psychotisierte Menschen in solchen Zeiten anfangen, an einer Verwirrung der Urteilskraft zu leiden und sich in wahnhaften Pseudokommunen zusammenzurotten, ergibt sich aus ihrer Lage. Pseudokommunen oder soziale Pseudohöhlen beruhen auf Wahnsystemen, die letztlich immer die Form eines Heil-durch-Vernichtung-Versprechens haben - genau das ist es, was Menschen mit einer Grundstörung der vitalen Urteilskraft am meisten anspricht. Nur so haben sich zahllose Deutsche hinter dem vulgärenTodesengel Hitler sammeln können. Wahnsysteme dieser Art haben mit dem Normalitätssystem viel mehr gemeinsam, als man üblicherweise bedenkt, denn alle modernen Nationalgesellschaften können nur als imaginäre Gemeinschaften Bestand haben, sie haben allesamt ein Stuck weit Pseudohöhlencharakter. Solche imagined commzanities - der Ausdruck stammt von Benedict Anderson - sind von Grund auf labil und hochgradig fiktiv, von der Wahngrenze nur geringfügig weiter entfernt als die offen psychopathische Politik. Philippe Lacoue-Labarthe spricht in diesem Kontext von Politik-Fiktion - so wie man von sciencefictz’on redet. Die Beviilkerungen von Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, sind nach dieser Beschreibung immer schon
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purepolitzcrtl-fiction-Einheiten. Der Hauptzweck moderner Politik besteht darin, eine schwindelerregende Zahl von Menschen unter einem gemeinsamen ethnisch-kulturellen Obdach zu beherbergen und ihnen ein Beschäftigungs- und Versorgungsprogramm zu bieten. Moderne Nationen versteht man daher, glaube ich, am besten, wenn man in ihnen politische Asyle sieht - und zwar, so paradox es klingt, Einheimischenasyle. Ein Asyl ist ein Zufluchtsort, ein Schutzraum für Entwurzelte und Bedrohte. Heute sind es nicht allein die Flüchtlinge von außen, sondern fast genauso die Einheimischen, die sich bedroht und virtuell entwurzelt fühlen. Nationalasyle stützen die notwendige Illusion von Verankerung, von territorialer Immunität, von solidarischer Einbettung, und wo diese Asylfunktion versagt, bricht die Gewalt auf. Man soll nie mehr sagen, Asylantenpolitik sei eine Sparte der Innenpolitik unter anderen, sie ist heute der Kern des Politischen überhaupt. Die traditionelle Unterscheidung von einheimischer Bevölkerung und Asylanten trifft die Verhältnisse nicht mehr; es gibt nur noch Beziehungen zwischen Mehrheitsasylanten und Minderheitsasylanten. Ich habe eben den Ausdruck »notwendige Illusion« verwendet. Er ist Teil eines Vokabulars, mit dem ein neuer Diskurs über die Bedingungen des gelingenden Lebens in einer endlichen Welt geführt wird. Die Menschheit befindet sich heute in einem ungeheuren Durchmischungs- und Mobilisierungsvorgang, der voller Risiken ist und der mit angetrieben wird von sehr illusorischen Vorstellungen über die Verträglichkeit und Vermischbarkeit von allem mit allem. Gegen solche Illusionen erinnert die sphärologische Analyse an die Endlichkeit von Lebenszeiten, die Enge von Orten und Aufmerksamkeiten, die Knappheit der moralischen Energien, an die Kostbarkeit von gemeinsamen, motivierenden Erinnerungen - es ist eine unverantwortliche Illusion, zu meinen, die Reserven der Anteilnahme von Menschen an Menschen seien nicht erschöpfbar. Sie sind es nur allzusehr. Aus Müdigkeit geschieht
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mehr Böses als aus Bosheit - aber von diesem Effekt gibt es im Christentum wie in der traditionellen Linken eine hartnäckige Fehlbeschreibung unter dem Begriff Gleichgültigkeit oder Trägheit des Herzens. Man assoziiert die Ermüdbarkeit zu schnell mit Schuld, Und wenn in ihr nur Grenzen der Gesellschaft spürbar würden? Hier kommt ein scheinbar konservativer, in Wahrheit pragmatischer Interessenhorizont in Sicht. Es gibt gerade aus der Sicht des zu schützenden guten Lebens ein Bewahrungsinteresse in bezug auf soziale Biotope, ein Interesse, dem man helfen muß, sich in nicht-reaktionären und nicht-repressiven Formen auszudrücken. Auch eine Kulturpolitik der Linken muß dem Rechnung tragen, indem sie dem lokalen Impuls, dem sphärischen Bedürfnis zu nicht-reaktionären Genugtuungen verhilft. Wenn sie vor dieser sozialökologischen Aufgabe versagt, bleiben die Explosionen nicht aus. Die Endlichkeit und die Offenheit gleichzeitig zu denken, darauf wird es ankommen.
Von Kampfmoral und Mystik
VI Amphibische Anthropologie und informelles Denken Von Kampfmoral und Mystik H.-J. H. Herr Sloterdijk, ich möchte zwei Geschichten an den Anfang unseres letzten Gesprächs stellen. Die eine ist fiktiv, die andere historisch, jede von beiden rührt an einige zentrale Aspekte unserer bisherigen Überlegungen und ist doch vielleicht auch schon geeignet, eine Fährte ins Kommende zu legen. Die erste Geschichte hat Ivo Andric unter dem Titel Anka md der Walferzählt. Ich resümiere: Aska, ein Lamm, ist seit jeher ein wenig anders als die anderen Lämmer, obendrein möchte es in die Ballettschule gehen. Eines Tages verliert sich dieses unschuldige Geschöpf im Wald, und genau wie die Eltern befürchtet haben, wird es von einem Wolf überrascht. Obgleich Aska in Todesangst gerät, bewahrt sie äußerlich die Ruhe und beginnt vorzuführen, was sie in der Ballettschule gelernt hat. Ihr Tanz, berichtet der Erzähler, sei ein wahres Wunder gewesen und habe ein zusätzliches Wunder hervorgerufen; der Wolf läßt sich von der Anmut des Lamms verzaubern. »Die kleine Aska fühlte hundert Leben in sich und nützte die Kraft dieser hundert Leben dazu aus, ihr einziges Leben, das sie schon verloren wußte, zu verlängern. Wir wissen nicht, wieviel Kraft und wie viele Möglichkeiten jedes Lebewesen in sich trägt. Wir ahnen nicht einmal, was wir alles können, wir sind da und vergehen, ohne zu erfahren, was wir alles hätten sein können und was wir hätten tun können. Nur in großen und außerordentlichen Augenblicken entdeckt man dieses Geheimnis, und ein solcher Augenblick war es, in dem Aska um ihr verlorenes Leben tanzte.« Aber es kommt, wie es kommen muß, die Menschen aus dem Dorf eilen herbei und töten den Wolf, der sich doch schon verwandelt hatte. Aska erfand ihr Ballett, das bei
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den Kritikern als »Der Tanz mit dem Tod« berühmt wurde, das sie selber aber den »Tanz um das Leben« nannte. Auch meine zweite Geschichte handelt mittelbar vom Kampf zwischen dem Weichen und dem Harten und unmittelbar von einer schockhaften Desillusionierung. Diese Geschichte muß vor allem deswegen einen Platz in unseren Wechselreden haben, weil ich in früheren Gesprächen gelegentlich mit einem Zug der Bewunderung vom zen-buddhistischen Geist, vom »Anfangergeist«, gesprochen habe. Wie jede Idealisierung wartet wohl auch diese nur darauf, entzaubert zu werden: 1997 erschien im englischen Original und 1999 in deutscher Übersetzung eine Analyse des Verhältnisses von Zen, Nationali.mu.r ztnd Krieg, einer wahrhaft unheimlichen Allianz. Der Autor, Brian Daizen A. Victoria, selbst Zen-Priester in Neuseeland, hat aus unzähligen Dokumenten die Geschichte einer fatalen Verstrikkung rekonstruiert, die für Zen-Liebhaber ans Unvorstellbare grenzt. Mit einem Mal müssen wir zur Kenntnis nehmen, zu welchen perversen Allianzen es zwischen Meditationskultur und Imperialismus kommen konnte. Ich führe nur einige wenige Zitate an: Der hochgepriesene Zen-Meister Harada Sogaku schrieb 1939: »Wenn befohlen wird zu marschieren: marsch, marsch; wenn befohlen wird zu schießen: peng, peng. Dies ist die Manifestation der höchsten Weisheit der Erleuchtung.« Von dem Zen-Meister Hakuun Yasutani sind die Worte überliefert: »Alle Maschinen werden mit Schrauben zusammengebaut, die Rechtsgewinde haben. Rechtsgerichtetheit zeigt an, daß etwas entsteht, während Linksgerichtetheit Zerstörung anzeigt.« Und von dem sanften, weisen Daisetzu T. Suzuki - für den Westen der würdige Repräsentant des Zen schlechthin- stammen Äußerungen wie: »Die Religion sollte zu allererst versuchen, die Existenz des Staates zu erhalten.« Rudolf Hess äußerte: »Auch wir kämpfen, um den Individualismus zu vernichten. Wir kämpfen für ein neues Deutschland, das auf der neuen Idee des Totalitarismus aufgebaut ist. In Japan ist diese Art zu denken für das Volk völlig natürlich.«
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Und Hitler: »Wir haben eben überhaupt das Unglück, eine falsche Religion zu besitzen. Warum haben wir nicht die der Japaner, die das Opfer für das Vaterland als das Höchste ansieht?« Daraus ergibt sich eine aus meiner Sicht selbstkritische Frage zu Beginn dieses Gesprächs: Müssen wir nicht auch die von uns ins Spiel gebrachten »sanften« Begriffe etwas vorsichtiger betrachten? Wo sind denn die Ecken am Runden? P. S. Die Sphären hören auf, rund zu sein, wenn sie platzen. Und sie platzen unaufhörlich, das haben wir seit dem Beginn unserer Gespräche herausgestellt. Ich sollte vielleicht noch einmal sagen, daß die Sphärologie, wie ich sie verstehe, eine kühle Theorieform ist. Sie setzt eine starke Beobachterposition gegenüber den Lebensprozessen voraus. Man kann sie nur betreiben, wenn man den Standpunkt des Außen oder der Nichtzugehörigkeit erreicht hat. Doch das bedeutet nicht, daß man dort stehenbleiben darf Bestimmte Sphären regenerieren sich nach ihrer Zerstörung und gewinnen an Volumen. Davon muß die Rede sein, die Regeneration und das Wachstum der Sphären ist der Vorgang, der mehr zu denken gibt als die Vernichtung. Sphärentheorie ist also keine neue Spielart von Idealismus. Ich habe nichts im Sinn mit neo-holistischen oder neo-totalistischen Denkformen, wie sie für manche Revivals der klassischen Metaphysik und ihre neureligiösen Travestien charakteristisch sind. Die Pointe der Sphärologie liegt darin, das Phänomen der gemeinsamen Animationen in nicht-idealistischen Begriffen neu zu untersuchen. Es geht ihr darum, nicht-begeistert von Begeisterungen zu reden. Wie das klingen könnte, läßt sich vielleicht an meinen beiden politischen Reden tirsprecben atif Detitscb, von 1370, und Der starke Grund, xtisammen xti sein, von 1398, beobachten, zumal an der letzten, in der ich nationale Vereinigungsphantasmen einer sehr kalten Analyse unterziehe. Ich beschreibe dort die modernen politischen Kommunen als medientechnisch hervorgerufene selbststressierende Fiktionen - daher der Untertitel Erinnermgen an die
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Erfindzmg des I/ol,&es- das ist nicht eben das, was Liebhaber der Lehre von den substantiellen Völkern gerne hören. Aber diese kalte Analyse ist nach allem, was wir mit politischen Enthusiasmen und ethnischen Idealismen erlebt haben, unentbehrlich. Im übrigen liegt hier einer der Gründe für meine Reserven gegenüber der jüngeren Kritischen Theorie, die in meinen Augen nichts anderes ist als eine Form von Neo-Idealismus. Haben wir Jahrhunderte gebraucht, um den objektiven Idealismus der Alten und den subjektiven Idealismus der Modernen zu überwinden, nur um uns einem intersubjektiven Idealismus in die Arme zu werfen? Man bedankt sich höflich. Der Fall Japans liegt natürlich anders. Um seine Besonderheit zu verstehen, ist zu bedenken, daß dort noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts relativ intakte spätmittelalterliche Traditionen bestanden, die nun allzu direkt mit der Moderne zusammenprallen mußten. Ich erlaube mir anzumerken, daß die Äußerungen von Meister Peng peng in der Kontinuität des metaphysischen Integrismus zu lesen sind. So zynisch und absurd sie klingen: sie sind in der holistischenTradition verankert, obschon es vielen gegenwärtigen Interessenten solcher Lehren schwerfallen wird, sich mit diesem Befund anzufreunden, Es ist eine Linie, die im Westen als praktische Mystik, in Indien als Karma-Yoga, in Japan als Weg des Kämpfers bekannt ist-hier wie dort hat man es mit Schulen der Verwirklichung durch die Tat zu tun. Die Kenner der westlichen Tradition erinnern sich an Meister Eckbarts berüchtigte Predigt über Martha und Maria, in der mit einem Mal die vita aha spirituell den Vorzug vor dem kontemplativen Leben erhält, obwohl der evangelische Text das Gegenteil sagt. Die Predigt Eckbarts ist ein Meisterstück hermeneutischer Skrupellosigkeit. Aus ihr kann man lernen, wie leicht es Kirchenmännern fällt, den Schriftsinn auf den Kopf zu stellen, wenn der Zusammenhang es fordert. Und dieser Zusammenhang ist eindeutig: Religionssoziologisch gesehen handelt es sich bei solchen kühnen, sinnverdrehenden Exegesen um Anpassungen von Mönchs- und
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Priesterethiken an die Bedürfnisse von Stadt- und Weltmenschen. Es wäre doch naiv anzunehmen, daß die Machteliten in traditionalen Gesellschaften bereit gewesen wären, auf die metaphysische Überhöhung ihres wa_y of Izz$ zu verzichten, Im Westen kennen wir das durch die Existenzstilisierungen des christlichen Rittertums und durch die Allianzen zwischen Thron und Altar, sprich Kriegertum und Priestertum. Was wir aus dem Mund von Zen-Meistern des 20. Jahrhunderts hören, zeigt analog dazu das Bündnis von Staat und Meditationshalle auf Um allgemeiner zu sprechen: Man muß sich vor der Versuchung hüten, eine simple Gleichungsetzung von Spiritualität und pazifistischer Abstinenz vorzunehmen. Es ist nicht wahr, historisch nicht und psychologisch nicht, daß jeder, der einen Vorbehalt gegen die groben Wege der Weltkinder ausdrucken wollte, geradewegs ins Kloster gehen mußte - oder an andere Orte, an denen sich der spirituelle Weltvorbehalt leben ließ. Man weiß, daß es neben dem Kloster auch den Wald, die Wüste, das Gebirge als Räume des Rückzugs aus der gesellschaftlichen Gewalt gegeben hat, im Westen wie im Osten. Thomas Macho hat in seinen Studien zur Geschichte der von ihm so genannten »Einsamkeitstechniken« die Topographie der Rückzugsräume kulturkomparatistisch rekonstruiert. An solchen Orten opfern die Individuen ihren unmittelbaren Lebenskomfort, einschließlich der Sexualität, und hängen ihre innerweltlichen Narzißmen aus - gegen das Privileg, sich mit ihrer spirituellen Vervollkommnung beschäftigen zu dürfen. Sie praktizieren dabei meistens eine Art von »schriftgestützter Einsamkeit«, wie die Mediologen sagen. Aber es liegt auf der Hand, daß der Bruch mit der Welt durch die vita contemplativa nur eine Hälfte des spirituellen Komplexes ausmacht. Die andere Hälfte entfällt auf Versuche, spirituelle Verklärungen - um protestantisch zu reden: Rechtfertigungen - für ihre Aktion in der Welt zu finden. Das stärkste Beispiel hierfür ist auch das bekannteste: Zu den
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primären Dokumenten der indischen Tradition gehört die Bbagavad Gita, das am weitesten verbreitete der vier philosophischen Lehrgedichte, die in das heroische Epos Mahabharata eingeschoben sind, und von dem es, manchen indischen Gelehrten zufolge, mehr Kommentare und Interpretationen gibt als vom Neuen Testament. Liest man den Text auf der buchstäblichen Ebene, so führt er die Kriegerethik in reinster Form vor - durch einen enormen mystischen Mehrwert angereichert. In dem Gedicht wird der Nachweis erbracht, daß das Heil nirgendwo anders liegt als im Durchhalten einer Linie kriegerisch-praktischer Tugend. Als erleuchtet soll gelten, wer noch in der menschlich unmöglichsten Situation seine Kriegerpflicht erfüllt, selbst wenn dabei Verwandte durch eigene Hand getötet werden. Man muß sich nur die Lage des Helden Arjuna auf dem Schlachtfeld vergegenwärtigen: Im Blick auf die zahllosen männlichen Verwandten, all die Onkel und Schwäger auf der gegnerischen Seite, verläßt den Protagonisten sein Kampfgeist, er meint, es sei für ihn besser, tot zu sein, als in Gestalt der Verwandten sein eigenes Blut anzugreifen. Nun zeigt sich, wie die meditative Betrachtung in die Sinnkrise eingreift und die kriegerischen Kräfte wieder aufrichtet. Aus der Sicht der Gita wären gerade die spirituell scheinbar wertvolleren Handlungen, der Verzicht auf den Kampf, die Selbstentwaffnung des Kriegers, das Absteigen vom Streitwagen, der Austritt aus der Kausalordnung des Gewalthandelns, für den Täter verhängnisvoll. Sie wurden zum Verlust der Ehre führen und dadurch eine karrnische Katastrophe für den Nicht-Täter bewirken. H.-J. H. In der Bbaguvad Gita wird also eine Pflichtmystik entwickelt, die sich in dem Gebot zusammenfaßt: TU unter allen Umständen, was du sollst! Nach dem äußeren Erfolg des Handelns frage nicht! P. S. Das klingt für unsere Ohren nach kategorischem Imperativ und Preußens Gloria, doch stammt es aus völlig anderen Quellen. Es gibt in der indischenTradition eine Linie von Weis-
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heitslehren, die unverblümt die Verträglichkeit zwischen Spiritualität und kriegerischer Aktion verkünden. Sri Aurobindo hat diese Auffassung in die Tradition des Yoga des Handelns eingeordnet, andere Autoren sprechen von bbakti-marga, dem Pfad der tätigen Hingabe. Solche Praxis-Ideen siedeln sich auf einer Ebene an, die ich als den mystischen Integrismus bezeichne. Wollte man es boshaft formulieren, wäre zu sagen, daß Mystik hier zu einem Teil der psychologischen Kriegführung, um nicht zu sagen zu einer Waffengattung, geworden ist. Wer es gelernt hat, an die metaphysische Identität von Täter und Opfer zu glauben, darf vielleicht auch annehmen, daß der Feindetöter in der gerechten Schlacht nur auf der Oberfläche tötet, während das unzerstörbare, allgemeinsame Selbst in der Tiefe überdauert. Vergleichbares findet man in der westlichen Tradition, insbesondere in bestimmten Formen des religiösen Militarismus das fängt beim miles christiangx an und geht über die Kreuzfahrer vor Jerusalem und die Cromwellschen Puritanertruppen bis zur Jugend von Langemarck und den panzersegnenden Popen im letzten Krieg um Serbien. Wir wissen, daß auch der Islam den heiligen Krieger kennt, sogar den heiligen Mörder, man denkt an die Drogensekte der Assassinen, von denen die Franzosen ihr Wort für den Mörder, assassin, herleiten. Wir haben es in allen Fällen mit Vertretern von opferholistischen Kampfmoralen zu tun, die praktisch immer von substanzmetaphysischen Denkformen unterfüttert werden. Sie sind das präzise Gegenteil von sanftem Denken. Mit einem Blick auf die Baupläne traditioneller Metaphysiken läßt sich diese unsanfte Logik näher erläutern. Unter den Voraussetzungen des gewöhnlichen zweiwertigen Denkens muß sich der Mensch entscheiden, ob er den Weg der Wahrheit oder den des Scheins gehen möchte. Wenn er den Weg der Wahrheit wählt, muß er sich für das eine Sein entscheiden und das NichtSein fallenlassen - das entspricht der westlichen Option. Nun hat man das Unwesentliche für das Wesentliche zu opfern, Al-
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lotria aufzugeben und sich fürs wahre Ganze zu verzehren. Die Substanz ist alles, die Reflexionen sind nichts. Im Buddhismus ist die Opposition umgekehrt gewichtet. Wer hier die Wahrheit wählt, muß sich für das Nichts entscheiden und die Anhaftung an den Scheingebilden des Seins fallenlassen. Auch hier ist unbedingte Preisgabe der nichtigen, bloß vorgestellten Selbstheit der Preis, den man für spirituelle Vervollkommnung zu zahlen hat. In beiden Fällen erhält der eine Wahrheitswert unbedingte Priorität, während der andere der Nichtigkeit verfällt - weswegen man vorgeblich nicht wirklich etwas opfert, wenn man das Einzelne, Okkasionelle, Wesenlose, Reflexive preisgibt. Einheit ist,Vielheit ist nicht; Ganzheit ist, Einzelheit ist nicht; Wesen ist, Unwesen ist nicht. Substanz ist, Akzidenz ist nicht. Im zweiwertigen Denkraum wird also immer eine Seite der Unterscheidung ontologisch irrealisiert, und das muß zu unsanften Verwicklungen führen. Man kann sich vorstellen, was geschieht, wenn diese radikalen Simplifikationen direkt auf das Leben, auf das Empfindliche, das Überkomplexe angewendet werden. Der Sinn für Metaphysik ist eigentlich nur der Sinn für gelebte Abstraktionen. Er ist das Ernstmachen mit der zweiwertigen Logik inverbindung mit dem einwertigen Seinsgedanken. Kierkegaard hat völlig zu recht bemerkt, daß im Kern der christlichen Botschaft eine Art Grausamkeit ohnegleichen am Werk ist - eine unermeßliche Überforderung des Menschen durch das Absolute, gegen welches wir immer und grenzenlos unrecht haben. Ohne eine mächtige primärmasochistische Disposition ist solches Ernstmachen mit der Hingabe an die Wahrheit kaum möglich - und die Ergebnisse sprechen für sich. Die Verbindung von Zwei.. wertigkeit und Ernstfallgesinnung ist das Ubelste, was in Hochkulturen passieren kann, und es passiert doch mit systemischer Notwendigkeit, weil alle Kulturen bisher auf die Ernstfall-Ethik geeicht waren - ein Gedanke, dem Bazon Brock und Heiner Mühlmann in ihren jüngeren Arbeiten Schärfe gegeben haben, Wenn es also ernst wird, geht das Den-
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ken von sich aus ins Weglassen über. Das Weglassen des Scheinhaften, Unwesentlichen, bloß Reflexiven und Negativen ist die ontologische Matrix des Opfers. Die allgemeine Pointe liegt darin, daß es das eigene Ich ist, das weggelassen werden muß, denn es steht immer auf der wesenlosen Seite. In der asymmetrisch interpretierten Zweiwertigkeit muß immer die eine Seite für die andere die Zeche zahlen, entweder das Nichts für das Sein oder das Sein für das Nichts, das Subjekt für die Substanz oder die Substanz für das Subjekt. Das Ost und West übergreifende Merkmal ist der Opferholismus, sprich die spirituelle Regel, daß sich das wesenlose Einzelne für das wesentliche Ganze freudig vernichten lassen soll. Den substanzmonistischen Systemen gilt als selbstverständlich, daß das Individuelle und Subjektive nur eine illusorische Abspaltung vom einzig wahrhaft seienden Einen und Ganzen darstellt und Erkenntnis oder Erleuchtung darum ipsofdcto zur Aufhebung des subjektiven Scheins führt. Hierdurch ist diese Metaphysik nichts anderes als eine Schule der Gewaltbereitschaft gegenüber sich selbst - und gegenüber Nichtigkeiten gleichen Ranges, zum Beispiel unerleuchteten Mitmenschen. Erkennen heißt in diesem Kontext: in die wahre Substanz eingehen oder vom vorgeblich Eigenen leer werden um des Einen willen. Die Neoplatoniker sprechen von der henosis, Einswerdung, während die lateinischen Väter von der unio reden. In der alten Ontologie besitzt, wenn man sich’s recht überlegt, durchweg der Satz Geltung: secwzdm non datw. Schon das Zweite ist nicht gegeben, schon die Welt als Anblick ist angesichts des Absoluten nur ein Schein, und erst recht ist das Subjekt oder der Reflexionsprozeß gegenüber der einen Substanz nur ein Nichts, eine pseudoreale Trübung, die man aufklären und wegschaffen soll. Darum ist diese Logik des mystischen Selbstopfers oder des Sterbens um der all-einen Wahrheit willen in den alten Weisheitstraditionen so tief verankert. Man sollte nicht überrascht sein, wenn sie hier und da mit offen kriegerischen Konnotationen auftritt. Nietzsche hat das mit seinemTalent zu
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Überdeutlichkeit in einem Brief an Lou Salome ausgedrückt: »Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergange.« Wenn die nötigen Prämissen beisammen sind, springt der Funke vom Kloster in die Burg über oder von der Meditationshalle in die Waffenhalle und in den Hangar, wo die Kamikaze-Maschinen warten. Wo die Japaner ihr Soldaten-Zen hatten, da hatten wir in Europa und im Westen den Kreuzzug, einen opfermystischen Aktionstypus, den man unterschätzen wurde, hielte man ihn für eine erloschene mittelalterliche Idee. Als General Eisenhower nach dem Zweiten Weltkrieg seine Memoiren unter dem Titel Crtisade in Ewope publizierte, war das in keiner Weise metaphorisch gemeint. Dennoch darf man nicht vergessen, daß es sich um verschleppte feudalontologische Denkformen handelt, die vor allem in Gesellschaften mit großen Modernisierungsrückständen wie Deutschland und Japan eine Nachkonjunktur erleben konnten. Allgemein wird die Wiederkehr der Aktionsmystik dadurch erleichtert, daß alle Staaten im Krieg heroische und opferholistische Sprachen gebrauchen. Im Krieg schlägt die Stunde der Wahrheit für die philosophiaperenf2i.L
Kurzum, wenn Brian Victoria lokale Liaisonen zwischen Buddhismus und Nationalismus aufdeckt, so ist das ein Kapitel nachholender Religionskritik an einem von Europäern oft idealisierten Fernen Osten. Es gibt ähnliche jüngere Aufklärungsunternehmen für die dunkle Seite des tibetischen Lamaismus und andere theokratische Systeme. Wir erinnern uns daran, daß vor nicht langer Zeit grauenvolle Morde im indischen Sitz des Dalai Lama verübt worden sind - es wurden Mönche von Angehörigen einer rivalisierenden tibetisch-buddhistischen Sekte lebend gehäutet. Man findet da den Stoff zu Schauerromanen jenseits der Vorstellungskraft von Liebhabern östlicher Spiritualität. Die schärfsten Abrechnungen mit solchen schockierenden Phänomenen stammen aus der Feder von enttäuschten Idealisten, die sich von den überkritisierten
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Formen der westlichen Religion, insbesondere Judentum und Christentum, einem unterkritisierten Osten zugewendet hatten. Sie erleben manchmal ein Erwachen, das nicht in allem der Erleuchtung gleichkommt. Die Denkaufgabe besteht aber in etwas viel Umfassenderem in der Notwendigkeit, die opferholistische Denkform als solche aufzuheben, und mit ihr das gesamte Paradigma der zweiwertigen Weltauslegungen. Von diesen stammt unser Erbe an Paranoia, von der wiederum der militante Ernst abhängt und dessen ganzes Gefolge an Auslöschungsbereitschaft nach innen und außen, Was klinisch Paranoia heißt, ist bewußtseinstheoretisch die Folge aus dem allzu engen Sichanketten von Kultursubjekten an ihre Weltbilder, ihre Gemeinschaften und ihre Moralen - Luhmann würde von Identifikation mit Weltbeschreibungen erster Ordnung sprechen. Die überfällige Abkehr von den Opfersystemen gelingt nur dann, wenn man die Kampfmetaphysik und den Militärholismus, allgemeiner: den politischen Holismus der historischen Gruppen außer Kraft setzt, ohne in die individualistische und nihilistische Falle zu laufen - das ist die Wette der zeitgenössischen Philosophie, wo sie auf der Höhe der Probleme denkt. Natürlich ist das auch das Engagement des Sph&a-Projekts. Unser Ernstfall besteht darin, daß wir den Ernstfall der Zweiwertigkeit, die tötet, unterwandern. Jedes Weltalter hat eine Idee von dem, was ihm als das Ernsteste gelten soll - und für uns ist die Überwindung der Feindlogik der Gedanke, ernster als welcher nichts gedacht werden kann. Der Feind ist die eigene Zweiwertigkeit als Gestalt. Was den allgemeinen Teil der Korrektur am altmetaphysischen Modell angeht, so sind sich die meisten Modernen darin einig, daß bei uns das secwzdzm dattirontologisch und das tertizlm dattir logisch gelten soll - also lassen wir nicht nur das Sein zu, sondern auch das Nichts. Sein ist, und Nichts ist. Neben Ja und Nein gibt es nun auch auf der theoretischen Ebene immer eine dritte Option. Wir geben dadurch der Realität der Differenz
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den Vorzug vor dem Wert der Identität und lassen den Unterschied, das Einzelne und das Nichts real sein. Damit ist der Rückführung des Einzelnen in die eine Substanz ein Riegel vorgeschoben, der lokal-monistische Moloch wird nicht länger gefüttert. Im übrigen ist die Parallele zwischen dem Imperialismus des kaiserlichen Japan und dem europäischen Faschismus trügerisch, man merkt es an dem maulenden Zungenschlag der Herren Hess und Hitler, Bei letzteren hat es sich von Anfang an um einen Gangster-Holismus und eine reaktionäre ReichsBastelei gehandelt, Hess spricht nicht ganz zu unrecht vom Totalitarismus als einer neuen Idee - denn die faschistoide Verbindung des traditionellen Holismus mit dem modernen Konzept der totalen Mobilmachung ist etwas, wofür es in der Geschichte der politischen Ideen kein Beispiel gibt. Es handelt sich um eine Improvisation von Emporkömmlingen, die sich ideell ein wenig Substanz anschaffen wollten. Hitler, Hess und Co. waren Aufsteiger und Verbrecher, die sich für eine mit den Methoden von Arrivisten kompatible Weltanschauung interessierten - es ist ein wenig unheimlich, wie sie dabei nach Osten schielten, als könnte man von dort Ideen importieren, die geeignet wären, westliche Freiheitstraditionen zu unterhöhlen! Im Osten selbst stellte sich die Lage ganz anders dar. Viele Anhänger des »kaiserlichen Weges« in Japan waren noch tragische Holisten alten Schlages. Für sie existierte jenes Ganze noch in einer scheinbar substantiellen Form, zu dessen Gunsten sich der einzelne in Übereinstimmung mit dem heroischen Codex opfern sollte. Zumindest war das der persönliche Glaube vieler Kämpfer. Sie wurden von ihrer überholten historischen Situation zum Narren gehalten. Ich erinnere daran, daß Ivan Morris in seinem Buch Adel des Scheiterns die KamikazePiloten von 1944-45 in eine Tradition des vornehmen Untergangs eingeordnet hat, die bis ins frühe japanische Mittelalter zurückreicht. In psychoanalytischer Sicht möchte man sagen, daß es in allen Feudalsystemen darum ging, primärmasochi-
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stische Energien durch eine grandiose Codierung in die Kultur zu integrieren. Alle hochgetriebenen Dienstgedanken zehren von dieser Umwandlung. Bis 194j schien für die östlichen Kämpfer, wenigstens für einen Teil von ihnen, die Hingabe an das Ganze als eine intakte Geste möglich zu sein. Man muß in Rechnung stellen, daß es für traditionalistische Japaner damals undenkbar war, im eigenen Staat eine Verbrechensagentur zu vermuten, denn die Gehorsamskultur des Ostens war noch um vieles dichter als die europäische, die immerhin schon tiefe Risse zeigte. Wir hatten spätestens seit dem Aufkommen des Liberalismus und des Anarchismus im 19. Jahrhundert Ansätze zu einer autoritätskritischen Gegenkultur. Rückwirkend wird die Tragödie von der Farce unterhöhlt: nun erscheint die opferholistische Maschinerie vollends monströs und unerträglich - viel später wurde auch bekannt, daß man bei den Tausenden von freiwilligen Helden, die sich mit ihren Bomben auf die amerikanischen Schiffe stürzen sollten, oft mit nicht ganz vornehmen Methoden nachgeholfen hatte, mit Alkohol, mit Drohungen, mit einschüchternder Überredung, mit Abschiedskitsch und ergriffen winkenden Mädchen. Dennoch scheint es eine beträchtliche Zahl von authentischen Romantikern gegeben zu haben, die sich dem edlen Sport des Todes verschrieben hatten. Man weiß nicht recht, was man über einen Mann denken soll wie jenen xjährigen Piloten von der Kampfstaffel Sieben Leben, der, als er im Februar 1945 umkam, ein Haiku hinterließ: »Könnten wir fallen/Wie Kirschblüten im Frühling /So rein und strahlend!« Die bemannten Bomben wurden Kirschblüten genannt, und ihre Piloten waren dazu erzogen worden, sich dafür zu bedanken, daß sie für ihre Selbstmordeinsätze ausgewählt worden waren, Sollte man einem solchen jungen Mann vielleicht einen Nachruf widmen, der in einem Nietzsche nachempfundenen Ausspruch Hannah Arendts besteht: »Keiner hat das Recht zu gehorchen«? Die albtraumartigen Aufblähungen des politischen Holismus sind im gesamten Wes ten -und wohl auch in Japan -nach 194>
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aufgrund der neuen Sinnverhältnisse implodiert. Das macht die Situation für die Nachgeborenen sehr viel einfacher, denn die Versuchung durch den erhaltenen Holismus der Imperien und den National-Holismus der Staaten ist bei uns praktisch wirkungslos geworden. Das Ganze, an das sich die neueren Holisten halten können, ist nicht mehr national und imperial codiert, sondern global, planetarisch, menschheitsweit. Noch nie war es so leicht, Universalist zu sein. Es ist eine Nebenwirkung des globalisierten Kapitalismus, daß nun auch die Spiritualität wie von selbst transpatriotisch, postnational und postimperial auftritt. H.-J. H. Wir sind offenbar wieder mitten im Versuch, den historischen Ort zu bestimmen, an dem das sphärologische Denken einsetzt. Man spricht heute viel von der nach-metaphysischen Situation, aber die Charakterisierung der neuen Denkbedingungen ist, wie wir im Gang unserer Gespräche immer wieder bemerken, nicht so einfach zu leisten, wie man in den politisch korrekten Kreisen meint. Ich möchte unsere Überlegungen nun eher in eine kosmologisehe oder kosmogonische Perspektive lenken. Der Ausdruck »Kosmogonie« zielt mehr auf das mythische Reden über das kosmische Ganze und seine Ursprünge, »Kosmologie« hingegen mehr auf naturwissenschaftliche Welterklärungen. Für den Augenblick genügt vielleicht der Hinweis, daß das Eine der Philosophie, des Mythos und der Naturwissenschaften letztlich nicht so weit auseinanderliegen. Wir finden in den neuen Kosmologien Begriffe oder, richtiger: Bilder und Metaphern, die wir von der Mythologie und der Literatur her seit langem kennen. Ich greife einige dieser Metaphern aus der neuen Kosmologie heraus: die Vorstellung vom Kosmos als einem Wellenmeer, in dem sich jede Bewegung, jede Veränderung wie durch »verbindende Muster« im gesamten Wirkungsfeld fortpflanzt; man könnte von einem »kosmologischen Ozean« sprechen. Es ist ferner die Rede von kosmischen »Zyklen«, von einem pulsierenden Universum; die
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von uns beobachtete Welt taucht gleichsam in periodischen Abständen aus einem Meer von energetischen Strömen auf und versinkt wieder darin. Es fällt nicht schwer, von hier aus den Bogen zu schlagen zu der altindischen Vorstellung von Prana und Akasha im RajaYoga oder der alten chinesischen Vorstellung von CPi, der Ureinheit, oder vom Tau, über das es bei Lao Tse heißt: »Bevor Himmel und Erde entstanden, war da ein unbestimmbares Etwas - ganz ruhig und ganz leer. Es steht allein für sich unveränderlich; und unermüdlich wirkt es überall. Man mag es für die Mutter von allem halten, was unter dem Himmel ist. Ich kenne seinen Namen nicht, aber man soll es 2äo nennen.« Und in den Mtindaka Upanzibaden heißt es von Brahman, der »Mutter aller Dinge«, dem Urgrund des Universums: »Brahman dehnt sich aus; aus ihm ist die Materie hervorgegangen, und aus der Materie das Leben, der Geist, die Wahrheit und die Unsterblichkeit.« Ervin Laszlo kommentiert dies so: »Die wahrgenommene Welt ist eine natürliche und spontane Emanation aus dieser unveränderlichen und unvergänglichen Sphäre.« Der Sphärenbegriff taucht somit auch in der zeitgenössischen kosmogonischen Spekulation auf Das berechtigt mich zu der Überlegung, ob sich nicht der Bogen spannen läßt vom modernen physikalischen Bild des »kosmologischen Meeres« zur Kosmos-Sphäre der alteuropäischen Kosmologie, die Sie in Sphären 11 in Erinnerung rufen. P.S. Ich muß zunächst dagegenhalten, daß in meinen Entwürfen naturwissenschaftliche Ausdrücke eine untergeordnete Rolle spielen. Das liegt daran, daß der Sphärenbegriff, wie ich ihn verwende, durch den Ausgang bei der Prä-personalen dyadischen Grunderfahrung geprägt ist. Er akzentuiert die quasi surrealen Raumschöpfungen zwischen Menschen. Ich interessiere mich nicht so sehr für den Raum der Physiker - solange er konventionell gedacht wird. Was mich angeht, ist der Raum der Surrealisten und der Symbolisten, der Raum der Haß- und Lie-
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bespaare, der geteilte Raum der primitiven Gruppen und der imaginierten Gemeinschaften. Deswegen beschränken sich die Berührungspunkte der sphärologischen Raumanalyse mit den Kosmologien der Naturwissenschaft auf ganz wenige Momente. Gemeinsamkeiten zwischen der zeitgenössischen Physik und der Sphärologie setzen erst dort wieder ein, wo die Naturwissenschaften ihrerseits an die Grenzen gehen und sich in exoterisehe, psychologisch relevante Bilder übersetzen, Dann können die symbiotischen, symbolischen und surrealen Raumstrukturen, die ich in meiner Interpersonal-Kosmologie oder dyadischen Raumtheorie beschreibe, mit Grenzaussagen der physikalischen Kosmologie in Zusammenhang gebracht werden. Aber wie Sie selber sagen, geschieht das dadurch, daß die moderne Naturwissenschaft in Popularisierungen Metaphern benutzt, die an die Sprachen des bewohnten, erlebten und animierten Raums anschließen. Völlig anders stellt sich die Sache unter einem historischen Blickwinkel dar: In dem Globen-Buch zeige ich, daß auch die klassische Kosmologie oder Kosmo-Ontologie nur eine riesige Ausweitung des Eigenraum-Gedankens war, oder wie wir früher gesagt haben, ein Nabel-Extensionsweltbild. Die alte Kosmologie ist also im Grunde ein metaphorisches Immunsystem, eine Inflation der symbolischen und lebensweltlichen Sphäre, ein Exzeß der Häuslichkeit im Großen und Größten. Hier galt die heilige Allianz zwischen Theologie und Kosmologie, zwischen Selbstaussage und Weltbeschreibung: die eigenen Götter mußten in diesen Systemen natürlich immer auch die Prinzipien des Universums sein. Eben mit dieser Denkweise hat die Moderne gebrochen, um freie Bahn zu schaffen für ihre operativen Revolutionen. Darum sind die Theologen der Gegenwart, ob jüdisch, protestantisch oder katholisch, in kosmologischen Angelegenheiten kleinlaut geworden, bis hin zur völligen Abstinenz von Aussagen über die Natur. Sie interpretieren nur noch einen Gott der Kommunikationen. Das ist, gemessen an der Tradition, ein Halbatheismus, das heißt ein