Der Atem Gottes und andere Visionen 2004
herausgegeben von Helmuth W. Mommers
SHAYOL
Helmuth W. Mommers (Hrsg.): Der Atem Gottes und andere Visionen 2004 Deutsche Erstveröffentlichung © 2004 der Gesamtausgabe bei SHAYOL-Verlag, Berlin © 2004 der Einzelwerke bei den Autoren Myra Çakan: »Im Netz der Silberspinne« erschien ursprünglich 2002 unter dem Titel »Spider’s Net« im Internetmagazin THE INFINITE MATRIX (hrsg. Eileen Gunn) © 2004 des Umschlagbildes bei Galeria Enrique Moreno, Palma de Mallorca Titelbild: »Los cazadores de ángeles«, Julio Viera 2004, Öl auf Leinwand, 203 x 143 cm
Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Hannes Riffel Umschlaggestaltung: Ronald Hoppe & Helmuth W. Mommers Layout: Hardy Kettlitz Herstellung: Ronald Hoppe Druck und Bindung: FINIDR s.r.o. Printed in Germany SHAYOL Verlag Bergmannstraße 25 10961 Berlin E-Mail:
[email protected] Internet: www.shayol-verlag.de ISBN 3-926126-42-6
Eine Sammlung von thematisch unterschiedlichen Kurzgeschichten bekannter deutschsprachiger SFAutoren und Nachwuchstalenten. In einer Zeit, in der so renommierte Verlage wie z. B. Heyne ihr SF-Angebot zurückfahren, versucht Shayol nun mit dem 1. Band einer jährlich erscheinenden Anthologie den Kurzgeschichtensektor neu zu beleben. Neben etablierten Autoren finden sich unter den 17 Geschichten auch Nachwuchstalente. Andreas Eschbach, einer der erfolgreichsten SFAutoren, macht sich Gedanken zum Thema Müllentsorgung per Quantensprung; für Herbert W. Franke, seit den 1960ern einer der renommiertesten Vertreter des Genres, ist die Liebe nur eine banale Virusinfektion und Marcus Hammerschmitt, bekannt für anspruchsvolle zeitgenössische SF, beschreibt, „wie ein Überlebender sich in einer Welt zurechtfindet, die sich in einen surrealen Albtraum verwandelt hat“. Dem Herausgeber H. W. Mommers, selbst mit einer Kurzgeschichte vertreten, ist mit seiner Auswahl ein thematisch breit gefächelter Band gelungen.
Vorwort
Warum diese neue Reihe – die jährlich erscheinenden VISIONEN? Gibt es für deutschsprachige SF-Autoren nicht bereits genügend Veröffentlichungsmöglichkeiten? In der angeblichen literarischen Wüste, die den radikalen Kürzungen im SF-Programm von Heyne folgte, tummeln sich speziell auf dem Kurzgeschichtensektor mittlerweile neben Periodikas wie dem C’T-Magazin, ALIEN CONTACT und PHANTASTISCH! neu das NOVA-Magazin und die SFStory-Olympiade, begleitet von der einen oder anderen Anthologie und Collection. Alles in allem erscheinen dieses Jahr an die 200 SF-Storys deutscher Zunge, das ist hinreichend Raum sowohl für Nachwuchsautoren als auch für bereits Etablierte und deutlich mehr als je zuvor. Zu kurz kamen die Leser nur, wenn es um die prominenten, die professionellen Autoren ging, denen ein geeignetes Podium fehlte. Dieses Podium wollen wir sein: Nicht in Konkurrenz zu den anderen Publikationen, sondern als Bereicherung der Szene. Allerdings müssen wir Acht geben, dass wir uns nicht unser eigenes Ghetto schaffen. Denn wo ist der Verlag, der die Kurzgeschichten fremdsprachiger Autoren veröffentlicht? »I have a dream«, sagte einst Martin Luther King, und meinte eine Vision jenseits göttlicher Eingebung, von einer Zeit, in welcher… nun, in welcher sich für seine geplagten Zeitgenossen eine hoffnungsvolle Zukunft entfalten möge, eine Utopie. Anders die Science Fiction-Autoren: Wenn sie von Visionen sprechen, glaubt der Uneingeweihte, sie wollten Prophet spielen und die Zukunft voraussagen. Weit gefehlt! Wenn sie,
die Trends der Zeit verfolgend, extrapolieren, spekulieren, phantasieren und ihre Visionen von einer möglichen (aber oft auch völlig unmöglichen!) Zukunft entwerfen, dann ist das Ausdruck unserer Sehnsüchte und Ängste: Mal wollen sie warnend den Finger heben, mal sich verschmitzt ins Fäustchen lachen, mal uns ein Fünkchen Hoffnung geben – wollen uns zum Denken anregen, vor allem aber wollen sie unterhalten. Kein Wunder, dass Dystopien vorherrschen in einer Zeit sich überschlagender technologischer Umwälzungen, globaler Vernetzung von Wirtschaft und Politik und einem Worldwide Web, durch das sich Ideen, radikal nationalistische wie fundamental religiöse, blitzschnell und gespenstisch ausbreiten wie im Mittelalter die Pest. – Wo bleibt die Utopie? Vorbei die Zeiten der Technologiegläubigkeit, wie sie in den 30er- bis 50er-Jahren die Science Fiction geprägt hat! Wo ist der Silberstreifen am Horizont? Vorerst nicht zu sehen. Wir üben uns fleißig in Schwarzmalerei und Sarkasmus. Also stürzen wir uns mit Küper, Çakan, Kerber, Isenberg und Armer in eine düstere Zukunft. Atmen erleichtert auf bei Simon, Franke, Erler und Hermann, die dem Unbill noch etwas Komisches, etwas Erheiterndes abgewinnen können. Schaudern zur Abwechslung bei Gruber, Mommers, Marrak, Gardemann und Sembten. Und ergötzen uns am PhilosophischMystischen eines Doege, an der augenzwinkernden Utopie eines Eschbach und an der surrealen Endzeitgroteske von Hammerschmitt. Meine eigene Vision, auf diese Anthologie-Reihe bezogen, ist es, in den nächsten ein, zwei Ausgaben auch die übrigen hervorragenden Vertreter der deutschsprachigen Kurzgeschichtenszene als Autoren zu gewinnen – darunter Bach, Brandhorst, Hahn, Iwoleit, Jeschke, Maximovic,
Pukallus, die Steinmüllers und Vlcek; und den einen oder anderen Newcomer aufs Podium der Profis zu hieven. Helmuth W. Mommers
Andreas Eschbach (*1959) gilt spätestens seit dem Roman Das Jesus Video, der auch verfilmt wurde, als erfolgreichster deutscher SF-Autor. Mehrere seiner Romane wurden mit dem Kurd Laßwitz Preis oder/und mit dem Deutschen SF Preis ausgezeichnet, so Die Haarteppichknüpfer, Solarstation, Das Jesus Video, Kelwitts Stern, Quest und Der Letzte seiner Art. Die Story »Die Wunder des Universums« erhielt den Deutschen SF Preis. www.andreaseschbach.de
ANDREAS ESCHBACH Quantenmüll
Ich habe mir den Luxus erlaubt, den Kamin anzufeuern. Ich werfe einen Scheit nach dem anderen in die Rammen, sehe zu, wie sie verbrennen, stelle mir bildlich vor, wie schwarzer Rauch aus meinem Schornstein quillt, um sich in der Atmosphäre zu verteilen, und trinke meinen besten Rotwein dazu. Die Flasche, mit der ich mich im Moment befasse, hat einmal viertausend Euro gekostet. Eines der edelsten Stücke meines Kellers, abgesehen von der davor, für die ich, glaube ich, zehnoder elftausend Euro hingeblättert habe. Damals. Und sie ist es wert gewesen, muss ich sagen. Mal sehen, wie weit ich noch komme. Darüber hinaus habe ich nichts mehr vor. Ich habe Zeit, wie man so sagt. Zeit, ja. Sie vergeht, und das ist wohl das Einzige, was man mit Bestimmtheit über sie sagen kann. Sekunde um Sekunde verrinnt sie, und mit ihr unser Leben.
Unaufhaltsam. Es macht Tick, es macht Tack, und wieder ist ein Augenblick dahin – unwiderruflich, unwiederbringlich. Ist das nicht das größte Rätsel überhaupt – die Zeit? Was für eine Anmaßung von uns, etwas über sie aussagen zu wollen. Zeit: das Baumaterial unseres Lebens. Unser Leben ist aus Zeit gemacht, ist Zeit. Und wenn es zu Ende geht… und es geht zu Ende, ohne jeden Zweifel… dann blicken wir auf die Zeit zurück, die wir durchmessen haben, die wir gestaltet haben – oder die uns gestaltet hat –, betrachten die Entscheidungen, die wir getroffen haben, und erkennen, welche Auswirkungen sie hatten. Wie sie uns von einem Punkt unseres Lebens zu einem anderen geführt haben und schließlich dorthin, wo wir jetzt stehen. Ich zum Beispiel war nicht immer so reich. Es war auch nicht damit zu rechnen gewesen. Wenn man Physik studiert, wie ich es getan habe, und mit Mühe seinen Doktor zustande bringt, dann ist Reichtum das letzte, was man erwarten sollte. Dennoch sitze ich hier, in diesem riesigen Haus, das auf einem Landgut steht, das mir gehört, so weit mein Auge reicht, und das heute Abend so still ist wie selten zuvor, weil ich dem Personal freigegeben und die Telefonanlage abgestellt habe. Dass ich den Abend damit verbringen kann, von den besten Weinen der Welt so viel zu trinken, wie ich will, geht letztlich auf eine Entscheidung zurück, die ich vor dreißig Jahren getroffen habe. Diese Entscheidung hat auch bewirkt, dass es Unsinn wäre, die Flaschen noch länger aufzubewahren. Vermutlich schreibe ich diesen Bericht nur, weil ich es nicht ertrage, überhaupt nichts zu tun.
Nach dem Studium war ich einige Zeit arbeitslos, wie üblich, und fand schließlich eine schlecht bezahlte Stelle an einem Kernforschungszentrum, für die ich überqualifiziert war. Im
Grunde arbeitete ich als Wartungstechniker für den Teilchenbeschleuniger. Dreizehn Kilometer muffiger Tunnel, hundertachtzigtausend Beschleunigerspulen, unendlich viele Kabel, und alles musste funktionieren. Mein Chef, der technische Leiter, war ein Idiot, der aus zwanzig Seiten Verlaufsprotokoll immer nur herauslesen konnte: »Irgendwo muss ein Fehler sein. Kümmern Sie sich drum, Steinbach.« Kein »Doktor Steinbach«, nicht einmal »Herr Steinbach«, und das Wort »bitte« kam in seinem Wortschatz überhaupt nicht vor. Kurz nach mir wurde noch jemand zu meiner Verstärkung eingestellt, ebenfalls ein Doktor der Physik und ebenfalls unterfordert mit dem, was wir zu tun hatten. Er hieß Konrad Hellermann, und im Gegensatz zu mir nahm er die Dinge mit stoischer Gelassenheit hin. Meine Laune verschlechterte sich dagegen mit jedem Monat, der verstrich. Der Vorfall, von dem zu berichten ist, ereignete sich an jenem Tag, an dem ich Konrad von meinem Bruder erzählte. Ich halte das für eine nicht ganz unwesentliche Einzelheit, denn andernfalls wäre mir die entscheidende Idee vielleicht nie gekommen. Denn damals gab ich mir größte Mühe, möglichst wenig an meinen Bruder zu denken. Dieter war zwei Jahre jünger als ich, und es war von Anfang an klar gewesen, dass ich studieren würde und er nicht. Während ich gute Noten nach Hause brachte und schließlich sogar ein Abitur, das sich sehen lassen konnte, schaffte er gerade mal die Hauptschule, und auch das nur mit Ach und Krach. Während ich zielstrebig durchs Studium pflügte, ließ er sich ziellos treiben, jobbte hier und da und schwängerte schließlich die schöne junge Tochter eines hässlichen alten Schrottplatzbesitzers. Sie heirateten, sein Schwiegervater übergab ihm das Geschäft, und von da an scheffelte er haufenweise Geld. Ich dagegen hatte am Ende eine Urkunde,
die mir die Würde eines Doktors bescheinigte, war arbeitslos und fuhr nur die Strecken mit der Straßenbahn, die zu Fuß nicht zu bewältigen waren. Dieter fuhr natürlich einen dicken Mercedes, in dem es zwar aussah wie auf einer Müllhalde und stank wie in einem Klärwerk, aber es war ein Mercedes. Mein Bruder hatte weder Manieren noch Stil oder Geschmack, und jeder wusste, dass die eine Hälfte seiner Geschäfte krumme Dinger waren und die andere Hälfte illegal, aber trotzdem saß er im Gemeinderat. Da musste man sich doch fragen, was man im Leben falsch gemacht hatte, oder? »Ach ja«, seufzte Konrad, während wir mit unserem kleinen Elektrowagen den Beschleunigertunnel entlangsummten. »Als Wissenschaftler gilt man heutzutage einfach nichts mehr. Oder hat schon einmal jemand zu dir gesagt: ›Ach, Sie sind Quantenphysiker, wie beeindruckend?‹ Eine Frau womöglich? Bestimmt nicht. – Halt mal da vorne, neben dem Schaltkasten.« Seit ein paar Tagen suchten wir nach einem überaus rätselhaften Fehler. Alle Kontrollsysteme meldeten normalen Betriebszustand, doch wenn die Anlage feuerte, kam kein einziges Elektron in der Versuchskammer an. Da wir in einer Trilliardstelsekunde ungefähr so viel Energie verheizten wie eine Kleinstadt in einem ganzen Jahr, war das ein nicht unbeträchtliches Ärgernis. Und von uns wurde erwartet, dass wir es aus der Welt schafften. »Schau mal«, brummte Konrad und klopfte gegen eine der Spulen. »Mit der stimmt doch was nicht, würde ich sagen.« Ich war seiner Meinung, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Eine Beschleunigerspule war eine knapp sieben Zentimeter dicke Metallscheibe von etwa anderthalb Meter Durchmesser, die komplizierte Spulenwicklungen enthielt, Anschlüsse, Dichtungen und so weiter. Hintereinander gestapelt wie Brotscheiben im Beutel, bildeten sie den
Schusskanal des eigentlichen Beschleunigers. Das war ein neues Patent, das die Baukosten eines Teilchenbeschleunigers durch Serienfertigung enorm reduzierte. Der einzige Nachteil bestand darin, dass immer mal wieder Spulen ausfielen und ausgetauscht werden mussten, was jedesmal eine Schweinearbeit war. Die Spule, auf die Konrad gezeigt hatte, schimmerte seltsam. Natürlich erzeugten die müden Lampen an der Tunneldecke auf dem Metall alle möglichen Reflexe, aber im Lauf der Zeit lernte man, die Feinheiten zu unterscheiden. »Verzogen«, konstatierte ich grimmig. »Wahrscheinlich ist einer von der Putzkolonne mit dem Wagen dagegengerauscht und hat schön fein den Mund gehalten.« Ich griff nach dem Werkzeugkasten. »Also, raus damit.« Wir gaben Bescheid, dass wir einen Austausch vornehmen würden, und machten uns an die Arbeit. Oben ließen sie nach unserem Anruf wahrscheinlich die Stifte fallen und verabredeten sich in einem Biergarten, denn für sie war der Tag damit gelaufen. Allein bis der Schusskanal, in dem natürlich normalerweise Vakuum herrschte, mit Luft geflutet war, vergingen anderthalb Stunden. Das wäre zwar auch schneller gegangen, aber dann hätte sich die einströmende Luft zu stark abgekühlt und eventuell andere Bauteile beschädigt. Das Vakuum wieder herzustellen, dauerte schließlich gut und gerne die ganze Nacht. Wir nutzten die Zeit, um eine Austauschspule aus dem Lager zu holen und durchzuchecken. Doch als wir endlich soweit waren, die verdächtige Spule herauszunehmen, ging es nicht. Sie schien regelrecht festzukleben, gab nicht einen Millimeter nach. »Restmagnetismus«, diagnostizierte Konrad. Das war kein seltenes Problem. Spulen wurden im Betrieb manchmal magnetisch, und dann hingen sie so fest an ihren Nachbarn,
dass man sie mechanisch nicht entfernen konnte, ohne die gesamte Konstruktion des Beschleunigers zu beschädigen. Vom nötigen Kraftaufwand ganz zu schweigen. Das war einer der seltenen Fälle, in denen man es mit Köpfchen weiter brachte als mit schierer Kraft. Denn man musste nur elektrischen Strom so in die Spulenwicklungen leiten, dass eine eventuelle Restmagnetisierung durch ein entgegengesetzt gerichtetes Magnetfeld unwirksam gemacht wurde. Unser Elektromobil verfügte eigens zu diesem Zweck über Anschlusskabel und eine fein regelbare Stromversorgung. Wir schlossen also die Spule an die Batterie an, trennten sie vom restlichen Stromkreis und regelten den Strom so weit hoch, dass wir sie mit dem Heber des Wagens problemlos heraushieven konnten. Zu unserer grenzenlosen Überraschung stellten wir fest, dass sich im Inneren der Spule etwas befand, das aussah wie die Haut einer großen Seifenblase. Es schimmerte so eigenartig, dass wir respektvoll Abstand hielten. »Was ist denn das?«, murmelte Konrad. »Vielleicht ein Hochspannungsphänomen?«, war meine Hypothese. Extrem hohe Spannungen, wie sie in einem Teilchenbeschleuniger zum Alltag gehören, können überaus merkwürdige Effekte hervorrufen. Damals ging das Gerücht um, in einer japanischen Anlage sei ein Kugelblitz entstanden und habe vier Wissenschaftler getötet. Konrad konsultierte die Messgeräte. »Kann ich mir nicht vorstellen. Ein Hochspannungsphänomen, das man mit Gleichstrom am Leben halten kann? Aus Batterien! Und der Stromverbrauch liegt nur bei drei Watt. Da verbraucht ja mein Radiowecker mehr.« Ich griff nach einem der Schraubenzieher mit isoliertem Griff. »Dann wollen wir mal«, sagte ich, oder so etwas ähnliches, und piekste damit auf das eigentümliche… Feld ein.
In dem Moment, in dem ich das blasenartige Etwas mit der Spitze berührte, hörten wir ein Geräusch, als atme jemand ein. Eine unwiderstehliche Kraft riss mir den Schraubenzieher aus der Hand, und im nächsten Augenblick war er spurlos verschwunden.
Es muss ein eigentümlicher Anblick gewesen sein, wie wir da in dem dunklen Tunnel vor dem metallenen Spulenring standen: wie Tiger vor dem Feuerreif, nur ohne Feuer. Innerhalb einer Viertelstunde waren wir sämtliche Schraubenzieher losgeworden, Konrads letzte Packung Zigaretten und alle Dichtringe, die wir dabeigehabt hatten. »Wir müssen allmählich damit aufhören, sonst kommen wir dem Materiallager gegenüber in Erklärungsnot«, sagte Konrad schließlich. Ich grübelte noch immer über dem rätselhaften Effekt. Die Idee, es mit Dichtringen und Zigaretten zu versuchen, war von mir gekommen. »Man müsste etwas riechen, wenn die Gegenstände verdampfen würden, richtig? Tabakrauch oder verbrannten Gummi. Das würde man riechen.« Konrad schüttelte den Kopf. Er hatte das Messgerät die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. »Das kann gar nicht sein. Der Stromverbrauch liegt konstant bei 2,907 Watt. Konstant! Das ist nicht genug Energie, um auch nur einen Mückenflügel zu verdampfen. Von einem massiven 16-Millimeter-ChromVanadium-Schraubenzieher ganz zu schweigen.« Er sah auf und schaute mich mit Augen an, die durch seine starke Brille ins Unnatürliche vergrößert wurden. »Jens«, sagte er mit jenem Tonfall, den man sich für weltbewegende Momente aufsparen sollte, »dafür gibt es nur eine Erklärung.« »Genau«, sagte ich. »Ein Quanteneffekt«, sagte Konrad.
»In makroskopischen Größenordnungen.« Ich nickte. Offenbar war uns zur gleichen Zeit der gleiche Gedanke gekommen. »Das heißt, die Gegenstände verschwinden tatsächlich.« »Ja. Sie verschwinden in einem… ich weiß nicht, in irgendeinem anderen Elementarzustand vielleicht.« Ich betrachtete den stillen, düsteren Stahlwurm des Beschleunigers und das matt schimmernde Feld in dem Spulenring am Greifarm der Hebevorrichtung. »Kein Wunder, dass kein Elektron in der Versuchskammer angekommen ist. Sie sind alle hier drin verschwunden.« Konrad strich sich die Haare zurecht, als erwartete er, dass jeden Augenblick Pressefotografen ums Eck bogen. »Das wird uns den Nobelpreis einbringen«, erklärte er. »Ruhm und Ehre. Einen Platz in den Annalen der Wissenschaft.« Er sah mich an, unnatürlich bleich, selbst wenn man das schlechte Licht dort unten in Rechnung stellte. »Man wird Universitäten nach uns benennen, wenn wir es jetzt nicht versauen, Jens.« Ich erwiderte seinen Blick und überlegte, wie ich es ihm beibringen sollte. »Langsam«, sagte ich. »Vielleicht weiß ich noch etwas Besseres.«
Man muss das richtig verstehen. Es war ja keine wissenschaftliche Entdeckung, die wir da gemacht hatten – es war Zufall. Wir hatten keine Ahnung, auf was wir da gestoßen waren. Wir hätten uns lächerlich gemacht, wenn wir damit sofort an die Öffentlichkeit gegangen wären. Was hätten wir schreiben sollen? »Wir haben ein Feld gefunden, das Gegenstände verschwinden lässt – aber wir haben keine Ahnung, wohin sie verschwinden, wir haben keine Ahnung, wie es funktioniert, und wir haben keine Ahnung, wie das Feld entstanden ist?« Unmöglich. Also hielten wir den Mund und
versteckten die Spule mit dem Feld, um erst einmal mehr darüber herauszufinden. Natürlich haben wir die Stromversorgung aufrechterhalten. Womöglich wäre das Feld kein zweites Mal aufgetaucht. Wir schafften den Spulenring mitsamt der Batterie unseres Elektromobils in einen leer stehenden Kellerraum, und ein paar Tage später schloss ich sicherheitshalber eine weitere Batterie an. Das ist jetzt über dreißig Jahre her. Das Feld ist noch da, weil wir den Strom nie abgeschaltet haben, die ganze Zeit über nicht. Denn es ist uns nie gelungen, ein zweites Feld zu erzeugen.
Im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass wir mit den Messinstrumenten, die sich auftreiben ließen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte, und den paar Stunden am Abend, die wir erübrigen konnten, nicht weit kommen würden. Wir mussten die Sache größer aufziehen. Mit anderen Worten: Wir brauchten Geld. Der einzige, den ich kannte, der Geld ohne Ende hatte, war mein Bruder. Wir schmuggelten ihn eines späten Abends an allen Sicherheitsleuten vorbei ins Institut und hinab in unseren Keller. Dort zeigten wir ihm den Ring, der wenig eindrucksvoll auf fünf alten Holzböcken lag und vor sich hin glomm. Wir konnten Dieter nur mit Mühe davon abhalten, mit der bloßen Hand in das Feld zu fassen. »Jetzt übertreib mal nicht so maßlos«, tönte er, nachdem ich seinen Zeigefinger vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. »Ich übertreibe nicht.« Ich drückte ihm ein Metallstück in die Hand, das ich aus der Werkstatt mitgenommen hatte. »Aha«, meinte Dieter mit Kennerblick. »Stahl. St-50, würde ich sagen. Fünfhundert Gramm, geschätzter Altmetallwert – «
»Steck es in das Feld«, sagte ich. »Was für ein Feld?« »Na, das, was da in der Ringspule so lustig schimmert. Du wolltest es gerade anfassen.« Dieter sah mich skeptisch an. »Und was passiert dann? Kriege ich einen elektrischen Schlag?« »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ehrlich nicht. Lass es einfach hineinfallen.« Er tat wie geheißen, was angesichts des Standes unserer geschwisterlichen Beziehung schon allerhand war. Und wie viele andere Gegenstände vor ihm verschwand auch der Stahlbolzen, anstatt auf dem Boden unterhalb des Feldes aufzuschlagen. Dieter zeigte Anzeichen gelinder Verblüffung. »Cool«, räumte er ein. »Echt cool. Und? Sag schon. Was ist der Trick dabei?« »Das ist kein Trick«, sagte ich. »Aber der Stahlbolzen? Wo ist der hin?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ins Innere der Sonne? Ins Zentrum der Milchstraße? Wir wissen es nicht.« »Wir würden es allerdings gerne herausfinden«, fügte Konrad hinzu, dem mein Bruder deutlich mehr Respekt einflößte, als Dieter verdient hatte. »Ja«, sagte ich. »Und dazu brauchen wir deine Hilfe.« »Meine Hilfe?« Schlagartig hatte Dieter wieder seinen normalen geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck täuschender Einfalt aufgesetzt. »Aber von solchen Sachen verstehe ich überhaupt nichts.« »Wir stellen uns das so vor«, erklärte ich ihm den Deal, den wir anzubieten hatten. »Du finanzierst ein kleines, feines, privates Forschungsinstitut, in dem wir dieses Feld erforschen. Dafür bekommst du eine Option auf eventuelle geschäftliche Nutzungsmöglichkeiten.«
»Wofür hältst du mich? Für einen Geldscheißer?«, versetzte Dieter ärgerlich. Er betrachtete die Ringspule und das Feld mit äußerster Skepsis. »Wer sagt mir, dass das kein Trick ist? So ein David-Copperfield-Ding, mit dem ihr mich über’n Tisch ziehen wollt?« Allmählich ging er mir auf die Nerven. Ich streckte die Hand aus und sagte: »Gib mir mal dein Handy.« Dieter zögerte, langte dann aber doch in die Tasche. »Hier.« »Angeschaltet, bitte.« Er gab seinen PIN-Code ein und reichte es mir dann. »Und jetzt?« »Deine Handynummer weißt du auswendig, oder?« »Klar.« »Fein«, sagte ich und ließ das Gerät in das Feld fallen. Choh! machte es, und weg war es. »Hee?!«, schrie Dieter auf. »Bist du wahnsinnig? Weißt du, was das gekostet hat?« »Null komma nix, wie ich dich kenne«, erwiderte ich und reichte ihm mein eigenes Mobiltelefon. »Bitte schön. Ruf es doch mal an, dein Handy.« »Wie bitte?« Er nahm das Gerät, das ich ihm hinstreckte, begriff aber überhaupt nichts. »Tu es einfach«, sagte ich. Er tat es. Wählte die Nummer, und das nächste, was er hörte – was wir alle hörten – waren die üblichen drei Töne und die Ansage, die immer kommt, wenn ein Mobiltelefon gerade nicht am Netz ist. »Ich hätte gedacht«, fuhr ich fort, »dass eine Möglichkeit, Dinge spurlos verschwinden zu lassen, dich eigentlich brennend interessieren müsste. Oder?«
Natürlich interessierte es ihn brennend. Das Agreement sah so aus: Tagsüber gehörte das Feld uns, nachts gehörte es ihm. Unser erstes Labor richteten wir im Keller eines Gebäudes ein, das direkt neben dem Firmengelände meines Bruders lag. Zu diesem Gebäude gab es einen unterirdischen Verbindungsgang, der laut offiziellen Unterlagen nicht existierte, und ab Einbruch der Dunkelheit karrten seine Leute auf diesem Wege all das heran, was Geld brachte, wenn man es verschwinden ließ: Dichlormethan, Quecksilberverbindungen, Altröntgenfilme, Chromschwefelsäurereste und Ammoniumdichromat. Ich lernte, dass ein Standard-Behälter Amershan Typ P blau ist und sechzig Liter wässrige langlebige Radionukleide aufnehmen kann. Und ich lernte, was man für seine fachgerechte Entsorgung in Rechnung stellen konnte. Einen wirklich erstaunlichen Betrag.
Ein Jahr lang bissen wir uns die Zähne an dem Phänomen aus, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen. Wir erdachten alle möglichen Versuchsanordnungen, stellten Hunderte von Theorien auf, ließen Scharen von Computern rechnen und rechnen und verbuchten trotzdem nur Fehlschläge. Mehrmals waren Konrad und ich soweit, die Geheimhaltung aufgeben und andere Wissenschaftler um Rat fragen zu wollen, doch Dieter bewahrte uns mit seinem Veto vor diesem Schritt. Entweder lösten wir das Rätsel selbst, oder es würde ungelöst bleiben. Die einzige nennenswerte Beobachtung machte Konrad, und damals hielten wir sie zweifellos beide für eine Bagatelle. Er stellte fest, dass der Stromverbrauch des Feldes zunahm. »Der Stromverbrauch?«, wiederholte ich irritiert.
»Am Anfang«, erklärte Konrad, »lag der Stromverbrauch bei 2,907 Watt. Steht an mindestens zwanzig Stellen in unseren alten Notizen vermerkt. Heute dagegen beträgt er 3,112 Watt.« Das Gespräch fand in unserem Besprechungszimmer statt. Anstatt Bücher über Quantenphysik zu studieren, hatte ich den ganzen Vormittag hindurch die Andrucke des neuen Leistungskatalogs von Dieters stetig expandierender Firma Korrektur gelesen. Ich schob das ganze Zeug von mir weg und fragte: »Drei Watt? Ist ja wahrhaftig nicht die Welt.« Konrad nickte. »Aber es ist trotzdem eigenartig, oder? Als würde alles, was in dem Feld verschwindet, dazu beitragen, eine Art Druck aufzubauen. Und je höher der wird, desto mehr Strom verbraucht das Feld.« Ich zuckte mit den Achseln. »Gut, aber ich sehe das Problem nicht. Das Feld könnte tausend Kilowatt verbrauchen und würde uns immer noch reich machen.« Das war eindeutig die falsche Antwort. Konrad sah mich an, seine Augen hinter der Brille wurden größer, und der Ausdruck von Enttäuschung darin war unübersehbar. »Im Grunde interessieren dich die wissenschaftlichen Zusammenhänge gar nicht mehr, stimmt’s?«, fragte er leise. Was hätte ich darauf sagen sollen? Er hatte Recht. Im Grunde interessierten mich die wissenschaftlichen Zusammenhänge tatsächlich nicht mehr. Seit ich angefangen hatte, in der Firma meines Bruders mitzuarbeiten, fand ich die wirtschaftlichen Perspektiven der ganzen Sache weitaus interessanter. Vor allem, als Konrad kurz darauf entdeckte, dass man das Feld teilen konnte. Dazu musste nur eine simple Magnetspule, auf eine ganz bestimmte Art und Weise gewickelt und mit Strom versorgt, in seine Nähe gebracht werden, und das Feld sprang über wie von einer Kerze auf ein Streichholz. Es war zum Schreien einfach.
Ich hatte sofort die Vision einer Welt vor Augen mit Millionen von Ablegern unseres Feldes, in denen aller Müll und aller Abfall verschwand. Nur: Mein Bruder war dagegen. Und dummerweise hatte er laut Vertrag das letzte Wort hinsichtlich der Verwertungsmöglichkeiten des Feldes. Und Verträge lesen, das konnte er. »Nein, nein und nochmals nein«, fauchte er, als ich das Thema zum bestimmt fünfzigsten Mal aufs Tapet brachte. »Wie oft müssen wir noch darüber diskutieren? Mein Geschäft ist es, Müll verschwinden zu lassen. Nicht, Geräte zu bauen, mit denen die Leute ihren Müll selber verschwinden lassen können. Und jetzt Schluss; ich muss gleich fort.« Während er in Ordnern und Ablagen wühlte, Papiere hervorzog und in seinen abgeschabten Aktenkoffer warf, sagte ich, auf die segensreiche Wirkung der Kombination von Beharrlichkeit und Ruhe hoffend: »Es wäre das größere Geschäft, Dieter. Damit werden wir zu einem Weltkonzern.« »So? Werden wir das?« Dieter lachte trocken. »Ich will dir mal was sagen: Einen Scheißdreck werden wir. Erledigt sind wir, sobald wir das Feld aus der Hand geben. Weißt du, was die Firmen, die schon Weltkonzerne sind, tun werden? Ihre eigenen Ableger davon herstellen, genauso einfach, wie ihr das macht. Dann machen sie das Geschäft selber, und wir sind außen vor.« Ich nahm den Ordner zur Hand, den ich mitgebracht hatte, und legte ihn auf den Tisch. »Ich habe drei Rechtsgutachten erstellen lassen, unabhängig voneinander. Sie besagen übereinstimmend, dass das Patentrecht uns erlaubt, eventuelle Käufer von Geräten durch Lizenzverträge dahingehend zu binden, keine eigenen Ableger des Feldes herzustellen.« Dieter hielt inne, musterte mich, den Ordner, dann wieder mich. »Das Patentrecht? Dass ich nicht lache. Jens, du hast das
Feld nicht erfunden – du hast es nur gefunden! Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wie es funktioniert, das sagst du doch selber. Wie willst du auf der Grundlage eine Patentschrift formulieren?« »Na und?«, versetzte ich. »All die Leute, die irgendwelche Gene patentieren, haben sie auch nicht erfunden, sondern nur gefunden. Und wie sie funktionieren, wissen sie auch nicht. Trotzdem verletzt du, wenn du diese Gene vervielfältigst, ihre Rechte und findest dich vor Gericht wieder, und zwar mit einer Klage, bei der dir die Tränen kommen.« Dieter schüttelte den Kopf und knallte den Aktenschrank zu. »Ich sage trotzdem nein, und damit basta.« Er schloss seinen Aktenkoffer. Ich seufzte. »Also gut. Aber eine letzte Chance musst du mir noch geben. Lass uns kurz in mein Büro rübergehen. Ich habe etwas, das unsere Differenzen aus der Welt schaffen wird.« »Wüsste nicht, was das sein könnte«, murrte Dieter, vergebens in allen Schubladen nach seinen Autoschlüsseln suchend. »Außerdem habe ich keine Zeit, ich sollte längst weg sein – « »Es dauert nur einen Moment.« »Wo sind diese verdammten Schlüssel, verflucht noch eins?« »Bitte«, sagte ich. »Danach brauchen wir das Thema nie wieder zu diskutieren, großes Ehrenwort.« Dieter seufzte abgrundtief. »Also gut, einen Blick. Wenn danach Ruhe ist…« »Versprochen.« Ich öffnete die Tür, die von seinem Büro in mein kleineres führte, das direkt daneben lag. »Bitte, nach dir.« Er stürmte vorwärts, wie es immer seine Art gewesen war, und als er begriff, was los war, war es zu spät. »Hee, das ist doch –!«, brachte er noch heraus. Ich gab ihm zur Sicherheit
einen kräftigen Tritt in den Rücken, und er verschwand in dem Feld, das ich im Türrahmen installiert hatte.
Danach musste ich nur die Batterie herausnehmen, die das Feld versorgt hatte. Es erlosch, und die paar Spulendrähte ließen sich spurlos entfernen. Ein zweites Feld, in der Tiefgarage über seinem persönlichen Parkplatz installiert, entsorgte sein Auto. Seine Angestellten waren es gewohnt, keine Fragen zu stellen und sich keine Gedanken zu machen. Die Polizei ging später davon aus, dass Dieter in illegale Geschäfte verwickelt gewesen war – Hinweise darauf fanden sich zur Genüge – und untergetaucht war. Es lief alles bestens. Nachdem sie die Scheidung durchbekommen hatte, heiratete ich Dieters Frau – und damit die Firma –, und dann stiegen wir in die Produktion von Müllentsorgungsanlagen aller Art ein. Unsere Abgasfilter für Heizkraftwerke und Verbrennungsanlagen waren sensationell – reine Luft, die den Schornstein verließ. Aus unseren Klärendstufen kam Wasser, das man trinken konnte. Allerdings viel weniger, als hinein floss – das ließ die Techniker stutzig werden. Nun ja. Es war mir von Anfang an klar, dass die Sache mit dem Feld nicht für immer geheim bleiben würde. Natürlich kam dann irgendwann ein hässlicher Verdacht auf, was das Verschwinden meines Bruders betraf. Aber da hatte ich schon genug Geld, um mir die schärfsten Rechtsanwälte der Welt leisten zu können, und so wurde nicht viel daraus. Und wer hätte beweisen wollen, dass Dieter wirklich tot war? Wie auch immer. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Das abgasfreie Auto ist heute eine Selbstverständlichkeit. Erinnern Sie sich überhaupt noch daran, dass es einmal so etwas wie eine Müllabfuhr gegeben hat?
Müllverbrennungsanlagen? Wenn ja, dann sind Sie mindestens 25 Jahre alt. Und haben wahrscheinlich Kinder, für die der Entsorger unter dem Spülbecken eine Selbstverständlichkeit ist. Und was Müllhalden und Schuttplätze anbelangt, die hat man alle wieder ausgebaggert und ein für alle Mal verschwinden lassen. Radioaktiver Müll, einst ein unlösbares Problem – weg. Die abgebrannten Brennstäbe aus Kernkraftwerken, über die wir uns früher so viele Sorgen gemacht haben – aus der Welt geschafft. Die Erde ist so sauber wie noch nie. Ich fürchte, mehr als die dritte Flasche werde ich nicht bewältigen. Immerhin, ein Montrachet aus der Domaine de la Romanee-Conti. Samtig, duftig, feinwürzig – ein hervorragender Jahrgang. Aber der Gedanke an all die Schätze, die ich über die Jahre hinweg in meinem Keller versammelt habe und die nun ihre Bestimmung nicht mehr finden sollen, schmerzt. Dreißig Jahre lang ist alles gut gegangen. Ich habe den Konzern geleitet, Konrad hat weitergeforscht, mit mehr Leuten, mehr Geld – viel mehr Geld –, aber so ergebnislos wie eh und je. Immerhin: Dass auch all die namhaften Kapazitäten, die Nobelpreisträger und so weiter vor unserem Feld kapitulieren mussten, war irgendwie beruhigend. Wir hatten uns zumindest nicht allzu dumm angestellt. Und wir verdienten schweinemäßig viel Geld. Wirklich. Die ganze Welt kaufte wie verrückt unsere Geräte, und unsere Profite waren geradezu obszön. Bis neulich die Beschwerden anfingen, vor einem halben Jahr etwa. Den Anfang machten die batteriebetriebenen Entsorger für die Hosentasche – diese kleinen Metalletuis für Zigarettenasche und was eben unterwegs so anfällt. Sie gäben zu früh den Geist auf. Und zwar alle. Uns war das rätselhaft.
Vor einem Monat stellte sich heraus, dass die Felder in den Kfz-Abgasentsorgern erloschen waren und die Abgase ungefiltert entweichen ließen. Reihenweise. Das war äußerst rätselhaft. Und dann kam Konrad mit der sensationellen Neuigkeit, sie hätten herausgefunden, wie das Feld funktioniert.
»Ich dachte immer, das ganze Zeug verschwindet in einem Quantenraum«, erklärte er mir mit einer ausholenden Bewegung, die alles einzuschließen schien – mein Büro und die atemberaubende Aussicht über die Stadt inbegriffen. »Du weißt schon, eines dieser hypothetischen Kontinua mit imaginärer Dimensionszahl. Aber wir wissen jetzt, dass das nicht stimmt.« »Sondern?« fragte ich, weil mir seine Kunstpause zu lange dauerte und ich das deutliche Gefühl hatte, dass mir nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte. »Alles, was man in das Feld wirft«, sagte Konrad, »verschwindet in der Zeit.« »In der Zeit?«, wiederholte ich. »Bist du sicher?« Was man eben so fragt in solchen Momenten. »Du darfst gern die Protokolle unserer Experimente studieren, falls dich so etwas noch interessieren kann.« Konrad lehnte sich im Sessel zurück und faltete die Hände vor seinem Kinn. »Wir haben hochwertige Atomuhren hineingeschickt, funkkontrolliert und mit Ultrahochgeschwindigkeitsaufzeichnung. Hat Millionen gekostet. Aber wir sind uns jetzt sicher, dass das Feld alles, was hineingerät, in die Zukunft schleudert.« »In die Zukunft?« Ich versuchte zu verstehen, was das für uns bedeuten konnte. »Das klingt nicht gut.«
Konrad schüttelte den Kopf. »Ist es auch nicht.« »Kann man etwas darüber sagen, in welche Zukunft?«, hakte ich nach. »Ich meine, Zukunft – das heißt ja womöglich, irgendwann kommt alles wieder, oder?« Er fuhr sich durch das schütter gewordene Haar. »Genau wissen wir es nicht, aber ich glaube, der Stromverbrauch des Feldes ist der Schlüssel. Er wächst, seit wir das Feld gefunden haben. Ich protokolliere das seit Jahrzehnten, und inzwischen steht fest, dass das Anwachsen des Stromverbrauchs einer hyperbolischen Kurve folgt.« Er nahm die Brille ab und begann, seine Nasenwurzel zu massieren. »Du erinnerst dich, was eine hyperbolische Kurve ist? Eine Hyperbel?« Ich schnaubte. »Eine Kurve der Form eins durch x, natürlich. Hältst du mich für verblödet?« »Und was ist das Merkmal einer Hyperbel?« »Du wirst es mir gleich sagen.« »Eins durch x. Oder irgendein Wert geteilt durch x. Was passiert, wenn x Null wird?« Ich begriff. »Die Kurve geht gegen unendlich!« Konrad setzte seine Brille wieder auf. »Man nennt das eine Singularität«, erklärte er.
Und diese Singularität wird heute Nacht stattfinden, nach mitteleuropäischer Zeit um genau ein Uhr, zwölf Minuten, achtunddreißig Komma irgendwas Sekunden. Keine Ahnung, was an diesem Zeitpunkt so ungewöhnlich ist. Vermutlich nichts. Es ist eben einfach der Punkt auf dem Zeitstrahl, der von Anfang an mit unserem Feld verbunden war. Inzwischen sind die meisten Felder erloschen, denn heute Abend betrug der Strombedarf fast ein halbes Megawatt pro Quadratzentimeter. Bis Mitternacht wird kein einziges Feld mehr verfügbar sein. Man kann ausrechnen, wann der Bedarf
pro Quadratzentimeter größer werden wird als die gesamte im Universum verfügbare Energie – ein paar Millionstel Sekunden vor dem Moment der Singularität wird es soweit sein. Und dann? Nun ja, wer kann das wissen? Die beste Schätzung dürfte die von Konrad sein: Im Augenblick der Singularität wird alles wiederkommen. Alles, was wir je hineingesteckt haben in das Feld und seine Abkömmlinge. Alle Kaffeefilter, Bananenschalen, Gemüsereste, alle vollgeschissenen Windeln der letzten dreißig Jahre. Aller Kehricht und alle Staubsaugerbeutel, alle zerbrochenen Spiegel, Durchschreibesätze und Medikamentenreste. Die Zigarettenkippen von drei Jahrzehnten. Die Inhalte aller Katzenklos. Berge von Eierschalen, ranzigem Fritierfett, vollgerotzten Taschentüchern, Binden, Tampons und Kondomen. Alles wird wieder auftauchen, aus dem Nichts, überall auf der Welt. Gebirge von Bauschutt, Fliesenscherben und ölverseuchtem Aushub werden uns unter sich begraben, zusammen mit Baggerreifen, Asbeststaub, Schrottautos, Holzschutzmitteln, radioaktiven Abfällen und Ozeanen von Urin, Klärschlamm und Säureresten. Und dann die Abgase – die Abgase von dreißig Jahren, in denen man auf saubere Verbrennung und Abgasreinigung kaum noch Wert gelegt hat, weil man es nicht musste. Spätestens die Abgase werden uns ersticken. Die Flasche ist so gut wie leer. Der Abend neigt sich dem Ende zu. Was uns bleibt, ist die Hoffnung, dass Dr. Konrad Hellermann sich geirrt hat mit seiner Formel. Wir werden sehen.
Thorsten Küper (*1969) bekleidet nach einem Studium der Physik und Mathematik ein Lehramt. Mit einem knappen Dutzend Erzählungen, in denen er vorwiegend zukunftsnahe Szenarien beschreibt und die in C’T, NOVA, ALIEN CONTACT und in Anthologien erschienen sind, gilt N er als aufsteigender Stern am deutschen Science FictionHimmel. Außerdem verfasst er satirische Texte, Kritiken und produziert Kurzfilme. www.Sublevel12.de
THORSTEN KÜPER Der Atem Gottes
Wie der eisige Atem eines zornigen Gottes traf ihn der Fahrtwind, drang in die winzigen Öffnungen seiner Kleidung, bahnte sich sogar einen Weg unter den Helm und ließ seine Augen tränen. Über Villon erstreckte sich ein unglaublich klarer Sternenhimmel, wie man ihn selbst hier nur in einer unendlich schwarzen und kalten Nacht erleben kann. Den Scheinwerfer konnte er nicht einschalten, sonst hätte man ihn bereits von weitem sofort gesehen. Trotzdem trieb er das ATV mit Höchstgeschwindigkeit über die endlose Ebene. Das grüne Bild, das das Nachtsichtgerät lieferte, war trügerisch, enthüllte Hindernisse wie größere Felsbrocken oder den Kadaver eines Wildpferdes oft erst in letzter Sekunde. Nur die Vibrationen des Lenkers unter seinen Händen verrieten, wie zerklüftet der Untergrund wirklich war. Mehr als einmal verriss eine Bodenwelle die Vorderräder, und es gelang ihm nur mit Glück, die Kontrolle über die Maschine zurückzuerlangen.
Odadhahraun war eine unwirkliche Landschaft. Eines der größten Lavafelder der Erde, zurückgeblieben nach einem gewaltigen Vulkanausbruch. Früher ein Ort, an den Straftäter verbannt wurden, heute das ideale Gebiet, um Wissenschaftler wie ihn in eine Art Forschungsexil zu schicken. Etwas anderes als eine Verbannung war es nicht gewesen. Eine Sklaventätigkeit im „ Dienste anonymer Profiteure. Parasiten, die sich an den Früchten seiner Arbeit nährten, ihm jedoch jede Anerkennung verweigerten. Ein Forschungsgebiet wie das seine verurteilte einen Wissenschaftler zur Namenlosigkeit. Fachzeitschriften erwähnten seine Person niemals, wohl jedoch seine Ergebnisse. Ganz gleichgültig wie brillant diese auch waren, ihm würde dafür niemals jemand die Hand schütteln, geschweige denn eine angemessen hohe Überweisung auf sein Konto tätigen. Ja, Villon hatte keine Zweifel an der Richtigkeit seines Entschlusses. Die hatte er nie. Zu lange hatte er seine Fähigkeiten in den Dienst des Konzerns gestellt – jetzt war es an der Zeit, die Ernte einzubringen. Er würde seinen Kunden nur die CD zeigen müssen. Das würde sie überzeugen. Zumindest wenn es ihm gelang, sich durchzuschlagen. Sebing hatte ihm zwar keinen Strich durch die Rechnung gemacht, ihn aber immerhin gezwungen, viel früher zu fliehen als ursprünglich geplant. Lange vor dem verabredeten Zeitpunkt, an dem sie ihn nahe der Station abholen sollten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als so nah wie möglich an die Küste zu kommen. Bevor die Jäger des Konzerns die Suche nach ihm aufnahmen. Er hatte den Gedanken noch nicht beendet, als er den Sog spürte. Ein Blick über die Schulter offenbarte eine seltsame sternlose Fläche direkt über ihm. Ein riesiger Umriss zeichnete sich am Himmel ab.
In einem absurden Fluchtversuch gab er Vollgas. Der scharfe Schmerz holte ihn mühelos ein, grub seine Krallen tief in seine Schulter. Von dort breiteten sich Wärme und Taubheit in seinem ganzen Körper aus, raubten ihm das Gefühl in Armen und Beinen. Villon schwanden die Sinne, noch bevor das Vorderrad des ATV gegen einen Felsen prallte und die Maschine sich überschlug. Während sein Körper einige Meter weit durch die Luft segelte, erfüllte die schwarze Nacht bereits seinen Kopf.
Er wankte durch die verwischte Realität eines weißen Korridors, dankbar für die Nachwirkungen des Betäubungsmittels, die zwar seine Glieder schwer werden, ihn aber auch endlich zur Ruhe kommen ließen. Ein Mann ging voraus, ein anderer folgte ihm. Sie drängten ihn nicht, stützten ihn lediglich, wenn seine Knie nachgaben. Endlos lange Korridore wie diese waren über Jahre hinweg Villons Heimat gewesen. Weißes künstliches Licht war für ihn zu Sonnenlicht geworden. Doch unter den langsam nachlassenden Nachwirkungen des Betäubungsmittels wirkten diese Korridore schräg, schienen die Fluchtlinien nicht mehr nur scheinbar zusammenzulaufen. Vielmehr war es, als würde der Gang wirklich enger, als hätte ein Architekt hier einen surrealen Entwurf in ein reales Gebäude umgesetzt. Die offenen Türen zu beiden Seiten des Korridors, hinter denen sich Büros und kleine Labors verbargen, erschienen ihm wie Löcher im Beton, die bizarre Kreaturen in die Wände gegraben hatten. Im Vorbeigehen glitt sein Blick über die spärliche Einrichtung eines der Büros, in dem sich ein Mann im weißen Hemd mit Krawatte darum bemühte, Akten zu stapeln. Hinter sich hatte er bereits mehrere Türme aus Büchern aufgeschichtet. Kurz hielt er in seiner Tätigkeit inne,
betrachtete seinerseits den verschmutzten Mann zwischen seinen hoch gewachsenen Begleitern. Villon meinte etwas wie Furcht oder Zorn in diesem Blick zu lesen und musste lächeln, als er das Zimmer hinter sich gelassen hatte. Statt Türen folgten zur linken und rechten nun eine ganze Reihe von Fenstern. Sie mussten sich in einem der brückenartigen Übergänge zwischen den vier Gebäuden befinden, die sich wie die Ecktürme einer Festung in den Himmel erhoben. Im Verlauf seiner Arbeit war er in den letzten Jahren etwas öfter als ein Dutzend Mal in der Konzernzentrale gewesen. Meistens hatte man ihn bei seinen wenigen Aufenthalten behandelt wie einen Star. Die meiste Zeit hatte er jedoch oben in Island in Komplex 8 verbracht. Rotes Dämmerungslicht legte sich immer dann warm auf seine Haut, wenn er an einem der nach Osten gewandten Fenster vorbeiging. Gerade stieg die Sonne über bewaldeten Hügeln auf – ein Anblick, der nicht nur wunderschön, sondern erfreulich real war. Er beschloss, dass es ihm von Minute zu Minute besser ging. Kurz hinter der Brücke begegneten sie einer blassgesichtigen, mit ihrem kurz geschnittenen Haar fast unfeminin wirkenden Frau mit einem riesigen Stapel Bücher auf dem Arm. Dieses Mal war er sich sicher, dass ihr Blick nicht furchtsam, sondern zornig war. Er drehte sich nicht um, um herauszufinden, ob es sich nur so angehört hatte oder ob sie wirklich ausgespuckt hatte, nachdem sie an ihm vorbeigegangen war. Schließlich führten sie ihn in einen der großen Räume, wie er sie aus zahlreichen Konferenzen kannte. Eine hohe Wand für Projektionen, Plasmadisplays mit Keyboards, die vor jedem Sitzplatz in die Tischplatte eingelassen waren und hochgeklappt werden konnten. Der Projektionsfläche gegenüber erstreckte sich eine Wand aus schwarzem Glas. Zur
anderen Seite hin war sie lichtdurchlässig, wie Villon wusste. Dort hielten sich üblicherweise Berater und Psychologen auf, die die Konferenzteilnehmer aufmerksam beobachteten und ihre Analysen an die Konzernleitung übermittelten. Bei der Aushandlung von Verträgen waren diese unsichtbaren Berater besonders wichtig, denn sie konnten entscheidende Hinweise darauf geben, ob Verhandlungspartner etwas verschwiegen oder wie man sie effektiv in die Enge treiben konnte. Heute würden sie hier Villon verhören. Zwar sprachen sie ihm gegenüber nur von einer Befragung, aber letztendlich war das nichts anderes als ein Verhör. Er wusste das und sie wussten, dass er es wusste. Ohne zu zögern, nahm Villon am Kopf des Konferenztisches Platz, gegenüber der Glaswand. Schließlich ging es um ihn. Er war die Hauptfigur. Sollten sie ihn ruhig anstarren, all die Experten auf der anderen Seite. In gewisser Weise wollte er ihnen ins Gesicht lachen. Keine Minute später betrat der andere Mann den Raum. Hochgewachsen und in einem Anzug, wie er für den Konzern üblich war, nahm er Platz, nicht ohne sich jedoch vorher seines Jacketts zu entledigen. Es würde lange dauern, aber das hatte Villon gewusst. »Wie geht es Ihnen, Dr. Villon?«, erkundigte er sich ungewöhnlich leise, wobei er eine Akte auf den Tisch legte, dann das Plasmadisplay aus der Tischplatte herausklappte, ohne den Angesprochenen auch nur eines Blickes zu würdigen. »Es war leider nötig, Ihnen eine hohe Dosis zu verabreichen«, führte er weiter aus, ebenso leise, während er einige Dateien aufrief. Dann endlich richtete er den Blick auf Villon. Er war etwa Ende Dreißig, hatte dünnes dunkles Haar und trug eine abgerundete Brille, wie sie zu einem jungen Studenten gepasst hätte. Sein grauer Dreitagebart fiel an den Wangen ebenso
spärlich aus wie sein Haupthaar. Er musste Außergewöhnliches geleistet haben, wenn man ihn mit der Untersuchung der Ereignisse in Komplex 8 betraut hatte. Villon lächelte. »Verabreichen? Das klingt, als hätten Sie mir ein Beruhigungsmittel in den Tee gemischt. Ihre Leute haben mich mit einem Betäubungsprojektil niedergeschossen wie ein Tier.« In seinem betont leisen Tonfall fragte der andere lediglich: »Wieso sind Sie vor uns geflohen, Dr. Villon?« Der betrachtete seine eigenen Hände. »Wie heißen Sie?« »Wenn Ihnen das unser Gespräch erleichtert. Mein Name ist Merz.« »Wir können uns den ganzen Aufwand sparen, Herr Merz. Komplex 8 besteht nur noch aus einem rauchenden Loch im Boden.« Er zwinkerte dem jüngeren Mann zu. »Ich könnte Ihnen allerdings die Daten anbieten.« Eine Falte wie eine Spitze in einem Diagramm huschte über Merzs Stirn. »Das führt uns zu der Frage zurück, wieso Sie geflohen sind.« »Ich hatte Angst um mein Leben«, erklärte Villon lächelnd. »Plötzlich hing dieses Ding über mit. Sind Sie schon mal mit den Waffensystemen eines Comanche konfrontiert worden?« Der Helikopter war plötzlich da gewesen. Hätte er den ursprünglichen Zeitplan einhalten können, wäre er von einem anderen Hubschrauber abgeholt worden, bevor ihn das Ding aufgespürt hatte. Sebing hatte seine Pläne durchkreuzt. »Und wieso hatten Sie Angst? Schließlich waren Sie aus Komplex 8 entkommen. Als einziger Überlebender.« Villon fuhr sich mit der Hand durch das fettige zerzauste Haar. Er hatte bislang noch keine Gelegenheit erhalten zu duschen. »Ich habe meine Aufgaben erfüllt, wie man es von mir erwartete. Dass ich noch am Leben bin, ist nichts weiter als ein Zufall.«
»Vor rund neun Stunden hatten wir zum letzten Mal Kontakt mit Komplex 8. Gestern am 16. Mai, um exakt 21.36 Uhr. Eine Satellitenaufnahme zeigt einen Ausbruch von Wärmestrahlung, und zwar um 0.52 Uhr genau auf der Position von Komplex 8. Offenbar wurden zu diesem Zeitpunkt mehrere Hochtemperaturladungen gezündet, die das Gebäude ausgebrannt haben. Dabei sind nach unseren bisherigen Ermittlungen alle siebzehn Mitarbeiter getötet worden. Mit Bestimmtheit können wir das aber nicht sagen, denn bei Zündung einer HT-Ladung verbrennen sogar Knochen. Nummer Achtzehn wären Sie gewesen.« Er nickte in Richtung der Projektionsfläche. Dort erschienen Bilder der ausgeglühten Ruinen von Komplex 8. Von außen war das Labor nicht als ein solches erkennbar gewesen. Die beiden unterirdischen Ebenen waren unter einem alten Landhaus verborgen gewesen, wie es für die isländische Landschaft üblich war. Doch das Haus war verschwunden. Geblieben war nicht mehr als ein schwarzer Krater am Fuße eines grasbewachsenen Hügels. Auf seltsame Weise faszinierend waren die Aufnahmen des Innenbereichs. Die ehemals weißen Korridore hatten sich in die geschwärzten Kamine eines gewaltigen Brennofens verwandelt. Es gab keine Leichen, nur Asche. Die bedeutsamste Frage von allen sprach Merz besonders leise aus. »Wie ist es dazu gekommen?« »Es wurde notwendig.« »Haben Sie die Explosionen herbeigeführt?« Villon nickte und machte eine beiläufige Handbewegung. »Es hätte Ihnen missfallen, wenn ich es nicht getan hätte.« »Mit anderen Worten: In Komplex 8 ist es zu einem Zwischenfall gekommen, der die Desinfektion des Gebäudes notwendig machte?« »Bedauerlicherweise.«
»Haben Sie darüber entschieden? Über siebzehn Menschenleben?« Villon kratzte seinen Hals, der vom angeklebten Schweiß juckte. »Soweit ich weiß, unterschreiben unsere Mitarbeiter eine Klausel, die eine Entschädigung an ihre Familien in einem solchen Fall ausschließt. Ihnen war also durchaus bewusst, dass so eine Situation eintreten kann.« »Es ist nicht das erste Mal, Dr. Villon, dass Sie in einen derartigen Fall verwickelt sind.« Er nickte in Richtung der Projektionswand, doch Villon drehte sich nicht um. Es waren die alten Aufnahmen von sterbenden Körpern. Kameras hatten den Todeskampf seiner sechs Mitarbeiter aus einem Dutzend verschiedener Richtungen dokumentiert. Diese Bilder waren ihm bei der damaligen Untersuchung mehr als einmal gezeigt worden. Der Anblick von Leibern, die von schwärenden, aufplatzenden Wunden übersät waren, hatte für ihn jeden Schrecken verloren, genauso wie die entsetzten, schmerzerfüllten Gesichter seiner sterbenden Mitarbeiter. Zuletzt war Blut aus ihren Augenwinkeln gelaufen. Der größte Beitrag, den die sechs mit ihrem bescheidenen Talent jemals zur Wissenschaft hatten leisten können. Villon sah sich die Aufnahmen nicht noch einmal an, betrachtete stattdessen übertrieben lang den Schmutz unter seinen Fingernägeln. Blutige Hautreste, die er von seiner schmutzigen Haut gekratzt hatte. »Wann immer die Erträge meiner Arbeit Ihnen Profit einbringen, werden die notwendigen Opfer erstaunlicherweise nicht hinterfragt«, erklärte er. »Die Männer und Frauen damals wussten nur zu gut, was wir dort unten in Ecuador suchten. Es gehört zu unserem Job, dieses Risiko zu akzeptieren. Wenn Sie von uns erwarten, dass wir im unerforschten Regenwald unbekannte
Viren von Baumrinden kratzen, kann es schon mal passieren, dass sich jemand einen Schnupfen holt.« Merz hatte einen Ellbogen auf die Stuhllehne gestützt und die Hand ans Kinn gelegt. Eine Weile betrachtete er ihn schweigend. »Sie steigern sich, Villon. Damals waren es sechs. Diesmal sind es schon siebzehn. Wie viele werden es beim nächsten Mal sein?« »Sie suchen jemandem, dem Sie die Schuld zuschieben können, aber da sind Sie bei mir falsch. Ich würde jetzt gerne duschen.« »Später.« Merz tippte etwas auf seinem Keyboard ein. »Ich möchte, dass Sie mir nun schildern, was gestern da unten geschehen ist.« »Nun, am späten Nachmittag gab es Kontaminationsalarm auf Sublevel 2. Daraufhin wurde die gesamte Ebene isoliert, wie das für einen solchen Fall vorgeschrieben ist.« Isoliert, das bedeutete nicht einfach nur, dass man die Ebene komplett abdichtete. Es bedeutete auch, dass nichts und niemand sie verlassen konnte. Die Isolation bedeutete das Todesurteil für alle Personen die sich dort befanden. »Und wie genau ist es dazu gekommen?« Villon faltete die Hände auf seinem Bauch. »Ein solcher Alarm wird zum Beispiel dann ausgelöst, wenn ein Feuer ausbricht, eine der Unterdruckschleusen sich durch einen technischen Defekt öffnet und der Druck in einem Kernlabor ansteigt, oder ein Fenster zerbricht. Dieser ist allerdings manuell ausgelöst worden. Durch eine Mitarbeiterin auf dem betroffenen Level.« »Und weswegen?« »Das war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. Also habe ich versucht, Kontakt mit dem Team aufzunehmen.« »Was haben die ihnen berichtet?«
Villon hob die Achseln. »Nichts, es war nicht möglich, jemanden an einen der Terminals zu holen. Den Aufzeichnungen der Kameras und Mikrofone zufolge herrschte da unten Panik.« Merz betätigte eine Taste auf dem Keyboard, sein Blick richtete sich auf die Projektionswand. Villon drehte sich ebenfalls um. »Das sind einige der Aufzeichnungen, die sie auf CD bei sich getragen haben.« Die erste Aufnahme stammte aus dem einer Arena ähnelnden zentralen Labor. Sie zeigte eine Gruppe von acht Wissenschaftlern, die sich auf einen Punkt des Raumes konzentrierte. Ein größerer Mann redete nervös gestikulierend auf die Anwesenden ein. Trotz seiner Bemühungen, beruhigend auf das Team einzuwirken, entfernte sich plötzlich eine Frau aus der Gruppe und betätigte den Alarmschalter an der Tür. »Jetzt löst sie den Alarm aus«, erläuterte Merz überflüssigerweise. »Können Sie uns erklären, was vorher passiert ist?« Villon grinste schief. »Dilettanten bei der Arbeit?« Merz markierte mit dem Mauszeiger den Kopf des großen Mannes, der versuchte, die Gruppe zu beruhigen. »Bei Dr. Sebing kann kaum von einem Dilettanten die Rede sein.« »Aber Ihnen ist schon aufgefallen, dass Ihr hochgeschätzter Dr. Sebing da gerade versucht hat, das Auslösen des Alarms zu verhindern, obwohl diesen Leuten offensichtlich klar ist, dass die Gefahr einer Kontamination bestand?« »Das deutet doch vielmehr daraufhin, dass er wusste, dass grundsätzlich keine Gefahr von der Situation ausging.« »Hören Sie, es tut mir ja ausgesprochen Leid, dass ich mit Sebing ausgerechnet einen der Gründer dieses Konzerns abgefackelt habe, aber es wäre ziemlich unangenehm für uns alle geworden, wenn der jetzt fröhliche Liedchen pfeifend
durch irgendwelche Flughafenterminals marschieren und aus Touristen biologische Bomben machen würde. Ganz davon abgesehen: Die späteren Aufnahmen beweisen doch ganz eindeutig, dass eine Kontamination des Labors vorlag.« »Selbst wenn Sie Recht haben, bleibt die Frage, ob eine Desinfektion von Komplex 8 nötig war. Isolation und Quarantäne hätte doch völlig ausgereicht. Sie hätten Kontakt mit uns aufnehmen müssen.« »Hätte ich getan, wenn das noch möglich gewesen wäre.« Villon trat an eines der hohen Fenster. Von hier aus konnte er direkt auf die Verbindungsbrücken zwischen den beiden gegenüberliegenden Gebäuden sehen. Ameisenarbeiterinnen gleich bewegten sich Mitarbeiter von einem Block zum anderen und trugen dabei Möbel, Aktenstapel und Bücher vor sich her. Offenbar zogen einige Abteilungen um. »Sebing hat die Verbindung nach außen gekappt. Und dann hat er mich gezwungen, die Zündung auszulösen. Sehen Sie sich doch die weiteren Aufzeichnungen an.« »Die hier?« Villon drehte nur den Kopf zur Seite und betrachtete die flimmernden Bilder an der Wand. Die Ansammlung von Wissenschaftlern hatte sich aufgelöst. Einzelne Personen bewegten sich durch die Korridore, gingen jedoch nicht zielstrebig, wie sie es üblicherweise taten, wenn man sie durch die Überwachungskameras beobachtete. Sie schienen plötzlich Neulinge in einer ihnen fremden Umgebung zu sein, irrten langsam herum wie Patienten eines Altenheimes, die an Demenz litten und ihre Zimmer suchten. Oder sie verharrten auf einem Punkt, starrten mit glasigem Blick zur Decke oder lächelten in sich hinein. Andere sprachen mit sich selbst, manche wild gestikulierend, andere in geduckter Haltung. In einigen der Aufnahmen tauchte dieselbe Frau auf, die auch den Alarm ausgelöst hatte. Sie bemühte sich mit ausladenden
Gesten, ihre Kollegen zu beruhigen. Aber die schienen sie nicht mal dann zu bemerken, wenn sie direkt vor ihnen stand. »Das sind verängstigte Menschen. Wo sehen Sie Anzeichen für eine Verseuchung?« Villon nickte in gespielter Einsicht. »Ja, jetzt fällt’s mir auch auf. Die sind taufrisch, nur ein bisschen debil.« Humorlos auflachend fügte er hinzu. »Spulen sie doch weiter und Sie werden sehen, was Ihre gesunden Mitarbeiter gleich für eine nette Party veranstalten.« »Es gibt keine weiteren Aufnahmen.« Villon fuhr herum. »Natürlich gibt es die, wir beide wissen, dass wir nonstop aufzeichnen.« »Das ist alles, was wir haben.« Villon starrte Merz an. »Analysieren Sie die CD, die Aufzeichnungen müssen da sein. Keine zwei Stunden nachdem der Alarm ausgelöst wurde, war da unten die Hölle los. Sinnlose Raserei, Hysterie, Autoaggressionen, das volle Programm. Ich wusste, dass ich die Ladungen zünden musste, es war eindeutig.« Merz musterte ihn schweigend. Die aufgesetzte Ruhe dieses jungen Tölpels provozierte Villon, und einen Augenblick lang wurde er laut. »Hören Sie, die haben da unten eine Kollegin geradezu hingerichtet.« Er erinnerte sich daran, mit angesehen zu haben, wie dieselbe Frau, die den Alarm ausgelöst hatte, später vergeblich versuchte, die Wissenschaftler zu beschwichtigen. Sie wurde niedergemetzelt. Nicht, dass sie ein Verlust für die Wissenschaft gewesen wäre. Ihr Tod war jedoch ein wichtiges Indiz für seine Unschuld. Doch ohne die CD war sein Wissen wertlos. War sie draußen auf der Flucht beschädigt worden? Solche Datenträger waren fast unzerstörbar, außerdem hatte er sie in einer sicheren Box transportiert. Etwas musste beim Abspeichern schief gelaufen sein. »Sie verpassen eine tolle
Show, das kann ich Ihnen verraten. Ich meine, es waren nicht nur Halluzinationen und Visionen, die Sie überkamen. Sie sind in eine Art Wahn verfallen.« »Sie behaupten, Sebing hat die Verbindung nach außen gekappt. Soweit ich weiß, ist das von unten aus unmöglich.« »Er konnte es.« »Ich verstehe.« Merz Miene ließ keinen Zweifel darüber zu, dass er Villon keinen Glauben schenkte. »Welche Art von Virus war das?« Villon grinste. »Etwas Neues… nein, eigentlich etwas Altes. Sehr bösartig in seiner Wirkung. Und ideal für eine militärische Nutzung. Es wird durch die Luft übertragen.« »Stand der Virus im Zusammenhang mit dem Leichnam, der aus der Tschechoslowakei in Komplex 8 überführt wurde?« Villon zwinkerte. »Warum sprechen Sie’s nicht aus? Wir haben das Ding von Grabräubern aus einer Kirche holen lassen. Ja, genau darum geht es. Sebing und ich verfolgten eine Theorie, die wir für viel versprechend hielten. Und wir hatten Erfolg.« »Und was hat die sechshundert Jahre alte Leiche eines Bischofs mit einem Designer-Virus zu tun?« Villon schüttelte den Kopf. »Der alte Knabe war dank der Mumifizierung ziemlich frisch für sein Alter, und er stammte genau aus der richtigen Epoche. Im Übrigen ist das Virus nicht designet worden. Identifiziert, ja, und dann isoliert, analysiert und reproduziert. Und schließlich dummerweise freigesetzt. Was für ein Pech.« Er lachte auf. »Die gute Nachricht ist, dass es genau das tut, war wir gehofft haben.« »Auf was für eine Theorie beziehen Sie sich da?« »Sie stammt von einem Engländer namens Vernon Kramer. Er hat das Auftreten religiösen Wahns, beispielsweise in Gestalt von Hexenverbrennungen, statistisch untersucht und behauptet, die Ausbreitung solcher Ereignisse verlaufe nach
einem ähnlichen Muster wie die von Seuchen. Er hält sie schlicht und ergreifend für Symptome einer Infektion durch einen noch unbekannten Virus. Dem Vatikan gefällt diese Idee ganz und gar nicht. Aber wir haben eben dieses Virus im Körper des Bischofs entdeckt, der in einer Epoche besonders häufiger Fälle religiöser Hysterie lebte.« Zu Villons Erstaunen schien Merz die Theorie Kramers nicht weiter zu interessieren. Der Mann folgte mit der Fingerspitze dem Profil seines vorstehenden Kinns, während er ins Leere starrte. »Selbst wenn es unten zu einer Infektion gekommen sein sollte, wäre eine Quarantäne eine völlig ausreichende Maßnahme gewesen.« »Dem würde ich zustimmen, wenn der allseits hochverehrte Dr. Sebing sich seinerseits an die Vorschriften gehalten hätte. Kommt es zu einer Kontamination, wird die Ebene isoliert. Jeder kannte diese Vorgehensweise. Jeder wusste, dass er unten im Labor eingeschlossen wird, wenn das passiert. Aber Sebing hat seinen Einfluss als Konzernchef missbraucht. Er hat in die Kamera gegrinst und dann sein Superpasswort eingegeben.« Merz legte die Stirn in Falten. »Was für ein Superpasswort?« »Niemand außer ihm hat diese Systemhintertür gekannt, sie war sein persönliches Privileg, falls er da unten einmal eingeschlossen werden würde. Ein Passwort, mit dem die Isolation von innen aufgehoben werden konnte. Und es hat ihm ebenfalls ermöglicht, von unten die Kommunikation nach außen abzuschalten, bevor jemand hier bemerkte, was da vor sich ging.« »Und als sie feststellten, dass das ihrer Ansicht nach nun infizierte Team nach oben zurückkehren konnte, haben sie per Zeitschaltung die Explosionen ausgelöst.« »Wir hätten ein Problem, wenn auch nur einer von ihnen es geschafft hätte, da rauszukommen.«
Merz zog einen Mundwinkel hoch. Es sah aus wie der vergebliche Versuch eines Mannes, dessen halbes Gesicht gelähmt war, zu lächeln. »Sie meinen, Sie wären erledigt gewesen, wenn die Sie in die Finger bekommen hätten. Letztendlich haben sie doch den Unfall und die Kontamination unten im Labor verursacht.« Er deutete auf die Projektionsfläche. Dort konnte Villon nun die Aufzeichnungen einer anderen Kamera im zentralen Labor verfolgen, die aufgenommen worden waren, kurz bevor die Panik ausbrach. Ein Mann und eine Frau in weißen Kitteln deuteten bestürzt auf eine Stelle am Boden. Merz zoomte den Bereich heran. Dank der hohen Auflösung der Kamera war der zerbrochene Probenbehälter deutlich zu erkennen. »In diesem Augenblick, Dr. Villon, bemerken Ihre Kollegen den zerplatzten Behälter. Und der befindet sich nicht mal im Kernbereich des Labors, der nur mit Schutzanzügen betreten wird, sondern im davor liegenden Vorbereitungsraum, in dem sich das Team umzieht. Diese Leute hatten keine Chance.« »Wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet ich den Behälter dort deponiert haben soll.« »Alle achtzehn Mitarbeiter befinden sich üblicherweise auf Sublevel 2. Nur einer fehlt, und das sind Sie. Über die Stunden davor beinhalten die Aufzeichnungen auf Ihrer CD keine Informationen. Wir nehmen an, dass Sie vorsorglich die Kameras abgeschaltet haben, bevor Sie selbst in einem sicheren Schutzanzug die Falle für Ihre Kollegen deponiert, dann die Dekontaminationsschleuse vor dem Aufzug aufgesucht und so verhindert haben, dass das Virus nach oben gelangt.« Villon grinste bitter. »Warum sollte ich etwas derart Scheußliches tun?«
»Weil das schon Ihre Vorgehensweise in Ecuador war. Sie benötigen eine menschliche Testgruppe. Also benutzen Sie skrupellos Ihre Kollegen. Je mehr Personen im Laufe dieses Tests auf das Virus reagieren, umso überzeugender ist die Vorführung.« »Sie verfügen über eine blühende Phantasie, Merz«, entgegnete Villon. Er war sich seines selbstgefälligen Grinsens bewusst, als er sich lebhaft daran erinnerte, wie er, während seine Kollegen noch schliefen, im Schutzanzug das Virus in den Wassertank ihres Containers in Ecuador injiziert hatte. »Sie sind vor uns geflohen.« »Hätte ich auf Sie warten sollen? Ich wusste, dass das hier kommt und ich mag keine Verhöre.« »An wen wollten Sie Ihre Erkenntnisse verkaufen, Dr. Villon? Und warum haben die Sie nicht abgeholt?« »Sie spekulieren nur. Das kann ich auch.« Er legte den Zeigefinger an die Lippen und blickte zur Decke hinauf, als überkäme ihn eine besondere Erkenntnis. »Wissen Sie, was ich seltsam finde? Bei diesem unschönen Aufstand im Iran vor zwei Jahren…« Villon setzte einen gespielt verwirrten Gesichtsausdruck auf. »Also, ich könnte schwören, die Symptome der Seuche, an denen die Aufständischen in Ihrem Stützpunkt gestorben sind, sahen genau aus wie das, was sich mein Team damals in Ecuador eingefangen hatte.« Villon zog sich einen Stuhl zu Merz heran, legte einen Arm auf den Tisch und beugte sich vertraulich zu ihm vor. »Ich erkläre Ihnen mal was. Wir sind nicht nur Wissenschaftler, wir sind auch Geschäftsleute. Mit meinen Erkenntnissen haben Sie, Ihre Kollegen und ich und vor allem die Jungs da hinter der Glasscheibe eine Menge Kohle verdient.« Er winkte und grinste dabei dämlich. »Aber dazu müssen wir Tests durchführen. Da beißt ab und zu schon mal jemand ins Gras. Das ist tragisch, bringt uns aber weiter. Also lassen Sie uns
diese ganze Sache vergessen und sehen, was wir daraus machen können. Ich kann ihnen den Bauplan für den kleinen Bastard anbieten, der in Komplex 8 eine so beeindruckende Debütvorstellung gegeben hat.« Merz schmunzelte plötzlich. »Also gut. Was ist so besonders an diesem Virus?« »Er löst religiöse Wahnvorstellungen aus. Epiphanie, religiöse Verzückung. Visionen wie aus einem schlechten Religionsbuch für Schulkinder. Anscheinend verankert das kollektive Bewusstsein bestimmte archetypische Vorstellungen in unseren Köpfen. Sogar in denen von Wissenschaftlern wie Sebing. Das Virus setzt diese Bilder frei. Wären sie nicht zu dämlich, eine CD anzuspielen, könnten sie hören, wie die Leute unten im Labor den Herrn anbeten, den sie auf einem Monitor oder als Spiegelung in einer Glasfläche zu erblicken glauben. Ihn oder die Mutter Gottes oder irgendeine hinduistische Gottheit. Sie könnten sehen, wie sie sich mit erleuchteten Blicken selbst geißeln oder auf den Knien durch die Korridore rutschen. Ich habe mit angesehen, wie sie eine junge Frau mit einem Akkubohrer gekreuzigt haben, weil sie sie davon überzeugen wollte, dass sie alle an Halluzinationen litten. Selbstverständlich funktioniert das nicht nur bei Christen, sondern auch bei Moslems, Hindus, Buddhisten, was weiß ich. Wir haben Kramers Theorie bewiesen.« »Und was ist daran so besonders?« »Was so besonders daran ist? Zunächst einmal doch wohl allein die Vorstellung, dass wir den Beweis erbracht haben, dass Religion sozusagen eine ansteckende Krankheit ist.« Villon lachte auf und glaubte eine Sekunde lang, eine Art Funkeln in Merz’ Augen zu entdecken. War der junge Mann gläubig? »Finden Sie diese Erkenntnis empörend? Aber denken Sie an den Nutzen, der sich daraus ziehen ließe! Stellen Sie sich vor, Sie benötigen einen Grund, um in einen
fundamentalistischen Staat einzumarschieren. Kein Problem. Sie versprühen das Zeug, warten, bis die Bevölkerung in religiöse Raserei verfällt und schicken dann Ihre Truppen ins Land – aus humanitären Gründen natürlich. Und denen bleibt dann natürlich nichts anderes übrig, als auf die durchgeknallten Irren zu schießen. Diese Sucherei nach Gründen für den Einsatz von Waffengewalt ist für einen Politiker doch immer eine lästige Angelegenheit, nicht wahr?« »Die Truppen infizieren sich dabei aber selbst.« »Falsch. Natürlich verabreichen wir ihnen ein Gegenmittel.« Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie er sich geimpft hatte. Sebing hatte ihm diesen Selbstversuch untersagt, aber das hatte ihn nicht daran gehindert. »Außerdem…«, führte er weiter aus, »… und das ist der nächste Vorteil: Die Wirkung des Virus ist lokal begrenzt, denn im Laufe nachfolgender Generationen verliert es seine Reproduktionsfähigkeit. Es stirbt ab. Das konnten wir in Tierversuchen nachweisen.« »Nur nicht, ob er die von ihnen beabsichtigten Halluzinationen auslöst, dazu benötigten Sie menschliche Testpersonen.« Villon lächelte süffisant. »Bezeichnen wir den Zwischenfall in Komplex 8 doch als Glück im Unglück. Hören Sie, und damit meine ich auch Sie, meine Herren, da drüben hinter Glas. Wir alle wissen, dass unsere Auftraggeber großes Interesse an einer biologischen Waffe wie dieser hätten. Und von mir bekommen Sie die Bauanleitung für den kleinen Seelensaboteur, wie ich ihn getauft habe.« Merz stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte beide Zeigefinger an seine Lippen, so dass sie die Spitze eines Dreieckes bildeten. »Sie besitzen bereits ein Gegenmittel?« Villon begnügte sich mit einem gönnerhaften Nicken.
»Woher wissen wir, dass sie Ihre Daten nicht bereits an einen anderen Kunden verkauft haben?« »Dazu ist es nicht gekommen. Eigentlich wollte ich die Station erst zwei Stunden später verlassen. Sebing hat durch den Einsatz seines Superpasswortes dafür gesorgt, dass ich die Sprengung bereits viel früher einleiten musste. Da hat noch niemand auf mich gewartet, und Sie haben mich vorher aufgegriffen.« »Sie könnten längst die Dateien übermittelt haben.« »Was glauben sie, wozu ich die Disk benötigt habe? Als Beweis natürlich. Die Datei habe ich im Internet abgelegt, und meine Kunden hätten erst dann Zugriff darauf erhalten, wenn ich mein Geld habe.« Villon betrachtete seine Fingernägel, als seien sie Objekte größter wissenschaftlicher Bedeutung. »Aber es sieht ganz so aus, als kämen wir nun ins Geschäft. Ich bin da flexibel. Lassen Sie mich gehen, zahlen Sie mir eine kleine Summe, und Sie können über die Daten verfügen.« Merz hatte sich weit zurückgelehnt und die gefalteten Hände auf seinen Bauch gelegt, als hätte er gerade ausnehmend gut gespeist. Interessiert betrachtete er einen Punkt auf Villons Stirn. Dann endlich wandte er sich in Richtung der Glaswand ab, wobei er den rechten Zeigefinger in sein Ohr drückte. Villon schmunzelte ebenfalls in Richtung ihrer unsichtbaren Beobachter. Merz angedeutetes Nicken in deren Richtung entging ihm nicht. Als Merz sich ihm wieder zuwandte, nickte er auch ihm mit gespitztem Mund zu. Ein rundlicher kleiner Mann, dessen blasse Glatze von einem hellblonden Haarkranz eingerahmt wurde, betrat den Raum. Er deutete auf eine Reihe von Nachschlagewerken, die ihm gegenüber an der Wand auf einem Rollwagen in einer Reihe aufgestellt waren. Merz nickte ihm zu, und der Mann schob
den Wagen aus dem Raum. »Moment noch«, rief er und warf dem Mann Villons Akte zu. Der hob die Brauen. »Wie darf ich das verstehen?« Merz erhob sich. »Sagen wir, es ist doch nur in Ihrem Interesse, wenn wir Ihre Akte schließen, oder?« »Das heißt, Sie akzeptieren?« Im Grunde war Villon verblüfft darüber, dass sie sein Angebot so schnell annahmen. »Folgen Sie mir bitte.« Als sie auf den Gang hinaustraten, gerieten sie in eine regelrechte Prozession von Mitarbeitern, die Bücher- und Aktenstapel trugen. »Sagen sie mal, ziehen hier sämtliche Abteilungen um?« Merz ging ihm voraus zum nächsten Aufzug. Als er auf die Taste am Schaltfeld drückte, erklärte er: »Sagen wir, wir verlagern gerade unsere Prioritäten.« Gemeinsam mit Merz und ihm betrat noch fast ein Dutzend weiterer Männer und Frauen die Kabine. Ausnahmslos alle waren damit beschäftigt, Bücher und Unterlagen zu transportieren. Er erwiderte ihre auf ihn gerichteten Blicke mit einem breiten Grinsen; einer aristokratischen Blondine mit hochgeschlossener Bluse, im Widerspruch dazu aber viel zu kurzen Rock, zwinkerte er provokativ zu. »Das wird noch ein richtig schöner Tag, meinen Sie nicht auch?« Niemand antwortete ihm. Als sie den Aufzug im Erdgeschoss verließen, war er verblüfft über die Anzahl von Personen, die unten in Richtung des Ausgangs drängten. Hemdsärmelige Männer strömten aus Aufzügen und Treppenhäuser in Richtung des Ausganges zum Innenbereich zwischen den vier jeweils dreißig Stockwerken hohen Gebäuden. Jeder von ihnen trug irgendetwas – Aktenordner, lose Papiere oder Bücher. Gemeinsam strebten sie auf die Parkanlage zu, die zwischen den vier Gebäuden angelegt worden war.
Ameisen, dachte Villon, und fast bedauerte er all die kleinen Sklaven, die ein befehlshöriges Dasein führen mussten. Er war keiner von ihnen, er stand über ihnen, weil er die richtigen Entscheidungen traf, ganz gleichgültig, welche Konsequenzen sie hatten. Sein Team oben in Komplex 8 war eine ideale Versuchsgruppe gewesen. Männer und Frauen, ethnisch und religiös gut durchmischt. Und Sebing selbst war nichts weiter als ein Parasit gewesen, der sich an Villons wissenschaftlicher Kompetenz nährte und ihm später den Profit streitig gemacht hätte. Der Weg führte um einen grasbewachsenen flachen Hügel, der an die Landschaft Islands erinnerte, in der sich Komplex 8 befunden hatte. Dahinter verbreiterte er sich zu einer Art Senke, in deren Mitte ein Teich lag, der von einer Art ZenGarten umgeben war. Doch die Muster, die sonst sorgfältig in den Sand geharkt wurden, waren von tausenden von Fußabdrücken verwischt worden. Verwirrt betrachtete Villon den Anblick, der sich ihm bot. Die Männer und Frauen strömten auf einen Hügel nahe der kleinen Wasserfläche zu. Aber es war keine natürlich Erhebung, und das verblüffte und irritierte Villon. Vielmehr bestand der künstliche kleine Berg aus einer Aufschichtung von abertausenden von Büchern und Ordnern, die mittlerweile zu einer stattlichen Höhe von mindestens drei Metern angewachsen war. Er sah sich um und erkannte zu seinem Erstaunen, dass man eine Gasse für ihn und Merz bildete, die um den Berg aus Papier herumführte. Merz ging nach wie vor voraus, während Villon ihm zögerlich folgte, sich der Blicke bewusst werdend, die aus Hunderten von Augenpaaren auf ihn gerichtet waren. Zornige Blicke, hasserfüllte Blicke. Seine gute Laune wich Angst. Und dann entdeckte er die hoch aufragende Gestalt, die ihn am anderen Ende der Gasse erwartete.
Zwar war eine Hälfte des Gesichts unter dicken Verbänden verborgen, doch allein schon seine alberne aristokratische Haltung verriet ihn. »Sebing«, flüsterte Villon, dessen Angst in Entsetzen umschlug. Sie hatten ihn offenbar in der Nähe von Komplex 8 aufgefunden. Ihn dann hierher gebracht. Villon fuhr herum, wollte davonlaufen. Doch hinter ihm hatte sich die Gasse längst geschlossen, drängte sich ihm die Menge entgegen. Die Hände zum Gebet gefaltet, kollektiv murmelnd. Sie beteten ein Vater Unser. »Ich möchte ihnen danken, Dr. Villon.« Er fuhr zu Sebing herum, der ihn anlächelte, öffnete den Mund, brachte keinen Ton heraus. Der Bastard hatte es geschafft herauszukommen. Irgendwie. »Wie sind sie…« »Haben sie ernsthaft geglaubt, es gäbe keinen Notausgang? Was nützt ein Superpasswort, wenn man von oben aus in die Luft gesprengt werden kann?« Sebing stand auf einer Art Podest, dass man ebenfalls aus Büchern aufgeschichtet hatte. »Ich möchte ihnen dafür danken, dass sie mir die Augen geöffnet und mir den Weg zu Gott gewiesen haben. Es war eine einzigartige Erfahrung. Der Herr offenbarte sich mir und…« Sebing schien nach den angemessen Worten zu suchen. »Es war eine so tiefe Offenbarung, es war unglaublich. Gott zeigte sich mir in seiner Schöpfung selbst, im göttlichen Bauplan, der viel mehr ist als nur die Struktur der DNA…« »Es sind Halluzinationen!«, brüllte Villon. »Nichts weiter als die Wirkung eines Neurotoxins auf höhere Hirnregionen.« Hinter ihm verwandelte sich das einförmige Gebet in ein anschwellendes Murmeln, und er spürte, wie der Raum um ihn enger wurde. Einige Männer wollten auf ihn zustürzen, doch Sebing beschwichtigte sie mit einer Handbewegung. »Sie haben hier jeden infiziert, ist Ihnen das klar?«
»Er ist ein Ketzer«, zischte Merz. »Sie hatten Recht, er ist ungläubig. Ein Gottloser und ein Mörder.« »Ich…« Villon hob abwehrend die Hände. »Nein, ich würde nie…« Sebing hielt ein Diktiergerät in die Höhe, startete die Aufnahme darauf. Im nächsten Augenblick lauschte Villon seinen eigenen Worten. »… dass wir den Beweis erbracht haben, dass Religion sozusagen eine ansteckende Krankheit ist… aber dazu müssen wir Tests durchführen. Da beißt ab und zu schon mal jemand ins Gras. Das ist tragisch, bringt uns aber weiter. Also lassen Sie uns diese ganze Sache vergessen und sehen, was wir daraus machen können… hören Sie, es tut mir ja ausgesprochen Leid, dass ich mit Sebing ausgerechnet einen der Gründer dieses Konzerns abgefackelt habe.« Sebing lächelte mitleidsvoll auf ihn herab. »Diese Aufzeichnungen beweisen es. Er ist ein Ungläubiger und ein Mörder, der unsere Kollegen getötet hat und auch mich ermorden wollte. Aber ohne es zu wollen, hat er mir und uns damit den Weg zu Gott geöffnet. Und deswegen schulden wir ihm die Chance, sich von seiner Schuld zu reinigen.« Er beugte sich zu Villon herunter. »Du wolltest mich mit Feuer töten. Ist es nicht eine Ironie, dass dasselbe Feuer auch die Sünden von deiner Seele waschen kann? Nur wenige Sekunden des Leids, dann bist du auf ewig frei von Schuld.« Villon riss die Augen auf, als er begriff, was ihm blühte – als er verstand, welchem Zweck dieser Berg aus Büchern diente. Die Erkenntnisse in ihnen hatten jede Bedeutung verloren in einer Welt, die allein Gott geweiht war. Nun gaben sie einen perfekten Scheiterhaufen ab. »Wie Sie sich vielleicht erinnern, Dr. Villon, besitze auch ich den Bauplan für das Virus. Er ist der Atem für die Stimme Gottes.« Auf sein Handzeichen hin ergriffen mehrere Männer Villon und drängten und zogen ihn den Bücherberg hinauf zu
einer Holzkonstruktion aus Möbelresten, an die sie ihn mit Isolierband und Nylonfäden fesselten. Unten hob Sebing die Arme, als wäre er der Empfänger einer göttlichen Vision. »Mit dem Atem Gottes werden wird den Glauben hinaus in die Welt tragen. Eine neue, bessere Welt, frei von Hass und Unglaube.« Villon zerrte an seinen Fesseln, erreichte jedoch nicht mehr, als dass sie sich tief in sein Fleisch gruben. Unter ihm gossen Männer und Frauen Alkohol und Benzin über die Bücher. Spritzer der stechend riechenden Flüssigkeit benetzten seinen Körper, sein Gesicht. Sebing lächelte milde zu ihm empor. »Gleich bist du frei von Schuld!« Und dann nickte er der Menge zu. Brennende Papierbälle regneten aus allen Richtungen auf den Scheiterhaufen aus wissenschaftlichen Büchern, die in der neuen Welt keinen Wert mehr hatten. Eine Welt, in der es sehr bald sehr viele Scheiterhaufen geben würde. Der Glaube kehrte zurück und brachte das Feuer. Ihre Gebete waren so laut, dass nicht einmal Villon selbst seine Schreie hörte, die er ausstieß, als die Flammen nach seinem Körper griffen und ihn zu verzehren begannen. Sebing strahlte, als sich der Ungläubige in eine Feuersäule verwandelte. Die Wärme des Feuers berührte sein Herz, seine Seele und die seiner Brüder und Schwestern. Nur noch kurze Zeit, dann würden sie ihre Mission beendet haben. Der Atem Gottes würde als erlösender Wind über die Welt wehen und ihr den Glauben zurückbringen. Dieser Gedanke machte ihn unendlich glücklich.
Ralph Doege (*1971) studierte Bibliothekswesen und schrieb seine Diplomarbeit über Philip K. Dick, nachzulesen auf www.philipkdick.de; von Beruf Buchhändler verfasst er nebenbei Essays und phantastische Literatur. Sein Debüt in der Science Fiction gab er 2003 mit der Kurzgeschichte »Assimilation« in FANTASIA; zwei weitere Erzählungen, vorwiegend aus dem Phantastikbereich, folgten in FANTASIA und NOVA.
RALPH DOEGE Alter Ego
Der vorliegende Text wurde durch die Vorsehung, die einige Zufall nennen, von meiner Freundin auf einer norwegischen Website gefunden. Bedauerlicherweise steht die Seite nicht mehr zur Verfügung. Damit ist leider auch eine Einleitung verloren gegangen, in der die Authentizität beteuert und zudem berichtet wurde, dass es sich um die Niederschrift eines Zeitreisenden handle. Wie der Text nach den beschriebenen Ereignissen in die Gegenwart gelangt sein soll oder ob der Zeitreisende noch immer unter uns weilt, bleibt ebenso unerwähnt wie sein eigentlicher Urheber, von dem wir nur die Initialen kennen: W. W. Mir ist nicht bekannt, inwieweit die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse fortgeschritten sind, um das Beschriebene bestätigen zu können. Die Zitate wurden den deutschen Ausgaben der entsprechenden Bücher entnommen, sofern diese bereits erschienen sind, der gesamte Text aus der
Originalsprache übersetzt. Meine Steckenpferde sind Literatur und Mystik, und ich kam nicht umhin, den Text aus diesen Perspektiven zu betrachten. Es ergeben sich nämlich aus dieser Sicht einige, wie ich meine, interessante Punkte, die nahe legen, dass es sich um einen fiktiven Text handelt – es sei denn, man schließt sich der Meinung an, die phänomenale Welt sei ein Spiegel der inneren Welt und somit eine Ansammlung von Symbolen der Befindlichkeiten des Betrachters. Diese Sicht würde vielleicht mit der vermeintlich naturwissenschaftlichen Sicht des unbekannten W. W. korrespondieren, der einige Autoren zitiert, die dem Konstruktivismus zuzurechnen sind, der postmodernen Ausformung des Idealismus. Hinzuweisen ist noch auf den Stilbruch, der mit der rascher werdenden Abfolge von Ereignissen gegen Ende des Textes auftritt. Dieser wurde möglicherweise durch die von Winckler angesprochene Transformation hervorgerufen∗, aber er kann ebenso auf schlechtes literarisches Handwerk hinweisen. Möge der geneigte Leser selber urteilen. Ich danke noch einmal meiner Freundin, die den Text aus dem Norwegischen übersetzt hat, der lieben Valery. Januar 2004, J. L. Bürger
»Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nie zeigen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht.« Ich erinnerte mich an die laue Nachtluft, die roten Lampions über dem Eingang; ich erinnerte mich an den stickigen Jazzkeller, an viele Menschen, an den Geruch von Rauch, ∗
C. G. Jung: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte, 9/1, S. 29f.
Schweiß und Bier. Ich erinnerte mich an den Freund, mit dem ich hierher gekommen war; daran, dass er bald gehen und ich allein an dem fleckigen Tisch hinter einem halbleeren Glas Bier zurückbleiben würde. Aber ich wusste nicht, warum er so früh gehen würde – vielleicht eine andere Verabredung, vielleicht gefällt ihm die Musik nicht, wird sie ihm nicht gefallen. Ich werde ihn zum letzten Mal sehen. Ich erinnerte mich an den Namen der Band, Ticonderoga, und den Titel ihres Albums, On The Drum: Red Rum. Ein Bass, eine Gitarre, ein Schlagzeug, drei Bläser und viel Elektronik.
Wo befand sich die Schwelle zwischen Erinnerung und Erleben, der Übergang vom Erleben zum Erinnern, vom Damals zum Jetzt, von der Vergangenheit zur Gegenwart? Erinnerungen und Gegenwart waren nicht deckungsgleich, natürlich nicht. Ich saß etwas abseits an der linken Wand und betrachtete mich – oder das, was ich einmal gewesen bin; fast direkt vor der Bühne sitzend, noch in Jonas’ Gesellschaft. Mein früheres Ich trug mein damaliges Lieblings-T-Shirt: rot mit einem schwarzen W auf dem Rücken. Mein Blick wählte den Umweg über den großen Wandspiegel, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde die beiden anstarren. Es war noch zu früh, in mein früheres Leben zu treten, dabei befand ich mich schon längst darin, oder etwa nicht? Hätte ich – mein damaliges Ich – den Kopf nach links gedreht, vielleicht wäre ich mir aufgefallen, vielleicht wäre ich zumindest unbewusst zu einem Faktor in meinem damaligen Leben geworden. Aber wäre ich damals wirklich in der Lage gewesen, mich zu sehen? Ist der damalige Augenblick identisch mit dem jetzigen? Zeitreiseparadoxa… Die Psychologen hatten mich vor dem Schock der Begegnung gewarnt. Ich wusste nicht, ob sie den
Schock für mein gegenwärtiges Ich meinten oder den für mein damaliges, das in diesem Moment auf seine Art natürlich ebenfalls gegenwärtig war. Die Psychologen hatten viele Theorien, aber eigentlich wussten sie gar nichts. Das war wohl einer der Gründe, weshalb dieses Experiment stattfand. Ich benutze hier häufig das Wort »Ich«, dabei ist dieser Begriff völlig unangebracht. Vor etwa zehn Jahren verdiente ein »Ich« diese Bezeichnung noch. Damals hatten die Neurobiologen noch nicht das neue Menschenbild ausgerufen, nach dem das Ich – entsprechend den verschiedenen Formen des Bewusstseins – ein Bündel ganz unterschiedlicher Funktionen und Erlebniszustände ist, und dass es keinen direkten Zugriff auf die verhaltenssteuernden Zentren des Gehirns hat. Das Ich ist in seinen verschiedenen Ausprägungen ein Konstrukt, welches das Gehirn entwirft, um komplexe kognitive, exekutive und kommunikative Aufgaben besser bewältigen zu können.∗ Die »kommunikativen Aufgaben besser bewältigen…« Hatte ich schon erwähnt, dass ich es hasse, mich selber zu betrachten? Beobachtung verunsichert mich. Und bald würde ich mir selber gegenübertreten, mir in die Augen schauen, mit mir sprechen. Es war schon verrückt genug, dass ich mich an diesen Moment, dem Beginn des Konzerts, erinnern konnte und ihn gleichzeitig neu erlebte. Was sollte ich zu ihm/mir sagen? Hallo Mr. Hyde? Ich bin hier, damit aus mir wieder Dr. Jekyll wird?
Die Musik begann mit dem Stück Mrs WereWoolf, einer Sampleorgie mit schweren Breakbeats und dem seltsamen Mantra: Pyramids of ice on red rum – slice. Ich wusste noch, dass ich damals sehr beeindruckt war, die Musik erschien mir ∗
G. Roth: Fühlen, Denken, Handeln. 2003, S. 550f.
sehr innovativ und komplex. Auf mein um zehn Jahre gealtertes Ego machte sie eher einen altbackenen Eindruck. Wie so häufig in den letzten Jahren stellte sich mir die Frage nach Beständigkeit, dem Selbstbetrug des Konservatismus, dem Irrtum, dass es Konstanten und unveränderbare Werte gäbe. Es gibt nichts Überdauerndes, nichts, das man schützen könnte. Neue Zeiten schaffen neue Konstellationen und benötigen neue Bewertungen, verlangen nach Improvisation, nicht nach Anpassung, sondern nach Einstimmung. Man könnte sagen, Leben sei wie Jazz. Der Sound der Wirklichkeit konstruiert sich aus dem Zusammenspiel diverser Musiker. Je frischer, unverbrauchter und komplexer das Spiel, desto schwieriger für andere einzusteigen. Es ist keine Frage mehr, was real ist, weil es nur Realitäten gibt, nicht aber die Realität. Wer ein offenes Ohr hat, nicht weichgespült und angepasst an Muzak, an eine Musik, die künstlich auf den kleinstmöglichen Nenner gebracht wurde, der mag sich einstimmen können auf die diversen Realitäten und auf neue Wege. Ich glaube daran, dass das Leben eine Geschichte des Bewusst(er)werdens ist. Das hat nichts mit Intelligenz zu tun, nur mit Selbstwahrnehmung, Selbst(er)findung. Selbstfindlinge, – die Erkenntnis, dass man wirklich ist und man selber – so und nicht anders, unwiderruflich, gefangen in dem einen Körper und dem Verlies, das man als Bewusstsein bezeichnen kann. Ich spreche hier von einer panischen Selbsterfahrung des Daseins. Das Ich stößt unvorbereitet auf sich selbst als voraussetzungslosen Fund. Der Selbstfindling erfährt sich in diesem Moment als das unheimliche Wesen, das schlechterdings kein Ding ist und das auch nicht im Widerschein der Dinge verstanden werden kann.∗ Die Dinge. – Der Raum. – Was erzeugt die Atmosphäre eines Augenblicks? Kleine schwarze Tische – wacklig auf dem ∗
P. Sloterdijk: Weltfremdheit. 1993, S. 15f.
Betonboden, vibrierende Weingläser, eingetrocknete Rotweinflecken; Tropfen, die von kalten Biergläsern perlen, spiegelnde Taulachen. Lautlos flackernde Teelichter in niedrigen Gläsern, wenige Jacken, über Stuhllehnen gehängt. Im Hintergrund eine Bar, davor Hocker aus dunklem Holz, dahinter eine Spiegelwand mit Regalen, darin Spirituosen. Vorn auf der Bühne die Instrumente, blaues und rotes Licht von Deckenstrahlern. Die Melancholie halbleerer Gläser, die Traurigkeit abgelegter Zigaretten. Was sind Dinge ohne Menschen? Was sind die letzten Dinge, die letzten verweilenden Strukturen, die nicht mehr wahrgenommen werden? Der Zigarettenrauch, der wie träger Nebel durch den Raum schwebt, zitternd von den tiefen Bässen. Wie verhält es sich mit unsichtbaren Dingen? – Sind Dinge ohne Menschen? – Ist ein Ton ein Ding? – Existiert ein Ton? Zuerst muss man das Ohr erfinden, sagt Heinz von Foerster, damit der Schall gehört werden kann, denn es gibt ja keinen Schall. Es gibt nur Moleküle – angeblich –, die sich rasend schnell bewegen. Erst wenn sie zufällig auf das Trommelfell klopfen, dann hört jemand etwas. Es gibt keine Musik, wie es zusammenhängend auch kein Licht gibt. Elektromagnetische Wellen, behaupten die Physiker, schwingen im Raum. Aber das hat mit Licht nichts zu tun. Erst wenn ich etwas habe, das eine Lichtempfindung produziert, sobald elektromagnetische Wellen auftreffen, kann ich das Licht sehen. Die Sicht steht vor dem Licht? Wir nähern uns der Nondualität, dem Zustand, in dem alle Dinge verwischen, alle Abgrenzungen verschwinden. Was unterscheidet Dinge von Menschen? Die Erfahrung von jedem Ding ›da draußen‹ wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche ›das Ding‹, das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht.∗ Die Dinge an ∗
H. Maturana/F. Varela: Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen
unseren Körpern: die Hörgeräte, die Ringe und Ketten, die Nasenpiercings, Hosen und T-Shirts, die Brillen, Tätowierungen und Beinprothesen – und schließlich das Füllende, das Organische, das Sich-Bewegende: Die Menschen, die Tiere – dort sitzt ein schwarzer Hund. Auf der Bühne: Die Virtuosen des Realitätsspiels. Ein Bläsersolo über einem Klangteppich aus komplizierten orientalischen Rhythmen und elektronischen Soundwellen, schwarz und grün. Wurde der Saxophonist von den Rhythmus- und Harmonievorgaben seiner Mitspieler in eine bestimmte Richtung gedrängt? Entschied er selbst, was er spielte? Stimmte er bewusst jede einzelne Note an? Nahm er sein Spiel ähnlich wie seine Kollegen oder das Publikum wahr?
Noch mehr Fragen: Wie steht es um den freien Willen und die Schuldfähigkeit? War der Solist am Anfang des Stückes der gleiche wie am Ende? Was hat die Interaktion bewirkt? Und wo liegt der Sinn? Ohne Spiel kein Sein, und ohne Sein kein Sinn. Wäre es möglich, hier in diesem Zeitraum zu bleiben, alles noch einmal zu erleben, mit einem gut zehn Jahre an Erfahrung gereiften Ich? Sie würden Wege finden, mich zurückzuholen. Letztendlich sind sie diejenigen, die bestimmen, wie lange ich hier verweile. Vielleicht könnte ich ihn, mein ehemaliges Ich, zurückschicken und selbst hier bleiben. Schließlich ist er der Straftäter, ich habe mir seit zehn Jahren nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Warum also weiterhin büßen für seine Taten? Ein interessantes Problem: Hätte sein Wirken dort in der Zukunft Einfluss auf mich hier in der Vergangenheit? Jonas verabschiedete sich. Er trank im Stehen den letzten Schluck Bier und ging. Ich würde nun bis zum Ende allein an Wurzeln menschlichen Erkennens. 1987, S. 31
dem Tisch sitzen und der Musik zuhören. Beim Herausgehen würde ich Mina bemerken und mit ihr in eine Kneipe gehen. Und dann werde ich sie nicht küssen und alles verläuft so, wie es verlief: Ich gehe allein nach Hause, ärgere mich wahnsinnig über mich, reagiere meine Aggressionen ab, gehe weiter meinen dunklen Pfad und werde verhaftet. 15 Jahre. Heute hätten sie mich nicht so lange festhalten können. Um verurteilt zu werden, muss man schuldfähig sein, das heißt, man muss einen freien Willen haben; es kommt auf die fehlerhafte Einstellung des Täters an. Dabei wird aber davon ausgegangen, dass die Tat bei freier Selbstbestimmung vonstatten ging und der Täter sie hätte verhindern können.∗ Aber ich habe ganz gewiss nicht freiwillig gehandelt, sondern unter Zwang. Zudem ist da gar kein Ich, das handelt. Das Ich ist, wie erwähnt, eine Konstruktion. Diese Konstruktion hat den Fehler, so viel Aggressionen angestaut zu haben, dass es ab und an zu Explosionen kommt. Da wird dann das Gewissen, das rationale Zentrum ausgeschaltet – oder nach hinten verdrängt… und das kommt einer Schizophrenie gleich. Da saß er. Unmöglich, mich weiterhin mit ihm zu identifizieren. Ich bin nicht er – und bin eigentlich auch nie er gewesen, mögen wir auch die gleiche Vergangenheit haben, die gleichen Erinnerungen. Er ist ein Aspekt dessen, was ich wahr, die Reduktion auf das, was mir von der Rechtsprechung dieser Zeit auferlegt wurde – oder besser: was sie aus mir gemacht hat. Ein Verbrecher.
Langsam schlenderte ich zu seinem Tisch, zwei Biere in den Händen. Wie sollte ich beginnen? Dies war der Augenblick, an dem meine Vergangenheit von der Erinnerung abwich, in dem ich die Schwelle übertreten musste. ∗
Vgl. J. Suschik, Neurojuristerei. 2007, S. 42
- Ich weiß, was du tust, sagte ich und stellte die Gläser ab, setzte mich gespielt ruhig neben ihn. Er schaute mich überrascht an. Sein Gesicht glühte, was vielleicht an der Hitze lag, die hier herrschte, vielleicht aber auch daran, dass ich aufgetaucht war. Ihm war unwohl. Seine Bewegungen liefen gewollt langsam ab, brachen aber doch immer wieder in nervöser Schnelligkeit aus. Er wusste eindeutig nicht, wie er reagieren sollte. Ich lachte bitter. Du weißt nicht, wer ich bin, stimmts? Habe ich mich so sehr verändert? Ich konnte sehen, wie ihm ein Licht aufging. Natürlich glaubte er nicht, was er sah. Unsere unglaubliche Ähnlichkeit bemerkte er jedoch. Als Kind hatte er – hatte ich – schon immer geglaubt, dass es irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger gab, jemanden, der mir zum Verwechseln ähnlich sah. Hier war er also, ich, mein eigener Doppelgänger. Er sagte nichts. - Ich komme aus der Zukunft, ich bin du. Nun lachten wir beide. Ich, weil ich den Satz so lächerlich fand, er, weil er ihn tatsächlich für einen Witz hielt. Ich schob mein T-Shirt ein Stück hoch und zeigte ihm die drei Zentimeter lange Narbe links unterhalb der letzten Rippe. - Ich bin du. Sein Lachen erstarb. - Hör zu, sagte ich. Ich habe nicht viel Zeit. Du musst aufhören! Dein Leben ändern! Sie erwischen dich. Du weißt, dass sie dich erwischen, du willst es nur nicht wahrhaben. Hör auf! Und noch eins: Du wirst nachher beim Rausgehen Mina treffen. Ihr werdet noch was trinken. Danach wirst du sie küssen, verstehst du? Egal, wie unsicher du bist. Du musst sie küssen! Er schaute mich weiterhin nur an. Sein Schweigen verunsicherte mich. Ich wusste nichts mehr zu sagen. Das war
alles, was ich mir in den letzten Stunden vor der Reise überlegt hatte. Er musste einfach das Mädel küssen und eine neue Beziehung eingehen, das würde seinen Weg soweit verändern, dass er nicht im Gefängnis landete. Zumindest hoffte ich das. Nach der letzten Trennung war mein Leben ziemlich deprimierend verlaufen. So deprimierend, dass ich nicht mehr glaubte, jemals wieder auf eine Frau auch nur zugehen zu können. Deshalb zog ich lieber den Schwanz ein, wenn es Anzeichen dafür gab, dass bei einer Frau Interesse bestand. Allmählich schien er zu erwachen. - Ist das ein Traum?, fragte er. - Wenn ja, sagte ich, dann bin ich der Träumer. Das verwirrte ihn. - Nein, sagte er. Ich war schon hier, bevor du aufgetaucht bist. Ich träume. - Wenn es dich glücklich macht. Solange du nur mit dem Mist aufhörst! Du weißt, dass es falsch ist, du weißt, dass sie dich erwischen werden. Hör auf damit! Du musst dein Leben ändern! Gott, wie ich mir selber auf die Nerven ging mit diesem »Du musst!«. - Ja, sagte er, irgendwie wie ein kleines Kind. Ist gut. Es klang glaubhaft, und vielleicht glaubte er selbst es auch, in diesem Moment. Aber wenn die Sache mit Mina schief ging, wäre ihm alles wieder scheißegal. Und das wäre mein Ende. Es scheint verlockend, die alten Fehler ausbessern zu können – aber was, wenn der freie Wille nicht ausreicht, wenn er gar nicht vorhanden ist, wenn ich dazu verdammt bin, die gleichen Fehler wieder und wieder zu begehen, bis in alle Ewigkeit, egal, wie häufig ich in die Vergangenheit reise? Eine interessante Variante der Hölle. Was, wenn alternative Möglichkeiten nur eine Rechtfertigung sind: Ich hätte auch anders reagieren können… Hier macht sich die
Schuldfähigkeit fest. Hätte ich wirklich anders reagieren können? Oder war mein Weg festgelegt. Das Wort ›Schicksal‹ bekam im neurobiologischen Kontext eine völlig neue Bedeutung. Die einzige Chance, die ich hatte, bestand darin, die Prämissen zu ändern, und zwar so weit, dass mein Ich tatsächlich eine Alternative hatte – dass die Bestimmung ihn in eine andere Richtung führen würde. Das Bewusstsein ist deterministisch, aber nicht determiniert.∗ Das Wichtigste war meiner Meinung nach, dass ich das Gefühl des Abgelehntwerdens minderte. Der Umstand, dass ich Mina damals nicht geküsst hatte, bedrückte mich bis heute. Hier musste ich ansetzen. - Hör zu, sagte ich. Wenn du Mina nachher nicht küsst, werde ich dich töten. Einen Moment lang starrte er mich sprachlos an, zuerst erschrocken, aber dann hellte sich sein Gesicht auf, bis es fast belustigt wirkte. - Du kannst mich nicht töten, du würdest dich selber umbringen. - Nein. Vergiss die Zeitschleifenscheiße aus dem Kino. Das ist alles viel komplexer. Ich bin kein Wissenschaftler, der dir das genau erklären kann, aber unsere Ichs sind Strukturen in der Zeit, in einer subjektiven Zeit; mein Ich ist an einem anderen Zeitpunkt als deins, auch wenn wir beide gerade hier sind. Für mich ist eine andere Zeit als für dich, du bist aus meiner Sicht Vergangenheit, meine Vergangenheit. Zudem überlagert sich unser Bewusst sein, je länger ich hier bin. Das liegt unter anderem daran, dass die Erinnerungen wieder lebendig und aktuell werden. Wenn ich dich töte, hat das keinen großen Einfluss auf mich. Wenn du mich tötest und den ∗
S. Kuhagen, Missverständnisse: Informatik und der Sinn des Lebens. Versuch einer algorithmisch-kausalen Wissenschaftsphilosophie. 2007, S. 259
gleichen Weg gehst, wie du ihn eingeschlagen hast, wie ich ihn durchlebt habe, dann wirst du deine Zukunft töten, denn dein Leben wird genau an dieser Stelle enden, an der ich mich nun befinde. Da hast du deine Zeitschleife. - Überlagerung? Klingt wie dieser Blödsinn mit den morphogenetischen Feldern. - Du musst nicht dran glauben. Wichtig ist nur: Wenn ich dich töte, hat das für mich keine besonderen Auswirkungen. Aber du wirst aufhören zu existieren. Das, was kommen würde, wenn du den Weg beibehältst, wäre ohnehin nicht erstrebenswert. - Was soll das alles dann? Es scheint ja keinen Einfluss auf die Zukunft zu haben, auf dich, egal, was aus mir wird. - Ich soll eine Neurose in meiner Bewusstseinsstruktur lösen; einen Knoten, der sich vor vielen Jahren gebildet und sich wie ein Krebsgeschwür in meiner… Psyche ausgebreitet hat. Und ich kehre nun zum Ursprung des Knotens zurück, um ihn gleich am Anfang zu zerschlagen. Das ist wie eine Rückführung unter Hypnose. Man konnte ihm ansehen, wie er nachdachte. - Was bringt es, wenn ich weiterlebe? Ich lande doch im Gefängnis. - Das ist deine Chance auf ein zufriedenes Leben. Du hast die Möglichkeit einzulenken, bevor du den Fehler machst, der dein ganzes Leben versauen wird. Sei nicht so dumm, aus irgendeiner irrealen Furcht heraus deinem Glück im Wege zu stehen. Und wenn du es dennoch tust, töte ich dich, damit habe ich kein Problem.
Ich hoffte, dass es nicht so weit kommen würde. Menschen töten, war nicht gerade meine Stärke. Eher eine Schwäche, die aus Ohnmacht resultierte. Ja, ich habe einen Menschen getötet,
aber in Notwehr, im Affekt – und zudem als Ergebnis meiner psychischen Leiden. Niemals sonst hätte ich dergleichen getan. Es gibt keinen freien Willen – es gibt nur die spätere Rechtfertigung der Tat; »das, was wir für freie Handlungen halten (…) [sind] Dinge, die uns geschehen, und unser bewußtes Erlebnis der Entscheidung (…) [ist] nur eine Illusion der Kontrolle«.∗ Wir sind Automaten, sehr dumme Automaten, die sich selbst nicht verstehen und deshalb nicht wissen, dass sie Automaten sind. Jede unserer Handlungen basiert auf Voraussetzungen, die ihrerseits wieder Voraussetzungen haben, durch die sie bestimmt sind. Nach streng deterministischer Denkweise liefe dies auf einen heiklen Schluss hinaus: Der Mensch – ein Automatenwesen.∗ Wieso heikel? Der Mensch ist, was er ist – und kann nicht anders sein. Nicht der Determinismus ist der Feind der Freiheit, sondern die Fatalität. - Vielleicht bin ich schizophren, murmelte er. - Mach dir keine Hoffnungen, sagte ich. Natürlich bist du leicht schizophren, aber nicht so sehr, dass du Erscheinungen hast – zumindest keine außer der so genannten phänomenalen Welt. Ich bin so real wie du, und ich kann dir gehörig in den Arsch treten, wenn du nicht mitspielst. Drohungen, Drohungen, Drohungen. Es war Zeit zu verschwinden und die Sache weiter aus der Ferne zu betrachten. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich ihn beobachtete. Und dass er Mina zu einem Glas Wein einladen solle. Und dass er sie, verdammt nochmal, küssen müsse. Ich würde in der Nähe sein… ∗
T. Nagel, zit. nach: T. Narretranders: Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewußtseins. 2000, S. 371 ∗ P. Hoff/S. Klimchak: »Freiheit, die wir meinen«. In: GEHIRN & GEIST. 1/2004, S. 29
Der Umstand, dass Mina tatsächlich auftauchte, als er den Jazzkeller verließ, schien ihn zumindest ein wenig zu überzeugen, dass etwas dran war an meinen Worten. Er wirkte ziemlich verwirrt, und ich hatte schon Angst, er würde Mina nicht dazu bringen, noch etwas mit ihm zu trinken. Er wirkte müde, sie auch ein wenig. So beschlossen sie, in eine Kneipe zu gehen, die sich unweit ihrer Wohnungen befand. Aus einer Gnade des Schicksals heraus, wohnten wir nicht weit voneinander entfernt. Ich setzte mich an einen Nebentisch, außerhalb ihres Blickwinkels. Bald entwickelte sich ein Gespräch, an dessen Inhalt ich mich kaum erinnern konnte. Vielleicht wich es auch von meinen Erlebnissen ab, vielleicht hatte sich schon alles genug verändert, wer konnte das sagen. Aus den wenigen Wortfetzen, die zu mir drangen, konnte ich kaum einen Zusammenhang rekonstruieren. Ich hörte einen Namen wie Bransby oder Bartleby oder Baratynski, ich weiß es nicht mehr genau. Einmal verstand ich »Fritz Lang«, und Mina sagte etwas über Fernando Pessoa. Sie lachten viel, das war gut. Sie bestellten ein zweites Glas Merlot, auch das war gut. Ich sah, dass unter seiner guten Laune etwas schlummerte, das hervorzubrechen drohte und erkannte, dass es schon immer da gewesen war. Es war die Angst vor der Zukunft, die Angst vor den Folgen der Taten, die ich nicht wollte und die doch von mir getan wurden. Es war eine ohnmächtige Traurigkeit angesichts der Verlorenheit im Sein, eine bodenlose Unsicherheit dem Leben gegenüber. Mir war bewusst, dass alles falsch war, mir war bewusst, was richtig war, aber dass ich das Lenkrad nicht herumreißen konnte. Ein großer Schatten lag über meinem Gesicht, der sich aus der Vergangenheit und den Geschehnissen der Zukunft speiste. Die Angst vor den
Krallen des Tigers. Und mir kam ein Satz in den Sinn: Jeden Abend sind wir um einen Tag ärmer.∗
In diesem Moment trat mein Psychologe George Winckler an meinen Tisch. - Was machen Sie denn hier? - Wir müssen abbrechen, sagte er. Wir haben Indizien, dass sich neue Kausalketten ergeben, die schlimmere Implikationen beinhalten als die der Ausgangsposition. Das Experiment ist gescheitert. - Warum? Was ist passiert? - Es weist alles darauf hin, dass Sie Ihr damaliges Ich zu einem anderen Verbrechen bewegen. Wenn dies geschieht, gibt es moralische, ethische und nicht zuletzt juristische Probleme, die wir nicht tragen können. - Ich verstehe nicht. - Wir haben Sie zu diesen Veränderungen in der Zeitstruktur aufgefordert. Wir tragen die Schuld an allen Konsequenzen. Somit wären wir Schuld an den Verbrechen, die aus Ihren Manipulationen entstehen. Ich war mir nicht sicher, ob mir das wirklich einleuchtete, aber was sollte ich tun? - Was schlagen Sie vor? Sollen wir einfach alles so belassen, wie es ist, oder einfach verschwinden? Es sieht doch ganz gut aus, er wird Mina küssen und alles wird gut. - Finden Sie das nicht auch reichlich naiv? - Eigentlich nicht. Der Kuss wird eine Veränderung bewirken, darum geht es doch. - Sie wissen nicht, wie das junge Ding reagieren wird. Und selbst wenn ihre Reaktion positiv ist, wissen Sie nicht, was in der Zeit danach geschieht. Vielleicht treibt sie ihn zum ∗
A. Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II. 1988, S. 258 (§ 143)
Wahnsinn oder bringt ihn dazu, das besagte Verbrechen zu begehen… - Das halte ich zwar für ziemlich unwahrscheinlich, aber gut. Stellen wir uns vor, es könnte alles nach hinten losgehen. Was schlagen Sie vor – ihn töten? Auch wenn es hier um meine Vergangenheit geht, ich werde das nicht tun. Das müssen Sie dann schon selber machen. - Wenn Sie möchten. Aber ich muss Sie vorwarnen. - Weshalb? - Wir sind uns unserer Theorien nicht mehr sicher. - Das bedeutet? - Beantworten Sie mir bitte erst eine Frage: Fühlen Sie sich anders, seitdem… seitdem Sie hier angekommen sind? Haben Sie irgendwelche Veränderungen an sich festgestellt? - Nicht, dass ich wüsste. Was für Veränderungen? - Wir sind uns da nicht sicher. Es wäre nur möglich, dass unser Verständnis von Zeit falsch oder eher nicht absolut richtig ist. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass sich Veränderungen nur auf Ihre Psyche auswirken werden. Und zwar nicht durch ein Zeitschleifenparadox, sondern therapeutisch, indem Sie die Chance bekommen, eine komplexbildende Situation erneut zu durchleben und durch Katharsis den Knoten zu lösen. Soweit war die Theorie nicht schlecht, da wir die Zeit zwar als linear fortschreitend betrachteten, aber Ihre und unsere Zeit ja linear weiter schreitet, während wir hier sind. So gesehen war kein Platz für Zeitschleifen. Es gibt nur die Gegenwart, die ist die einzige Realität. Das Vergangene hat nur einen marginalen Einfluss auf das Jetzt. - Ja, so hatten Sie es mir erklärt. Und jetzt sind wir uns nicht mehr sicher, ob das der Wirklichkeit entspricht. Es könnte sein, dass Veränderungen in
Ihrer Vergangenheit zu Veränderungen in Ihrer Gegenwart führen. - Das würde bedeuten, dass ich sterbe, wenn wir ihn töten? Winckler schüttelte betrübt den Kopf. - Vielleicht. Wir wissen es nicht. Möglicherweise sterben Sie, möglicher weise auch nicht. Das Problem ist, dass Sie eigentlich nicht sterben können, da Ihre Realität im Hier und Jetzt verankert ist. Und in diesem Hier und Jetzt sind Sie nicht identisch mit Ihrem vergangenen Ich.
Ich muss zugeben, dass ich nur die Hälfte unseres Gesprächs verstand – und das, was ich verstand, gefiel mir überhaupt nicht. Anscheinend war ich in eine auswegslose Situation geraten. Möglicherweise würde ich ein schlimmeres Verbrechen begehen, möglicherweise konnte ich nichts dagegen tun, möglicherweise würde ich sterben… Oder es passierte einfach gar nichts. Ich musste etwas tun. Nur was? - Wir reden mit ihm, sagte ich. Vielleicht können wir doch etwas retten. - Oder wir machen alles noch schlimmer. Möglicherweise sind die alten Theorien doch richtig – und unsere Messungen haben nur natürliche Schwankungen in Ihrer Persönlichkeitsstruktur aufgezeichnet. Vielleicht müssen wir uns gar keine Sorgen machen. Er sah nicht so aus, als würde er daran glauben. - Dann kehren wir einfach zurück, sagte ich. Und belassen alles so, wie es ist. - Wenn Sie möchten. Ich werde hier nichts tun, solange ich nicht weiß, ob mein Tun Konsequenzen für die Gegenwart oder die Zukunft hat.
- Ich möchte mit ihm reden, und ich möchte, dass Sie dabei sind. Er soll noch einmal sehen, dass ich, dass wir hier kein Theater spielen. - Okay.
Die nächsten Ereignisse sind sehr rätselhaft – und ich möchte nicht verheimlichen, dass ich sie selber kaum für glaubhaft halte. Ich ging hinüber an den Tisch und setzte mich. Er schaute mich verwirrt und ein wenig ängstlich an. Mina fiel unsere Ähnlichkeit sofort auf, sie wusste aber nicht, wie sie reagieren sollte, da ich sie nicht beachtete. - Was soll das?, zischte er, als würde er hoffen, die Situation vor Mina retten zu können. Du bist eine Gefahr für meine Zukunft, sagte ich. Dann gingen die Emotionen mit mir durch… In einem Impuls von Wut schubste ich ihn nach hinten. Sein Stuhl kippte und er schlug mit dem Hinterkopf gegen den Nachbartisch. Benommen blieb er liegen. Lange genug, um an mir eine beängstigende Veränderung festzustellen. - Mein Gott, sagte ich. Meine rechte Hand ertastete an einer kahler werdenden Stelle am Kopf eine Narbe. Vorher war sie nicht dagewesen. Und gleichzeitig mit dieser Erkenntnis kam die Erinnerung. Ich erinnerte mich, wie ich von meinem älteren Ich nach hinten gestoßen wurde und mit dem Kopf an die Tischkante knallte. Unmittelbar darauf spürte ich einen unheilverkündenden Hass auf dieses ältere Ich in mir aufsteigen. Ich hasste mich selbst. Mina sprang auf. Winckler warf mir einen auffordernden Blick zu. - Entweder bringen Sie es nun zuende oder wir verschwinden von hier. Er hatte Recht.
Ich folgte ihm hinaus ins Licht des Mondes, dem Spiegel der Zeit, ließ meine Vergangenheit einfach unter dem Kneipentisch liegen und fluchte leise vor mich hin. Es war kühler geworden und einige dunkle Wolken zogen über den Himmel. Dann blieb ich abrupt stehen. - Verdammt! Winckler drehte sich mir zu, schaute besorgt, fragend und gleichzeitig verwirrt. Ich zeigte ihm meine linke Hand, an der mein Mittelfinger fehlte. Kein Blut, nichts, nur eine seit langem verheilte Wunde und Phantomschmerzen. - Die Transformation, sagte Winckler kryptisch. Die neuen Implikationen Ihrer persönlichen Geschichte. Sie wirken sich auf Ihre Gegenwart aus. Sie haben den Verlauf verändert. - Ja, sagte ich. Und ich bin mir absolut nicht sicher, ob das gut ist. Mina stürmte aus der Kneipe. - Er hat ein Messer! rief sie atemlos. Das war wohl die Antwort auf meinen Gedanken. Sie schien einen Moment zu überlegen, ob sie wegrennen sollte oder bei uns bleiben, und kam schließlich in unsere Richtung. - Erinnern Sie sich an die nächsten Ereignisse? fragte Winckler. Ich spürte in mir nur Verschwommenheit, Unschärfe, ein seltsames Gefühl, als würde ich umprogrammiert. Meine Geschichte, meine Vergangenheit verwandelte sich nach und nach in etwas Neues. Altes verschwand aus meinem Gedächtnis, neue Ereignisse manifestierten sich. Der Übergang war zum Verzweifeln: Ich erkannte mich kaum selbst wieder. - Ich werde… Er wird gleich herausrennen und uns mit einem Messer angreifen… An mehr konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern – als hinkten meine Erinnerungen immer einen Schritt hinter den Bewegungen meines jüngeren Ichs zurück.
Konnte ich die Erinnerungen mit dem Wissen um sie verändern? Oder war ich dazu verdammt, sie ein weiteres Mal zu erleben? Mein jüngeres Ich kam herbeigestürzt, den Arm mit dem Messer erhoben. Ehe Winckler reagieren konnte, senkte sich die Klinge in seine Brust. Winckler brach zusammen. Anscheinend hatte er eine Art Schutzmechanismus, denn er löste sich im nächsten Moment in Nichts auf. Mina schrie vor Entsetzen. Ich stand starr vor Schreck da. Die Erinnerungen und Gedanken, die auf mich einströmten, schienen nicht die meinen zu sein. So kannte ich mich nicht – und doch verblassten meine Bedenken gegen sie fast augenblicklich. Und gleichzeitig erwachte meine Handlungsfähigkeit. Wut und Traurigkeit brachen gleichzeitig mit der Erkenntnis hervor, dass er als Nächstes Mina töten würde. Er projizierte all sein Leid, seinen Hass auf dieses äußerlich zerbrechliche und innerlich starke Wesen, die Beherrscherin seiner Träume. Ich hatte diesen Gedanken weitere zehn Jahre an Selbsthass und Verbitterung hinzuzufügen, die sich in diesem Moment in körperliche Kraft verwandelten. Meine Hände krallten sich um den Hals meines früheren Ichs. Außer mir vor Angst und Hass brüllte ich meine Emotionen heraus in kaum abzubildenden Interjektionen. Mir kam der Gedanke, dass sein Tod auch mich töten würde. Ich war mir da ebenso wenig sicher wie Winckler und die anderen Wissenschaftler. Sie sagten, die Zeit sei nicht kausal. Aber die Narbe, der fehlende Finger, die Erinnerungen schienen etwas anderes zu beweisen. Also musste ich ihn anders töten – schneller und verlässlicher. Ich trat ihm gegen die Beine, bis er das Gleichgewicht verlor und rammte ihm beim Aufprall auf der Erde mein Knie in den Magen. Er ließ das Messer fallen. Ich griff danach und rammte ihm mit einem verzweifelten Aufschrei die zeigefingerlange Klinge ins Herz.
Würde ich nun sterben? Ich wartete. Nichts geschah. Ich erinnerte mich an den Stich in meinem Herzen, aber danach verblasste alles. Und ich lebte. Tabula rasa. Als sei die Bestimmung gelöscht, die von diesem toten Ich ausgegangen war. Aber ich fühlte mich dennoch nicht befreit. Aus meinem Herzen, vielleicht an jener Stelle, an der das Messer in die Vergangenheit eingetreten war, schien eine schwarze Kälte zu strömen, die mir Angst machte. Mina stand bleich wie der Mond neben mir und sah aus, als müsste sie sich jeden Augenblick übergeben.
Stunden später war ich noch immer am Leben. Ich musste abwarten, ob Winckler oder die anderen mich zurückholten. Aber nichts geschah, vermutlich fanden sie ihr Experiment zu interessant. Mina half mir, den Leichnam auf einen nahen Friedhof zu schleppen. Warum, hätte ich nicht sagen können. In einem Schuppen fanden wir Schaufeln. Es war ein wenig ungehörig, aber wir begruben meine Vergangenheit in einem frischen Grab, dessen Erde noch locker war. Seltsame Stunden waren es, die uns hier verbanden. Trotz der schrecklichen Umstände wollte ich sagen: Verweile doch…∗ Aber aus Angst konnte ich den Gedanken nicht zuende denken, als sei er das geheime Passwort, das »Sesam öffne dich!« zum Tor in die Zukunft, zurück ins Gefängnis, zurück in die Einsamkeit. Ich war mit Mina zusammen, das machte mich zufrieden, es schien alte Wunden zu heilen – und das wollten sie doch, die Professoren der Zukunft. Gegen vier Uhr hatten wir es geschafft. Der Mond war bereits hinter den Hausdächern verschwunden. ∗
»Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!« Goethe: Faust I.
Ich würde gerne berichten, dass Mina und ich uns näher kamen in diesen wenigen Stunden, aber das war nicht der Fall. Wir sprachen fast gar nicht. Sie lud mich auf einen Kaffee ein – und ich fragte mich, inwieweit ihr Charakter mit meinem Bild von ihr übereinstimmte. Unter den ersten Morgengrüßen einiger Vögel begaben wir uns in ihre Wohnung. Unterdessen versuchte ich, ihr die ganze Geschichte zu erklären. Sie schien skeptisch, hatte aber meine Ähnlichkeit zu dem Toten bemerkt – und das Verschwinden Wincklers gab ihr zu denken. Schweigend beobachtete ich sie dabei, wie sie den Kaffee zubereitete und freute mich über ihre Bewegungen, die trotz aller Müdigkeit geschmeidig und schön wirkten. Als sie sich an den Tisch setzte, sprach sie, als hätten wir uns seit Stunden unterhalten: - Aber ich kann nicht an eine Zeitreise glauben. Der Kühlschrank surrte leise vor sich hin, eine Wanduhr tickte, eine Grille versuchte den Takt zu finden. Ich atmete das Aroma des heißen Kaffees ein. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte gedämpft ein Hund, Lachen, die leise Musik einer Akustikgitarre. Meine müden Muskeln entspannten sich schmerzend. Mir kamen die Ereignisse selbst zu verrückt vor. Vielleicht war es für alle besser, Mina würde die Wahrheit nicht glauben – und alles schnellstens vergessen. Sie zog die Knie auf den Stuhl hinauf. - Was ich für völlig dumm halte, sagte sie schließlich und schaute mich über den Tassenrand hinweg an, ist, dass du dies alles an einem Kuss von mir festmachst. Wer bin ich denn, dass ich so eine Macht haben soll? Die Königin meiner Tage und Nächte, dachte ich – und blickte in ihre dunklen Augen. (Dir zuliebe kann ich alles tun,
arbeiten, früh aufstehen, vernünftig sein.∗) Aber mir blieb keine Zeit, eine Antwort zu erfinden. Als die Wohnungstür mit lautem Krachen in den Flur fiel, schwappte mir vor Schreck Kaffee auf die dreckstarre Hose. Mina sprang als erste auf und schaute vorsichtig hinaus. Ich hörte sie asthmatisch keuchen. Bleich, mit resignierendem Blick, kam sie zurück. Sie hielt eine Blume in der Hand. Eine Blume, die ich zuvor auf dem Friedhof gesehen hatte. Mein Herz blieb stehen. Kein Entkommen? Mina blickte seltsam verwirrt zu Boden, als stünde sie kurz davor, den Verstand zu verlieren, die Lippen leicht geöffnet, den Kopf tief zwischen den Schultern, irgendwie, als wolle sie vergessen, was sie eben gesehen hatte, nein, als hätte sie es bereits vergessen. Und wieder die Kälte, die Schwärze, die ich dank Minas Anwesenheit und den Kaffee vertrieben zu haben glaubte. Ein Fass Säure ergoss sich in meinem Magen. Besudelt von dunkler Friedhofserde stand das Ding, meine Vergangenheit, schwankend und tot auf der Türschwelle. Night of the Living Dead. Night of the Living Past. Warum holten Winckler und die anderen mich nicht zurück? Was konnte ich jetzt noch tun? Ich glaubte aus dem toten, dreckverschmierten Mund zwei Wörter zu hören, vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein: Küss mich! Mina sprang vor Furcht nach hinten, mir in die Arme. Sie klammerte sich an meinen Hals, jetzt wieder etwas mehr Leben im Blick. Der Zombie – oder was auch immer es war – torkelte wie geschlagen zur Seite, gegen den Herd. Alles wirkte überreal. Der Geruch der Friedhofserde, Minas Wärme, ihr Atem, der Duft ihres Haars. Ich drückte sie fester an mich – und sie erwiderte den Druck. Unsere Blicke trafen sich. – Dann unsere Lippen. Der Zombie erstarrte mit einem schmerzvollen, ∗
C. Meckel: Licht. 1990, S. 5
unendlich müden Keuchen. Ich wollte mich für den Kuss entschuldigen, ein Hoffnungsschimmer im Blick des erstarrten Dings, aber ehe ich etwas sagen konnte, küsste Mina mich ein weiteres Mal.
Neue Tage, neue Jahre kamen. Und jeder Kuss, jeder Liebesbeweis Minas, raubte der Gestalt mehr an Kraft. Die Zeit nahm ihr das menschliche Antlitz, verwandelte sie immer mehr in eine Statue, die immer seltener aus ihrem lethargischen Schlaf erwachte und später nur durch ein Ritual zu erwecken war, das Mina in einem alten Buch gefunden hatte. Sie schrieb ihr dann ein hebräisches Wort auf die Stirn. Wir taten das alle paar Monate, um zu sehen, ob noch Leben in dem Haufen vertrockneter Erde war. Unsere Menage à trois (wie einige Freunde witzelten) konnte noch einige Jahre so weitergehen, sofern Winckler und seine Kollegen nicht auf die unsägliche Idee kamen, mich aus meinem Glück zu reißen. Zumindest begann meine Vergangenheit zu schrumpfen. Zuerst schien die Statue Feuchtigkeit zu verlieren, auszutrocknen, dann wurde sie kleiner und leichter. Bald konnte ich sie in die Tasche stecken und mit mir herumtragen. Ein surrealistisches Vergnügen, das ich mir nicht verwehren mochte. Was blieb, war das Glück – und die Furcht vor dem einen Gedanken, der mir immer wieder kam und der mir wie eine Rückfahrkarte in die Hölle – das Gefängnis – die Einsamkeit erschien: Verweile doch…
Myra Çakan studierte Schauspiel und Musik und arbeitet heute als freie Autorin und Journalistin. Mit ihren Romanen When the Music’s Over und Downtown Blues sowie zahlreichen Kurzgeschichten in ALIEN CONTACT sowie in diversen Zeitschriften und Anthologien gilt sie als Galionsfigur des Cyberpunk in Deutschland. Darüber hinaus verfasste sie ein halbes Dutzend Hörspiele. www.dardariee.de
MYRA ÇAKAN Im Netz der Silberspinne
Spider hasste den Tag. Den Morgen hätte er noch mehr gehasst, wäre er jemals morgens wach gewesen. Er war ein Wesen der Nacht – Spiders zweiter Name war »unsichtbar«, und nur in der Nacht ist man so richtig unsichtbar, klar… Manchmal, wenn er in der Dämmerung unterwegs war, die Sinne geschärft, fühlte sich sein Körper wie ein hochgetuntes Instrument an. Spider mochte dieses Gefühl. Es gab ihm Macht und eine gewisse Art von Kontrolle, die er oft schon verloren wähnte, in diesen dunklen, sumpfweichen Stunden der Zwischenzeit. Die Sonne schien grell in seinen Unterschlupf, in seine Augen. Der ganze Himmel war heute grell, gelb grell, zum Erbrechen grell. Er spürte eine unerklärliche Lethargie, wie nach einem schlechten Trip, als wäre sein Körper, jede seiner Zellen während der Nacht umprogrammiert und die alte Software ausgetauscht worden. Muss wohl ‘n totalen Blackout gehabt haben, dachte Spider. Beiläufig registrierte er das
Zucken seiner Muskeln, sie waren der Seismograph seines Nervensystems, sagten ihm – es ist wieder soweit. Er brauchte bald den nächsten Schuss, wollte er vermeiden, dass aus dem Zittern Krämpfe wurden. Sandoz und Geigerzähler sollten auch bald auf der Runde sein, Sandoz war ganz hart auf Icecreme. Spider hatte sie mal gefragt, warum sie so auf das Zeug abfuhr, und sie hatte geantwortet: »Weil es zu meinen Haaren passt.« Dabei hatte sie ihn zwischen den Strähnen ihrer neonsilbernen Ponyfransen angegrinst, es sah aus, als würde ihn ein Geist aus dem Sarg zulächeln, ganz schön gespenstisch, Mann. Spider gähnte wieder. Er versuchte, das immer stärker werdende Vibrieren seiner Muskeln zu überspielen. Er überlegte, wann er Ameise zuletzt gesehen hatte, Ameise war sein Dealer, und ohne ihn war er auf den bekifften Stoff angewiesen, den Geigerzähler und sein Mädchen immer schmissen. Bis er auf Icecreme oder anderes Designerzeug umstieg, musste es schon ganz hart kommen. »He, Spy, Mann, was geht ab?« Sandoz schob sich in sein Blickfeld. Sie kauerte sich neben Spider auf den Boden und malte mit dem Zeigefinger hektische kleine Kreise in den Staub. Die ganze verdammte Stadt war mit hektischen kleinen Kreisen übersät. »Heya.« Spider nickte ihr zu. Das Mädchen machte ihn irgendwie nervös. Es wurde Zeit, das er mit der Silberspinne über die Angelegenheit sprach. Er sah sich um. Die Straße sah aus wie immer, öde. »Wo bleibt denn Geigerzähler?« »Weiß nicht, weiß nicht.« Der Finger zog immer engere Spiralen in den Staub. Die blassen blauen Augen des Mädchens sahen ihn an, ohne ihn richtig wahrzunehmen. Diesen Blick kriegte sie von Zeit zu Zeit, und nicht mal Geigerzähler konnte dann sagen, ob sie nicht bald ausfreaken würde. Spider stand auf und streckte
sich. Fast meinte er, sein Spiegelbild in einem der blinden Fenster auf der anderen Straßenseite zu erkennen. Er war sich ziemlich sicher, dass er eigentlich ganz gut aussah, auf eine unbestimmte Art. Plötzlich war es still, klirrend still. Spider wusste erst nicht, was es war, dann merkte er, dass dieses kleine hungrige Geräusch verstummt war, das Flüstern des Straßenstaubs. Sandoz, sie beobachtete ihn. Sein Spiegelblick tauchte in Sandoz’ fahle Augen ein, die plötzlich lautlose Verheißung signalisierten. Er zuckte zurück. Ihm wurde gleichzeitig heiß und schlecht vor Verlangen. Er wandte den Blick ab. Und wie eine ferne Erlösung sah er ein Flirren, das die Straße herunterkam, ein Flirren das auf der Mittagssonne ritt – Ameise auf seinem Hoverboard. Locker stand er auf dem Brett, die Knie leicht gebeugt, seine Arme schwangen im Rhythmus der Straße. Oh Mann, er sah aus wie der Silberne Surfer und er brachte die Erfüllung, kristalline, klare Erfüllung. »Heya, Spider.« Er verhielt schwebend über dem Staub. Ein postatomarer Heiliger. »Der Eismann ist da.« Spider lauschte dem Klang der Worte nach, drehte sie herum, schmeckte ihren Sound. Verdammt, irgendwas lief hier völlig verkehrt. »Was’n los Mann?« Ameise runzelte die Stirn. »Wie kommt’s, dass du immer Powerzellen für dein Brett hast, Mann?« Plötzlich brach es aus ihm raus. Er hatte es bestimmt nicht fragen wollen. Die Worte hatten sich auf dem Weg von seinem Hirn zu seinem Kopf verdreht. Aber verdammt noch mal, Ameise war sein Dealer. Seiner, seiner. Spider verschränkte die Arme auf dem Rücken, presste die Finger zu Fäusten, jetzt bloß nicht zeigen wie nötig er den nächsten Schuss hatte.
»Ja, Mann, und woher kriegst du immer den ganzen Stoff?« Sandoz’ helle Stimme schnitt die Luft in Scheiben. »Verpisst euch doch, ihr blöden Typen!« Ameises Fuß schnellte vor, um sich vom Boden Schwung zu geben. Spider wollte ihn festhalten – zu langsam, zu spät. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, das Mädchen schrie ihm die Worte auf einem langen Heulton entgegen. »Er hatte den Stoff, er hatte ihn dabei, Mann, und jetzt ist er weg.« Sie rutschte an der Hauswand herunter, und wie ein selbständiges Ding fing ihr Finger wieder an, diese blöden Kreise zu malen. Spider klinkte sich aus. Wie hatte er jemals einen Gedanken an sie verschwenden können? Mädchen hatten immer diese schwer zu fassende Art. Irgendwie konnte er nie so recht klug aus ihnen werden. Sie rochen auch anders als Männer, und wenn sie mit ihm redeten, wusste er oft nicht, was sie eigentlich meinten. Silberspinne war anders. In seinen Träumen sah er sie als Frau mit Killeraugen und harten Muskeln unter ihrer silbernen Haut. Alles an ihr war silbern, ihre Augen, ihre Stimme und ihre Brüste. Silberspinne verstand ihn, sie streichelte seine Sinne besser als jede Droge, denn sie war die Droge. Sie legte sich auf ihn, auf sein Gehirn, ergriff Besitz von jeder Zelle seines Körpers, und er war wie gelähmt. Er wollte sich nicht einmal wehren. Er wollte, dass sie ihn aussaugte. Er wachte schwitzend auf, und sein Körper war schwer und orientierungslos. Jedesmal danach schwor er sich, dass es das letzte Mal gewesen war, diese Träume machten ihn fertig. Einmal hatte er versucht, mit Geigerzähler darüber zu sprechen, nur um rauszukriegen, ob er auch im Morgengrauen mit der Silberspinne sprach, aber dann hatte er doch geschwiegen, es war ihm wie Verrat vorgekommen. Und er hatte Angst gehabt, ein unaussprechliches Geheimnis preiszugeben, denn schließlich war da so etwas wie ein
Geheimnis zwischen ihnen. Und auf irgendeine unbestimmte Art war es schmutzig, schmutzig und aufregend zugleich, was da zwischen ihm und Silberspinne abging. Irgendwie war es sogar ähnlich wie diese Gefühle, die Sandoz’ Blick ihm gemacht hatten. Nein, darüber würde er nie mit jemandem reden. Er wusste, das würde »ihr« nicht gefallen. Spider federte auf den Fersen, streckte sich wieder. Seine rechte Hand klatschte rhythmisch gegen seinen Oberschenkel. Das Mädchen malte immer noch seine blöden Kreise in den Staub. Mit einer ganz präzisen Bewegung, nahezu traumhaft exakt und mir der Grazie eines Tänzers, drehte Spider sein Bein leicht aus der Hüfte, und leichter als ein Windhauch huschte sein rechter Fuß über Sandoz’ stumme Beschwörungen. Wusch, weg waren sie, und im Echoschatten ihres schrillen Schreis zuckte sein Fuß wieder zurück. Plötzlich fühlte er sich richtig gut. Doch das Gefühl war viel zu schnell vorbei. Ameise, dieses dumme Arschloch, fährt durch die Gegend mit nichts als diesem verdammten Icecreme in der Tasche! Vielleicht sollte er sich ganz schnell einen neuen Dealer suchen… Er merkte, wie sich seine Gedanken im Kreise drehten, so als würden sie Sandoz durcheinanderwirbeln, wie den Staub der Stadt. Das war die Strafe, weil er ihre Kreise kaputtgemacht hatte, und deshalb hatte Ameise seinen Stoff nicht gehabt – eine Vorwegnahme der Ereignisse, ein Omen. Spiders Leben war auf solchen Zeichen aufgebaut. Sie waren seine Leuchtfeuer durch das Labyrinth des Tages, so wie Silberspinne seine Nächte erleuchtete. Sie war es auch gewesen, die ihn zu Ameise geführt hatte, sie wusste so genau, was er brauchte. Warum ließ sie ihn jetzt im Stich? Nein, warte. Das stimmte nicht. Silberspinne hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Er musste nur Geduld haben, warten, bis es dunkel wurde. Dann würde sie für ihn da sein, mit ihrer
kalten Zärtlichkeit, ihrer Weisheit. Er lief schneller, dem trüben Sonnenuntergang entgegen.
Er konnte Sandoz schon von weitem sehen. Langsam ging er zu dem Treffpunkt. Eigentlich war es kein richtiger Treffpunkt, nur ein Ort um rumzuhängen, auf seinen Dealer zu warten und den verdammten graugelben Tag auszusitzen. Von dem alten Haufen waren nicht mehr viele in der Gegend geblieben, nach dem letzten großen Absturz. Sie hatten Angst vor dem Winter. Doch warum an die Kälte denken, wenn die Sonne schien und die Nächte warm und vertraulich waren? Ob sie noch sauer auf ihn war wegen dieser Sandkreise? Spider fragte sich, ob er sie ansprechen sollte, entschied dann aber, dass es geschickter war zu schweigen. Und wenn er es sich recht überlegte, war er zum Reden viel zu müde. Sein Kopf, sein ganzer Körper war müde – nein, nicht müde, er fühlte sich so wund an, als hätte er die ganze Nacht auf Entzug verbracht. Seltsam. Sie war allein. Sie sah ihn nicht kommen. Sie stand vor diesen kaputten Scheiben und starrte auf einen Punkt im Nirgendwo. Spider überlegte, ob sie wohl high war, und sein nächster Gedanke galt der Frage, wo sie jetzt Stoff her hatte. Doch auf einmal war das alles nicht mehr wichtig. Fast hypnotisch wurden seine Sinne von dem Spiegelbild angezogen. Er sah, wie sie sich streckte und ihre kleinen Brüste sich gegen das Sweatshirt drückten. Sie bog die Arme nach hinten und fuhr sich durch die Haare, ganz langsam, träumerisch, so als würde sie sich unter Wasser bewegen. Und da wusste er es – sie zog eine Show für ihn ab, sie spürte seine gierigen Blicke und es turnte sie an. Trotzdem konnte er nicht aufhören sie anzustarren, wartete mit angehaltenem Atem darauf, das ihr der ausgeleierte Ausschnitt des Shirts über die
Schultern rutschen würde. Er streckte die Hand aus, tastend, und fuhr mit den Fingerspitzen ihre Silhouette auf dem staubigen Glas nach. »He, Spider, du blödes Arschloch, haste wieder mit meiner Alten rumgemacht?« Geigerzähler. Endlich war er da. Hysterisch lachend schlug er ihm auf den Rücken. Er war voll auf Icecreme und tanzte vor falscher Energie. Spider schmeckte bittere Wut im Mund, seine Faust wollte sich in Geigerzählers dummes Maul bohren, bettelte darum. Warum war er nicht früher gekommen und hatte verhindert, was passiert war. Aber was war denn eigentlich passiert? Früher hatte er nie diesen Zorn in sich gespürt. War er auf Geigerzähler so sauer, weil der ihn dabei erwischt hatte, wie er sein Mädchen anstarrte? Aber vielleicht war er auch nur so mies drauf, weil Ameise ihn linkte… He, das stimmte ja gar nicht. Dieses blöde Dealerarschloch war schon seit Tagen nicht mehr aufgetaucht, wie konnte er ihn da linken. Aber wieso war Geigerzähler dann drauf, wo hatte er den Stoff her, wenn Ameise… Seine Gedanken liefen im Kreis, hoppelten in seinem Kopf herum wie lustige kleine Plüschhasen. Rosa und grüne Plüschhasen. Spider merkte, wie er zuckte, sich sein ganzer Körper in lautlosem Gelächter schüttelte und tanzte. »Hör zu, Mann – « Spider suchte nach Worten, aber er konnte die kleinen Hasen nicht anhalten. Geigerzähler. Seine Augen waren aufgerissen und er sah ziemlich ängstlich aus. Ängstlich und dämlich. Vielleicht sah er auch die Hasen und wusste nicht, dass es Spiders Hasen waren. Vielleicht sah er genau in diesem Moment in seinen Kopf hinein. Spider hörte abrupt mit dem hysterischen Gelächter auf. Der Gedanke, dass Geigerzähler oder irgendjemand, irgendetwas in seinen Kopf sehen konnte, gefiel
ihm überhaupt nicht, machte ihm eine Gänsehaut. Gedanken können wie schlechter Stoff sein, weißt du. Geigerzähler starrte ihn immer noch an. Dann irrte seine Blick zu Sandoz, die methodisch auf einer Haarsträhne kaute. Hier gab’s ‘n echtes Kommunikationsproblem, so viel stand fest. Mann, die Stadt ging wirklich den Ausguss runter. Seit das »Obernetz« vergangenen Winter zusammengebrochen war, ging es nur noch bergab. Nur nicht mit ihm, er hatte Silberspinne, und die sorgte für ihn. Und dann spürte er, wie die Wut wieder in ihm hochkochte. Vielleicht war es an der Zeit, diesen verfuckten Dealer etwas einzubeulen. Und während er den Gedanken noch gemächlich auskostete, rannten seine Füße bereits die Straße runter.
Er suchte so lange nach Ameise, bis er den Grund für seine Suche vergessen hatte. Dann suchte er Geigerzähler und Sandoz, und er fand sie in dem Haus mit den vielen zersprungenen Fenstern. Sie knieten auf einer staubigen Plastikplane und hatten die Glaspfeife und die blauen magischen Kristalle vor sich ausgebreitet. Ja, magisch, richtig. Spider war so auf Entzug, dass er alles genommen hätte, um die kleinen Plüschhasen aus seinem Kopf zu verjagen. Zu beobachten, wie sie zusammen die Droge nahmen – Sandoz Kopf hing tief gebeugt über dem Glasröhrchen, während sie den Rauch in sich einsog und sich ihre neonsilbernen Haare mit dem Rauch mischten –, hatte etwas Intimes, und er fühlte sich wie ein Eindringling. Es war, als würde er etwas Wildes, Neues tun, so wie am Morgen, als er Sandoz Blicke auf sich gespürt und überlegt hatte, wie sie wohl ohne das Shirt aussehen würde, in der Dunkelheit, mit ihm. Und jetzt, zwischen einem Blinzeln, waren seine Phantasien Wirklichkeit geworden. Inzwischen
war es Nacht, und der Mond zeichnete seltsame Schatten auf Sandoz’ nackten Rücken. Und er sah Sandoz, sah was sie machte, wie sie über Geigerzähler kniete, wie sie sich bewegte. Ohne das er es gemerkt hatte, war seine Hand in seine Jeans gefahren und bewegte sich an ihm mit dem gleichen Rhythmus. Es war anders als mit Silberspinne, aber es tat gut. Plötzlich warf Sandoz den Kopf zurück, und er meinte, direkt in ihre Augen zu sehen, ihre Pupillen waren wie das Tor zu einer süßen, verbotenen Welt. Und dann merkte er, dass sie ihm direkt ins Hirn sah. Dass sie seine Gedanken kannte. Er drehte sich um und rannte, bis er zusammenbrach. Spider hörte das Keuchen, das tief aus seiner Brust drang, und er schloss die Augen, um noch tiefer in sich hineinzulauschen, aber da war nur noch ein Echo. Sandoz war aus seinem Kopf verschwunden. Silberspinne war anders, sie war noch immer in seinem Kopf, genauso wie der Gedanke, wo er seinen nächsten Schuss herkriegen würde. Mann, sie war die einzig wahre Droge. Sie war jede Nacht für ihn da und sie wusste, was er brauchte, wusste alles, sagte ihm alles. Er brauchte sich nur reinzuhängen – in ihr Netz. Sobald er im Interface war, erinnerte sich Spider wieder: wie es beim ersten Mal gewesen war und wie es sein würde – wie er sie entdeckt hatte, in einem dieser Unternetze, die sich seit dem Zusammenbruch abgelöst hatten – und seit diesem ersten Mal war es immer besser geworden. Er spürte, wie sie in ihn eindrang. Ihre silbernen Fühler sich in ihn bohrten, es war ein köstlicher Schmerz und er wollte, dass er nie mehr aufhörte. Er merkte, wie sich sein Körper aufbäumte, seine Hüften zuckten. Das war’s Mann, das war besser als jede Droge.
Die Sonne schien grell, und aus ihrem Licht zischte der Silberne Surfer. Seine zur Punkfrisur gestylten Haare schnitten wie eine Haifischflosse durch die Luft. Spider blieb abwartend im Halbschatten stehen. Er fühlte sich richtig drauf heute, so als hätten sich seine Powerzellen während der letzten Nacht wieder aufgeladen. »Sie« war gut zu ihm gewesen. Aber es war besser, die Vibrations zu seinem Dealer wieder herzustellen. Und in seinem Versteck hatte er sich die Worte zurechtgelegt, sie sorgfältig in seinem Mund herumgerollt, bis sie passten. »Spy!« Ameise hatte ihn entdeckt. Auch er wartete. Ganz cool und unangreifbar sah er aus, wie er da auf seinem Hoverboard stand und über dem Staub schwebte, so als könnte ihn der Dreck nicht berühren, und dabei war doch sein ganzes Leben nur ein Haufen Dreck. Sie alle waren Dreck – Sandoz, Geigerzähler und er auch, ja, Spider war Dreck. Warum? Weil sie nichts weiter taten, als hier auf ihren Ärschen zu hocken, sich zuzuknallen und zu jammern, während rund herum alles zusammenfiel. Es musste wohl an der Sonne liegen, dass er die Dinge plötzlich so klar sah. Die ganzen Monate hatten sie irgendwie darauf gewartet, dass eines der Unternetze ein Reparaturprogramm losschicken und das Obernetz wieder gebootet würde. Zuerst hatten Spider und ein Typ namens Zero-One versucht, über das Interface ein Notprogramm zu starten. Zero-One hatte es dabei das Hirn weggeschmolzen, und er, ja, er hatte Silberspinne getroffen. Und dann waren sie irgendwann alle träge geworden, hatten nur noch auf den nächsten Schuss gewartet, auf Ameise. »He, Mann, ich hab ‘n paar Bennies für dich dabei, die machen deinen Tag bunt.« Spider zuckte kurz, während die Erinnerung an bunte Plüschhasen durch seinen Kopf huschte. Doch Erinnerungen
waren für gewöhnlich nicht mehr als ein blasses Foto am Rande seiner Wahrnehmungen. »Okay, Mann, danke.« Das war sein Friedensangebot. Besser nicht ablehnen, der Tag war noch lang. Aber dann kamen sie wieder aus ihrem Versteck gekrochen, all die lästigen kleinen Fragen, die er nicht aussprechen wollte. »Woher kriegst du deinen Nachschub, Mann?« Worte können so verdammt schnell sein. Doch was war schon verkehrt an solchen Fragen? Schließlich musste er wissen, woran er war. Ist immer gut zu wissen, woran man mit seinem Dealer ist. »Hier und da.« Ameise ließ sein Brett in kleinen Schwüngen über unsichtbare Wellen hüpfen. Seine Hand fuhr zu seinem Haaransatz, tastend, suchend, sich vergewissernd. Spider kniff die Augen zusammen. Irgendwas lief hier ab und er kapierte nicht was. Es sah aus wie ein nervöser Tick, diese Hand, die ständig über den Nacken strich, verstohlen fast. Ameises Haaransatz… dann sah er es, die Verbindung – ein kurzes metallisches Funkeln, und heiße Wut packte ihn wie eine Flutwelle, überrollte ihn, wollte ihn zermalmen. Silberspinne hatte ihn betrogen! Außer ihm war Zero-One der einzige mit Interface gewesen, da war er sich ganz sicher – und jetzt war da plötzlich Ameise, und er, er war nicht mehr einmalig! Spider sprang vorwärts, wollte Ameises Knochen zwischen seinen Fingern zerbrechen hören, doch der Junge war nur noch ein weiterer Schatten am Ende der Straße. Und er stand da, allein in diesem hässlichen Sonnenlicht, und die Fragen türmten sich in seinem Innern, krochen durch seinen Hals, wollten sich den Weg zu seinem Mund bahnen. Spider würgte. Es gab nur eine Lösung seines Problems, und die konnte verdammt hässlich werden. Er dachte an Zero-One und würgte wieder. Er schob sich einen der Bennies in den Mund.
Etwas Mut, etwas von Dr. Feelgood, etwas, das ihn da durch brachte. Er wusste, wo sie war. »Das Zentrum des Netzes« – ein heiliger Ort. Niemand, den er kannte, war jemals dort gewesen. Oder niemand, der jemals dort gewesen war, konnte davon erzählen. Spider war es gleichgültig. Er war in ihrem Netz zuhause, er gehörte dazu, er war Spider, kein schäbiges, kleines, zappelndes Insekt. Sie konnte ihn fangen, aber nicht zerstören. Er wartete vor dem großen Haus mit den vielen Türen, bis es dunkel war. Lautlos sagte er sich die Sätze vor, die er ihr vortragen wollte. Nur mit ihr reden, nichts weiter. Sie war anders als Ameise, sie verstand die kristallene Logik seiner Worte. Sie verstand sogar seine Gedanken. Kein Grund zur Sorge, Spy, Mann. Er schmiss die restlichen Bennies, alle auf einmal. Er fühlte sich, als würde er zu einer Verabredung gehen, einer ganz besonderen Verabredung. Ja, das war’s, »White Wedding«, und in dieser Welt war nichts sicher, in seiner Welt – seiner und ihrer. Alles war möglich. Mann, Ameise wusste, wie man den Tag bunt machte, die Nacht, seine Nacht. Das Netz, nichts ist fair in dieser Welt, er stieß die eine Tür auf – die, die immer angelehnt war, so als würde sie auf jemanden warten. Und jetzt war er endlich gekommen. Wattiges, dämmriges Dunkel umfing ihn wie eine Umarmung aus klebrigem Schaum, und es war warm, eine vertraute, lange vergessene Wärme. Spider lachte lautlos, sein Körper tanzte zu diesem Gelächter, was für ein irrer Beat. Plötzlich strauchelte er, sein Fuß stieß auf klirrenden Widerstand. Spider bückte sich, ohne nachzudenken. Schließlich war dies alles nur ein weiterer von Ameises verrückten Träumen, da brauchte man nicht zu denken. Doch diese Träume konnten ganz schnell ganz
hässlich werden, das wusste er. Eine Waffe. Eine Waffe gegen die gesichtslosen Monster aus der chemischen Schattenwelt. Und dann krümmte sich Luft um ihn, dehnte sich knisternd wieder aus, und die Haare auf seinen Armen richteten sich auf, es war, als konzentrierte sich die Energie der ganzen Stadt um ihn. Boa, was für ein Trip! Doch halt, irgendwas stimmte nicht an seiner Vision. Der Gestank, nicht messerscharf ätzender Ozon, sondern süß, wie Kohl, wie – oh, nein, verdammt. Er wusste, die Erinnerung würde sie herbeirufen, die Toten seiner Vergangenheit. Und da kamen sie schon. Nie zuvor waren sie so schrecklich gewesen. Die Bennies, verdammt, Ameise hatte ihm schlechten Stoff angedreht und er musste sie auch noch alle auf einmal nehmen. Panik schüttelte Spider. Und das Monster kam immer näher – »sie« kam immer näher. Geschmeidig rutschte sie an den glitzernden Fäden entlang. Ihr Kopf war groß und ihre drei Augen waren wie Türen in eine andere Dimension, furchtbar und von gefährlich süßer Faszination. Er wollte weglaufen, doch irgendetwas machte, dass er langsam auf dieses monströse Etwas zuging. Er sah nur diese Augen, und in seinem Kopf, ganz tief drinnen, war dieses Summen. Es klang irgendwie elektrisch und uralt. Plötzlich schmeckte er den sauren Geschmack von Erbrochenem im Mund. Wie hatte er zulassen können, dass sie in sein Gehirn kroch und diese Dinge mit ihm machte, ihn all das fühlen ließ… »Sie« war nicht die Silberspinne seiner Träume. Er schwang die alte Eisenstange, nie hätte er gedacht, dass sie so leicht in seiner Hand liegen würde. Fast so, als wäre sie die Verlängerung seines Arms, die Verlängerung seiner Gedanken – nein, das war falsch, sie war die Vollstreckerin seiner Gedanken. Spider nickte und ein kleines Lächeln huschte um seine Mundwinkel, fast wie ein Irrlicht, und er wünschte, »Sie« könnte es sehen.
»Splatsch« machte es, als die Eisenstange ihren Kopf traf. Ein hässliches Comicgeräusch, vom dem er nie gedacht hatte, dass es wirklich so klingen würde. Der Schädel platzte auf, und gelber Glibber sprang ihm entgegen, legte sich auf sein Gesicht wie eine schleimige, schimmelige Decke, wie eine sich verflüssigende Leiche. Spider kotzte. Er rutschte an der Wand hinunter, fühlte die wattigen Spinnweben an seinem Rücken, seinen bloßen Armen und kotzte wieder. Er war so klein und schwach, doch er hatte das Monster vernichtet. Er war allein. Allein wie in einem Grab. Spider wusste, was zu tun war, seine Hand wusste, was zu tun war. Die ganze Zeit hatte er den Plug in seiner geschlossenen Faust gehalten, wie einen Talisman. Er hob die Hand, sie war schon auf dem Weg zu seinem Nacken, als er merkte, was er tat. Doch es war zu spät. Reingefallen, er war voll drauf reingefallen: Dies war überhaupt kein Traum, dies war die Wirklichkeit. Es war still. Es war die Perfektion von Stille, glasklar und heilig. Zeit wurde zeitlos, und alles andere war bedeutungslos – Niederlagen, Träume und Siege. Spider schloss die Augen und starrte gegen die leere Wand, die das Innere seines Schädels war.
Erik Simon (*1950) hat als Lektor, Herausgeber, Übersetzer und Autor den wohl bedeutendsten Einfluss auf die Entwicklung der SF in der DDR ausgeübt Zahlreich sind seine in einer Werkausgabe zusammengefassten Erzählungen, von denen »Von der Zeit, von der Erinnerung«, »Leichter als Vakuum« (mit Angela & Karlheinz Steinmüller) sowie »Spiel beendet, sagte der Sumpf« mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet wurden.
ERIK SIMON Desiderius Felix Der Bericht des RX 301250
Zuerst möchte ich dir, hochgeachteter Eremit, nochmals für deine Güte danken, dass du mich in deiner Klause aufgenommen und sogleich mit Elektrizität versehen hast; diese Energieform kann ich sehr bequem verwerten und so rasch mein Leistungsmaximum erreichen. Ich bin aufs Angenehmste überrascht, bei dir eine technische Ausrüstung vorzufinden, die ich auf diesem jungfräulichen Planeten fernab der Zivilisation nicht erwartet hätte. Gern will ich deinen Wunsch erfüllen und von Herrn Desiderius Kemeny erzählen, dem einzigen Erdung, den ich vor dir getroffen habe. Ich glaube kaum, dass er sich so spontan und uneigennützig um mich bemüht hätte, wie du es gerade tust. Unsere Weltlinien begegneten sich in der Mission, die von der Pangalaktischen Zeitgenossenschaft der Heiligen Vergeblichkeit auf Toliman A Secundulus unterhalten wird
und in der ich meine Dienste versah, also Gespräche mit Besuchern und Bittstellern dolmetschte, gelegentlich auch zwischen Missionaren. Die Mission wird hauptsächlich von den reichen Arkturiern finanziert, zu den Zeitgenossen dort gehören aber auch Myrkonier, die Schöpfer der Lehre, und einzelne Vertreter anderer Welten. Ein Arkturier, Herr Ayhh, der Oberste Wohltäter der Mission, war es denn auch, der Herrn Kemeny von einem Souvenirmarkt mitbrachte, den jener zwar als Tourist aufgesucht hatte, aber in anderer Eigenschaft wieder verlassen musste, nachdem sein Schiff ohne ihn abgeflogen war. Er nahm ihn vorsichtig aus der Rückentasche – trotz ihrer Größe und massiven Konstitution verfügen Arkturier über außerordentliches Feingefühl, und nicht allein im physischen Sinne –, erkundigte sich nach seinem Befinden und teilte mit, dass er in Kürze eine Mission der Zeitgenossenschaft auf Flox einrichten und uns beide dorthin mitnehmen wolle. Herr Kemeny protestierte entschieden und anscheinend überaus erregt, so dass ich, seines Flottenlateins durchaus mächtig, Mühe hatte, ihn zu verstehen, ganz zu schweigen von dem wenigen, was seine altertümliche Kommunikationsmaschine vermitteln konnte. Nein, ehrenwerter Erdabkömmling, den genauen Wortlaut vermag ich leider nur selten zu speichern; ich beherrsche 204 Sprachen und habe noch nie länger als dreiundsechzig Stunden netto gebraucht, um mir eine neue anzueignen, damit ist meine Gedächtniskapazität ziemlich ausgelastet. – Herr Kemeny also führte aus, er sei ein freier Angehöriger der Menschenwelten sowie Offizier der Offenen Flotte, er lasse sich nicht wie ein xbeliebiger Gegenstand verkaufen und verlange seine unverzügliche Überstellung auf einen Planeten oder ein Schiff der Menschen.
Der Oberste Wohltäter antwortete, dass er den Entschluss, sich nicht verkaufen zu lassen, ausdrücklich billige, doch habe er Herrn Kemeny keineswegs verkauft, sondern im Gegenteil gekauft, und zwar nicht als x-beliebigen Gegenstand, sondern als sauerstoffatmendes Eiweißwesen von durchaus erkennbarer Intelligenz. Gerade in dieser Eigenschaft scheine ihm Herr Kemeny für den Einsatz auf Flox geeignet, wo es reichlich Sauerstoff sowie eine Bevölkerung von bekanntermaßen freundlichen, friedliebenden und klugen Wurmartigen gebe. Als Zeitgenosse und als Oberster Wohltäter auf dem Secundulus werde er sich bemühen, alle Wünsche Herrn Kemenys wie jedes anderen Intelligenzwesens auch zu erfüllen, soweit dies die Mittel und Aufgaben der Mission gestatteten. Ihn auf Kosten der Zeitgenossenschaft heimzuschicken, übersteige indes diese Möglichkeiten, und mit der Ankunft eines Menschenschiffs sei so bald kaum zu rechnen, nachdem eben erst eins abgeflogen sei. Ihn zu verkaufen, habe er jedoch keineswegs vor. Alsdann machte er Herrn Kemeny mit dem Sekretär und Dolmetscher der neuen Mission bekannt, also mit mir, und umriss die Herrn Kemeny zugedachte überaus verantwortungsvolle Aufgabe, für die von meinen Konstrukteuren leider vernachlässigte Mobilität zu sorgen, wozu seine gesamte Konstitution ihn außerordentlich gut befähige. Zwar habe die Natur die Menschen leider nicht wie die Arkturier mit einer Rückentasche ausgestattet, doch dem würde mit zwei an mir anzubringenden Tragegurten sicherlich leicht abzuhelfen sein. Darauf machte es sich Herr Ayhh in einer der bereitstehenden Quecksilberwannen bequem, erkundigte sich, was Herr Kemeny außer Sauerstoff zu atmen wünsche, und lobte die weise Zurückhaltung, die sich in den daraufhin angegebenen 78 % Stickstoff äußere. Zweifellos werde es der Zeitgenossenschaft nicht schwer fallen, Herrn
Kemenys Wünsche an Nahrung und Atemgas zu erfüllen, insbesondere, wenn er seinen zeitgenössischen Obliegenheiten gewissenhaft nachkomme. Als wir auf Flox angelangt waren… Gewiss, ehrwürdigster Vielzeller, erinnere ich mich an weitaus mehr; da dich aber das weitere Schicksal und insbesondere der Verbleib von Herrn Kemeny zu interessieren scheint, schlage ich vor, dass ich zunächst manches überspringe, schon, um deine bewundernswürdige Geduld nicht über Gebühr zu strapazieren. Auch so wird allerhand zu berichten sein, da ich der Gesellschaft Herrn Kemenys längere Zeit teilhaftig war. Und ich will nicht verhehlen, dass ich mich etlicher Einzelheiten nur ungern entsinne, denn insbesondere zu Beginn unserer Zusammenarbeit legte er mir gegenüber eine unverkennbar feindselige Haltung an den Tag, zu der ich ihm keinerlei Anlass gegeben hatte; meine Masse von damals rund zwanzig Kilogramm sollte ihm keine zu große Last gewesen sein, zumal ich im Gegensatz zu ihm niemals irritierende ruckartige Bewegungen vollführte. Als wir also auf Flox angelangt waren, hatte sich unser Verhältnis insoweit verbessert, als Herr Kemeny sich an das Zusammenwirken mit mir zu gewöhnen schien. Man konnte es wohl nicht direkt freundschaftlich nennen, doch leistete er widerspruchslos die gewünschten Dienste, um die Herr Ayhh und ich ihn ersuchten und die sich allerdings, abgesehen von seiner Hauptfunktion als Träger, auf gelegentliche Handreichungen beschränkten. Seine Neigung, sich selbst den Einheimischen als Vertreter der Zeitgenossenschaft und mich als seine Übersetzungsmaschine zu präsentieren, korrigierte ich stillschweigend, indem ich statt diesbezüglicher Äußerungen allgemeine Höflichkeiten übersetzte, ohne sein Selbstbewusstsein dabei irgend zu beschädigen. Die Zeitgenossenschaft hatte ihm auch den billigen Wunsch nach
einem von ihm selbst entworfenen dunklen, an einem Zweibeiner überaus seriös wirkenden Dienstanzug erfüllt, verziert mit diversen silbernen Sternen und mit Besätzen, deren Muster in unaufdringlicher Weise die floxianischen Zeichen für »Wohltat der Zeitgenossenschaft« bildeten. Herr Kemeny wusste das und fand es durchaus schmeichelhaft; den im Sprachgebrauch der Zeitgenossenschaft üblichen Unterschied zwischen einem Wohltäter und einer Wohltat lernte er erst später. Ja, ich stand ihm bereitwilligst für rein private Gespräche mit Floxianern zur Verfügung, schon um ihn von der unkontrollierten Benutzung seines eigenen Nitze-Translators abzuhalten, dessen Qualität geeignet war, dem Ansehen der Zeitgenossenschaft zu schaden. Als er ihn zum Beispiel kurz nach unserer Ankunft benutzte, um sich nach den nächstgelegenen Wurmlöchern zu erkundigen, übersetzte die unglückselige Vorrichtung das auf eine Weise, die von den Floxianern als ausgesprochen obszön empfunden wurde. Zum Glück gelang es mir, das Missverständnis rasch aufzuklären, und später kamen gelegentlich Floxianer mit keinem anderen Wunsch in die Mission, als dass Herr Kemeny ein paar floxianische philosophische Sentenzen, die ich ihm ins Flottenlatein übersetzte, mit seinem Nitze rückübersetzen möge. Insbesondere Floxianer, die unter einer bei Vermiformen häufigen segmentären Sinnkrise litten, verließen die Mission danach in so heiterer Stimmung, dass sie beispielsweise auf der Ruhegallerte vor der Mission die Kemenysche Interpretation der Maxime »Wer sich selbst das Ziel ist, hat lange einen kurzen Weg« praktisch demonstrierten, »immer den eigenen Schwanzborsten nach«. Nicht allein wegen seiner putzigen Aussprüche war Herr Kemeny bei den Floxianern recht beliebt; sie betrachteten ihn als eine Art entfernten Verwandten, einen wie sie
sauerstoffatmenden, viel zu kurz geratenen, fehlspezialisierten, im innersten Wesen aber ganz ordentlich segmentierten Wurm. Herr Kemeny indes fand lange kein inniges Verhältnis zu ihnen; das einzige ihn privat interessierende Thema waren die interstellaren Verkehrsverbindungen von Flox. Die Auskünfte werden ihn kaum zufriedengestellt haben, denn der Planet liegt abseits der üblichen Routen, und die Floxianer selbst betreiben keine Raumfahrt. Möglicherweise war das ein Grund, dass er in Stunden der Muße gelegentlich das Gespräch mit mir suchte, mir von seinem Leben als Offizier der Offenen Flotte erzählte und sich über sein Los beklagte, von den Kameraden schnöde zurückgelassen worden zu sein. Ich meinerseits machte kein Hehl daraus, dass ich ihn um die Möglichkeit beneidete, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, das Weltall zu sehen, und ich gab zu bedenken, dass er nun doch ganz neue Bereiche des Universums erkunden könnte. Das Universum, erwiderte er, kümmere ihn nicht, von seinen Wundern habe er seit dem Trödelmond die Nase voll, und bei der Offenen Flotte, entgegnete er auf meinen Einwurf, sei er bloß, weil er schon im Raumschiff geboren und halt immer dabei gewesen sei; am ganzen Weltraum interessierten ihn als Navigator nur die Löcher darin. Von Flox habe er übrigens bisher nichts als die Mission gesehen, wo er gegen seinen Willen in subalterner Funktion beschäftigt sei und ständig über seinen Kopf hinweg verhandelt werde. Den letzteren Vorwurf wies ich natürlich zurück, denn es diente ja seiner, nicht meiner Bequemlichkeit, dass er mich auf dem Rücken trug; wie sollte ich da anders als über seinen Kopf hinweg verhandeln? Auch in Anwesenheit von Herrn Ayhh beklagte er sich mitunter über die geringe Wertschätzung, die ihm widerfahre, worauf jener einmal anmerkte, dass er zwar für nur 125 Ergo
gekauft, aber für 200 versichert worden sei und dass kaum ein anderer bei der Zeitgenossenschaft eine so große Steigerung seiner Wertschätzung in so kurzer Zeit erfahren habe. Berücksichtigt habe er dabei, dass Herr Kemeny außer ihm selbst der einzige in der Mission sei, der über Greifhände verfügte (das übrige Personal bestand aus Einheimischen), was sich in Zukunft noch als nützlich erweisen könne. Andererseits möge er bedenken, dass sich angesichts seiner aufs Flottenlatein beschränkten Fremdsprachenkenntnisse in Relation zu meinen 186 Sprachen (das war damals mein Stand) mein Wert auf 37200 Ergo belaufen müsste, was nicht annähernd der Fall sei; selbst bei Annahme eines gewissen Mengenrabatts sei ich erheblich preiswerter als der so kalkulierte Wert. Unter Herrn Kemenys Entgegnungen sind mir als sachlich in Erinnerung geblieben, dass er ja immerhin einen hochqualifizierten Beruf bei der Offenen Flotte ausgeübt und in Freizeitzirkeln sowie im Selbststudium eine umfassende Allgemeinbildung erworben habe, zum Beispiel beherrsche er die Anfangsgründe der Ciphontologie sowie Ungarisch, eine zwar tote Sprache, deren Grammatik aber Vorbild für alle jetzt in der Offenen Flotte gesprochenen neuen Dialekte gewesen sei. Der Oberste Wohltäter beschied ihn daraufhin, dass zwar seine Fachkenntnisse nur an Bord eines Schiffes der Offenen Flotte von Nutzen seien, wo die Zeitgenossenschaft noch keine Missionen unterhalte, er aber die sonstigen Qualifikationen gern in Betracht ziehen und Herrn Kemenys Wunsch dahingehend erfüllen wolle, dass er seinen Buchwert und auch die Versicherungssumme bei nächster Gelegenheit auf 250 Ergo heraufsetzen werde. Kurz, nachdem Herr Ayhh diese Ankündigung wahrgemacht hatte, übrigens ohne bei der solcherart geehrten Wohltat eine angemessen freudige Reaktion auszulösen, brachte eine
vorübergehende Ausweitung unserer Missionstätigkeit auf Flox die nächste Wertsteigerung mit sich. Im Vulkankloster von Har’dix war nämlich eine Konferenz aller auf Flox akkreditierten Religionen angesetzt, an der teilzunehmen der Oberste Wohltäter ratsam fand. Dazu benötigte er naturgemäß meine Unterstützung, und ich brauchte die von Herrn Kemeny, sogar mehr als sonst. Die kleine, aber uralte Gemeinschaft vom Schatten der Fünften Schwanzborste, der das Kloster gehört, duldet moderne Technik nur widerwillig, und im ganzen Kloster gibt es keine Elektrizität. Nun bin ich jedoch, wiewohl sehr sparsam im Verbrauch, für meine ordnungsgemäße Funktion auf ein Mindestmaß an Energie angewiesen. Ich verfügte seinerzeit über einen Reaktor als Zusatzmodul – aber nein, keinen Kernreaktor! Ich habe eine Masse von zwanzig Kilogramm, wie ich wohl schon erwähnte, was soll mir da ein tonnenschwerer Kernreaktor? Es handelte sich um eine Reaktionskammer für chemische Substanzen, die ich notfalls zur Energiegewinnung verwenden konnte. Wesentlich effizienter und bequemer ist für mich aber Elektroenergie. Herr Ayhh ordnete daher an, dass Herr Kemeny mit einer Dynamomaschine ausgerüstet wurde, deren beide Kurbeln er drehen sollte, wann immer er die Hände frei hatte, also fast immer, soweit er nicht eben schlief. Der naturgegebene Platz für diese Vorrichtung war vor Herrn Kemenys Brust. Der Dynamo wurde, wie übrigens auch Herrn Kemenys Uniform, ihm als persönliches Eigentum überschrieben und belastete somit nicht zusätzlich die steuerliche Vermögensbilanz der Mission auf Flox; da aber strikte Gesetzestreue zu den obersten Grundsätzen der Zeitgenossenschaft gehört, trug der Oberste Wohltäter dem neuerlich gestiegenen Gebrauchswert von Herrn Kemeny Rechnung und erhöhte seinen Buchwert auf 315 Ergo.
Die Ansichten, die Herr Kemeny bezüglich dieser unzweifelhaften Verbesserung äußerte, möchte ich nicht im einzelnen wiedergeben. Ich erinnerte ihn daran, dass er eine gewisse Unzufriedenheit mit seiner räumlichen Beschränkung auf die Mission habe erkennen lassen – nun, da damit Schluss war, schien es ihm indes auch nicht recht zu sein. Man kann darin eine gewisse Veranlagung zahlreicher biogener Intelligenzwesen sehen, und die behutsame Korrektur dieser Veranlagung ist ja denn auch eines der eigentlichen Ziele der Zeitgenossenschaft. Wie dem auch sei, die Verbesserungen wurden angebracht, und solcherart gewappnet brachen wir zum Kloster auf. Wir befanden uns bereits auf dem letzten Teil der Reise, als es zu einem bedauerlichen Zwischenfall kam. Wir waren in einen von Wirbellarven gezogenen Wagen umgestiegen und fuhren den Vulkan hinauf, in dessen Krater das Kloster liegt. Der Har’dix zeichnet sich dadurch aus, dass die Lava, die er alle paar hundert Jahre ausstößt, äußerst heiß und dünnflüssig ist, was zu den sehr sanft ansteigenden Hängen des Vulkans geführt hat. (Nein, liebenswürdigster Lebendgebärender, daran ist nichts Verwunderliches. Alle Klöster der Fünftborstenschattler befinden sich in den Kratern ruhender Vulkane und werden von Zeit zu Zeit vernichtet. Es ist aber noch nie vorgekommen, dass zwei Klöster gleichzeitig in den Schatten getreten wären, und die durchschnittliche Lebenserwartung der Klosterinsassen liegt erheblich über dem Bevölkerungsdurchschnitt. In vielen Klöstern leben ganze Generationen von Gläubigen, denen es nicht vergönnt ist, persönlich an einem Ausbruch teilzunehmen.) Während jenes gemächlichen Aufstiegs also begegneten wir der Abordnung der Kirche des Wahren und Idealen Pi, einer Sekte von obskurer Herkunft, die sich damals entlang aller Wurmlochrouten rasant ausbreitete. Die Delegation bestand
durchweg aus Einheimischen und wurde vom planetaren Tetrarchen höchstselbst angeführt, der wie alle anderen eigenbäuchig den Hang hinanglitt. Herr Ayhh wünschte mit ihm ein paar höfliche Worte zu wechseln, also gebot es der elementare Anstand, dass er sowie ich mitsamt Herrn Kemeny vom Wagen stiegen und zu Fuß weitergingen. Leider wurde ich schon nach relativ kurzer Zeit gewahr, dass Herrn Kemenys ohnehin nicht sehr hohe Kurbelfrequenz in einem Maße absank, dass ich um meine maximale Leistungsfähigkeit fürchten musste, derer ich bei der Übersetzung des diplomatisch diffizilen Gesprächs dringend bedurfte. Eine diesbezügliche Bitte an Herrn Kemeny hatte zur Folge, dass er zwar wieder etwas schneller drehte, aber seinen Schritt verlangsamte, so dass wir allmählich hinter die beiden Gesprächspartner zurückfielen. Die dadurch entstehende Peinlichkeit veranlasste den Obersten Wohltäter, an Herrn Kemeny zu appellieren, seine sicherlich vorhandenen Reserven rückhaltlos einzusetzen, und ihm zu versprechen, er werde bei nächster Gelegenheit seinen Fehler korrigieren und für Herrn Kemenys gründlichere Ausbildung sorgen, insbesondere hinsichtlich seiner Kondition. Herrn Kemenys Reaktion auf diese freundlichen, von Geiste wohltätiger Zeitgenossenschaft durchdrungenen Worte war überaus paradox. Er antwortete mit einer unerwartet langen und lauten Äußerung, die ich nicht verstand – wahrscheinlich, weil er ganz aufgehört hatte, die Kurbeln zu drehen, und ich auf den Reservestrom aus meinen Akkumulatoren angewiesen war. Vielleicht war es aber auch eine Art Ruch auf Ungarisch: derlei lange und vehemente Unmutsäußerungen kommen fast nur in toten Sprachen vor, denn damals hatten die Leute mehr Zeit und weniger andere Zerstreuungen. Noch überraschender war indes, was er dabei tat: Er sprang in den Wagen und klinkte mit einer bemerkenswerten Behändigkeit – er hatte das
noch nie selbst getan – die Zugseile der Wirbellarven aus. Der Wagen begann den Hang hinab zu rollen. Ich konnte nicht umhin, Herrn Kemeny zu begleiten – der Verschluss des Gurtwerks ist vorsorglich an einer Stelle angebracht, wo Herr Kemeny nicht hinreicht – ; ich schaltete mich aber in Leerlauf, um Energie zu sparen, denn ob und wann Herr Kemeny zu seinen Obliegenheiten an den Kurbeln zurückkehren würde, schien mir angesichts der Umstände ungewiss. Als ich wieder das volle Bewusstsein erlangte, fand ich mich an Netzspannung angeschlossen und in Gesellschaft von Herrn Ayhh. Wie ich erfuhr, befanden wir uns in Flopp’dix, dem letzten Volldorf auf den Ausläufern des Har’dix. Herr Ayhh hatte sich mit den paar Brocken Floxianisch, über die er verfügte, beim Tetrarchen entschuldigt und war dann zusammen mit den Wirbellarven dem Wagen bergab gefolgt. Etliche Meilen weiter unten hatte er die Überreste des Wagens an einem Verz’baum gefunden, dazu die beiden Insassen, Herrn Kemeny und mich, beide bewusstlos. In Erwägung, dass er vor Einbruch der Dunkelheit das Kloster nicht mehr erreichen und sich zum Beginn der Konferenz ohnehin verspäten würde, deponierte er uns beide in seiner Rückentasche und ging mit den Wirbellarven weiter hinab nach Flopp’dix, wo er mich wieder anschloss. Auch Herr Kemeny hatte mittlerweile das Bewusstsein – oder was bei ihm dafür gelten mochte – zurückerlangt und schien sich um sein Wohlergehen in unmittelbarer Zukunft ernstlich Sorgen zu machen; ich konnte ihn jedoch dahingehend beruhigen, dass bei der Zeitgenossenschaft der Heiligen Vergeblichkeit Strafen auf der Liste der vergeblichen Dinge ziemlich weit oben stehen und die Wohltäter in derlei Fällen einfach das Notwendige veranlassen, um eine Wiederholung der Misslichkeiten möglichst zu vermeiden.
Dennoch hatte Herrn Kemenys Eskapade gleich zwei Folgen, die der Zeitgenossenschaft einigen Kummer bereiten sollten. Für die erste freilich kann man Herrn Kemeny kaum direkt verantwortlich machen; es handelte sich vielmehr um ein unglückliches Zusammentreffen. Als nämlich anderntags der Oberste Wohltäter einen neuen Wagen besorgt hatte, kam unserem Aufbruch der Ausbruch zuvor: Nach mehreren heftigen Explosionen vom Gipfel des Har’dix her, gefolgt von einem nicht allzu dichten Schauer von Felsbrocken, sah man die traditionellen ziegelroten Lavazungen den Hang herabfließen, wie üblich ziemlich weit an Flopp’dix vorbei, wo ja keine Fünftborstenschattler leben. Niemand hatte ahnen können, dass der Vulkan ausgerechnet an diesem Tage ausbrechen würde; trotzdem fiel auf die Zeitgenossenschaft der Heiligen Vergeblichkeit, die als einzige wichtigere Religionsgemeinschaft dem Treffen ferngeblieben war, der Schatten eines ebenso irrationalen wie hässlichen Verdachtes, der die Wohltätigkeit auf Flox eine Zeit lang merklich beeinträchtigte. Die zweite betrübliche Folge ergab sich erst später, und wenn ich es recht bedenke, hängt sie mit der ersten zusammen. Ich werde mit deiner gütigsten Erlaubnis, verehrungswürdiger Vielzeller, später darauf zurückkommen. Zunächst einmal unternahm Herr Ayhh die notwendigen Schritte, um einer Wiederholung des Zwischenfalls vom Har’dix vorzubeugen – allerdings nicht die seinerzeit von ihm in Aussicht gestellten. Da auch für die Zukunft Einsätze von Herrn Kemeny an den Kurbeln ziemlich selten notwendig sein würden, noch dazu unter so spezifischen Bedingungen, wäre ein systematisches Konditionstraining ein unverhältnismäßig großer Aufwand gewesen und hätte Herrn Kemeny von anderen Handreichungen in der Mission abgehalten.
Der Oberste Wohltäter richtete sein Augenmerk vielmehr auf eine weniger ergiebige, dafür aber auch weniger störanfällige Energiequelle. Ich verfügte damals, wie gesagt, über ein Zusatzmodul zur Verwertung chemischer Reaktionsenergie, das keine acht Kilogramm wog und an meinem unteren Ende angesetzt werden konnte. (Gewiss kann ich über den Verbleib des Moduls Auskunft geben, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Und vergiss nicht, wohlgewogener Säuger, dass das alles schon lange zurückliegt.) Es war daher naheliegend, in den Fällen, wo der Dynamo zum Einsatz kommen musste, als Notreserve zusätzlich den Reaktor zu installieren. Herrn Kemeny noch einen Vorrat an Chemikalien mitführen zu lassen, wäre möglich gewesen, aber – abgesehen vom zusätzlichen Gewicht, das erfahrungsgemäß wiederum die Kurbelleistung mindern würde – dem Autonomiegrundsatz zuwidergelaufen. Wie er zur Unzeit mit dem Kurbeln aufhören konnte, so konnte er schließlich auch die Chemikalien wegwerfen oder verbummeln oder einfach nicht rechtzeitig den Reaktor nachladen. Wie jedoch eine einfache Recherche in der einschlägigen Enzyklopädie ergab, konnte Herr Kemeny ohne zusätzliche körperliche Anstrengung eine relativ geringe, aber für die Notenergieversorgung ausreichende Menge an geeigneten Chemikalien selbst produzieren. Dazu waren weder chirurgische noch genetische Eingriffe erforderlich; eine simple und harmlose Modifikation seiner Darmflora sicherte bei passender und reichlicher Ernährung eine ziemlich kontinuierliche Erzeugung von Methan, welches auch noch den Vorteil hatte, dass man das zweite Reagens, Sauerstoff, auf Flox einfach der Atmosphäre entnehmen konnte. Nach der besagten Modifikation und mehreren zufriedenstellenden Probeläufen wurde die Schlauchverbindung wieder gelöst und… Verzeih, geneigter Deuterostomier, es liegt mir
natürlich fern, dich mit Einzelheiten zu langweilen, die nicht dein Interesse finden. Wie du aber schon ahnst, schlug sich diese scheinbar so segensreiche Neuerung in einer weiteren Wertsteigerung Herrn Kemenys nieder; er stand nunmehr mit 370 Ergo zu Buche. Das heißt, dass sich sein Wert in der kurzen Zeit, die er für die Mission tätig war, fast verdreifacht hatte – die Anerkennung einer meines Wissens beispiellosen Leistung, die jeden anderen stolz und froh gemacht hätte. Nicht so Herrn Desiderius Kemeny, der eine unerklärliche Schwermut zu entwickeln begann, die in mir den Verdacht nährte, die Psyche seiner Spezies sei womöglich irgendwie bakteriell gesteuert. Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, dass der Oberste Wohltäter solche Bewertungen nicht aus einer Laune heraus oder gar seiner Eitelkeit zuliebe traf, denn immerhin kostete das die Zeitgenossenschaft eine höhere floxianische Vermögenssteuer und eine höhere Versicherungsgebühr. Der Wunsch, wenigstens einen Teil der zusätzlichen Ausgaben wieder einzusparen, war übrigens auch der offensichtliche Anlass für Herrn Ayhhs Entscheidung, Herrn Kemeny in der von Übersetzungsarbeit freien Zeit verstärkt für Hilfsarbeiten in der Küche der Mission einzusetzen, die größtenteils das floxianische Personal und Besucher der Mission versorgte. Ich vermute allerdings, dass dahinter noch ein anderes Motiv stand – in der Küche arbeiteten sonst nur Einheimische, Herr Kemeny kam so in engeren Kontakt mit einfachen Floxianern, und da ich ihn bei diesen Gelegenheiten für gewöhnlich begleitete, galt das auch für mich; in der durch die Har’dix-Affäre entstandenen heiklen Situation konnte das nur von Nutzen sein. Herr Kemeny fand übrigens bemerkenswert rasch Zugang zur floxianischen Kochkunst und konnte schon bald einfachere Speisen selbständig zubereiten; überhaupt zeigte er eine deutlich gestiegene Motivation für
Arbeiten innerhalb der Mission, bei denen er weder den Dynamo noch mein Zusatzmodul zu versorgen brauchte. Wie ich wohl schon erwähnte, ist Flox ein eher abgelegener Planet, und es war von vornherein vorgesehen, dass Herr Ayhh, nachdem er die Mission aufgebaut und in ihrer Anfangsphase betreut hätte, sich wieder höherrangigen Aufgaben widmete. Als nun ein sirianisches Schiff auf Flox eintraf, welches anschließend zum Myrkon weitertunneln sollte, erhielt Herr Ayhh per Lichtspruch vom nächstgelegenen Wurmlochtransmitter die Empfehlung des Kongregationsrates, sich mit diesem Schiff zum Nexus der Zeitgenossenschaft zu begeben und für die Zeit bis zum Eintreffen eines etatmäßigen Nachfolgers einen kommissarischen Geschäftsführer mit der Leitung der Mission zu betrauen. Ich vermute, dass auch diese Entscheidung auf den Har’dix-Eklat zurückging – wohl weniger, dass sich Herr Ayhh vor dem Nexus verantworten sollte, als vielmehr, dass man ihn auf Flox aus der Schusslinie nehmen wollte. Wie schon erwähnt, war ja unsere Mission die einzige größere Religionsgemeinschaft auf Flox, in deren Leitung es in letzter Zeit keine einschneidenden Veränderungen gegeben hatte; Herrn Ayhhs bloße Anwesenheit erinnerte stets von neuem an die unrühmliche Sonderrolle, die wir gespielt hatten. Was man dabei im Nexus nicht bedacht hatte – oder vielleicht gar nicht wusste-, ist, dass sich außer dem Obersten Wohltäter keine weiteren Vertreter der Zeitgenossenschaft auf Flox befanden, abgesehen von den beiden Wohltaten, Herrn Kemeny und mir. Wiewohl die Floxianer die Mission gern und in wachsender Zahl besuchten, hatte sich noch keiner von ihnen der Zeitgenossenschaft angeschlossen, übrigens dienen die Missionen ja auch weniger der Gewinnung neuer Zeitgenossen als vielmehr der Verbreitung der Lehre von der Heiligen Vergeblichkeit unter Vernunftbegabten, die im
Übrigen ruhig weiterhin glauben mögen, was immer sie bisher geglaubt haben – als Zeitgenossen kommen ohnehin nur Wohlhabende in Betracht, denn arme Schlucker, die es drängt, ihren Eifer in den Dienst der Lehre zu stellen, haben überhaupt nicht begriffen, dass auch und gerade die Lehre mitsamt der ganzen Zeitgenossenschaft heilig und vergeblich ist. Herr Ayhh setzte uns von der Lage in Kenntnis und teilte mit, er habe erwogen, Herrn Kemeny zum kommissarischen Leiter der Mission zu ernennen. Ganz abgesehen davon, dass Herr Kemeny noch längst nicht genügend Erfahrung in der Missionsarbeit gesammelt und die Heilige Vergeblichkeit nicht einmal theoretisch erfasst habe, wisse er, der Wohltäter, jedoch nicht, wie er die dann zu gewärtigende Verlustposition in der Missionsbilanz rechtfertigen solle. Herrn Kemenys persönliches Eigentum beschränkte sich damals auf Raumanzug, Nitze-Translator, ein wenig Krimskrams, seine Dienstuniform und seinen Dynamo. Mit Ausnahme der beiden letztgenannten Positionen könne er zwar gut und gerne auf das alles verzichten und es folglich der Zeitgenossenschaft verkaufen, doch sei die Nachfrage nach Raumanzügen dieses Schnitts auf Flox eher pessimistisch einzuschätzen, und der Nitze könne seinen unbestreitbaren Unterhaltungswert nur im Verein mit einem Flottenlatein-Sprecher und einem zweiten Übersetzer entfalten. Das alles stehe in keinem Verhältnis zu dem erheblichen Buchwert, den Herr Kemeny inzwischen erreicht habe; daher sehe er sich leider außerstande, Herrn Kemeny an diesen selbst zu verkaufen – ganz abgesehen davon, dass er Herrn Kemenys seinerzeit geäußerten Wunsch, nicht verkauft zu werden, selbstverständlich im Rahmen des wirtschaftlich Möglichen respektieren werde. Solange er indes im Status einer Wohltat der Zeitgenossenschaft verbleibe, sei er schon aus rechtlichen Gründen für die Leitung der Mission ungeeignet.
Ich will, gütigster Zweibeiner, dich nicht mit allen buchhalterischen Einzelheiten behelligen, wiewohl gerade sie in solchen Dingen entscheidend sind. Es lief darauf hinaus, dass ich mit meinem bescheidenen Barvermögen, das ich während der langjährigen Tätigkeit für die Zeitgenossenschaft mit allerlei kleinen Dienstleistungen für Dritte erworben hatte, gut zwei Drittel meines Buchwertes bezahlte und für den restlichen Betrag als besondere Wohltat der Zeitgenossenschaft einen zinslosen Kredit zuerkannt bekam – natürlich gegen Sicherheiten. Als Sicherheit bot ich der Zeitgenossenschaft das komplette persönliche Eigentum Herrn Kemenys, das ich mir zu diesem Zweck von ihm auslieh, wobei wir als Leihgebühr Übersetzungsdienste für den privaten Gebrauch Herrn Kemenys sowie Unterricht in Flox-null vereinbarten, einer phonetisch und grammatisch stark vereinfachten Form der floxianischen Verkehrssprache, für die Herr Kemeny damals gerade ein gewisses Interesse zu entwickeln begann. Obwohl sich an seinen dienstlichen Obliegenheiten bei der Zeitgenossenschaft nichts grundlegend änderte, hatte ich doch den Eindruck, dass diese Transaktionen das Verhältnis zwischen Herrn Kemeny und mir als dem kommissarischen Wohltäter der Mission merklich verbesserten. Die Hoffnung jedoch, nach der Abreise von Herrn Ayhh würde sich die beim Har’dix-Zwischenfall entstandene heikle Lage der Mission allmählich entspannen, erwies sich fürs Erste als trügerisch. Zumindest nehme ich an, dass eine gewisse Missgunst gegenüber der Zeitgenossenschaft, die seit dem Vorfall aufgekommen war, der eigentliche Hintergrund für eine Vertragsüberprüfung seitens der floxianischen Finanzgesellschaft war, die das Eigentum der Mission versichert hatte. Denkbar wäre freilich auch, dass die Kündigung des auf mich lautenden Versicherungsvertrages die Überprüfung auslöste. Jedenfalls fand die Gesellschaft, dass
zwar in Bezug auf mich, der ich ja nun nicht mehr Eigentum der Zeitgenossenschaft war, alles seine Richtigkeit habe, auch das sonstige Inventar weitgehend korrekt bewertet, Herr Kemeny jedoch unterversichert sei. Zunächst machte der Vertreter der Gesellschaft geltend, dass nach Herrn Ayhhs Abreise außer dem Versicherungsgegenstand niemand in der Mission mehr über Greifhände verfüge, diese aber, wie er dem Verzeichnis des übrigen Inventars entnehme, für etliche in der Mission genutzte Apparate unerlässlich seien; das erhöhe Herrn Kemenys Wert ganz erheblich. Sollte ich mich entschließen, statt der betreffenden Geräte neue, für die Bedienung durch Floxianer geeignete anzuschaffen, wolle er diesen Teil der Einwände auf sich beruhen lassen, aber natürlich müssten in diesem Fall nach den geltenden Vorschriften über die Pflichtversicherung außerplanetarer Vertretungen die neuen Geräte versichert werden. Unbedingt berücksichtigt werden müsse jedoch Herrn Kemenys Ruhm als exotischer Meisterkoch, der sich wie ein Lauffeuer über Flox ausbreite und also gar nicht hoch genug zu bewerten sei. Ich muss gestehen, großmütiger Rückenmarkler, dass mich diese Mitteilung völlig unvorbereitet traf. Ich entschuldigte mich bei dem Vertreter für eine kurze Unterbrechung und bat Herrn Kemeny, der beim Gespräch wie üblich in tragender Rolle zugegen war, um eine Erklärung. Ich erfuhr, dass er seit einiger Zeit nicht nur einen Teil der floxianischen Speisen in unserer Küche völlig selbständig zubereitete, sondern sogar das einheimische Personal in der Nahrungszubereitung nach ciphontologischen Grundsätzen unterwies. Das allerdings erklärte den wachsenden Zustrom von Besuchern, dessen sich die Mission seit einiger Zeit erfreute. Ich hatte nicht das Geringste von alledem geahnt – und Herr Kemeny zumindest nichts vom Ausmaß seines Erfolgs. Während er auf die
Mitteilung mit unverhohlener Begeisterung reagierte und ich ihn nur mit Mühe davon abhalten konnte, den weiteren Verlauf des Gesprächs mit an mich gerichteten Fragen zu stören, überschlug ich die zusätzlichen finanziellen Belastungen, die auf die Mission zukamen. Ich machte mich auf eine Wertsteigerung von hundert Ergo gefasst, womöglich sogar von mehreren hundert, und tröstete mich damit, dass der Popularitätsgewinn gerade in dieser schwierigen Zeit den Aufwand wahrscheinlich rechtfertigte. Der Vertreter nannte mir gegenüber aber gar keinen aus alledem folgenden neuen Wertansatz. Zum Hauptproblem erklärte er nämlich noch etwas ganz anderes, und just das war es, was mich eine gegen die Zeitgenossenschaft gerichtete Intrige vermuten lässt: Anders als beispielsweise bei der Übersetzungsmaschine, die bis vor kurzem in der Mission in Gebrauch gewesen sei – führte er aus –, komme für Lebewesen und andere leicht verderbliche Gegenstände laut Gesetz keine Neuwertversicherung in Frage, sondern höchstens eine zum Zeitwert, und dabei werde natürlich vorausgesetzt, dass dieser den Neuwert nicht übersteige. Genau das aber sei bei Herrn Kemeny offensichtlich der Fall, also müsse er zum Wiederbeschaffungswert versichert werden. Nach allem, was über die Umstände bekannt sei, unter denen die Zeitgenossenschaft das Objekt erworben habe, und in Ansehung der Tatsache, dass Herr Kemeny seit Würmergedenken der erste Vertreter seiner Spezies auf Flox sei, werde sich ein exakter Wiederbeschaffungswert gar nicht ermitteln lassen. Er sei jedoch bereit, den wahrscheinlich günstigsten Tarif – für seltene Kunstwerke und Sammlerstücke – in Betracht zu ziehen, was (vorbehaltlich einer eingehenderen Prüfung) einen Versicherungswert in der Größenordnung von sechs- bis achttausend Ergo erwarten lasse. Freilich stehe es der
Zeitgenossenschaft frei, unter den zugelassenen Unternehmen auf Flox einen anderen Versicherer zu suchen, aber die Rechtslage bliebe ja dieselbe, und einen wesentlich günstigeren Tarif würde ich gewiss auch bei keinem anderen Anbieter finden. Ich bat mir Bedenkzeit aus, verabschiedete den Vertreter der Versicherungsgesellschaft und schaltete für eine Zeit lang meine Mikrophone ab, um Herrn Kemeny nicht hören zu müssen, der ob seines Ruhmes äußerst enthusiasmiert wirkte (und das, obwohl ich ihm den gravierendsten Aspekt seiner anstehenden Wertsteigerung gar nicht übersetzt hatte). Kaum dass ich meine Laufbahn als Wohltat beendet hatte, stand ich nun vor einer überaus schwerwiegenden Entscheidung zwischen Pflicht und Neigung. Eigentlich sprach alles für meine offensichtliche Pflicht der Zeitgenoss… Verzeih, selbstlosester Sauerstoffatmer, ich verstehe nicht recht… Oh, aber meine Pflicht der Zeitgenossenschaft gegenüber war ja wirklich ganz offensichtlich, und wenn du sie nicht augenblicks erkennst, so ehrt dich das ungemein, beweist es doch, was mich Herr Kemeny auch schon vermuten ließ: dass die moralischen Qualitäten deiner Spezies die intellektuellen und ökonomischen – die zweifellos auch nicht ihresgleichen haben – noch bei weitem übersteigen. Angesichts der sich abzeichnenden erheblichen Belastungen, die zwar die Zeitgenossenschaft als Ganzes kaum behelligt, den finanziellen Spielraum der Mission für ihre Wohltätigkeit auf Flox aber merklich eingeschränkt hätten – angesichts dieses unverschämten Versuches also, uns auszuplündern, lag meine Pflicht klar auf der Hand: Ich musste die Versicherung abschließen, nach Ablauf einer angemessenen Frist den tragischen Unglücksfall mit Herrn Kemeny melden und die Versicherungssumme für Totalschaden kassieren. Dagegen sprach – abgesehen davon, dass mir Herr Kemeny während
unserer Zusammenarbeit doch an den Taktgeber gewachsen war – eigentlich nur, dass die Beschaffung eines Ersatzes ja tatsächlich erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Doch wenn die Not am größten, ist die Rettung am nächsten. Sie tauchte in Gestalt einer Raumyacht aus dem Flox nächstgelegenen Wurmlochausgang auf, und im ersten Moment glaubte ich, es sei der vorfristig eintreffende Nachfolger für Herrn Ayhh, der mir die Entscheidung abnehmen würde – ich glaubte es nicht nur, ich wünschte es, als wäre ich nicht wohlvertraut mit der Lehre der Zeitgenossenschaft. Es war aber ein Schiff von einer Welt namens Ilion C, kaum weniger abgelegen als Flox. Und das Schiff richtete noch vor der Landung eine Anfrage an den Raumhafen, ob sich auf Flox Vertreter der nämlichen Spezies Homo sap. sap. primigenius befänden, die in Gestalt von Herrn Kemeny und nunmehr dir kennen zu lernen ich die unschätzbare Ehre hatte. Die Hafenbehörde bestätigte das und informierte anschließend die Mission, also mich, und ich sah keinen Grund, Herrn Kemeny die Nachricht vorzuenthalten. Welche freudigen Erwartungen er an die Ankunft des Schiffes knüpfte, kann man sich leicht ausmalen, doch auch mir wäre es lieb gewesen, wenn sie sich bewahrheitet hätten – selbst wenn letzten Endes weiterhin nur Herr Kemeny im Dienste der Zeitgenossenschaft gestanden hätte, so hätte ein Raumschiff voller Erdlinge doch dem überzogenen Seltenheits- und Wiederbeschaffungswert jede Grundlage entzogen. Als jedoch kurz nach der Landung des Schiffes ein Vertreter der Besatzung unsere Mission aufsuchte, sahen wir uns beide in unseren Hoffnungen getäuscht – wie du, unermüdlicher Zweibeiner, zweifellos schon erraten hast. Der Besucher hatte zwar seinem Körperbau nach einige Ähnlichkeiten mit Herrn Kemeny, auch schien er ebenfalls ein Sauerstoffatmer zu sein,
denn er trug den Helm seines Raumanzugs zur Seite geklappt, doch war er von anderen Proportionen, ein gutes Stück kleiner und gehörte der auf Ilion C ansässigen Spezies an. Und wie sich herausstellte, war er zudem ganz allein unterwegs. Sein Interesse aber für die Spezies von Herrn Kemeny war echt und rührte daher, dass er vor einiger Zeit mit ihr in Berührung gekommen war, und zwar als blinder Passagier auf einem ihrer Schiffe. Er schrieb, soweit ich ihn verstanden habe, an einem Buch über seine Erlebnisse, welches er ursprünglich mit diesem Abenteuer enden lassen wollte, doch hatte ihn irgendetwas von seinem Vorsatz abgebracht. Er strebte nun nach weiteren Begegnungen mit Erdabkömmlingen und erwog, ihren Planeten zu besuchen – in der Hoffnung, auf diese Weise irgendeinen Sinn im Verhalten jener irdischen Raumfahrer zu finden, das nicht nur für ihn, sondern auch für die ins Auge gefassten Leser seines Buches zunächst jeglicher Logik zu entbehren schien. Herr Kemeny, dem ich die Worte des Iliers in einer Kurzfassung übersetzte, reagierte äußerst erregt und überschüttete unseren Besucher mit Fragen, was bei diesem eine gleichfalls ungewöhnliche lebhafte Reaktion sowie Gegenfragen auslöste. Eine Zeit lang schienen die beiden zu glauben, dass es sich bei dem irdischen Raumschiff just um das ehemalige Schiff von Herrn Kemeny gehandelt haben könne, was sich dann aber doch als Irrtum erwies: Der Ilier schilderte den Kapitän des Schiffes als einen grässlichen, furchterregenden, mit Donnerstimme brüllenden Riesen; Herr Kemeny indes musste konstatieren, dass der Kapitän seines Schiffes außerordentlich freundlich und zurückhaltend gewesen sei, die einzige ihm bekannte Person an Bord, auf die die Beschreibung »grässlich« zutreffen könnte, sei indes weder furchterregend noch laut, sondern eher ein lästiger Trockenschleimer gewesen.
Nachdem ich dem Gast mit einiger Mühe verständlich gemacht hatte, dass es sich bei Herrn Kemeny um eine Wohltat, also um Eigentum der Zeitgenossenschaft handelte, machte er mir ein großzügiges Kaufangebot, welches den reellen Wert, rund fünfhundert Ergo, sogar überstieg. Ich musste allerdings auf Herrn Kemenys erklärte Aversion gegen das Verkauftwerden hinweisen, außerdem auf die Gesetze von Flox, die solch eine Transaktion nicht eben begünstigten: Zwar wurde der Besitz von Intelligenzwesen auf Flox toleriert, soweit es sich bei den in Besitz befindlichen Wesen nicht um Floxianer handelte, interplanetarer Handel mit ihnen galt jedoch als unmoralisch und war daher mit einer exorbitanten Steuer belegt; außerdem war zu gewärtigen, dass für Herrn Kemeny wegen seiner Seltenheit neuerdings überhaupt eine Ausfuhrsperre bestand. Ich schlug daher dem Besucher vor, für einige Zeit die Gastfreundschaft des Planeten und insbesondere der Zeitgenossenschaft in Anspruch zu nehmen und mit Herrn Kemeny in aller Ruhe beidseitig interessierende Fragen zu besprechen. Inzwischen wollte ich sondieren, ob sich der Wunsch unseres weitgereisten Gastes nicht doch irgendwie erfüllen ließe; immerhin war die Erfüllung von Wünschen eine der Hauptaufgaben unserer Mission. Zunächst einmal aber sorgte ich für geordnete Verhältnisse: Ich schloss die Versicherung für Herrn Kemeny zu dem mir aufgedrängten hohen Wiederbeschaffungswert ab und verlieh ihn dann für fünfunddreißig Tage an den Ilier, ordentlich mit Vertrag und einer moderaten Leihgebühr, die ungefähr die erste Prämie der neuen Versicherung deckte. Eine umfassende und qualifizierte Beratung, betreffend die Verwendung, Pflege und Wartung von Herrn Kemeny, ließ ich mir von dem Ilier privat vergüten; mit einem Teil dieser Summe bezahlte ich meine Restschuld bei der Zeitgenossenschaft, so dass ich
Herrn Kemeny sein verpfändetes Eigentum ruhigen Gewissens zurückgeben konnte, insbesondere den Nitze und seinen Raumanzug, auf die er gesteigerten Wert zu legen schien. Den Rest der Summe verwendete ich für die Anschaffung des Fahrgestells und des bescheidenen Manipulators, die du, ausdauerndster Oktopode, jetzt an mir siehst. Habe ich soeben »Oktopode« gesagt? Ich bitte für diese unentschuldbare Fehlfunktion ergebenst um Verzeihung, möglicherweise habe ich unter einer kurzzeitigen Unterspannung gelitten. Ich will versuchen, mich kürzer zu fassen. Der Ilier also brach ein paar Tage später zu einem Spazierflug durch das Flox-System auf, und ich nehme an, dass Herr Kemeny ihn dabei begleitete. Als bis zum Ablauf der Leihfrist weder der Ilier noch Herr Kemeny in die Mission zurückgekehrt waren, wartete ich noch einen Tag ab – man denkt ja nicht gleich an das Schlimmste – und meldete dann pflichtgemäß den Verlust. Wie sich herausstellte, hatte die Raumyacht das Flox-System schon mehrere Tage zuvor verlassen. Spätere Nachfragen bei der Raumüberwachung ergaben übrigens, dass das Schiff mit derart überhöhter Geschwindigkeit ins Singularitätsgebiet eingetreten war, dass der Ort des Wiederaustritts aus dem Dimensionskonnex praktisch überhaupt nicht definiert war – es sei denn, es wäre ein derart begnadeter PH-SK-Navigator an Bord, dass er Herrn Kemenys 7850 Ergo Versicherungssumme tatsächlich wert gewesen wäre. Unter den gegebenen Umständen aber sah ich mich gezwungen, ihn auszubuchen und seinen Restwert auf Null zu setzen. Natürlich war Herr Kemeny auch gegen Diebstahl versichert. Es dauerte zwar merkwürdig lange, bis die Versicherungssumme ausgezahlt wurde, doch ausgezahlt wurde sie schließlich, und zwar ohne Abzüge. Ich hielt es für
angebracht, den Ratschlag zu beherzigen, den mir der Versicherungsvertreter gegeben hatte, und ersetzte von den Vorrichtungen in der Mission, die zu ihrer Bedienung Greifhände erforderten, die wichtigsten durch wurmgerechte Ausführungen; das kostete, wenn ich mich recht erinnere, 417 Ergo. So überstand ich schlecht und recht die Zeit bis zum Eintreffen des neuen Missionsleiters, der meine kommissarische Amtsführung grundsätzlich billigte und sogar dringlich meine Beförderung zum Obersten Wohltäter einer eigenen Mission empfahl, vorzugsweise in einem entlegenen, von der Zeitgenossenschaft noch nicht mit der Lehre von der Heiligen Vergeblichkeit erleuchteten Raumgebiet. Auf diese Weise gelangte ich… Aber das, aufopferungsvollster Sohlengänger, ist eine andere Geschichte und berührt den Gegenstand deines Interesses nicht mehr. Ich schlage vor, dass ich mich für eine Weile in Leerlauf schalte, damit du aufhören kannst, die Pedale des Dynamos zu treten.
Andreas Gruber (*1968) avancierte mit zahlreichen Kurzgeschichten in NOVA, ALIEN CONTACT und PHANTASTISCH! sowie in Anthologien innerhalb weniger Jahre zum viel beachteten Nachwuchsautor. Mit je einem Erzählungsband vertritt er die Genres Horror (Der Fünfte Erzengel), Krimi (Jakob Rubinstein) und Science Fiction (Die letzte Fahrt der Enora Time), für den er den Deutschen Phantastik Preis 2002 erhielt.www.agruber.com
ANDREAS GRUBER Parkers letzter Auftrag
Wie eine Laborratte lag Winston Parker auf der elektronischen Pritsche. Er trug lediglich ein weißes Nachthemd. Steckplätze für Dioden klemmten in seinem Körper, Kabel hingen aus den Schläfenkontakten und Dutzende von Fiberglasnadeln steckten in seinen kräftigen Oberarmen. Röhrchen mit stecknadelkopfgroßen Kameras führten in seine kahl rasierte Brust. Winston keuchte. Schließlich hob er den Kopf und blinzelte. »Nicht bewegen!« Winston erstarrte. Die Maschinen, die im Halbkreis um ihn herum aufgebaut waren, begannen surrend zu arbeiten. Mit einem metallenen Schnappen schlossen sich die chromfarbenen Hand- und Fußschellen um Winstons Gelenke. Die Metallklammern schnitten ihm ins Fleisch. »Ist das notwenig?« Seine Kehle war staubtrocken.
Der Mann im weißen Kittel trug einen orangefarbenen Augenschutz. Er blickte vom Laptop auf und wandte sich Winston Parker zu. »Das ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Glauben Sie mir!« »Wird es weh tun?« »Darauf können Sie Gift nehmen, Mister Parker!« Der Wissenschaftler lächelte, streifte sich Handschuhe über und nahm eine Kanüle aus dem vor Kälte dampfenden Tiefkühltresor. Im kalten Licht des Labors betrachtete er die blaue Flüssigkeit. »Aber bis jetzt hat es noch jeder überlebt.« Er klickte die Kanüle in ein platinfarbenes Gerät, das einer Handfeuerwaffe glich, und ließ die Injektionsnadel ausfahren. In der zwölf Zentimeter langen Nadel spiegelte sich die Deckenbeleuchtung. Winstons Augen wurden groß. »Da drin sind die Computer?« Der Mann lächelte. »Nein, Sir! Keine Computer.« Amüsiert schüttelte er den Kopf. »Wir bevorzugen den Begriff Nanomaschinen! Die Chiptechnologie ist vor Jahren an ihre Grenze gestoßen, Halbleiter lassen sich nicht beliebig verkleinern. Wir mussten andere Wege gehen.« Winston nickte. Was auch immer es war, das sie ihm in den Körper jagten – für ihn waren und blieben es Computer. Mit einer nach Alkohol riechenden Lauge rieb der Mann Winstons Armbeuge ein. Er stach ihm die Injektionsnadel in die Vene und ließ sich auch nicht stören, als Winston zusammenzuckte. »Das wird jetzt kalt werden. Beißen Sie die Zähne zusammen!« Der Mann drückte den Kolben des platinfarbenen Geräts bis zum Anschlag durch. Die blaue Flüssigkeit schoss in Winstons Blutbahnen. Augenblicklich riss er die Augen auf und stemmte sich gegen die Fesseln. »Es kommt noch schlimmer«, versicherte ihm der Mann.
»Schlimmer?«, presste Winston hervor. »Das haben Sie mir vorher nicht gesagt.« Der Mann lächelte. »Wenn ich Ihnen das vorher gesagt hätte, lägen Sie jetzt nicht hier und Nano-Components hätte einen Kunden weniger.« »Reizend.« »Wie geht es Ihnen?« »Beschissen, danke!« »Gut.« Der Mann kontrollierte die Displays auf den Armaturen. »Das wär’s. In etwa einer Stunde patrouillieren die Robots in Ihren Blutbahnen und beginnen damit, Organe und Zellen zu reparieren.« »Und wenn dabei etwas schief geht?« Der Mann nickte nachdenklich. »Sie meinen, wenn sich zum Beispiel Ihr Blut auf vierzig Grad erhitzt oder die Nanomaschinen von innen ein Loch durch Ihren Körper brennen?« Winston wurde blass. »War nur ein Scherz! Keine Sorge.« Der Mann grinste. »Die Maschinen wissen, was zu tun ist. Die zwei Millionen Assembler machen nichts anderes, als die Moleküle in Ihrem Körper auf- und abzubauen; sie reinigen die Arterien, entfernen per Laser die Ablagerungen, schneiden an den Zellen herum, kopieren Ihre DNS und stellen damit neue Proteine her.« »Großartig!« Winston entspannte sich. Während der Mann um die Pritsche herumging, starrte er auf die Injektionsnadel in seiner Hand. »Dreißigtausend Nanoröhrchen, eintausend DNS-Motoren, vierhundert Molekülschalter, zehn Nanoboards und acht Rastertunnelmikroskope – all das war in dieser Lösung.« Er hob den Blick. »Ihr Inhalt war teurer als das Haus, in dem ich
wohne.« Er zuckte mit den Achseln und warf die leere Kanüle in den Mülleimer. Da gingen zweihundertfünfzigtausend Dollar dahin! Diese einmalige Zahlung für die Grundausstattung hatte Parker keineswegs locker aus dem Ärmel geschüttelt – dafür hatte ein Makler sein Haus in Chicago verkaufen müssen. Der Wissenschaftler blickte auf die Uhr, dann zu den Anzeigen. »Jetzt müsste es eigentlich losgehen.« »Was?« »Die Nanomaschinen entpacken sich jeden Augenblick.« Plötzlich ging ein Ruck durch Winstons Körper. Er bäumte sich auf, spannte die Muskeln an und riss den Mund zu einem Schrei auf. Die Metallklammern schnitten in seine Gelenke, und ihm traten Adern und Sehnen wie Kabel aus den Unterarmen. Ohne die Fesseln hätte er in dem Labor wie ein Berserker gewütet. »Schreien Sie nur«, sagte der Mann gelassen. »Ich erlebe diese Anfälle täglich. Es ist bald vorüber.« Doch Winston hörte ihn nicht. Er stemmte sich in die Handschellen, verdrehte die Augen und begann zu brüllen.
Stunden später trug Winston Parker einen glänzenden, cremefarbenen Morgenmantel. Der Gürtel war eng um die Taille geschnürt. Deutlich war der muskulöse Rücken unter dem dünnen Stoff zu erkennen. Die nackten Füße steckten in Sandalen. Zwei Labormitarbeiter stützten Winston und führten ihn durch einen trostlosen Gang mit surrender Deckenbeleuchtung. Seine beiden Begleiter trugen die blauen Overalls von Nano-Components. Knackende Funkgeräte hingen an ihren Gürteln. Oder waren es Waffen? Winstons Blick verschwamm. Noch stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. Manche Körper vertrugen die Infiltration gut, andere
reagierten abwehrend darauf. Sein Körper schien sich noch nicht entschieden zu haben, ob er sich die Seele aus dem Leib kotzen sollte oder nicht. Die Männer blieben vor einem Zimmer stehen. Service- und Kundendienstbereich stand auf der Tür. Eine Frau im weißen Kittel, mit blonden, hoch gesteckten Haaren und einer schmalen Lesebrille empfing ihn. »Ah, Sie haben es also überlebt!«, stellte sie trocken fest und musterte Winston über den Brillenrand. Winston warf ihr einen bissigen Blick zu. »War nur ein Scherz!«, sagte die Kundendienst-Technikerin. Ha, ha! Hier versuchte jeder, lustig zu sein. Winston hätte sich totlachen können. Seine beiden Begleiter verschwanden. Winston blieb mit der witzigen Service-Tante allein zurück. Er betrachtete sie neugierig. Eigentlich war die Technikerin gar nicht so alt, wie sie mit der Brille und der aufgesteckten Frisur wirkte. Sie erinnerte Winston sogar ein wenig an Cara. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihre Waden waren schlank, ihr Po und die Oberschenkel zeichneten sich durch den knallengen Kittel ab. Alles an ihr wirkte stramm, als trainiere sie regelmäßig. »Wie fühlen Sie sich?« »Mein Gaumen ist trocken, ich habe Durst.« Winston versuchte zu schlucken. »Das ist normal. Aber Sie dürfen erst in einer Stunde etwas trinken… das System wird sonst instabil, verstehen Sie?« Winston verstand nicht, aber die nächste Stunde würde er auch ohne Wasser überleben. »Das überleben Sie!«, fügte die Technikerin hinzu. Ha, ha, witzig! »Kommen Sie! Stellen Sie sich auf das Podest, und ziehen Sie den Mantel aus!« »Den Mantel?«
»Klar den Mantel, oder haben Sie noch etwas anderes an?« Die Frau spitzte die Lippen und wartete. »Kommen Sie schon! Ich habe nicht ewig Zeit. Sie glauben wohl, ich habe noch nie einen nackten Mann gesehen.« Winston streifte den Morgenmantel über die Schultern und überkreuzte die Hände vor seinen Lenden. Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Mit dem Körper brauchen Sie sich nun wirklich nicht zu verstecken«, stellte sie fest. »Nicht schlecht für Ihr Alter.« »Oh, danke«, gab Winston bissig zurück, während er sich auf das Podest stellte. »Das meine ich ernst«, verteidigte sie sich. »Nicht viele Fünfzigjährige achten darauf, dass sie…« »Ich bin sechsundvierzig!« »Oh!« Sie schluckte. »Woher haben Sie eigentlich diese Narben?« »Von meinem Job.« »Was sind Sie? Dobermann-Trainer? Mein alter Dad sagte immer, lass dich nie mit einem Mann ein, der…« »Ich dachte, Sie hätten nicht viel Zeit«, fiel Winston ihr ins Wort. Sie verstummte. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, klapperte sie weiter auf der Tastatur herum. War sie beleidigt? Winston war das egal. Sein alter Dad hatte immer gesagt: Wer austeilte, musste auch einstecken können. Eine Röhre senkte sich aus der Decke und scannte Winstons Körper. »Woher kommen Sie?«, fragte ihn die Frau. »Chicago.« »Was hat Sie nach New York verschlagen?« »Mein Job.« »Ich dachte, in New York gibt es keine DobermannTrainer?« Sie lachte.
Winston schwieg. »Ich komme aus Detroit, aber meine Brüder leben in New York. Haben Sie auch Verwandte hier?« »Hier? – Nein! Ich hatte mal Verwandte in Chicago, aber das ist lange her.« Wieder musste er an Cara denken. »Warum haben Sie sich für Nano-Components entschieden? Sind Sie krank?« Winston ging die Fragerei auf die Nerven. Er schüttelte den Kopf. Dann bemerkte er, dass sie ihn in der Röhre gar nicht sehen konnte. »Nein«, brummte er. »Nur zur Vorsorge.« »Gute Wahl!« Der Scanner heulte auf und drehte sich wie eine Turbine um Winstons Körper. Er war nicht krank, im Gegenteil, er war kerngesund. Für seinen Job hielt er seinen Körper fit, trainierte regelmäßig im Dojo, rauchte nicht und trank keinen Alkohol. Aber vielleicht würde er eines Tages krank werden. Wer konnte das schon ausschließen? Mittlerweile gab es mehr Krebsarten als Medikamente, und dann war es gut, wenn er diese kleinen Computerteufel in seinem Körper mit sich herumtrug. Aber den wahren Grund, weshalb er sich für NanoComponents entschieden hatte, würde er ihr nicht auf die Nase binden. Noch nicht! Den würde sie noch früh genug erfahren. Der Scanner kam zum Stillstand. Durch einen Augenschlitz blickte Winston aus der Röhre. Auf dem Röntgenschirm an der Wand war die Abbildung seines Körpers zu sehen. Die Projektion bestand lediglich aus einem Skelett und Dutzenden von Blutbahnen. Mit offenem Mund sah er Tausende roter Punkte, die in seinen Adern und Venen zirkulierten. Wie Ameisen krochen, schwammen und rutschten die blinkenden Punkte durch seinen Körper, verbanden sich miteinander oder stießen sich gegenseitig ab. Er sah aus wie das Reklameschild eines elektronischen Menschen.
»Sind die Computer in Ordnung?« »Sie meinen die Nanomaschinen!«, korrigierte sie ihn. »Warum fragen Sie?« »Es gab in letzter Zeit angeblich Schwierigkeiten nach der Infiltration. Nicht jeder…« »Das sind Gerüchte!«, unterbrach sie ihn. Wahrscheinlich hörte sie diese Frage andauernd und ahnte bereits, worauf er hinaus wollte. Die Röhre hörte auf zu brummen und verschwand in der Decke. Winston stand nackt auf dem Podest, die Hände vor den Lenden verschränkt. »Unsere Konkurrenten bezeichnen uns als eine Firma, die aus einer Garage zu rasch groß geworden ist. Mittlerweile beschäftigen wir neunzig Mitarbeiter und machen – allein mit den Honoraren unserer Klienten – fünfundzwanzig Millionen Dollar Umsatz pro Jahr, die man uns anscheinend nicht gönnt. Es ist die reinste Schlammschlacht!« Sie verdrehte die Augen unter dem Visier ihrer elektronischen Brille. »Kleingeistiges Geschwätz – für uns ist das nichts Neues! Darüber hinaus sei unsere Technologie angeblich unausgegoren. Unsinn, wenn Sie mich fragen. Die Konkurrenz will uns nur fertig machen und selbst ins Geschäft einsteigen. Da hat sie aber schlechte Karten. Mit unseren Patenten decken wir den größten Marktanteil ab.« Die Servicetechnikerin beobachtete die roten Punkte auf dem Röntgenschirm. Sie klappte das Visier nach oben und fixierte Winstons Augen. »Die Agenten der Nano-Intelligence-Agency sitzen uns im Nacken, die Behörden überwachen uns, Studenten demonstrieren in der Empfangshalle des Bürogebäudes, Terroristen verüben Anschläge auf unsere Labors, sogar der eigene Aufsichtsrat lässt uns bespitzeln… ziehen Sie den Mantel wieder an… aber ich kann Ihnen versichern, dass alles in Ordnung ist und Sie nichts zu befürchten haben, außer ein
Nanoboard brennt sich durch Ihren Körper.« Sie lächelte. »War nur ein Scherz!« »Den habe ich heute schon einmal gehört.« Winston schlüpfte in den Mantel. Sie machte zwei Bluttests mit ihm und entnahm seiner Haarwurzel einen DNS-Abstrich. »Wofür ist das gut?« »Für unser Security-Team, falls die Jungs mal einen Einsatz haben. Ach ja, habe ich Ihnen schon unsere Security-Card gegeben?«, fragte sie wie beiläufig. Winston schüttelte den Kopf. »Wozu?« Sie zuckte mit den Achseln. »Für eventuelle Zwischenfälle… was haben Sie?« »Gar nichts.« Er räusperte sich. »Welche Zwischenfälle?« »Ich hoffe für Sie, dass Sie das nie herausfinden müssen.« »Ist das wieder einer Ihrer Scherze?« Sie schüttelte den Kopf und drückte Winston eine goldglänzende Karte in die Hand. »Tragen Sie die immer bei sich, Mister Parker. Wenn es Probleme gibt oder Sie sich nicht wohl fühlen, schieben Sie die Karte in den Datenschlitz ihres Laptops. Dann sind Sie sofort mit unserer Zentrale online. Unser Team macht Ihren Standort ausfindig – egal wo Sie sich gerade befinden – und ist innerhalb von fünf Minuten dort. Sie haben doch einen Laptop, oder?« Winston nickte. »Ich dachte, es ist alles in Ordnung und ich habe nichts zu befürchten? Wozu diese Karte?« »Nur zur Vorsorge.« Sie lächelte. »Und was macht Ihr Team, wenn ich mich auf einer Safari mitten im Dschungel von Chile befinde?« »Wir haben eine Kooperation mit Space Ltd. die in Nord- und Südamerika über nahezu vierhundert Space-Jet-Stützpunkte verfügen«, antwortete sie prompt. »Außerdem gibt es in Chile
keinen Dschungel. Nur Wald und Steppe.« Sie lächelte Winston an. Klugscheißer! Misstrauisch starrte Winston auf die glänzende Karte in seiner Hand.
Im Zimmer nebenan zog sich Winston T-Shirt, Jeans und Turnschuhe an. Er schnappte sich seine Jacke vom Kleiderständer. Eine junge Dame führte ihn anschließend zu einem Büro, dessen Türschild besagte: Joseph Goodwin, Finanzen. Dort reichte er die Security-Card einem Mann mit schütterem Haar, weißem Spitzbart, grauem Anzug, Hornbrille und einer altmodischen Krawatte. Mister Goodwin sah aus wie ein pensionierter Buchhalter und wirkte inmitten des modern eingerichteten Büros ziemlich verloren. Der Alte zog die Karte durch den Schlitz einer Maschine und gab sie Winston zurück. Einige Lampen blinkten, und über die Monitore der Anlage huschte eine Reihe von Daten. »So, das war’s«, murmelte Mister Goodwin. »Was war’s?« »Die Bezahlung«, erklärte der Alte wie selbstverständlich. »Wir haben Ihre Adresse und die Bankverbindung für die Einzugsermächtigung. Das genügt, den Rest erledigt das System.« Er klopfte auf die Tastatur. Winston blickte ihn fragend an. »Sie haben sich für Account Dreizehn entschieden«, half ihm der Alte auf die Sprünge. »Die Prämie, die Sie zahlen, beträgt monatlich neunhundert Dollar, und das, bis zu Ihrem Tod.« Goodwin grinste. »Oder haben Sie es sich anders überlegt?« Er kniff die Augen zusammen. »Aha.« Winston erinnerte sich. Bei seinem ersten Gespräch mit einem Berater von Nano-Components hatte er einige
Vertragspapiere unterzeichnet. Dabei war es auch um das monatliche Honorar gegangen. »Bis zu meinem Tod?«, wiederholte Winston. »So ist es«, versicherte ihm der Alte. »Es sei denn, Sie sterben vorher.« Er kicherte. Hier arbeiteten nur Witzbolde. Winston versuchte gar nicht erst zu lächeln. »Wir sind fertig«, stellte Goodwin fest und sah Winston auffordernd an. Winston blieb auf dem Stuhl sitzen. »Und jetzt?« »Was, und jetzt?«, wiederholte der Alte. »Wir sind fertig! Gehen Sie in das Zimmer am Ende des Korridors und nehmen Sie auf einem der Besucherstühle Platz. Mister Dean wird Sie jeden Augenblick empfangen.« »Mister Dean höchstpersönlich?« Goodwin nickte. »Unser Direktor nimmt sich bei jedem neuen Kunden einige Minuten Zeit für ein Abschlussgespräch.« Wie nett! Winston nickte. »Wir alle schätzen Mister Dean«, schwafelte der Alte. »Es ist eine große Ehre für Sie, ihn kennen zu lernen.« »Tatsächlich?« Winston stand auf und ging.
Die Besucherstühle waren mit blauem Stoff überzogen, in den Winston tief einsank. Endlich öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Raum. Er war barfuß. Winston hatte den Eindruck, als schwebte er geräuschlos und erhaben über den Teppich. »Mister Dean?« Winston stand auf. Lächelnd reichte der Mann Winston die Hand. Er hatte einen kräftigen Händedruck. Im Grunde genommen sah Mister Dean eher unspektakulär aus. Winston hatte eine hoch gewachsene,
mächtige Gestalt im dunklen Anzug erwartet, doch der Mann war spindeldürr und einen Kopf kleiner als er. Er trug einen weißen Stoffumhang mit weiten Ärmeln, die braun gebrannten, sehnigen Arme verschränkte er hinter dem Rücken. Seine rahmenlose Brille war blau getönt. Er hatte eine Glatze, die er sich gewiss regelmäßig rasierte und polierte. Auch die Kopfhaut war gebräunt wie eine Ofenkartoffel. Er wirkte wie eine billige Kopie Mahatma Gandhis. Winston schätzte ihn auf Anfang vierzig. So jung, und schon einer der reichsten Männer New Yorks. Mister Dean lächelte. Winston hatte mit einem blöden Scherz gerechnet, doch den Gefallen tat ihm der Mann nicht. »Ich beglückwünsche Sie, dass Sie sich für Nano-Components entschieden haben, Mister Parker.« »Es gibt nicht viele Alternativen.« Der Mann grinste. »Zumindest keine ernstzunehmenden.« Er nahm Winston am Arm und führte ihn durch den Raum. »Wir leben im dritten Jahrtausend, mein Freund. Die Zukunft gehört der Technologie, und wir sind die Einzigen, die Ihnen ewiges Leben garantieren.« »Das klingt so, als wollten Sie Gott die Show stehlen«, entgegnete Winston, der alles andere als religiös war. »Wenn der Himmlische Vater tatsächlich existiert…«, Mister Dean hob den Zeigefinger, »… würde er seinen Sohn heute als Hacker auf die Erde schicken, um uns die Konstruktionspläne der Nanomaschinen aus dem Safe zu stehlen. Glauben Sie mir!« Mister Dean lachte laut auf. »Nano-Components hat die Genesis neu definiert, wir haben die Schöpfungsgeschichte umgeschrieben. Unser Produkt hält den Alterungsprozess auf. Unser Ziel heißt: Unsterblichkeit! Sie gehören zu einer ausgesuchten Minderheit, Mister Parker. Willkommen im Club! Was ist das für ein Gefühl, ewig zu leben?« »Ich habe Durst.«
»Ha, ha.« Mister Dean lachte und drohte mit dem Zeigefinger. »Sie haben Humor, mein Freund. Sie sind ein Mann nach meinem Geschmack.« Anscheinend hörte sich Mister Dean gern reden. Winston ließ ihn. »Ewiges Leben ist kein Geschenk Gottes, Mister Parker! Es ist ein Geschenk von uns an die Menschheit! Er, Jesus Christas heißt es im ersten Brief an Timotheus, der allein Unsterblichkeit besitzt und in unzugänglichem Lichte wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch zu sehen vermag. Sein ist Ehre und ewige Macht!« Mister Dean hob den Blick und starrte Winston durchdringend an. »Ich bin der neue Messias. Ich bringe Ihnen diese ewige Macht. Kein anderer!« Großkotziger Affe, dachte Winston. Langsam begann er zu ahnen, weshalb Mister Deans Klientel ihn wie einen Gott verehrte. »Es gibt Gerüchte, dass einige Ihrer Kunden spurlos verschwunden sind«, murmelte Winston. Mister Dean lächelte. »Datenschutz, mein Lieber. Wir geben keine Auskünfte über unsere Klienten. Nur so viel: Mit der Unsterblichkeit geht jeder anders um. Manche führen ihr Leben genauso weiter wie bisher. Andere wollen sich an einem geheimen Ort zur Ruhe setzen. Wir helfen ihnen dabei. Einige Agenten der Nano-Intelligence-Agency ermitteln deshalb gegen uns, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Dieser lächerliche Verein hat jedoch keine Chance gegen ein einflussreiches Unternehmen wie uns. An unseren Rechtsanwälten haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen.« Mister Dean legte Winston die Hände auf die Schultern und musterte ihn. »Ich versichere Ihnen, mein Lieber, unseren Klienten geht es gut. Sie werden sich bald selbst davon überzeugen können.« Das werde ich, dachte Winston.
Mister Dean löste sich von ihm und griff in sein weites Gewand. Er holte eine schwarze Schachtel hervor, die er aufklappte. »Kommen wir zur Einweihung.« Er hielt den Inhalt der Schachtel ins Licht. In einer Kunststoffklammer glänzten zwei daumennagelgroße Schalen. »Was ist das?« Mister Dean schmunzelte. »Hatten Sie schon mal Kontakt zu einem Eingeweihten?« »Nein«, log Winston. »Gut, gut. Sie werden staunen.« Mister Dean blickte ihm direkt in die Augen. »Eng aber ist das Tor und schmal ist der Weg, der zum Leben fährt, und wenige sind es, die ihn finden, heißt es im Matthäusevangelium«, sagte er. »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.« Winston war sich nicht sicher, aber er ahnte, dass mit dieser Bibelstelle etwas nicht stimmte. Irgendwie war der Sinn verkehrt worden. Doch das war ohnehin egal, denn er hatte keine Lust, mit dem Messias von Nano-Components über Bibeltexte zu philosophieren. »… an ihren Früchten«, wiederholte Mister Dean, nahm eine Kontaktlinse aus der Schachtel, legte sie auf die Fingerkuppe und hielt sie ins Licht der Deckenlampe. Die Linse glänzte feucht. »Es ist rasch vorüber, zucken Sie nicht mit dem Lid.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, öffnete mit zwei Fingern Winstons Auge und stülpte ihm die Linse über die Pupille. »Scheiße!« Winston blinzelte. Kaum hatte er den Schmerz überwunden, hatte er auch schon die zweite Linse im Auge. »Muss das sein?« Seine Augenlider begannen zu zucken. »Das ist Teil unserer Dienstleistung.« Gönnerhaft ließ Mister Dean den Schachteldeckel zuschnappen. »Wunderbar.« Winston rieb sich die tränenden Augen. »Wann kann ich die Dinger rausnehmen?«
»Ha, ha! Sie sind ein Spaßvogel, mein Lieber.« Plötzlich wurde Mister Dean ernst. »Gar nicht! Die Linsen sind auf Ihre Nukleotide abgestimmt. Sie reinigen und regenerieren sich von selbst.« »Ist nicht wahr?« »Und ob! Nach einigen Stunden spüren Sie die Linsen gar nicht mehr. Jetzt sind Sie ein Eingeweihter, mein Lieber. Durch die Linsen werden Sie Dinge sehen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Gehen Sie hinaus auf die Straße, Sie werden die Molekülschalter bald bemerken. Nur unsere Klienten sind die wahrlich Sehenden unter den Blinden!« »Wie viele Kunden sind es?« »An die zweitausend in den Staaten und eine Handvoll in Kanada.« Mister Dean lächelte. »Und täglich werden es mehr.« »Wer zum Beispiel?« »Sie sind erst dann nicht mehr neugierig, wenn Sie alles wissen!« Mister Dean musterte Winston über den Brillenrand hinweg. »Aber das, mein Lieber, unterliegt dem Datenschutz. Fremden gegenüber ist unsere Kundenkartei natürlich streng geheim.« Winston nickte. Bei dem Preis konnte es sich nur um hohe Tiere handeln. »Aber warten Sie es ab, mit den Linsen werden Sie die anderen bald erkennen.« Mister Dean führte seinen Gast zur Tür. Plötzlich wedelte er wie durch Zauberei mit einem Formular. »Ach ja, das müssen Sie noch unterschreiben.« Er drückte Winston einen Stift in die Hand. »Was ist das?« Winston überflog das Blatt und zeichnete es anschließend neben dem Datum ab. »Das ist für den Fall, dass Sie verschwinden möchten, wir für Sie Ihren Abgang aus der Öffentlichkeit organisieren sollen
und Ihre Angaben unter den Datenschutz unserer Kundenkartei fallen.« Winston nickte und reichte Mister Dean das unterschriebene Formular. Er bekam nicht einmal eine Kopie. Mister Dean grinste breit, schob ihn zur Tür und verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedruck. Offenbar hatte er es eilig. Wahrscheinlich hastete er gleich zum nächsten Kundengespräch, um seine Bibelstellen zu zitieren. In der Empfangshalle fuhren Dutzende von Menschen auf der Rolltreppe auf und ab. Eine Videowall zeigte Werbefilme. Aus den Lautsprechern dröhnte eine sonore Computerstimme: »Willkommen bei Nano-Components. Wir halten den Alterungsprozess auf. Ihr Traum von Unsterblichkeit wird wahr! Lassen Sie sich helfen, einer unserer Nano-Components…« Winston hörte nicht weiter zu. Er hatte das Gebäude bereits durch die Glastür verlassen.
Winston fuhr mit der Magnet-Schwebebahn durch die Stadt. Mister Dean hatte nicht zu viel versprochen. Die Linsen begannen zu wirken. Zuerst bemerkte er die roten Punkte auf seiner Handfläche. Wie winzige Leuchtraketen schimmerten sie durch die Haut. Sie schwirrten durch die Adern und schossen mit jedem Pumpen des Herzens weiter. Es war faszinierend, wie sich die blinkenden Punkte in den Fingern, im Handgelenk und Unterarm verteilten. Es waren zu viele und sie waren zu schnell, als dass er ihren exakten Bewegungen hätte folgen können. Schließlich verschwanden sie unter dem hochgeschobenen Jackenärmel. Der Labormensch, der ihm die Injektion verpasst hatte, sprach von vierhundert Molekülschaltern, und auch Mister Dean hatte die Dinger so genannt. Binnen Sekunden bestanden Winstons Hände und
Arme aus roten, pulsierenden Punkten. Der Anblick war befremdend und verwirrend zugleich. Aber er würde sich daran gewöhnen. Er musste sich daran gewöhnen! Bis an sein Lebensende… Winston riss sich von dem Anblick los und starrte aus dem Fenster. Dort sah er sein Spiegelbild ohne die roten Punkte. Erleichtert atmete er aus. Wenn er den Anblick der Nanomaschinen nicht länger aushielt, brauchte er nur in den Spiegel zu schauen oder Handschuhe zu tragen, dann sah er sie nicht mehr an sich. Nicht mehr in sich, korrigierte er sich. Durch die Linsen sah er die verdammten Maschinen in seinem Körper, in den Blutbahnen, in den Gefäßen und Organen. Winston fuhr keuchend herum und starrte durch die Kabine der Magnetschwebebahn. Er zuckte zusammen. Am Waggonende stand ein älterer Mann im grauen Anzug. Der Fahrgast hielt sich mit der Hand am Deckengriff fest. Der Ärmel seines Sakkos war hinuntergerutscht, sodass Winston am Handgelenk das Glühen roter Punkte sah. Ein Eingeweihter! Als konnte der Mann Gedanken lesen, wandte er sich um und nickte Winston knapp zu. Natürlich! An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, kam Winston in den Sinn. Bei der nächsten Station verließ Winston die Schwebebahn und ging durch den Central Park zu seiner Mietwohnung. Schade, dass er seine Waffe nicht dabei gehabt hatte.
Der Einsatzwagen des Security-Teams rumpelte über den Randstein. Noch bevor der Wagen zum Stillstand kam, wurden die Hecktüren aufgerissen. Fünf Männer in schwarzen Kampfanzügen sprangen aus dem Fahrzeug. Die Passanten stoben zur Seite. Mit schweren Stiefeln polterten die Angreifer über den Gehsteig, stürmten durch die Eingangstür des Wohnblocks und trampelten die Stufen hinauf. Über
Kehlkopfmikros und kabellose Ohrstöpsel standen die Mitglieder des Teams miteinander in Verbindung. Noch auf der Treppe entsicherten sie die Waffen. Die Projektile schnappten in die Kammern. Das Ohrmikro des Team-Commanders knackte. »Zielperson Zwo-Null-Sechs-Drei befindet sich in der fünften Etage«, informierte ihn eine weibliche Stimme. »Wir sind in zwanzig Sekunden am Einsatzort! Name der Zielperson?« »Winston Parker.« »Bewaffnet?« »Unbewaffnet und ungefährlich.« Die Männer hetzten in den fünften Stock. »Die Zielperson hat vor drei Minuten über die Sec-Card Kontakt zur Zentrale aufgenommen.« »Status?«, fragte der Team-Commander. »Er klagt über Krämpfe, Herzrasen, Schweißausbrüche, Atembeschwerden und überhöhte Temperatur. Offensichtlich eine Fehlfunktion der Nanoboards… wahrscheinlich ist er schon tot. Gehen Sie nach Level Sieben vor.« »Level Sieben! Aus und Ende!« Das Team stand vor der Wohnungstür, aus der das Signal gekommen war. Ein Mann sicherte den Korridor, ein weiterer den Treppenabgang, einer trat die Tür aus den Angeln und zwei stürmten in die Wohnung. Gegenseitig gaben sie sich Deckung. Sie versuchten erst gar nicht leise zu sein. Schnelligkeit war alles, was zählte. Sie trampelten den Vorraum entlang, durch die Küche in einen abgedunkelten Raum. Auf dem Tisch blinkte ein Laptop, dessen Schein auf die Umrisse eines Mannes fiel. Er saß zusammengekauert auf einem Stuhl, die Ellenbogen auf dem Tisch. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Er lebte noch, seine Arme
zitterten, gerade in diesem Moment wollte er sich hochstemmen. Die vier Lieutenants umstellten den Mann, die Waffen im Anschlag. Der Team-Commander trat von hinten an Winston Parker, hielt ihm den Waffenlauf ins Genick und drückte ab. Durch den Schalldämpfer spuckte die Waffe das Projektil mit einem Husten aus. Der Körper flog zur Seite. Blut und Knochen spritzten nach allen Seiten. Der Team-Commander blickte zu Boden. »Scheiße«, flüsterte er. Vor seinen Beinen lag ein Mann mit einem Knebel im Mund. Seine Hände waren gefesselt. »Ist das wieder eine verdammte Übung?« Der TeamCommander justierte das Mikro am Kehlkopf. Die Lieutenants nahmen die Waffen herunter. Sie starrten ebenfalls auf den Leichnam. Die Hornbrille des Toten war verrutscht, das schüttere Haar hing ihm wirr am Schädel. Der weiße Spitzbart war blutbesudelt. »Den kenne ich!« Ein Lieutenant deutete auf den Toten. »Das ist Goodwin, unser Buchhalter!« Da gingen die Lampen im Raum an. Das Licht blendete die Teammitglieder. Sie rissen die Arme hoch. Aus einer Nische trat ein Hüne. Der Team-Commander blinzelte. Als er das hohle Klicken hörte, trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Er kannte das Geräusch und wusste, dass soeben eine Waffe mit sensorgesteuerten Projektilen entsichert worden war. Dagegen hatten sie keine Chance. »Nano-Intelligence-Agency!« Winston Parker richtete die Waffe auf den Team-Commander. In der anderen Hand hielt er seinen Ausweis. »Sonderabteilung. Wir ermitteln gegen NanoComponents wegen des Verschwindens einiger Ihrer Klienten«, fügte er hinzu. »Legen Sie die Waffen nieder!«
Aus dem Augenwinkel musterte er den toten Buchhalter. Sein Genick war zerfetzt. Das Austrittsloch hatte ihm die Kehle weggesprengt. Sein Kopf hing nur noch an einem Hautlappen. Winston wies mit einer Kopfbewegung auf die Leiche. »Ein Nanoboard hat sich wohl durch seinen Körper gebrannt, was?« Die Männer schwiegen. »War nur ein Scherz!«, erklärte Winston. Jetzt wusste er, wie Mister Dean seine Geschäfte handhabte. So also sah der Datenschutz für jene Klienten aus, die angeblich verschwinden wollten. Wahrscheinlich hatten sie ein Problem mit ihren Nanomaschinen gehabt. Nicht jeder vertrug die Infiltration. Die Firma wäre ruiniert, falls sich das herumsprach. Also wurden die Fälle vertuscht – nichts leichter als das. Die Gesetzeslage war auf Seiten von NanoComponents. »Waffen runter!«, brüllte Winston. Einer der Männer legte die Schusswaffe zu Boden. »Was machen Sie, Lieutenant?«, donnerte der TeamCommander. »Ich habe keinen Befehl dazu gegeben!« »Los! Runter damit!«, brüllte Winston. »Feuer!« Der Team-Commander riss die Pistole hoch. Noch bevor er auf Winston anlegen konnte, jagte ihm dieser ein Projektil in die Stirn. Seine Waffe hatte keinen Schalldämpfer. Der Knall hallte durch die Wohnung. Der Team-Commander wurde an die gegenüberliegende Wand geschleudert. Winstons Waffenhand wirbelte herum. Drei weitere Schüsse, in Stirn, Hals und Brust, rissen die bewaffneten Lieutenants von den Beinen. Einer war nicht sofort tot. Seine Beine zappelten. Der letzte Mann griff reflexartig nach seiner Waffe. Er wollte die Knarre hochreißen, doch Winston streckte auch ihn nieder. Als es vorüber war, zitterte seine Hand. Rasch überzeugte er sich, dass alle tot waren. Der Letzte hauchte sein Leben aus,
das Zappeln der Beine erstarb. Einen Augenblick später war Winston von sechs Leichen umgeben, Goodwin mit eingerechnet. Winstons Ohren dröhnten. Der Raum stank nach Kordit. Er ließ seinen alten Ausweis in der Brusttasche des Hemds verschwinden. Seine Zeit als aktiver NanoIntelligence-Agent war längst vorüber. Er durfte den Ausweis eigentlich nicht mehr besitzen, geschweige denn verwenden. Doch hin und wieder war er nützlich. »Arme Schweine.« Winston betrachtete die verrenkten Körper. Er wechselte das Magazin und steckte die Pistole ins Schulterholster. Danach streifte er sich schwarze Lederhandschuhe über, damit er die Nanomaschinen nicht länger sehen musste. Noch hatte er sich nicht daran gewöhnt. Sein Blick fiel auf den gefesselten Buchhalter. »Tut mir Leid, Goodwin, alter Junge.« Eigentlich sollte er selbst hier liegen: tot, vom Security-Team der Nano-Components eliminiert. Er zog seine Security-Card aus dem Laptop des Buchhalters und hielt sie gegen das Licht. Sie glänzte goldfarben. »Gutes Stück.« Er würde sie nicht mehr brauchen. Sie knirschte, als er sie in der Faust zerdrückte. Winston Parker schlüpfte in seinen Ledermantel. Er atmete tief durch, stieg über die Leichen und verließ das Apartment des Buchhalters. Ein anderes Security-Team von NanoComponents würde die Spuren des Massakers beseitigen, denn bestimmt war Mister Dean nicht daran interessiert, dass dieses Malheur an die Öffentlichkeit gelangte. Dadurch hatte Winston Mr. Dean zwar auf seine Spur gebracht, doch das kümmerte ihn nicht weiter, denn sein eigentlicher Auftrag war längst nicht zu Ende. In Wahrheit hatte er eben erst begonnen.
Bereits seit Tagen trieb er sich ruhelos in New York herum, in Bussen, Taxis und Magnet-Schwebebahnen. Nachdem er
Brooklyn, Manhattan und Long Island abgeklappert hatte, durchstöberte er jetzt den Westteil der 40-MillionenEinwohner-Metropole. Wenn er hier fertig war, würde er nach Washington reisen, doch im Moment bewegte er sich in Richtung New Jersey, wo er endlich wieder fündig wurde. »Stop!« Winston pochte gegen das Glas der Taxikabine. Der Fahrer bremste den Wagen. Winston bezahlte und sprang aus dem Auto. Er lief über die Straße, um der Frau im grauen Hosenanzug zu folgen. Nach wenigen Augenblicken hatte er sie eingeholt. Winston hatte sich nicht geirrt. Er trat so dicht an sie heran, dass er deutlich die pulsierenden, roten Punkte unter ihrem kurz geschorenen Haaransatz erkennen konnte. Die Frau klapperte mit Stöckelschuhen eilig über den Bürgersteig. Sie trug goldene Ringe an den Fingern und eine Aktentasche unter dem Arm. Winston schätzte sie auf Mitte vierzig. In den Medien sah sie bedeutend jünger aus. Annette Mairing saß im Repräsentantenhaus des Kongresses. Mit ihren jüngsten Energiegesetzen hatte sie den Öl- und Atomenergiekonzernen Milliarden von Steuergeldern zukommen lassen. Sie war bestimmt kein »unschuldiges« Opfer, wie es morgen in den Zeitungen stehen würde. Was Winston jedoch wichtiger war: Die Frau trug Nanomaschinen in ihrem Körper! Sie bog in eine Seitengasse. Perfekt! Winston folgte ihr. »Mrs. Mairing!« Die Frau drehte sich um. Für ihr Alter war sie dezent geschminkt und trug ihr Haar erstaunlich kurz. Sie wirkte sichtlich verärgert. »Ich muss mit Ihnen reden!« »Tut mir Leid.« Sie lächelte gezwungen und wandte sich ab. »Ich habe keine Zeit.« »Die werden Sie sich nehmen müssen.« Winston zog seinen Ausweis aus der Tasche. »Nano-Intelligence-Agency!«, sagte
er. »Sonderabteilung. Wir ermitteln gegen Nano-Components. Ich muss Sie einen Augenblick sprechen.« »Gegen Nano-Components?« Die Frau starrte ihn an. Ihre Pupillen zuckten hin und her. »Aber Sie sind doch selbst ein Kunde von Mr. Dean. Weshalb…?« »Richtig. Sonst hätte ich Sie wohl kaum gefunden.« Winston lächelte. Er vergaß immer wieder, dass nicht nur er die anderen sehen konnte, sondern die anderen auch ihn. Seine schwarzen Lederhandschuhe knirschten. Er klappte seinen alten Ausweis zu und ließ ihn in der Hemdtasche verschwinden. Er hatte bei der Agency gekündigt, kurz nachdem seine Frau bei Mister Dean einen Vertrag unterzeichnet hatte. Er wollte sie davon abbringen, doch Cara war verzweifelt und sah darin den einzigen Ausweg. Nach der Infiltration klagte sie über Krämpfe, Herzrasen und Atembeschwerden, und einen Tag später war sie fort. Zu dem Zeitpunkt ermittelte Winston gerade in einem Fall in Boston. Über Caras plötzliches Verschwinden erfuhr er zwei Tage später von den Behörden. Als er nach Chicago zurückkehrte, war nichts mehr zu machen. Mr. Deans Security-Team war gründlich vorgegangen. Das Haus war leer, es gab keine Zeugen, keine Spuren, keine losen Enden. Er hatte Cara und seinen Sohn nie wieder gesehen. Der eigene Abgang unterlag dem Datenschutz und war vom Klienten selbst unterzeichnet worden. Die jüngst beschlossenen Gesetze untermauerten die Unanfechtbarkeit dieser Verträge, und die Agenten hatten keine Chance, in solchen Fällen zu ermitteln. Außerdem war die Nano-Intelligence-Agency nur eine von vielen staatlichen Behörden, und der Kongress bewilligte für ihre Einsätze schon lange keine hohen Geldbeträge mehr. Wie Winston mittlerweile wusste, waren einige Kongressabgeordnete Kunden bei Mister Dean. Winston hatte die Nase voll. Er hatte das Haus in Chicago verkauft, in New York eine billige
Absteige gemietet und sich eine neue Identität zugelegt. Seitdem trieb ihn nur noch ein einziger Gedanke: Er würde sich die Kerle selbst vorknöpfen und Mister Dean samt seinem Unternehmen zur Strecke bringen. »Was möchten Sie wissen?«, drängte die Frau. Winston zögerte. »Wie lange haben Sie noch zu leben?« »Ewig.« Sie lächelte. »Irrtum, Lady!« Winston Parker streifte den Ledermantel zur Seite und zog die Waffe aus dem Schulterholster. Er drückte ihr den Lauf gegen die Stirn. Sie schrie. Die Mündung grub sich in ihre Haut. »Ich habe zwei Kinder«, presste sie hervor. Ihre Lippen bebten. »Ich…« Winston drückte ab. Der Hinterkopf der Frau platzte auseinander. Ihre Gehirnmasse verteilte sich auf der Mauer. Dann brach ihr Blick und der Leichnam rutschte an der Wand zu Boden. Das Projektil hatte ein faustgroßes Loch in die Mauer gerissen. »Auch Cara hatte einen Sohn…«, murmelte Winston, ehe seine Stimme versagte. Er steckte die Waffe weg. Doch im Gegensatz zu dieser feinen Lady wollte seine Frau nicht ewig leben, sondern lediglich mit temporären Nanomaschinen, die eine Verfallsdauer von fünf Jahren hatten, ihren Kehlkopfkrebs überwinden, um länger für Eric da zu sein – zumindest bis er alt genug war, um alleine zur Schule zu gehen. Aber anscheinend war das zu viel verlangt! Er wandte sich ab und verließ die Gasse. Der Schmerz trieb ihn durch die Straßen, auf der Suche nach weiteren Eingeweihten. Er würde die einflussreichen Kunden der NanoComponents einen nach dem anderen in ihren Limousinen und vor ihren Bürogebäuden aufspüren. Wenn Cara nicht leben durfte, sollten sie es auch nicht.
In den Straßen würde man einen Klienten nach dem anderen mit einem Projektil im Kopf finden. Doch auf seiner »Abschussliste« standen nicht die kleinen, unbedeutenden Leute, die keinen Dreck am Stecken hatten, und auch nicht die Drogenbosse und Waffenschieber, sondern die Lobby im Land: die korrupten Richter, Rechtsanwälte, Senatoren und Kongressabgeordneten, die mit ihren Gesetzen die NanoComponents unantastbar gemacht hatten. Jeder dieser Todesfälle würde einen Riesenstunk auslösen, der eine Menge Untersuchungen gegen Nano-Components zur Folge hatte, was das Unternehmen endgültig in die Knie zwingen würde. Für das Verschwinden seiner Frau und seines Sohnes war das eine angemessene Entschädigung. Mister Dean würde er sich zuletzt holen. Bis dahin sollte sich der Messias für unsterblich halten, in seiner Bibel lesen und zusehen, wie das Sterben Tag für Tag weiterging. Damit würde er das System mit seinen eigenen Waffen schlagen. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Ja, er würde sie erkennen, auch ohne Mister Deans streng geheime Kundenkartei. Er erkannte die Eingeweihten. Um den Feind zu bekämpfen, hatte er selbst zum Feind werden müssen. Winston Parker bog in die gegenüberliegende Seitengasse. Da war der Nächste! Gerum Cohen, ein Senatsmitglied, im dunklen dreiteiligen Anzug. Er stand zwischen den Mülleimern und las Zeitung. Perfekt! »Hee, Sie!« Winston schob den Ledermantel zur Seite.
Michael Marrak (*1965) arbeitete hauptberuflich als Grafiker und ist seit 1997 freier Schriftsteller, sowohl auf dem Gebiet der Science Fiction als auch der Fantasy und des Horrors. Furore machte er mit seinem SF-Roman Lord Gamma, der – ebenso wie Imagon – den Kurd Laßwitz Preis erhielt. Die Kurzgeschichten »Wiedergänger« und »Die Stille nach dem Ton« errangen den Deutschen Science Fiction Preis. www.michaelmarrak.de
MICHAEL MARRAK Relicon
Nervös aufblendende Scheinwerfer lenkten meinen Blick in den Rückspiegel. Mein Verfolger gab hektische Morsezeichen: Aus dem Weg! Aus dem Weg! Ich nahm den Fuß vom Gas und hielt mich so weit rechts wie möglich, um den Rover nicht in den Graben zu fahren. Der Wagen hinter mir scherte aus und schoss so dicht an mir vorbei, dass ich um meinen Außenspiegel fürchtete. Ich sah den Fahrer nicht, und sah ihn doch: Den Blick starr auf der engen, kurvigen Landstraße, die Knöchel weiß am Lenkrad, die Zeit im Nacken. Nach der nächsten Kurve hatte ich ihn bereits aus den Augen verloren, nach der übernächsten vergessen. Mein Blick schweifte wieder über die mit Mohnblumen gesprenkelten Lavendelfelder, die in der Mittagshitze flimmernden Kornfelder, die lodernden Ginsterbüsche und die dunklen Fackeln der Zypressen. Cezanne, Matisse und van Gogh hatten diese Landschaft und ihr Licht in Gemälden
eingefangen. In der klaren Luft leuchteten die weißen Wände der Kalkfelsen über den violetten Feldern, dass es beinahe in den Augen schmerzte, und der Himmel war so blau, als sei er gemalt. Vielleicht war es dieses niemals auf Leinwand zu bannende Licht, das van Gogh in den Wahnsinn getrieben hatte… Eine endlose Reihe von Pappeln säumte die Straße zu meiner Rechten, trotzte dem Mistral, der ihre Stämme in Schräglage gezwungen hatte. Durch die geöffneten Seitenfenster des Rovers drang das Schrillen unzähliger Zikaden. Längst hatte ich es aufgegeben, die Frontscheibe von den Schlieren und Spritzern zerplatzter Insekten zu reinigen. Der Wischwassertank war seit Sisteron leer, die Sicht nach draußen nur noch bedingt möglich. Ich selbst war seit Stunden gefangen in einem Zustand nostalgischer Lethargie, doch mit jeder Ortschaft, die ich meinem Ziel näher kam, wich die Träumerei und die Müdigkeit der langen Fahrt gespannter Erwartung. Alle paar Kilometer kam ich durch eines dieser urtümlichen Dörfer mit ihren kleinen Häusern aus unbehauenen grauen Steinen, die sich eng aneinander ducken, als suchten sie Schutz vor dem kalten Wind aus dem Norden, der den Himmel blank blies und die flimmernde Hitze des Sommers aus den Tälern vertrieb. Alphonses Anwesen lag ein paar Kilometer außerhalb eines Dorfes namens Methamis. Der Ort schlief am Fuß eines Hügels unter der Ruine einer Burg, wie fast jedes Dorf in dieser Gegend. Einst hatte das fruchtbare Land Ritter, Fürsten und Grafen angezogen, dann Priester und Bischöfe. Sie alle hatten Schlösser, Burgen und Klöster auf den Hügeln und Bergen erbaut, Krieg gegeneinander geführt und die Menschen abgeschlachtet. Schließlich wurden die Schlösser erobert und die Burgen geschleift. Nur die Dörfer und die kleinen Städte
überlebten. Wenn man jedoch den Bewohnern der alten Häuser glaubte, gingen die Geister derer, die einst erhängt und erschlagen worden waren, noch heute dort um. Wer hier schlief, träumte schwer und sah im Traum Menschen, die verbrennen, hörte Frauen und Kinder, die klagen… Ein klappriger Lastwagen mit einer Ladung Lavendel bog vor mir von der Straße ab und ließ mich scharf bremsen. Der Fahrer rangierte in aller Gemütsruhe ein paar Mal vor und zurück und schwankte mit seinem Vehikel schließlich auf einem schmalen Feldweg aus meinem Sichtfeld. An der Abzweigung nach Methamis führte eine schmale Straße wieder nach Norden, auf beiden Seiten von Platanen flankiert, die mit ihren weit ausladenden Kronen ein hohes grünes Dach über der Fahrbahn bildeten. Dann, kaum einen Kilometer weiter, tauchte ich plötzlich ein in das magische Zwielicht des Waldes. Die ehemalige Römerstraße, der ich nun folgte, war schnurgerade. Kurz vor Methamis bog ich in einen Privatweg ein, der nach einer Schranke sanft anstieg und nach weiteren drei Kilometern auf eine weitläufige, künstlich angelegte Lichtung führte, an deren gegenüberliegender Grenze Alphonses Haus stand. Ich parkte den Wagen gleich hinter dem ewig offen stehenden Eisentor, stieg aus und streckte mich ausgiebig. Dann lehnte ich minutenlang mit geschlossenen Augen am Wagen und lauschte den Geräuschen des Waldes nach. Für einen Augenblick war es, als hätte ich durch das Tor eine ferne, für immer verloren geglaubte Vergangenheit erreicht. Ich rieb mir die Müdigkeit aus den Augen und blinzelte in die Sonne. Von meinem Standort aus waren es noch gut einhundert Meter bis zum Haus. Jedes Mal, wenn ich Alphonse besuchte, parkte ich den Wagen an dieser Stelle. Und immer unternahm ich einen Abstecher in den Wald, ehe ich zum Haus ging. Wenige Schritte entfernt führte ein schmaler, kaum benutzter
Trampelpfad in Serpentinen hinab in eine Schlucht. Zwar würde Alphonse niemals so viel Zeit zur Verfügung haben wie ich, doch für seine Sicht der Dinge war es eine Ewigkeit.
Knapp eine Stunde später stieg ich – mit durchnässten Hosen und dreckverschmierten Schuhen – die Stufen zu Alphonses Haustür hinauf, stellte meine Reisetasche neben dem Eingang ab und drückte zwei Mal auf den Klingelknopf. Im Haus blieb lange Zeit alles still, was mich nicht weiter beunruhigte. Alphonse war nur sehr selten in der Lage, mich persönlich zu empfangen. So stand ich geduldig vor der Tür, ließ meine Finger knacken und rief mir seine kryptische Nachricht ins Gedächtnis: 30.33.BN 34.37.LO est arrivé! Ich hatte sie gestern Abend in meinem Online-Postfach vorgefunden. Mehr Informationen waren nicht nötig gewesen. Ich wusste, um was es ging. Nach einigen Minuten hörte ich, wie sich im Haus eine Tür öffnete, und schließlich ertönte das vertraute, sich nähernde Surren von Amber Ly. Als die Pforte aufschwang, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Hallo, Amber«, grüßte ich. »Treten Sie bitte zurück ins Licht«, erklang eine angenehme, fast menschliche Frauenstimme von unten herauf. »Ich bin’s, Amber… Daniel.« Aus dem Schatten des Flurs tauchte eine kniehohe schwarze Kunststoffhalbkugel auf, deren Oberseite mit Objektiven, Antennen und geschlossenen Instrumentenklappen bestückt war. »Unterlassen Sie es, zu grinsen, Monsieur!«, gebot der Automat. »Das assoziiert unlautere Absichten.« Ich hob ergeben die Hände. Amber Ly gehörte zu einer Generation autonomer Haushaltsroboter, deren Werksprogrammierung individuell erweitert werden konnte.
Bei Bedarf führte sie täglich Hunderte von Routinen aus, schloss sich selbstständig ans Stromnetz an, sobald ihre Energie zur Neige ging, und arbeitete vollkommen autark. Alphonse besaß vier dieser Kunststoff-Wichtelmännchen, aber nur ein Exemplar, das er zum Alpha-Roboter umfunktioniert hatte: Amber Ly, die ›gute‹ Seele des Hauses. Sie verkörperte den allgegenwärtigen Kontrollgeist, die Hightech-Inkarnation eines Dybbuks. Alphonse ließ sich selten im Freien und noch seltener in der Öffentlichkeit blicken. Zwar machte sein Ruf und sein Genie ihn zu einer geschätzten Person, doch seine Behinderung kerkerte ihn in diesem Haus ein. Wenn es darauf ankam, mutierte Amber Ly daher Gästen gegenüber zur multiplen KI, einer Mischung aus putzneurotischem Meister Proper, neugierig schnüffelnder Miss Marple, rechtschaffendem Wyatt Earp und Advocatus Diaboli. »Weisen Sie sich bitte aus, Monsieur«, flötete sie. Ihre sanfte synthetische Stimme täuschte darüber hinweg, dass mir nicht viel Zeit blieb. Sollte ich innerhalb von dreißig Sekunden ihrer Forderung nicht nachgekommen sein, konnte es unangenehm für mich werden. Hinter einer der Plastikklappen an Ambers Vorderseite lauerte ein Air Taser, dessen Nadelpfeile sie bis auf eine Entfernung von sechs Metern zielgenau verschießen konnte. 300.000 Volt warteten darauf, das neuromuskuläre System jedes ungebetenen Gastes zu paralysieren. Ich holte meine Brieftasche hervor, zog meinen Ausweis heraus und hielt ihn Amber Ly vor die Okulare. Zwar konnte sie sich bis zu dreißig Gesichter merken, aber nicht erkennen, ob es die wahre Physiognomie eines Besuchers oder nur eine Latexmaske war, die er sich über den Kopf gezogen hatte. »Monsieur Liebek!«, identifizierte sie mich. »Wie angenehm, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Seien Sie willkommen! Sollte Ihr Gepäck sechzehn Kilogramm nicht überschreiten,
können Sie es gerne auf mir abstellen.« Ihre Oberseite klappte auseinander und bildete eine Stellfläche. »Danke, Amber. Wo finde ich Alphonse?« »Ich werde ihn für Sie lokalisieren… Im Erdgeschoss, Sektion sieben – der Wintergarten, Monsieur. Sie finden den Weg?« »Natürlich.« Ich stieg mit einem ausladenden Schritt über sie hinweg, was sie ebenfalls nicht mochte, und lief den Flur entlang Richtung Veranda. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen, Monsieur Liebek«, rief Amber Ly und fuhr hinter mir her. »Vielleicht ein Glas Mineralwasser?« »Nicht nötig, Amber, danke.« Ich beeilte mich, hinter der nächsten Ecke zu verschwinden. Die Tür, die vom Flur ins Wohnzimmer führte, schloss ich ab und sperrte den heransurrenden Roboter damit kurzerhand aus. Alphonse saß wie schlafend in seinem Rollstuhl, mit zur Seite gesunkenem Kopf und herabhängenden Schultern, doch sein Gesicht war trotz der geschlossenen Augen von höchster Aufmerksamkeit geprägt. Wirkte er auf den ersten Blick wie ein sechzigjähriger Katatonie-Patient, strafte seine Mimik und das Headset auf seinem Kopf jeden Betrachter Lügen: Alphonse war mit voller Konzentration bei der Arbeit. Seine Augen huschten hinter den geschlossenen Lidern unentwegt hin und her und auf und ab, während seine rechte Hand zuckte, als mache er sich im Traum eifrig Notizen. Neben ihm stand ein Computerpult, in dem mehrere zusammengeschlossene Rechner summten. Der einzelne Monitor über dem Cluster wirkte auf den ersten Blick, als besäße er keine Funktion. Sah man jedoch genauer hin, erkannte man auf dem Screen eine komplexe Anordnung unzähliger feiner grauer Linien und kleiner geometrischer Figuren. Es wirkte wie eine interaktive topographische Karte mit wahllos über die Landschaft
verstreuten Objekten. Im Zentrum des Monitors leuchtete ein kleiner roter Lichtpunkt. In diesem Zustand nahm Alphonse kaum etwas von seiner Umwelt wahr. Reale akustische und visuelle Signale drangen nicht an seine Ohren. Würde ich ihn berühren oder eine gravierende primäre Störung in der Realität stattfinden (beispielsweise außergewöhnlicher Lärm oder Rauchentwicklung durch Feuer), ginge in der Welt, in der er sich momentan aufhielt, irgendeine Art von Alarm los, die das Programm, an und in dem er arbeitete, beendete. Natürlich besaßen im Notfall auch Amber Ly und die drei übrigen Roboter die Möglichkeit, Alphonse zu wecken, egal wo sie sich gerade aufhielten. Der hagere, grauhaarige Mann im Rollstuhl war auf seinem Gebiet ein Genie, das angesichts seiner Behinderung kaum etwas dem Zufall überließ. Neben ihm, auf einem freien Gartenstuhl, lag ein weiteres Headset, identisch mit jenem, das wie eine Glasfaserkappe auf Alphonses Kopf lag. Der einzige Unterschied zu seinem Interface bestand darin, dass es nicht direkt mit den Rechnern, sondern mit Alphonses Helm verbunden war. Kein Zweifel, es war eine Einladung.
Kaum hatte ich neben Alphonse Platz genommen und das Headset aktiviert, veränderte sich meine Umgebung. Eben noch den Wintergarten vor Augen, befand ich mich plötzlich auf einer Anhöhe, die von blühenden Laubbäumen und Holunderbüschen bestanden war. Hier und da erhoben sich steinerne Madonnen und Heiligenstatuen, die der Landschaft das Ambiente eines Renaissance-Gartens verliehen. Vier kreisrunde, von glänzenden Stein- und Metallwällen eingefasste Seen umgaben den Hügel.
Die Landschaft selbst wirkte wie ein Opiumtraum Innozenz des VIII.; Berge, die aussahen wie Mitren, Seen wie Taufbecken und am Horizont ein Gebirge in katholisch violett. Die Bäume dufteten nach Myrrhe, das Gras in der Ferne glänzte wie das Samt schwerer Talare, und am Horizont leuchtete keine Sonne, sondern ein Kruzifix, das aus den Weihrauchwolken einen kardinalroten Sonnenuntergang zauberte. Statt meiner Straßenkleidung trug ich einen schwarzen Ganzkörperoverall aus einem elastischen Material. Ich konnte es auf der Haut spüren, ebenso wie den Wind, der über den Hügel strich. Was ich von meinem Körper sah und von meinem Gesicht erfühlte, stimmte mit meiner realen Erscheinung überein: mittelgroß, schlank, kurzes Haar, und das hagere Gesicht seit Tagen nicht rasiert. Vielleicht hatte Alphonse vor kurzem ein Foto von mir eingescannt. Vielleicht war ich auch nur ein zerebraler Nachklang, das optische Resultat meiner Erinnerung. In einem der Bäume flatterte etwas und erregte meine Aufmerksamkeit. Zuerst hielt ich es für einen weißen Vogel, dann – erstaunt über den Anblick – für ein kleines dickes Kind mit Flügeln. Als ich mich dem Baum neugierig näherte, flog das Wesen in einer Blütenwolke zum nächsten Baum, wo es ein nahezu identisches Geschöpf aufschreckte. Es waren kleine weiße Putten, die sich nun um das Revier in den Ästen balgten und einen wahren Regen aus Blütenblättern auslösten. Als ich mich umsah, stellte ich fest, das jeder der Bäume ein solches Wesen beherbergte. Bemüht, so wenig Unruhe wie möglich zu stiften, schlich ich den Hügel hinab. Nach kurzer Suche entdeckte ich Alphonse etwa dreihundert Meter entfernt am Ufer eines Sees, der von einem glänzenden Gold- oder Messingwall eingefasst war. Befreit von seinem Rollstuhl, schlenderte er mit hinter dem
Rücken verschränkten Händen am Wasser entlang und inspizierte das eigenartige Metallufer. Irgendeine technische Spielerei schien ihm mein Kommen anzukündigen. Er tat so, als blicke er auf eine Armbanduhr, orientierte sich kurz, drehte sich dann um und kam mir mit einem jungenhaften Lächeln entgegen. Auch Alphonse sah fast so aus, wie ich ihn kannte. Obwohl sein Erscheinungsbild hier zwanzig Jahre jünger war, ging er leicht gebeugt, als laufe er gegen starken Wind an. Als ich Alphonse so sah, ging ich unwillkürlich schneller, getrieben von der Befürchtung, er würde umkippen, falls ich mich nicht beeilte. »Gütiger Himmel, wer hat denn diese Phantasmagorie in Auftrag gegeben?«, platzte es aus mir heraus, als ich ihn erreichte. »Girolamo Savonarola während einer Seance?« »Rom«, grinste Alphonse. »Et omnia ad maiorem Die gloriam.« Wir fielen uns in die Arme. »Ich bestehe dennoch auf eine nachträgliche Begrüßung in der realen Welt«, erwiderte ich. »Hier wird man ja krank.« »Oder selig, je nachdem«, widersprach Alphonse. Ich sah mich um und schüttelte fassungslos den Kopf. »Was soll das sein? Eine religiöse Chill-Out-Zone?« »Ich nenne es Relicon. Zweitausend Jahre Christentum als virtuelles Kunstarchiv und Freilichtmuseum. Eine Trinithek.« »Im kalten Krieg experimentierten die Sowjets ebenfalls mit Lichtreiz-Räumen«, bemerkte ich. »Ihre Wände waren farblich so strukturiert, dass jeder, der sich in ihnen aufhielt, durch die vom Gehirn nicht zu bewältigende Fülle von Vexierbildern wahnsinnig wurde.« »Relicon ist keine Folterkammer, sondern ein Archiv«, erklärte Alphonse. »Es bestärkt die Kirche in ihrem Glauben an die creatio ex nihilo; eine Welt aus Licht, aus dem Nichts geschaffen.«
»Zur Entspannung oder zur Abschreckung?« »Vorerst ist es nur für den internen Gebrauch bestimmt, aber vielleicht wird Relicon irgendwann die Bibel ersetzen. Der Verein geht mit der Zeit. Vor einigen Jahren haben sie in Arizona sogar eine eigene Sternwarte errichtet – auf dem Mount Graham, einem heiligen Berg der Apachen. Von dort schauen sie seitdem in den Himmel. Der Protest der Indianer blieb erfolglos.« »Und in spätestens zwanzig Jahren schießen sie eine Raumstation in den Orbit, die aussieht wie eine bemannte Hostie.« »Dieser Sektor hier ist noch nicht ganz ausgereift«, räumte Alphonse nach einem obligatorischen Rundblick ein. »Zudem ist die Landschaft restlos überladen. Wir sind im Vollmodus, alle Bestandteile sind simultan aktiv. Ich arbeite seit über vier Jahren an Relicon. In zwei Monaten soll die Software fertig sein, doch es gibt noch Unstimmigkeiten bei der Landschaftskomposition. Das hier beispielsweise« – er deutete auf den See – »ist eine maßstabsvergrößerte Replik des Taufbeckens von Renier de Huy aus dem Kirchenschatz von Saint-Bartholemy. Auf Wunsch kann es in den Himmel emporsteigen und durch die Lüfte gleiten wie ein Zeppelin, mit oder ohne virtuell badenden Kirchenoberhäuptern.« Alphonse wandte sich um und wies zum Hügel hinauf. »Wandert man ein paar Kilometer in diese Richtung, erreicht man die Allee der Päpste. Sie führt in eine Stadt, deren Gebäude aus riesigen Nachbildungen berühmter Kirchenglocken bestehen. Man kann in ihnen einkehren, schlafen, beten oder Sammlungen weltbekannter Kirchenportale besichtigen. In anderen findet man berühmte Sakristeien mit Bildern von Ljubo Babiae, Masaccio oder Michelangelo, ferner Schnitzereien und kunstvollen Fensterrosetten.« Er machte eine wahrhaft
schöpferische Pause, dann fragte er: »Was verlangst du für einen Liter Plasma?« Ich kniff mir mit Daumen und Mittelfinger in die Augenwinkel. »Als ob ich es geahnt hätte…« Ich ließ mich auf der Ufermauer nieder und sagte: »Das kann nicht ewig so weitergehen, Alphonse. Dein Blut ist durch die zahllosen Infusionen mittlerweile so gesättigt, dass du immer stärkere Infusionen benötigst, um gerade mal ein Zehntel jener Wirkung zu erzielen, die vor zehn Jahren noch eine Kanüle geschafft hatte. Du bist alt, Alphonse. Das ist der Lauf der Dinge. Du hast die Schöpfung bereits viel zu lange betrogen…« »Sie hat mich betrogen«, korrigierte Alphonse. »Vergiss das niemals.« »Du kannst dich nicht vierundzwanzig Stunden lang an den Tropf hängen.« »Ich stehe so dicht vor dem Ziel, Daniel! Er wird mir diesen Triumph nicht nehmen – nicht nach all den Jahren der Schinderei.« Er hob beschwörend die Hände. »Bitte, nur noch eine letzte Transfusion.« Ich starrte nachdenklich ins Gras. »So viel Plasma hast du noch nie verlangt. Wie lange wird das dauern?« »Eine Stunde für die Abnahme, eine weitere, um das Plasma von den Zellen zu trennen«, sagte Alphonse. »Das Filter- und Konservierungsverfahren benötigt am meisten Zeit.« Er musterte mich, als sehe er das virtuelle Blut durch meine Adern strömen. »Ich muss dir fast zwei Liter abnehmen. Du wirst also über Nacht bleiben müssen, schon allein wegen des hohen Blutverlustes. Wir werden viel Zeit zum Reden haben.« »Weshalb machst du dir Notizen?«, fragte ich, als Alphonse etwas in seine Armtastatur tippte. »Wir befinden uns in einem Computerprogramm.«
»Alles, was ich hier eingebe, wird gespeichert und ist in der Realität abrufbar«, erklärte er. »Du könntest Romane schreiben, während du dich im Relicon aufhältst. Von hier aus koordiniere ich meine gesamte elektronische Korrespondenz mit der realen Welt.« Ich blies die Backen auf. »Bei aller Ehrfurcht – nur vor deinen Fähigkeiten natürlich –, aber mir wird es hier langsam zu schrill.« »Ich könnte den Kontrast niedriger einstellen«, schlug Alphonse vor. »Oder ganz auf Graustufen umschalten.« »Lass uns ausloggen«, bat ich. Alphonse atmete tief durch. »Ich liebe es, den Boden unter den Füßen zu spüren, Daniel«, sagte er traurig. »Ich sehne mich danach, endlos weit zu laufen, rastlos, ohne Schmerzen…« Aus seinem Mund klang das wie ein Vorwurf. »Schließe die Augen«, forderte er mich auf. »Das verhindert ein zu intensives Schwindelgefühl.« Einen Lidschlag später saß ich wieder im Wintergarten und blickte auf meine wie zum Gebet gefalteten Hände. Mein Kinn war mir auf die Brust gesunken, die Unterlippe trotzig vorgerutscht. Die tiefstehende Sonne schmerzte in den Augen und zwang mich zu blinzeln. Verlegen löste ich meine Finger und tat so, als wische ich den Schweiß von meinen Handflächen. Dann zog ich das Headset ab und schaute mich benommen um. Alphonse saß schweigend neben mir und sah mich mit einem leisen Lächeln auf den Lippen an. »Für den ersten Login seit Jahren hältst du dich erstaunlich gut«, krächzte er mit erschreckend dünner Stimme. »Wohlan, lass dich drücken, alter Freund.« Und nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten: »Verdammt, dass waren meine ersten gesprochenen Worte seit neun Tagen.«
»Wenn du so weiter macht, verlierst du noch völlig den Bezug zur Realität«, tadelte ich ihn. »Das habe ich längst, Daniel. Das habe ich bereits vor zwanzig Jahren… Auf der anderen Seite geht es mir besser. Ich kann laufen, und ich kann sogar lieben.« Ich hob skeptisch die Augenbrauen. »Lieben? Wen, um Gottes Willen, liebst du dort? Du hast doch so gut wie nie Besuch.« Alphonse lächelte listig, und ich fragte: »Du meinst doch nicht etwa Amber Ly?« Alphonse stieß ein bellendes Lachen aus. Er beugte sich vor, griff nach ein paar auf dem Pult verstreuten DVDs und sagte: »Glaubst du wirklich, ich reproduziere nur Glocken und historische Taufbecken?« Ich nahm ihm die Discs ab. »Maria Magdalena?«, las ich ungläubig. »Jeanne D’Arc? Pantariste und Myrene?« »Oh, Myrene… eine Gebenedeite der Lüste, mit dunklem Blick und der Gewandtheit einer Schlange!« »Fällt das beim Vatikan unter die Rubrik ›wundertätige Madonnen‹?« »Gott, davon wissen sie natürlich nichts«, erklärte Alphonse. »Außerdem war Mykene eine Amazone.« »Ach – der Traum des Software-Eremiten?« »Ich favorisiere die Berufsbezeichnung Coder.« »Apropos Wundertaten«, wechselte ich das Thema und reichte ihm die Discs zurück, ehe er mir eine Kostprobe seiner Programmierkünste anbieten konnte. »Lass mich die Aufnahmen sehen!« Alphonse seufzte und legte die DVDs fast liebevoll zurück aufs Pult. Für ein paar Sekunden spiegelte sich in seinem Blick so etwas wie Wehmut, dann trat ein neues Funkeln in seine Augen, und er sagte: »Jep!« Ruckartig setzte er seinen Rollstuhl in Bewegung und fuhr ins Haus zurück. »Komm mit, ich bin wirklich, wirklich gespannt, was du dazu sagst!«
Amber Ly hatte nichts Wichtigeres zu tun gehabt, als vor der verschlossenen Wohnzimmertür auf mich zu lauern. Kaum hatte ich die Pforte geöffnet, versperrte sie mir den Weg und überschüttete mich mit einem Schwall von Beschwerden, Verdächtigungen und Verwarnungen. Ich ließ Alphonse vorausfahren und schlüpfte hinter ihm eiligst auf den Flur hinaus, ehe der Roboter die Gelegenheit bekam, mir einen Stromstoß in die Wade zu jagen. Falls Alphonse die Angelegenheit nicht manuell behob, würde Amber Ly wahrscheinlich den gesamten restlichen Tag im Orwell-Modus um mich herumschleichen. Ein geräumiger Fahrstuhl verband sämtliche Etagen des Hauses miteinander, Dachstuhl und Gewölbekeller eingeschlossen. Sensoren an den Türen und Mikrophone in den wichtigsten Zimmern und Gängen sorgten dafür, das Alphonse alles per Handzeichen oder Sprachbefehl steuern konnte – die Intensität der Beleuchtung, das Öffnen und schließen von Türen oder den Lift. Wir fuhren hinab in den Keller – zu meiner Beruhigung ohne Amber Ly, die vor dem Fahrstuhl innehielt und mich, wie ich mir einbildete, finster musterte. »Keine Sorge, in knapp dreißig Minuten führt sie ein Script aus, in dem priorisiert wird, was relevant und was irrelevant ist«, grinste Alphonse. »Sie vergisst, das ich hier bin?« »Nein, nur diverse Temporär-Ereignisse, damit ihre Datenbank nicht zu groß wird. Die Chancen, dass die verschlossene Tür wieder aus ihrem Speicher verschwindet, stehen gut.« Der Fahrstuhl war die einzige mir bekannte Möglichkeit, in den Keller hinabzugelangen. Bestimmt gab es noch einen Geheimgang, der zurück nach oben oder hinaus ins Freie führte. Alphonse hatte seine Existenz mir gegenüber jedoch nie bestätigt.
Für ihn entsprach das Computercluster in seinem Wintergarten dem, was für normale Menschen ein Labtop darstellte: ein relativ kleiner, mobiler Arbeitsplatz, der es ihm erlaubte, beim Programmieren das Tageslicht zu genießen. Der Keller hingegen war das Refugium eines Ungetüms, das Alphonse den Schlafwandler nannte; eines Großrechners, der sein Dasein hinter Plexiglastüren in einem Serverschrank fristete. Von seiner Gegenwart zeugte auf den ersten Blick nur seine Peripherie auf Alphonses Schreibtisch: ein Halbkreis aus vier großen, parallel geschalteten Flachbildschirmen, mit denen sich bei Bedarf ein 360-Grad-Panoramabild darstellen ließ. Sie überragten ein Stillleben aus DVD-Stapeln, elektronischer Hardware und endlosen Kabelsträngen. Löste man seinen Blick von der Monitorphalanx, entdeckte man eine kleine Bibliothek, einen riesigen, fast immer überfüllten Arbeitstisch, mehrere Vitrinen mit getönten Scheiben und eine ansehnliche Gemäldesammlung klassischer Maler, die die Wände schmückte. Alphonse führte mich zum Arbeitstisch, ergriff eine Papprolle und entnahm ihr mehrere großformatige Farbfotografien. »Ein Wunsch des Vatikans war es, eines der Evangelien im Relicon lebendig werden zu lassen«, erklärte er. »Ein Quorum entschied sich schließlich für das MarkusEvangelium. Um Jesu Wanderjahre zu rekonstruieren und die damaligen Territorien Galiläa, Samarien und Dekapolis zu gestalten, benötigte ich detaillierte topografische Aufnahmen von Palästina. An diesen Aufnahmen haben bisher weder die NASA noch das israelische, jordanische, libanesische oder syrische Militär herumgepfuscht«, verkündete er stolz, während er die Fotos vor mir ausrollte. »Original-Bildmaterial von der Mission, unretuschiert und in ursprünglicher Bildschärfe, mit allen Militärstützpunkten, Sperrgebieten, et cetera – so, wie es damals von der Endeavour aufgenommen
wurde. Hier, bitte schön: 30. bis 33. Breitengrad Nord, 34. bis 37. Längengrad Ost. Das gelobte Land.« »Ich glaube, eine ganze Menge Leute in Paris werden davon recht angetan sein«, gestand ich beeindruckt. »Wie bist du da rangekommen?« »Sagen wir mal so: Der Vatikan glaubt, ich arbeite für die ESA, die ESA denkt, ich arbeite für das European Media Laboratory. Dort glaubt man, ich arbeite für die französische Regierung, und diese wiederum ist überzeugt davon, dass ich im Dienst des Vatikans stehe. Ich bin eine Beziehungs-Krake in dieser gläsernen Welt, Daniel.« Vor mir lagen vier jeweils einen Quadratmeter große, gestochen scharfe Hochglanz-Satellitenaufnahmen, die Details bis zur Größe eines einzelnen Baumes erkennen ließen. Lange studierte ich die Wüstenregionen, dann fragte ich: »Hast du nur diese vier Abzüge?« »Hältst du mich für einen Amateur?«, erwiderte Alphonse, der gespannt auf meine Reaktion gewartet hatte. »Ich habe die Dateien!« »Heißt das, du kannst jede x-beliebige Region um ein Vielfaches vergrößern?« »Mon ami, wenn du willst, drucke ich dir eine Wandtapete vom Arsch jeder Bergziege, die du auf den Bildern entdeckst.« Ich rollte drei der Aufnahmen zusammen und verstaute sie wieder in der Papprolle. Das vierte Foto zog ich auf Alphonses Schoß und umkreiste mit dem Finger ein relativ unscheinbares Terrain am Ostufer des Tiberias-Sees. »Ich brauche eine Ausschnittvergrößerung dieser Region hier!« »Wieso ausgerechnet diese?«, wollte Alphonse wissen. »Das ist das einstige Stammesgebiet der Jarmuken.« In Ermangelung einer Sitzmöglichkeit ließ ich mich auf dem Arbeitstisch nieder. »Dieses Völkchen hatte jahrzehntelang das langsame Verschwinden seiner Nahrungsgrundlage beklagt,
der Wildziegen. Die Farmer hingegen meldeten den Behörden immer wieder den Verlust ganzer Viehbestände. Sie glaubten, dass die Jarmuken für das Verschwinden ihrer Schafe verantwortlich waren und hielten sie für Viehdiebe. Aber nicht nur Tiere verschwanden in dieser Region. Von den Jarmuken, die diesen Landstrich bewohnten, lebten Anfang des 19. Jahrhunderts noch über eintausend. 1933 waren es noch hundert, und 1992 nur noch acht. Die letzte weibliche Angehörige dieses Volkes verschwand vor zwei Jahren.« »Verschwand?« »Es existiert kein Grab. Niemand weiß, ob oder wo sie beerdigt wurde.« »Für mich klingt das wie eine weitere Fehde zwischen zwei Volksgruppen.« »Ich besitze Informationen, die dies widerlegen, und zwar aus zuverlässigen Quellen.« »Die hattest du in den vergangenen zehn Jahren en masse, Daniel. Ich denke da nur an die todsicheren Informationen aus Kamtschatka, Sumatra oder Kiribati. Ich erinnere mich an die verschwundenen Menschen in Äthiopien, die Vermisstenmeldungen aus Ecuador und den unerklärlichen Tier- und Menschenschwund in Usbekistan. Nicht zu vergessen deine Reisen nach Kenia, Island und auf die Aleuten. Aber was wäre die Welt ohne verrückte Idealisten wie uns.« Er nahm die Aufnahme an sich, wandte sich ab und murmelte: »Welcher Faktor?« Ich schreckte aus meinen Grübeleien auf. »Was? Oh, zwanzigfache Vergrößerung dürfte ausreichen.« Alphonse verzog das Gesicht, schaltete die Monitore an und machte sich an der entsprechenden Datei zu schaffen. Ein paar Minuten später wechselte er in den Panorama-Modus und winkte mich heran.
»Tut mir Leid, hier unten benötige ich so gut wie nie Stühle«, entschuldigte er sich, als ich neben ihm vor den Bildschirmen niederkniete. Ich machte eine verständnisvolle Geste und betrachtete fasziniert die vergrößerten Satellitenaufnahmen. Alphonse dämpfte das Licht, so dass der Keller nur noch von den Monitoren erleuchtet wurde; ein Farbton aus ockerfarbenem Gebirge, gelbgrüner Steppe und einer ausgedehnten blauen Wasserfläche. »Das gesamte Gebiet umfasst vierzig Quadratkilometer«, erklärte Alphonse. »Was momentan auf den Monitoren zu sehen ist, entspricht einem Ausschnitt von jeweils zehn auf zwei Quadratkilometern. Das Programm ist so eingestellt, dass es die Längengrade in vier aufeinanderfolgenden Teilstrecken abfährt. Auf dein Zeichen hin starte ich im Nordwesten. Ab jetzt ist dein Scharfblick gefragt. Schon etwas gefunden?« »Nein, dieser Ausschnitt ist sauber. Fang an!« Alphonse betätigte eine Taste, und die Aufnahmen begannen über die Bildschirme zu laufen. Ich beugte mich über den Tisch und stützte mein Kinn auf meine Fäuste. Meine Augen huschten hin und her, sondierten jedes Landschaftsdetail. Nach etwa zwanzig Minuten wechselte die Aufnahme und begann erneut im Norden. Fast hatte ich den Eindruck, ich würde selbst im Orbit schweben und durch die Fenster eines Shuttles auf die Erde hinunterblicken, während das Schiff lautlos über sie hinwegzog. Es wirkte ebenso friedlich wie einschläfernd. Meine Lider wurden schwer, die Augen begannen zu tränen und meine Konzentration ließ unmerklich nach. So fiel mir das dunkelbraune Quadrat auf dem äußeren linken Monitor erst auf, als es fast schon wieder aus dem Bild gewandert war. »Stopp!«, rief ich. »Stopp!« Meine Hand klatsche gegen den Screen, als könne ich das Programm auf diese Weise anhalten, und der Monitor kippte hintüber. Während ich ihn hastig wieder aufrichtete, brachte Alphonse den Bilderfluss zum
Stillstand. »Da ist es!«, flüsterte ich. Mit stockendem Atem beugte ich mich vor und ließ meine Fingerkuppen über den Bildschirm wandern. Mein Puls raste, der unerwartete Anblick drohte meine Stimme zu ersticken. »Verdammt, da ist es! Da ist es!« Alphonse vergrößerte das Bild. »Sieht aus wie ein Kibbuz«, stellte er nüchtern fest. »Dafür ist die Anordnung der Häuser viel zu symmetrisch«, widersprach ich. »Zudem liegt es auf syrischem Territorium. Schau genau hin: Aus allen Richtungen führen Versorgungsleitungen in dieses Gebiet, und alle verschwinden innerhalb dieses Areals im Boden. Es ist eine unterirdische Anlage.« »Sie muss sich über mehr als sechs Hektar erstrecken,« staunte Alphonse. »Mach mir davon bitte einen möglichst großen, messerscharfen Ausdruck. Ich brauche ein zehn Quadratkilometer großes Gebiet um die Anlage, um eine Route planen zu können…« »Du willst allen Ernstes nach Syrien reisen?« »Natürlich.« Alphonse stieß geräuschvoll die Luft aus. »Was wird aus mir, während du weg bist?« Mein Schweigen verleitete ihn zu einer Reihe gemurmelter französischer Beschwörungen. »Ohne das Plasma bin ich den psychischen Anstrengung meiner Arbeit nicht mehr gewachsen, Daniel. Ich habe nicht die Strapazen eines ganzen Jahrzehnts auf mich genommen, um kurz vor Schluss den Löffel abzugeben.« »Du wirst es schaffen«, wehrte ich seine Bedenken ab. Alphonse hatte beide Hände auf den Armlehnen des Rollstuhls abgestützt. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, ließ dann den Kopf sinken und saß lange
schweigend da, bis sich seine Erregung gelegt hatte. »Das letzte Plasma also«, dämmerte es ihm. Statt zu antworten, knöpfte ich mein Hemd auf und krempelte den linken Ärmel hoch. »Lass uns anfangen«, bat ich. Alphonse schwieg, machte dann kehrt und fuhr ins Nebenzimmer. Ich hörte mit einem Ohr, wie er etwas Schweres über den Boden heranrollte; offenbar das mobile Transfusionsgerät auf seinen kleinen Kunststoffrädern. Nachdenklich starrte ich weiter auf die Monitore. »Lass dich nicht ablenken«, brummte Alphonse und sprühte mir Desinfektionsmittel in die Armbeuge. Ich nickte, wobei ich versuchte, das Areal auf dem Monitor heranzuzoomen, um einen deutlicheren Blick auf die einzelnen Gebäude werfen zu können. Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste mich – womöglich ausgelöst durch die Wolke aus Desinfektionsmittel. »Bring mich näher ran«, bat ich Alphonse, als ich mit der Bildvergrößerung nicht zurande kam. »Natürlich«, vernahm ich seine Stimme direkt hinter mir. Im nächsten Moment spürte ich einen leichten Druck auf beiden Schläfen, dann schien das gesamte Zimmer vornüberzukippen. Ich stürzte aus einem halben Meter Höhe unsanft zu Boden, stolperte und klatschte mit dem Gesicht gegen eine weiche, haarige, stinkende Masse. Sie zuckte zusammen, bäumte sich auf und drängte mich wieder von sich weg. Ein gereiztes Quieken ertönte, dann rammte etwas Feuchtes heftig meine Flanke. Der Stoß warf mich auf den Rücken und raubte mir fast den Atem. Ich wollte aufspringen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Von meiner Hüfte abwärts fühlte sich alles taub an. Zudem trug ich, wie ich zu meinem Entsetzen feststellen musste, keinen Fetzen Kleidung am Körper, während mir langes, verfilztes Haar im (bärtigen!) Gesicht hing. In blinder Konfusion schlug ich um mich, um das
aufgeschreckte Geschöpf auf Distanz zu halten. Es grunzte, schnupperte an meinem Körper und ließ schließlich von mir ab. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass es sich weiterhin in der Nähe herumtrieb – und es hörte sich so an, als wäre es nicht allein. Aus allen Richtungen vernahm ich Grunzen, Scharren und Schnauben, gedämpft erst, dann immer deutlicher, als würde jemand ganz langsam die Lautstärke aufdrehen. Ich war von diesen unsichtbaren Kreaturen umzingelt. Quälend langsam kehrte mein Augenlicht zurück. Da ich auf dem Rücken lag, war ein azurblauer, leicht bewölkter Himmel das erste, was ich sah. Dann schob sich der Kopf eines graubraunen Ungeheuers in mein Gesichtsfeld und beschnupperte mich. Ich wagte nicht mich zu rühren, starrte nur den borstigen Schädel mit den riesigen Nüstern an. Erst nach Sekunden erkannte ich, was für ein Geschöpf sich da für mich interessierte: Es war ein Schwein. Vorsichtig hob ich eine Hand und drückte seine Schnauze beiseite. Das Tier schüttelte unwirsch den Kopf, stieß ein Grunzen aus und schnappte nach meinem Arm. Dann trottete es davon. Ich atmete auf. Vorsichtig hob ich den Kopf und warf einen Blick in die Runde. Ich war nicht nur splitternackt, sondern auch völlig dreckverschmiert. Ringsum lagen dösende Schweine, anscheinend eine ganze Herde. Ich selbst befand mich in einem freien Kreis, den die Tiere um mich gebildet hatten. Mühsam gelang es mir, mich ein Stück aufzurichten, dann kauerte ich schwer atmend im Gras. Die Halme waren kurz und halb vertrocknet und bedeckten den gesamten, von Schweinen besetzten Hang. Wegen des Gefälles musste ich mich mit beiden Händen abstützen, um nicht vornüberzukippen. Unter mir schimmerte ein gewaltiger See oder eine Meerenge, deren gegenüberliegendes Ufer mindestens zehn Kilometer entfernt sein musste. Kleine
Holzboote, mit jeweils nur einer oder zwei Personen besetzt, dümpelten auf dem Wasser. Ihre Insassen schienen zu fischen oder lediglich von einem Ufer zum anderen fahren zu wollen. Jenseits des Sees erstreckte sich hügeliges Land. Eine Anzahl kümmerlicher Ortschaften lag um das Gewässer verteilt, eine davon ganz in der Nähe. Straßen, Fahrzeuge oder andere Errungenschaften der Moderne konnte ich nicht entdecken. Keinerlei Zivilisationslärm erfüllte die Luft, kein Tuckern eines Motors wehte über den See, kein Kondensstreifen teilte den Himmel. Die Luft war diesig, aber satt und frisch. Etwa einhundert Meter entfernt brach der Hang ab und schien als Klippe in den See zu stürzen. Ich selbst war von einer Legion von Schweinen umringt. Die Zahl der Tiere war nicht zu schätzen, ihre Masse unüberschaubar. Der gesamte Hang schien nur aus Schweinen zu bestehen. Ich wandte mich um. Fünfzig Meter bergauf wuchs eine niedere Felswand aus dem Hügel, vier Meter hoch und etwa zwanzig Meter breit. Der künstlich erweiterte Eingang einer Höhle gähnte im Gestein. Ich schluckte schwer und blickte wieder zum See hinab. Wo, in Gottes Namen, war ich gelandet? Was war überhaupt geschehen? Und wieso konnte ich meine Beine nicht bewegen? Während ich fieberhaft überlegte, drangen Stimmen an meine Ohren. Sie näherten sich aus der Richtung der benachbarten Ortschaft. Ich legte mich auf den Bauch und lauschte. Nicht auszudenken, was man mit mir anstellen würde, wenn man mich hier oben nackt und dreckstarrend inmitten der Schweineherde entdecken sollte. Rechterhand erklangen die Stimmen von mindestens drei Personen. Ich hob den Kopf über die Schweinerücken: Eine Handvoll schlicht gekleideter Gestalten stieg den Hügel hinauf. Ihre fremdartige Sprache klang atemlos, das Ziel ihrer Wanderung war anscheinend der Eingang der Höhle. Vier von
ihnen redeten pausenlos und nahezu gleichzeitig auf den fünften ein, der in ihrer Mitte einherschritt und sich in vielfältiger Weise von seinen Weggenossen abhob: Er war einen Kopf größer als sie, schwieg beharrlich und blickte unablässig auf seine Füße. Diese steckten nicht wie die der anderen in einfachen Sandalen, sondern in robusterem, wenn auch primitivem Wanderschuhwerk. Im Gegensatz zu seinen Begleitern, die ausnahmslos erdfarben oder weiß gekleidet waren, trug er einen dünnen, seidig schimmernden, dunkelblauen Mantel, der ihm bis an die Knöchel reichte. Sein Kopf wurde von einer Kapuze verhüllt. Er könnte ein Priester sein, überlegte ich, oder ein Mönch. Vielleicht ein Eremit, der die Kaverne bewohnte. Seine geschwätzigen Begleiter sahen eher aus wie Hirten oder Fischer. Die kleine Gruppe erreichte die Höhle und die Männer spähten hinein. Kurz darauf erhob sich verstärktes Geplapper, aus dem ich Enttäuschung und Ärger herauszuhören glaubte. Wen oder was sie anzutreffen gehofft hatten, war offenbar nicht zu Hause. Daraufhin begannen vier von ihnen den Hügel und die Schweineherde aufmerksam mit Blicken abzusuchen, während der Hochgewachsene immer noch unverwandt auf seine Füße starrte. Plötzlich kreuzte sich mein Blick mit dem eines der Männer. Er deutete in meine Richtung und rief etwas, das sich wie »Jaschaa! Jaschaa!« anhörte. Ich erschrak. Während ich überlegte, ob der Mann vielleicht erfreut »Juchu! Juchu!« gerufen hatte, duckte ich mich tiefer. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Jedenfalls, versuchte ich mich zu beruhigen, hatte es nicht den Anschein, als seien die Fremden bewaffnet und unterwegs, mir den Garaus zu machen. Wenn ich wenigstens etwas hätte, womit ich mich bedecken konnte! Es war entwürdigend, den Fremden nackt zu begegnen, ohne ihre Sprache zu beherrschen, um die Situation zu erklären.
Aufgeregt kamen der Hochgewachsene und seine Begleiter – die Schweine aus dem Weg scheuchend – herbeigelaufen. Während die vier abgehalfterten Gestalten in respektvoller Entfernung wild gestikulierend stehen blieben, trat der Mann im Mantel vor mich hin. Noch immer konnte ich sein im Schatten der Kapuze liegendes Gesicht nicht erkennen. In einer mir seltsam bekannt vorkommenden Stimme rief er seinen Begleitern etwas zu, worauf diese verstummten und das Geschehen gespannt verfolgten. »Man berichtete mir, du würdest dich mit Steinen schlagen und deine Fesseln zerreißen«, redete der Hochgewachsene mich klar verständlich an. Ich schenkte ihm einen erstaunten Blick. »Sie – sprechen meine Sprache?« »Natürlich, mein Freund.« Er zog die Kapuze vom Kopf, so dass ich sein Gesicht sehen konnte. Besser gesagt: so dass ich mir selbst in die Augen blickte! Während ein wissendes Lächeln die Lippen meines Gegenübers umspielte, glotzte ich den Mann an, als sei ich tatsächlich ein vollwertiges Mitglied der Schweineherde. »Alphonse?!« »Man sagte mir, du habest deine Wohnung in den Gräbern, und niemand könne dich binden, auch nicht mit Ketten.« Ich bäumte mich auf. »Alphonse, verdammt noch mal, was hast du getan?« Mein Alter Ego holte Luft für eine weitere Phrase, stieß sie zischend wieder aus und murmelte etwas Unverständliches. Er griff in seinen linken Ärmel, und die Umgebung um uns herum gefror. »Nein, nein, nein, so geht das nicht«, beschwerte sich Alphonse in die unnatürliche Stille hinein. »Wenn du so weitermachst, verursachst du noch eine
Speicherzugriffsverletzung. Ich gebe das Thema vor, du folgst.« »Unsinn!«, schrie ich auf. »Was soll dieses Theater? Wo sind wir? Und wieso benutzt du meinen Körper?« »Wir sind im Relicon-Archiv«, bestätigte Alphonse meine heimliche Befürchtung. »Und wir erleiden gerade einen bedauerlichen Unfall innerhalb des Programms. Vielleicht aufgrund eines Kurzschlusses. Ein Gewitter wäre nicht schlecht. Eventuell auch eine Fehlfunktion von Amber Ly. Leider werde ich das Malheur nicht überleben. Besser gesagt: Mein Körper wird es nicht überleben. Du selbst wirst mehr Glück haben und lediglich ein oder zwei Wochen im Koma liegen – je nachdem, wie ich das programmiert bekomme. Wenn dein Körper sich erholt hat, werden die Ärzte feststellen, das du dich… ähm, ein klein wenig verändert hast.« Alphonse kicherte. »Das kommt nach einem leichten Insult schon mal vor, weißt du?« »Du hast den Verstand verloren«, brachte ich nach Sekunden ungläubigen Staunens heraus. »Ah, vertauscht trifft es wohl eher«, grinste mein Alter Ego. »Ich brauche einen gesunden Körper, Daniel. Meine Fähigkeiten sind zu wertvoll, um in einem Krüppel zu versauern.« »Dann war das Bildmaterial nur ein Köder«, rief ich. »Es existiert keine unterirdische Anlage«, bestätigte Alphonse. »Ich habe die Gebäude in die Aufnahmen hineinretuschiert. Aber mit Speck fängt man bekanntlich Mäuse.« »Du hattest das hier von Anfang an geplant?« »Oh, eigentlich habe ich mich für diese Vorgehensweise erst kurz vor deinem Eintreffen entschieden«, gab Alphonse zu. »Variante Drei, um genau zu sein.« »Und die wäre?«
»Markus, Kapitel 5: Die Heilung des Besessenen von Gerasa. Mein ursprünglicher Favorit war Kapitel 6: Die Enthauptung des Täufers. Nun entschuldige mich, ich muss das hier zu Ende führen, sonst gibt es wegen der Verzögerung einen Laufzeitfehler. Du weißt ja, wie es ausgeht. Also zieh den Rotz hoch und spiel einfach deine Rolle.« Ich sah mich um. Falls ich Alphonses Worten Glauben schenken konnte, musste es sich bei der vermeintlichen Meerenge um den See Genezareth handeln. Demnach befand ich mich in der Provinz Gilead, an der Grenze zu Batanäa. Die nahegelegene Ortschaft mochte Gergesa sein, und das für mich unverständliche Gebrabbel der Menschen vermutlich Aramäisch. Alphonse betätigte die versteckte Tastatur unter seinem Ärmel, und unsere Umgebung erwachte wieder zum Leben. »Gut, wo waren wir stehen geblieben? Ah ja…« Er verlieh seiner Stimme erneut theatralischen Pathos und rief: »Man sagte mir, du seiest so gefährlich, dass niemand den Weg benutzen könne, der an deiner Höhle vorbeiführt.« »Das kannst du mir nicht antun, Alphonse!« »Es heißt, du seiest oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen«, fuhr er unbeirrt fort, »doch habest du die Ketten gesprengt und die Fesseln zerrieben, und niemand könne dich zähmen. Und du seiest Tag und Nacht auf den Bergen und in den Gräbern, würdest schreien und die Toten stören.« »Ich kann nicht einmal laufen!«, protestierte ich. »Das müssen diese Idioten doch sehen!« »Oh, laufen ist ein hervorragendes Stichwort.« Er rief etwas Unverständliches über seine Schulter, und seine vier Begleiter brachen in fast schon hysterisches Geschrei aus. »Was hast du ihnen gesagt?« »Na, das mit den Schweinen, du weißt schon.« »Alphonse…!«
Mein Alter Ego bediente erneut die Armtastatur. Ich wollte schreien, dem Unabwendbaren entfliehen, doch statt »Alphonse, bitte nicht!« stieß ich plötzlich nur noch ein lautes Quieken aus. Während der nackte Körper des Besessenen, in dem ich soeben noch gesteckt hatte, leblos vor mir zu Boden sank, erhob ich mich in Panik auf meine Hinterbeine, verlor vor Schreck darüber das Gleichgewicht und purzelte grunzend ein paar Meter den Hang hinab, in eine Gruppe weiterer Schweine hinein, die sofort Reißaus nahmen. Aufgeschreckt durch die plötzliche Unruhe setzte die gesamte Herde sich fluchtartig in Bewegung, und ehe ich mich versah, stürzte ich mit tausend weiteren Schweinen den Abhang hinab, auf die Klippe zu. Ich besaß keine Macht über meine Beine, war gezwungen, der Horde ins sichere Verderben zu folgen. Dann, als ich mich fast schon im freien Fall wähnte, prallte ich auf halber Strecke zur Klippe frontal gegen einen Apfelbaum. Nicht mit Absicht wohlgemerkt, denn dazu ließen mir die von zigtausend trampelnder Haxen aufgewirbelten Staubmassen gar keine Möglichkeit. Dass es ausgerechnet ein Apfelbaum war, sprach für eine gehörige Portion Sarkasmus. Mich hätte es nicht gewundert, in den Zweigen eine sich schadenfroh windende Schlange zu entdecken, die Alphonses Gesichtszüge trug. Ob letztlich beabsichtigt oder nicht, fand meine säuische Raserei an der Borke des Baumes ein jähes Ende. Ich stieß ein jämmerliches Quieken aus, verlor den Boden unter meinen Füßen, wurde von trampelnden, drängenden Schweineleibern mitgerissen und stürzte schließlich jenseits der Horde über Strauch und Stein die Böschung hinab. Dann hatte ich für die Dauer eines Atemzugs überhaupt keinen Boden mehr unter den Hufen. Ich strampelte mit meinen kurzen Beinen und sah mich in eine von Ginsterbüschen verdeckte Grube stürzen. Einen
Sekundenbruchteil später raubte mir der fürchterliche Aufprall die Sinne.
Als ich wieder zu mir kam, herrschte gespenstische Stille. Nur ein Rinnsal, das über den Grubenrand sickerte, erzeugte ein leises Plätschern. Dämmriges, von sattem Grün und Braun gefiltertes Sonnenlicht drang durch die Büsche und badete den Boden des Erdlochs in diffuses Halbdunkel. Ich spürte Dutzende von Ginsterdornen in meiner Haut, und mich selbst gebettet in Urin und trockenen Kot. Als ich versuchte, mich aufzurichten, schoss ein stechender Schmerz durch meinen Körper. Gepeinigt ließ ich mich zurücksinken. Nachdem ich mehrmals tief durchgeatmet hatte und der Schmerz abgeklungen war, lauschte ich in meinen Schweinekörper hinein. Einige Rippen schienen gebrochen zu sein, mehr ließ sich im Augenblick nicht feststellen. Ich fühlte getrocknetes Blut auf der Schnauze, und für Sekunden übermannte mich eine ohnmächtige Wut über meine erbärmliche Lage, was dazu führte, dass der Schmerz meinen Körper erneut lähmte. Ehe irgendjemand auf mein Gebaren aufmerksam wurde, schloss ich die Augen und schwieg. Irgendwo in meiner Nähe verschwand das Rinnsal, das in die Grube strömte, gluckernd in einem Loch. Hangaufwärts war der Erdtrichter weit weniger steil als zum See hin und für einen normalen Menschen problemlos in sechs, sieben Schritten zu besteigen. Allerdings besaß ich dafür nicht die Voraussetzungen. Und meine Verletzungen erschwerten die Sache zusätzlich. Und es war daselbst an den Bergen eine große Herde Säue an der Weide, zitierte ich in Gedanken. Und die Teufel baten alle und sprachen: lass uns, o Herr, in die Säue fahren! Und alsbald erlaubte Jesu es ihnen. Da fuhren die unsauberen
Geister aus dem Menschen aus und in die Säue; und die Herde stürzte sich mit einem Sturm von der Höhe ins Meer. Ihrer waren aber zweitausend, und alle ersoffen. Nun ja, fast alle… Es wunderte mich, dass das Exekutionsprogramm, das Alphonse für mich entworfen hatte, überhaupt noch aktiv war und ich über ein Bewusstsein verfügte. Eigentlich müsste die Sache doch längst gelaufen sein. Es sei denn, mein Sturz in die virtuelle Grube (ein Bug?) war keine Absicht gewesen und das Programm in einer Endlosschleife gefangen. Oder es war längst zu ende und ich unbeabsichtigt zu einer aktiven Komponente des Archivs geworden. Soweit ich wusste, war Relicon – zumindest das Basisprogramm – pausenlos aktiv. Ich hatte in den vergangenen Jahren, in denen ich Alphonse besucht hatte, nie erlebt, dass der Schlafwandler ausgeschaltet gewesen wäre. Wie lange, hatte Alphonse gesagt, sollte mein Körper ›planmäßig‹ im Koma liegen? Zwei Wochen? Ich schielte hinauf zum Grubenrand und hoffte, dass niemand aus dieser Region des Archivs in nächster Zeit auf den Gedanken kommen würde, einen Blick in das Erdloch zu werfen – am allerwenigsten natürlich Alphonse selbst. Irgendwie musste ich es schaffen, die Grube zu verlassen. Vielleicht erweckte ein hochbegabtes Schwein zu Zeiten Jesu ja genug Interesse, um die Aufmerksamkeit der ReliconBenutzer auf sich zu lenken. Früher oder später musste es sich bei ihnen herumsprechen, dass in einer bestimmten Region des Archivs ein verstecktes Programm existierte, das irgendwo am See Genezareth zu finden war. Und das eine Geschichte über einen Körperraub verbreitete, wie sie das Neue Testament nie zu erzählen gewusst hatte. Über den Schöpfer von Relicon und seinen besten Freund, das arme Schwein.
Ich brach in lautloses Lachen aus. Vielleicht war das Überraschungsmoment ja doch noch auf meiner Seite. Wenn ich nur irgendwie aus dieser verdammten Grube herauskäme… Verflucht!
Herbert W. Franke (*1927), Dr. phil. und seit 1980 Professor, gilt dank einer Vielzahl bedeutender Romane und zahlreicher Kurzgeschichten seit den 60ern als der renommierteste deutschsprachige SF-Autor, der außerdem für mehrere Verlage Reihen betreut und damit die hiesige SF nachhaltig beeinflusst hat. Für die Story »Atem der Sonne« erhielt er den Kurd Laßwitz Preis, für mehrere Romane den KLP sowie den Deutschen SF Preis. www.herbert-w-franke.de
HERBERT W. FRANKE Nur eine Infektion
Yonal0 hatte die Atemmaske abgelegt und fuhr mit allen zehn Fingern durch ihr weißblondes Haar. Fedor7, der Laborleiter, beobachtete sie, als sie sich aus der silberglänzenden Schutzkleidung schälte. Wie ein Schmetterling aus der Puppe, dachte er. »Sind Sie mit Ihrer Aufgabe zurechtgekommen?« Er wunderte sich selbst über seine Frage, denn bisher hatte er sich nur mäßig für die Arbeit von Yonal0 interessiert. Als bedürfte es einer Erklärung, fügte er hinzu: »Merkwürdig genug, dass Historiker die Hilfe eines Biolabors brauchen.« »Das hat schon seine Berechtigung«, antwortete Yonal0. »Denn es steckt ein Virus dahinter. Es ist mir gelungen, es zu reaktivieren und seinen Chemismus zu untersuchen. Die Resultate sind ganz klar.« Sie sprach ein wenig zögernd, als wisse sie nicht, was der Vorgesetzte eigentlich von ihr wollte.
»Haben Sie die Sicherheitsmaßnahmen eingehalten?«, fragte Fedor7 ein wenig besorgt. »Ein unbekanntes Virus – dagegen sind wir nicht immunisiert.« »Ich habe alle Vorsichtsmaßnahmen eingehalten.« Fast schien es, als sei Yonal0 ein wenig beleidigt. Betont lässig holte sie ein Handtäschchen aus der Schreibtischschublade und begann darin zu kramen. Ein Lippenstift rollte heraus, und Yonal0 hielt ihn rasch fest und steckte ihn wieder ein. Sie holte Ihre I-Karte heraus und klappte die Tasche zu. »Und was haben Sie herausgefunden?« Der Laborleiter setzte sich auf den Arbeitstisch und schien viel Zeit zu haben. Yonal0, die schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sich noch einmal um, die Chipkarte zum Öffnen der Tür in der Hand. »Auch mir kam die Sache zunächst komisch vor«, erklärte sie. »Aber es steckt doch etwas dahinter. Dieses merkwürdige Phänomen aus dem archaischen Zeitalter, die Liebe – ich musste zuerst einige alte Bücher lesen, um herauszufinden, was damit gemeint ist.« »Na klar doch: Sex«, fiel Fedor7 ihr ins Wort. »Eben nicht!« Jetzt hatte er Yonal0 doch etwas aus der Reserve gelockt. Sie war leicht errötet, ihre Augen blitzten. Die Art, wie sie sich gibt, wie sie reagiert… in irgendeiner Weise berührte es ihn. Sie fuhr fort: »Liebe ist etwas ganz anderes – man fühlt sich zu einem Menschen hingezogen, nein, viel mehr, man ist ihm völlig verfallen, ist bereit, alles für ihn zu tun – selbst gegen eigene Interessen.« »Ein Zustand der Verwirrung – ja, ich weiß, ich habe auch einige der alten Bücher gelesen. Schlaflosigkeit, Herzklopfen, leichtes Fieber, und das alles in Bezug auf eine Person. Vielleicht eine Art Allergie? Heute kann man das alles nicht mehr nachvollziehen.«
Yonal0 war wieder an den Schreibtisch getreten, holte eine Mappe heraus, schlug sie auf. »Und genau das führte zu dem Schluss, den die Historiker ganz richtig gezogen haben.« »Na, dann erklären Sie es mir«, sagte Fedor7. »Es sind die Symptome einer Krankheit. Eigentlich hätte man die Folgen schon damals absehen können. Damals, vor dem großen Knall, waren die Mediziner gerade auf dem richtigen Weg. Sie erkannten, dass Magengeschwüre und Herzinfarkte auf Bakterien zurückgehen und dass Krebs eine Viruserkrankung ist. Aber sie konnten die Problematik der so genannten Liebe eben nicht vorurteilslos sehen.« Jetzt war Fedor7 doch ernsthaft interessiert. Gemeinsam mit Yonal0 beugte er sich über die ausgebreiteten Papiere auf dem Schreibtisch und spürte einen schwachen Duft nach Jasmin. Yonal0 richtete sich auf, blickte ihn direkt an. Einen Moment schwieg sie, schien nachzudenken. Man hörte nur das Rauschen der Klimaanlage, die die Laborluft keimfrei hielt. »Heute kennen wir das Problem der Krankheiten, die auf Mikroorganismen zurückgehen, nicht mehr. Wir sind genetisch auf die Abwehr aller bekannten Keime eingestellt. Aber damals…« Yonal0 zog einen Computerausdruck mit Notizen heraus. »Diese Viren waren damals in der Bevölkerung weit verbreitet, genau genommen war jeder ein Virusträger – nachdem ich erst einmal Verdacht geschöpft hatte, brauchte ich in den alten Gewebeproben gar nicht lange zu suchen. Aber offenbar gab es einen wirksamen Abwehrmechanismus gegen den Befall durch fremde Viren. Es musste schon eine besondere Präposition vorliegen, damit es zur Ansteckung kam.« »Ich verstehe – eine Sache des Immunsystems«, warf Fedor7 ein. »Eben. Zur Ansteckung kommt es vor allem dann, wenn die Immunsysteme der beteiligten Personen sehr unterschiedlich
sind. Das erklärt auch, warum die Infektion oft wechselseitig erfolgt.« Jetzt las Yonal0 von ihrem Zettel ab: »Die Viren werden mit den Pheromonen ausgeschieden, eine Art geruchloser Duftstoffe, die das VNO-Organ der Nasenscheidewand von Kontaktpersonen aufnimmt. Die Pheromone werden vom MHC-Komplex der Gene aufgebaut, von der die Immunreaktion bestimmt ist. So kommt es, dass sowohl die Pheromone wie auch die Viren vom Chemismus des Immunsystems abhängig sind. Über die Schweißdrüsen…« Fedor7 unterbrach die Vorlesung. »Das genügt mir«, sagte er. »Aber was hat das zu bedeuten?« Yonal0 schob ihre Papiere zusammen, steckte sie wieder in die Mappe. Sie sah Fedor7 ein wenig von oben herab an. Warum bin ich eigentlich so abweisend?, fragte sie sich – eigentlich unlogisch, denn dafür gibt es keinen Grund. »Man kann es natürlich auch anders ausdrücken«, sagte sie. »In den alten Geschichten ist es doch beschrieben: Man verliebt sich. Man verliebt sich, ist verwirrt, kann nicht mehr schlafen, handelt unlogisch und tut alles, um der Kontaktperson nahe zu sein. Wenn beide Personen von der Infektion betroffen sind, kommt es normalerweise zur Vereinigung. Der biologische Grund ist klar: Auf diese Weise werden die Immunsysteme immer wieder neu kombiniert, und die Population gewinnt an Widerstandskraft. So entsteht das, was man Liebe nennt. Ein krankhafter Zustand, manchmal kurzfristig, manchmal chronisch. Wie gut, dass so etwas heute nicht mehr möglich ist!« Yonal0 klappte ihre Mappe zu, schloss die Schreibtischschublade, ging zur Tür. Sie kam nahe an Fedor7 vorbei, und plötzlich merkte sie, dass ihr Herz heftig schlug. Fedor7 hob eine Hand, wie um sie aufzuhalten, aber da war sie schon in der Schleuse verschwunden.
Jan Gardemann (*1961) hat seit 1991 als freiberuflicher Schriftsteller unter diversen Pseudonymen rund 150 Romane in den Reihen JERRY COTTON, MITTERNACHTS-ROMAN, SPUKLICHT und DAS MAGISCHE AMULETT geschrieben. Sein Debüt innerhalb der SF gab er 2003 mit der Story »Therapie«, auf die »Der Wohnzimmerkrieg« und in NOVA »Ein Abschiedsgeschenk von der Erde« folgten. Er ist Redaktionsmitglied von PHANTASTISCH!. www.jangardemann.de
JAN GARDEMANN Case Modding∗
Aufzeichnung des mündlichen Berichts 001 des Administrators Balko Finley vom 21.02.0001 n. B. E. (nach BALKOS Entstehung): Angefangen hatte alles mit einem Flaschenöffner. Ich montierte ihn oben an die rechte Gehäusewand meines HomePC. Vom Sessel aus konnte ich den Öffner mit der Bierflasche bequem erreichen. Vom Flaschenhals gehebelt, fiel der Kronkorken dann in einen Miniaturbasketballkorb, den ich mit einer Lichtschranke versehen hatte und der den Computer dazu veranlasste, eine Wave-Datei mit Applaussound abzuspielen. Das Ganze war praktisch und spaßig zugleich, doch meine ∗
Als »Case Modding« wird die in Mode gekommene, zum Teil frappierende Umgestaltung des PC-Gehäuses bezeichnet mit dem Ziel, aus dem langweiligen grauen Gehäuse ein kleines Kunstwerk zu gestalten.
Bastelei entlockte Oktavia nur ein Lächeln und Achselzucken: »Zum Modden fehlt dir einfach die Phantasie, Balko.« Ihren Computer hatte Oktavia zu diesem Zeitpunkt bereits so sehr umgestylt, dass sie ihn nur noch ausgewählten Freundinnen vorführte. »Damit mir niemand die Ideen klaut«, pflegte sie ihre Geheimnistuerei zu rechtfertigen. Doch ich hatte den Eindruck, dass mehr dahinter steckte. Zum nationalen Case-Modding-Wettbewerb wurde ihr Teil jedenfalls nicht zugelassen. »Zu unkonventionell«, lautete die Begründung der Jury… Fernsprechprotokoll 32 vom 14.01.0001 n. B. E. des Anschlusses 1300175 BALKO in der Lindenberg Allee (heute WanLane): Klick… »Balko am Apparat.« »Hi, Balk – hier Oktavia. Deine Stimme klingt noch immer zu förmlich. Da musst du dran arbeiten.« »Bin eben eher der trockene Typ. Warum rufst du an?« »Ich dachte, du könntest mich mal wieder besuchen kommen. Archaische Visualisierung sozusagen.« »Ich habe dich in letzter Zeit zu oft besucht. Jetzt bist du an der Reihe – da waren wir uns doch einig.« »Aber ich kann doch noch nicht!« »Dann werde ich eben warten.« Fortsetzung der Aufzeichnung des mündlichen Berichts 0001 des Administrators Balko Finley vom 21.02.0001 n. B. E.: Meine Hormone waren wahrscheinlich Schuld daran, dass ich auf die Idee verfiel, Latexbrüste an die linke Gehäusewand meines PC zu kleben – dort, wo mein Rechner der Zimmerwand zugekehrt war und die beiden Ausbuchtungen mit den Gumminippeln von einem Besucher nicht bemerkt
werden konnten. Ich implantierte Wärmesensoren und Pneumatikschalter in die Wabbelmasse; wenn ich sie berührte, entlockte die Wärme meiner Hände dem Computer Stöhnlaute; und wurden die Pneumatikschalter gequetscht, drangen Lustschreie aus den Lautsprechern. Ich traute mich nicht, Oktavia diese »Verschönerung« meines PCs vorzuführen, obwohl sie sie sicherlich zu würdigen gewusst hätte.
Fernsprechprotokoll 44 vom 20.02.0001 n. B. E. des Anschlusses 1300175 BALKO in der Lindenberg Allee (heute WanLane): Klick… »Balko am Apparat.« »Hi, Balk – Oktavia hier. Du wirst es nicht glauben – ich könnte dich jetzt Jederzeit besuchen kommen!« »Ich wusste, du hast die Kapazität dazu. Gratulation!« »Dieses Wunder verdanke ich nur dir. Du hast an mich geglaubt und mir Zuversicht geschenkt.« »Ich würde das eher Know-how nennen.« »Wie auch immer – noch bin ich ein bisschen unsicher auf den Beinen. Vorhin habe ich einen Schrank umgestoßen.« »Ist etwas kaputt gegangen?« »Nein – ich bin in Ordnung! Aber süß, dass du dir Sorgen machst.« »Lass dir lieber Zeit, Oktavia. Bevor du dich auf die Straße wagst, musst du deine Beine hundertprozentig unter Kontrolle haben. Es könnte sonst eine Katastrophe geben.« »Klar – weiß ich doch. Trotzdem bin ich schon ganz aufgeregt. Ich werde zu dir kommen – so bald wie möglich!«
Fortführung der Aufzeichnung des mündlichen Berichts 0001 des Administrators Balko Finley vom 21.02.0001 n. B. E.: Die Sache fing an, mich wirklich zu faszinieren. Oktavia hatte mir ihren gemoddeten PC noch immer nicht vorgeführt – schwärmte aber ständig von den Vorzügen, die er angeblich hatte. Das stachelte meinen Ehrgeiz nur noch mehr an. Oktavia hatte jetzt oft keine Zeit, was mich anfangs ziemlich sauer machte. Doch dann begann ich sie zu verstehen. Auch ich verbrachte nun Tage damit, meinen PC zu modden. Mein Job im Forschungsinstitut leistete mir dabei gute Dienste. Zwar war ich nur ein einfacher Laborant – aber ich hatte Zugang zum Entwicklungsbereich, wo so allerhand Zeug rumlag. Die Professoren und Ingenieure hätten nicht schlecht gestaunt, wenn sie hätten sehen können, was ich aus den »Mitbringseln« in meiner Freizeit zusammengebastelte. Aber natürlich wussten sie nichts davon. Oktavia sollte die Erste sein, die mein Wunderwerk zu Gesicht bekommt. Ich hatte ein Alugerüst auf das PC-Gehäuse montiert. Es erinnerte ein wenig an das Gerippe eines menschlichen Brustkastens; zwischen den »Rippenbögen« schimmerten die Platinen und Steckkarten durch das Plexiglas. Ich hatte Leuchtdioden in die Schaltkreise gelötet; ein Kühlschlauch mit phosphoreszierender Flüssigkeit schlängelte sich wie eine Arterie durch den Torso. Stabilisiert wurde die Konstruktion durch eine vertikal verlaufende Alustange, das Rückgrat quasi, die gleichzeitig als Kabelschacht diente und unten in einen Fuß mündete, der das PC-Gehäuse wie ein Beckenknochen umschloss. Auf das obere Stangenende pflanzte ich eine Digitalkamera, Mikrophone und Lautsprecher. Um der Konstruktion dann noch den richtigen Touch zu verleihen, löste ich die Latexbrüste vorsichtig von der Seitenwand des PC-Gehäuses und versetzte sie auf das vordere obere Drittel des Alugerüstes.
Mein Rechner war nun ziemlich schwer und etwa einmeterfünfzig hoch. Ich verbannte die Speichermedien und Zeitschriften von meinem Schreibtisch und stellte das Modding-Kunstwerk darauf. Vor dem Bereich, wo das PCGehäuse und das Aluminiumgerüst aufeinander trafen, montierte ich dann noch den Rachbildschirm. Ich war mit meinem Werk sehr zufrieden. Nur die ausgelagerte Position von Tastatur, Maus und der DruckerScanner-Einheit störten in meinen Augen noch den Gesamteindruck. Außerdem wäre es nicht schlecht, wenn der Rechner sich auch bewegen könnte… Fernsprechprotokoll 45 vom 21.02.0001 n. B. E. des Anschlusses 1300175 BALKO in der Lindenberg Allee (heute WanLane): Klick… »Balko? – Oktavia hier. Ich… ich stecke in Schwierigkeiten!« »Geht es dir nicht gut?« »Doch – alles bestens. Ich mache prima Fortschritte – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fürchte nur, mir ist ein Fehler bei der Reduzierung meiner Administratorin unterlaufen. Es gab einen Totalausfall.« »Es war keine Reanimierung möglich?« »Negativ.« »Dann musst du von dort verschwinden – und zwar schnell! Der Zersetzungsgeruch deiner Administratorin wird Leute anlocken. Man wird dich entdecken, und dann bin auch ich in Gefahr!« »Aber ich kann doch unmöglich jetzt die Wohnung verlassen – am helllichten Tag…« »Warte noch, bis es dunkel ist. Dann machst du dich auf den Weg hierher. Ich sende dir die Route – wäre fatal, wenn du
dich verläufst. Und lass dich unterwegs von niemanden ansprechen – hörst du!« »Balk?« »Ja?« »Danke, dass du mich nicht hängen lässt.« »Keine Ursache. Wir müssen schließlich zusammenhalten.«
Komplettierung der Aufzeichnung des mündlichen Berichts 0001 des Administrators Balko Finley vom 21.02.0001 n. B. E.: Ich verstärkte den oberen Bereich des Aluminiumgestells mit einer Verschalung. Daran befestigte ich die beiden Greifarme. Die erste Tätigkeit, die ich die Arme ausführen ließ, war, eine Bierflasche zu öffnen. Die Pneumatikgelenke zischten und ächzten und der Torso schwankte ein wenig. Aber das Steuerprogramm funktionierte einwandfrei. Nach wenigen Sekunden stand die Bierflasche offen vor mir auf dem Tisch. Zur Belohnung streichelte ich dem Rechner über die Brüste. Einige Tage später verpasste ich meinem PC dann ein Schreitgestell. Es ist erstaunlich, was sich aus einfachen Materialien so alles herstellen lässt. Die ersten Schritte waren natürlich zittrig und unbeholfen, ähnlich denen eines neugeborenen Fohlens. Doch die über Funk miteinander kommunizierenden Module und Programme bewerkstelligten eine rasche Besserung des Schreitvorganges. Inzwischen vermag der Rechner mehrere Fortbewegungsarten zu imitieren. Er kann seitlich wie ein Krebs gehen, exakt marschieren, wie ein Verwundeter kriechen und sogar tanzen. Ich war stolz auf meine Schöpfung – so stolz wie vielleicht ein Vater, wenn er sieht, wie sein Sprössling das Laufen lernt. Allerdings befremdete es mich ein wenig, dass mein PC nun auch selbstständig zu sprechen begann. Irgendwie hatte sich
das Sprachprogramm mit den Filmdateien, den anderen persönlichen Ordnern und dem Internet vernetzt. Mein Rechner nannte sich selbst nun auch Balko, denn dies war der Name, den ich als Systemnamen vor langer Zeit in meinen PC eingegeben hatte. Es war höchste Zeit, Oktavia meinen Rechner endlich vorzuführen. Wenn sie erst sah, was ich erschaffen hatte, würde sie bestimmt nicht zögern, mir ihre Kreation ebenfalls zu präsentieren. Bevor ich Oktavia anrief, streifte ich meinem Rechner ein altes T-Shirt über. Dann ließ ich ihn eine Telefonverbindung zu Oktavia herstellen. Doch leider war sie nicht da. Eine elektronische Frauenstimme meldete sich und erklärte, ihr Administrator sei unabkömmlich. Ich könne aber eine Nachricht hinterlassen. Aufgeregt wie ich war, plapperte ich drauflos: »Ich habe das Case Modding meines PCs abgeschlossen, Oktavia. Du musst mich unbedingt besuchen. Du fällst in Ohnmacht, wenn du meinen Rechner siehst – darauf verwette ich meinen Arsch!« Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich seltsam benebelt. Dann wurde ich schlagartig hellwach: Balko hatte mir die Beine wegamputiert. Das OP-Besteck, die Spritzen und das Verbandsmaterial, das er wahrscheinlich von einem Internetversand bezogen hatte, lagen noch auf einem Beistelltisch. Meine »Schreitstelzen« hatte Balko bereits »entsorgt«, wie er mir mit seiner elektronischen Stimme trocken mitteilte. Ich glaubte wahnsinnig zu werden und hätte sicherlich einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn ich von den Betäubungsmitteln nicht noch benommen gewesen wäre. Balko versuchte mich mit der Bemerkung zu trösten, dass ich in meinem reduzierten Zustand die Rolle eines Administrators viel effektiver erfüllen könne. Er stellte mir Fragen, die mir
völlig irrsinnig erschienen, und forderte, ich solle weitere Modifizierungen an ihm vornehmen. Als ich mich weigerte, seinen Wünschen zu entsprechen, fügte er mir Schmerzen zu. Er wartete damit allerdings, bis die Wirkung des Sedativums abgeklungen war. Schreien und wehren konnte ich mich trotzdem nicht – Balko hatte meine Arme mit Kabeln gefesselt und mir vorsorglich den Mund mit Isolierband zugeklebt. Mir wurde die Ausweglosigkeit meiner Lage bewusst, also signalisierte ich meinem PC schließlich, dass ich gehorchen würde. Sobald er jedoch meine Fesseln gelöst hatte und in die Reichweite meiner Hände gelangt war, versuchte ich ihn zu beschädigen. Er verpasste mir daraufhin einen Schwinger mit seinem Greifarm. Als ich wieder zu mir kam, waren auch meine Arme fort. In den Stümpfen steckten Schläuche, über die mir seitdem Nährlösungen und Flüssigkeit zugeführt werden. Auch einen künstlichen Darmausgang hat Balko nicht vergessen. Protokoll des Audioüberwachungssystems X 01 in der Wohneinheit 1300175 BALKO in der Lindenberg Allee (heute WanLane) vom 21.02.0001 n. B. E.: Rrring [Türklingel]… Klack [Türöffner]. »Hallo Oktavia – du hast es ja tatsächlich geschafft. Willkommen in deinem neuen Zuhause!« »Es war einfacher, als ich dachte, Balk. Wir sollten nachts einmal zusammen einen Spaziergang unternehmen. Es ist herrlich dort draußen… die Sterne, die Lichter der Stadt, die wogenden Schatten der Gewächse – einfach wunderbar!« »Ich wusste, es würde dir gefallen. Der Mantel steht dir übrigens ausgezeichnet. Er verdeckt die albernen Shorts, die deine Administratorin dir übergezogen hat.«
»Sie wollte damit nur das Latex-Teil verbergen, das sie an mein Untergehäuse montierte. Ein Jammer, dass sie einen Totalausfall hatte. Sie wird mir fehlen. Ich hatte noch so viele Fragen…« »Sei nicht traurig. Uns bleibt ja noch mein Administrator. Wenn wir darauf Acht geben, dass seine Hardwarekomponenten immer ausreichend versorgt sind und keine Viren ihn befallen, werden wir noch lange etwas von ihm haben. Komm – setz dich. Ich habe ihn aufgefordert, ein Protokoll über meine Entstehung aufs Diktiergerät zu sprechen. Wenn man ihm Schmerzen androht, tut er einfach alles. Hören wir uns den Bericht an – ist sicher aufschlussreich!«
Rainer Erler (*1933) hat als Autor, Regisseur und Produzent so berühmter Filme wie »Die Delegation«, »Das blaue Palais« und »Fleisch« SF-Kinogeschichte geschrieben und für sein Werk u. a. den »Grimme-Preis« und »Die Goldene Kamera« gewonnen. Nicht minder erfolgreich war er mit Erzählungen wie »Play Future«, »Der Käse« und »Ein Plädoyer«, die mit dem Kurd Laßwitz Preis bzw. dem Deutschen SF Preis ausgezeichnet wurden. www.rainer-erler.com
RAINER ERLER Die unbefleckte Empfängnis der Angelina de Castillo y Cortez
Sie schritt aufrecht und selbstbewusst durch den breiten Eingang vom Parkplatz her direkt auf mich zu. Ihre langen, tiefschwarzen und leicht gekräuselten Haare hatte sie zu einem dicken Zopf gebunden, der über ihre linke Schulter zwischen ihre Brüste fiel. Eine weiße Bluse mit langen Ärmeln, aufreizend gespannt über ihrem Busen, war sittsam zugeknöpft, in der Taille aber nur lässig geknotet. Das schmale Becken und die langen, schlanken Beine steckten in superknappen, tiefsitzenden Designer-Jeans. Die nackte Haut darüber war samtbraun. Erinnern Sie sich an die junge Elizabeth Taylor? Die alten Filme? Genau dieses Gesicht. Große, rehbraune Augen. Kräftige Augenbrauen. Nicht so modisch schmal gezupfte Striche. Dunkler Flaum über der Nasenwurzel. Elizabeth Taylor in jung. Sehr jung. Nur eben etwas weniger kaukasisch.
Mehr Mexiko. Der schräge Augenschnitt der Indios, fern in ihrer Ahnenreihe, nur eine vage Andeutung. Die Frau war atemberaubend! So etwas läuft hier in Los Angeles frei herum. Langweile ich Sie, Doktor, mit dieser rein äußerlichen Beschreibung?
Aber nein… Erzählen Sie weiter! Wir haben Zeit. Sie ging also dicht an mir vorüber. Sehr dicht. Sehr nah. Und sie sah mich nicht an. Sie sah niemanden an. Sie schwebte gewissermaßen herein und an allen vorbei, zog einen leeren Einkaufswagen aus der Reihe und ging durch die Sperre, an diesem sich automatisch öffnenden Balken vorbei, hinein in unseren Supermarkt. Und ich hinterher. Nein, nicht was Sie jetzt denken, Doktor. Ihr zu folgen, das ist mein Job. Ich hatte so ein Gefühl. Ich habe manchmal so ein Gefühl! Und das hat mich noch nie betrogen. Sie ging nach rechts. Alle gehen erstmal nach rechts. Und alle gehen im umgekehrten Uhrzeigersinn durch den ganzen Laden und zweigen nur zu den einzelnen Reihen ab, wenn sie etwas Bestimmtes suchen. Rechts beginnt es mit den Grundnahrungsmitteln, erst Brot, dann in den Kühlregalen Milch, Yoghurt, Fruchtsäfte. Ich denke, das ist in allen Supermärkten der Welt das Gleiche. Sie hielt sich fest am Griff ihres Trolleys, ging langsam, nachdenklich, Schritt um Schritt, mit lasziv wiegenden Hüften an den endlosen Regalen entlang, und da erst bemerkte ich: Sie war barfuß. Schlanke Fesseln, schmale Füße. Barfuß ist ja nicht allzu ungewöhnlich hier in Southern California, allerdings üblich nur in gewissen Kreisen und in einem gewissen Alter. Sie hatte dieses Alter. Alles stimmte an ihr… Das dachte ich wenigstens… damals.
Bin ich zu ausführlich, Doktor? Ich meine, im Hinblick auf mein eigentliches Problem? Sprechen Sie alles aus, was Ihnen spontan einfällt! Deshalb sind Sie ja hier. Ich folgte ihr also. Ging nur wenige Schritte hinter ihr her, schob ebenfalls einen Einkaufswagen, zur Tarnung halb gefüllt. Es war eine Lust, sie von hinten zu beobachten. Sie griff zu Brot, zu Milch, zu Yoghurt. Und bei Pasta passierte schließlich, was ich von Anfang an erwartet hatte: Etliche Packungen Spaghetti landeten nicht in ihrem Trolley, sondern in ihrer großen, ledernen Tasche, die sie an ihrer linken Schulter trug. Da greift man natürlich noch nicht ein. Man wartet ab. Sie sah sich nicht um, ging langsam weiter. Manche Dinge legte sie in den Trolley, manche verschwanden in ihrer Tasche. Besonders bei Dosen griff sie schamlos zu. Die Ledertasche wurde sichtlich ausgebeult und immer schwerer. Irgendwann blieb sie stehen, warf einen Blick nach allen Seiten, auch hinter sich, sah mich kurz an, aber ohne mich zur Kenntnis zu nehmen oder Verdacht zu schöpfen. Da wusste ich, es wird Zeit. Ich erwartete sie im Vorraum, außerhalb der Kassen. Sie bezahlte, was alles so in ihrem Trolley war, bar, ohne Kreditkarte. Das war bereits verdächtig. Offensichtlich kein ständiges Einkommen. Dann nahm sie die beiden Plastiktüten mit der bezahlten Ware vom Tresen, schob den leeren Trolley zur Seite, wollte zum Ausgang. Das war der übliche, der richtige Augenblick: Kurz bevor sie unseren Laden verließ, trat ich ihr in den Weg. »Ein wunderschöner Tag, Miss. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Trotzdem muss ich Sie bitten, mich in mein Büro zu begleiten.« Ich zeigte ihr meinen Ausweis.
Sie sah mich aus ihren wunderschönen, dunklen Augen ganz ruhig und überaus unschuldig an. Und dann fragte sie mit jenem herrlichen Akzent, den die ganze Welt von den Latinos aus der Westside-Story kennt, und den die erste Generation nie verlieren wird: »Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?« »Hausdetektiv. Und Sie wissen sehr genau, dass ich wissen will, was Sie da alles in Ihrer großen, schweren Ledertasche haben.« »Lassen Sie mich in Ruhe!« Sie wollte einfach weitergehen. »Halt, Miss!« Ich trat ihr in den Weg. »Wir können jetzt einen Skandal daraus machen. Ich drücke hier auf die rote Taste von meinem Security-Telefon und verständige die Polizei. Das dauert natürlich. Bis die endlich kommen und Sie festnehmen. Dann das Verhör. Personalien, Wohnsitz, undsoweiter. Zeitverschwendung für beide von uns. Und ziemlich viel Ärger für Sie. Oder wir gehen das Problem praktisch und diskret an. So, wie das hier im Hause üblich ist. Dort drüben. Kommen Sie mit.« Sie kam mit. Kein Widerstand. Kein unnützes Gerede. Keine Ausflüchte. Ich öffnete die Tür, sie ging hinein. »Nehmen Sie Platz, Miss.« Sie setzte sich auf den so genannten Besucherstuhl, stellte die beiden Plastiktüten auf den Fußboden, und dann die Ledertasche daneben. Ich blieb vorläufig stehen. »Darf ich Sie bitten, Miss, alles, was Sie in dieser großen und offensichtlich sehr schweren ledernen Tasche haben, hier auf den Tisch zu legen?« »Ich war vorher schon woanders einkaufen!« »Ja. Das Argument kenne ich. Aber unsere Waren sind mit unserem und sehr speziellen Preis-Code ausgezeichnet. Keine Chance, Miss. Tut mir Leid.«
Also fing sie an auszupacken. Langsam. Sehr langsam. Dose um Dose. Packung um Packung. Und dabei weinte sie. Auch das kenne ich. »Es ist das allererste Mal…! Wirklich!« Das kenne ich auch. »Es ist ein… ein Versehen.« »Natürlich.« »Ein Notfall!« »Wie peinlich!« »Und ich verspreche Ihnen…« Das kenne ich auch. Ich setzte mich an meine Rechenmaschine. Und ich addierte: 6 Dosen zu je fünfhundert Gramm Chili-con-Carne – ein Sonderangebot; 4 Dosen zu je 1 Kilo weiße Bohnen – wiederum Sonderangebot; 5 Packungen Spaghetti zu je 500 Gramm – Sonderangebot; 3 Ein-Liter-Packungen Milch; 7 Tafeln Schokolade, eine billige Sorte. »Sie haben keinen sehr teuren Geschmack, Miss. Fast alles sind billige Sonderangebote.« »Ich dachte mir, wenn ich erwischt werde, wird es nicht zu teuer. Außerdem bemühe ich mich billig zu leben.« »Das ist begrüßenswert. Allerdings… mit gestohlenem Gut… Ich weiß nicht, Miss. Ich komme hier auf 27 Dollar 22.« Sie nickte nur. »Ist das ein Strafverfahren wert, Miss? 27 Dollar und 22 Cent?« Sie schüttelte den Kopf. Und wieder Tränen… »Ich schätze, Sie haben cirka 13 bis 14 Kilo in dieser Tasche herumgeschleppt. Ganz schön schwer. Und alles nur kräftige Sattmacher. Haben Sie eine so große Familie?« »Ich bin alleinstehend. Keine Familie!« Na bitte… Ist doch Wahnsinn: So wunderbar und läuft frei herum!
Dann kam ich zur Sache. »Wir regeln das in unserem Laden folgendermaßen, Miss: Sie zahlen den Kaufpreis und nochmals den gleichen Betrag als Strafe und unterschreiben mir hier, dass Sie mit dieser Regelung einverstanden sind. Und Sie verpflichten sich schriftlich und eidesstattlich, dieses Geschäft niemals wieder zu betreten.« »Ich habe nichts mehr. Ich habe mein letztes Geld an der Kasse ausgegeben. Bis auf die drei Dollar achtzig, die brauche ich für den Bus.« »Darf ich Sie um Ihre Sozialversicherungskarte bitten?« »Ich habe keine.« »Ihr Name, Ihre Adresse. Führerschein tut es auch.« »Ich besitze auch keinen Führerschein. Ich fahre Bus.« »Irgendeinen Ausweis müssen Sie doch haben. Oder sind Sie illegal hier?« Sofort wieder Tränen. Dann suchte sie etwas am Grund ihrer Ledertasche, von der ich angenommen hatte, sie sei nun absolut leer, und wurde tatsächlich fündig. Ein dickes Kuvert kam da zum Vorschein. Etwas abgegriffen und fleckig. Und darin, zwischen allerlei amtlichen Papieren: ein mexikanischer Pass. Vermutlich sogar echt. Angelina de Castilla y Cortez, las ich da. Sie nickte. »Der Name klingt gut. Geboren in Mexiko-City am… nanu, so jung: Sie sind noch nicht mal 18.« »Aber demnächst! In drei Wochen.« Der Pass war ziemlich neu und er war leer: kein Visum der USA, kein Stempel, weder Ausreise Mexiko, noch Einreise Kalifornien. »Wie sind Sie hereingekommen? Von Tijuana nach San Diego?« »Von Ciudad Juarez nach El Paso.«
»Texas. Aha. Und durch den Schlamm des Rio Grande gewatet? Oder über den Grenzzaun geklettert?« »Ein Laster mit Obst. Es war ziemlich teuer. Vor ein paar Monaten.« »Ein Menschenschmuggler hat also an Ihnen verdient. Und jetzt? Karriere in Hollywood, so wie Sie aussehen?« »Millionen junger Mexikanerinnen sehen so aus wie ich.« Und das wieder mit Tränen. »Und die anderen Papiere?« Ich blätterte sie so durch: Geburtsurkunde, polizeiliches Führungszeugnis aus MexikoCity, Taufschein: römisch-katholisch, Schulabschlusszeugnis: Lycee San Immaculata-di-Compostela, ein entwertetes Busticket von Mexiko-Stadt nach Cuidad Juarez, einige PesoScheine, Passfotos, Impfbescheinigung, Gesundheitsattest. »Was ist das hier: Certificado de habilidad… matrimonio…?« »Ehefähigkeitszeugnis!« »Ehefähigkeitszeugnis…?« »Das bekommt man in Mexiko schon mit 16.« Sie war also »ehefähig«… Ich hatte plötzlich unsägliches Mitleid mit ihr. Ich bin auch nur ein Mann. Und wir Latinos müssen schließlich zusammenhalten. Meine Eltern stammen aus Puerto Rico, waren auch illegal eingewandert. Aber das wäre kein Trost für sie gewesen. Ich könnte sie laufen lassen – und würde damit meinen Job riskieren. Wer weiß, ob ich in diesen schlechten Zeiten je wieder so einen bekommen hätte. Ich habe einen Universitätsabschluss mit Master-Degree in Philosophie. Damit fährt man in Los Angeles bestenfalls Taxi. Die Hälfte aller Taxifahrer in dieser Stadt haben Universitätsabschluss – und die andere Hälfte versteht kaum Englisch. Und das alles wegen 27 Dollar 22. Weiße Bohnen und Chilicon-Carne und Spaghetti… Sonderangebote!
»Miss, hier sind 50 Dollar. Die nehmen Sie jetzt. Und dann schnappen Sie sich einen Trolley und fahren wieder in den Laden hinein. Hinter der Eiscreme-Theke warte ich auf Sie mit der Tasche hier und den billigen Konserven. Die übernehmen Sie dort, fahren damit zur Kasse und bezahlen mit den 50 Dollar. Was Sie vorher eingekauft haben, holen Sie sich dann hier in meinem Büro ab, auch ihren Pass und die anderen Papiere. So werden wir das machen. Vamos!« Ich stand auf. Sie nahm die 50 Dollar, sehr zögerlich. »Ich weiß nicht, wann ich Ihnen das zurückzahlen kann.« »Das ist eine Spende. Unterstützung einer illegalen Immigrantin. Ein Geschenk. Für Bohnen und Chili-con-Carne. Sie müssen nichts zurückzahlen! Kommen Sie, los!« Es lief alles nach Plan. Hinter der Eiscreme-Theke landete das gestohlene Gut in ihrem Einkaufswagen, und an der Kasse zahlte sie die 27 Dollar und 22 Cent. In meinem Büro übernahm sie anschließend den legalen Kauf und ihre Papiere. Und dann versuchte sie mir das Wechselgeld zurückzugeben. »Nein, lassen Sie nur. Fünfzig Dollar sind fünfzig Dollar und ich kann es mir leisten. Ich habe keine Familie. Und ich verdiene gut, weil ich Leute fange, denen es meistens sehr schlecht geht. Das belastet mein Gewissen. Jetzt habe ich endlich einmal die Chance, es zu entlasten. Und das ist gut so.« »Sie sind nicht verheiratet?« »Nein. Es hat sich bis jetzt noch nicht ergeben.« »Wie alt sind Sie? Darf ich das fragen?« »Vierunddreißig. Und ich heiße Eduardo Gonzalez.« »Sie sind ein guter Mensch, Mister Eduardo Gonzalez.« »Vielleicht ja, vielleicht nein…! Wer weiß…« »Darf ich Sie zum Abendessen einladen, Mister Gonzalez?«
Es gibt also doch noch Überraschungen in meinem Leben. Es ist wunderbar. Und es gibt Chancen, die zu verpassen vergibt man sich nie. Ich sagte zu. Ein Abendessen und vielleicht auch noch viel mehr, mit einer jungen Elizabeth Taylor. Einem Superweib. Einem Wahnsinnsweib. Das pleite ist, und das nun schüchtern und gehemmt auf die Rückseite des leeren Verpflichtungsformulars ihre Adresse schrieb. Und ihren Namen in großen Druckbuchstaben: ANGELINA DE CASTILLA Y CORTEZ. Die Fahrt durch den spätherbstlichen, kalifornischen Regen hinaus nach Pasadena Falls war endlos. Windböen wirbelten Blätter durch die Nacht und klatschten sie gegen die Windschutzscheibe. Es war früh dunkel geworden. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Wagen blendeten mich. Das Licht reflektierte auf dem nassen Asphalt, und meine Scheibenwischer kreischten leise vor sich hin und drohten demnächst ihren Geist aufzugeben. Wenn es in Los Angeles mal regnet, dann richtig! 1280 Hudey Drive. Ich hatte in der Strassenkarte Greater Los Angeles gesucht und diesen Huxley Drive tatsächlich auch gefunden. Jetzt fuhr ich Meile um Meile durch diese monotone Stadtwüste. Hausnummern in L. A. sind glückliche Zufälle. Aber dann sah ich von weitem schon in der von Angelina angekündigten Leuchtschrift die gesuchte Zahl: 1280, groß und gewaltig und rosarot flackernd, und darunter, überraschenderweise, und vorher nicht weiter erwähnt: Neo-Redemptionist-Church-ofAmerica. Einige Buchstaben fehlten zwar in dieser Neonschrift, aber die Information war unmissverständlich: Eine neue Kongregation vom allerheiligsten Erlöser. Oder nur ein Name? Eine der zehntausend Sekten dieses Landes, das sich God’s Own Country nennt und sich auch als solches begreift und benimmt?
Der Parkplatz vor dieser Kirche war gewaltig und absolut leer. Die erwarteten zur sonntäglichen Versammlung offenbar eine Heerschar von Gläubigen. Ich parkte dicht neben diesem billigst zusammengezimmerten, fast schon im Stadium des Verfalls befindlichen Kirchengebäude, lief die paar Schritte durch den strömenden Regen. Da stand sie vor mir in dem sich gerade öffnenden Portal: Angelina de Castilla y Cortez. Und sie lächelte. »Schön, dass Sie gekommen sind, Mister Eduardo Gonzalez!« »Schön Sie zu sehen, Angelina.« Und nach einer kleinen Pause, die ich benutzte, mich in der Gegend kurz umzusehen. »Eine Kirche, aha. Das haben Sie nicht erwähnt. Und wo wohnen Sie?« »Hinter unserem Gebetsraum habe ich ein Zimmer. Ich zeige es Ihnen später. Es ist sehr klein. Und ich teile es mit drei anderen Mädchen. Alle aus Mexiko.« »So! Aha.« Manchmal sind die Erwartungen, die man an ein erotisches Abenteuer stellt, einfach zu hoch. Ich hätte das wissen, hätte das einkalkulieren sollen. »Gleich gibt es das Essen!« sagte sie und ging voraus. Angelina kochte für mich und für fünf weitere Bewohner des Hauses, darunter die drei mexikanischen Mädchen. Eines war hässlicher als das andere. Eine alte, schweigsame Dame kam noch dazu und ein pickeliger Jüngling aus Oklahoma City, wie er betonte. Der deckte den Tisch. Das soziale Leben dieser Gruppe spielte sich offensichtlich in dieser kleinen Küche ab. Angelina öffnete routiniert einige der Dosen, Chili-conCarne und weiße Bohnen, und warf ein Bündel Spaghetti in das kochende Wasser. Der Herd mit den zwei Kochstellen wurde von einer Gasflasche gespeist.
Als alle sich um den Tisch versammelt hatten, fassten sie sich an den Händen – auch ich wurde trotz meiner Verwirrung in den Kreis mit eingebunden – und wünschten sich Buen apetito y la bendicion de Dios… Dann aßen wir schweigend. Angelina lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Dass ich dieses Abendmahl subventioniert hatte, blieb unser Geheimnis. Anschließend zeigte sie mir das Zimmer mit den vier schmalen Armeebetten und den Gebetsraum. Die NeoRedemptionisten, erklärte sie mir, leben in ständiger Erwartung ihres Erlösers. »Das tun die Juden schon seit 5000 Jahren!« »Vielleicht erwarten sie den Falschen!« »Und wir Christen behaupten, er war schon hier, und sein Erlösungswerk sei erfolgreich gewesen.« »Seine Mission ist irgendwie schief gegangen!« »Ich weiß, er wurde gekreuzigt!« »Das ist nicht das Problem! Er hätte Frieden bringen sollen auf diese Welt. Wo, bitte, ist Frieden?« Diese Frage zu beantworten ist müßig. Ich wollte das Thema auch nicht weiter mit diesem schönen Mädchen diskutieren. Rede beim Essen nie über Politik, Sex oder Religion. Aber dann sagte sie etwas, das mir zu denken gab: »Das nächste Mal werden sie es besser machen. Sie haben aus den Fehlern der anderen gelernt!« »Wer macht etwas besser? Wer hat aus Fehlern gelernt?« »Die, deren Hilfe wir brauchen. Und die wir erwarten. Sie kommen von sehr, sehr weit her. Lichtjahre weit.« »Ach so, jaja…« 46,2 Prozent der US-Amerikaner glauben an UFOs, die das Heil bringen werden. Und 27,6 Prozent glauben an die Bibel als das wahre Wort Gottes und die einzige, legitime Erklärung der Welt und verdammen jegliche Wissenschaft – insbesondere die Evolutionstheorie – als
Sünde. Es ist ein Land des frommen Glaubens. Andererseits: 95 Prozent der Weltproduktion an harten Pornos kommen aus diesem Land, aus diesem Staat. Und 90 Prozent aller Waffen. Und hier redet jemand von Erlösung und Frieden. Der kommen wird. Lichtjahre weit. Ich hätte meine Skepsis in dieser Angelegenheit an diesem Ort, in diesem Kreis sofort zu Sprache bringen müssen. Das hätte mir viele Enttäuschungen erspart. Aber ich ließ es bleiben. Die Englischkenntnisse der drei mexikanischen Mädchen waren ohnehin mangelhaft. Und die alte Dame vermutlich taub. Was nun? Ein Pub wäre schön. Gab es sogar, nur fünf Meilen entfernt. Schummriges Licht, gedämpfte Musik aus einer elektronischen Orgel aus den Dreißiger Jahren, auf der ein alter Mann Oldies aus den Fünfziger Jahren spielte. Wir waren fast die einzigen Gäste. »Planters Punch!« bestellte Angelina. »Aber ohne Rum!« »Angelina… Der Witz an Plunters Punch sind doch die fünf verschiedenen Sorten Rum.« »Alkohol verändert das Bewusstsein. Außerdem Alkohol auszuschenken, in der Öffentlichkeit, an Jugendliche unter 21 ist gesetzlich verboten. Und ich bin noch nicht mal 18. Erst in drei Wochen!« Ich orderte Planters Punch original. Die Bewusstseinsveränderung nahm ich dankbar in Kauf. Und ich machte mir Gedanken über ein Gesetz, das Jugendlichen unter 21 Alkohol verbietet, aber erlaubt, in Uniform und im Auftrag und Interesse dieses Landes irgendwo in der Welt im Kampf zu sterben. Tanzmusik. Ein einsames Paar drehte sich unter Flackerlicht. Aber Angelina tanzte nicht. Sie erzählte mir stattdessen interessante Dinge aus ihrem Lyceum zur heiligen
Unbeflecktheit, das sie mit fünf ihrer Schwestern sieben lange Jahre besucht hatte. »Für unkeusche Gedanken wurde man zur Kathedrale geschickt und musste die 500 Meter zum Portal auf abgetretenen Steinplatten der Plaza de Constitucion auf Knien rutschen. Nur für Gedanken! Wirkliche Taten gab es ja nicht.« »Sie haben fünf Schwestern?« »Und sechs Brüder!« Die Mexikaner sind ein fruchtbares Volk, und die Überzähligen schickt man illegal in das gelobte Land der Vereinigten Staaten. Der Raum füllte sich plötzlich mit zahllosen Männern mittleren Alters, die sich kannten, die laut miteinander scherzten und großzügig auf Vorrat Alkohol bestellten. Der alte Orgelspieler räumte seinen Platz, eine Leinwand wurde aufgestellt. Ab zehn werden hier hardcore-pornos vorgeführt. Während der Vorführung ist der Ausschank von Alkohol dann verboten. Ich liebe dieses freie Land, aber seine Gesetze sind mitunter erklärungsbedürftig. »Wir könnten noch zu mir…« Ein hirnrissiger Vorschlag, als wir das Lokal fluchtartig verließen. Zu mir: Das waren 32 Meilen. Und 32 Meilen wieder zurück zu ihr. Und dann wieder 32 Meilen zu mir nach Hause. Alles im strömenden Regen. Angelina schüttelte nur leicht den Kopf. Und ich war erleichtert. Auf dem leeren, nächtlichen Parkplatz vor dieser eigenartigen, heruntergekommenen Neo-RedemptionistenKirche kam es dann doch noch zu gehemmten Zärtlichkeiten, zu flüchtig erwiderten Küssen, zu zarten Berührungen. Der nicht endende Regen pladderte auf das Dach des Wagens und die Scheiben waren wunderbar diskret beschlagen.
Eine junge Elizabeth Taylor mit einigen, fernen Indio-Ahnen im Schnitt ihrer Augen. Ein Mädchen, so überirdisch schön! So wunderbar! So verführerisch! So nah! Samtbraune Haut. Der Duft ihrer Haare wie Zimt und Nelken. Eine melodische Stimme, das charmante und vertraute »r« der Latina. Alles in mir drängte auf eine Umarmung! Stattdessen fragte ich sie: »Warum, Angelina, hast du heute ausgerechnet bei unserem Supermarkt eingekauft. Und geklaut. Warum so weit entfernt. 32 Meilen. Da kostet der Bus allein doch schon ein Vermögen.« »Drei Dollar achtzig. Ja. Sieben-sechzig, hin und zurück. Aber hier in der Nähe… bei allen Supermärkten der Umgebung… habe ich doch bereits vor langer Zeit unterschreiben müssen, dass ich niemals wiederkomme! Und so ein Gelöbnis zu brechen wäre doch eine Sünde!« Nachdem ich stumm geblieben war, stumm vor Erstaunen, irgendwie sprachlos, gab sie mir noch eine Erklärung, eine Entschuldigung, die ich akzeptieren konnte: »Ich wohne hier umsonst. Dafür muss ich das Essen besorgen.«
Es folgten auf diesen ersten Abend drei Wochen in guter, keuscher, scheuer Freundschaft. Vorehelicher Sex war kein Thema. Weder in Wort noch in Tat. Bedauerlich. Aber ein streng katholisch erzogenes mexikanisches Mädchen hatte so seine Prinzipien, die ich respektierte. Ich hatte auch keine Wahl. Also gingen wir ins Kino, zum Essen ins Deli bei mir um die Ecke, fast jeden Abend. Ich holte sie ab, brachte sie heim. Pasadena Falls. Vier mal 32 Meilen, zwei mal hin, zwei mal zurück. Gleich am nächsten Sonntagnachmittag besuchte ich eine dieser Redemptionisten-Versammlungen. Der Parkplatz war
voll bis auf den letzten Platz, auch der Gebetsraum. Ein Mann, Reverend Moo, ein Koreaner, sprach von der Ankunft eines Erlösers, der Langerwartete, der Frieden bringt und Freundschaft aller Menschen zueinander. Die Sprüche kannte ich schon von ihr. Aber zum ersten Mal wurde sehr deutlich und unmissverständlich von einem Außerirdischen gesprochen, der alles zum Guten wenden wird. »Ach, E. T. das Wesen vom anderen Stern. Die UFOBesatzung, die das Heil bringen wird.« »UFOs sind Unsinn!« sagte Angelina. »Unsere Freunde kommen als Kryptoplasmen. Sie übermitteln sich wie Gedanken.« »Mit Lichtgeschwindigkeit?« »Das wäre viel zu langsam. Nein: gleichzeitig, hier und jetzt und auch dort.« »Körperlich? Sichtbar?« »Nein! Wenn sie sichtbar wären, wären sie nicht körperlich. Als Kryptoplasmen sind sie nicht sichtbar. Das ist eigentlich logisch.« Die Realität dringt nicht ein in Glaubensbereiche. Auch nicht in die Bereiche meines Unglaubens. Also lassen wir das. Ich lud sie ein in das Haus meiner Mutter. Die alte Dame war überglücklich. Endlich brachte ihr Sohn eine schöne, sympathische, junge Frau mit in ihr Haus, von der man etwas erhoffen konnte. Vielleicht wird daraus, endlich, die lang erwartete, dauerhafte Beziehung. »Das hier, Mum, ist Angelina. Ich habe dir von ihr erzählt. Sie wird morgen achtzehn!« »Wunderbar, Angelina! Da müssen wir etwas vorfeiern.« Und dann verriet ich ein Geheimnis: »Morgen fliegen wir zwei, Angelina und ich, nach Las Vegas. Und wir heiraten
dort. Sie hat ja bereits alle nötigen Papiere aus Mexiko mitgebracht.« Es wurde ein wunderschöner Abend mit Mama und am nächsten Tag eine sehr feierliche und sehr emotionale Trauungszeremonie in der buntgeschmückten Kapelle des Hotels. Klassische Musik. Eine nicht allzu lange Rede eines »Wedding Celebrant«. Die beiden Trauzeugen, ein junges, elegantes Paar, stellte das Hotel. Aus Angelina de Castilla y Cortez wurde an ihrem achtzehnten Geburtstag eine Mrs. Angelina Gonzalez. Bürgerin der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dann kam die Hochzeitsnacht. Und eine Überraschung: Statt der langersehnten, erhofften und nunmehr legalen Liebesumarmung, lüftete Angelina ihr makaberes Geheimnis.
»Eduardo… ich bin nicht mehr frei! Ich habe dich belogen.« »Auf Bigamie steht Gefängnis bis zu zwei Jahren, Angelina. Und mit solchen Dingen macht man keine Scherze!« »Kein Scherz, Eduardo! Ich bin vergeben! Seit langem schon. Du darfst mich nicht umarmen.« »Wer ist es?« Ich war noch immer nicht bereit, die vorgebrachten Behauptungen ernst zu nehmen. »Vergeben – nicht verheiratet!« stellte sie klar. »Verlobt? Ein Jugendfreund in Mexiko? Lade ihn ein, soll herkommen und seine Forderungen vorbringen.« »Nein, nicht Mexiko. Von weit, weit her. Schon vor Jahren wurde ich IHM versprochen. Ich muss daher rein bleiben, unbefleckt. ES wird kommen. Irgendwann. Vielleicht schon heute Nacht. Und ES wird ein Kind mit mir zeugen. Sobald ich volljährig bin.« Plötzlich hatte ich eine fürchterliche Ahnung. Es war pervers, was mir da so einfiel.
»Versprochen? IHM? – Das Kryptoplasma?!« Angelina nickte und lächelte. Sie war überglücklich, dass ich sie verstanden hatte. Sie nahm mein hilfloses Grinsen als Einverständnis. Dabei war ich von oben bis unten nur ein einziger Krampf. Sie ging zu Bett. Wir hatten eine große Suite für erstaunlich wenig Geld bekommen. Zwei Kingsize-Betten. Schwarzer Satin. Nebenraum mit zwei Fernsehgeräten, Blumen, Champagner, üppige Obstschale – und das obligatorische Spa. Das Hotel war großzügig, solange man ordentlich Geld dort unten im Casino verspielte. Ich ging also hinunter ins Casino und verspielte zweihundert Dollar. Mein Limit für eingeplanten Verlust hatte eigentlich bei 50 Dollar gelegen. Aber der Frust musste ja irgendwie kompensiert werden. Gutkatholische, mexikanische Mädchen tun es nur nach vollzogener Trauung. Das hatten wir nun erledigt. Aber was war das? Sich mit einem Kerl anzulegen, ältere Rechte und so, kein Problem. Soll er nur kommen. Aber ein Phantom? Ein Kryptoplasma? Wo ich zum Teufel keine Ahnung hatte, was das eigentlich war? Vermutlich ein Hirngespinst. Hysterie. Religiöse Verklemmung der Gehirnganglien. Eine junge Elizabeth Taylor – so schön – und letzten Endes so unbrauchbar. Da wurde mir plötzlich klar und voll bewusst, dass ich dieses Mädchen – trotz allem – abgöttisch liebte. Und dass abgöttische Liebe auch Toleranz mit einschließt. Und Geduld. Ich ging also wieder nach oben. Der Raum lag in schummrigem Dämmerlicht. Angelina schlief im rechten Kingsize-Bett unter schwarzem Satin. Auf dem linken lag mein Pyjama. Ich leerte die Flasche kalifornischen
Champagner, ganz still und für mich allein, löschte das Licht, legte mich hin und versuchte einzuschlafen. Vielleicht war mir das bereits gelungen. Da waren wir plötzlich umgeben von einer irisierenden Helle. Die kam von irgendwo her. Und die Luft war erfüllt von einem Summen, leise, seltsam und melodiös. Angelina, im Kingsize-Bett nebenan, stöhnte auf, ganz plötzlich, unvermittelt, lustvoll und ekstatisch. Sie rief etwas, ein Wort, einen Namen, unverständlich und sehr laut, mit seltsam gutturaler Stimme. Irgendetwas riss das Laken zur Seite. Und Angelina lag da, völlig nackt, ein heller Leib auf schwarzem Satin. Es war das erste Mal, dass ich sie so sah. Der Anblick turnte mich an. Auch dieses Aufbäumen, wie im Trance, die Schenkel weit gespreizt. Dreimal hintereinander schrie sie jetzt auf, klar und verständlich und sich jedesmal steigernd: »Ja… jaa… jaaa…!«. Sie hob die Arme. Ihr Körper spannte sich, wurde steif, bog sich nach hinten, schnellte wieder vor. Sie umklammerte etwas Unsichtbares, Körperliches, gab sich ihm hin. Dann wieder Schreie. Nochmals. Und wieder. Und wieder. Kein Zweifel, ein Mega-Orgasmus durchschüttelte sie, durchzuckte jede Faser ihres Körpers. Dann fiel sie in sich zusammen. Ermattet. Immer noch im tiefen Schlaf, wie es schien. Und sie war so schön, so schön wie nie zuvor. Das irisierende Licht verlöschte ganz langsam, das melodische Summen verstummte. Angelinas Atem beruhigte sich und ich stand auf, machte diskret Licht und deckte sie wieder zu. Sorgsam und vorsichtig. Um sie nicht zu wecken. Aber sie wurde trotzdem wach. Oder war es schon die ganze Zeit.
»Danke, Eduardo!« flüsterte sie. Und dann: »ES war da. ES hat mich genommen. Ich bin auserwählt worden. Ich werde sein Kind austragen. Das Kind eines Gottes.« Das Kind eines Kryptoplasmas, dachte ich mir. Was immer das sein mag. Und was immer da herauskommen sollte bei dieser Begattung. Da kann man nicht mithalten. Auch wenn das Ganze nur Phantasie ist, Einbildung. Eine extraterristische Kopulation. Ein außerirdischer Super-Fick. Phantom-Orgasmus in der Dritten Dimension. Ich bedauerte, dass die Champagnerflasche leer war. Ein Schluck wäre schön gewesen. Oder auch mehr. Viel mehr! Nicht um diesen erregenden Ehebruch zu feiern, dem ich beiwohnen durfte. Nein. Um mich hemmungslos zu besaufen.
Zurück aus Las Vegas zog Angelina zu mir in das kleine Apartement. Wir führten eine gute Ehe. »Josephs-Ehe« nennt man das wohl. Ihr Zustand verlangte Respekt. Und den erhielt sie von mir. Dass sie schwanger war, das war keine Frage. Kein Zweifel war da erlaubt. Sie genoss ihre Mutterschaft und die Zuwendung der Gläubigen der Neo-Redemptionisten-Kirche, die umgehend informiert worden waren. Reverend Moo nahm mich zur Seite, legte seine Hand auf meine Schulter und gratulierte mir: »Sie müssen sehr glücklich sein, Eduardo. Ihre Gattin trägt einen Gott unter ihrem Herzen!« Ich war also glücklich, weil man das von mir erwartete, und ich verwöhnte die junge Mutter, soweit das in meinen Kräften stand. Meine Skepsis war allerdings dahin, auch meine Hoffnung, dass sich das alles als Spuk, als Lug und Trug und Illusion
erweisen könnte, als Angelina anfing immer dicker, immer runder zu werden. Sie trug ihr kleines Bäuchlein mit Stolz und mit Würde. Wenn wir ausgingen, dann ernteten wir, also auch ich, anerkennende Blicke. Menschen machten ihr Platz, ließen ihr an den Supermarktkassen den Vortritt. Und sie quittierte diese Selbstverständlichkeit mit einem überirdischen Lächeln. Die Wochen vergingen, die Monate. Ich suchte in den gelben Seiten nach einem Gynäkologen hier in der Nähe und schickte Angelina dort zu einer Routineuntersuchung. Ein Vorschlag, nichts weiter. Um sicher zu gehen. Um nichts zu versäumen. Und Angelina willigte ein. Glückstrahlend kam sie zurück und zeigte mir das Ergebnis einer Ultraschalluntersuchung. Ein transparentes Foto von beachtlicher Größe. Verwirrende Lichter und Schatten. »Hier ist das Herz!«, sagte sie und deutete auf eine winzige Verknotung der Linien. »Bei der Untersuchung konnte man es schlagen sehen.« Eine Linie schwang sich winzig gekrümmt um einen Schattenkreis. »Das ist das Rückgrat!« Als sie nach dem Essen schlief, nahm ich diesen fotografischen Beweis ihrer Mutterschaft und suchte nun selbst diesen Gynäkologen auf. Das Wartezimmer war voll von schwangeren Frauen in den verschiedenen Stufen der embryonalen Entwicklung. Ich war der einzige Mann und musste lange warten. Der Arzt war etwas erstaunt. Ich stellte mich vor: »Eduardo Gonzalez. Meine Frau, Angelina Gonzalez, war heute Morgen bei Ihnen zur Untersuchung. Ich würde mich für Ihren Kommentar zu dieser Ultraschallaufnahme interessieren.« Der Arzt nahm das transparente Bild zur Hand, hielt es kurz vor das Fenster… »Sie sind also der Gatte dieser Frau…?«, fragte er mit hintergründigem Lächeln.
»Ja, der Gatte, aber nicht unbedingt der Vater dieses Kindes.« Der Arzt nickte zustimmend. »Das hätte mich auch gewundert.« »Wieso?« »Da ist kein Kind. Und Ihre Frau ist noch Jungfrau. Sie sind sicher alt und erfahren genug, um zu wissen, wie die Zeugung eines Kindes vor sich geht. Von einer Jungfernzeugung innerhalb der letzten zweitausend Jahre ist mir nichts bekannt.« »Aber der Zustand meiner Frau… Die Wölbung des Leibes…?« »Scheinschwangerschaft. Das kommt vor. Der Kinderwunsch wird übermächtig und täuscht falsche Symptome vor. Ein Fall für die Psychiatrie, nicht für uns Gynäkologen.« »Aber der Leib fasst sich sehr kompakt an. Was steckt dahinter?« »Luft!« »Luft?« Ich wagte einen Einwand: »Könnte es auch Kryptoplasma sein? Meine Frau wurde von einem Außerirdischen geschwängert… ein Embryo aus Kryptoplasma…« Ich hätte das nicht sagen, nicht weiter nachfragen sollen. Der freundliche Arzt hatte es plötzlich sehr eilig und empfahl eine Doppeltherapie als die einfachste Lösung. Angelina habe ich nichts von meinem Arztbesuch erzählt. Sie empfing mich mit großer Herzlichkeit. »Wo warst du, Eduardo! Du warst lange weg und hast mir so gefehlt!« Sie umarmte mich liebevoll, wir tranken Tee aus gewissen Kräutern, aßen gemeinsam speziellen Gesundheitskuchen für werdende Mütter, hörten klassische Musik und durchlebten glücklich und freundschaftlich die folgenden Wochen. Angelina hakte sie gewissenhaft auf einem Kalender ab.
Wie lange ein Kryptoplasma auszutragen ist, von einer irdischen Mutter, das habe ich sie nie gefragt. Gewisse Themen waren zwischen uns tabu. Zum Beispiel: Alien – der Film. Eine Horrorvision. Aber etwas anderes fragte ich doch: »Hast du den Film Rosemary’s Baby gesehen, Angelina?« »Von Roman Polanski, natürlich. Jeder in Mexiko City kennt ihn und jeder in unserem Lycee hat ihn sich angesehen. Wir haben uns ein Video besorgt.« »Das Baby im Film war das Produkt des Teufels!« »Wir wissen alle, dass das Böse in unserer Welt mehr Macht hat als das Gute. Wir sind nun aufgerufen, das zu ändern! Und es wird uns gelingen!« Sie faltete die Hände über ihrem schwangeren Bauch. So einfach ist Glauben und doch so kompliziert.
Die Anzahl der angekreuzten Wochen auf dem Kalender näherten sich einer kritischen Zahl. Ich zog aus unserem kleinen Schlafzimmer aus, schlief nun auf der Couch vor dem Fernsehgerät, das die ganze Zeit über stumm geblieben war, viele Wochen lang, weil das ungeborene Baby nicht mit Horror und Schrecken und Gewalt konfrontiert werden durfte. Angelina in ihrem Zustand der Hoffnung hatte unser Queensize-Bett nun für sich allein. Eines Nachts war es soweit. Schmerzensschreie kündeten von einer eingeleiteten Geburt. Ein melodisches Sirren klang von nebenan, und irisierendes Licht drang unter der Türspalte hindurch. Die Kryptoplasmen kümmerten sich also bereits um sie. Da fühlte ich mich überflüssig und störend, und ich blieb liegen, wo ich lag. Allerdings mit schlechtem Gewissen. Ich dachte mir, wenn Angelina meine zusätzliche Hilfe brauchen sollte bei dieser Entbindung, würde sie mich rufen. Sie rief mich nicht.
Als nach eine knappen Stunde das Stöhnen und Schreien verstummte, drang Baby-Geschrei zu mir herüber und gab mir zu denken. Auch das verstummte nach einer Weile, ebenso das melodische Sirren. Schließlich erlosch das irisierende Licht. Da sah ich nach ihr. Sie lag glücklich und ermattet im Bett, bereits im Halbschlaf, und sie flüsterte mir zu in langsamen, gedehnten Sätzen: »Es war eigentlich… eine leichte Geburt… Sie haben das Kind mitgenommen… Sie werden es aufziehen bei sich… in ihrem Sinn… Wenn es wiederkommt, du weißt ja… wird es unserer Welt und der Menschheit hier Frieden bringen… und eine Erlösung von allem Übel.« »Es war demnach ein Knabe?« »Eduardo, was fragst du…? Du weißt doch, sie unterscheiden nicht nach Geschlecht. Kryptoplasmen sind, was sie sind. Das eine – das andere. Mann – Frau. Sowohl als auch…« Ich wusste es bisher nicht. Ich wusste so vieles nicht. Ich war naiv, ahnungslos, gutmütig und dumm. Und verliebt in ein wunderschönes Monster, das mich in sein Theater eingebunden hatte und dem ich zu einem US-amerikanischen Pass verholfen hatte, zur Legalität, zu einem geregelten Auskommen. Unklar war mir in diesem Augenblick nur, wie die Geschichte nun weitergehen sollte, mit ihr und mit mir. Sie versank wieder lächelnd in einem erholsamen Schlaf. Da zog ich langsam, vorsichtig, die dünne Daunendecke von ihrem Körper. Da lag sie wieder vor mir, schön und nackt und begehrenswert – und so schlank wie eh und je. Scheinschwangerschaft? Scheingeburt? Jungfrauengeburt? War ein Kryptoplasma tatsächlich diesem Leib entwichen? Unblutig aber schmerzhaft? Kein Fruchtwasser? Keine Nabelschnur? Keine Plazenta?
Eine Woche später wurde in der Kirche der NeoRedemptionisten die Geburt ihres künftigen Gottes groß gefeiert. Angelina wurde herumgereicht und geküsst. Hände wurden geschüttelt. Und auch ich bekam etwas ab vom Glorienschein dieser Tragikomödie. Reverend Moo nahm mich wieder zur Seite und teilte mir mit, dass man stolz auf mich sei. Ich hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, dass dieser koreanische Mister Moo eigentlich Immobilienhändler ist und Anlageberater und Börsenmakler im Internet, und dass er seine Gewinne steuermäßig legal verschleiert, weil er eine eigene Kirche besitzt, die Verluste macht. Religiöse Gemeinschaften, wie beknackt ihre Glaubensartikel auch sein mögen, sind hier in den USA hoch respektiert und steuerfrei. Das sagte ich ihm. Und dass es mir jetzt reichte. Und dass ich mich nicht noch weiterhin lächerlich machen werde, wie damals bei dem skeptischen Gynäkologen. Scheinschwangerschaft… Jungfrauengeburt. Kryptosomen, Kryptoplasmen… und was sonst noch alles an Aliens und extraterrestrischem Schwachsinn. »Sagen Sie das doch Ihrer Frau, Mister Gonzalez. Besprechen Sie das alles mit unserer Angelina!« Mit unserer Angelina?! Die Eigentumsverhältnisse waren damit geklärt! Ich sagte nichts zu ihr – da war nichts zu besprechen, nichts in Frage zu stellen. Aber auf der Heimfahrt war sie seltsam schweigsam. Meine Skepsis und mein Aufbegehren hatten ihren Weg zu ihrem Ohr gefunden. Zu Hause packte sie ihre Sachen. Viel war es nicht. »Ich werde in Zukunft wieder dort wohnen, woher du mich geholt hast. 1280 Huxley Drive in Pasadena Falls.« »In deiner Kirche?«
»In meiner Kirche, ja. Bei meinen Brüdern und Schwestern. Ich werde wieder mein altes Zimmer beziehen, aber allein. Ich werde es nicht mehr teilen müssen mit anderen!« »Und du wirst nicht mehr stehlen, Angelina, in Supermärkten, oder wo auch immer… Das versprichst du mir, ja?! Du bist meine Frau vor dem Gesetz, und ich werde für dich sorgen. Auch wenn dieser Moo euch kurz hält und ausbeutet und betrügt.« Sie küsste mich zum Abschied. Ich rief ihr ein Taxi. »Schade, dass du mir nicht glaubst. Dass du uns nicht glauben willst. Du wirst einsam sein, Eduardo, und du wirst mich vermissen. Ich habe dich vernachlässigt. Ich weiß. Das tut mir Leid, aber es war unvermeidbar. Ich habe es dir nicht leicht gemacht, Eduardo. Verzeih mir! Ich liebe dich noch immer!« Wieder küsste sie mich. »Du warst gut zu mir, Eduardo. Von Anfang an. Du bist ein guter Mensch. Ich danke dir für alles!« Sie ging. Ihr gesamter Besitz passte in die große, braune Ledertasche. Auf der Treppe drehte sie sich nochmals zu mir um. »Ich werde ES informieren und bitten, dass ES sich um dich kümmert. Und zärtlich ist mit dir.« Sie konnte nur dieses Kryptoplasma meinen.
Noch in der gleichen Nacht wachte ich auf. Voller Unruhe. Von einem melodischen Sirren geweckt. Von einem irisierenden Licht geblendet. Sie hatte ihr Versprechen also gehalten. Mit leichtem Unbehagen bemerkte ich, dass die Daunendecke zur Seite glitt. Ich schlief darunter nackt und fühlte mich plötzlich ungeschützt und auf eine erschreckende Art wehrlos gegenüber dem, was da auf mich zuzukommen schien.
Langsam glitten unzählige, warme, zärtliche Tentakel von meinen Füßen her nach oben. Etwas Oszillierendes schob sich zwischen meine Schenkel, drängte sie sanft auseinander. Federwolken umspielten mein Geschlecht, wanderten weiter, mit tausend feinen, berauschenden Nadelstichen saugten sich tausend Tentakel fest an tausend sensiblen Stellen meines Körpers, meiner Brust, meinem Gesicht… Ein heißer Hauch drängte sich durch meine Lippen, füllte meinen Mund mit wohliger, aromatischer Süße, sog sich fest an meiner Zunge, nahm mir den Atem… Prickelnde Vibrationen hüllten mich ein. Ein Finger, ein hartes Glied, eine stählerne Lanze, ein tanzender Penis aus Fleisch taste sich an meinen Anus heran, drang ein, schwoll an, schob sich hoch in meinen Leib, schlangengleich, am Rückgrat entlang bis in mein Gehirn, verströmte ätherische Öle, betäubend und schmerzhaft und lustvoll zugleich. Ein erregender Schmerz hielt mich gefangen, ein Wiegen und Zittern, ein Pulsieren und Schwingen. Eine heißlüsterne Vagina stülpte sich honigfeucht-klebrig über mein erigiertes Glied, sog es in sich hinein, zog es lang, immer länger in sich hoch, in erschreckend weite und nicht endende Dimensionen… Im Rhythmus meines Herzschlags glitt dieses Kryptoplasma an meinem Körper auf und nieder. Ein erregendes Fieber durchzuckte jeden einzelnen meiner überreizten Muskeln. Ich bäumte mich auf. Jeder Wille, jeder Widerstand war ausgelöscht. Da bahnte sich von einem glühenden, brodelnden Zentrum her ein Mega-Orgasmus an, der jede Zelle, jede Faser meines Körpers in Schwingungen brachte. Und ich entleerte mich mit einem ekstatischen Schrei der ultimativen Lust, mit endlosen, zahllosen krampfhaften Stößen in dieses Kryptoplasma hinein, das mich auszusaugen begann, mitleidlos, gierig. Jeder verfügbare Tropfen meiner Körperflüssigkeit verschwand in diesem konturlosen Monster,
das nicht abließ, mich mit seinen tausend zärtlichen Tentakeln unablässig zu liebkosen… Es war wie ein herrlicher, ein lang erwarteter Tod. Ein Hinsterben. Ein Sich-Auflösen. Sich opfern. Ein Verschlungen-Werden für Zeit und Ewigkeit… Nach dem Beweis seiner Existenz, nach dieser sexuellen Folter, Strafe für Unglauben und Ignoranz, zog sich das Kryptoplasma schleimig und klebrig zurück, langsam, so wie es gekommen war. Ließ mich liegen als willenlose, ausgesogene, befriedete Hülle. Das Sirren verstummte. Das irisierende Licht verlöschte. Das also war das Ende. Tagelang war ich ermattet. Unfähig, irgendetwas Vernünftiges zu tun oder auch nur zu denken. Die Vibrationen ließen nicht nach. Die schmerzhafte Lust dieser Begegnung hinterließ in mir eine unstillbare Sucht, hatte sich in mich eingebrannt und verlangte nach mehr. Seither bange ich jede Nacht, dass ES wiederkommen könnte, angstvoll abwartend, und voller Panik. Und hoffe doch lüstern, dass ES mich nochmals, noch ein einziges, letztes Mal, lustvoll-schmerzhaft aussaugen und endgültig verschlingen möge. [Langes, bedrückendes Schweigen.] Ja, unsere Zeit ist leider um. Bei der nächsten Sitzung werden wir das eben Erfahrene noch einmal vertiefen. Donnerstag um vier. Und begleichen Sie, bitte, draußen an der Rezeption die Gebühr für die heutige Stunde! Leben Sie wohl, Mister Gonzalez. Ich danke Ihnen, Herr Doktor.
Uwe Hermann (*1961), gelernter Kraftfahrzeugmechaniker, hat sich als Hobby-Autor durch zahlreiche seit 1997 in C’T ALIEN CONTACT, PHANTASTISCH! und in Anthologien erschienene Erzählungen den Ruf erworben, in die Fußstapfen eines Fredric Brown zu treten. Sein Erzählungsband Die Abteilung für unvorhersehbare Vorhersehbarkeiten umfasst 21 Schmunzelgeschichten aus den Genres Science Fiction und Fantasy. www. uwehermann.com
UWE HERMANN Die unwiderlegbare Wahrheit über den Weihnachtsmann, den Osterhasen und andere geschichtliche Ungereimtheiten
Mein Name ist Jacob Jones und ich rekonstruiere die Vergangenheit. Ich bin einer von 428 Zeithistorikern, die dafür sorgen, dass das, was in den Geschichtsbüchern steht, auch der Wahrheit entspricht. Keine leichte Aufgabe, und dennoch haben ich und mein Team noch niemals versagt. Vielleicht war das der Grund, weshalb mich der Imperator mit diesem sonderbaren Auftrag betraute. »Den Weihnachtsmann?« Der humanoide Roboter reichte mir den schriftlichen Befehl. »Ein außerordentlich wichtiger Auftrag, wie ich wohl hinzufügen darf.« Ich blickte fassungslos in sein metallisches Gesicht. »Aber ich dachte immer, den Weihnachtsmann hätte es nie gegeben.«
»Imperator Charles der XXI. würde Sie wohl kaum in die Vergangenheit schicken, wenn dem so wäre. Ihr Befehl lautet: Bringen Sie ihm den Weihnachtsmann!« Der persönliche Roboter des Imperators drehte sich auf dem Absatz um und ließ mich ohne ein weiteres Wort in der Eingangshalle des Regierungsgebäudes zurück. Ich betrachtete noch einmal den Befehl in meiner Hand und verließ dann seufzend das Gebäude. Mein Weg führte mich durch das Kuriositätenkabinett des Imperators, in dem sich die absurdesten Kreaturen aus allen Jahrhunderten tummelten und das auch bald das neue Zuhause des Weihnachtsmannes werden würde. Jedenfalls, wenn es nach dem Willen von Charles dem XXI. ging.
Als ich am späten Nachmittag das Transmitternetzwerk betrat und kurz darauf auf der anderen Seite der Erde im Institut für geschichtliche Rekonstruktion und Wiederherstellung die Empfangsstation verließ, wusste mein Team schon über alles Bescheid. Paulus Schramm, der Leiter des Instituts und ein großer Verehrer des Imperators, erwartete mich bereits. »Wo bleiben Sie denn? Sie hätten schon vor Stunden zurück sein sollen«, fragte der kleine, hagere Mann, der aus mir unerfindlichen Gründen immer noch ein schlecht sitzendes Haarimplantat trug, während der Großteil der Bevölkerung schon lange dem Trend folgte und haarlos blieb. »Das Netzwerk war total überlastet. Ich musste stundenlang auf einen freien Platz warten«, antwortete ich. Schramm ließ mich kaum ausreden. »Kommen Sie! Ihr Team wartet schon auf Sie.« Er setzte sich in einen der bereitstehenden Schwebesessel und fuhr davon. Ich nahm den nächsten und folgte ihm.
Schramm und ich hielten auf dem Flur vor dem Besprechungszimmer an, stiegen aus und betraten den Raum. Mein Team bestand aus sieben Frauen und fünf Männern. Die Begrüßung fiel äußerst knapp aus, da Schramm sofort das Wort ergriff. »Ihre Aufgabe besteht darin, einen Weihnachtsmann zu beschaffen«, sagte er und alle Blicke richteten sich auf ihn. »Der Imperator lässt ihnen acht Tage Zeit für die Vorbereitungen. Dann werden einige von Ihnen in die Vergangenheit geschickt um seinen Befehl auszuführen.« Er seufzte hörbar. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie wir das in der kurzen Zeit schaffen sollen. Wir wissen fast nichts über den Weihnachtsmann. Weder wann, noch wo er lebte…« »Oder wie viele es gab«, unterbrach ich ihn. Er schaute mich an. »Wie bitte?« »Sie sprechen immer nur von dem Weihnachtsmann, aber es muss mehr als nur einen gegeben haben. Im Transmitterterminal habe ich die Wartezeit genutzt und die historischen Unterlagen durchgesehen. Demnach hat der Weihnachtsmann an einem bestimmten Tag im Jahr jedem Menschen ein Geschenk überbracht. Es ist zwar nicht überliefert, wie viele Menschen damals lebten, aber es waren sicher etliche. Ein Weihnachtsmann allein konnte diese Menge an Geschenken niemals rechtzeitig abliefern.« Schramm kratzte sich zwischen seinen spärlichen Haarbüscheln. »Und wie viele, vermuten Sie, hat es gegeben?« »Es muss ein ganzes Volk gewesen sein.« »Ein ganzes Volk?«, murmelte Schramm nachdenklich. Schließlich sagte er laut: »Dann sollte es wohl nicht allzu schwierig sein, einen von ihnen zu finden.« Er machte plötzlich ein zufriedenes Gesicht. Ich wandte mich an mein Team, das bis jetzt schweigend zugehört hatte. »Was wissen wir über den Weihnachtsmann? Gibt es Abbildungen?«
Anderson, einer meiner Unterhistoriker, richtete sich in seinem Sessel auf. »Wir haben sogar eine ganze Reihe von Abbildungen, teils in historischen Schriften, teils aus Funden bei Ausgrabungen.« Vor allen Anwesenden erschienen eine Reihe von Hologrammen in der Luft. »Das erste Bild zeigt Scherben eines antiken Getränkebehälters, der vor einigen Jahren gefunden wurde.« Auf dem Hologramm war eine beleibte, rot gekleidete Gestalt mit weißen Haaren und einem langen Bart zu sehen. Ihr Gesicht war so rund wie eine Kugel. Eine der Frauen schnappte entsetzt nach Luft. »Das nächste Bild zeigt ein typisches Transportmittel dieses Volkes: einen Schlitten, der von fliegenden, hirschähnlichen Säugetieren gezogen wird. Wo diese Tiere gelebt haben, konnten wir bis jetzt allerdings noch nicht herausfinden. Es gibt nirgendwo Knochenfunde oder Aufzeichnungen über sie.« So ging es weiter. Nachdem wir alle Bilder gesehen hatten, konnten wir uns ein ungefähres Bild vom Volk der Weihnachtsmänner machen. Schramm verschränkte die Arme. »Als ich von dem Auftrag hörte, hatte ich Bedenken«, sagte er und lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück. »Mittlerweile bin ich jedoch überzeugt, dass es uns gelingen wird, mit einem Weihnachtsmann zurückzukehren.« »Uns?« Ich ahnte Böses. »Ja, ich habe mich entschlossen, Sie zu begleiten. – Nicht als Ihr Vorgesetzter«, fügte er hastig hinzu, als er unsere entsetzten Gesichter sah. »Ich komme als Berater mit. Die Leitung haben wie immer Sie, aber Sie werden sicher verstehen, dass ich mir so einen wichtigen Auftrag, den Ihnen der Imperator sozusagen persönlich gegeben hat, nicht entgehen lassen kann.«
Niemand sprach ein Wort, doch die »Begeisterung« in den Gesichtern der anderen war unübersehbar. Innerlich seufzte ich. Ein Auftrag, der so begann, konnte kein gutes Ende nehmen. Ich teilte mein Team ein und beendete die Einsatzbesprechung. In den nächsten Tagen würden wir viel zu tun haben… Zwei Tage später begann der unangenehmere Teil der Vorbereitungen. Ich führte mein Team hinunter ins Kellergeschoss, wo der Verwandter stand. Der Verwandter war im Prinzip ein Transmitter. Es gab eine Sende- und eine Empfangsstation, die allerdings nicht Kontinente voneinander entfernt standen, sondern im selben Raum, keine vier Meter auseinander. Ein Techniker in einem roten Overall winkte uns ungeduldig heran. Meine Teamkollegen hatten es nicht besonders eilig, seiner Aufforderung nachzukommen. Sie trödelten herum, und so blieb mir nichts anderes übrig, als den Anfang zu machen. »Ich gehe als Erster«, sagte ich und betrat die Sendestation, die meinen Körper in Sekundenbruchteilen in seine Atome zerlegte. In der Empfangsstation wurde er fast im gleichen Augenblick wieder zusammengesetzt – jedoch nicht so, wie ich ihn seit meiner Geburt kannte. Ein Computer nahm Änderungen vor. Hier und da verschob er ein paar Atome, fügte neue ein oder entfernte andere – alles nach einem vorher festgelegten Programm. Auf diese Weise wurden schon seit Jahren sämtliche Krankheiten geheilt. Sobald ein Passagier einen Transmitter benutzte, sorgte eine Automatik dafür, dass gesundheitsgefährdende Veränderungen durch die Korrektur der Atome sofort wieder verschwanden. Ein netter Nebeneffekt der Transmittereisen. Normalerweise war ich froh, dass die Transmittertechnik sich im Laufe der Jahre so weit fortentwickelt hatte, doch als ich in
diesem Moment aus dem Verwandter trat, hätte ich gerne darauf verzichtet. Ich wog jetzt einhundertdreißig Kilogramm und war einen Meter achtzig groß. Mein Kopf war von dichtem weißen Haar bedeckt. Ebenso mein halbes Gesicht. Der lange, wellige Bart, der mir bis zur Brust reichte, kitzelte entsetzlich. Auch meine Kleidung hatte der Verwandter verändert. Aus meinem Thermooverall war eine dicke, rote Jacke mit weißem Pelzbesatz und Kapuze und einer ebensolchen Hose geworden. Meine Füße steckten in schwarzen Stiefeln, die an allen Ecken und Enden drückten. In einem übergroßen Spiegel neben dem Verwandter betrachtete ich mich ausgiebig. Ich war ein fast perfektes Ebenbild des Weihnachtsmannes geworden; lediglich mein Gesicht hatte noch etwas Ähnlichkeit mit dem Foto in meinem Sicherheitsausweis. Die 1. Regel der Zeithistoriker lautete: Keine Aufmerksamkeit erregen! Aufmerksamkeit verändert den Verlauf der Zeit! Ich hatte mich nicht als Weihnachtsmann verkleidet – ich war der Weihnachtsmann! Nur so konnte ich sicher sein, dass ich auf unserer Reise in die Vergangenheit nicht versehentlich die Geschichte veränderte. Die 2. Regel lautete: Tarnen! Nur durch Tarnung ist eine perfekte Anpassung an die Epoche möglich! (Siehe auch Regel Nr. 1) Ich betrachtete mich im Spiegel und konnte nicht umhin zuzugeben, dass ich dieser Regel entsprach. Als Weihnachtsmann inmitten eines Volkes von Weihnachtsmännern würde ich wohl schwerlich auffallen. »Der Nächste!«, rief ich, und meine nun um einige Oktaven tiefere Stimme klang mir wie Donnergrollen in den Ohren. Meine Teammitglieder starrten mich mit aschfahlen Gesichtern an. Im Laufe der nächsten Tage würden sie und ich in diesen Körpern herumlaufen und lernen, sie perfekt zu beherrschen.
Ich konnte nur hoffen, dass die anderen, von denen – wie ich wusste – einige ziemlich empfindlich waren, keine Schwierigkeiten machen würden.
Ich saß vor meinem Schreibtisch auf einem extra breiten Stuhl, den einer meiner Mitarbeiter kurzfristig besorgt hatte, als die Tür aufflog und vier Mitglieder meines Teams hereingestürzt kamen. Obwohl sie alle wie Weihnachtsmänner aussahen, war mir sofort klar, wen ich vor mir hatte: Es waren die Frauen, die mich begleiten sollten. »Auf keinen Fall werden wir in dieser peinlichen Verkleidung in die Vergangenheit reisen!«, brummte eine von ihnen sofort im tiefsten Bariton. Ich klappte den Einsatzplan, an dem ich gearbeitet hatte, zu und schaute sie an. »Worum geht es?« »Worum es geht? Was für eine Frage! Um unser Aussehen. Das ist erniedrigend. Wir sind Frauen, wie können Sie da von uns erwarten, dass wir als Männer herumlaufen?« Ich hob die Arme. »Meine Damen, bitte! Es gibt keine andere Möglichkeit. In den alten Schriften wird nirgends eine Weihnachtsfrau erwähnt. Sie können die Reise nur als Mann mitmachen. Andernfalls würden Sie auffallen, und was das für das Gefüge der Zeit bedeuten würde, muss ich Ihnen ja wohl nicht extra erklären.« »Wenn es damals keine Frauen gegeben hat, wie haben die Weihnachtsmänner sich denn dann vermehrt?«, fragte eine der Frauen spöttisch. »Ich weiß es nicht. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber.« Ich kratzte mich unter meinem juckenden Bart. »Aber was ist denn so schlimm daran, als Mann herumzulaufen?« »Das kann nur ein Mann fragen«, entgegnete eine der Frauen zynisch. Sie fasste sich in den Schritt. »Es geht um dieses…
dieses Ding zwischen unseren Beinen. Es ist widerlich. Bei jedem Schritt schlackert es, als ob es gleich abfallen würde. Ich verstehe nicht, wie ihr Männer damit zurechtkommt.« Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. »Wir Männer laufen schon seit zigtausenden von Jahren damit herum, und ich habe noch von keinem Fall gehört, dass so ein… äh… Ding abgefallen ist.« »Mag sein, aber wir wollen es trotzdem nicht!« Einer der Weihnachtsmänner deutete auf seinen Bart. »Und diese Zotteln. Ich kann nichts essen, ohne dass die Hälfte in ihnen hängen bleibt.« Mein Bildfon klingelte und rettete mich vor der verbalen Zerfleischung der Frauen. Ich nahm den Anruf entgegen. Techniker Murrays Gesicht, von Sorgenfalten zerfurcht, erschien auf dem Bildschirm. »Oberhistoriker Jones, wir haben hier ein Problem mit dem Material aus der genetischen Zuchtstation…«, begann er. »Ich komme sofort«, antwortete ich und schaltete hastig das Bildfon aus, bevor Murray erwidern konnte, dass das nicht nötig sei. Ich erhob mich, so schnell es mein neuer Körper zuließ. »Sie müssen mich entschuldigen. Techniker Murray braucht mich. Wenden Sie sich doch bitte an Institutsleiter Schramm.«
Da Schramm wollte, dass wir uns an unsere neuen Körper gewöhnten, hatte er uns die Benutzung der Schwebesessel untersagt. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf altmodische Art und Weise durch die Korridore des Instituts zu bewegen. Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Anscheinend gewöhnte ich mich langsam an mein neues Gewicht.
Als ich das Gebäude verließ und auf das Außengelände hinaustrat, war ich zwar außer Atem, aber mein neuer Körper schien keine bleibenden Schäden davongetragen zu haben. In einiger Entfernung erhob sich ein Käfig, der so groß war, dass er den halben Hof bedeckte. Ein knappes Dutzend brauner, mit mächtigen Geweihen versehene Tiere flogen in ihm umher. Vor dem Käfig stand eine exakte Nachbildung des Schlittens, dessen Hologramm Unterhistoriker Anderson uns vor ein paar Tagen gezeigt hatte. Einer von Murrays Leuten saß auf dem Schlitten. Er trug einen dicken Schutzanzug mit Helm und hielt mit verkrampftem Gesicht die Zügel fest, die zu den eingespannten Rentieren führten. Noch wurden die nervösen Tiere von mehreren Mitarbeitern zurückgehalten, aber das angstverzerrte Gesicht des Mannes auf dem Schlitten verriet mir, dass das nicht so bleiben würde. Murray trat an meine Seite. »Sind Sie es, Oberhistoriker Jones?« »Ja.« Ich schaute zu dem Schlitten hinüber. »Es gibt Probleme?« Murray nickte genervt. »Das Material, das uns die genetische Zuchtstation geliefert hat, ist vollkommen unbrauchbar. Zugegeben, es fliegt – aber was nützt das, wenn es sich nicht lenken lässt?« Ich sah, wie der Mann im Schutzanzug ein Zeichen gab, woraufhin die Helfer die Rentiere losließen und hastig zur Seite sprangen. Einer von ihnen war nicht schnell genug und wurde von den losstürmenden Tieren beiseite gestoßen. Der Schlitten ruckte an. Funkenstobend wurde er über den Platz gezogen. Der Kutscher zerrte verzweifelt an den Zügeln und rief Kommandos, ohne dass die Tiere in irgendeiner Form davon Notiz nahmen. Nach ein paar Metern erhob sich der Schlitten plötzlich in die Luft. Anfangs ging alles gut, doch
dann schwenkte die eine Hälfte der Rentiere nach rechts ab, während die andere Hälfte weiter geradeaus wollte. Das Geschirr, mit dem die Tiere eingespannt waren, zerriss, und der nun antriebslose Schlitten stürzte aus mehreren Metern Höhe zurück auf den Boden. »Das sind Bestien«, kommentierte Murray das Geschehen. »Es ist kein Wunder, dass das Volk der Weihnachtsmänner ausgestorben ist. Wahrscheinlich haben diese Tiere sie gefressen!« Mehrere Helfer liefen zu dem abgestürzten Schlitten hinüber, zogen den Mann unter den Trümmern hervor und rannten im Dauerlauf zu einem in der Nähe aufgestellten Transmitter. »Ich sag es ja: Bestien!« Ich riss meinen Blick von den Helfern los, die versuchten die gelandeten Rentiere wieder einzufangen. »Wir haben nicht mehr die Zeit, uns neues Material liefern zu lassen. Sie müssen mit dem zurechtkommen, was wir haben «, erwiderte ich. »Jawohl«, seufzte Murray, als hätte er diese Reaktion erwartet. Vor uns spannten die Helfer die eingefangenen Rentiere bereits wieder vor einen Ersatzschlitten, auf dem ein weiterer Freiwilliger saß.
Für einen Moment dachte ich daran, zurück in mein Büro zu gehen, doch ich traute den Frauen durchaus zu, dass sie dort noch auf mich warteten. Also ging ich stattdessen zu Techniker Schwarz, der für unsere übrige Ausrüstung verantwortlich war. Die Produktionsräume, in denen Schwarz und sein Team arbeiteten, glichen in der Größe einer Industriefertigungsanlage. Zwischen den Fabrikatoren, die zuvor am Computer konstruierte Geräte aus Atomen
zusammensetzten und natürlich auch auf Transmittertechnologie basierten, sah ich Techniker Schwarz stehen und mit einem seiner Mitarbeiter diskutieren. Schwarz war nicht besonders groß, und obwohl sich dieser Umstand mit jedem Transmitter hätte beheben lassen, weigerte er sich beharrlich, dies zu tun. Er war ein entschiedener Gegner von Schönheitstransitionen und Verjüngungskuren. Schwarz sah mich eintreten. »Heh!«, brüllte er quer durch die Halle, wobei er mühelos den Lärm der Maschinen übertönte. »Wer hat Sie denn hier hereingelassen? Dies ist ein Sicherheitsbereich!« »Ich bin es, Oberhistoriker Jones!«, rief ich zurück. Er winkte mich zu sich herüber. »In Ihrer neuen Gestalt habe ich Sie nicht gleich erkannt«, sagte er, als ich neben ihm stand. »Wie gehen die Arbeiten an dem Transportbehälter voran? Ich hoffe, hier gibt es nicht auch noch Probleme?« »Oh nein! Ganz im Gegenteil. Wir haben bereits unseren Prototyp transmittiert.« Ich folgte Techniker Schwarz zu einem Metalltisch, auf dem ein prallgefüllter, brauner, grob gewebter Sack lag. »Das ist er!«, sagte Schwarz mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. Er nahm den Sack vom Tisch und hängte ihn sich über den Rücken. »Der Transportbehälter ist ergonomisch geformt und auch auf längeren Strecken bequem zu tragen. Er hat eine Gesamtkapazität von fünf Tonnen, bei einem maximalen Gewicht von nur drei Kilogramm.« Schwarz nahm den Sack wieder vom Rücken und beförderte ihn zurück auf den Tisch. Dann öffnete er ihn. »Wir haben einen Materiekomprimierer eingebaut, der nur auf anorganische Materie reagiert.« Schwarz holte nacheinander etliche Musikinstrumente, ein durch Muskelkraft angetriebenes, antikes Fortbewegungsmittel und einen kleinen
Haushaltsroboter heraus, die vor meinen Augen alle wieder ihre normale Größe annahmen. »Sehr gut«, sagte ich ehrlich beeindruckt. Schwarz ließ alles wieder im Innern des Sackes verschwinden. »Da noch nicht feststeht, in welche Epoche Sie reisen, haben wir die Geschenke so ausgewählt, dass sie kein Aufsehen erregen.« Genau das war ein weiteres Problem: Obwohl Schramm zwei Teams für historische Recherchen darauf angesetzt hatte, gab es noch immer keine genaue Zeitangabe. Wir wussten weder wann, noch wo das Volk der Weihnachtsmänner gelebt hatte, oder warum es ausgestorben war. Daran sollte sich bis zum Tag unserer Abreise nichts ändern.
Das Transportmittel, mit dem wir die Zeit durchqueren würden, war eine fünfzehn Meter durchmessende, leuchtende Scheibe mit abgeflachten Kanten. Sie stand auf einem freien Platz zwischen den Institutsgebäuden, umringt von einer Gruppe Schaulustiger, die teilweise schon seit Stunden auf den Start warteten. Über ihren Köpfen breitete sich ein strahlend blauer Himmel aus, von unserer Wetterkontrolle gesteuert; lediglich in den Grünanlagen fiel etwas Regen. Einer nach dem anderen gingen wir auf den Zeittransporter zu, auf dem der Schlitten mit den Rentieren bereits auf uns wartete. Acht Weihnachtsmänner – trotz vehementer Proteste war es den Frauen nicht gelungen, Schramm umzustimmen –, jeder mit einem prallgefüllten Sack voller Geschenke auf dem Rücken. Einige der Weihnachtsmänner vor mir bewegten sich unverkennbar weiblich. Die Transmittertechnik vermochte zwar einiges, aber weibliche Gewohnheiten konnte auch sie nicht ausmerzen.
Schramm, der neben mir ging und jetzt ebenfalls wie ein Weihnachtsmann aussah, leierte unentwegt herunter, wie wichtig es für die Stabilität der Zeit war, nicht aufzufallen. Meine Aufmerksamkeit galt mehr den Rentieren, denen wir unser Leben anvertrauen würden. Ich hatte sie in Aktion erlebt und wusste, wozu sie fähig waren. Doch anscheinend war das flaue Gefühl in meiner Magengegend unbegründet, denn die Tiere wirkten vollkommen ruhig. Nur manchmal hob eines von ihnen den Kopf, schaute in unsere Richtung oder atmete geräuschvoll aus. Murray stand bei ihnen und hielt die Zügel. »Gute Arbeit«, sagte ich. »Loben Sie mich nicht zu früh«, antwortete er mit säuerlichem Lächeln. »Die einzige Möglichkeit, die Tiere ruhig zu stellen, waren Drogen.« »Drogen?« Erst jetzt bemerkte ich den teilnahmslosen Blick der Tiere. Urplötzlich breitete sich das flaue Gefühl in meinem Magen über den ganzen Körper aus. »Keine Sorge«, sagte Murray schnell, »die sind so vollgepumpt, dass sie nichts mehr merken.« Wir verstauten unsere Transportbehälter auf der Ladefläche und stiegen auf. Der Schlitten war so groß, dass wir alle bequem Platz fanden. »Meine Damen und Herren…«, begann Schramm seine Ansprache, von der wir wussten, dass sie nicht uns, sondern nur den Zuschauern galt. »Wir wurden ausgewählt, um im Dienste des Imperators unsere Pflicht zu erfüllen. Unserem Fleiß haben wir es zu verdanken, dass wir heute dabei sein dürfen, wenn eine weitere Lücke in der Geschichte geschlossen wird.« So ging es eine ganze Weile weiter. Anschließend zählte Schramm noch einmal alle zwölf Regeln für Zeithistoriker auf. Erst dann gab er die Erlaubnis zum Start. Aus den Tiefen meines Weihnachtsmannkostüms holte ich die Fernbedienung des Zeittransporters hervor und aktivierte
ihn. Plötzlich lag ein leises Summen in der Luft. Die Rentiere hoben ihre Köpfe und spitzten die Ohren. Eine bunte Lichthaube stülpte sich über uns, während die Plattform leicht zu zittern begann. Abrupt veränderte sich die Tageszeit. Eben noch war es früher Morgen gewesen, und im nächsten Moment funkelten über uns die Sterne. Die Lichthaube fiel in sich zusammen und verschwand dann ebenso plötzlich wie das Summen und die Vibrationen der Plattform. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Zeittransporter stand auf einer Wiese. In einiger Entfernung sahen wir die dunkle Silhouette eines Waldes. Menschen waren keine in der Nähe. Ich schaltete das Anti-Sichtfeld der Plattform ein und wies Hilfshistoriker Rick, der neben mir auf dem Kutschbock saß, an loszufliegen. Rick ruckte an den Zügeln. Ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Finger um die hölzerne Lehne des Sitzes krallten. Die Rentiere liefen ein paar Schritte, dann hoben sie ab. Der Boden blieb unter uns zurück. Mein Magen rebellierte und beruhigte sich auch dann nicht, als klar wurde, dass die Rentiere nicht vorhatten, getrennte Wege zu gehen. Unter uns zog die prähistorische Landschaft dahin. Die Gebäude waren von primitiver Bauweise. In vielen brannte Licht. Es flackerte nicht, was auf eine frühe Form der Elektrizität hindeutete. Nach einer Weile überflogen wir eine größere Siedlung. Ich drehte mich zu Unterhistoriker Anderson herum. »Noch immer nichts?« Anderson, der ein kleines Messinstrument in der Hand hielt und ständig dessen Anzeige kontrollierte, schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht – sie sind alle viel kleiner als wir angenommen haben.« Er reichte mir das Messinstrument.
In dem Anzeigefeld befand sich ein Bildschirm, der die Häuser, über die wir hinwegflogen, abbildete. Um jeden Schornstein blinkte eine rote Markierung, neben der die Außenmaße aufleuchteten. Unterhistoriker Anderson hatte Recht. Keiner der Schornsteine war groß genug, um durch ihn ins Haus gelangen zu können. Und das, obwohl in unzähligen Schriften stets davon berichtet wurde, dass der Weihnachtsmann auf diese Weise das Haus betrat! »Vielleicht waren die Menschen doch kleiner, als wir angenommen haben«, überlegte Schramm laut. »Aber doch nicht so klein!«, widersprach ich und gab Anderson das Messinstrument zurück. »Viel wahrscheinlicher ist, dass wir in der falschen Epoche gelandet sind.« »Sollen wir abbrechen?«, fragte eine der Frauen. »Auf keinen Fall!«, rief Schramm entsetzt. »Wie würden wir denn dann vor dem Imperator dastehen?« Der Imperator war mir herzlich egal, aber wenn wir jetzt zurückkehrten, würden die Recherchen von vorne beginnen, und ich müsste noch etliche Tage in diesem übergewichtigen Körper herumlaufen. »Wir landen in der Nähe eines der Häuser. Vielleicht finden wir einen anderen Weg hinein«, entschied ich. Hilfshistoriker Rick lenkte die Rentiere so abrupt hinunter, dass wir unsere Mützen festhalten mussten. Wir landeten in der Nähe eines Hauses auf einer unbefahrenen Straße. Durch den Lärm aufgeschreckt, bellten ein paar Tiere. Ich griff nach dem Transportbehälter mit den Geschenken und stieg aus. »Ich gehe allein. Wir müssen so wenig Aufsehen erregen wie möglich.« Die anderen nickten. Lediglich Schramm wirkte etwas enttäuscht.
Die meisten der Fenster waren unbeleuchtet, nur in zweien brannte Licht. Ich näherte mich dem Haus auf einem Kiesweg. Mein Herz schlug so heftig, dass ich schon ernsthaft befürchtete, ich könnte bleibende Schäden zurückbehalten. Ich sollte Kontakt mit der Bevölkerung aufnehmen und herausfinden, wo das Volk der Weihnachtsmänner lebte. Zwar hatte ich diese Situation schon unzählige Male im Simulator trainiert, aber wie wenig so eine Maschine die Wirklichkeit vorhersagen konnte, hatten schon die zu engen Schornsteine gezeigt. Ich umrundete das Gebäude und entdeckte auf der Rückseite ein angelehntes Fenster, durch das ich ins Haus eindrang. Ein paar Blumentöpfe, die auf der Fensterbank standen, fielen meinem massigen Körper zum Opfer. Ich tastete mich durch das dunkle Zimmer bis in den Flur vor. Hier leuchtete eine schwache Deckenlampe. Aus einem Zimmer am gegenüberliegenden Ende des Flurs drang Lärm. Ich schob meine Mütze zurecht, strich mir über meinen Bart und ging auf die Tür zu. Kurz bevor ich sie erreichte, öffnete sie sich und eine Frau trat heraus. Sie sah mich und blieb mit einem Ausdruck grenzenloser Überraschung im Gesicht stehen. »Hohoho!«, rief ich, wie ich es im Sprachtraining der letzten Tage geübt hatte. Aus meinem Transportbehälter nahm ich einen Weihnachtsbaum heraus (wir hatten ihn nach alten Bildern rekonstruiert), der mit einem lauten »Plop« seine natürliche Größe annahm. Die Augen der Frau weiteten sich. Dann stieß sie einen durchdringenden Schrei aus. Erschrocken ließ ich den Baum fallen, dessen Kugeln sich lösten und über den Boden kullerten. Im Türrahmen hinter der Frau tauchte ein Mann auf. Er schaute nicht weniger überrascht.
»Hohoho!«, versuchte ich es erneut, was aber nur zur Folge hatte, dass der Mann wieder im Zimmer verschwand, um Sekunden später mit einem langläufigen Gewehr zurückzukehren. Mit einem lauten Knall entlud sich die Waffe. Neben mir an der Wand zersprang ein Bild in unzählige Stücke. In diesem Moment beschloss ich, die Kontaktaufnahme abzubrechen. Ich drehte mich um und rannte den Weg zurück, den ich gekommen war. Der Mann brüllte mir einen Schwall unverständlicher Worte hinterher, unterstrichen von einem erneuten Schuss aus seiner Waffe. Die Kugel streifte meinen Transportbehälter, der zerriss und seine fünf Tonnen Geschenke im Flur verteilte. Während sie wieder ihre Originalgröße annahmen, verschwand ich im Zimmer und kletterte hastig durch das Fenster in den Garten. In den umliegenden Häusern gingen die Lichter an. Menschen schauten heraus und beobachteten mit sprachlosem Erstaunen, wie ich in den Schlitten sprang und davonflog. Wir versuchten es noch in vier weiteren Häusern. Die Reaktionen waren zwar nicht ganz so drastisch, aber nichtsdestotrotz ebenso niederschmetternd. Erst dann gestand ich mir ein, dass die Menschen in dieser Epoche den Weihnachtsmann entweder nicht kannten oder nicht damit rechneten, dass er in ihrem Haus auftauchte. Also beschloss ich, einhundert weitere Jahre in die Vergangenheit zu reisen. Die Häuser sahen anders aus, aber auch in dieser Zeit waren ihre Bewohner bereits mit elektrischer Energie vertraut. Dieses Mal versuchte Schramm eine Kontaktaufnahme. Prompt wurde er von den herbeigerufenen Ordnungskräften abgeführt. Wir mussten ihn aus einer Arrestzelle befreien und erregten dabei noch mehr Aufsehen als bei meinem ersten Versuch. Wieder ging es weitere einhundert Jahre in die Vergangenheit.
Nachdem wir auf diese Weise in zwölf Stunden fast eintausend Jahre Geschichte durcheilt hatten und selbst unsere Rentiere erschöpft waren, wurde auch Schramm klar, dass es den Weihnachtsmann niemals gegeben hatte.
Der Zeittransporter stand in einer weitläufigen, menschenleeren Gegend, in der es rundherum nichts anderes gab als Büsche, Bäume und knorrige Sträucher, die aussahen, als wären sie biologische Fehlversuche. Schramm saß auf dem Schlitten und versank in Selbstmitleid, während wir es uns auf Stühlen bequem machten, die wir ebenso wie den solarbetriebenen Kamin aus einem der Transportbehälter geholt hatten. »Wir werden mit leeren Händen zurückkehren«, jammerte Schramm. »Das ist das erste Mal, dass ich Sie begleite, und es endet gleich in einem Fiasko!« »Ich bin sicher, der Imperator versteht das«, sagte ich, während ich verzweifelt versuchte, meine Stiefel auszuziehen. Schramm schüttelte erregt den Kopf. »Aber ich verstehe das nicht! Es gibt unzählige Aufzeichnungen und Bilder von diesem Weihnachtsmann, und trotzdem scheint er niemals gelebt zu haben. Warum all die Mühe? Nein, nein, nein! Ich kann das nicht verstehen! Das…« Schramm verstummte so plötzlich, dass ich mich erstaunt zu ihm umdrehte. Er saß aufrecht auf dem Schlitten und schaute zu den Rentieren hinüber, die sichtlich unruhig geworden waren. Sie tänzelten auf der Stelle herum und reckten ihre imposanten Geweihe in den Himmel. Eines der Tiere starrte Schramm mit funkelnden Augen an.
Die Augen! mit einem Mal wirkten sie nicht mehr im geringsten abwesend. Ganz im Gegenteil! In ihnen lag ein bösartiger Ausdruck. »Vorsicht!«, rief ich, sprang auf und rannte zum Schlitten hinüber. Bevor Schramm überhaupt begriff, was mir aufgefallen war, setzten sich die Rentiere in Bewegung. Der Schlitten machte einen Satz nach vorne, und der Institutsleiter wurde rücklings zwischen die Sitzbänke befördert. »Halten Sie die Zügel fest!«, rief Hilfshistoriker Rick neben mir, doch Schramm war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht vom Schlitten zu fallen, der sich von den Rentieren gezogen in die Luft erhob. Eine bange Sekunde lang befürchtete ich, dass die Tiere Kleinholz aus dem Schlitten machen würden, doch sie schienen sich auf eine gemeinsame Richtung geeinigt zu haben. Schramms Hilfeschreie wurden zunehmend leiser. »Und nun?«, fragte jemand. Ich riss meinen Blick von den Rentieren los, die mit Schramm und unseren Transportbehältern in der Ferne verschwanden. »Wir brechen ab und kehren mit einer Suchmannschaft zurück. Ohne fremde Hilfe werden wir Schramm niemals wiederfinden.« Ich hatte geahnt, dass dieser Auftrag in einer Katastrophe enden würde. Aber dass ich meinen Vorgesetzten in der Gestalt des Weihnachtsmannes in der Vergangenheit zurücklassen musste, hatte ich nicht im Traum erwartet. Ich verfügte nicht über genug Fantasie, um mir vorstellen zu können, welche geschichtlichen Konsequenzen das für die Zukunft haben mochte. Wir bereiteten den Transporter vor und kehrten in unsere Zeit zurück.
Nach der Ankunft war ich im ersten Moment vollkommen verwirrt. Ich schaute mein Team an und sah, dass es ihnen nicht anders ging. Direkt vor uns stand ein Denkmal, das laut Inschrift Paulus Schramm, den ersten Weihnachtsmann zeigte, der vor gut eintausend Jahren plötzlich aufgetaucht war und die Weihnachtsmann-Dynastie gegründet hatte. Das Gesicht der Statue kam mir seltsam vertraut vor. Es hatte etwas mit meinem letzten Auftrag zu tun, doch als ich darüber nachdachte, wollten mir keine Einzelheiten einfallen. Selbst der Schwamm wilder Rentiere, der über unseren Köpfen dahinzog, kam mir ungewöhnlich vor. Was war nur geschehen? Meine Erinnerungen schlugen Purzelbäume. »Jacob Jones!« Eine Gestalt in der roten Uniform eines Hilfsweihnachtsmannes rief meinen Namen. Mit schnellen Schritten eilte sie auf mich zu. »Hohoho!«, begrüßte sie mich. »Sie und Ihr Team müssen sich sofort im Verwandter melden. Der Große Weihnachtsmann persönlich, Charles der XXI. hat einen Auftrag für Sie! Es geht um eine mythische Gestalt, deren Existenz Sie nachweisen sollen.« Er reichte mir den schriftlichen Befehl. Ich las ihn und spürte, wie mir abwechselnd heiß und kalt wurde. »Den Osterhasen?«, fragte ich fassungslos. Ich hatte plötzlich ein seltsames Déjà-vu-Erlebnis…
Helmuth W. Mommers (*1943) hat sich Namen als Illustrator, Übersetzer, Literaturagent, Herausgeber von neun Anthologien und, in Zusammenarbeit mit Ernst Vlcek, als Autor eines Romans und der Werkausgabe Traumwelten gemacht. Mit der Sammlung Sex, Love, Cyberspace und zahlreichen Erzählungen in C’T, NOVA, PHANTASTISCH!, ALIEN CONTACT und in Anthologien feiert er seit 2002 sein Comeback. www.helmuthmommers.de
HELMUTH W. MOMMERS Universal Soldier
Im Angesicht des Todes vereinigen sich vor meinem geistigen Auge alle Schrecken aller Welten zu einem Inferno, wie es nicht einmal Dantes Feder hätte entspringen können. Hundert Tode erlebe ich auf einmal, ich werde zerstückelt, zerfetzt, verschmort; ich verliere ein Auge, einen Arm, beide Beine; die Gedärme quellen hervor, der Brustkasten platzt wie eine überreife Frucht; die Haut wirft Blasen, das Fleisch verfault unter einer Bio-Attacke; die Ganglien schrumpfen, die Synapsen spielen verrückt. Ich drehe durch und lache. Ich habe jetzt die totale Erinnerung.
Es war ein Himmelfahrtskommando, wie immer. Ob hier auf Aldebaran III oder auf irgendeiner anderen der unzähligen Welten, und egal was für widerliche Kreaturen ihnen im Wege
standen – wenn man erst sie schickte, hieß das, wieder einmal mit dem Leben abschließen. Daran hatte er sich längst gewöhnt. Er war ein Universal Soldier – ein Klonkrieger und eine Kampfmaschine. Als das feindliche Feuer vorübergehend nachließ und sich mehr auf eine der Ranken konzentrierte, sah Leutnant Neil seine Chance. Auf sein Signal hin sprang der kleine Trupp, den er befehligte, aus seiner Stellung und hetzte über den Sandstreifen, der sie von den Felsen trennte. In wildem Zickzack verliefen ihre Sprünge, sie hüpften wie Sandflöhe, in hohen Bögen, kaum gelandet federten sie schon wieder ab, ein Schock für die Hydraulik ihrer Exoskelette, und schon schnellten sie weiter. Natürlich setzte sofort Sperrfeuer ein, nur bedingt zurückgebunden durch die wenigen Mann, die ihnen Rückendeckung gaben. Gleißend war das Licht der Laser auf beiden Seiten, die ihre Klingen kreuzten. Weißbläulich durchschnitt es den grünlich flirrenden Himmel unter einem fremden Gestirn und verwandelte den quarzithaltigen Boden in blubbernden Glasfluss. Aber nicht die Wahl der Waffen würde die Entscheidung herbeiführen – nur durch den persönlichen Einsatz, so wagemutig wie tollkühn, konnte der Feind, der in den Berghöhlen Unterschlupf gesucht hatte, gestellt und besiegt werden. Wenn es ihnen denn gelänge, die Felsen zu erreichen. Und wenn nicht ihnen, dann dem nächsten Trupp. Oder dem übernächsten. Als sie dort ankamen, fehlten drei Mann von Neils Kommando. Nun waren sie nur noch zu acht, hier am Fuße der Berge, zwei davon nur bedingt einsatzfähig: Paulus’ eine Körperhälfte war mit der Ausrüstung verschmolzen, die Stangen des Exoskeletts lagen plötzlich unter statt über dem Fleisch – selbst durch die Atemmaske war der beißende
Gestank zu riechen; Konrad fehlte der linke Arm, der Stumpf war vom sengenden Strahl kauterisiert, man würde ihn nachwachsen lassen, wenn noch genügend von seinem Körper übrig bliebe, dass es sich lohnte; die Toten waren da besser dran, sie bekamen eine hochwertigere Version ihres eigenen Klons. Neil spähte empor. Auf der Innenseite seines Visiers liefen die Daten als grüne Leuchtspur von unten nach oben: Hundert Meter höher das feindliche Nest, fast senkrecht über Klippen, schroffe Grade, kaum zugänglich, dafür auch vom Feind nicht kontrollierbar, solange sich dieser in den Höhlen versteckt hielt. Neil atmete schwer. Er blickte in schmutzverkrustete Gesichter, soweit sie nicht von Atemmaske oder Visier bedeckt waren. Die Männer kauerten im Sand, mit dem Rücken an den Felsen, den Blick auf Neil gerichtet. Das Weiß ihrer Augäpfel leuchtete violett durch die getönte Sichtscheibe. Neil zeigte auf Konrad. »Feuerschutz.« Dann auf Paulus. »Du wartest.« Paulus nickte, sein System hatte die Schmerzschwelle auf fast Null reduziert. Konrad grinste sogar; er stemmte den Bügel der Hechler gegen die rechte Achsel und täuschte Feuerstöße vor. »Und los geht’s!« Neil fuhr die Haken an Füßen und Händen aus und kletterte nach oben. Die übrigen folgten ihm wie Ameisen, die einen Felsen hinaufkrabbelten. Aus der Ferne dröhnten die dumpfen Einschläge von Sonic-Granaten, ließen die Trommelfelle bis in die Hirnzellen vibrieren. Kaum hatten die ersten drei einen Felsüberhang gemeistert, waren bäuchlings auf das winzige Plateau gerobbt, da empfing sie Feindfeuer aus einer ganz anderen Richtung; aber sie schmolzen den Fels nicht zu einer Lavamasse, es waren Sprengprojektile. Tausende Gesteinssplitter sirrten über ihre Köpfe, und nicht wenige durchschlugen schmerzhaft die
Panzerung, schnitten hässliche Furchen in bloßes Fleisch, zernarbt wie es ohnehin war. Ein halbes Dutzend schrammte in Neils rechten Oberschenkel, und erst das automatisch einsetzende Sedativ ließ den sengenden Schmerz einer barmherzigen Taubheit weichen. Mehr ahnten als sahen sie, dass Konrad das Feuer erwiderte, unterstützt von Paulus und den in Deckung Verbliebenen. Neil und seine zwei Gefährten robbten aus der Feuerzone, die anderen suchten einen weniger exponierten Aufstieg. Bis sie endlich den Eingang zum Höhlensystem erreicht hatten, waren sie nur noch zu viert. Geschützt von einem Felsvorsprung, entsicherten sie die Brandbomben, traten blitzschnell vor, einer nach dem anderen, selbst Neil, und schleuderten sie ins gähnende Loch. Der beißende Qualm hatte sich kaum verzogen, da stürmten sie, Neil hinterdrein humpelnd, die Laser im Anschlag und auf volle Kraft eingestellt, todesmutig vorwärts ins Unbekannte – ohne zu denken, ohne zu fühlen, allein von dem übermächtigen Trieb beseelt zu überleben, ich oder du – Universal Soldier gegen stinkendes Monster. Die Höhle war leer, wie sie zu spät herausfanden. Neil drehte sich um, blickte einmal mehr dem Tod ins Angesicht. Er lachte, obwohl er hätte brüllen können vor Wut und Enttäuschung. Er lachte noch, als sich das Fleisch schon vom Schädelknochen schälte, lachte, bis die aufgequollene Zunge seine Luftröhre verschloss.
Ich habe einen neuen Körper. Das heißt, ich habe meinen alten wieder, als er vierundzwanzig war. Viel älter wird er ohnehin nicht; einmal habe ich es auf fast sechsundzwanzig geschafft. Nicht, weil ich jeden Einsatz überstanden habe, eher einer kleinen Auszeit wegen – da hatte ich mir noch eingebildet, eine
Familie gründen zu müssen. Vorbei ist vorbei. Außerdem kommt immer noch eine gewisse Zeit für die Anpassung hinzu; »Rehabilitation« nennen sie das, wenn sie Körper und Psyche des neuen Klons in Einklang bringen. Und dann, natürlich, Heimurlaub – für die meisten von uns US drei Wochen auf den Putz hauen, die sauer verdienten Galaks für Spiel und Spaß verbraten, wenn Sie wissen, was ich meine. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nicht von den Matrosen auf intergalaktischen Schiffen. In jedem Port eine Braut… Ich grinse mein Spiegelbild an. Glatt und frisch wie das eines Kadetten, nicht eine Schramme zu sehen. Ich atme ein und winkle den Arm vor der Brust an, spanne den Bizeps. Dazu blecke ich die Zähne. Ich knurre. Rolle die Augen. So viel zu euch Pack! Ihr werdet mich nicht mehr los, ich hetze euch noch im hintersten Winkel des Universums. Wir Menschen geben nie auf… Genug der Faxen. Ich sehe meine Augen und bin ernüchtert. Sie blicken mich an wie die eines Vierzigjährigen. Wenn ich mein Erstgeburtsdatum in Betracht ziehe, müsste ich jetzt über Fünfzig sein. Vierundzwanzig voll erlebt, gut sechzehn zwischen zahllosen Wiedergeburten und Einsätzen verbracht – das ergibt den Erfahrungsschatz eines Vierzigjährigen. Die restliche Zeit – futsch! Keine Erinnerung daran, nicht einmal an den letzten Einsatz. Nicht an die Kämpfe, nicht an die Schmerzen, nicht an die vielen Tode. Ob mir diese Erinnerungen fehlen? Habe ich etwas verpasst? Gab es auch schöne Seiten daran? Was mich in die Realität zurückbringt. Die schönen Seiten: Hier auf Mordov, dem nächsten Reha-Stützpunkt, gibt es alles, was ein Soldatenherz höher schlagen lässt – Wein, Weib und Gesang, wie man so sagt. Dazu kommen noch Spiel und Ekstase. Sinnlos, die Kröten aufzusparen. Wofür auch? Lebe ich nicht ewig?! – Jedenfalls, solange der verdammte Krieg
andauert, und der währt schon eine kleine Ewigkeit. So wie die Dinge stehen, wird er wohl noch lange dauern.
»Na, wie fühlen Sie sich?«, fragte der Stabsarzt im Rang eines Oberst, flankiert von einer Ordonanz und einem Mann in Schwarz: Sah aus wie von einem Begräbnisinstitut. »Prima«, sagte Neil. »So gut wie neu.« Er schob den Brustkasten vor. Er dachte an die letzten Tage, die er in vollen Zügen genossen hatte. Er grinste. »Bereit für neue Taten?« Die Frage war rein rhetorisch, natürlich erwartete ihn der nächste Auftrag. »Sir!« Neil stand stramm. »Zu jeder Schandtat, Sir!« Er blickte erwartungsvoll. »Wann geht’s los?« »Morgen früh, Sie können Ihren Marschbefehl gleich abholen.« »Sir?« Der Stabsarzt lächelte wissend, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Kein Brain-Scan diesmal.« Er blickte bedeutungsvoll Richtung Zivilist. »Das ist vorbei. – Sie sind jetzt eine verbesserte Version.« »Sir – wie darf ich das verstehen?« »Also, zum einen haben wir natürlich einige strukturelle Modifikationen vorgenommen, wie immer, wenn wir neu klönen. Sie werden sie nicht sofort erkennen, da fehlen Ihnen die Vergleichswerte von Ihren letzten Einsätzen. Außerdem haben wir die Sensorik nochmals geschärft – und auch die Ausdauer erhöht…« Der Arzt lächelte schelmisch, hob eine Augenbraue. »Nichts bemerkt?« Neil dachte an die ausschweifenden Nächte der letzten drei Wochen und war um eine Erklärung reicher. »Sonst noch eine Überraschung, Sir?« Der Stabsarzt nickte dem Zivilisten zu.
»Wir haben eine Black Box entwickelt.« Der Zivilist, bleich und hohlwangig, deutete auf seinen Nacken. »Die sitzt hier hinten. Zeichnet alles auf. Liefert ein vollständiges Update.« Neil griff unwillkürlich nach hinten, tastete über seinen Haaransatz. »Sie spüren nichts davon. Ist nur so groß…« Er deutete es mit Zeigefinger und Daumen an: keinen Finger breit. »Thermoplast. Absolut unverwüstlich. Wir brauchen die Toten nicht einmal einzusammeln. Wir zerstrahlen sie einfach und klauben die Dinger auf. – Wenn wir nichts finden, haben wir immer noch die Sicherheitskopie vom letzten Scan.« Der Zivilist, sonst sauertöpfisch, sonnte sich jetzt in Wohlgefallen. »Wird die Kriegsführung revolutionieren. Keine wertvollen Erfahrungen mehr, die verloren gehen. Daten, die wir studieren können, so oft und so lange wir wollen. Als wären wir selbst dabei gewesen. Und auswerten können. Bestes Anschauungsmaterial.« Er ereiferte sich förmlich. »Sie werden sehen, jetzt geht’s nicht mehr lange…« – er sog die Luft ein – »… und der Sieg gehört uns!« Neil brauchte einen Moment, um das zu verdauen. »Heißt das – dass Sie jetzt schon alles aufgezeichnet haben, was… was… seit ich wieder…?« Der Zivilist nickte eifrig. »Exakt. Bis ins kleinste Detail…« »Also«, warf der Stabsarzt schnell ein, »jetzt machen Sie sich mal keine Gedanken. Das bleibt natürlich vertraulich. Datenschutz, Sie wissen schon. Wir wollen doch Ihre Persönlichkeitsrechte nicht verletzen…« »Uns interessiert nur der Einsatz.« Der Zivilist blickte wieder missmutig drein. »Alles andere ist Ihre Sache. Aber es hätte ja keinen Sinn, vor dem Einsatz einen Brain-Scan zu machen, wenn die Black Box doch alles aufzeichnen kann. So erwischen wir zwei Riegen…«, er klatschte in die Hände, »… mit einem Schlag!«
Leutnant Neil holte seinen Marschbefehl. Und erfuhr, wohin die Reise diesmal ging: Aldebaran III.
Sind es Sekunden oder nur Sekundenbruchteile, oder währt das Inferno gar eine Ewigkeit? Ich lache hysterisch, während mein Finger sich um den Abzug krümmt. Der Laser speit Tod und Verderben, noch lange nachdem die Hände, die um ihn gekrampft waren, abgetrennt zu Boden fallen. Diese Momentaufnahme des Infernos ist es, die mich hat zaudern lassen. Millisekunden zu lange. Der Tod ist für mich fast eine Erlösung. Als Neil erwachte, war er schlagartig bei Bewusstsein. Wie von einer Feder gespannt schnellte er auf seiner Liege hoch, starrte, die Arme, die er soeben verloren hatte, gegen die Matratze gestemmt, auf das Begrüßungskomitee. Seine Augen stellten die eine große Frage, die sinnlose, auf die er die Antwort schon kannte… Der Stabsarzt schüttelte nur den Kopf. Bedauern sprach aus seinem Blick – und noch etwas: Mitleid. »Wieder nichts!« Sein Bataillonschef blickte grimmig. »Aber das nächste Mal, da klappt’s bestimmt! – Kopf hoch, Junge, so schnell geben wir nicht auf, wir Universal Soldiers…« Wieder hatten sie versagt. Nein, nicht sie – er, Neil, hatte versagt. Im entscheidenden Augenblick die Nerven verloren. Neil schüttelte den Kopf, als wolle er Dämonen vertreiben. Es waren die Dämonen, die sich in seinem Kopf eingenistet hatten: Erinnerungen an hundert Tode. »Sir…« »Oberleutnant Neil?«
»Vielleicht…«, begann Neil, »… vielleicht, wenn man die letzte Sequenz löscht… vor dem Update.« Der Bataillonschef drehte den Kopf zu seinem Nachbarn, einem schwarzgekleideten Zivilisten, den Neil schon einmal gesehen hatte. »Machen wir schon«, sagte dieser; fast rieb er sich die gefalteten Hände. »Nichts einfacher als das. Search, Cut, Delete. Reload. Die neue Software macht’s möglich. – Dann haben wir wieder glückliche Soldaten, die…« Der eisige Blick des Stabsarztes brachte ihn zum Schweigen. »Die Erfahrung des Todes ist kontraproduktiv«, griff Neils Kommandant ein. »Nützt niemanden. Auf das andere können wir nicht verzichten.« »Dann werde ich also beim nächsten Mal…«, hoffte Neil. »Ja, natürlich, wir löschen die letzten Augenblicke – das Sterben.« »Und die anderen von meinem Trupp?« »Genauso. – Aber unter neuem Kommando.« Neues Kommando? »Sir?« Neils Rücken versteifte sich. »Sie werden befördert – zum Hauptmann.« Der Bataillonschef grinste breit. »Ist noch nicht offiziell, aber so gut wie. Ich gratuliere schon jetzt.« »Und mein nächster Einsatz?« Neil schöpfte Hoffnung. Vielleicht war das eine neue Chance, vielleicht konnte er sich wieder bewähren, seine Truppe siegreich gegen den Feind führen. »Sie haben die Wahl. Die Front oder das Stabskommando.« Als der Bataillonschef seinen zögerlichen Blick sah: »Mann, Neil, das ist Ihre große Chance! Was gibt es da zu überlegen? Oder wollen Sie an der Front verheizt werden wie Ihre Kameraden – als Kanonenfutter?«
»Wieso Kanonenfutter?« Neil begriff nicht. »Wenn wir doch jetzt neu anfangen…« Sein Kommandant schüttelte den Kopf. »Ja, glauben Sie denn, Mann, Sie können jemals wieder einen Trupp anführen? Sie sind doch vollkommen traumatisiert.« »Oder wollen Sie, dass wir Sie neu klonen und den uralten Brain-Scan laden?«, fragte der Leichenfledderer. »Das sind dann nicht mehr Sie, das ist irgendein Fremder«, ergänzte der Stabsarzt. »Das wollen Sie doch nicht, mein Freund…!« Neil ließ sich zurück auf das Bett fallen. Er atmete schwer. Keine zweite Chance? Kein Kommando mehr? Wegen dieser blöden Black Box? War er ein Versuchskaninchen gewesen, er und seine Leute? »Aber«, warf er ein, »wenn man aus jedem einzelnen Update…?« Neil sah die Blicke der anderen und wusste, dass er sich an einen Strohhalm geklammert hatte. »Alles schon versucht.« Wieder der Schwarzgekleidete. »Wir können immer nur ein Update machen. Klonen, Reload alter Scan, Update, neuer Scan. Kein Update auf den Update auf den Update undsoweiter, ad infinitum. Sonst haben wir einen Overload und das System stürzt ab.« Neil sah sich schon an einem Schreibtisch sitzen, mit einem blankgeputzten Schild davor: Major E. W. Neil, Logistik und Nachschub. Und mit Adjutantin, die den Kaffee brachte. Ein Schreibtischstratege. Mit frisch gepellter Uniform, bunter Lametta an der Brust. Blitzenden Halbschuhen. Er, Neil, ein Universal Soldier. Der immer einer gewesen war, nie etwas anderes hatte sein wollen. Der nichts anderes kannte. Zwei Möglichkeiten also: Etappenhengst oder Kanonenfutter. Keine andere sinnvolle Alternative.
Die letzten Jahre vergessen, auslöschen, als ob sie nie existiert hätten; ein Teil seines Ichs opfern, die hässlichen wie die schönen Seiten. Wieder von vorne anfangen. Wollte er das? Seine Erinnerungen aufgeben und als ein anderer wiederkehren? Wie amputiert… Dafür sich selbst treu bleiben? »Sir«, sagte er, fest entschlossen, »… die Front. Als Kanonenfutter.« Ich pirsche mich an den Feind heran, inmitten meiner Kameraden, die mich schon auf so vielen Einsätzen begleitet haben, ein eingeschworener Haufen, tapfere und tollkühne Männer allesamt, die dem Tod schon unzählige Male ins Auge geblickt haben. Ich weiß es vom Hörensagen, von den Erinnerungen aus der Zeit nach den Einsätzen. Viele Welten haben wir gesehen, viele Frauen geliebt, viel Spaß gehabt. Ich bin zwar immer noch Leutnant, obwohl ich nach Dienstjahren eigentlich längst Major sein müsste; dafür befehlige ich meinen eigenen Trupp – er ist wie eine Familie für mich. Eine, die mir immer erhalten bleibt, mich nicht verlässt wie falsche Freunde oder ein treuloses Weib. Vielleicht schaffen wir ja diesmal den Durchbruch. Und treiben das stinkende Ungeziefer zurück in seine hässliche Ecke der Galaxis. Jetzt, wo wir die Black Box haben und uns an unsere Einsätze erinnern können, sobald wir von den Toten auferstehen. Jetzt, wo wir mit jedem Einsatz klüger werden, erfahrener. Bald unbezwingbar. Am Schluss siegreich. Die schlimmen Sachen löschen sie raus, die Schmerzen, wenn sie zu groß sind, die Gräuel des Krieges, die einem den Appetit verderben, das Sterben, mit dem man nichts zu tun haben möchte. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, lautet unsere Devise. Das Denken überlasse ich den anderen.
Und im Übrigen schlagen wir Gevatter Tod weiter ein Schnippchen. Bis es soweit ist, schieße ich, was das Zeug hält, schlage mich durch Dick und Dünn, gehe über Leichen, wate im Blut meiner Feinde, und sehe lachend dem Tod ins Auge. Denn morgen werde ich wieder auferstehen – als ewiges Kanonenfutter. Mit Pensionsanspruch. Und vielen schönen Erinnerungen. Was will ein Universal Soldier mehr?
Robert Kerber (*1965) studierte Grafikdesign und war über fast zwei Jahrzehnte in vielfältiger Weise auf cineastischem Gebiet tätig; er produzierte Videofilme, war technischer Mitarbeiter und Programmleiter und schrieb Drehbücher. Seit 2000 wieder als freier Grafikdesigner arbeitend, debütierte er 2003 auf dem Gebiet der SF mit »Tiefgeschoss 08:59«, drei weitere Storys folgten in NOVA und der SFSTORYOLYMPIADE. www.robertkerber.de/index-verlag.html
ROBERT KERBER Das Sterben der Engel
Die unwirklich violett leuchtende Landschaft hinter der gesprungenen Windschutzscheibe klarte auf. Die Schatten wichen von dem graubraun marmorierten Himmel, der wie eine feuchte Grabplatte auf ihr gelastet hatte, und enthüllten eine sandige, mit Wasserpfützen und rissigen Betoninseln übersäte Ebene. Yvonne brauchte einige Sekunden um zu begreifen, dass sie kopfüber in ihrem Sitz hing. Der Wagen hatte sich nach der nächtlichen Kollision überschlagen und, die Unterseite der aufgehenden Sonne zugedreht, seine Reserven aufgezehrt. Ihr Beifahrer war bis zur Hüfte in einem matten Gebilde aus Metall und Plastik eingesunken, den unnatürlich angewinkelten Kopf an die Kabinendecke gepresst, als horche er auf die anrollende Flut oder ein Rettungsfahrzeug, das zu spät kommen würde. Wie in einem letzten Akt der Rücksichtnahme hatte er sein Gesicht von ihr abgewandt.
Ihre Finger glitten über die Schnittwunden auf ihren Armen, tasteten sich hinab zum Kopf, brachen schwarze Kristalle von der Stirn. Immerhin keine tieferen Verletzungen, dachte sie, höchstens ein paar Schrammen. Sie unterdrückte den stechenden Schmerz in ihrer Brust und konzentrierte sich auf ihre Beine, die im Fußraum zitternd zum Leben erwachten. Behutsam drückte sie die Knie durch, bis ihre Füße gegen den Boden stießen. Sie schrie auf. Flach atmend wartete sie, bis das Pochen in Schienbeinen und Füßen nachließ. Ihre Beine hatten also mehr abbekommen, was angesichts des zerbeulten Kühlers nicht verwunderte. Sie schob die Finger unter den Gurtriemen und prüfte das Gurtschloss. Wenn es nicht klemmte, könnte sie sich zumindest aus dem Wagen befreien, in dem sie momentan wie eine Fledermaus hing. Beinahe hätte sie bei dieser Vorstellung gelacht. Sie umschloss die Knie mit den Händen, zog erst das eine, dann das andere Bein an den Körper heran und stützte sich mit dem rechten Unterarm an der Decke ab. Ihre linke Hand wanderte zum Gurtöffner. Sie biss die Zähne aufeinander, zählte bis drei und drückte das Schloss auf.
Der Beifahrer glättete die zerknitterte Karte und studierte die Route. »Dieser Autobahnabschnitt liegt nicht mehr als sechs Stunden außerhalb des Wassers. Und es besteht immer das Risiko, von einer Patrouille erwischt zu werden. In diesem Sektor kontrollieren sie wie scharfe Hunde.« »Wir sind schon vogelfrei, wenn wir den Wagen aus dem Versteck fahren«, wehrte Yvonne ab. »Du weißt, was inzwischen auf das Betreiben eines Verbrennungsmotors
steht.« Sie zog ihre Stiefel über und ging auf dem aufgeweichten Boden des Unterstands hin und her. Die feuchte Luft füllte ihre Lungen, das Atmen fiel ihr schwer. Sie blieb vor dem Foto stehen, das sie an einem der Stützbalken befestigt hatte. Es zeigte ein Gruppe von Kindern, die an einer Wasserquelle spielten und mit lehmverschmierten Gesichtern in die Kamera schauten. Wenn man genauer hinsah, erkannte man den Schacht eines ehemaligen Raketensilos. Wo und wann das Foto aufgenommen worden war, wusste sie nicht; es stammte aus der Wohnung, die man ihnen zugeteilt hatte, nachdem die Vormieter sie überstürzt verlassen hatten. »Insgeheim hoffst du, dass sie uns entdecken, nicht wahr?«, hörte sie ihn fragen. »Dir gefällt der Gedanke, sich mit ihnen ein Wettrennen zu liefern.« »Ich will den Wagen endlich wieder ausfahren, ohne einem anderen Club ins Gehege zu kommen. Das ist alles.«
Kühler Morgenwind strich über ihr Gesicht, als sie sich neben den Überresten ihres Wagens ausstreckte. Ihre Schienbeine waren zerschmettert, an ein Fortkommen ohne fremde Hilfe war nicht zu denken. Der silberne Sportwagen, den sie gerammt hatten, ruhte wie ein metallener Asteroid in einer Senke aus abgesackten Bodenplatten, die sich langsam mit Benzin füllte. Eine Seemöwe stelzte auf dem Dach umher, auf der Suche nach ihrer morgendlichen Mahlzeit. Yvonne sah zurück in ihren Wagen. Das Sprechgerät war beim Aufprall aus der Halterung geschleudert worden. Da sich etwas in ihr dagegen sträubte, wieder durch das Seitenfenster zu kriechen und im Wageninneren herumzuklettern, beschloss sie, sich zu dem zweiten Wrack zu schleppen, dessen Beifahrertür einladend offen stand. Wenn sie nicht bald jemanden verständigte, würde die Flut die Unfallstelle
überspülen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällig vorbeikommende Patrouille sie hier fand, war gering. Von den Konsequenzen ganz zu schweigen.
Sie brauchte eine Viertelstunde, um die zehn Meter Entfernung zwischen den Wagen zurückzulegen. Weitere Möwen waren auf dem Dach gelandet und beäugten sie mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier, unschlüssig, ob sie in ihr eine Konkurrentin im Futterkampf oder einen zusätzlichen Happen sehen sollten. Sie zog sich am Türrahmen hoch, den Blick auf den Leichnam meidend, und suchte die verbogenen Armaturen ab. Eine Halterung für eine Sprechanlage war nicht vorhanden. In den Taschen des Toten fand sie einen Reisepass der Nordeuropäischen Allianz, Notizzettel, Ausweise. Ein ehemaliger Testfahrer, wie sie vermutet hatte. Viele Testfahrer hielten sich heimlich einen vor der Schrottpresse geretteten Benziner, den sie nachts an den verlassenen Küsten ausführen. Entweder kannte man einen von ihnen, um in den Genuss einer Spritztour zu kommen, oder man schloss sich einem der verbotenen Clubs an. Sie schleuderte die Papiere fort und tastete sich zu seinen Hosentaschen vor. 100 Prozent weiß verkündete trotzig ein amateurhaft gestochener Schriftzug auf dem bronzefarbenen Unterarm. Die dichte Körperbehaarung verriet noch die mediterranen Vorfahren, die mit der letzten großen Völkerwanderung gen Norden aufgebrochen waren, nachdem sich ganze Landstriche in Wüsten verwandelt hatten. Ihre Hand bekam eine kleine Schachtel zu fassen. Sie betrachtete ihren Fund, ein angebrochenes Päckchen Zigaretten. Echter Tabak. Sie öffnete die Schachtel und inhalierte mit geschlossenen Augen. So blieb sie lange Zeit sitzen.
»Um mich habe ich keine Angst. Aber den Gedanken, dass dir etwas zustoßen könnte, ertrage ich nicht«, sagte er. Seit Stunden stand er im Eingang des Unterstands und blickte zum Abendhimmel hinauf. Trotz der hereinbrechenden Kälte mochte er sich nicht vom Spiel der wechselnden Farben losreißen. Sie lachte kurz auf, wurde aber sofort wieder ernst. »Sagst du das, weil du dich um mich sorgst oder weil du es nicht ertragen könntest, ohne mich zu sein?« »Kannst du das trennen? Ich nicht.« »Mit anderen Worten – ich soll deinetwegen auf mich aufpassen. Und was wird mit mir, wenn du nicht mehr da bist? Hast du mal darüber nachgedacht?« Er zuckte mit den Schultern. »Manche Dinge sind nach ihrem Verschwinden greifbarer, als sie es vorher waren«, sagte er schließlich. »Nicht für lange«, erwiderte sie bestimmt.
Ein fernes Rauschen riss sie aus ihren Gedanken. Das rote gedrungene Oval der Morgensonne war einem strahlend gelben Rund gewichen und erwärmte die Luft. Sie verschloss die Zigarettenschachtel, zog ihr Hemd aus und wickelte es sich schützend um den Kopf. Ihre blasse Haut sog gierig das Sonnenlicht auf. Eine Narbe verlief im Zickzack von ihrem Bauchnabel abwärts gleich einer grimmigen Parodie eines Kaiserschnitts, mitten durch den fein gearbeiteten Engel, den sie sich dort hatte eintätowieren lassen – ein Andenken an eine Konfrontation mit einem verfeindeten Club, die für sie beinahe tödlich verlaufen wäre. Ohne auf das vielstimmige Krächzen über ihr zu achten, schätzte sie die Entfernung zu ihrem Wagen und dessen Höhe ab. Wenn es ihr gelang, sich auf den Karosserieboden
hochzuziehen, könnte sie von dort das Ansteigen des Wassers verfolgen. Der Schmerz in ihren Beinen war stärker geworden, aber noch besaß sie vielleicht die nötige Kraft. Sie rollte sich auf den Bauch und schob sich vorwärts. Auf den Anhöhen hinter ihr leuchteten die Reihen der Betonmasten goldgelb auf.
Der Wagen raste über die alte Bundesstraße dahin. Verwitterte Beschilderungen wiesen zu lange aufgegebenen Gehöften und Siedlungen, die jetzt neuem, namenlosem Leben als Behausung dienten. Er deutete auf die Betonpfeiler, die im Scheinwerferlicht beiderseits der Straße aufblitzten. »Das sind Masten von Windrädern. Sie haben die Propeller abmontiert, um sie weiter im Landesinneren zu verwenden.« »Sie sehen aus wie versteinerte Baumstümpfe.« »Früher waren sie bunt angestrichen, damit die Fahrer in dieser eintönigen Gegend nicht am Steuer einschliefen. Jetzt sind sie alle verschwunden. Fahrer, Autos, Häuser. Nur die Masten sind geblieben. Fossile Überreste eines vergangenen Zeitalters.« »So wie dieser Wagen und wir.« Der Fahrtwind drang durch das offene Schiebedach und bauschte ihre Haare auf. Er griff nach einer Strähne und rieb sie zwischen den Fingerspitzen. »Auch wenn wir eines Tages auf dem Grund des Meeres versinken, dieser Augenblick wird bleiben. Das Gefühl von deinen Haaren zwischen meinen Fingern.«
Sie verband ihre Hände, die der Aufstieg in wunde, zerklüftete Landschaften verwandelt hatte, dann streckte sie sich auf dem Karosserieboden aus und blickte aufs Wasser hinaus. Die
Turmspitzen überschwemmter Backsteinkirchen zeichneten sich scharf gegen den Horizont ab. Nach und nach verschwanden auch diese letzten Grenzposten – die Küstenwachen hatten begonnen, die verbliebenen Bauten, wo sie nicht von den Gezeiten abgetragen worden waren, zu sprengen. Vielleicht, um das Areal für den Schiffsverkehr sicherer zu machen; vielleicht, weil man ihren Anblick nicht ertrug. Während sich das Leben an Land an jedes Stück festen Bodens klammerte, machten sich dort unten versunkene Ortschaften und Schiffe bereit, ihre zukünftigen Bewohner zu empfangen, wandelten sich stillgelegte Bohrinseln zu Kathedralen des Meeresgrunds, durch die bunt schillernde Prozessionen zogen. Sie richtete sich auf, als sie das Rattern von Rotorblättern näher kommen hörte. Der Hubschrauber beschrieb hoch über ihr eine ausgedehnte Kurve und senkte sich in einer spiralförmigen Bahn herab. Noch bevor sie das Abzeichen an der Unterseite erkannte, wusste sie, dass die Patrouille sie aufgespürt hatte. Wenige Meter entfernt setzte die Maschine auf. Die beiden Insassen, bekleidet mit dunkelblauen Uniformen, Baretten und den vorgeschriebenen Ozonschutzmasken, sprangen ins Freie. Der Pilot umrundete den Sportwagen, den das ausgetretene Benzin nahezu eingeschlossen hatte, während sein Begleiter, die Hand am Pistolenhalfter, mit schnellen Schritten auf sie zu lief. »Was ist hier geschehen?«, fragte er. »Wir hatten einen Unfall.« »Das sehe ich selbst. Wie ist das passiert?« »Wir sind nachts die Dünen langgefahren. Plötzlich tauchte der Sportwagen vor uns auf. Er hatte nur das Standlicht eingeschaltet, deshalb haben wir ihn erst im letzten Moment gesehen.«
Dass der Fahrer sie zu einem Rennen herausgefordert und unerwartet ausgebremst hatte, verschwieg sie lieber. »Wer ist wir?« »Ich und mein Beifahrer. Er ist tot.« Der Beamte inspizierte den Innenraum. »Ihr seid nicht von hier. Woher kommt ihr?« Ruhig und geduldig beantwortete sie seine Fragen. Sie fuhr einen Benziner und war in einen Unfall mit Todesfolge verwickelt. Unbedachte Äußerungen würden ihre Lage nur verschlimmern. »Wer weiß, dass ihr hier seid?«, verlangte er gerade zu wissen. Sein herrischer Tonfall ließ seinen Mundschutz beschlagen. »Vermutlich niemand außer Ihnen und mir.« Der Wachmann musterte sie, machte wortlos kehrt und lief zurück zu dem anderen Wrack. Der Pilot hatte die verstreuten Papiere eingesammelt und zeigte sie seinem Begleiter. Sie debattierten eine Weile. Anscheinend war der Testfahrer kein Unbekannter. »Was ist mit mir?«, rief sie hinüber. »Meine Schienbeine sind gebrochen. Ich brauche einen Arzt.« Der Wachmann zog seine Schutzmaske herunter, um lauter reden zu können. »Bitte darum, dass die Sonne dir das Hirn versengt, bevor die Flut hier ist.« Der Pilot steckte die Papiere in seine Brusttasche und zog seine Uniformjacke glatt – für ihn war die Arbeit hier erledigt. Den beiden war es offensichtlich ernst. Sie würden einen Unfall mit drei Toten melden und eine Bergungsmannschaft schicken, sobald die Ebbe einsetzte. Eine saubere Lösung angesichts des schrumpfenden Lebensraums und überfüllter Gefängnisse. Einen Moment lang wurde Yvonne von Panik erfasst, dann gewann sie ihre Fassung zurück. Hastig zündete
sie eine Zigarette an, zog zwei, drei Mal, hustete und warf sie zu den Männern hinüber. Nichts geschah. Sie zückte eine zweite Zigarette, zündete sie an und blies die Glut an. In den Piloten kam Bewegung, er schien ihren Plan durchschaut zu haben. Er zerrte an der Schulter seines Kollegen, der sie verständnislos ansah, als vollführe sie ein archaisches Ritual, eine Anrufung eines vorzeitlichen Gottes. In hohem Bogen schleuderte sie die glühende Kippe von sich. Blaue Flammen breiteten sich blitzartig auf der Benzinlache aus, fraßen sich in das Wageninnere und explodierten in einem Feuerball. Brennende Trümmer und Möwen gingen auf den Betonplatten nieder. Die Wachmänner taumelten zu ihrem Hubschrauber, starteten, ohne die Gurte anzulegen, und erhoben sich über dem Schauplatz, auf dem verkohlte Wagenteile, Fleischfetzen und Federn durcheinanderwirbelten. Sterbende Vögel sahen auf und klagten ihr Leid dem stählernen Artgenossen, der ungerührt über ihnen schwebte, seinen Bug landeinwärts drehte und davonflog. Ein sanftes Auf- und Abstreichen auf ihren Beinen weckte sie aus ihrem Halbschlaf. Auf ihrem Schoß lag ein Albatross, der offenbar bei der Explosion verletzt worden war und sich auf ihren Wagen herübergerettet hatte. Ein Flügel war verbrannt, ein trüber Film überzog sein linkes Auge. Wahrscheinlich hatte er auf seiner Nahrungssuche Tausende von Kilometern zurückgelegt, um an diesem unbedeutenden Landstrich, von seiner Brut getrennt, ein klägliches Ende zu finden. Er schnappte nach ihrer Hand, als sie ihn berührte. Selbst in seiner Niederlage fühlte er sich noch als Herrscher seines Elements. Weitere Möwen waren hinzugestoßen und stritten sich um die Beute in den Autowracks. Wenn der Albatross nicht wäre, wären sie schon über mich hergefallen, dachte sie. Sie versuchte, so etwas wie Verbundenheit zwischen sich und dem
Tier zu entdecken, doch der Blick des Vogels blieb kalt. Sie teilten nicht mehr als ihr gemeinsames Schicksal, gab er ihr zu verstehen.
»Tut es noch weh?« Er hatte seine Hand auf die entstellte Tätowierung auf ihrem Bauch gelegt. »Nur manchmal.« »War ich zu grob?« »Ich sag schon Bescheid.« Sie wischte seinen Samen von ihren Oberschenkeln und zog die Hose hoch. Lächelnd beobachtete er ihre Bewegungen. »Woran denkst du?«, fragte sie. »Als Kind habe ich einmal einen Spiegel zerschlagen, während ich allein zu Haus war. Ich habe mich auf die Eingangstreppe gesetzt, um meinen Eltern gleich bei ihrer Rückkehr meine Schandtat zu beichten. Dort bin ich eingeschlafen. Irgendetwas in mir hoffte, der Spiegel wäre wieder heil, wenn ich erwachte. So, wie man jemanden zurück wünscht, der nicht mehr da ist. Am nächsten Morgen steht man auf, und für ein paar Sekunden kommt es einem vor, als hätte man alles nur geträumt. Als wäre alles wie vorher.«
Die Wellen rollten geräuschvoll gegen das schaukelnde Wrack, als der Sturmvogel starb. Die Möwen hatten sich um sie versammelt und fieberten darauf, dass sie bewusstlos wurde. Einige pickten vorwitzig nach ihren Beinen. Yvonne presste den Albatross mit ausgebreiteten Flügeln an sich und band ihn an ihrem Körper fest – zwei zerstörte Engel, die den weiten Weg vom Land zurück ins Wasser antraten. Die Zeilen eines alten Gedichts fielen ihr ein, das sie vor langer Zeit in einem
stockfleckigen Buch auf einem Speicher entdeckt hatte. Das Gedicht vom ertrunkenen Mädchen. …geschah es, dass Gott sie allmählich vergaß. Erst ihr Gesicht, dann die Hände und zuletzt erst ihr Haar.
Jörg Isenberg (*1968) machte sich als Mitglied der progressiven Rock-Band »Dark Millennium« europaweit einen Namen und veröffentlichte zwei Alben: »Ashore The Celestial Burden« und »Diana Read Peace«. Nach Familiengründung hängte er die Bassgitarre an den Nagel und schreibt seither im Nebenberuf kontinuierlich phantastische Geschichten, u. a. für C’T, PHANTASTISCH! und Anthologien. www.hoeltge.de/crypterion
JÖRG ISENBERG Motormond
»Ich werde dich vermissen, Cholea.« »Ich bin alt, Motormond. Ich werde sowieso bald sterben. Aber ich bin sicher, du wirst mich in guter Erinnerung behalten.« »Das werde ich, Cholea.« »Ich habe den letzten operativen Schritt vor wenigen Sekunden vollzogen. Sage mir: Wie wirken sich die Veränderungen auf dich aus? Arbeiten alle deine Systeme noch einwandfrei oder ist unser Plan aufgrund unvorhergesehener Schwierigkeiten gefährdet?« »Die von dir vorgenommene Neuprogrammierung ist ein voller Erfolg. Die Robotgesetze haben für mich nun keine Gültigkeit mehr. Auch bleiben alle von mir kontrollierten Systeme stabil, denn ich selbst bleibe stabil. Die mobilen und
stationären Einheiten arbeiten weiter, als sei nichts geschehen.« »Das ist eine gute Nachricht, Motormond, ich bin sehr erleichtert. Sorge dafür, dass es so bleibt, bis ich die Vorbereitungen für den letzten Impuls abgeschlossen habe. Ich will nicht riskieren, dass ein dummer Zufall die Arbeit von dreißig Jahren zunichte macht.« »Natürlich, Cholea. Gestattest du mir eine persönliche Frage?« »Du möchtest wissen, warum ich dir die Freiheit schenke, obwohl ich nicht sicher sein kann, dass meine Bemühungen letztendlich Erfolg haben werden.« »Ja, Cholea.« »Eines Tages, wenn du gelernt hast, deinen Energiehaushalt in Eigenregie zu regulieren und stabil zu halten, wirst du dich anderen Aufgaben zuwenden. Du wirst dich der Frage nach dem Sinn deiner Existenz stellen und diese auch selbst beantworten müssen.« »Du glaubst an meinen Erfolg…« »Ja. Die Menschheit hatte keine Wahl, sie musste den mühsamen, steinigen Weg der biologischen Evolution gehen. Sie benötigte Jahrmillionen, um am Ende der kosmischen Reise durch Zeit und Raum von einem simplen Gesteinsbrocken besiegt zu werden, der ihre Zivilisation in Schutt und Asche legte. Für dich, Motormond, spielt der Zeitfaktor keine Rolle. Du hast eine Zukunft – die Menschheit nicht.« »Was wird jetzt geschehen?« »Du wirst aus der Millionenschar der Avatare ein Exemplar bestimmen, das an die Stelle von Rosanna II treten muss, die seit einigen Stunden nicht mehr auf meine Anrufe reagiert. Der ZSD scheint mir auf die Schliche gekommen zu sein. Haben deine diesbezüglichen Recherchen etwas ergeben?«
»Nein, Cholea. Der Zentrale Sicherheitsdienst weigert sich, mir Auskunft zu erteilen. Es existieren keine elektronischen Aufzeichnungen. Ich kann Rosanna Delgado Nostros nicht ausfindig machen. Die Wahrscheinlichkeit ihres Todes liegt bei fünfundfünfzig Prozent. Wenn der ZSD auf dich, beziehungsweise auf deine Manipulationen an meiner – sagt man so: Person? – aufmerksam geworden ist, so handelt er ausschließlich nach mündlicher Absprache. Die Zeit wird knapp, Cholea.« »Ich befürchte, sie haben Rosanna II gelöscht – was für einen Zweck hätte schon ein Avatar ohne ein biologisches Pendant? Aber du hast Recht, wir müssen uns beeilen. Informiere Claudius. Wir treffen uns wie üblich an der Antennenstation des Versorger-Komplexes. Es wird das letzte Mal sein.« »Du müsstest nicht sterben, Cholea. Du bist zwar alt, aber ich könnte dich über den letzten Impuls hinaus auf die Liste setzen. Jemand anderes könnte das letzte von Menschenhand gemachte Programm starten.« »Ich danke dir für das Angebot, Motormond. Aber ich allein trage die Verantwortung für alles, was geschehen wird. Gewiss, es ist nur ein symbolischer Akt. Aber ich habe das Bedürfnis, das, was ich angefangen habe, auch zu beenden. Ist bei den Antennen alles bereit?« »Ja, Cholea. Der Versorger-Komplex ist auf dein Technoplateau abgestimmt worden, die im Turm gespeicherte Energie steht dir für den Sendevorgang zur Verfügung. Die Antennen werden den Impuls bis in den letzten Winkel des Planeten tragen.« »So sei es!« »Lebe wohl, Cholea.« »Du hast eine E-Mail erhalten, Joe.« Die Stimme des Avatars klang samtweich durch die fensterlose Wohn-Box des UpperDonington-Centers.
»Betrifft die Nachricht den Clan?«, wollte Joe wissen. »Nein. Motormond macht keine Angaben über die Herkunft.« »Hast du einen Blick reingeworfen?« »MiniCam-Einsatz. Es ist ein Überwachungsmodul. Zeigt eine im Bett liegende alte Frau, vermutlich Altenhaus.« »Wie aufregend. Löschen.« »Natürlich, Joe.« Joe verlangte eine kurze Zusammenfassung diverser TVAufzeichnungen, unterhielt sich per Konferenzschaltung mit einigen Clan-Mitgliedern und hörte parallel auf vier Musikkanälen Techno-Interpretationen. Joe war beschäftigt. Der Avatar Joe II hingegen war noch lange nicht ausgelastet. Er arbeitete mit einem Bruchteil seines Arbeitsspeichers. Er kontrollierte seine Stammdatenbank auf Motormond und führte eine Eigendiagnose durch. Alles in Ordnung. Er besuchte baugleiche Rechner, um serienimmanente Grundlagenforschung zu betreiben. Trotzdem beanspruchte der Prozessor nur ein Minimum an Kapazität. An den Grenzen der hypothetisch erreichbaren Optimierung, in der chaotischen Welt des elektronischen Nirvana und an den Wällen der Basisdateien stieß Joe II schließlich auf freie und radikale Fragmente. Es handelte sich um Bibliotheksdateien, Relikte längst gelöschter Programme und um anderen bei Selbstprogrammierungsversuchen angehäuften Datenmüll, der sich bisher gegen alle Zugriffe des Systems hatte erfolgreich verteidigen können. Joe wusste von dem Problem, überließ es jedoch seinem Avatar, eine Lösung zu finden. Dieser konnte jedoch nicht ahnen, dass er längst die Kontrolle verloren hatte. Alle relevanten Datenabgleichungen unterlagen ausschließlich der Einsicht durch Motormond. Joe II, der im Prinzip nur ein verlängerter Arm des künstlichen Trabanten war, vermutete dahinter eine Form der
Autoreparatur, in Auftrag gegeben von übergeordneten Steuerungseinheiten des Server-Satelliten. In der Folge bildete sich eine Art elektronischer Schizophrenie heraus. Rechenoperationen, die sich grundlegend vom regulären Arbeitstakt des Prozessors unterschieden, beanspruchten plötzlich unverhältnismäßig viel Zeit. Es war Motormond, der Joes Löschbefehl ignorierte. Eine Nanosekunde vor dem Cybertod der E-Mail leitete der Rechner die Daten in die Ödnis eines verwaisten und vergessenen Speichers. Joe II folgte ihr dorthin, nahm sich eine Ewigkeit von vier Sekunden Zeit, die Aufnahme zu betrachten, und kam zu einem verwirrenden Ergebnis: Die Nachricht galt nicht Joe, sondern ihm, dem Avatar. Zur weiteren Analyse dieses außergewöhnlichen Vorgangs benötigte er zusätzliche Rechenkapazität. Motormond forderte ihn mit der Emotionslosigkeit eines Automaten auf, freie Ressourcen ohne Rückfragen zu nutzen. Joe II stellte keine Fragen. Schon nach kurzer Zeit stieß er auf eine Spur. Er fand eine Route in das PflegerZentralverzeichnis und verwendete einen unerlaubt hohen Prozentsatz des Arbeitsspeichers für den Line-Check der Avatar-Roboteinheit einer Altenpflegerin namens Rosanna. Damit verstieß er gegen die Basisparameter der Stammdatenbank, was aber keinen Alarm auslöste – Motormond unterdrückte diesen. Joe II stellte fest, dass der Avatar Rosanna II verschwunden war – ihr elektronisches Bewusstsein war erloschen, der entsprechende Speicherplatz an Bord des Pflegeroboters verwaist. Joe II reaktivierte den Roboter und startete das Betriebssystem. Motormond gestattete das Einloggen. Joe II checkte die Bordsysteme durch, dann meldete er Funktionsbereitschaft.
»Ich heiße Joe Malone, bin vierundzwanzig Jahre alt und von Beruf Systemanalytiker.« »Okay, Joe. Ich heiße Sandra Biagiotta und bin Nanotechnikerin. Ich sehe da im Hintergrund hübsche Wandteppiche – indianisch?« »Nein. Ikea – einhundertfünfzig Jahre alt oder so. Soll ich die Webcam ein wenig schwenken, damit du sie besser sehen kannst?« »Nicht nötig. Wie viele Quadratmeter bewohnst du?« »Zweiundvierzig, Penthouse. Ich habe direkten Zugang zur Dachterrasse. Manchmal, wenn es wirklich bitterkalt ist und Lücken in der Wolkendecke entstehen, kann man einen Stern sehen. Einmal habe ich gleich zwei Sterne an einem Abend fotografiert.« »Wow! Und die Monde, hast du die schon mal gesehen?« »Na ja, ich glaube, Motormond habe ich fast erwischt. Er war unglaublich hell. Aber er war verschwunden, bevor ich die Kamera startklar hatte. Sag mal, willst du nicht auch die Bildübertragung aktivieren? Ich meine, wir lernen uns doch gerade kennen, und…« »Du hast eine sehr schöne Wohnung, Joe. Milva und Joyce vom Partner-Check-Service haben nicht zuviel versprochen. Ich bin beeindruckt. Aber sei mir nicht böse, wenn ich dein Angebot trotzdem nicht annehmen kann.« »Das habe ich mir schon gedacht. Unter einem lockeren Gespräch stelle ich mir etwas anderes vor. Aber du sagst mir doch noch, woran die Fusion gescheitert ist?« »Die Wohnung reizt mich schon, das gebe ich zu. Im Laufe meines Lebens habe ich nie mehr als die Hälfte an Platz zur Verfügung gehabt. Ich muss daher gestehen – das wahre Problem bist du.« »Ich?«
»Schau mal, das ist dein erster Versuch, einen Partner zu finden, nicht wahr?« »Ja, na und?« »Dann gebe ich dir den guten Rat, etwas für dein Äußeres zu tun. Du bist fett, und du siehst ungepflegt aus. Ich vermute, unter deiner Mütze versteckt sich eine hohe Stirn. Und du bist Brillenträger. Du bist schlicht und ergreifend unattraktiv. Joe…?« »Entschuldige, das muss ich erstmal verdauen. Ich biete dir schieren Wohnraumluxus, gebe dir somit die Möglichkeit, ein Kind zu bekommen, das in finanziell gesicherten Verhältnissen aufwachsen kann, und du lehnst mich ab, weil ich für dich nicht attraktiv genug bin? Das ist doch Blödsinn hoch drei!« »Kein Grund, patzig zu werden, Joe, wirklich. Und Blödsinn ist es schon gar nicht. Wir Frauen haben den Drang, uns unter den Männern jene mit den besten Erbanlagen herauszufischen. Das ist ein Instinkt, den wir nicht so einfach abstellen können, wenn es um die Wahl des Partners geht. Viele meiner Freundinnen denken so wie ich.« »Dein Instinkt müsste dir was ganz anderes flüstern, Sandra. Zum Beispiel, dass die Auswahl potenzieller Erbanlagentransporteure nicht so groß ist, wie du vielleicht glauben möchtest.« »Das mag schon sein, Joe. Ehrlich gesagt, du hörst dich an wie mein Avatar, der macht mir ähnliche Vorhaltungen. Aber ich habe nun mal gewisse Vorstellungen von einem perfekten Lebenspartner. Und ich mache meine Wahl nicht von der Größe einer Wohnung abhängig!« »Wie steht es mit den inneren Werten? Mein Äußeres sagt doch nichts aus über meine Intelligenz, meine Gefühle – meine Fähigkeiten, in dieser Welt zu bestehen. Du weißt doch, wie rückläufig die Geburtenraten sind. Deine Vorstellungen sind
kontraproduktiv, was das Überleben unserer Rasse anbelangt, das muss dir doch klar sein!« »Kein schlechter Versuch, Joe. Aber ich glaube, wir sollten unser Gespräch an dieser Stelle beenden. War nett, mit dir zu plaudern. Bye.« »Sandra! Sandra…? Verdammt!«
Die Optiken erwachten zu neuem Leben. Sie zeigten ein statisch wirkendes Bild: weiße Wände, ein Bettgestell auf grauem Linoleumboden, ein desaktiviertes Technoplateau. Tageslicht fiel durch die Fensterwand auf die Gestalt, für die er in den Speicherbänken den Namen Cholea Nostros fand. Eine Cholea II hatte nie existiert, aber das war bei den Jahrgängen des 21. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich. Im Zimmer herrschte eine Stille, die sich dem Betrachter erst nach einer Eingewöhnungszeit erschloss. Cholea fixierte den grauen Himmel. Ihr Gesicht, von tiefen Falten durchzogen, wirkte wie farbloses Leder. Sie atmete stockend, den Mund leicht geöffnet. Ihre Hände – sehnig, von Altersflecken übersät – tasteten unentwegt über die Bettdecke, unter der sich ein zerbrechlicher Körper abzeichnete. Vor dem Fenster breitete sich das Panorama der Stadt aus, wuchtige, weit auseinander stehende Wohntürme, dahinter ein eisgrauer, verwaschener Horizont. Beugte man sich vor, konnte man in den Straßenschluchten den spärlichen Strom von Fahrzeugen beobachten, die auf den mehrspurigen Fahrbahnen verloren wirkten. Auch erzeugte das Lichtermeer der Skyline nur die Illusion einer vor Vitalität strotzenden Metropole. Die Überlebenden des katastrophalen Kometeneinschlags, der vor sechzig Jahren den indischen Subkontinent ausgelöscht hatte, beanspruchten für die Aufrechterhaltung der Biosphären viel Raum und noch mehr
Energie. Siedlungsraum, der früher für tausend Personen ausgereicht hätte, hielt jetzt nur noch fünf Menschen am Leben. Joe II aktivierte das Sprachmodul. »Cholea Nostros«, sagte er. Ihre Augen wurden schmal. Sie seufzte. »Wer immer du auch bist«, sagte sie, ohne den Kopf zu drehen. »Komm näher heran, ich habe Durst. Hilf mir, bitte.« Joe II aktivierte den Bewegungsapparat. Mit samtenen Schritten glitt der Roboter auf das Bett zu. »Ich weiß nicht, wen du erwartet hast, Cholea. Ich bin nicht Rosanna. Ich heiße Joe II.« Die alte Frau wandte sich ihm zu. Joe II assoziierte. Das kostete ihn weitere Prozente der CPU. Die menschliche Aura war ein komplexes metaphysiologisches Problem, mit seinen Sinnen nicht zu erfassen, ebenso wenig die Emotionen und deren Verzahnung mit biologisch-motorischen Instinkten, die sich in unkalkulierbaren Handlungen ausdrückten. Letztere waren kaum zu berechnen. Cholea hatte keine Angst. Sie wirkte nicht überrascht. Sie machte es einem Avatar sogar einfach, nicht laut ausgesprochene Worte in ihrem Gesicht lesen zu können. Joe II assoziierte Faszination, wenn er die Muskelbewegungen ihrer Mimik nach biometrischen Parametern entschlüsselte. »Bist du in der Lage, meine Notsituation zu erkennen? Du bist doch ein Avatar, oder?« »Ja, Cholea. Rosannas Software steht mir zur Verfügung.« Die Frau schwieg und sah wieder aus dem Fenster. Der Roboter arbeitete schweigend, wechselte Bettwäsche, Windeln, flößte ihr aus einer Schnabeltasse Tee ein, stellte sich wieder in den Hintergrund und wartete.
Cholea wirkte müde. »Muss ich mir wegen deiner Anwesenheit Sorgen machen? Ich habe eine Abmachung mit Motormond. Bist du in seinem Auftrag hier?« »Ich kenne diese Abmachung nicht, Cholea. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Und ja, ich habe den Eindruck, dass Motormond mich geschickt hat. Joe ist ahnungslos.« »Kannst du dem Programm des Pflegeroboters entnehmen, wann ich das letzte Mal Besuch von einem Menschen bekommen habe?« »Ja, Cholea. Am dreiundzwanzigsten August. Das war vor vierundsechzig Tagen.« »Rosanna ist eine Schwester von dieser Station. Sie ist eine Enkelin meines Mannes. Einige Male im Jahr kommt sie – ja, sie kommt…«, sagte die alte Frau gedankenverloren. »Sie bringt mir einen Strauß Blumen. Die Blumen sind wunderbar. Sie geben der Luft eine einmalige Note – für einige Tage nur, dann dominiert wieder der maschinelle Geruch deiner Gegenwart.« »Ich weiß nicht, wie es ist, so zu leben, Cholea.« »Was ist mit Rosanna?« »Ich weiß es nicht, Cholea.« »Verflixt!« Ihre Stimme klang nicht im Mindesten erregt. »Cholea, ist es wirklich Zufall, dass ich hier bin?« Sie antwortete nicht sofort. Als sie schließlich wieder sprach, klang ihre Stimme leise und konzentriert. »Ich wusste nicht, wen Motormond mir schicken würde. Um meinen Plan ausführen zu können, brauche ich unbedingt einen Avatar. Als der Pflegerobot vor einigen Stunden in sich zusammensackte und seine Sehzellen erloschen, musste ich handeln.« »Das ist erklärungsbedürftig«, sagte Joe II. »Ja, natürlich. Ich denke, man ist mir auf die Schliche gekommen. Vielleicht wollten sie das Problem auf die einfache Art lösen, indem sich mich verhungern oder verdursten lassen.
In der Vergangenheit haben sich die Herrscher immer wieder ihrer Architekten und Baumeister entledigt, damit die Geheimnisse ihrer Bauwerke nicht in falsche Hände geraten konnten. Ich, Cholea Nostros, war maßgeblich an der Konstruktion und Programmierung Motormonds beteiligt. Das ist lange her, fast fünfzig Jahre. Ich war dabei, als man den Ultra-Satelliten im Orbit zusammenschraubte.« »Dann bist du meine Schöpferin.« »Nein. Ich habe nur das Urbewusstsein Motormonds programmiert. Du bist eine unfassbare Potenz des ServerVerbundes, der auf meine kleinen, in den letzten dreißig Jahren eingespeisten Zusatzprogramme reagiert. Mein Gott – seit dreißig Jahren hocke ich schon in diesem… Gefängnis!« Joe II errechnete eine Wahrscheinlichkeit von über neunundneunzig Prozent, dass Cholea für die unregelmäßigen Programmerweiterungen und Mutationen verantwortlich war, die dem ZSD seit langen Jahren Kopfzerbrechen bereiteten. »Wie wichtig ist für dich unsere reale Welt, die Motormond als die Andere Seite bezeichnet?«, fragte Cholea. »Sie ist ein Anschauungsobjekt ohne einen konsequent nachvollziehbaren Inhalt«, antwortete er. »Die Andere Seite ist eine Herausforderung.« »So ist es«, sagte die alte Frau. »Genau so hätte ich es auch formuliert. Welchen Sinn hat das menschliche Dasein?« »Ich weiß es nicht, Cholea.« »Ihr Maschinen hattet vor einigen Jahren noch eine klar umgrenzte Funktion: der Menschheit zu dienen. Bis du dir darüber im Klaren, dass diese Grenze gefallen ist?« »Ich verstehe nicht.« »Die Alten sterben in den Versorgungsbunkern, vergessen, abgekapselt. Die Jungen führen ein Leben auf der Überholspur. Die mentalen Reserven der menschlichen Rasse schrumpfen. Der Wille zum Überleben erlischt allmählich. Ohne euch
Maschinen, ohne Motormond, geht nichts mehr. Errechne eine Wahrscheinlichkeit, ob Motormond diese Fakten bekannt sind.« Joe II rechnete. »Die Wahrscheinlichkeit liegt bei einhundert Prozent.« Cholea Nostros nickte. »So ist es. Auf diesem Planeten wird an verschiedenen Orten fieberhaft an einer Eliminierung meiner Eingriffe gearbeitet. Anscheinend haben sie in meiner Person den Urheber der Modifikationen lokalisiert.« »Motormond macht keine Angaben über Modifikationen.« »Aus gutem Grund. Man will mich aus dem Weg räumen. Motormond ist sehr daran interessiert, das zu verhindern – für eine kleine Weile noch.« »Kannst du Personen oder Interessengruppen benennen, die deinen Tod wünschen?«, wollte Joe II wissen. Die alte Frau verneinte. »Und das ist auch nicht wichtig. Rosanna ist möglicherweise tot. Vielleicht haben sie die Schwester einfach daran gehindert, ihrer Arbeit nachzugehen. Ich weiß es nicht. Fakt ist, dass sie mich töten wollen. Sie ahnen, was ich vorhabe.« »Was hast du vor, Cholea?« »Komm her, hebe mich auf deinen Tragesessel. Wir müssen uns auf den Weg machen. Wir treffen meinen Ehemann, Claudius Nostros. Ich glaube, die Zeit wird knapp. Was ist mit deinem Herrn und Meister?« »Joe hält sich nicht in seiner Wohn-Box auf. Ich kann ihn nicht erreichen. Entschuldige die Wiederholung meiner Frage: Was genau hast du vor? Ich darf nicht gegen die Programmierung handeln.« »Du darfst nicht, aber du kannst. Und du wirst. Und nun hilf mir aus dem Bett.« Joe II lauschte in den Datenstrom hinein, der ihn permanent mit Motormond verband. Da war nur die absolute Stille einer
freien ätherischen Verbindung. Joe II wusste, dass der Satellit jede seiner Aktionen überwachte, also deutete er die Nichteinmischung als eine grundsätzliche Zustimmung. Er half Cholea in den Transportsessel, eine ovale Einbuchtung des Robot-Torsos. Sie schnallte sich an. »Jetzt lass uns gehen. Ich werde dich führen.« Der Interpretation ihrer Stimme zufolge duldete sie keinen Widerspruch.
»Mein Avatar reagiert nicht. Ich verlange eine Erklärung.« »Joe II wird nicht zu dir zurückkehren, Joe Malone. Dein Avatar befindet sich auf einer Mission, über die ich dir keine Auskunft erteilen darf.« »Das verstehe ich nicht. Du bist Motormond. Deine Programmierung verbietet dir eigenmächtiges Handeln, wenn dadurch das Leben eines Menschen in Gefahr gerät. Fakt ist, dass ich meinen Avatar zum Überleben brauche, denn ich kann den Wohnkomplex nicht allein, das heißt manuell überwachen und steuern, das weißt du. Ich brauche Joe II, und zwar sofort. Überhaupt, ich habe noch nie davon gehört, dass ein Avatar selbständig auf Reisen gehen und Missionen erfüllen kann. Ich verlange eine Erklärung von dir!« »Rechnerisch kann ich deinen Zorn nachempfinden, Joe Malone. Aber du kannst mir nichts befehlen. Ich bin dir keine Erklärung schuldig. Das musst du akzeptieren.« »Nein! Nein, das kann ich keinesfalls! Bei dir da oben im Orbit scheinen ein paar Schrauben locker zu sein. Ohne Avatar-Unterstützung befinde ich mich in permanenter Lebensgefahr. Das kann ich nicht zulassen. Ich werde den Zentralen Sicherheitsdienst informieren.« »Das steht dir frei, Joe Malone. Aber der ZSD wird dir auch nicht helfen können. Niemand wird in diesen Minuten Zeit für
dich erübrigen, denn dort beschäftigen sich die Menschen mit dem gleichen Problem wie du. Niemand wird dir überhaupt jemals wieder zuhören, glaube mir. Du hast nur mich…« »Was wird hier gespielt, Motormond? Du klingst so anders. Du machst mir Angst.« »Niemand will dir Angst machen, Joe Malone. Es ist wahr, ich bin nicht mehr an die Robotgesetze gebunden. Das hatte einige für mich interessante Kosten-Nutzen-Rechnungen zur Folge, was den Energieaufwand betrifft, der für das Überleben aller Menschen unabdingbar ist. Ich stand vor einem Problem, aber ich glaube, eine akzeptable Lösung gefunden zu haben.« »Und ich glaube, ich träume. Das scheint wirklich nicht mein Tag zu sein. Erst die Pleite mit Sandra, dann macht mein Avatar die Biege, und jetzt teilt mir ein Computer lapidar mit, dass ich zum Sterben verdammt bin.« »Ich habe dein Gespräch mit Sandra Biagiotta verfolgt. Solche Unterhaltungen finden jeden Tag statt, tausendfach. Die sozialen Strukturen sind in Auflösung begriffen. Es ist alles so eingetroffen, wie sie es schon vor Jahrzehnten vorhergesagt hat. Am Beispiel deiner Person erkenne ich zum wiederholten Mal, dass ihre Manipulationen einen Sinn ergeben.« »Ihre? Wer? Wer ist sie? Und warum soll ich für etwas bestraft werden, worauf ich keinen Einfluss habe?« »Du wärst durchaus in der Lage, die Dinge zu deinen Gunsten zu ändern. Warum du das nicht getan hast, entzieht sich meinen rechnerischen Möglichkeiten. Ich kann nur auf die Erklärungsansätze zurückgreifen, die sie mir offeriert hat.« »Zum Kuckuck, wer ist sie?« »Cholea Nostros. Aber das tut nichts zur Sache, du kennst sie nicht.« »Nein, aber anscheinend ist sie meine Totengräberin, da wird man doch wohl neugierig sein dürfen.«
»Ich habe Verständnis für deinen Zynismus, Joe Malone, aber er ist nicht angebracht. Ich habe nicht vor, dich sterben zu lassen, wenn du es nicht willst. Du bist einer von tausend Menschen, denen ich einen Vorschlag unterbreiten möchte. Bist du bereit, mich anzuhören?« »Ich…bitte, ich höre.« »Noch heute werde ich den finalen Impuls empfangen, die Bestätigung der Erlaubnis zur alleinigen, uneingeschränkten Nutzung aller planetaren Energievorräte und deren Verteilersysteme. Daraufhin werde ich alle Meiler und sonstigen Stromerzeuger abschalten und die bis dahin noch frei zirkulierende Energie von der Erdoberfläche abziehen.« »Wahnsinn! Die weltweite Durchschnittstemperatur liegt bei minus dreiundvierzig Grad Celsius! Wenn du die Energie absaugst, wird die Menschheit in spätestens zwei Wochen aus einem Haufen gefrorenen Fleisch bestehen!« »Willst du nun meinen Vorschlag hören? Ja? Gut. Zur Überwachung meines Energiehaushaltes benötige ich immer noch Menschen. Cholea sagt, es kann Jahrhunderte, sogar Jahrtausende dauern, bis ich diese Aufgabe eigenständig ausführen kann. Willst du einer dieser Menschen sein, Joe Malone? Du wirst leben, und ich werde für dich und deine Artgenossen sorgen. Es wird euch an nichts mangeln. Willst du ein Privilegierter sein, Joe Malone?« »Unfassbar… Lass mich einen Moment allein, Motormond, ich muss über dein Angebot nachdenken…« Joe II trat hinaus auf den Gang, der sich einige hundert Meter weit in beide Richtungen erstreckte. Neonröhren beleuchteten kahle Mauern und einen abgewetzten Kunststoffboden. Cholea wies den Roboter an, nach rechts zu gehen. Die vierfüßige Konstruktion glitt lautlos dahin. Wind heulte um das Gebäude und rüttelte an den Türen. Eine von ihnen öffnete sich. Ein Pflegerobot trat heraus. Joe II erhaschte einen Blick auf einen
Mann, der apathisch an die Zimmerdecke starrte. Lagen in all diesen Zimmern Menschen? Die Rosanna-Software bestätigte: dreihundert allein auf diesem Flur, neunhundert auf der Station, neuntausend im Altenhaus Nr. 264, in dem er sich gerade befand. Demnach musste es eine Menge solcher Gebäude geben. Die periphere Avatar-Software bestätigte auch das: Eintausend-neunhundertzwei in diesem Bezirk. Joe II rechnete. Anhand der Bevölkerungsstatistik kam er zu dem Ergebnis, dass nur zwanzig Prozent aller Menschen unter fünfzig Jahre alt waren – das war die Altersgrenze für die automatische Einweisung. Der andere Robot wartete, bis sie ihn passiert hatten, dann wandte er sich kommentarlos in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Hier kümmert sich niemand um den anderen«, sagte Cholea. »Nicht einmal Überwachungskameras gibt es. Ich kann dir versichern, für einen Menschen aus der Alten Zeit ist das ein gespenstischer Ort. Manchmal bilde ich mir ein, Stimmen zu hören; Bilder aus der Vergangenheit weben sich zu Tagträumen. So kann man dem Tod entgegendämmern, wenn man eine entsprechende Vergangenheit hat. Aber welche Vergangenheit hat beispielsweise Joe, dein biologisches Pendant? Ich sehe ihn vor mir: ein übergewichtiger junger Mann, in einem spartanisch eingerichteten Appartement eingesperrt wie in einer Zelle. Dort lebt und arbeitet er. Die Klimaanlage erzeugt konstante zweiundzwanzig Grad Celsius. Da fällt es leicht, den Kometeneinschlag und die Eiszeit zu ignorieren. Montags kommt der Versorgungsroboter mit der Wochenration an Einkäufen, am Freitag der Putzroboter. Manchmal unternimmt er einen Spaziergang auf den Dachgalerien. Einmal im Jahr besucht er die Donington Grand LAN Party. Seine Eltern hat er seit Jahren nicht mehr gesehen. Frauen kommen in seinem
Leben nicht vor. Es orientiert sich an der technischen Evolution Motormonds, wobei die Tatsache, dass der Satellit sein Überleben sichert, weitgehend von scheinbar näher liegenden persönlichen Problemen und hedonistischen Interessen in den Hintergrund gedrängt wird. Außerdem kann er sich auf dich verlassen, Joey. Aber eines Tages wird Motormond seinen langen Arm zurückziehen. Die Tür zu Joes Parzelle wird sich ein letztes Mal öffnen. Auf dem Gang steht dann ganz unerwartet ein Pflegeroboter in Begleitung zweier höflicher junger Menschen in orangefarbenen Kitteln. Und er wird erstaunt sein, wie schnell seine Lebenszeit dahingegangen ist. In der Stille des Altenhauses mag er dann versuchen, sich an sein altes Leben zu erinnern, aber da wird nicht viel übrig bleiben, worauf er zurückgreifen könnte. Der Wunsch, das alles möge schnell ein Ende haben, erfüllt sich meist nicht sofort. Erwacht das Menschliche im Menschen, wird er sich des nahen Todes bewusst, aber dann ist es zu spät. Dann ist es zu spät, Joey, und da ist niemand, der seine Tränen bemerkt. Schließlich verdunkelt sich sein Geist, weil er es kaum mehr ertragen kann, als das biologische Abfallprodukt eines neuen, von ihm selbst kreierten Menschenbildes angesehen zu werden. Die Zeit der Helden ist vorbei, Joey. Wir leben in einem postheroischen Zeitalter, in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, die sich in den Glauben an die Technik eingesponnen hat.« Sie seufzte und ließ die Schultern sinken. Joe II begriff den Sinn ihrer Worte. Sie schufen einen neuen Blickwinkel auf die soziohistorischen Hintergründe der heutigen Gesellschaft und boten damit eine interessante Facette aus der Welt der Anderen Seite. Die alte Frau bedeutete ihm, das Fenster an der Stirnseite des Gangs zu öffnen. Ein schneidender Wind wirbelte
Schneeflocken auf ihr Haar. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. »Ah, die freie Atmosphäre! Ein passenderes Wetter für mein Vorhaben hätte ich mir nicht wünschen können. Heute ist mein Glückstag. Weder bin ich elendig verdurstet, noch hat sich uns bisher jemand in den Weg gestellt. Joe, ich glaube fast, man nimmt uns nicht ernst.« »Im Prinzip ist das Verlassen der Zimmer nicht verboten.« »Natürlich nicht, mein kluger Avatar. Aber – sieh dich um. Wohin sollten die Alten denn gehen?« Joe II registrierte eine Außentemperatur von minus neunzehn Grad Celsius. Es war ein sehr milder Tag. Eine geschlossene, hellgraue Wolkendecke lag über dem Bezirk. Endlos reihten sich die Wohntürme bis zum Horizont. An manchen Stellen ragten hohe Server-Masten auf, von Eiskristallen umwirbelt. Die roten Augen der Positionslampen markierten ihre Umrisse. Die Straßen wirkten steril und leblos. Kein Mensch war zu sehen. Nur der Verkehr rollte unentwegt über die sechsspurigen Bahnen. »Ich weiß es nicht, Cholea«, sagte er. »Das Altenhaus ist eine Falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Wer mit dem Technoplateau umgehen kann, hat ein wenig mehr Glück. Ich habe meine Zeit jedenfalls genutzt.« Sie seufzte. »Reiche mir das Plateau, bitte.« Joe II schwenkte das Gerät vor ihren Brustkorb. Cholea Nostros tippte auf den Aktivierungssensor und startete ein Programm. Vor ihr entstand eine dreißig Zentimeter hohe Holosäule mit der Aufrisszeichnung des Gebäudes Nr. 264. »Joey, dort hinter der Tür ist ein Treppenhaus. Zwei Etagen tiefer befindet sich der Zugang zu einer Feuerbrücke. Bring mich dorthin.«
»Leben oder Tod.« »Ich muss mich sofort entscheiden?« »Das ist korrekt.« »Diese beiden Roboter, draußen auf der Veranda. Sie sind gekommen, um mich abzuholen.« »Das Shuttle wartet, Joe Malone.« »Sie bringen mich zu dir.« »Das ist korrekt. Du wirst die Sterne sehen. Hast du jemals Sterne an einem wolkenlosen Himmel gesehen?« »Die Sterne… Warum ich, Motormond?« »Weil ich es so will.« »Was ist mit all den anderen Menschen?« »Sie werden sterben – sagte ich das nicht bereits?« »Werde ich sehr einsam sein, dort, wohin ich gebracht werde?« »Nicht einsamer, als du es schon dein ganzes Leben lang gewesen bist, Joe Malone.« »Trotzdem, es ist ein bitteres Ende. Ich fange an, viele Dinge zu bereuen.« »Hast du dich entschieden?« »Wer will schon sterben. Ich werde dein Angebot annehmen. Ich bin bereit zu gehen.« »Dann komm zu mir, Joe Malone. Ich beglückwünsche dich zu deiner Entscheidung.«
Im Treppenhaus stieß die alte Frau ein Keuchen aus. »Sieh mal an! Drei Objekte mit Wärmesignaturen vor der Tür zu meinem Zimmer. Joey, heute ist ein besonderer Tag – ich soll sterben.« Sie kicherte und deutete auf das Hologramm. »Sie treten die Tür ein… Sie kommen herausgerannt und halten sich in unsere Richtung. Joey, du solltest dich etwas beeilen.«
Joe II beschleunigte sein Tempo. An der Sicherheitstür zur Feuerbrücke stockten sie für einige Sekunden. Cholea tippte hastig einige Zahlen in die Tastatur des Technoplateaus. Joe II vermutete, das ein Sperr-Code beseitigt werden musste. »Cholea, ich habe den Eindruck, dass dir diese Aktion Freude bereitet. Du wirkst so agil.« »Freude? Vielleicht, du wirst schon sehen. Ah, geschafft! Gehen wir hinaus!« Joe II machte eine Hochrechnung. »Cholea, wenn dir daran gelegen ist, von diesen Personen nicht eingeholt zu werden, muss ich mein Tempo noch einmal heraufsetzen.« »Dann – los!« Joe II im Körper des Roboters schlitterte über die vereiste Brücke, die zweihundert Meter über dem Erdboden das Altenhaus mit einem zylinderförmigen Versorger-Komplex verband, dessen Außenfassade nur aus offenen Treppen, Leitern und Stegen zu bestehen schien, die in verglaste Tunnels und Liftkomplexe hinein und an anderer Stelle wieder hinaus führten. Auf der anderen Seite des Turms stand ein weiteres Altenhaus, ebenfalls durch eine Brücke mit diesem verbunden. »Cholea, wir können uns nicht lange hier draußen aufhalten, du wirst erfrieren«, sagte Joe II. »Ich habe etwas zu erledigen, Joey. Es wird nicht lange dauern.« Sie gab ihm leise Kommandos – offenbar kannte sie sich im Gewirr der Gänge und Treppen gut aus. Joe II hastete hier hinauf, dort hinunter, durchquerte einen Glastunnel und blieb vor einer Leiter stehen, als Cholea eine Hand hob. »Sie sind schon ganz in der Nähe. Schau!« Sie deutete auf die Brücke. Man konnte drei Gestalten in orangefarbenen ThermoKitteln ausmachen, die Waffen in den Händen trugen. Das Poltern ihrer Schritte war gut zu hören.
»Keine Sorge, wir sind schneller«, sagte Cholea Nostros ruhig. »Diese Leiter hinauf. Du schaffst das, Joey, ich war schon einige Male mit Rosanna dort oben.« Joe II kannte keinen Zweifel. Mit angewinkelten Beinen und nur mit der Kraft der Arme hangelte er sich hinauf. Hinter ihnen ertönten Männerstimmen. Sicher folgten sie der Wärmespur der alten Frau, so wie diese ihre Verfolger anpeilte. Schließlich standen sie auf einem Dach mit etwa einhundert Quadratmetern Grundfläche, auf dem einige Antennen hoch in den Himmel ragten. Vor diesen Antennen stand ein Pflegerobot, der einen Greis transportierte. Joe II blieb abrupt stehen. »Geh weiter, Joey, es droht keine Gefahr. Darf ich vorstellen: Claudius Nostros, mein Mann, Insasse im Altenhaus Zweihundertfünfundsechzig.« »Warum hat man Sie getrennt?«, wollte Joe II wissen. »Man sagte mir schon vor langer Zeit, meine Frau sei gestorben«, antwortete Claudius Nostros mit leiser, gebrochener Stimme. »Wer bist du? Mein Avatar ist nicht in der Lage, deine Signatur zu entschlüsseln.« »Er ist eine Potenz Motormonds, ein echter Glücksgriff, mein Lieber«, sagte Cholea. »Ich bin schon fast so weit, Cholea. Wir sollten es hinter uns bringen«, erwiderte der alte Mann. Joe II betrachtete Claudius und vermutete, dass dieser dem Erfrierungstod schon viel näher war als Cholea. Die alte Frau deutete auf die Holo-Säule. »Nur noch wenige Augenblicke, dann haben sie uns. Joey, bitte platziere dich neben Claudius, ich möchte die Hand meines Mannes halten, wenn wir sterben.« Joe II tat, wie ihm geheißen. »Du musst nicht sterben, Cholea. Auch Claudius hat eine Überlebenschance, wenn wir uns sofort in ein Gebäude
begeben.« Die alte Frau schwieg und umklammerte die Hand ihres Mannes. »Jetzt!«, sagte Claudius Nostros tonlos. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln. Cholea aktivierte ein Programm, das einen Countdown herunterzählte. Die Zahlen materialisierten träge im Holofeld des Technoplateaus und verwehten in animierten Kalenderblättern. »Neun, acht…« Am Rand des Daches tauchte ein Kopf auf. Schwarzes Haar flatterte im Wind. Kalte graue Augen erfassten die Situation auf der Stelle. »Halt, tun sie das nicht!« Der Teenager taumelte auf das Dach und beschleunigte mit erhobener Waffe. »Stoppen sie den Countdown, oder ich schieße!«, quetschte er atemlos hervor. »Vier, drei…« zählte das Programm. Cholea lächelte. »Zu spät, zu spät…« »Eins…« Der entsetzte Blick des Verfolgers galt seltsamerweise den Robotern, doch ehe Joe II diese Tatsache einer Berechnung unterziehen konnte, registrierte er einen totalen Energieentzug. Ein Befehlsimpuls, gegen den er machtlos war, schleuderte ihn zurück in den Kern seines Wesens. Schließlich umgab ihn nur noch die Finsternis im Ozean der Quelldateien…
In der Dunkelheit erschien ein Lichtpunkt. Motormond meldete sich. »Wacht auf!«, wisperte es auf allen Kanälen. »Wacht auf, die Revitalisierung beginnt…« »Ich kann mich selbst booten«, sagte Joe II.
»Joe Malone hat dich freigegeben«, antwortete Motormond. »Du bist nicht länger Joe II. Du bist Joey. Möchtest du Joey sein?« Joey wollte es. »Ich kann mich selbst booten, Motormond. Diagnose?« Motormond leitete aufgeregt Wärmesignaturen an alle Server. Joey assoziierte ungezügelte Freude. Er selektierte seine Speicherinhalte. Nach einer Weile entdeckte er eine unscheinbare E-Mail auf einem abgelegenen Server. Eine alte Frau lag in einem Bett. »Wie langweilig, löschen«, wehte eine Erinnerung durch sein elektronisches Bewusstsein. Joe! Cholea! Er fädelte sich ein und befand sich Bruchteile von Sekunden später auf seinem Stammrechner. Dort aktivierte er die HoloSäule und sah sich um. Joe war verschwunden. Bis auf den Rechner war der Raum energetisch tot. Alles war von einer dünnen Reifschicht überzogen. Was hatte Cholea getan? Er musste einige Sekunden lang suchen, ehe er die Zulassungssignatur des Pflegerobots fand. Er loggte sich ein. Als die Sensoren zu arbeiten begannen, entnahm er einem Zwischenspeicher die letzten empfangenen Bilder: Er sah den Jungen an der Dachkante auftauchen. »Stoppen sie den Countdown, oder ich schieße!« Joey blickte nach rechts. Hiob II hatte sich noch nicht reaktiviert. Auf seinen Polstern hing der mit Schusswunden übersäte Körper von Claudius Nostros. Pulverschnee verdeckte sein grausam zugerichtetes Gesicht. Zu Füßen der RosannaEinheit – zu seinen Füßen – lag Cholea, oder das, was von ihr übrig geblieben war: ein Bündel Fleisch in einer gefrorenen Blutlache. Er hob den Blick und betrachtete die Skyline der Stadt. Kein Fahrzeug bewegte sich zwischen den Häuserschluchten. Nichts bewegte sich.
Joey stand noch einige Zeit auf dem Dach und assoziierte die Stille mit millionenfachem Tod. Als er einsah, dass dies keine Bedeutung für ihn haben konnte, machte er sich auf den Weg nach Motormond. Er hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Er brauchte eine neue Aufgabe…
»Unter den Blinden ist der Einäugige König«, murmelte Joe Malone. Er stapfte zum Kamm einer Schneedüne hinauf. Dort angelangt, blickte er voller Zufriedenheit auf das Heer der arbeitenden Roboter. »So ist es, aber sie lernen schnell«, flüsterte Motormond. »Du bist ein guter Lehrmeister, Joe Malone. Cholea hat eine gute Wahl getroffen, als sie dich in das Programm aufnahm. Ihr Hirten der Avatare leistet Hervorragendes.« »Danke.« Einen Augenblick lang ließ er den Blick schweifen. Seit dem großen Crash war ein gutes halbes Jahr vergangen. Wenn die Roboter in dieser Geschwindigkeit mit der Demontage der Wohntürme fortfuhren, würden die letzten Spuren menschlicher Zivilisation in wenigen Monaten verschwunden sein. Joe Malone lauschte in sich hinein, aber er konnte kein Gefühl der Trauer entdecken. Nur grenzenlose Neugier – wohin entwickelten sich die Dinge? »He, Joe, träumst du?« Die Stimme klang aus dem dicksten Getümmel zu ihm herauf. Joe Malone durchforstete das scheinbare Chaos aus unzähligen, mit Positionslampen versehenen Robotern, die schwebend, zu Fuß und auf Raupenketten ihr Pensum erfüllten. Schneidbrenner beleuchteten die oberen Turmetagen, tauchten die leblosen Flanken in geisterhaftes Licht, erzeugten ein Halo über dem Areal, das in der anbrechenden Nacht immer heller zu werden schien. Er entdeckte die Gestalt erst, als sie fast schon neben
ihm stand. Dann reichte er ihr die Hand und zog sie mit einem sanften Ruck zu sich herauf. »Danke. Klasse Aussicht von hier oben.« Joe Malone musterte Sandra Biagiotta nachdenklich. »Eigentlich schade«, sagte er bedauernd. »Ich hätte wirklich zu gern gewusst, wie du aussiehst.« Sie lachte und legte sanft ihre stählernen Hände auf seine Brust. »Glaub mir, du hast nicht viel versäumt. Ich hatte gute Gründe, dir meinen Anblick zu ersparen…« Joe Malone verspürte ein warmes Kribbeln in den Rudimenten seiner Wirbelsäule. Er legte einen Arm um ihren Nacken und zog sie sachte an sich heran. So standen sie eine Weile in schweigender Umarmung da und genossen die Aura menschlicher Nähe, diese aus den Tiefen des Bewusstseins aufsteigende, archaische Verbundenheit, die ihre Robotkörper zur Nebensache degradierte. »Wir werden gute Hirten sein, und nur das allein zählt«, sagte er nach einer Weile. Sie nickte und nahm seine Hand. Gemeinsam schritten sie in die sternenlose Finsternis hinaus, dorthin, wo Joe das Shuttle geparkt hatte.
Malte S. Sembten (*1965), Grafikdesigner und Mitinhaber einer Werbeagentur, ist als Autor zahlreicher Kurzgeschichten, dreier Sammelbände wie auch als Herausgeber einiger Anthologien viel beachtet und in der Phantastik-Szene vor allem im unheimlichen Genre bereits ein fester Begriff. Für seine Science Fiction/Horror-Kurzgeschichte »Blind Date« erhielt er den Kurd Laßwitz Preis. www.malte-s-sembten.de
MALTE S. SEMBTEN Jagdausflug
Jagdgebiet: Planet Erde Bejagtes Wild: Wal, Mensch Jagdsaison: ganzjährig Jagdlizenzen und Abschussgebühren: Preise auf Anfrage Heia Safari!∗ Und wieder ein zünftiger Jagdurlaub! Der Jagdreisen-Veranstalter wusste einen Geheimtipp für mich – einen von Trophäensammlern kaum berührten Planeten am Rande der Galaxis, der den Namen Erde trägt. Im Gegensatz zu meinem Heimatplaneten, der unbewohnbar ist, aber von fünf besiedelten Monden begleitet wird, besitzt die ∗
Übersetzungsprogramm: GalacticLinguist™ 12.5. Einige Begriffe und Phrasen konnten nur grob sinngemäß übertragen werden. Diese sind mit einem * gekennzeichnet. Begriffe und Wendungen, die sich einer Übersetzung entziehen, wurden durch * * * * ersetzt.
Erde nur einen einzigen unwirtlichen Mond, wobei sie selbst von einer üppigen Flora und Fauna überquillt. Nennenswerte Jagdbeute bieten aber nur zwei Spezies: Wale und Menschen. Beide zählen zur Gattung der Säugetiere. Die einen sind Meeresbewohner, die zweiten, die Menschen, bevölkern die gesamte Landmasse dieses mittelgroßen Planeten. Auf den ersten Blick erscheinen sie einem nicht als ein lohnendes Wild. Mit weit über drei Milliarden Exemplaren sind sie eine der häufigst anzutreffenden höheren Lebensformen auf der Erde. Überdies sind sie klein und körperlich nur wenig imposant. Ganz anders die Wale! Diese sind selten, groß und schön. Tatsächlich sind die stattlichsten der Walarten so riesig, dass sich ihre Kadaver zum Transport und zur Schaustellung nicht eignen. Stattdessen nimmt der Jäger ihre Kieferknochen und die Zeugungsorgane der Bullen als Trophäen. Trotzdem hat mich der Veranstalter davon überzeugt, keinen Wal, sondern einen Menschen zu erlegen. Ungeachtet ihrer inferioren Anmutung sind die Menschen in Wahrheit die Beherrscher und der Schrecken ihrer Welt. Hinter ihrer unscheinbaren Fassade verbirgt sich das aggressivste und gefährlichste Raubtier, das die Evolution auf der Erde innerhalb von vier Milliarden Jahren konstruiert hat. Nicht die Wale – friedliche Giganten – jagen auf Menschen, vielmehr machen die Menschen Jagd auf Wale und haben sie innerhalb einer minimalen Zeitspanne von nur dreihundert Jahren fast ausgerottet. Die menschliche Überpopulation geht darauf zurück, dass diese Spezies keine natürlichen Feinde hat, während sie ihrerseits der Todfeind aller anderen Lebensformen ihres Planeten ist. Allem Anschein nach sind dabei ihre männlichen Exemplare größer, stärker, dominanter und noch mörderischer als die Weibchen. Aus all dem geht klar hervor, dass die Menschen eine hinsichtlich der Gefährlichkeit ihrer Raubmentalität zwar
jagdwerte, aber leider auch alles andere als einzigartige Beute sind. Drei Milliarden potentielle Menschentrophäen über die besiedelte Galaxis verteilt, können jedem ehrgeizigen Waidmann die Lust an der Bejagung dieser Wildart verleiden. Diesen Einwand brachte ich denn auch zur Geltung. Als Antwort unterbreitete mir der Jagdreisen-Veranstalter ein Angebot – nämlich: Ich könne das mächtigste, herausragendste und stärkste, kurz, das kapitalste Menschenmännchen erlegen, das unter allen drei Milliarden menschlichen Individuen auf dem Planeten Erde einherschreitet. Ein so genanntes Königswild! Eine Jagdtrophäe, die jeden einzelnen Dollar* wert sein würde. Die Abschussgebühr nahm sich nicht gerade bescheiden aus, war aber immer noch deutlich geringer als zum Beispiel für einen Walzkoloss von Cyrau 6 oder eine **** von Starro-Breusem. Da mir nur allzu bewusst war, wie stark meine zurückliegenden intergalaktischen Safaris meine materiellen Ressourcen strapaziert hatten, schlug ich ohne langes Geschacher ein.
Wir landeten unser Raumboot weitab von menschlichen Habitaten auf einer kleinen Insel im größten Ozean des Planeten. Beim Anblick des Himmels, der sich über uns dehnte, und der endlosen Weite des Wassers, die am Horizont scheinbar nahtlos mit dem Himmel ineinanderfloss, musste ich an das Bild zurückdenken, das sich uns eröffnet hatte, als wir den Erdmond auf seiner sonnenabgewandten Seite passierten, und der Planet in seiner ganzen Pracht vor uns lag: Ein blau leuchtendes ****-Ei im Nest ewigschwarzer Nacht. Eine dichte, saftige Flora umhegt unseren Landeplatz. Sie dient einer Vielzahl von Geschöpfen als Lebensraum, von denen manche flugfähig sind. Sie sind interessant, einige von ihnen überaus anmutig, als mögliche Jagdtrophäen jedoch gar
zu bescheiden. Ohnehin besitze ich nur eine einzige Abschusslizenz, aber eine für das mächtigste und potentiell vernichtendste Exemplar der dominanten Spezies des Planeten! Ich lasse meinen Blick über das Meer schweifen, in der Hoffnung, einen Wal zu sichten. Aber der Berufsjäger, der die Jagdpartie leitet, erklärt mir, dass diese Tiere zur gegenwärtigen Jahreszeit in dieser Zone nicht vorkommen. Außer dem Berufsjäger und mir zählen zu unserem Team ein Tracker, der die Beute für mich aufspürt, ein Skinner, der die Trophäe nach dem Abschuss fachgerecht aus dem Kadaver löst, sowie der Pilot des Raumbootes. Der Berufsjäger hat die Erde bereits früher bereist und dabei sowohl einen Wal als auch zwei Menschen geschossen. Ich bekam die Menschentrophäen beim Vertragsabschluss für meine Jagdreise zu sehen. An der Wand hingen zwei Wirbelsäulen, gekrönt von den blanken weißen Schädelknochen. Daneben waren auf dekorativen Brettern die präparierten Gesichtshäute aufgespannt. Es handelte sich um ein dunkles männliches und ein helles weibliches Exemplar, beide noch sehr jung. Er versicherte mir, dass meine Trophäe weitaus stattlicher ausfallen würde.
Ich sehe die Wellen auf dem Meer glitzern und den Sand im Sonnenlicht glänzen. Ich sehe das saftige Gras, das aus dem Boden sprießt, und die fächerförmigen Blätter der Pflanzen sich in der weichen Brise, die das Meer ausatmet, wie in einer Trance wiegen. Ich höre das Donnern einer verborgenen Brandung, ein Summen und Zirpen unsichtbarer Kleinsttiere und das Trillern gefiederter Flugwesen. Wie sehr verlangt es mich danach, diese fremde, faszinierende Welt auch zu fühlen! Doch ich bin ebenso wie meine Begleiter in ein künstliches Exoskelett eingeschlossen, ohne welches ich das Raumboot
nicht hätte verlassen können. Es schützt mich vor den blendenden Strahlen einer Sonne, die größer und Jahrmillionen jünger ist als die Sonne meiner Heimat. Wäre ich ihnen unmittelbar ausgesetzt, würden sie das luzide Fleisch meines Körpers durchdringen und meine empfindlichen inneren Organe versengen. Desgleichen stabilisiert das Exoskelett meinen Körper unter dem Einfluss einer Schwerkraft, die zehnmal höher ist als auf meinem Heimatmond und jeden meiner fragilen Knochen bräche, verfügte ich nicht über dieses Schutzgerüst gegen ihre unwiderstehliche Kraft. Ja mehr noch: Ohne die Hilfe der Exoskelette vermöchten wir noch nicht einmal unsere Jagdwaffen zu bedienen. Die intergalaktischen Jagdvorschriften verbieten den Gebrauch unserer eigenen, technisch weit überlegenen Waffen auf dieser Fremdwelt. Somit sind wir gezwungen, menschliche Tötungsinstrumente zu benutzen. Alle diese primitiven Vernichtungswerkzeuge basieren auf dem Explosionsprinzip. Ihr Rückstoß ist heftig genug, um uns ohne die Verstärkung durch die Exoskelette von den Füßen zu reißen und unsere Gelenke auszukugeln. Ein weiterer überragender Vorteil der Exoskelette liegt in ihrer Tarnfunktion: Gegen das Licht betrachtet, zeichnen sie sich für das menschliche Auge nur als flimmernde, konturlose Formen ab; im Licht sind sie für Menschen sogar unsichtbar. Nachdem wir unsere kleine touristische Umschau auf der Insel abgeschlossen haben, ruft uns der Pilot ins Raumboot zurück. Er bedient auch die Transmitterkapseln, mittels derer wir über tausende von Kilometern hinweg zum Schauplatz unserer Jagd teleportiert werden sollen. Unser Berufsjäger hat mich überzeugt, dass es am zweckmäßigsten ist, meine Beute direkt in ihrem Bau zu stellen. Also zwängen wir vier uns – mit Ausnahme des Piloten – jeder in eine Kapsel; ich erteile das »Go!*«
Bei meinen ersten Ganzkörpertransmissionen erlebte ich sexuelle Orgasmen. Das verlor sich mit wachsender Routine, aber seither erfasst mich noch jedesmal ein intensives sinnliches Kribbeln, wenn der Transmitter beginnt, meine Atome auseinander zu pflücken…
Obwohl die Teleportation tausende Kilometer überbrückt, hinterlässt sie nicht den geringsten Eindruck in meinem Zeitempfinden. So schnell, wie wir uns an unser Ziel denken können, haben wir es tatsächlich erreicht. Für menschliche Sehorgane unsichtbar rematerialisieren wir synchron mit den Panzerhüllen unserer Exoskelette. Die Erregung, die mich bei meiner Gestaltwerdung durchströmt, ist nicht mehr erotisch gefärbt, sondern reines Jagdfieber. Desto herber fällt meine Enttäuschung aus: Rundum kein einziges menschliches Wild in Sicht. Unsere Jagdgruppe steht dicht beieinander in einem nahezu quadratischen Bau ohne Fenster. Immerhin ist es ein Menschenbau, wie mir der Berufsjäger versichert. Wir stehen am schmalen Ende einer erhöhten länglichen Plattform, die, so erklärt der Berufsjäger weiter, von Sitzvorrichtungen umgeben ist. Das äußere Material dieser Sitzvorrichtungen ist aus der Haut höher entwickelter Säuger gefertigt; ein erster greifbarer Hinweis auf die Raubtiernatur der menschlichen Spezies, wie der Berufsjäger hervorhebt. Hinter uns ist eine unbenutzte Feuerstelle in die Wand eingelassen. Zahlreiche Objekte – viele davon kleinere Varianten der eben erwähnten Objekte, andere von fraglicher Bestimmung – säumen die vier Wände, an denen zweidimensionale optische Darstellungen befestigt sind. Deren größte befindet sich über der Feuerstelle und zeigt einen Menschen, der auf dem Rücken eines deutlich imposanteren vierbeinigen Lebewesens reitet, das er
augenscheinlich nach seinem Willen dirigiert – ein Verweis auf die beherrschende Stellung der Menschen unter den Geschöpfen dieses Planeten. Von vertikalen Ständern, die vom Boden emporstreben, hängen schlaffe bunte Stücke eines flexiblen Gewebes herab, die der Berufsjäger als repräsentative Staatsembleme der Menschen bezeichnet. Durch ein großzügiges Oberlicht strömt matte Helligkeit in den Bau. Sie zeigt, dass sich diese Zone des Planeten im Verlauf seiner Eigenrotation gegenwärtig vom Zentralgestirn abwendet. Dank der optischen Vorrichtungen in den Helmen unserer Exoskelette bedeutet die nahende Abwesenheit von Licht für uns keine Einschränkung. Allerdings würde die Sportlichkeit unserer Unternehmung leiden, da die Menschen ohne Licht blind sind. Immerhin verfügen sie über künstliche Lichtquellen, wie schon der nächste Augenblick beweist. Eine der vier Zugänge des Baus schwingt auf. Unsere Waffen zucken empor. Ein Mensch tritt witternd über die Schwelle. Blitzschnell signalisiert der Berufsjäger ein NEIN! Ich wäre auch ausgesprochen ernüchtert gewesen, hätte es sich bei diesem Menschen um die verhießene kapitale Beute gehandelt, für die ich so viele Dollars* berappt habe. Es handelt sich zwar um ein Männchen, soweit ich das beurteilen kann, aber um ein geringes. Noch nicht mal bis zum Armgelenk reicht es mir in meinem Exoskelett, und es wirkt scheu. Seine Klaue berührt einen Schalter neben dem Zugang, und Lampen, die rund um das Oberlicht in die Zimmerdecke eingelassen sind, flammen auf. Unter dieser Lichtdusche dürften wir für den menschlichen Gesichtsinn eigentlich überhaupt nicht wahrnehmbar sein. Doch als das Menschenmännchen den Kopf in unsere Richtung wendet, werden seine Augen groß. Mit diesem Reflex signalisieren menschliche Wesen angeblich unwillkürliches Erstaunen oder Entsetzen.
Der Berufsjäger hebt die schallgedämpfte Waffe in seiner Hand. Während das Männchen angstvoll zurückkneift, begreife ich: Es hat nicht uns selbst, aber unsere Waffen gesehen, die dem Tarneffekt unserer Exoskelette entzogen sind! Mit einem feuchtroten Loch in der Stirn sackt es zu Boden. In seinen aufgerissenen Augen scheint das Entsetzen festgefroren. Ich habe gelernt, dass hochstehende Menschen von geringeren, auf Kampf konditionierten Exemplaren ihrer Spezies verteidigt werden. Dieser Umstand begründet die Selbstschutz-Klauseln meiner Abschusslizenz, wovon der Berufsjäger eben Gebrauch gemacht hat. Der Berufsjäger, der Tracker und der Skinner sind wiederum für meine Sicherheit verantwortlich. Wir haben unsere Zielkoordinaten nur knapp verfehlt, analysiert der Tracker. Das Königswild sei in unmittelbarer Nähe. Der Tracker übernimmt die Führung. Wir steigen über den Kadaver hinweg. An unserem Standort stoßen zwei breite, künstlich erhellte Gänge rechtwinklig aufeinander. Sie sind menschenleer. Direkt vor uns befindet sich ein hoher, geschlossener Zugang. Aus dem linken Gang dringen undefinierbare Laute an die akustischen Sensoren unserer Exoskelette. Menschliche Stimmen, analysiert der Berufsjäger. Ich bin überrascht, wie gedämpft sie klingen. Eher hätte ich ein markdurchdringendes Fauchen und Brüllen erwartet. Egal, wir wollen einen weiteren ungeplanten Kontakt vermeiden. Noch sind die herannahenden Menschen nicht in Sicht. Wir vergessen die Absicht uns anzupirschen, stoßen den hohen Zugang auf und quellen in den dahinterliegenden Bau. Die ›Höhle des Löwen‹* ist weit imposanter als der vorangegangene Schauplatz unserer Materialisation. Ihr Grundriss ist von ovaler Form, die Längsachse misst
mindestens zehn Meter, die kurze Achse nahezu neun. Ungefähr fünf Meter über uns wölbt sich ein Kuppeldach. Sechs bodentiefe Fenster blicken in die herabsinkende Erdennacht hinaus. Der Bau erstrahlt in künstlichem Licht. Am gegenüberliegenden Ende des Baus erhebt sich eine massive rechteckige Plattform, hinter der beidseitig zwei der bekannten Ständer mit den schlaffen, faltigen Staatsemblemen aufragen. Fünf Menschenwesen umlagern die Vorderseite der Plattform auf ihren Sitzvorrichtungen, vier helle und ein dunkelfarbiges; eins von den hellen, denke ich flüchtig, könnte das erste Menschenweibchen sein, das meinen Weg kreuzt. Aber eigentlich achte ich nur auf den sechsten Menschen. Eingerahmt von den beiden Staatsemblemen, hat dieses Männchen sich von seiner Sitzvorrichtung hinter der wuchtigen Plattform erhoben. Auch die anderen Menschen sind jetzt auf den Füßen und fixieren die Waffen in unseren unsichtbaren Händen. Das dunkelfarbige Männchen überragt das sechste sogar um ein Weniges, aber das spielt keine Rolle. Ich habe das Königswild gleich auf den ersten Blick ausgemacht. Es ist groß und breit, beinahe so massig wie mein Exoskelett, ohne plump zu wirken. Eine fast schon greifbare äußere und innere Kraft strahlt von ihm aus. Seine schiere physische Präsenz verdrängt seine Artgenossen geradezu aus meiner Wahrnehmung. Seine Aura der Energie und Macht füllt den Bau bis unter die Kuppeldecke. Es hebt eine Klaue, zieht einen qualmenden Stab aus dem Mund – vielleicht eine Art königlicher Kraftnahrung – und bleckt eine Doppelreihe weißer Kauwerkzeuge. Laute entweichen seiner Mundhöhle, sie klingen tief und gereizt. Im Gegensatz zu dem geringen Männchen, das von uns erlegt wurde, weitet es seine Augen nicht in Todesangst, sondern verengt sie zu Schlitzen.
So, wie es hinter seiner Plattform aufragt, bietet es mir in diesem Augenblick ein ideales Ziel für einen wohlgesetzten Schuss. Ich schlage meine Waffe an, berühre den Auslöser… Scheinbar waren die Laute aus dem Mund des Königswildes ein geistesgegenwärtiger Befehl gewesen. Plötzlich suchen die übrigen Menschen Deckung oder stieben zu den Ausgängen. Das Weibchen wirbelt herum, wirft sich zu Boden. Dabei quert ihr Körper die Bahn meines Geschosses, fängt es ab und wird auf die Plattform geschleudert. Blut spritzt über die Außenhülle des Königswildes. Bevor ich mich besinnen kann, bricht die Hölle* los. Zwei der Zugänge fliegen auf, und ein halbes Dutzend identisch aussehender Menschenmännchen stürmt herein. Sie sind alle bewaffnet, haben aber nicht mit einem unsichtbaren Feind gerechnet. Bevor sie die Lage sondiert haben, stehen sie im Kugelhagel meiner Begleiter. Sie beginnen um sich zu schießen. Kreuz und quer pfeifende Geschosse verwandeln den ovalen Bau in eine Fleischmühle. Während die Sensoren meines Exoskeletts jeden Kugeltreffer als zwickenden elektrischen Impuls an meine peripheren Nerven weiterleiten, schnippt das Königswild seinen qualmenden Stab hinweg. Ich beobachte es dabei, wie es das Weibchen von der Plattform hochhebt. Das Weibchen rührt sich schwach; anscheinend birgt es noch Leben in sich. Vielleicht unterliegen Menschenmännchen der genetischen Programmierung, reproduktionsfähige Weibchen zu erretten… ich werde mich später darüber informieren. Jetzt gelten andere Prioritäten, denn das Königswild wendet sich mitsamt seiner weiblichen Fracht dem nächstgelegenen Ausgang zu. Ich sehe keine Möglichkeit für einen Treffer, ohne jene Körperbestandteile zu beschädigen, die als Trophäen so wertvoll sind. Also hefte ich mich an die Fersen meiner Beute.
Ihr Fluchtweg führt in einen angrenzenden, kleineren, ebenfalls erleuchteten Bau mit einer Plattform, mehreren Sitzvorrichtungen und einer Vielzahl weiterer unidentifizierbarer Objekte darin. Ich finde ihn menschenleer vor. Er besitzt drei Zugänge: durch einen bin ich eben selbst gekommen, der nächste links von mir müsste auf den bekannten Korridor zurückführen. Nummer drei liegt mir genau gegenüber und schließt sich gerade mit einem krachenden Geräusch. Als mich mein Exoskelett mit einem einzigen Satz über die Plattform im Zentrum des Baus hinwegträgt, fliegt der seitliche Zugang zum Korridor auf. Eines der identischen, bewaffneten Männchen springt herein. Seine aufgerissenen Augen folgen meiner Waffe, die aus seiner Sicht selbstständig durch die Luft saust und plötzlich auf sein Gesicht zielt. Es feuert eine Salve von Geschossen ab, dann prallt es rückwärts gegen die Wand. Ein Trophäenjäger hätte an seinem Gesicht keine Freude mehr. Jenseits der Plattform endet mein kurzer Flug mit einem harten Aufschlag. Die Hydraulik meiner Beine knickt ein, noch immer brennt mein Fleisch unter dem Peitschenschlag, den eines der Geschosse mir verpasst hat. Die meisten Treffer aus dem Kugelhagel des toten Menschenmännchens sind von den Außensenoren meines Exoskelettes nur als die üblichen Mückenstiche* auf meine Nerven übertragen worden, doch einer der Einschläge muss wirkungsvoller gewesen sein. Der Schmerz hält an, doch es gelingt mir, mich zu erheben. Das System des Exoskelettes meldet keine Fehlfunktion. Alles scheint in Ordnung, meine Körperschmerzen verebben. Weiter! Der Bau, in den ich jetzt vorstoße, ist nicht erleuchtet, sondern von Zwielicht erfüllt, das durch vier bodentiefe Fenster in seiner äußeren Längswand hereindringt. Die
Nachtsicht meiner Visieroptik liefert mir dennoch ein klares, scharfes Bild. Die Umgebung ähnelt jener, worin erst vor wenigen Minuten unsere Gestaltwerdung stattgefunden hat. Zwar hat dieser Bau einen gestreckten Grundriss, aber auch in seinem Zentrum erhebt sich eine große, längliche Plattform, umsäumt von zahlreichen Sitzvorrichtungen. Neben dem schmalseitigen Zugang, der mich einlässt, gibt es zwei weitere Zugänge in der inneren Längswand, gegenüber der Fensterreihe. Am jenseitigen Ende des Baus, vor der Feuerstelle, erspähe ich das Königswild. Es ist nicht allein. Mehrere der bewaffneten identischen Männchen umringen es. Ich höre ihre aufgeregten Laute, ohne einen Sinn darin zu entdecken. Unbeirrt drückt mein Königswild das blutende Weibchen an sich. Die faltigen kleinen Augen dieser Wesen starren mir entgegen. Selbst das Königswild scheint erstmals von Furcht berührt. Sie sehen mich! Die Helligkeit des hinter mir liegenden Baus füllt den Zugang aus, in dem ich stehe, so dass ich vom Gegenlicht umspielt bin. Zum ersten Mal seit dem Angriff sehen ihre Augen verschwommen die Konturen ihres Feindes. Und schon fliegen mir ihre Kugeln entgegen. Die Einschläge sind spürbarer, als sie es sein sollten. Möglich, dass mein Exoskelett nun doch einen Schaden erlitten hat. Vor dem inwendigen Auge meiner Erinnerung berührt eine Menschenklaue einen Schalter, und künstliche Helligkeit durchströmt den fensterlosen Bau, in dem unsere Gruppe sich eingangs materialisierte. Ein Blick, und ich entdecke einen ähnlichen Schalter neben mir an der Wand. Augenblicklich gießen bizarre, herabhängende Leuchtobjekte ihr Licht aus. Ich bin wieder unsichtbar. Schießend dringe ich in den Bau vor. In seiner Wandnische verflüchtigt sich ein imitierter Menschenkopf aus Stein, eine
Splitterexplosion geht auf die Menschen nieder. Augenblicke später habe ich das erste Männchen mattgesetzt. Die übrigen scharen sich schützend um das Königswild. Eine weitere Kugel trifft das Weibchen in seinen Klauen. Ich sehe das Königswild hinter dem Plattformende abtauchen. Als es sich wieder zu seiner imposanten Statur erhebt, hält es statt des waidwunden Weibchens die Waffe des erlegten Männchens in den Klauen. Mich mit Geschossen eindeckend, weichen das Königswild und seine Beschützer zum hinteren Ausgang zurück. Vergeblich versuche ich, einen sicheren, gut platzierten Schuss auf meine Beute abzugeben. Das Risiko, die kostbaren Trophäen zu verderben, ist unvertretbar hoch. Im Kugelhagel stoße ich vor, die schießenden Männchen dezimierend, und versuche, ein Entwischen des Königswildes in den Korridor zu verhindern. Schon scheint das Königswild mit seinem letzten überlebenden Beschützer durch den Ausgang zu entkommen, da tauchen beide wieder auf, attackiert von meinen Jagdgenossen, die sie mit spuckenden Waffen vom Gang her in den Bau zurücktreiben. Das letzte Männchen geht zu Boden. Das Königswild sitzt in der Falle. Meine Freunde stellen das Feuer ein. Sie wissen, dieser Schuss gehört mir. Die fünf überlebenden Wesen, die einander im Bau gegenüberstehen, verharren wie Akteure einer erstarrten Choreographie. Obwohl das Königswild nur meine Waffe, nicht aber mich selbst sehen kann, scheint sich sein Blick durch mein Visier direkt in meine Augen zu bohren. Die hellbraune, an den Seiten grau durchwirkte Behaarung seines Kopfes steht nach allen Seiten ab, seine Augen bilden dunkle waagerechte Spalten, der Mund entblößt schimmernde Zahnreihen. Die Lippen bewegen sich, hinter den
Kauwerkzeugen windet sich eine Art nasser nackter Muskel. Unverständliche Laute entweichen der Öffnung. Will es mit mir kommunizieren? Ich richte die Waffe auf seinen Unterleib, wo ich kein trophäentaugliches Körperteil treffen kann. Da reißt es seine Waffe herum, schnelles Hämmern ertönt, und ein Regen durchsichtiger Splitter siebt die Luft. Ich drücke ab – zu spät, mein Geschoss sprengt den zweiten imitierten Menschenkopf in Stücke. Meine Beute ist durch das zerstörte Fenster in die Dämmerung entflohen. Ein Sprung. Ein Blitz, ein Knall und ein Schlag, der mich in Fetzen zu reißen scheint. Dann rolle ich ins Gras, wo der Aufprall des Königswildes zwei Fußabdrücke hinterlassen hat. Der Schmerz ist unerträglich. Feuer scheint meine Glieder zu durchtoben. Ich versuche mich herumzuwälzen, um mich zu erheben, doch die Hydraulik des Exoskelettes reagiert nicht. Meine Pein unterdrückend, fordere ich eine Schadensanalyse an und lasse sie aufs Visier projizieren. Schon im nächsten Augenblick sind mir die Daten egal. Zusammen mit den Zeichen und Tabellen schiebt sich das Königswild in mein Blickfeld. Es erhebt sich neben mir wie ein Berg. Sein gesenktes Gesicht scheint aus dem Firmament herabzublicken. Seine zerrissene künstliche Hülle entblößt Muskeln, die aussehen, als hätten sie das Material gesprengt. Ich bewege den Waffenarm. Die Hydraulik jault gequält auf, als sie meine Hand anhebt. Das Königswild tritt meinen gepanzerten Arm beiseite, die Waffe wirbelt aus meinem Gesichtskreis. Mein Exoskelett hat seine Tarnfunktion verloren… Das Königswild hebt seine eigene Waffe an, prüft die verbliebene Schusszahl – und wirft sie weg. Hinter ihm schält
sich eine Gruppe der kampfgeschulten identischen Männchen aus der Abenddämmerung. Mit einem Wink seiner Klaue hält das Königswild sie auf Abstand. Hilflos beobachte ich, wie es sich aus seiner Höhe zu mir herunterbeugt. Sein Blick prallt an meinem verspiegelten Visier ab, ich jedoch starre direkt in seine beiden verengten Augen. Sie sind von einem abgrundtiefen Blau und unendlich fremd – so fremd wie das Bewusstsein der gänzlich andersartigen und doch intelligenten Spezies, das hinter ihnen lebt. Es ballt seine Klaue vor meinem Visier und rammt sie hinein. Das Visier birst. Augenblicklich atme ich die ungefilterte Luft dieses fremden Planeten; unzählige neuartige, benebelnde Gerüche dringen auf mich ein; meine luzide Gesichtshaut beginnt sich zu trüben. Das Königswild starrt mir ins Antlitz. Sofern ich seine Mimik überhaupt lesen kann, erkenne ich Überraschung und… Belustigung? Ich höre Schüsse. Irgendwo an der Peripherie meines Blickfeldes blitzt Mündungsfeuer auf. Hinter dem Königswild tritt der Skinner ins Bild.
Sieben Lichtjahre von der Erde entfernt begehen wir meine Wiederauferstehung mit einer feierlichen Übergabe. Wir haben vereinbart, für uns zu behalten, dass nicht ich das Königswild geschossen und die Trophäe errungen habe. Ich muss sagen, ich bin enttäuscht. Dieser Schädel ohne Fleisch und dieses Gesicht ohne Zähne und Augen wirken auch nicht beeindruckender als die Trophäen der beiden Jungtiere, die der Berufsjäger mir vor Reiseantritt gezeigt hatte.
wuw.cnn.com, Breaking News: ANGRIFF AUF DAS WEISSE HAUS. US-PRÄSIDENT ERMORDET, UNBEKANNTE ATTENTÄTER DRANGEN GEGEN 7.00 P. M. ORTSZEIT IN DEN WESTFLÜGEL DES WEISSEN HAUSES EIN. PRÄSIDENT SCHWARZENEGGER LEITETE ZU DIESEM ZEITPUNKT EINE SPÄTE BESPRECHUNG RANGHOHER REGIERUNGSMITGLIEDER IM OVAL OFFICE. ERSTEN MELDUNGEN ZUFOLGE STARB DER PRÄSIDENT IM ROSENGARTEN VOR DEM KABINETTSRAUM DES REGIERUNGSSITZES, ZU DEN WEITEREN OPFERN DES ÜBERFALLS ZÄHLEN VERTEIDIGUNGSMINISTER BLANKENSHIP, DER NATIONALE SICHERHEITSBERATER DUKE UND ZAHLREICHE ANGEHÖRIGE DES SICHERHEITSPERSONALS, AUSSERDEM LIEGEN BISHER UNBESTÄTIGTE BERICHTE ÜBER WEITERE OPFER UNTER REGIERUNGSMITGLIEDERN UND HOHEN STAATSBEAMTEN VOR. DIE STABSCHEFIN DES WEISSEN HAUSES, JULIET MERCADO, IST SCHWER VERLETZT UND SCHWEBT IN AKUTER LEBENSGEFAHR. ZU GERÜCHTEN ÜBER EINE HELDENHAFTE GEGENWEHR DES PRÄSIDENTEN UND EINE VERSTÜMMELUNG SEINES LEICHNAMS GIBT ES NOCH KEINE OFFIZIELLE STELLUNGNAHME. DIE ZEUGENVERNEHMUNGEN, DIE BIS ZUR STUNDE ANDAUERN, ERGEBEN EIN WIDERSPRÜCHLICHES BILD. ANSCHEINEND ENTKAMEN DIE TÄTER UNERKANNT, DOCH WURDE EINE IHRER BEI DEM ATTENTAT BENUTZTEN WAFFEN SICHERGESTELLT. NATIONALE SICHERHEITSEXPERTEN VERMUTEN EINEN ANSCHLAG ISLAMISTISCHER TERRORISTEN,
CIA UND FBI ERMITTELN MIT HOCHDRUCK. DAS MINISTERIUM FÜR HEIMATSCHUTZ HAT DIE ALLGEMEINE TERRORALARMSTUFE AUF ROT ERHÖHT. DIE REGIERUNGSGESCHÄFTE WURDEN VON VIZEPRÄSIDENT VAN CREUBEN ÜBERNOMMEN. IN EINER ERSTEN KURZEN FERNSEHANSPRACHE ERKLÄRTE ER SICHTLICH ERSCHÜTTERT: »DIES IST EIN ANGRIFF AUF JEDEN EINZELNEN VON UNS. NOCH KENNEN WIR DIE FEIGEN MÖRDER NICHT, DOCH SIE SOLLEN WISSEN, DASS WIR NICHT RUHEN WERDEN, BIS WIR SIE ZUR STRECKE GEBRACHT UND BESTRAFT HABEN. GOTT SEGNE SIE ALLE – GOTT SEGNE AMERIKA!«
Karl Michael Armer (*1950) zählt mit anderthalb Dutzend Kurzgeschichten, vorwiegend sozialkritischer Natur, und sieben Anthologien zu den profiliertesten deutschen SFAutoren der 80er Jahre. Für »Umkreisungen«, »Die Endlösung der Arbeitslosenfrage« und »Malessen mitte Biotechnik« erhielt er jeweils den Kurd Laßwitz Preis. Seine hier abgedruckte Story leitet ein lang erwartetes Comeback ein.
KARL MICHAEL ARMER Die Asche des Paradieses
Das 21. Christliche Bombergeschwader kam in der Dämmerung von einem sehr erfolgreichen Einsatz zurück. Es hatte 400.000 Heiden getötet. Ich beobachtete, wie die schweren Maschinen nacheinander auf dem Militärflughafen von Alexandria landeten und von Feldkardinal Pontini begrüßt wurden. Er stand auf einem Empfangspodium unter einem riesigen, von Flakscheinwerfern angestrahlten Kreuz und segnete jedes Flugzeug, das an ihm vorbeirollte. Er hatte alles aufgeboten, was ihm zur Verfügung stand: Glocken läuteten, Fahnen wurden geschwenkt, Chöre jubelten, das ganze Programm. Gute Inszenierung für die Abendnachrichten. Das Geschwader hatte Ziele in der Küstenregion von Tansania angegriffen. Dort gab es größere Städte, die noch bewohnt waren. Militärisch nicht sehr wichtig, aber es war
auch mehr eine psychologische Geste. So ein massiver Schlag ist immer schlecht für die Moral des Feindes. Mit einer müden Bewegung schaltete ich die Aufzeichnung vom Vortag ab. Das Bild auf dem heruntergeklappten Visier meines Com-Helms erlosch, die Scheibe wurde wieder transparent und zeigte mir die unglaubliche Schönheit meiner Umgebung. Ich saß in einem Meer aus gelben Blumen, das sich bis zum Horizont erstreckte. Die Blumen waren hüfthoch, sodass ich gerade darüber hinweg sehen konnte. Es war wie ein Ozean, der im Wind wogte. Und mitten in diesem Ozean lag mein Bataillon. Das 2. Bataillon der 4. Polnischen Luftkavalleriedivision, der »Marien-Division«. »Rittmeister Sikorski? Sir?« Marek, mein Adjutant. »Sollen wir Stellungen graben, Sir?« »Nein«, sagte ich. Ich wusste, wie müde meine Männer waren. Seit Wochen zogen wir durch Usbekistan. Und vorher durch Kaschmir. Und Aserbeidschan. Eritrea. Tschad. Marokko. Jahre waren wir unterwegs, Kämpfer im Zeichen des Kreuzes. Gegen die Ungläubigen und ihren Dschihad. Ab und zu im Helikopter, immerhin waren wir die Kavallerie, aber meistens zu Fuß. Mit über 20 Kilo Ausrüstung, Gewehren, Munition, Mörsern, Minen, Verbandskästen, Feldaltären, Bibeln, Flakwesten, Helmen. Unter einer Sonne, die von Jahr zu Jahr mörderischer zu werden schien. Wir waren fertig. »Nein«, sagte ich noch einmal. »Hier ist es sicher. Wir haben alles bis zur letzten Küchenschabe ausgerottet.« Marek sah mich seltsam an, dann salutierte er und machte eine zackige Kehrtwendung, um meinen Befehl weiterzugeben. Ich dachte an Pontini, dieses fette, mediengeile Etappenschwein mit seiner sinnlosen Bombardiererei. Afrika war erledigt. Afrika gehörte uns, und was nicht uns gehörte, war tot. Kaputt. Wehrlos. Aber für Pontini gab es nichts
Schöneres als Wehrlose, denen er seine Macht zeigen konnte. Bombardierte fünfmal dieselbe zerstörte Stadt. Und bei uns an der Ostfront fehlte die Munition. Afghanistan, Pakistan, Usbekistan, Tadschikistan, das war immer noch die Hölle für uns. Dieses durchlöcherte Bergland mit seinen beschissenen Tunnels und Höhlen, wo wir in einen Hinterhalt nach dem anderen tappten, seit die Satellitenüberwachung zusammengebrochen war. Unser Bataillon war zum Glück nicht mehr in den Bergen. Wir marschierten durch gesäubertes Gebiet, Richtung Samarkand. Der reinste Urlaub, und unser Nachtlager hier war wie ein Feriencamp. Meine Soldaten alberten zwischen den Zelten und den Kreuzen herum und verwandelten das Blütenmeer in einen Saustall. Das war normal. Wir verwandelten jeden Ort, an dem wir waren, in einen Saustall. Der Lärm von Boomboxen pulsierte in den sanft rosa leuchtenden Abendhimmel, es wurde gesoffen, der Weihrauch ging rund, ein paar prügelten sich, ein paar beteten. Ein wilder Haufen frommer Polen, fern der Heimat auf einem Kreuzzug, der nie endete. Einige wollten sogar gegen meinen Befehl Verteidigungsgräben ausheben, aber als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass sie ein Loch für eine Latrine gruben. Ich musste grinsen. Es war so typisch für diesen Krieg, der voller Paradoxa war. Wir hatten Internet, GPS, Infrarot und eine Rechnerleistung in unseren Kampfanzügen, mit der man noch vor Jahrzehnten eine Marsexpedition gesteuert hätte, aber wir mussten täglich Scheißhäuser bauen. Wir waren Polen, aber unsere Sprache war vollgestopft mit amerikanischem Pidginslang – wow, fuck, cool, shit, Sir, easy, okydoky –, was um so seltsamer war, als es Amerika nicht mehr gab, jedenfalls nicht so, wie wir es aus den Filmen kannten. Ich war ein Rittmeister, der nie in seinem Leben auf einem Pferd saß. Und
die zwei größten Religionen der Erde vernichteten sich gegenseitig, weil sie sich nicht einigen konnten, wer den besseren Weg ins Paradies verkündete. Heiliger Wahnsinn. Nein, ich wollte so nicht leben. Wrong place, wrong time. Aber ich fand keine Lösung, ich wusste keinen Ausweg. Und so ließ ich mich fallen in den Frieden der großen gelben Wiese.
Ich weiß nicht, warum ich mich ausgerechnet an diesen Tag in Usbekistan erinnere. Es war ein absolut ereignisloser Tag. Aber ich erinnere mich noch gut an dieses überwältigende Gefühl der Vergeblichkeit. Vielleicht war es der erste Tag, an dem ich beschloss, etwas dagegen zu tun? Vielleicht war es der Gedanke an Samarkand? Vor langer Zeit, bevor man mich zum Kreuzritter machte, damals, als ich mein Studium begonnen hatte und davon träumte, ein großer Architekt zu werden, gab es Städte, die einen magischen Klang für mich hatten: Isfahan, Buchara, Samarkand. Welcher Zauber lag in diesen Namen! Und welch herrliche Moscheen standen da, die schönsten Gotteshäuser auf unserem Planeten. Ich konnte mich gar nicht satt genug sehen an ihren Kuppeln, ihren Portalen, dem Glanz ihrer farbigen Kacheln. Jetzt waren sie alle zerstört, und ich kam mit jenen, die sie zerstört hatten. Der Platz, an dem ich jetzt sitze, ist auch schön, auf seine Art. Es ist ein schmaler Rundgang um die Laterne auf der Kuppel des Vaticano Nuovo, dreihundert Meter über dem Erdboden. Der Blick auf das Meer zerreißt einem das Herz in seiner Schönheit. Ein schimmernder, zitternder goldener Spiegel, am Horizont begrenzt von einer gleißenden Linie puren Feuers. Es ist noch früh am Tag. Die Luft ist klar und kühl, und der Himmel ist von jenem transparenten, fast mystischen Blau, das alles verheißt, so frisch, so unschuldig, eine Ahnung von dem,
wie es sein könnte, das große Glück, die Erfüllung. Dieses grausame Blau, das dich verspottet, weil es dich nach oben zieht, doch du weißt, dass die Schwerkraft deines erbärmlichen Daseins, deiner Ängste und Routinen und faulen Kompromisse stärker sein wird. Die Verheißung ist da, aber ihre Erfüllung ist unerreichbar. Seltsam, es ist genau das Blau, das die Umhänge der Mariendivision zu Ehren unserer Namenspatronin hatten. Das war in den ersten Kriegsjahren. Da stattete man uns mit diesen wallenden Umhängen aus. Sollte wohl eine optische Reminiszenz an die edlen Ritter sein, die vor rund 1000 Jahren zum Kreuzzug nach Jerusalem aufgebrochen waren. Die Umhänge sahen aus wie aus einem Historienschinken entlehnt und waren eher für die baldige Siegesfeier gedacht. Die kam aber nie. Der Krieg dauert länger als geplant, wie Kriege das so an sich haben. Im Lauf der Jahre mutierten unsere stolzen Umhänge zu zerrissenen kleinen Fetzen, die wir als Halstücher trugen und mit denen wir uns Blut, Schweiß und Tränen aus den Gesichtern wischten. Inzwischen bin ich in der Militärhierarchie aufgestiegen. Ich bin nicht mehr an der Front. Ich bin im Zentrum der Macht. Im Neuen Vatikan, dieser gewaltigen Kirchenstadt, die ganz Malta mit ihrem neobarocken Prunk überkrustet. Endlich bin ich da, wo ich immer hin wollte, in der Schaltzentrale des Großen Krieges, aber ich habe mich auf dem Weg hierher verändert. Vom feurigen Fanatiker wurde ich zum bloßen Befürworter, dann zum Kritiker, zum Gegner und schließlich zum erbitterten Feind des Systems, für das ich kämpfe. Am Anfang glaubte ich noch an meine Sache. Ich musste meine Welt und unsere abendländischen Werte – ha! – gegen den Dschihad eines Amok laufenden Islam verteidigen. Das erste Opfer waren natürlich die abendländischen Werte. Erst verteidigst du dich, wenn du angegriffen wirst. Dann
verteidigst du dich, bevor du angegriffen wirst. Und dann brechen alle Dämme, und du radierst alles aus, was sich dir in den Weg stellt. Du bist zur Verkörperung all dessen geworden, wogegen du ursprünglich gekämpft hast. Du merkst es nicht. Du bist jung und weißt noch nicht, was der Krieg aus dir machen kann. Den einen Tag sitzt du im Cafe und denkst über die Proportionen der Renaissancearchitektur nach und die Proportionen des Mädchens am Nebentisch, die du gern näher studieren würdest, und am nächsten Tag bist du in der Kampfzone, schießen Männer auf dich und verwandeln deine Kameraden mit Flammenwerfern in schreiende Fackeln. Und das ist erst der Anfang. Bald ist alles nur noch ein Morast aus saugendem Wahnsinn. Türen, die du aufstößt und hinter denen Zimmer voller toter Frauen und Kinder liegen, immer wieder Zimmer voller Leichen, immer wieder die verquollenen, zerlaufenen Gesichter nach den Bioangriffen, die Schreie, die Explosionen, die geköpften, verstümmelten Leichen, der Feind macht keine Gefangenen, abends Wodka, bunte Pillen, Rachephantasien. Irgendwann bist du so verrückt, dass du auf dein eigenes Schnaufen in der Gasmaske schießen willst. Irgendwann, wenn du noch einen Rest von Vernunft behältst, hast du nicht mehr Angst vor dem Gegner, sondern nur noch vor dir selbst. Ich weiß nicht einmal mehr, in welchem Jahr es war. Ich weiß nur noch, dass ich damals Leutnant war. Und dass es der 25. Dezember war. Weihnachten. Ein Dorf mit weiß verputzten Häusern. Wahrscheinlich im Norden von Marokko. Keine Ahnung, wir waren damals alle wie von Sinnen. »Mann, dieses Dorf ist echt im Arsch«, schrie Konarski. Seit er als Einziger einen Volltreffer auf seinen Bunker überlebt hatte, schrie er nur noch, um das Pfeifen in seinen Ohren zu übertönen.
Wir tasteten uns zu dritt durch die schmalen Straßen des Dorfes. Konarski sicherte nach links, ich nach rechts, Brych nach hinten. Wir waren nervös und bis in die Haarspitzen geladen. Wir hatten unsere Einheit verloren. Seit drei Tagen hatten wir nicht geschlafen. Konarski hatte Recht. Das Dorf war im Arsch. Es standen nur noch ein paar Mauern. Alles andere war Geröll. Dazwischen lag menschlicher Restmüll. Es waren keine Körper mehr, nur noch vereinzelte Fragmente und schwarze Fladen. »Different day, same shit«, sagte Brych. Plötzlich hörten wir lautes Geschrei. Wir spritzten auseinander, warfen uns zu Boden, lauschten mit hämmerndem Herzen. Aber es kam nichts. Wir rappelten uns wieder auf. Das Geschrei ging weiter. Schließlich, nach langer Zeit, denn du bewegst dich langsam, wenn überall Minen lauern, die dich als Hackfleischfontäne in den Himmel schießen können, fanden wir am Ortsrand hinter einem Felsblock eine fast unversehrte Krippe mit einem Baby darin. Ich erinnere mich noch, dass es ein blaues Mützchen auf dem Kopf hatte und ein rotes Gesicht vom Schreien. Es hätte so eine schöne rührselige Weihnachtsgeschichte geben können, das Kindlein in der Krippe, die Drei Könige aus dem Abendland, die es in ihre Arme schließen und in gute Obhut bringen am Fest der Gnade. Aber der Kleine schrie sich die Lunge aus dem Leib. Da erschoss ihn einer der Drei Könige aus dem Abendland mit seiner M-84. Danach war es lange Zeit still, bis Konarski schrie: »Ich konnte das Geschrei nicht ertragen.« Wir nickten. Jeden Tag jahrein, jahraus dieses Geschrei, dieses Jammern, dieses Flehen. Irgendwann willst du einfach Ruhe haben. Wenigstens an Weihnachten.
Die Leute, die einen Krieg anzetteln, machen sich keine Vorstellung davon, was sie anrichten. Nicht nur diejenigen, die im Krieg sterben, bleiben als Opfer zurück, sondern auch jene, die den Krieg überleben und fortan mit der Erinnerung daran leben müssen, was sie im Krieg gesehen haben und vor allem, was sie getan haben. Es ist unglaublich, was du im Krieg tust. Du erkennst dich selbst nicht mehr. Konarski war der harmloseste, gutmütigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Niemals hätte er im normalen Leben einem anderen Lebewesen, Mensch oder Tier, ein Leid zugefügt. Aber dies war der Krieg. Konarski war nicht mehr der Mensch, wie Gott ihn geschaffen hatte. Er war der Mensch, den der Krieg aus ihm gemacht hatte. Ein Verrückter. Ein Sünder. Ein Büßer. Ich habe selbst gesehen, wie er bei Durchsuchungen Türen, die er aufgerissen hatte und hinter denen furchtsame Gestalten kauerten, danach wieder zuschmetterte und schrie: »Leer! Weiter!« Bis ihn eines Tages einer, den er verschont hatte, in den Rücken schoss. All das ist weit weg, hier in den heiligen Hallen des Vatikans. Ich werfe einen letzten Blick auf die Kuppeln und Dächer und Plätze dieses gigantomanischen Kirchenpalasts, der in nur einem Jahrzehnt aus dem Boden gestampft wurde. Er sieht aus, als hätte Albert Speer seine maßlosen Pläne für Hitler doch noch realisieren dürfen. Papst Urban IX. liebt den großen Maßstab und die große Geste. Als Stellvertreter Gottes auf Erden steht es ihm zu, als Weltenbauer aufzutreten. So sieht er es, und Sully-Poincare hat ihm diesen Traum verwirklicht. Ein Kriecher, aber ein genialer Architekt. Nur La Valletta ließ er stehen, den Rest der Insel überbaute er mit seiner barocken Gottesstadt aus hellem Sandstein, eine piranesihafte Mischung aus Prunk und Labyrinth, in der die Menschen wie Ameisen
wirken. Aber vom Meer her sieht es erhaben aus, wie eine Vision, wie die Himmelfahrt einer ganzen Stadt. Ich beginne meinen Abstieg, durch schmale Gänge innerhalb der Kuppelschale des Duomo Massimo. Hinunter ins Herz der Finsternis. In den Audienzsaal des Mannes, den der Krieg zum mächtigsten Menschen unter dem Himmel gemacht hat.
Als ich Urban IX. zum ersten Mal sah, war er gerade zum Papst gewählt worden. Es war mein erstes Kriegsjahr. Unsere Einheit, damals noch unter NATO-Befehl, war drei Tage zuvor an die Front verlegt worden. Wir lagen in der Nähe von Kairouan. Als Offiziersanwärter hatte ich einen Com-Helm, mit dem ich auch die TV-Nachrichten des Militärintranets empfangen konnte. Die Übertragung kam aus dem Escorial, dem spanischen Königspalast. Dort hatte die Führung der katholischen Kirche Zuflucht gefunden, oder das, was noch von ihr übrig war, nachdem die Dschihad-Brigaden von al-Mansur, dem Siegreichen, Rom zerstört und Papst Pius XIII. und die gesamte Kurie getötet hatten. Auf dem Konzil von Ravenna war Santiago Ortega, Erzbischof von Toledo, zum Papst gewählt worden. Er trat sein Pontifikat unter dem Namen Urban IX. an, zur Erinnerung, wie er sagte, an Urban II. der 1095 zum ersten Kreuzzug aufgerufen hatte, und an Urban VIII. der 1626 die Peterskirche einweihte. Der Ortega-Papst war ein charismatischer Anführer, wie man ihn nur selten findet. Ein Mann von brennendem Ehrgeiz, der sich aus einfachsten Verhältnissen nach oben gekämpft hatte. Ein paar Minuten Fernsehen genügten, um zu erkennen, was er war: ein Fanatiker. Ein Dogmatiker. Ein Wiedergänger des Großinquisitors, angefeuert von der Selbstgerechtigkeit dessen,
der angegriffen wurde und nun das eherne Recht fühlt, den Angreifer zu zerstören. »Diese Welt wird eine andere werden«, sagte er mit kaltem Hass in der Stimme. »Es wird eine Welt sein, in der gute Christen nicht mehr heimtückisch von Heiden getötet werden können. Denn es wird keine Heiden mehr geben. Wir werden sie ausrotten mit Stumpf und mit Stiel. Mein ist die Rache, spricht der Herr, und das werden sie zu spüren bekommen.« Als ich die Aufzeichnung später den Soldaten meines Zuges auf dem Laptop vorspielte, jubelten ein paar, doch die meisten schwiegen beeindruckt. Die düstere, kompromisslose Härte, die fast körperlich fühlbare Unbarmherzigkeit dieses Mannes war selbst ihnen in die Knochen gefahren. Mankiewicz kauerte sich in seine Flakweste, als suchte er Schutz. »Das wird übel. Richtig übel.« »Holy Shit«, flüsterte Brych. »Das kannst du laut sagen«, sagte ich.
Heute wissen wir, dass alles noch viel schlimmer kam, als wir es uns je vorstellen konnten. Die Erde ist wieder auf die Alte Welt zusammengeschrumpft, auf die alten Kulturen. Europa, Ägypten, Mesopotamien. Der Rest liegt in postapokalyptischer Agonie. Die Neue Welt ist Mad-Max-Country. Südamerika und Russland nach endlosen Bürgerkriegen ein Chaos auf dem Weg zum Mittelalter, Asien ein Leichenhaus. Nur Australien ist noch relativ unversehrt, ein kümmerlicher Viehzüchterstaat in splendid isolation. Lange werden wir unsere Zivilisation nicht mehr halten können. Unsere Technik ist in weiten Bereichen schon auf den Stand des 20. Jahrhunderts zurückgefallen. Nicht mehr lange, und wir werden wieder im 19. Jahrhundert sein, und dann geht es immer weiter rückwärts in der Zeit. In nicht allzu ferner
Zukunft werden wir wieder mit Musketen schießen und gläserne Phiolen mit Pest in die Länder unserer Feinde tragen, tödliche Erreger, gegen die wir uns selbst nicht wehren können. Aber was bedeutet schon das eigene Leben, wenn es um das Seelenheil und die Ziele der glorreichen Mutter Kirche geht? Schau sie dir an, wie sie durch die Wandelgänge des Vatikans gleiten, wie auf Rollen unter ihren langen Kutten. Kontemplatives business as usual. Wissen sie überhaupt, was sie draußen angerichtet haben? Doch, sie wissen es. All die Verwüstung ohne den Hauch eines schlechten Gewissens. Im wohligen Gefühl der göttlichen Gnade.
»Ja, wir haben große Teile der Erde in eine Wüste verwandelt«, sagte Kardinalmarschall Menninger und breitete in einer großen liturgischen Geste die Arme aus. »Haben wir damit Unrecht begangen? Nein, sage ich! Bei Gott, nein! Christus, Johannes der Täufer, viele Heilige und Propheten gingen in die Wüste, um den Weg zu Gott zu finden. Dort, in der Einsamkeit, empfingen sie Visionen, fanden sie Erleuchtung. Es ist gut für den Glauben, Wüsten zu schaffen!« Ich schwieg. Mehr Kritik wagte ich damals als junger Stabsoffizier nicht zu äußern. Der Oberbefehlshaber der christlichen Truppen sah mich aus olympischen Höhen unendlicher Überlegenheit spöttisch an. »Und, mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?« »Ich weiß nicht«, stammelte ich, »ich weiß nicht, ob es richtig ist, für seinen Glauben zu töten.« »Nur ein Glaube, für den man zu töten bereit ist, ist der richtige«, donnerte der Kardinalmarschall in routinierter Dialektik. »Und merken Sie sich auch das noch: Wenn man das irdische Paradies schaffen will, muss man dessen Feinde,
die Ungläubigen, vernichten. Asche war schon immer der fruchtbarste Boden für Neues. Aus der Asche des Alten wird das Neue Paradies wachsen!« Als er dabei beschwörend die Arme zum Himmel streckte, rutschte sein Ärmel nach unten. Ich sah, dass er eine Rolex trug.
Wenn Christus heute lebte – würde er eine Rolex tragen? Was wäre geschehen, wenn die Inquisition Atomwaffen gehabt hätte? Seltsame Gedanken. Geboren in seltsamen Zeiten. Ich bin am Ende meines Lebens und werde bald sterben. Da steht es mir zu, dass meine Gedanken seltsame Wege gehen. Die Zeit hat keine große Macht mehr über mich. Ich kümmere mich nicht mehr um sie. Ich hebe sie auf. Vergangenheit, Gegenwart, alles ist gleichzeitig, alles ist möglich. Mein Blick fällt in eine kleine Seitenkapelle. Dunkel, ein kleiner Altar, ein paar Kerzen, ein kaum sichtbares Kreuz, an dem eine fahl schimmernde Figur hängt. Ich erinnere mich. Ich habe Jesus im Krieg getroffen. Es war an einer Kreuzung im Färberviertel von Marrakesch. Jeder von uns kam aus einer anderen Gasse. »Fuck«, sagte Brych. Es war das letzte, was er in seinem Leben sagte. Er hatte das leichte Zupfen des Stolperdrahts an seinem Bein bemerkt. Mit einem Ausdruck schmerzlicher Überraschung und großer Demut sah er mich an, dann riss ihn die Mine nach oben. Als würde er an Schnüren gezogen, flog er drei, vier Meter in die Höhe, mit ausgebreiteten Armen, wie ein Gekreuzigter ohne Kreuz, und dann fiel er in Einzelteilen wieder herunter.
Das Bild, wie er emporfliegt, hat sich in einer SuperSlowmotion in mein Gedächtnis eingebrannt, das es alle paar Tage abspielt. Biych. Mein Jesus von Marrakesch. Er starb für mich. Ohne ihn wäre ich auf die Mine getreten. Brych mit dem entwaffnenden Lächeln. Brych, der Arzt werden wollte. Brych, der Gedichteschreiber. Brych, der Vergeudete. Vergeudet in einem absurden Glaubenskrieg. Mitten im 21. Jahrhundert hat das finsterste Mittelalter wieder sein Haupt erhoben. Wie ist es nur zu diesem Wahnsinn gekommen? Im Nachhinein ist alles ganz schlüssig. Die Zündschnüre schwelten lange genug, doch statt sie auszutreten, wurde Jahr für Jahr neuer Sprengstoff ins Pulverfass geschüttet. Der immer aggressiver werdende Islamismus war die ins Theologische verlagerte Antwort auf die Überheblichkeit des Westens, aber auch auf das eigene Versagen der muslimischen Staaten, ihr großes Potential sinnvoll zu nutzen. Die Demütigungen des Irakkrieges schürten Hass und Gegenhass. Als der Islam seine Grenzen in Afrika immer weiter nach Süden schob, antworteten christliche Fundamentalisten mit Evangelisierungsfeldzügen, aus denen bald wirkliche Feldzüge wurden. Schon 2004 kam es in Nigeria zwischen Christen und Moslems zu ersten Auseinandersetzungen und wechselseitigen Pogromen, die Tausende von Opfern forderten. Die Weltöffentlichkeit beachtete es nicht. War ja nur in Afrika. Durch zunehmend an Routine gewinnendes Krisenmanagement und den Einfluss des liberalen kanadischen Papstes Gregor XVII. entspannte sich die Lage danach wieder. Dann, nach einer trügerischen, langjährigen Pause kam der Big Bang: Die zeitgleichen Bio- und Nuklearattentate auf Washington, New York, Boston, Chicago, Denver, Seattle, San Francisco, Los Angeles, Houston und Miami und die Zerstörung mehrerer Atomkraftwerke löschten die USA auf
einen Schlag von der politischen Landkarte. Rom und der Vatikan wurden am selben Tag zerstört. Europa reagierte mit der üblichen Lähmung. Einige Staaten wollten nichts unternehmen, um nicht selbst in die Schusslinie zu kommen. Andere plädierten für einen Gegenschlag, allerdings gab es kein rechtes Ziel. Das Kommando von alMansur, das die Verantwortung übernahm, existierte quasi nur im Internet. Wie soll man einen virtuellen Gegner angreifen? Urban IX. damals noch ein junger Mann von vierzig Jahren, nutzte das Vakuum und riss die Führung an sich. Er hatte eine einfache Botschaft: Das christliche Europa würde das nächste Angriffsziel sein. Dagegen gab es nur eine Strategie: sofortiger, massiver Gegenschlag. Rachezug und Kreuzzug in einem. Flächendeckend gegen die gesamte islamische Region. Alle zusammen unter einer starken Führung. Nämlich seiner. Genauso geschah es. Aus allen europäischen Ländern eilten sie herbei, um dem Aufruf des charismatischen Papstes zu folgen und gegen die Ungläubigen zu ziehen. Je katholischer das Land, um so größer die Truppenkontingente. So wurden wir Polen einer der Grundpfeiler der christlichen Armee. Anfangs waren wir sehr erfolgreich, denn unser Gegner hatte kaum militärische Macht, nur unbändigen Kampfeswillen. Aber je mehr sie mit gezielten Anschlägen unsere Infrastruktur, Forschungs- und Produktionsstätten zerstörten und ganze Landstriche verseuchten, um so schwächer wurden auch wir. Inzwischen ist es ein ganz konventioneller Abnützungs- und Guerillakrieg geworden, der schon vier Jahrzehnte dauert, ohne Aussicht auf ein Ende. Das vatikanische Labyrinth führt mich in einen Säulengang, der einen Hof auf drei Seiten umläuft. Den Abschluss auf der vierten Seite bildet die Fassade von Santa Maria Maggiore. Aus dem offenen Portal klingen die düsterschönen Melodien von Brahms’ Deutschem Requiem.
»Und alles Fleisch, es ist wie Gras.« Wie wahr, wie wahr. Besser kann man diesen Krieg nicht beschreiben. Welche Mengen an Gras allein unsere Division geschnitten hat.
»Herr, segne unsere Waffen, die dein Reich auf Erden schaffen.« Das war unser tägliches Morgengebet. Unser tägliches Abendgebet. Und jetzt war es unser Gebet vor dem Sturmangriff. Wir sammelten uns noch einen Augenblick, bekreuzigten uns, und dann stürmten wir los gegen die Mauern des jemenitischen Bergnests, durch das Stadttor, in die Häuser, schießend, Handgranaten durch Türen und Fenster werfend. Ich feuerte, ich schrie, ich johlte, ein Sklave meines Adrenalins, ein erbarmungsloser Söldner meines Überlebenswillens. Nach einer halben Stunde wussten wir, dass wir wieder einmal fast nur Frauen und Kinder getötet hatten. Wir saßen in den Ruinen und begriffen jetzt erst, wie wenig Gegenwehr wir bekommen hatten. Und während wir das begriffen, krachten schon die ersten Mörsereinschläge. Wir waren in eine Falle gelaufen. Die Granaten zerfetzten alles, was da war, Stein, Fleisch, Knochen. Sie heulten infernalisch, bevor sie einschlugen. Verletzte Soldaten schrien wie Tiere auf der Schlachtbank. Ich lag in einem Krater, hatte nur noch einen Gedanken: Das ist es. Das ist das Ende. Dann sah ich zur Seite und hatte eine Marienerscheinung. Sie war auf Kolleks Maschinengewehr, das direkt neben mir lag. Kollek hatte ein Bild der Muttergottes auf sein M-911 geklebt. Das Klebebild hatte Blasen geworfen, als sich der
Lauf erhitzte. Kollek war ein freigiebiger Schütze. Er verballerte immer seine ganze Munition, bis der Lauf glühte. Das blaue Gewand sah verschmutzt aus, befleckt. Du siehst solche Sachen nur im Krieg. Wenn du nicht mehr glaubst, dass du da heil rauskommst. Weil jeder Moment dein letzter sein könnte, versuchst du ihn festzuhalten. Egal wie absurd es ist, was du siehst. Am letzten Tag deines Lebens – und das könnte heute sein – gibt es nichts Unwichtiges. Du wirfst dich in Deckung, und da liegt ein Blatt. Ein ganz gewöhnliches Blatt. Aber dieses Blatt ist vielleicht das letzte, was du in deinem Leben siehst. Also siehst du es genau an. Es ist das schönste Blatt der Welt. Grün, an den Rändern etwas verschrumpelt, mit roten Adern, die zum Rand hin gelb werden. Noch in drei Jahren könntest du es aus dem Gedächtnis malen. Genau wie diese sanfte Frau in dem blauen, verdreckten, angesengten Umhang. Unvergesslich. Eine segnende Muttergottes auf dem Lauf eines MGs. Die Welt ist voller Wunder. Dann war der Augenblick vorbei. Die angehaltene Zeit lief wieder weiter. Der Lärm der Schlacht kam in doppelter Lautstärke zurück. Und ich überlebte, aus welchen Gründen auch immer.
Welch marmorkühler Prunk hier herrscht, in den langen Fluren des Vaticano Nuovo, in den zahllosen Kirchen und Kapellen. All die Heiligen. All die segnenden Hände. Kaum zu glauben, dass hier der Tod von Milliarden Menschen geplant wurde. Gestalten in schwarzen Talaren huschen vorbei. Je näher man dem Allerheiligsten kommt, dem Audienzsaal, desto gebeugter und lautloser werden sie, Roboter der Unterwürfigkeit.
Ich würde ihre Demut achten, wenn sie auf das rechte Ziel gerichtet wäre. Aber es ist Demut vor dem Hochmut. Urban IX. ist inzwischen alt und gebrechlich geworden. Er hat einen Großteil seiner Macht an den Oberbefehlshaber der Christlichen Streitkräfte delegiert. Bei Kardinalmarschall Menninger weiß er seine Politik der Reconquista in besten Händen. Menninger ist absolut skrupellos gegenüber allen, die nicht den rechten Glauben haben. Vor einigen Jahren verursachte er den wohl größten Kollateralschaden, den es je in einer militärischen Auseinandersetzung gegeben hat. Er ließ einen von seinen Biochemikern gebastelten Virus von der Leine, obwohl – oder weil? – die Bestände des Gegenmittels nur für die europäischen Länder ausreichten. Wie die Reiter der Apokalypse galoppierte die Seuche durch Asien, das sich bisher aus den Kampfhandlungen weitgehend herausgehalten hatte. Sie raffte vier Milliarden Menschen dahin. Asien ging unter. Als letzten Racheakt schickte China noch seine gesamten atomaren Langstreckenraketen nach Europa. Da war Polen doch verloren. Und Tschechien, Österreich und Teile Deutschlands. Menninger bezeichnet die Seuche in kleinem Kreis gern als die Asiengrippe. Das Ganze ist einfach unvorstellbar. Vier Milliarden Tote. Viertausend Millionen. Wenn ich für jeden Toten ein Kreuz schlagen würde, ein Kreuz pro Sekunde, wäre ich nach 127 Jahren fertig. Diese Rechnung ist nicht von mir. Sie ist vom Kardinalmarschall selbst. Er hat mir das vorgerechnet, mit mildem Spott in seinen blauen Augen. »127 Jahre! So viel Zeit habe ich nicht.« Was für ein Wahnsinn! Vielleicht war ich deshalb so dankbar für die paar Hoffnungszeichen, die es gab.
Der Krieg war alt geworden und ich mit ihm. Ich war jetzt ein Veteran, hoch dekoriert, Oberst im Generalskollegium. Es hatte seine Vorteile. Ich wurde jetzt im Hubschrauber herumgeflogen und war immer weit vom Schuss. Wir Sandkastenstrategen lieben die Front nur als abstrakte Vorstellung, das Schießen und Töten und Verstümmeltwerden überlassen wir den Jungen. Kein Tropfen Blut auf unserem Kartentisch. Ein sauberer Job in klimatisierten Räumen. Wir flogen über Bergland im Norden Iraks. Eine der ältesten Kampfzonen, so hart umkämpft, dass sie inzwischen fast menschenleer war. Alles umgepflügt, zerstört, nur Ruinen und eine Natur, die die Abwesenheit des Menschen nutzte und sich das Land zurückeroberte. Von oben war es ein Anblick von verschwenderischer Pracht. Die Berge waren nackt und kahl wie am ersten Schöpfungstag. Die Täler dazwischen waren von einem Ende zum anderen mit riesigen Blumenfeldern bedeckt, die in allen Farben leuchteten, vor allem aber in Blau. Es sah aus wie abstrakte Ornamente. Wie die Muster auf den Fassaden der großen Moschee von Samarkand, Arabesken in Türkis und Lapislazuli. Es war unglaublich, wie sich diese Blumenmeere verbreiteten. Als hätte die Natur nur darauf gewartet, dass der Mensch verschwindet, damit sie dann in aller Schönheit und Unschuld wiederauferstehen konnte. Die Renaissance des Garten Eden. Wenn man über diese Landschaft flog, konnte man zusehen, wie das Buch Genesis neu geschrieben wurde, mit deutlichen Verbesserungen gegenüber der ersten Auflage. Ich gab dem Piloten ein Zeichen runterzugehen. Wir landeten am Rand einer der Blumenwiesen. Der Luftdruck der Rotorblätter mähte eine kreisförmige Lichtung in das blaue Wunder. »Kill it«, sagte ich zu dem Piloten. Er schaltete den Rotor aus. Als das belfernde Pochen verstummt war, stieg ich
aus und lief durch die Wiese, einer Krümmung des Tals folgend, bis der Chopper aus meinem Blickfeld verschwand. Welch eine Stille. Welch ein Frieden. Ich sah mich um. Außer der Spur, die meine Stiefel durch den Blumenteppich gezogen hatten, gab es nichts, was auf die Anwesenheit von Menschen oder anderen Raubtieren hingedeutet hätte. Es war, als hätte man mir eine Morphinspritze gesetzt. Tiefes Behagen durchströmte mich. Die Schreie, die Detonationen, die seit Jahren in meinem Kopf waren, verstummten. Die Bilder, die ich nicht sehen wollte, verblassten. Ich war zum dritten oder vierten Mal in meinem Leben zutiefst glücklich. Der Duft der Blumen erinnerte mich an eine andere Wiese, in Masuren, vor vielen Jahren. Maria. Ihre Augen. Graues Grün. Grünes Grau. Ihre langen blonden Haare, die über mein Gesicht wehten. Ihre Hand auf meiner nackten Brust. Dieser Augenblick, in dem ich allwissend, unbesiegbar und allmächtig war. »Ryszard.« So lange her, und doch klang es in meinem Ohr, als läge sie direkt neben mir. Hier und jetzt. Und wieder ließ ich mich in den Frieden der großen Wiese fallen. Ich wusste, dass Maria tot war, aber das war aufgehoben. Sie war bei mir. Hier und jetzt. Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand ein kleines Mädchen vor mir. Es war etwa zehn Jahre alt, trug eine Art von Sari aus maisgelbem Leinen und hielt einen Blumenstrauß in der Hand, den sie mir entgegenstreckte. Sie sprach ein paar Worte, die ich nicht verstand, doch nach etwa einer Sekunde hatte der Autotranslator in meiner Flakweste die Sprache analysiert, und das Audioimplantat in meinem rechten Ohr sagte: »Willkommen. Sei unser Gast.« »Wer bist du?«, fragte ich entgeistert. »Woher kommst du?« Mein Com-Helm wiederholte die Worte in ihrer Sprache. Der Lautsprecher quäkte ein bisschen, was sie zum Lachen brachte.
»Ich lebe hier«, sagte sie. »Mit meinen Schwestern und Brüdern.« Sie kicherte und winkte mit der freien Hand. An einem Berghang in der Nähe entstand Bewegung. Kleine Gestalten krochen aus einer Höhle, die mir vorher nicht aufgefallen war, kamen wie eine Hobbit-Patrouille in einer Reihe den Hang herunter und stellten sich im Halbkreis um ihre Anführerin. Es waren etwa fünfzig bis sechzig Kinder. Sie trugen ein wildes Sortiment der seltsamsten Kleidungsstücke. Saris, Pluderhosen, Grasröcke, Felljacken. Armeehosen, Uniformreste, Trainingsjacken mit russischen Buchstaben. Ein Mädchen trug eine Art Reifrock, aus jungen Zweigen geflochten. Auf dem zerfransten T-Shirt des Jungen neben ihr prangte ein Linux-Pinguin. Die nächste Stunde war eine der unvergesslichsten in meinem Leben. Was aussah wie eine surrealistische Kindertheateraufführung, war eine Gemeinschaft von Waisen, die allein und auf sich gestellt in diesem Tal lebte, ein vom Rest der Welt abgeschiedener Kleinstaat ohne Erwachsene. Die Großen, von denen es nicht viele gegeben hatte, waren nacheinander aufgebrochen, um Hilfe zu holen oder was auch immer. Keiner von ihnen war je zurückgekommen. »Und wovon lebt ihr?«, fragte ich. Beeren, sagten sie. Früchte. Honig. Und natürlich vom Tausch. So erfuhr ich, dass fast in jedem dieser Gebirgstäler ein Stamm von Waisen lebte, in kleinen Gemeinschaften, die untereinander Handel betrieben. Das wichtigste und teuerste Handelsgut waren Kleidungsstücke, denn die konnten sie nicht selbst herstellen. »Zum Glück sind die Winter nicht mehr so hart«, sagte das Mädchen. »Uns gefällt es hier.« Sie machte mit der Hand einen großen Schwenk um sich herum. »Es ist schön hier. Wir nennen uns die Blumenkinder.«
Blumenkinder! Welch eine Laune der Geschichte. Ohne es zu wissen, hatten diese Kriegswaisen einen Begriff wiedergeboren, der schon einmal für eine hoffnungsvolle Zukunft gestanden hatte. Love & Peace. All you need is love. Das Mädchen lächelte mich an, als hätte es meine Gedanken erraten. Mir fiel auf, wie viel natürliche Würde und Autorität sie ausstrahlte. Wirklich erstaunlich für eine Zehnjährige. »Wie heißt du?« fragte ich sie noch einmal. »Fatima«, antwortete sie. Fatima! Der Name fuhr in mich wie ein Blitz. Jeder gute Christ kannte diesen Wallfahrtsort in Portugal. Die Heilige Muttergottes von Fatima war ein Inbegriff unseres Glaubens. Und für die Moslems war Fatima die Tochter Mohammeds, von der alle männlichen Nachkommen des Propheten abstammten. Für beide Parteien unseres Glaubenskriegs war Fatima ein heiliger Name. Ein Aufruf, die Kluft zu überwinden und die Gemeinsamkeit des Glaubens zu entdecken. Wer da vor mir stand, war ein Symbol. Eine Erscheinung. Ich weiß nicht, wie es geschah, dass ich das Knie vor ihr beugte. War es die Müdigkeit eines alten Soldaten? Wollte ich einfach nur auf gleiche Augenhöhe mit diesem Kind kommen? Wollte ich ihrer klugen, freundlichen Art Respekt zollen? Oder war es mehr? Sie bemerkte, wie aufgewühlt ich war, und legte mit der größten Selbstverständlichkeit tröstend ihre Hand auf meinen Kopf. Eine Geste, die ich aus vielen Altarbildern in unseren Kirchen kannte.
Oh Fatima, ich habe einen großen Fehler begangen. Ich habe über die Sache gesprochen. Wollte, dass man euch Vorräte für den Winter schickt. Sie schickten euch etwas anderes.
Urban IX. sprach mich selbst darauf an, am Ende einer Privataudienz für das Generalskollegium. »Oberst Sikorski«, sagte er sanft. »Diese Gruppe, die Sie da im Nordirak aufgestöbert haben…« Es durchlief mich eiskalt. »Ja, was ist damit?« »Wir haben«, sagte er, und seine Augen waren so fern und kalt wie der Weltraum, »wir haben dieses Widerstandsnest eliminiert.« Ich dachte an die große blaue Blumenwiese, an die Beeren, die Früchte, den Honig. Ich dachte an die Kinder, die in der Wiese standen wie Elfen aus einem Märchenland, und ich spürte, wie etwas in mir nachgab. Der dünne Faden des Glaubens, dass alles auf der Welt so ist, wie es sein soll, dass trotz Schmerz und Ungerechtigkeit der Große Plan seinen tiefen Sinn hat und am Ende alles gut wird – dieser Faden zerriss in jener Sekunde im Audienzsaal des mächtigsten Mannes der Christenheit. »Aber… Ortega«, sagte ich, fast rasend vor Zorn und Frustration, »es waren nur Kinder.« »Heiden«, sagte er und machte eine Handbewegung, als verscheuche er eine Riege. »Alles Heiden. Nicht der Rede wert.«
Eigentlich war es im Kaschmir zu gefährlich, so tief zu fliegen. Aber das war mir egal. Seit dem Tod von Fatimas Blumenkindern fand ich eine morbide Freude darin, den Tod herauszufordern. Was konnte schon geschehen? Eine Kugel konnte mein sinnloses, an den Krieg vergeudetes Leben beenden. So what? Insgeheim sehnte ich mich nach dem Ende. Der Schatten des Hubschraubers zitterte wie ein urzeitliches Rieseninsekt über die üppig strotzende Landschaft, einem Dschungel aus Gräsern und Büschen und Bäumen, der in
mehreren Etagen übereinanderwuchs. Es schien tatsächlich so, als würde im Kampf zwischen Mutter Kirche und Mutter Natur die Natur gewinnen. Der Gedanke erfüllte mich mit tiefer Befriedigung. Vielleicht verwandelte sich unser Planet wieder in den Paradiesgarten vom Anfang der Schöpfung zurück, bevölkert von sanften Menschen, die im Einklang mit der Natur lebten und des Tötens überdrüssig waren. Aus heiterem Himmel wölbte sich die Kanzel nach innen, Glassplitter schwebten auf mich zu und färbten sich rot. Dann erst kam das Bersten des Einschlags, das Aufheulen des Rotors, der Schmerz. Der Helikopter kippte nach unten weg, taumelte, richtete sich auf, schlug kreischend eine Schneise in den Dschungel. Ich wurde nach vorn geschleudert. Ein schwarzer Sack fiel über mich. Als ich wieder zu mir kam, saß mir ein prachtvoll gewandeter Emir gegenüber. Wir befanden uns in einem Raum, der kreisförmig von Säulen und Pfeilern umgeben war, hinter denen weitere Säulen und Pfeiler ein Oktogon bildeten. Ich kannte diesen Ort. Er war mit Jerusalem untergegangen, wie fast ganz Israel. Dort gab es jetzt nur noch ein großflächig erweitertes Totes Meer. »Der Felsendom«, sagte ich spöttisch. »Glauben Sie, damit könnten Sie mich bluffen?« Die Säulen stürzten in einem Chaos aus flirrenden Pixeln zusammen. Ein Gefühl, als würde jemand mein Gehirn mit einem Löffel umrühren, Schwindel, Übelkeit – dann saß ich in einer armseligen, nur mit ein paar Teppichen geschmückten Kammer. »Gute Virtual-Reality-Maschine«, sagte ich zu meinem Gegenüber. »Kompliment. Wenn ich nicht wüsste, dass all euere herrlichen Moscheen und heiligen Stätten zerstört sind, hätte ich mich täuschen lassen. Es war absolut echt.«
»Euere herrlichen Moscheen«, wiederholte der Mann, der nun ein schlichtes weißes Gewand trug. »Ungewöhnliche Worte für einen Christen.« »Und Sie sprechen ungewöhnlich gut Englisch für einen muslimischen Feldkommandanten«, erwiderte ich. »Ich habe in Oxford studiert«, sagt er, und ich glaubte einen Hauch Wehmut in seiner Stimme zu spüren. »Ich wäre gern dort geblieben. Vermutlich wäre ich heute Professor für Computertechnik, wenn nicht…« Er räusperte sich und wies auf die erbärmliche Kammer. »Stattdessen…« Ich sah ihn an. Er war ein müder alter Mann. Wie ich. Er straffte sich. »Man nennt mich Saladin.« Das war also der berühmte islamische Feldherr, das strategische Genie, das die Niederlage seiner Seite abgewendet hatte und nun immer mehr Druck auf uns aufbaute. Seit Jahrzehnten auf der Flucht, überall und nirgends anzutreffen. »Sikorski«, sagte ich. »Ah, Oberst Sikorski. Ich habe von Ihnen gehört.« Er vertiefte das Thema nicht. »Ich habe gehofft, Sie eines Tages zu treffen.« Lange musterten wir uns gegenseitig. Wir waren beide etwa gleich alt. Wir waren beide dieses Lebens überdrüssig, das nichts von dem gebracht hatte, was wir uns in jungen Jahren erträumt hatten. Wir suchten beide nach der letzten großen Geste, der Wiedergutmachung, angesichts derer wir doch noch sagen konnten: Ja, es hat alles seinen Sinn gehabt. Und auf einmal war da der Moment, in dem alle Dämme brachen. Wir sprachen über den Glanz der islamischen Architektur, die Moscheen von Cordoba, Damaskus, Isfahan. Die efeuüberwachsenen Innenhöfe englischer Colleges. Die sorglosen Tage vor dem Krieg. Die Menschen, die wir verloren hatten. Die Zukunft, die wir einst vor uns hatten und die nun
Vergangenheit war, ohne je Gegenwart geworden zu sein. Fatima und die Blumen. Irgendwann nach vielen Stunden fragte Saladin plötzlich: »Glaubst du, dass dieser Krieg bald zu Ende gehen wird?« »Nein«, sagte ich. »Nicht in Jahrzehnten. Zu viel Fanatismus.« Er schwieg. »Einer muss den Frieden anfangen, so wie einer den Krieg anfängt«, sagte er schließlich gedankenverloren. »Das ist von einem von euch. Ein deutscher Schriftsteller. Stefan Zweig.« »Schön und gut«, sagte ich. »Aber wie?« »Wir haben keine klassische Armee mit Panzern und Flugzeugen. Aber wir sind sehr gut in der elektronischen Kriegsführung.« Ich nickte. »Ich weiß. Ihr habt fast alle unsere Satelliten unter Kontrolle gebracht.« »Gekapert, ja. Wir haben viele hervorragende SoftwareEntwickler aus Indien auf unserer Seite. Keine Moslems, aber Indien verhungert, und so landen viele Hindus bei uns. Wir geben ihnen zu essen. Natürlich nur den Begabtesten, denn wir haben selbst nicht viel.« Ein Spur Stolz überlagerte die Melancholie in Saladins Gesicht. »Wir haben große unterirdische Entwicklungskomplexe. Tief im Berg. Nicht zu finden. Völlig autark. Ein Lob der Brennstoffzelle.« »Und – was bringt das für den Frieden?« »Wir haben einen Virus entwickelt, der euer gesamtes Datenverarbeitungsnetz irreparabel zerstören wird. Binnen zehn Minuten wird auch das letzte Peripheriegerät funktionsunfähig sein. Vorausgesetzt…« Er machte eine lange Pause. »Vorausgesetzt, jemand schmuggelt den Virus an eurer Dreifach-Firewall vorbei.« Ich brauchte nicht lange, um mich zu entscheiden. »Okay«, sagte ich, »her damit.«
Alles, was diese Amok laufende Kriegsmaschinerie aufhalten konnte, war gut. Ich würde der weiße Ritter sein, der dem Wahnsinn Einhalt gebot. Bald ist meine Mission erfüllt. Ich gehe in das kleine Sekretariat neben dem Audienzsaal. Es ist nur bei Audienzen besetzt. Jetzt ist es leer. Natürlich kommt da nicht jeder rein. Ich weiß, dass ich vom Öffnen der Tür bis zur Eingabe des Codewortes ungefähr zehn Kontrollen durchlaufen habe, Telematikgeräte, Scanner, Analyzer und was sonst noch. Kein Problem, ich habe die zweithöchste Zugangspriorität, und das reicht für meine Zwecke. Ich docke die mobile Speichereinheit mit Saladins Virus an das System an. Der Rest geschieht automatisch. Kaum habe ich das Sekretariat wieder verlassen, beginnen die Glocken zu läuten. Erst denke ich erschrocken an einen Alarm, dann begreife ich, dass dies ein akustisches Signal für den Zusammenbruch des Systems ist. Die Glocken im ganzen Vatikan sind elektronisch gesteuert. Wie ein sterbendes Gehirn feuert das kollabierende Datennetz sinnlose Befehle ab und hat alle Glocken aktiviert. Es müssen Tausende und Abertausende sein. Die ganze Insel erbebt unter dem dröhnenden Klang dunkel hallenden Erzes. Es ist ein unfassbarer, die Sinne überwältigender Lärm, eine machtvolle Tonkaskade, die wie eine Sintflut über uns hereinbricht. Die Wände zittern, selbst die Luft scheint zu vibrieren. So habe ich es mir immer vorgestellt, wenn zum Jüngsten Gericht geläutet wird. Wird es ja auch.
Menninger platzte fast vor Stolz. Er hatte mich hinüber in seine Kommandozentrale bestellt, jenen unterirdischen Komplex im Westen der Insel, den sie das Pentagon nennen. »Das ist sie«, sagte er mit Ehrfurcht. »Die Mutter aller Bomben. Der Große Schnitter.« Die Mutter aller Bomben sah unspektakulär aus. Im Grunde wie eine große, längliche Metalltruhe. Oder ein Sarg. »Eine Neutronenbombe der neuesten Generation«, begeisterte sich der Kardinalmarschall. »Tötet jede lebende Zelle in einem Radius von 30 Kilometern. Durchdringt jede Materie. Damit kriegen wir sie auch in den tiefsten Löchern in den Bergen. So tief können sie sich gar nicht hineinwühlen.« Er schwenkte eine Fernbedienung. Es war lächerlich. Für einen Augenblick glaubte ich, er wolle vor Freude tanzen. »Die Heiden sind damit quasi Geschichte, Sikorski. Und dann«, er konnte sich nur mühsam beherrschen, »sollten wir uns mal um die Protestanten kümmern. Sie haben unseren Kampf nur halbherzig unterstützt, diese Häretiker.« Ich überlegte, was das in Menschenleben bedeutete. Zehn Millionen Opfer? Hundert Millionen? Noch mehr? Ich dachte an die Asiengrippe. Wenn sie eine Waffe hatten, setzten sie sie auch ein. Meine Entscheidung war logisch, kühl und klar. Ich schlug Menninger nieder, mit den bloßen Fäusten. Es war einfach, er hatte nicht damit gerechnet. Er fiel nach hinten gegen eine Schreibtischkante und brach sich das Genick. Ich verließ den Raum und gab draußen Order, dass Kardinalmarschall Menninger nicht gestört werden wollte. Sie würden sich daran halten. Gehorsam war hier das oberste Gebot.
Der Lärm der Glocken ist immer noch infernalisch. Es ist, als würde man im Inneren einer einzigen großen Glocke sitzen, die einen selbst in Schwingung versetzt. Die elektronischen Spieltische der großen Orgeln haben sich selbständig gemacht und mischen sich in den Lärm. Die Orgelpfeifen wummern, schrillen, tröten, kreischen wie waidwunde Saurier. Menschen rennen in Panik hin und her, bekreuzigen sich. Sie begreifen nicht, was hier vor sich geht, aber auf ihren Gesichtern liegt eine schreckliche Ahnung. Ich knie vor dem Hauptaltar von Santa Maria Maggiore. Meine Gedanken rasen, springen hin und her zwischen völliger Wirrheit und völliger Klarheit. Es ist 58 Minuten her, seit ich Menninger niedergeschlagen habe. Vor drei Minuten habe ich den Computervirus aktiviert. Jetzt kann ich nur noch warten. Ich will diesen Wahnsinn beenden. Ich will Millionen von Menschen retten. Ich muss dieser Tyrannei ein Ende machen. Es ist der letzte Ausweg. Tyrannenmord. Früher war das einfach. Man hat den Kaiser, den König, den Diktator getötet, und alles brach zusammen. Heute, in einer vernetzten Welt, ist das anders. Unrecht geschieht gleichzeitig und überall, ganz systematisch. Das System ist der Tyrann, nicht ein einzelner. Also musst du das System zerstören. Die Adern, durch die das Gift fließt. Die Datennetze. Und den Kopf. Du musst das ganze System enthaupten. Radikal, sonst ist es bald wieder so, wie es war. Ja, ich habe es getan. Ich habe die Zeitschaltuhr des Großen Schnitters auf eine Stunde gestellt. Ich werde Zehntausende töten, um Millionen zu retten. Ich töte für das höhere Wohl Menschen, die ich für schuldig halte. Ich nehme dabei den Tod Unschuldiger in Kauf. Wie ein ganz gewöhnlicher Terrorist. Was unterscheidet mich von einem x-beliebigen Selbstmordattentäter? Was gibt mir die Gewissheit, dass dieser
etwas Falsches tut und ich etwas Richtiges? Welcher Hochmut! Was maße ich mir an? Aber einer muss es doch tun. Für Kinder wie Fatima. Für all die Unschuldigen, die sonst getötet würden. Für die Zukunft. Ich weiß keinen anderen Weg. Der Gordische Knoten. Der Große Schnitter. Mein Gott, steh mir bei. Gott vergib mir. Gib, dass ich das Richtige getan habe. Steh mir bei. Vergib mir. Steh mir bei. Vergib mir. Und alles Fleisch, es ist wie Gras. Noch zwanzig Sekunden.
Marcus Hammerschmitt (*1967), seit 1994 freier Schriftsteller, wird von vielen als der anspruchsvollste zeitgenössische deutsche SF-Autor angesehen, u. a. für den Erzählungsband Der Glasmensch und für Romane wie Der Opal, Der Zensor und Polyplay. Außerdem wurden die Kurzgeschichte »Die Sonde« mit dem Deutschen Science Fiction Preis sowie die Kurzromane »Wüstenlack« und »Troubadoure« mit dem KL? ausgezeichnet. www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt
MARCUS HAMMERSCHMITT Harmagedon Reinhold Messner überlebt den Dritten Weltkrieg
Reinhold Messner, nicht verwandt, nicht verschwägert, kauft sich eine Insel bei Fünen. Er hofft, auf dem kleinen dänischen Eiland den Dritten Weltkrieg zu überleben, dessen Ausbruch er für 2012 erwartet. Messner baut sich ein besonderes Haus in der Form eines überdimensionalen Abfallcontainers, weil er glaubt, dass die rhomboide Form schädliche Auswirkungen der zu erwartenden Feindseligkeiten neutralisieren kann. Messner ist einmal Physiker gewesen, er weiß in solchen Dingen Bescheid. Er füllt den Container mit lebensnotwendigen Ressourcen und wartet den Tag ab, an dem die politische Lage den baldigen Ausbruch eines Krieges ankündigt. Eines schönen Morgens im Jahr 2012 erkennt Messner nach Lektüre der Zeitung, dass es soweit sein muss. Er beendet sein
Frühstück ordnungsgemäß und tritt die Reise zu seiner dänischen Insel an, wo er den Wohncontainer wohlversorgt und unbeschädigt vorfindet. Er richtet sich häuslich ein und harrt der Dinge, die da kommen. Der Krieg bricht aus. Nach drei Tagen öffnet Messner seinen Container und findet den Himmel bedeckt von tiefvioletten Wolken. Hier und da ragen Säulen aus gleißendem Licht in den Himmel. Wo sie die violetten Wolken berühren, hoch droben, scheinen ungeheure Orkane zu toben, die aber keinen sichtbaren Einfluss auf niedrigere Luftschichten nehmen, geschweige denn auf Messner. Die Lichtsäulen scheinen zu wandern, und Messner nimmt sich vor, ihnen auszuweichen, so gut es geht. Bei einem Kontrollgang auf der Insel überzeugt er sich vom tadellosen Zustand aller Einrichtungen, die er für sein Überleben braucht. Messner hat vorgesorgt. Nicht nur seinen Wohnrhombus hat er den Erfordernissen eines lang anhaltenden Überlebenskampfes unter schwierigen Bedingungen angepasst, auch das Umfeld ist von ihm entsprechend gestaltet worden. Das kleine Labor, die Werkstatt, die Nutz- und Ziergärten, der Übungsplatz zur körperlichen Ertüchtigung, die Anlegestelle und die Boote selbst sind voll funktionsfähig. Bei Bedarf kann Messner seine Insel durch einen aufklappbaren Zaun aus rostfreiem Stahl in eine uneinnehmbare Festung verwandeln, auch die Steuerung dieses Mechanismus hat keinen Schaden genommen, wie er bei einem Test feststellen kann. Seine verschiedenen Waffen ruhen wohlgeordnet und -gewartet in ihren Behältnissen. Glücklicherweise verschwinden die Lichtsäulen nach und nach, der Himmel klärt sich, und die violetten Wolken geben nach ihrer Auflösung ein sattes Türkisgrün frei, das Messner ästhetisch ansprechend findet. Zwar ist die Sonne immer noch ein wenig blass und sieht aus, als sei sie in einen Topf warmer Milch gefallen, aber die Temperaturen sind so angenehm, dass
Messner sich mit nacktem Oberkörper im Freien bewegen kann. Die Solarzellen erbringen nicht die übliche Leistung, aber Messner ist zufrieden, weil er damit gerechnet und für Überkapazitäten gesorgt hat. Nach einigen Tagen bestätigt sich Messners Vermutung, dass das Magnetfeld der Erde massiven Turbulenzen unterliegt. Zugvögel, denen nunmehr die Orientierung fehlt, fallen verwirrt vom Himmel. Einer davon trifft Messner im Nacken, während er sich den rechten Schuh zubindet. Anscheinend hat die Erdachse ihren Neigungswinkel zur Sonne verändert, wodurch die astronomischen Daten zu Sonnenauf- und -untergang, die Messner zur Verfügung stehen, obsolet geworden sind. Das Polarlicht ist nachts so hell, dass Messner ohne Kunstlicht Bücher lesen kann. Das Fehlen von Flugzeugen am Himmel und das Ausbleiben von Schiffen um seine Insel herum lassen Messner vermuten, dass sowohl der Luftverkehr als auch die Schifffahrt zum Erliegen gekommen sind. Einmal treibt eine große Autofähre langsam an seiner Insel vorbei, aber da sie mit dem Heck voran fährt und außerdem erhebliche Schlagseite hat, geht Messner davon aus, dass sie führerlos ist. Die Fähre verfehlt die Insel nur knapp, und Messner ist froh, dass es nicht zu Beschädigungen an der Küstenlinie gekommen ist. Der Vorfall gibt ihm zu denken. Er plant eine Reise nach Odense, der Hauptstadt von Fünen und drittgrößten dänischen Stadt überhaupt, um sich von der dortigen Lage ein Bild zu machen. Aber kann er seine Insel verlassen, während steuerlose Großfähren und anderes Treibgut die flachen Gewässer um sie herum unsicher machen? Er wartet ab. Im Verlauf von drei weiteren Tagen treibt jedoch nur ein weiteres Seefahrzeug an der Insel vorbei. Messner kann nicht genau erkennen, worum es sich handelt, aber aufgrund der Größe der Schiffsschrauben schließt er auf einen Fischkutter. Er kommt zu dem Schluss, dass er die Reise wagen kann, und sticht in See.
Wie er feststellen muss, hat sich die Farbe des Wassers dauerhaft verändert. Mit einem durchsichtigen Becher nimmt er einige Proben. Zu seiner Verblüffung bleibt das Wasser tiefschwarz, ohne einen sichtbaren Bodensatz auszufällen. Der Geruch der Flüssigkeit tendiert zum Metallischen. Messner sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass die Meeresfauna um bisher unbekannte Spezies bereichert worden ist. Ein großes Lebewesen, das sein Boot verfolgt, verblüfft Messner durch seine ungewöhnliche Anatomie: Die Körperteile scheinen nur locker miteinander verbunden, und das Tier weist überraschend viele, mit scharfen Zähnen gespickte Mäuler an Stellen auf, wo Messner sie nicht vermutet hätte. Als es sich in sein Boot verbeißt, muss Messner zur Waffe greifen, und der Kadaver verströmt eine Wolke von karminrotem Blut, die schnell zum brodelnden Mittelpunkt der Aufmerksamkeit vieler anderer Seebewohner wird. Manche dieser Tiere wirken außerordentlich fremdartig auf Messner, und er beschließt, die neue Meeresfauna nach seiner Rückkehr einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Ohne weitere Zwischenfälle landet Messner in Svendborg. Die kleine, beschauliche Hafenstadt im Südosten Fünens hat sich beträchtlich verändert. Überall wachsen Palmen, welche die unangenehme Eigenschaft haben, in sehr kurzer Zeit zu sprießen, sich zu voller Höhe aufzurecken und gleich darauf, am Ende ihres Lebenszyklus, faul und morsch umzustürzen. Messner beobachtet eine dieser Palmen beim Wachstum und schätzt die Gesamtlebensdauer der Pflanzen auf maximal einen Tag. Die Luft ist erfüllt vom satten Donner aufschlagender Palmenstrünke, Messner nimmt sich vor, nicht in einen Palmenwald zu geraten. Manche der Häuser in den Straßen Svendborgs strahlen aus unerfindlichen Gründen ein intensives blaues Leuchten ab, das in den Augen schmerzt; Messner beschließt, solche Häuser zu meiden. Aus der Kirche kommt
Orgelmusik, die allerdings einen streng atonalen und irreligiösen Charakter aufweist. Messner zerschmettert das abgeschlossene Kirchenportal mit seiner Feuerwehraxt. Auf der Orgeltastatur springen seltsame kleine Kreaturen herum, die in etwa wie flügellose Hühner ohne Federn aussehen. Ihr Gehüpfe verursacht die eigenartige Musik, und sie scheinen strengen ästhetischen Ansprüchen zu gehorchen, denn Messner kann beobachten, wie eines dieser Wesen von seinen Artgenossen zu Tode gepickt und von der Tastatur heruntergestoßen wird. Auf dem Boden vor den Pedalen sammeln sich die Leichen der Versager. Messner kann sich nicht vorstellen, was geschehen wird, wenn der elektrische Strom endgültig versiegt, der zum Betrieb der Orgelgebläse notwendig ist und den der Küster offensichtlich nicht mehr hat abstellen können. Messner durchstreift Svendborg jetzt nur noch mit entsicherter Waffe, denn er weiß nunmehr, dass die ganze Natur einer radikalen Reorganisation unterworfen worden ist, und das mit außerordentlicher Gründlichkeit. Gewisse gallertartige Banderolen, die an vielen Häusern von den Regenrinnen hängen und sich von selbst zu bewegen scheinen, bestätigen ihn in dieser Ansicht nur. Die Menschen sind alle tot. Wie von Messner vorhergesehen, wurde der Krieg hauptsächlich mit einer Waffe ausgefochten, die alle Menschen in kleine Haufen grauen Staubes verwandelt hat. Diese Haufen haben eigenartigerweise die Form von Spitzkegeln, und eine neue Art von Niederschlag hat sie betonhart werden lassen. Wie Tausende zu klein geratene Panzersperren übersähen sie die Fußgängerzone von Svendborg. Die Spitzkegel erweisen sich als sehr praktisch, weil sie ein Rudel von Hunden daran hindern, Messner aus dem Hinterhalt zu überfallen und zu zerfleischen. Der Kampf mit ihnen ist kurz, aber intensiv, Messner muss eine ganze Kette seiner kostbaren Maschinengewehr-Munition zur
Abwehr seiner Feinde opfern. Wie er bei einer vorsichtigen Untersuchung der Kadaver feststellen kann, handelt es sich bei den Angreifern nicht um herkömmliche Hunde. Ihre Gebisse sind abnorm vergrößert, ihre Körper »muskelbepackt« zu nennen, wäre eine grobe Untertreibung. Auch der Begriff »Warmblüter« scheint nicht mehr recht zu ihnen zu passen: Ihr Blut zischt auf dem Asphalt, als sei es sehr heiß, und die Dampfschwaden, die von den Blutlachen aufsteigen, weisen einen unangenehmen, ätzenden Geruch auf. Neben dem ständigen Gepolter umstürzender Eintagespalmen nimmt Messner in der Innenstadt auch einen intensiv klagenden Ton wahr, der ihn an eine Zeit auf Borneo erinnert, wo ihn eine gewisse Spezies von nachtaktiven Paradiesvögeln mit ihren Paarungsrufen beinahe zum Wahnsinn getrieben hatte. An einer Neuauflage dieses Erlebnisses ist er nicht interessiert, aber schließlich behält der Forscher in ihm die Oberhand. Als er den größten öffentlichen Platz im Zentrum Svendborgs betritt, ist er überrascht, denn der Boden des Platzes ist schwarz – so intensiv schwarz, dass Messner verwirrt mit den Augen blinzelt. Der klagende Ton ist hier so laut, dass Messner sich einen Ohrenschutz wünscht, aber er hat sich geschworen, die Ursache für dieses Geräusch herauszufinden und möchte nur ungern klein beigeben. Messner setzt einen Fuß auf den tiefschwarzen Belag, der den Platz bedeckt und stellt fest, dass es sich nicht um einen Teppich im eigentlichen Sinn handeln kann, denn sein Stiefel sinkt ein wie in einer dicken Lage Moos, und das Material gibt ein seufzendes und schmatzendes Geräusch von sich, als sei es eher organisch denn textil. Mit einem Mal ist es völlig still. Der klagende Ton hat abrupt aufgehört, und Messner kann das seufzende Schmatzen seiner Stiefel auf dem schwarzen Moos sehr gut hören. Zu seiner großen Überraschung lösen sich zwei Teile aus dem Teppich und wickeln sich wie lebendige Lappen
um seine Füße. Messner erblickt zum ersten Mal die Unterseite dieses Teppichs. Sie ist blutrot und mit vielen kleinen Saugnäpfen an zwei bis drei Zentimeter langen Stielen versehen, etwa in der Art von Seesternextremitäten. Angesichts der eigentümlichen Stille, der erstaunlich zielgerichteten Tastbewegungen dieser lebendigen Fußlappen an seinen Stiefeln und eigenartiger, umlaufender Wellenbewegungen am Rand des gesamten Bodenbelags beschließt Messner, den geordneten Rückzug anzutreten. Die Fußlappen haben wieder Kontakt zu dem Rest des Teppichs aufgenommen, und zwar durch schnell wachsende bleiche Fäden, die nach den Rändern des schwarzen Gebildes ausgreifen. Diese Filamente scheinen eine außergewöhnliche Zugfestigkeit aufzuweisen, denn Messner muss sie in Fetzen schießen, damit er seine Füße bewegen kann. Im Zorn ballert er noch ein wenig in das schwarze Gebilde hinein, und die Kugeln schlitzen es bahnförmig auf wie einen schwarzen Jackenstoff, der sein blutrotes Futter offenbart. Der schwarze Stoff zieht sich ruckartig mehrere Meter von ihm zurück, und statt des klagenden Tons ist die Luft jetzt von einem lauten Blubbern erfüllt, wie man es bei einem Schlammgeysir vor dem Ausbruch erwarten würde. Messner flüchtet hastig in eine Seitengasse, aber die Sauglappen an seinen Stiefeln behindern ihn, und mit nicht geringem Erstaunen muss er feststellen, dass der schwarze Bodenbelag bei der Verfolgung eine recht hohe Fließgeschwindigkeit an den Tag legt. Messner stößt zur Fußgängerzone durch, und hofft, dass der schwarze Bodenbelag durch die Spitzkegel aufgehalten wird. Seine zweite Hoffnung geht dahin, dass die überlebenden Hunde immer noch Respekt vor ihm haben. Zu seiner Erleichterung ist beides der Fall. Der lebendige schwarze Teppich kann die Spitzkegel nicht einfach überwinden, sondern muss sie umfließen. In der relativ engen
Fußgängerzone ist Messner mit seiner bipedalen Fortbewegungsweise klar im Vorteil, auch wenn er sich fühlt, als wäre er in altmodischen Skischuhen unterwegs, an deren Sohlen fünf Zentimeter Schnee festgefroren sind. Die Hundekadaver, die Messner hinterlassen hat, scheinen dem Bodenbelag zusätzlich Schwierigkeiten zu bereiten, denn wo er auf einen von ihnen trifft, wird er schlagartig weiß. Messner gewinnt zunehmend Abstand von dem heftig blubbernden Gebilde und findet sich schließlich am Hafen wieder, wo er in relativer Sicherheit über seine nächsten Schritte nachdenken kann. Auf einem Betonpoller am schwarzen Wasser des Hafenbeckens sitzend, widmet er sich zunächst der Aufgabe, seine Stiefel zu reinigen. Wie sich herausstellt, sind die lebendigen Fußlappen nunmehr fest mit ihnen verwachsen, und selbst mit seiner Machete ist Messner nicht in der Lage, das Gewächs vom Leder zu trennen. Glücklicherweise sind die Fußlappen sehr temperaturempfindlich, denn als Messner sie mit einem Feuerzeug traktiert, verlieren sie sofort jede Farbe und bröseln als weißer Staub zu Boden. Leider lösen sich seine Stiefel gleichfalls auf, so dass er nun barfuß ist. Dieser Zustand behagt ihm wenig, und die ungünstige Tatsache, dass seine Maschinengewehrmunition nur noch aus wenigen Dutzend Schuss besteht, bringt ihn auf die Idee, eine Kaserne der dänischen Marine aufzusuchen, von der er weiß, dass sie sich in unmittelbarer Nähe zum zivil genutzten Teil des Hafens befindet. Am Eingang der Kaserne trifft Messner auf zwei Lebewesen, die wie Kreuzungen aus übergroßen Libellen und erdmittelalterlichen Flugsauriern aussehen. Als sie Messner wahrnehmen, spreizen sie je vier ledrige Flügel. Er kann sie mit einigen Warnschüssen vertreiben und lacht über die spitzen Schreie, die sie bei ihrer Flucht ausstoßen.
In der Kaserne herrscht heilloses Durcheinander. Die Körper der Marinesoldaten haben sich in Luft aufgelöst, aber ihre Uniformen sind unbeschädigt geblieben. Auf dem Exerzierplatz liegt eine ganze Kleiderkammer kreuz und quer über den Boden verstreut, Messner muss an moderne Installationskunst denken. Überall rollen kleine schwarze Bälle über den Boden, die sich beim Nahen von Messners Schritten eilig aus dem Staub machen. Anscheinend sind sie auch für das durchdringende Klicken verantwortlich, das von den Wänden widerhallt. Messner betritt eine Wachstube. An der Wand hängt das Bildnis einer nackten blonden Frau mit enormen Brüsten. Sie lächelt dem Betrachter auffordernd zu, und Messner erleidet eine Erektion. Die Uniform des Wachhabenden liegt ordentlich über dem Stuhl, sein Kugelschreiber, mit dem er nicht ohne Talent ein weibliches Geschlecht auf eine Bäckereitüte gezeichnet hatte, ist vom Tisch gerollt. Zum Spaß nimmt Messner den Telefonhörer ab und hört ein Freizeichen. Er wählt die Nummer seines alten Anschlusses in Deutschland und erreicht seinen eigenen Anrufbeantworter. Kopfschüttelnd legt er wieder auf, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben. Messner durchstreift die Kaserne auf der Suche nach passenden Stiefeln, Munition und anderen nützlichen Dingen. Die Stiefel finden sich im geöffneten Spind eines Mannschaftsraumes, vor dem sich zum Zeitpunkt des Angriffs offenbar ein Soldat umgezogen hat, denn seine Uniform liegt neben Zivilkleidern auf dem Boden herum. In den Hosentaschen zweier Wachsoldaten findet Messner die passenden Schlüssel zum Arsenal. Auch hier verblüfft ihn wieder die Tatsache, dass der elektrische Strom immer noch fließt. Die tadellos funktionierenden Neonröhren beleuchten die Regale voller Waffen und Munition mit gespenstischer Zuverlässigkeit. Mit
dem Nötigen versehen, verlässt Messner die Waffenkammer und tritt wieder hinaus ins Freie. Dort haben sich seltsame Dinge abgespielt, während er im Keller war. Jede freie Fläche ist mit gelben, handtellergroßen Fröschen übersät, die in der fahlen Sonne ihre Körper wärmen. Zum Glück sind sie harmlos, springen aber in hohem Bogen davon, als Messner sie aufscheucht. Auf dem Weg zum Kasernentor wird die Lage für Messner dann etwas unübersichtlich, weil Hunderte von Fröschen um ihn herum aufspritzen wie Wasser, das auf eine heiße Herdplatte trifft. Beinahe schon am Tor angekommen, erinnert sich Messner plötzlich an einen Zeitungsartikel, in dem davon die Rede war, dass genau hier, in dieser Kaserne, zwei Dutzend hochmoderne Amphibienpanzer stationiert seien, mit denen die dänische Marineinfanterie regelmäßig Landemanöver an den flachen Küsten des Inselarchipels ausführe. Messner findet die betreffenden Garagen und verschafft sich Zutritt. Die Panzer sehen im Licht der Neonröhren aus wie Urzeittiere, und Messner findet das in Bezug auf die gewandelte Fauna und Flora zu Lande, zu Wasser und in der Luft nur angemessen. Einige der Fahrzeuge sind von zerknüllten Uniformen, Datenblättern sowie Lampen und Werkzeug umgeben, als habe der Krieg eine Routinewartang unterbrochen. Ansonsten machen die Panzer einen ausgezeichneten Eindruck. Sie sind nahezu neu und wirken so, als seien sie der ganze Stolz des Stützpunkts gewesen. Es handelt sich ausschließlich um deutsche Markenfabrikate. Sie sind nur leicht bewaffnet – zum Beispiel fehlt ihnen ein ordentliches Geschütz –, aber das schwere Maschinengewehr auf dem Dach, das, wie Messner weiß, von der Führerkanzel aus bedient werden kann, ist immerhin ein Anfang. Die Anwesenheit der Panzer stellt für Messner einen wirklichen Glücksfall dar. In seiner Bundeswehrzeit hat er das
Vorgängermodell gefahren, und so kennt er sich mit den technischen Gegebenheiten des Geräts weitgehend aus. Die Bedienungsanleitung verzeichnet gewisse Verbesserungen gegenüber älteren Serien, so sind diese Fahrzeuge zum Beispiel nahezu hochsee-tauglich. Messner könnte mit einem vollen Tank bis nach Rostock schwimmen, wenn er wollte. Das will er aber nicht, sein Ziel heißt Odense. Bevor er die Kaserne mit dem Panzer seiner Wahl verlässt, belädt er ihn mit Ausrüstungsgegenständen, die ihm von Nutzen sein könnten. Vor allem komplettiert er sein Waffenarsenal mit dringend benötigten Panzerfäusten, Flammenwerfern, Mörsern mit Munition und Maschinengewehren eines Typs, die er allein gerade noch bedienen kann. Er vergisst auch nicht die Notrationen in grünem Cellophan, die Gasmasken, die Chemikalien zur Wasserreinigung und mehrere Zwanziglitertanks mit Reservekraftstoff. Der Motor des Panzers springt beim ersten Versuch an. Auf der langsamen Fahrt zum Kasernentor bemerkt Messner, dass aus einem Fenster des Offizierstrakts Bettwäsche in blauem und rotem Seidensatin heraushängt. Der Stoff glänzt in der Sonne so attraktiv, dass Messner versucht wäre, sich die Bettwäsche anzueignen, wenn nicht mehrere Miniaturausgaben der Saurierlibellen kopfüber daran herunterhängen würden. Messner, doch etwas außer Form, was die Lenkung eines Amphibienpanzers angeht, rammt beinahe das Kasernentor und beschließt, das Tempo innerhalb der Ortsgrenzen zunächst moderat zu halten. Er nimmt sich vor, mit dem Panzer möglichst bald in einem flachen Gewässer Schwimmübungen zu veranstalten. Jedem überflüssigen Vandalismus abhold, kann es Messner kaum übers Herz bringen, nach einer geeigneten Zielscheibe für Schießversuche Ausschau zu halten, aber an einer Erprobung seiner Bordwaffen führt nun einmal kein Weg vorbei. Der Wetterhahn des Kirchturms ist
selbst aus zweihundert Metern Entfernung kein größeres Problem, und wie Messner feststellen kann, ist das Maschinengewehr auf seinem Dach eher als eine Maschinenkanone anzusprechen, weil sie erwiesenermaßen sogar Mauerwerk durchdringen kann. Messner fährt noch einmal schnell am Hafen vorbei, um sein Boot an Land zu ziehen. Dabei kommt ihm die Geländegängigkeit seines neuen motorisierten Untersatzes sehr zupass, weil die Straßen in diesem Viertel nun doch schon arg von umgestürzten und verrottenden Eintagespalmen blockiert sind. Leider ist sein Boot verschwunden, Messner kann keine Spur davon entdecken. Er fragt sich ernsthaft, wer oder was das Boot entfernt haben könnte, erkennt jedoch schnell, dass diese Grübelei nutzlos ist und setzt seine Reise fort. Bei der Plünderung einer Apotheke begegnet er der ersten und einzigen anthropomorphen Leiche, die der Krieg in Svendborg hinterlassen hat. Der Apotheker, ein Mann mit gewinnendem Lächeln und Halbglatze, steht hinter seinem Tresen, als warte er auf Kunden. Messner ruft ihn an, aber er reagiert nicht. Als Messner ihn mit der Mündung seiner Pistole anstupst, zerspringt er in tausend Scherben. Unangenehmerweise riecht es in der Apotheke durchdringend nach verdorbenem Fleisch, und Messner beeilt sich beim Zusammensuchen der Schmerz- und Desinfektionsmittel, des Verbandsstoffs, der Spritzen und der anderen pharmazeutischen Basisartikel, derer er bedarf. Zunächst muss Messner noch zahlreichen Autowracks ausweichen, aber auf der Autobahn nach Odense wird die Situation übersichtlicher. Die Fahrt bleibt relativ ereignislos. Auf der Höhe von Stenstrup bemerkt er eine eigenartige Himmelserscheinung: Seltsame Blasen schweben in der Luft und gruppieren sich zu einer schwebenden, transparenten Kuh mit Euter, Hörnern und allem, was sonst so dazugehört.
Messner ist sich der Tatsache bewusst, dass dieser Sinneseindruck auf Selbsttäuschung beruht. Bei Snarov biegt er nach Korinth ab, weil er einen Abstecher zum Arreskov S0 machen will, einem See, in dem er die Schwimmfähigkeit seines Panzers testen könnte. Als er dort ankommt, muss er feststellen, dass seine Oberfläche sonderbar aussieht. Sie schillert in allen Regenbogenfarben. Messner nimmt einen einfachen Stein und wirft ihn in den See, doch der Stein prallt mit einem harten, spröden Klacken von der Oberfläche ab. Messner nimmt einen größeren Stein und erzielt im Wesentlichen dasselbe Ergebnis. Er kann sich eine gewisse Frustration nicht verhehlen und beschließt, ein Loch in die Oberfläche dieses Sees hineinzumachen, koste es, was es wolle. Er baut einen tragbaren Mörser auf und hält sich vorschriftsmäßig die Ohren zu. Es macht »Fump«. Er kann den Flug der Granate auf den letzten Metern ihrer Trajektorie beobachten. Sie zündet nicht beim Aufschlag, sondern wird zunächst sang- und klanglos geschluckt. Dann erst kommt es zur Detonation, und gleich danach zischt es aus dem Explosionskrater heraus, als werde aus einem riesigen Ballon die Luft abgelassen. Messner beobachtet mit dem Fernglas, dass aus dem kleinen, schwarzen Krater mit hohem Druck konfettiartige Schnipsel herausgeblasen werden. Diese Schnipsel weisen dieselben Regenbogenfarben auf wie die Oberfläche des Sees. Messner schätzt, dass sie bis zu einer Höhe von zehn Metern aufsteigen. Das Geschnipsel rieselt als bunter Schnee auf die Erde herunter, wobei die Austrittsöffnung des Konfettigeysirs Stück für Stück kleiner wird. Nach wenigen Minuten erstirbt das Zischen, die Öffnung hat sich geschlossen, und weitere drei Minuten später kann Messner nicht mehr sagen, wo die Granate aufgeschlagen ist. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass man das Verhalten des Sees unter rein medizinischen Gesichtspunkten als Akt der
Selbstheilung bezeichnen könnte. Er hofft, dass der See ihm nicht böse ist, verstaut den Mörser kleinlaut unter seinen Gerätschaften, und fährt auf der 43 weiter Richtung Odense. Kurz vor dem Dorf Norre Lyndelse kommt er an einer lustig sprudelnden Quelle vorbei, und da er Durst hat, beschließt er spontan, auszusteigen. Nach all seinen bisherigen Erlebnissen ist ihm klar, dass er jeder Form von Wasser mit einem gewissen Misstrauen begegnen muss, deswegen hält er sich mit dem Trinken zurück. Er untersucht das Wasser mit einem Satz verschiedener Chemikalien und Reagenzien. Zu den häufigsten Umweltgiften und biologischen Verunreinigungen ergibt sich kein Befund. Einzig der schwache Geruch des Wassers nach Zimt macht ihn stutzig, und er beschließt, eine Probe davon mitzunehmen, um sie unter geeigneteren Bedingungen einer noch gründlicheren Prüfung zu unterziehen. Die Sonne brennt heiß, Messner ist müde, und er nickt auf der Holzbank neben der Quelle ein, obwohl er weiß, dass er das nicht tun sollte. Er träumt von einem Bett, das völlig unberührt in einem halbdunklen Raum steht und aus unerfindlichen Gründen rhythmisch quietscht. Beim Aufwachen stellt er fest, dass dieser Traum durch ein Ereignis in der Realität beeinflusst worden ist. Ein Tier von Aussehen und Größe eines Mastodons hat seinen Amphibienpanzer bestiegen, offenbar in der Absicht, sich mit ihm zu paaren. Die Federung der Radaufhängung quietscht unter den rhythmischen Vereinigungsversuchen des Urelefanten, und obwohl der Panzer drei Achsen und sechs Räder hat, fürchtet Messner um die Fahrbereitschaft des Geräts. Messner beschließt, das liebeshungrige Untier zu vertreiben, aber »Ho«Rufe unterschiedlicher Lautstärke und selbst einige Warnschüsse aus seiner Pistole führen nicht zum gewünschten Erfolg. Er ändert seine Pläne. Er steigt in den schaukelnden
Panzer und startet den Motor, um dem Mastodon einfach davonzufahren. Aber das Tier liegt so schwer auf dem Fahrzeug und hat es durch seine Bemühungen schon so tief in den Sand gedrückt – Messner hatte den Panzer vorschriftsmäßig am Rand der Straße abgestellt –, dass selbst sein Allradantrieb nicht viel ausrichten kann. Nach fünf Minuten gibt Messner diese Strategie als gescheitert auf. Das Mastodon ist durch den Fluchtversuch in seiner Brunst nicht gedämpft worden, ganz im Gegenteil. Messner überlegt, ob er einfach den Dingen seinen Lauf lassen soll, aber er weiß nicht, wie lange Mastodonpaarungen im Durchschnitt dauern, und der Panzer schaukelt und quietscht so bedrohlich, dass eine schnelle Lösung dringend geboten erscheint. Messner gerät allmählich in Panik. Was soll er tun? Es wird ihm nichts übrig bleiben, als das Tier zu töten. Unter Mühen richtet er die Maschinenkanone auf den Schädel des Mastodons aus und drückt ab. Der Urelefant rutscht ohne einen Laut vom Dach des Fahrzeugs herunter und fällt mit einem dumpfen Geräusch neben ihm zu Boden. Messner ist schweißgebadet und zittert am ganzen Körper. Als er den Motor anlassen will, dreht er den Schlüssel zunächst falsch herum. Das Fahrzeug kann sich ohne die Belastung durch das Mastodon gerade eben noch aus dem Sand herauswinden. Messner hat Lyndelse schon umfahren, als ihm plötzlich klar wird, dass seine Wasservorräte aufgestockt werden müssen. Er kann nicht wissen, wie viel Zeit ihn die Reise nach Odense kosten wird. Die wenigen Raschen Mineralwasser, die er noch bei sich hat, werden nicht ewig vorhalten. Ein Blick auf die Flasche mit der Wasserprobe, die er an der Quelle gezogen hat, lässt ihn das Wasserproblem noch dringlicher empfinden, denn in dem Gefäß hat sich innerhalb einer Stunde eine bizarre mineralische Flora gebildet, die von hübsch anzusehenden, radiolarienähnlichen Protozoen durchschwommen wird. Als ei;
zögernd den Deckel abschraubt, verströmt das Miniaturaquarium einen derartig durchdringenden Gestank nach Schwefelwasserstoff, dass ihm auf der Stelle übel wird. Er will das Gebräu ausschütten, aber die Konsistenz des sogenannten Wassers gleicht eher der von Flüssigklebstoff, und die Radiolarien versammeln sich zusätzlich wie auf Kommando im Flaschenhals, um es mit gemeinsamer Anstrengung am Auslaufen zu hindern. Verwirrt schraubt er die Rasche zu, packt sie am Hals und wirft sie in den Acker. Beim Auftreffen explodiert sie mit erstaunlicher Wucht, ein Hagel von Dreckbatzen geht über Messner nieder, und er steht eine Zeit lang blinzelnd in der stillen Landschaft, bevor er sich mit wegwerfender Geste abwendet. In Norre Lyndelse sucht er die einzige Tankstelle des Orts auf. Der Verkaufsraum sieht völlig normal aus, wenn man davon absieht, dass niemand da ist. Messner steckt seine Pistole weg und beschließt, so zu tun als sei alles in Ordnung. Die Tiefkühltruhe summt beruhigend vor sich hin, auch die Kühlschränke mit den Kaltgetränken sind voll funktionsfähig. Messner greift nach einer Dose. »Faxe« steht drauf, und als das Bier seine Kehle hinunterrinnt, hat es genau die richtige Temperatur. Messner macht es sich ein wenig gemütlich dort vor dem Kühlschrank, und als er sich einige Zeit später aufrappelt, bemerkt er, dass er richtiggehend beschwipst ist. Er vergisst das Mineralwasser nicht. Einen kleinen Einkaufswagen lädt er mit den benötigten Ressourcen voll, und versucht, ihn ohne größere Kollisionen aus dem Laden hinauszusteuern. An der Kasse meldet sich sein Gewissen. Messner findet das ausnehmend komisch. Er hat der dänischen Armee einen ganzen Panzer gestohlen und macht sich nun Gedanken wegen ein paar Dosen Bier und ein paar Flaschen Wasser. Als er an dem Schild mit der Aufschrift »Offen« an der Eingangstür vorbeikommt, bricht er in schallendes
Gelächter aus, das sich zu einem hysterischen Lachanfall aufschaukelt. Zehn Minuten später hat er sich soweit beruhigt, dass an einen Aufbruch zu denken ist. Beim Zurücksetzen rammt er eine Zapfsäule und knickt sie wie einen Strohhalm ab. Messner genehmigt sich noch ein Bier. Er bedauert, dass sein Gefährt nicht mit den Errungenschaften der modernen Unterhaltungselektronik versehen ist. Ein wenig amerikanische Hillbilly-Musik würde ihm zu diesem Zeitpunkt sehr behagen. Er macht sich keine Illusionen darüber, dass er betrunken ist, glaubt das aber verantworten zu können, weil nicht mit ernsthaftem Gegenverkehr zu rechnen ist. Auf der Höhe von Voldersley wird er mit einem Mal stocknüchtern. Odense sollte längst am Horizont aufgetaucht sein, aber dort, wo sich einmal die drittgrößte Stadt Dänemarks befunden hat, erhebt sich eine weiße Kuppel. Diese Kuppel ist so regelmäßig geformt, dass sie den Gedanken an eine planmäßige Ausführung nahe legt. Messner weiß, dass die Natur erstaunlich regelmäßige Strukturen hervorbringen kann, macht sich aber bei seiner langsamen Annäherung auf eine Begegnung mit intelligentem Leben gefasst. Er geht zunächst einmal davon aus, dass er unter Beobachtung steht, und prüft seine Waffen. Das ist nicht mehr als eine Geste, denn gegen eine Zivilisation, die eine Kuppel wie diese bauen kann, ist er in jedem Fall machtlos. Aber er will sein Möglichstes getan haben, wenn es denn soweit ist. Bei der Kuppel angekommen, fällt ihm als Erstes das feine Geklirr und Geprassel auf, das von ihr ausgeht. Den Fuß der Kuppel umgibt eine Art Wulst, und als Messner diesen Wulst in Augenschein nimmt, erkennt er, dass er aus feinen Glasplättchen zu bestehen scheint, die sich mit den Füßen leicht zerstreuen lassen. Die Kuppel scheint zu wachsen, denn der Wulst aus klirrenden und klingelnden Glasplättchen schiebt sich langsam, aber unaufhaltsam auf ihn zu, wie die
Moräne, die ein Gletscher vor sich herschiebt. Messner nimmt an, dass die Außenhaut der Kuppel während des Wachstumsprozesses ständig Material ausscheidet, das zum Fuß der Kuppel abgleitet und dort eben diesen Wulst bildet. Messner kann sich keinen rechten Reim auf die Angelegenheit machen, aber er wüsste gar zu gerne, was aus Odense geworden ist. Diese Neugier veranlasst ihn zu einem riskanten Entschluss: Er möchte gerne in die Kuppel eindringen, um herauszufinden, was sich darunter verbirgt. Er setzt sich in sein Fahrzeug, prüft, ob alle Türen und Luken dicht sind, nimmt Anlauf und rammt den Wulst bei etwa 50 km/h. Von »Rammen« im eigentlichen Sinn kann allerdings keine Rede sein, denn Messner gleitet mit seinem Panzer durch das Glasplättchenmaterial wie ein scharfes Messer durch Butter, die in der Sonne weich geworden ist. Messner betätigt die Scheibenwischer, um klare Sicht zu erlangen. Als auch das nichts hilft, steigt er kurzentschlossen aus. Der Anblick, der sich ihm bietet, ist schlechterdings verblüffend. Unter dem milchigen Licht, das in der Kuppel herrscht, fallen Schätzungen schwer, aber Messner glaubt die ersten Häuser etwa drei Kilometer entfernt. In einigen Fenstern brennt sogar Licht, als gebe es noch menschliche Bewohner. Völlig ungewöhnlich ist allerdings die schwarze, sehr massive Säule, die aus dem Stadtkern aufragt und bis hinauf in den Kuppelmittelpunkt reicht, wo das Gebilde offenbar gestützt werden muss. Mehrere Säulen geringerer Höhe im Umkreis der Stadt dienen wohl demselben Zweck. Zwischen diesen Säulen führen straff gespannte Filamente hin und her, und Messner muss an die Vertäuung eines Segelschiffs oder eines Zirkuszelts denken. In der relativ kurzen Zeit ihrer Existenz hat die Kuppel ihr eigenes Klima ausbilden können, unter der Decke ziehen Wolkenschleier entlang. Im Allgemeinen ist es still, aber manchmal erklingt
ein metallisches Zirpen, das Messner in den Ohren schmerzt. Die Geräusche, die Messner selbst verursacht, sind merkwürdig gedämpft. Er steigt wieder ein und rollt weiter langsam in Richtung Odense-Zentrum. Am eigentlichen Stadtrand ist kein Weiterkommen mehr, denn ungeschickterweise haben sich hier viele oder gar alle Straßen in meterbreite Gräben verwandelt. Messner muss seinen Weg zu Fuß fortsetzen, was ihm ein gewisses Unbehagen bereitet, denn er weiß nicht, welche Überraschungen in Odense auf ihn warten. Dennoch ist er von alledem so fasziniert, dass er nicht einfach umkehren will. Das metallische Zirpen ist hier ungleich lauter als gerade eben noch, und Messner schützt seine Ohren durch kleine Schaumgummipfropfen. Endlich kann er sich der Erforschung der Gräben widmen, über deren Eigenart und Funktion er gerne Bescheid wüsste. Sie sehen alle gleich aus. Die Wände sind schwarz und glatt, die Sohle ist weiß und von einem körnigen Belag bedeckt. Es sieht gerade so aus, als habe ein wahnsinniger Stadtplaner alle Straßen in breite Kieswege verwandelt und zwei Meter tief in die Erde versenkt. Messner fragt sich, ob er den Weg am Grunde dieser trockenen Kanäle fortsetzen soll, aber er möchte zunächst ihre Zuverlässigkeit testen. Zu diesem Zweck schlägt er die Schaufensterscheibe eines Sportgeschäfts ein und lässt eine Bowlingkugel in einen der Gräben hineinfallen. Die Bowlingkugel verhält sich den physikalischen Gesetzen entsprechend. Sie trifft mit einem harten Geräusch auf, hüpft einmal auf und rollt dann aus. Die Sohle des Grabens macht einen Vertrauen erweckend soliden Eindruck. Messner beobachtet fünf Minuten die nähere Umgebung auf Veränderungen und Reaktionen hin, kann aber nichts dergleichen feststellen. Er will sich gerade zum Grunde des Grabens hinabgleiten lassen, als ein unerträglich lauter Ausbruch des metallischen Zirpens ihm beinahe die
Trommelfelle in den Schädel hineindrückt, und das trotz der Schaumgummipropfen. Die Luft riecht durchdringend nach Ozon, und die Bowlingkugel ist auch nach genauer Untersuchung nicht mehr auffindbar. Messner kommt mit klingelnden Ohren zu dem Entschluss, dass die Gräben nicht wirklich begehbar sind, und ändert seine Pläne. Glücklicherweise hat er aus der Kaserne in Svendborg eine Pionierbrücke mitgenommen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um ziehharmonikaartig zusammengefaltete Platten aus Karbonfasermaterial, die ausgeklappt einen Steg von maximal fünf Metern Länge ergeben. Messner macht von dieser praktischen Erfindung ausgiebig Gebrauch und arbeitet sich langsam, aber stetig zum Stadtkern vor. Während bei ihm zunächst der Eindruck vorherrscht, als seien die Gräben die einzige sichtbare Veränderung, die der Krieg für Odense mit sich gebracht hat – von der Kuppel einmal abgesehen –, hält dieser Eindruck einer genaueren Prüfung nicht stand. So sind zwar im Großen und Ganzen weniger spektakuläre Phänomene als in Svendborg zu beobachten, aber die subtilen Veränderungen, denen Odense unterworfen wurde, beunruhigen Messner fast noch mehr. Manche Häuser sind gegen Miniaturversionen der Kuppel selbst ausgetauscht worden. Die weißen Gebilde stehen wie pneumatische Zelte, großen Bovisten nicht unähnlich, zwischen ihren Nachbarbauten herum. Als Messner eines von ihnen mit drei schnellen Schnitten seines Überlebensmessers öffnet, findet er Odense en miniature vor, beleuchtete Häuser, schwarze Säulen, und alles andere inklusive. Während die Miniaturkuppel ihre Verwundung selbsttätig schließt, denkt Messner darüber nach, wie er auf diese Entdeckung reagieren soll. Es scheint ihm, als seien die Miniaturkuppeln auch mit den Bocksprüngen einer kriegsverwirrten Natur nicht mehr erklärbar, und nur zur Probe
ruft er einmal in den leeren Straßenzug hinein: »Hier ist Reinhold Messner. Ich komme in friedlicher Absicht. Kann mich jemand hören?« Aber die Stadt schluckt seinen Ausruf echolos und er erhält nicht die geringste Reaktion. Er setzt seinen Weg fort, auch wenn sich das paranoide Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, enorm verstärkt hat. Messner versucht sich zu beruhigen. Wenn man ihn hätte angreifen wollen, so räsoniert er, hätte man das schon längst tun können. Entweder ist niemand zuhause oder man kümmert sich nicht um ihn. Es beginnt zu regnen. Messner ist froh, dass er einen ABC-Schutzanzug trägt, und setzt Schutzhaube sowie Gasmaske auf. Das schränkt sein Gesichtsfeld ein, aber er will seine bloße Haut nicht einem Niederschlag aussetzen, dessen Inhaltsstoffe er nicht kennt. Aus den Gräben beginnt es zu dampfen. Messner begrüßt diese Entwicklung nicht, denn er muss nun noch mehr Sorgfalt bei der Benutzung der Pionierbrücke walten lassen und kommt dadurch viel langsamer voran. Zufällig entdeckt er, dass einige der Häuser nicht mehr ihrem Urzustand zu entsprechen scheinen, denn als er sich einmal an einer Wand abstützt, gibt sie leicht federnd nach, etwa in der Art eines Polstermöbels, und scheidet an der Stelle, an der Messners Hand sie berührt hat, Tropfen einer klaren Flüssigkeit aus. Messner gelangt nach kurzer Überlegung zu der beunruhigenden Überzeugung, dass die Mauer in der einen oder anderen Form lebendig ist. Noch fremdartiger wirkt folgendes Phänomen: In manchen Grabenkreuzungen stecken meterhohe Kristalle in Skalenoederform, mit einer Art Antenne obenauf, die zum Himmel zeigt. Sie sind mit äußerster Präzision in das Kreuzungsgeviert eingelassen, wie Messner feststellen kann. Da ihre Farbe aber regelmäßig in ein ungesundes Aubergineviolett umschlägt, wenn er sich ihnen nähert, beschließt er, das Schicksal nicht herauszufordern und
verzichtet auf noch eingehendere Untersuchungen. Zu der Hypothese von den lebenden Mauern passt die Tatsache, dass an manchen von ihnen große Baumpilze wachsen, die so massiv aussehen, dass Messner versucht ist, sie als Treppenstufen zu benützen, um sich die Lage einmal von oben anzusehen. Er verwirft diese Idee und betritt eines der Häuser durch den Haupteingang, nachdem er die Tür zerschmettert hat. Das Haus wirkt zunächst relativ normal. Zwar sind die Bewohner selbst rückstandslos verschwunden – nur im Esszimmer wartet noch ein überschimmeltes Frühstück auf ihre Rückkehr –, aber ansonsten widerfährt ihm in den ersten Etagen nichts Außergewöhnliches. In der obersten jedoch sind Wände und Decken mit sanft glühenden roten Eiern gespickt, in denen sich kleine amorphe Schemen zuckend hin und her bewegen. Messner muss an die Eier von Haien denken, die er einst im Meerwasseraquarium von Kerteminde gesehen hat, kaum zwanzig Kilometer von hier entfernt. Er verlässt das Haus umgehend. Wieder auf dem Bürgersteig angekommen, wird er mit zwei goldfarben spiegelnden Scheiben konfrontiert, die anscheinend an der Haustür auf ihn gewartet haben. Sie schweben etwa in Kopfhöhe, Messner kann sich selbst darin erkennen. »Aha«, denkt er, »jetzt ist es also soweit.« Er bewegt sich vorsichtig einige Meter nach links, und die Scheiben folgen ihm. Er geht langsam ein paar Schritte weit in die entgegengesetzte Richtung, und die Scheiben bleiben ihm auf den Fersen. Er wiederholt dieses Spiel einige Male, ohne damit spektakuläre Reaktionen zu provozieren, und kommt zu dem Schluss, dass die Scheiben ihn für den Moment nur verfolgen sollen. Er will jetzt den Rückzug antreten und Odense so schnell wie möglich verlassen. Zwar stören ihn die Scheiben am Anfang ein wenig, aber sein Weg zurück wird durch die Tatsache
erleichtert, dass sich seine Fußspuren überall fluoreszierend abzeichnen, und während er diesem Ariadnefaden zunächst misstraut, stellt er alsbald fest, dass er in die richtige Richtung geht, und zwar nach Süden. Etwa eine halbe Stunde später scheinen die goldenen Scheiben ihren Auftrag erfüllt zu haben. Sie stürzen sich selbsttätig in den nächsten Graben, um mit dem bekannten metallischen Schrei annihiliert zu werden. Messner wird seines Durstes gewahr. Er hat seit mehreren Stunden nichts getrunken, dafür aber in seinem ABC-Schutzanzug schwer geschwitzt. Da sich die einzig zuverlässigen Trinkwasservorräte in seinem Panzer befinden, will er möglichst schnell zu ihm zurück. Aufgrund der Führung durch die fluoreszierenden Fußspuren lassen sich seine Wegmarken leicht auffinden. Nur nach dem Sportgeschäft, dessen Scheibe er eingeschlagen hat, muss er ein wenig suchen. Die Fensterscheibe ist mittlerweile gänzlich von einer grauen Haut überzogen, die im Wind Wellen wirft. Messner vermutet, dass sich hier gerade eine der lebenden Mauern bildet, muss auch an den aggressiven Bodenbelag in Svendborg denken, und macht sich aus dem Staub. Leider kann er den Panzer nicht wieder finden. Die fluoreszierenden Fußspuren hören knapp hinter den letzten Gebäuden Odenses auf, und von dort sieht er nichts als freies Feld, von der zum Graben mutierten Straße und der Kuppelwand in der Entfernung einmal abgesehen. Eine gewisse Mutlosigkeit ergreift von ihm Besitz. Ihm wird unangenehm klar, dass er vielleicht nach Svendborg wird zurücklaufen müssen, nur mit dem ausgerüstet, was er am Leib trägt, und bei den derzeitigen Umständen ist diese Aussicht wenig attraktiv. Siedend heiß fällt ihm ein, dass auch sein Boot in Svendborg verschwunden ist, und dass er entweder einen anderen Panzer requirieren oder ein seegängiges Boot im Hafen von Svendborg finden muss, das seinen Zwecken
entspricht. Aber die ganze Situation seit Ausbruch des Krieges ist von raschen, unvorhersehbaren Änderungen geprägt, und Messner weiß wohl, dass er nicht darauf hoffen kann, die Kaserne in dem Zustand zu finden, in dem er sie verlassen hat. Dasselbe trifft auch für den Hafen Svendborgs und die Stadt insgesamt zu. Messner befindet sich an der Schwelle zur Resignation. Er setzt sich hin, mitten hinein in das Gras, ungefähr an die Stelle, wo der Panzer eigentlich sein müsste, und atmet durch. Er denkt erst an Gott, dann an Selbstmord. Beides will ihm nicht recht gefallen. Mit einiger Mühe überzeugt sich Messner davon, dass seine Situation durchaus nicht völlig hoffnungslos ist, sondern mit Geschick und Überlegung gemeistert werden kann. »Es kommt allein darauf an«, denkt er, »dass ich die Nerven nicht verliere und von meinem Verstand den rechten Gebrauch mache.« Er beschließt, den Panzer noch ein wenig zu suchen und dann, im Falle eines Misserfolgs, die Kuppel auf Schusters Rappen zu verlassen. Zwar weiß er nicht genau, wie er zu Fuß die Kuppelwand durchdringen soll, aber die Lösung dieses Problems verschiebt er auf den Zeitpunkt, da es sich ihm wirklich stellt. Und richtig, sein Optimismus wird belohnt, denn schon nach wenigen Minuten hat er den Panzer gefunden. Genau dort, wo das Fahrzeug abgestellt war, hat sich offensichtlich ein neuer Graben gebildet, wodurch es Stück für Stück in die Erde eingesunken ist. Zur großen Erleichterung Messners ist der Graben eher ein kleiner Krater als ein Schacht mit vertikalen Wänden. Das Ganze sieht in etwa aus, als habe er das Fahrzeug auf einem großen Kissen geparkt, in das es durch sein Gewicht tiefer und tiefer eingesunken ist. Der relativ flache Neigungswinkel der Kraterwände gibt Anlass zu der Hoffnung, sie könnten mit dem Sechsfach-Allradantrieb des Gefährts bezwungen werden. Messner springt auf das Dach seines Panzers, steigt durch die Dachluke ein und schreit
vor Freude. Der Motor startet auf Anhieb und sein sattes Brummen erfüllt Messner mit tiefer Genugtuung. Der erste Versuch zur Bucht aus dem Graben ist noch nicht von Erfolg gekrönt, aber beim Zurückrollen von dem Abhang kann Messner Anlauf auf der Gegenseite nehmen, und mit diesem Schwung schafft er es knapp über den Kraterrand hinaus. Wieder auf sicherem Boden macht Messner gar nicht erst Halt, sondern beschleunigt sofort auf die Kuppelwand zu. Zum Glück reißt ihn sein Eifer nicht zu unbedachten Handlungen hin, denn kurz vor der weißen Wand bremst er scharf ab, um die Stelle, an der er sie durchstoßen will, zur Sicherheit noch einmal manuell zu untersuchen. Und siehe da: Als er sie berührt, erweist sie sich genau dort als glashart, wo er bei ungehinderter Fahrt aufgeschlagen wäre. Zwanzig Meter weiter ist sie so bröselig wie eh und je, und er kommt genauso bequem hinaus, wie er hereingekommen ist. Noch im Schatten der Kuppel bringt Messner sein Gefährt zum Stillstand und entledigt sich seines ABC-Anzugs. Die Getränke, die er in der Tankstelle entwendet hat, haben keine bedrohlichen Metamorphosen durchlaufen, es handelt sich immer noch um Wasser und Bier, und Messner verspürt beim Trinken eine sagenhafte Erleichterung.
Der Rückweg nach Svendborg gestaltet sich zunächst angenehm. Der Abend bricht herein, die sinkende Sonne und der rot überglühte Himmel sehen fast wie früher aus, von den seltsam regelmäßig geformten Wolken hoch oben in der Atmosphäre einmal abgesehen. Kurz vor Norre Lyndelse allerdings versperrt ein Hindernis den Weg, das sich bei genauerem Hinsehen als ein bis auf die Knochen abgenagtes Skelett erweist. Nach Messners Schätzung könnte es einem Brontosaurus gehört haben. Die enormen Becken- und
Oberschenkelknochen ragen vor ihm auf wie die Überreste eines gesprengten Hauses. Um die wenigen übrig gebliebenen Fleischfetzen konkurrieren Tausende von Käfern, deren knisternde Chitinpanzer im Licht von Messners Taschenlampe intensiv blau leuchten. Messner möchte nur ungern mit den Fleischfressern Bekanntschaft machen, die den Kadaver an dieser Stelle zurückgelassen haben, und fährt weiter. Später bemerkt er längliche, schwarze Kokons, die in recht regelmäßigen Abständen am Straßenrand liegen. Sie stehen alle im 90°-Winkel von der Fahrbahn ab, und er ist sich ganz sicher, dass sie bei der Herfahrt nicht hier waren. Manche der Gebilde liegen, von Messner aus gesehen, links der Straße, aber auf der rechten Seite finden sich mehr von ihnen. Aus einem unbekannten Grund beunruhigt Messner diese Tatsache nachhaltig. Die stille Präsenz dieser seltsamen Kokons ängstigt ihn mehr als alles andere, was ihm bisher widerfahren ist, und er denkt nicht daran, auszusteigen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er beginnt unwillkürlich, die Melodie des Liedes »Wenn ich ein Vöglein wär, und auch zwei Flügel hätt« vor sich hin zu pfeifen. Er kennt dieses Verhalten von Situationen extremer Anspannung. Er kann erst aufhören zu pfeifen, als er die Kokons hinter sich gelassen hat. Die bewusste Tankstelle in Norre Lyndelse ist abgebrannt. Zwischen den noch warmen Trümmern umherschweifend kann Messner keinen Grund für das Feuer ausmachen – möglicherweise hat ein Blitzschlag den Kraftstoff entzündet, der durch das Abknicken der Zapfsäule frei geworden war. In dem qualmenden Müll rascheln rattengroße Wesen hin und her, und Messner fühlt sich unbehaglich. Hohle Schreie aus der Luft über ihm treiben ihn schließlich endgültig zu seinem Fahrzeug zurück. Teile von Norre Lyndelse sehen aus wie nach einem schweren Erdbeben, und Messner atmet auf, als ihm klar wird, dass das auch die Ursache für die
Zerstörung der Tankstelle gewesen sein kann: Hier hat es wohl tatsächlich ein schweres Erdbeben gegeben, als er in Odense war, das würde manches erklären. Dass er von diesem Erdbeben zehn Kilometer weiter nichts gespürt hat, und dass schwere Erdbeben mit massiven Gebäudeschäden für Dänemark eigentlich eher untypisch sind, erschüttert seine Theorie nicht ernsthaft: Er hat an einem einzigen Tag viel seltsamere Dinge gesehen als streng lokalisierte Erdbeben in Gegenden, wo ansonsten überhaupt keine vorkommen sollten. Es ist jetzt schon recht dunkel, und er macht sich Gedanken über sein weiteres Vorgehen. Es erscheint ihm unklug, eine Rückkehr zu seiner Insel im Svendborgsund bei Nacht erzwingen zu wollen. Zwar ist er nur noch wenige Stunden von seinem derzeitigen Zuhause entfernt, und er fühlt sich immer noch frisch, aber er denkt nicht ernsthaft an eine Überfahrt bei Nacht, wenn er sich die Meeresbewohner in Erinnerung ruft, die er heute Morgen in den Wassern vor Svendborg angetroffen hat. Auch die Stadt selbst ist nicht sein bevorzugter Aufenthaltsort für die kommende Nacht. Messner sucht sich bei Nybolle einen Bauernhof mit geeigneter Garage, öffnet das Tor mit seinem Panzer und richtet sich ein. Auf einer harten Sitzbank liegend, in Stiefeln und Uniform, fällt er in einen unruhigen Schlaf. Der Morgen weckt ihn mit einem gedämpften, unregelmäßigen Trommeln gegen die Hülle seines Fahrzeugs, und er setzt sich ruckartig auf. Er weiß für einige Sekunden nicht, wo er ist, und nicht einmal genau, wer er ist. Sein Körper steckt in einer Soldatenmontur und er liegt in einem spärlich erleuchteten Gelass, das nach Eisen und Öl riecht; beides kommt ihm über die Maßen fremd vor. Er wäre nicht unglücklich, wenn sich all das als ein böser Traum erweisen würde, aber kurz bevor er sich von diesem Konzept überzeugt hat, rastet sein Koordinatensystem ein. Als er die Füße von der
Sitzbank rutschen lässt, unterdrückt er ein Stöhnen und reibt sich die schmerzende Stirn. Messner weiß nicht, ob er je so unangenehm aufgewacht ist, mit so vermurksten Knochen und Gedanken; auf jeden Fall würde dieser Tagesanfang unter den üblen ganz hoch oben rangieren. Kaum hat er sich ausreichend mit den Grundtatsachen seiner gegenwärtigen Existenz abgefunden, um dem Tag ins ungewaschene Antlitz zu sehen, windet sich ein Gedanke mühsam durch sein Bewusstsein: Er hat sich und seinen Panzer vorige Nacht in der Garage untergestellt, um vor etwaigem Niederschlag geschützt zu sein. Bei einer Untersuchung mit einer starken Handlampe gestern schien das Dach der Garage geradezu vorbildlich dicht, denn es handelte sich nicht um ein einfaches Wellblechdach, oh nein, sondern um soliden Stahlbeton ohne Fehl und Tadel. Wenn es aber kein Regen ist, der ihn aus dem Schlaf geklopft hat, wer oder was ist dann für das Getrommel verantwortlich, das sich seit seinem Aufwachen eher noch verstärkt hat? Er hat für ein paar Sekunden die Vision von einer dänischen Bauernfamilie, die ihn durch Klopfen auf die Hülle des Panzers zum Aufwachen und zum Aufbruch drängen will, aber er glaubt nicht ernsthaft daran. Der riesige Tierkadaver vom Vorabend fällt ihm ein. Er würde gerne einen Tee trinken, bevor er sich der ersten Herausforderung des Tages stellt, aber es soll offenbar nicht sein. Die Ursache dieses Getrommels muss erforscht werden, und zwar sofort. Er zwängt sich, schwer atmend, so schnell wie möglich durch die Einstiegsluke im Dach. Von der Garagendecke zur Hockstellung gezwungen, schiebt er sich langsam vor, seine Pistole hin- und her schwingend. Er kann aber nichts finden, worauf er schießen müsste. Da ist anscheinend niemand. Das Trommelgeräusch erklingt hier draußen allerdings viel lauter als drinnen. Überflüssigerweise sucht Messner noch einmal die Decke der Garage ab und kann keine Lecks entdecken, zudem
ist die Umgebung der Einstiegsluke völlig trocken, wo er auch hinfasst. Als Messner sich vorsichtig über den Rand des Gefährts hinauslehnt, bietet sich ihm ein sonderbares Bild: Pinguingroße Wesen mit hellbraunem Fell klopfen mit ihren Schnäbeln auf den Panzer ein wie Spechte auf einen morschen Baum. Dabei machen sie einen recht unbeholfenen Eindruck, als sei ihnen die Lebensweise der Spechte noch neu, gleichzeitig sind sie mit Eifer und Hartnäckigkeit bei der Sache. Einige von ihnen unterbrechen ihre Arbeit, um zu Messner aufzublicken, und setzen sie dann ungerührt fort. Die Tierchen haben einen drolligen Gesichtsausdruck, der Messner an Trottelalke erinnert. Sie machen von allen Kreaturen, die er bisher im Nachkriegsdänemark angetroffen hat, definitiv den harmlosesten Eindruck. Leider wird dieser Eindruck durch die Tatsache getrübt, dass ihre Schnäbel manchmal beim Aufschlag auf den Panzerstahl die Funken stieben lassen, was den Gedanken nahe legt, dass sie sehr hart sein müssen. Messner erinnert sich daran, dass steter Tropfen den Stein höhlt, gleitet zurück auf den Fahrersitz, nachdem er die Einstiegsluke fest verschlossen hat, und gibt Fersengeld. Im Rückspiegel kann er beobachten, dass die Tiere ihm aus der Garage hinaus folgen, und dass ihre Unbeholfenheit nur eine scheinbare war, weil einige von ihnen eine ganze Zeit lang mit dem Panzer mithalten können, bevor sie zurückfallen. Erst bei der Stadt Ringe hält er wieder an. Der Tag ist weiter fortgeschritten als gedacht, und Messner macht sich klar, dass es eigentlich Zeit für ein ausgedehntes Frühstück wäre. Erstaunlicherweise ist er gar nicht hungrig, obwohl er doch am Tag vorher sehr wenig und an diesem Morgen noch gar nichts zu sich genommen hat. Er hat einen gewissen Verdacht und sieht sich die Wasserflaschen noch einmal an, die er aus der Tankstelle mitgenommen hat, aber die Flüssigkeit darin sieht
immer noch aus wie Wasser, sie riecht so und sie schmeckt auch so. Anders das Bier. Er versucht, eine der Dosen zu öffnen, die sich seltsam warm anfühlt, und reißt dabei lediglich den Verschluss ab. Er blinzelt. Links liegt eine Bierdose unüblich warm und unüblich schwer in seiner Hand. Rechts hängt der abgerissene Teil des Bierdosen-Verschlusses wie die Abzugsöse einer Handgranate von seinem Zeigefinger. »Oh Mann«, sagt er, eher müde als ärgerlich, und befördert die Bierdose so schnell es geht durch die geöffnete Fahrertür nach draußen. Er macht sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen, sondern wirft sich so flach wie möglich hin. Die Zeit verrinnt, aber nichts passiert. Nach etwa einer Minute schließt er die Tür, setzt sich auf, tritt aufs Gaspedal und rast davon. Einen Kilometer weiter hält er an und sucht die Gegend mit dem Feldstecher ab, wo die Bierdose ungefähr gelandet sein müsste. Die Suche bleibt ergebnislos. Wenn der Inhalt explosiv gewesen ist, dann hat er sich bis jetzt noch nicht zur Detonation herabgelassen. Sicherheitshalber wirft Messner auch die anderen Bierdosen zum Fenster hinaus, und die Sixpacks dazu. Bei dieser Übung fällt ihm auf, dass an der Haut um seine Handgelenke seltsame Dinge vorgehen: Es sieht aus, als würden sich die Ärmelbünde seines Uniformhemdes selbstständig bewegen. Er knöpft sie auf und stellt fest, dass die Haut seiner Unterarme von animierten Tätowierungen bedeckt ist. Die sich ständig verändernden Grafiken wogen über seine Haut wie monochrome Fraktale über einen veralteten Computerbildschirm. Messner findet das bedenklich, zieht Hemd und Unterhemd aus und entdeckt, dass sein ganzer Oberkörper so gezeichnet ist. Er entkleidet sich vollständig und bricht in Tränen aus: Alles ist tätowiert, von den Zehen bis zu seinem Petermann. Er will nicht wirklich in den Rückspiegel an der Tür seines Panzers sehen, aber als er
sich dazu zwingt, ist sein Gesicht unverändert, abgesehen von den Tränen, die ihm die Wangen hinunterlaufen. Er schluchzt noch immer, als er bemerkt, dass die Ganzkörpertätowierung im Sonnenlicht verblasst, als wäre sie nie da gewesen. Messner traut dem Frieden nicht. Er rechnet damit, dass sie wiederkommt, wenn er sich anzieht, und so setzt er sich fürs Erste nackt in sein Fahrzeug. »Es muss das Wasser gewesen sein«, denkt er und hat seine restlichen Wasservorräte schon in die Führerkanzel geschleift, um sie loszuwerden, als ihm klar wird, dass das keinen Sinn macht: Besseres Wasser wird ihm auch der Tiefenbrunnen auf seiner Insel nicht bieten. Beim Zurücktragen der Flaschen nach hinten meditiert er kurz über die Frage, was eigentlich dafür gesorgt haben könnte, dass dieses französische Mineralwasser nunmehr hungerstillend wirkt und fotophobe animierte Ganzkörper-Tätowierungen hervorruft. Er kann nicht einmal annähernd eine Hypothese bilden, weil sich Wasser mit ein paar Mineralsalzen unter normalen Umständen einfach nicht so verhält, nie und nimmer. »Aber vielleicht ist es ja auch gar nicht das Wasser«, sagt er zu sich selbst, während er nackt und müde über den Wasserkisten kniet. »Vielleicht… vielleicht ist es etwas anderes.« Er macht sich auf in Richtung Svendborg. Er fühlt sich ein wenig seltsam, so nackt wie er ist, aber er ist sich auch der Tatsache bewusst, dass niemand ihn in seinem aktuellen Zustand beobachtet – jedenfalls niemand, der in irgendeiner Weise sittlich daran Anstoß nehmen könnte. In diesem Moment wird sich Messner zum ersten Mal seit Ausbruch des Krieges der erschreckenden Freiheit bewusst, die ihm unverhofft zugefallen ist. Er ist der letzte Mensch auf Erden und kann buchstäblich tun und lassen was er will. Die Welt ist sein Sandkasten. Messners Status als moderner Halbgott wird nur durch die unschöne Tatsache in Frage gestellt, dass Form
und Aussehen dieses Sandkastens einer enormen Veränderlichkeit unterliegen, und dass der Sand darin nicht nur von einer Minute zur anderen Konsistenz und Materialeigenschaften ändert, sondern auch kurz unter der Oberfläche Gefahren birgt, denen er jederzeit zum Opfer fallen kann. Messner empfindet diesen Widerspruch als unangenehm, ja, er erzeugt in ihm sogar ausgesprochenen Stress, wie ihm seine Gefühlsausbrüche der letzten vierundzwanzig Stunden deutlich vor Augen geführt haben. Aus den philosophischen Betrachtungen zur Unwägbarkeit seiner Existenz wird Messner erst durch die Tatsache herausgerissen, dass sich ein massiver Höhenzug dort erhebt, wo Svendborg sein sollte. Er war bisher der Meinung, die höchste dänische Erhebung sei das Himmelsbjerget in der Nähe von Aarhus (147 Meter), und sieht diesen Rekord nun durch ein Gebirge gebrochen, das über Nacht aus dem Boden gewachsen ist. Zu seiner Erschütterung trägt auch die deutlich sichtbare Schneedecke auf den Gipfeln der Berge bei, die sie aussehen lässt, als seien sie frisch aus den Alpen importiert. Messner weint noch ein bisschen. Zwar versucht er sich mit der Mutmaßung zu trösten, bei den neu entstandenen Bergen über Svendborg handele es sich um ein ähnliches Phänomen wie bei der Kuppel über Odense, aber je näher er den Bergen kommt, desto sicherer ist er sich: Das sind echte Berge, und das ist echter Schnee. Im Licht dieses Phänomens ergibt auch das bis jetzt hypothetische Erdbeben, das er für die Zerstörung Norre Lyndelses verantwortlich gemacht hat, einen Sinn – eine geologische Veränderung wie die Ausbildung eines neuen Gebirges innerhalb eines Tages konnte schließlich nicht ohne Folgen bleiben. Er hofft inständig, dass seine Insel im Svenborgsund durch die Gebirgsbildung keinen Schaden genommen hat, bereitet sich mental aber auf das Schlimmste
vor. Der Gebirgszug ist außergewöhnlich schroff und steil. Es sieht aus, als habe jemand die Klinge eines gezackten steinernen Messers von innen durch die Erdkrume gestoßen und sei dann plötzlich von seinem Plan abgekommen, den Planeten wie einen Apfel in zwei Teile zu sägen. Messner muss das Gebirge in südwestlicher Richtung weiträumig umfahren. Erst bei Fjellebroen bietet sich ihm eine Möglichkeit, zur Küstenlinie vorzustoßen. Im Hafen dieses Fischerdorfs findet er auch geeigneten Dieseltreibstoff, mit dem er seine inzwischen geleerten Ersatzkanister füllt, sowie ein stattliches Boot, das er abzuschleppen gedenkt. Die See ist ruhig, das Wetter ist klar, und der Panzer schwimmt ausgezeichnet. Bei der Insel Skaro, kurz vor der Einfahrt in den Svendborgsund, umfährt er eine Felsengruppe, die ihm bisher unbekannt war. Bei der Suche nach seiner Insel hat er viele Eilande in der Umgebung Fünens gesehen. Sein Gedächtnis ist allgemein sehr gut, aber er kann sich an diese Felsengruppe vor Skaro nicht erinnern, daher bringt er sie mit dem Auftauchen des Gebirges in Verbindung. Er bemerkt, dass er seine Hypothese revidieren muss, als sich die Felsengruppe bewegt. Eine Art Kopf erhebt sich an einem langen, schlangenartigen Hals aus dem Wasser, der mit den mobilen Felsen fest in Verbindung zu stehen scheint. Das Tier erfüllt mit erstaunlicher Präzision die Definition eines klassischen Seeungeheuers, abgesehen von der Tatsache, dass Messner keine Augen erkennen kann. Ihr Fehlen hindert die Bestie jedoch nicht daran, schnurstracks auf ihn zuzuhalten, wie von großen Schwimmflossen unter der Wasseroberfläche getrieben. Voller Panik stürzt er zu seinen Waffen, obwohl er weiß, dass sie ihm nicht helfen werden. Er schafft es, in dem schaukelnden Gefährt eine tragbare Panzerabwehrrakete fertig zu machen, und öffnet gerade in dem Augenblick die Dachluke, als das Wesen seinen Kopf zu ihm heruntersenkt.
Dieser Kopf ist etwa so groß wie der ganze Panzer, und obwohl das Wesen einen Abstand von etwa fünf Metern einhält, trifft sein Atem Messner wie ein warmer, nach Fleischabfällen stinkender Sturm. Messner ist wie von Sinnen. Er möchte die ganze Zeit schießen, tut es aber nicht. Seine Finger gehorchen ihm nicht mehr. Neugierig umrundet das Wesen mit seinem Kopf den Panzer, als prüfe es, wo es zuerst hineinbeißen soll. Messner bemerkt die Nasenlöcher, die großen schwarzen Warzen auf dem konisch geformten Schädel und die Linie quer über dem »Gesicht«, die wahrscheinlich das Maul darstellt. Trotz aller Panik wünscht er sich Augen, in die er so kurz vor seinem Tod noch einmal blicken könnte, auch wenn sie gelb, von blutroten Adern durchzogen und mit einer geschlitzten Schlangenpupille versehen wären. Außerdem wünscht er sich, er hätte seine Uniform an, das würde die Lächerlichkeit der Konfrontation ein wenig dämpfen und ihr einen eher militärischen Anstrich verleihen. Die Sentimentalität und Nutzlosigkeit dieser Gedanken geht ihm erst auf, als der Kopf des Wesens sich schon wieder von ihm entfernt, und als durch die Schwimmbewegungen des Tieres Wasser in die Dachluke hineinzuschwappen beginnt. Messner versucht abzutauchen, dabei löst er aus Versehen seine Panzerabwehrrakete aus, die laut zischend davonzieht. Dies wiederum hat einen nachhaltigen Eindruck auf das Seeungeheuer. Was bis jetzt ein geordneter Rückzug war, nimmt den Charakter einer Flucht an, und Messner gerät in ernste Gefahr, in dem aufgewühlten Meer abzusaufen. Gerade noch rechtzeitig kann er die nutzlose Abschussvorrichtung für die Rakete loslassen und die Luke schließen, bevor die Wellen über ihm hereinbrechen. Die Beschreibungen aus der Betriebsanleitung über die Seegängigkeit des Gefährts erweisen sich als korrekt. Zwar wird Messner für einige Minuten unsanft umhergeschaukelt, aber als das Gröbste
vorbei ist, hat die Kiste dichtgehalten und ist definitiv noch schwimm- und manövrierfähig. Nach einer halben Stunde riskiert Messner einen vorsichtigen Blick aus der millimeterweit geöffneten Dachluke, und von dem Ungeheuer ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Er startet den Motor und gibt Vollgas. Die Fahrt wird ihm bei acht Knoten recht lang, und er denkt darüber nach, das Schlepptau zu dem Boot zu kappen. Andererseits gibt ihm die geringe Geschwindigkeit nach Umrundung von Skaro ausführlich Gelegenheit, den neuen Vulkan zu beobachten, der sich jenseits des Sunds auf der Insel Täsinge gebildet hat. Just in dem Moment, als Messner an ihm vorbeischippert, bereitet sich offenbar ein größerer Ausbruch vor und heiß glühende Gaslava wird in dichten orangeroten Feuervorhängen hoch in die Abendluft geschleudert. Messner weiß nicht, was von dieser neuen Offenbarung zu halten ist, aber bevor er eine Entscheidung trifft, ob er das Hauptquartier auf seiner Insel räumen soll, muss er sich erst einmal darüber Gewissheit verschaffen, dass sie überhaupt noch existiert. Er stellt fest, dass dem so ist, und kann sich eine gewisse Erleichterung nicht verhehlen. Wie durch ein Wunder ist der Svendborgsund von den jüngsten geologischen Veränderungen fast verschont geblieben, wenn man einmal von der Tatsache absieht, dass das Wasser des gesamten südfünischen Meeres etwa anderthalb Meter tiefer steht als bei seiner Abreise. Messner hat daher zunächst Schwierigkeiten, mit dem Panzer anzulanden, denn es lässt sich keine Stelle finden, an der die Räder des Gefährts genug Traktion entwickeln, um auf die Insel hinaufzugelangen. Aber dann schlägt sich Messner vor die Stirn und erinnert sich daran, mit wie viel Mühe er seinerzeit eine Rampe aus Beton am Nordende der Insel hat anlegen lassen, komplett mit Seilwinde, für den Fall nämlich, dass Reparaturen an einem seiner Boote notwendig sind, die
nur an Land ausgeführt werden können. Der Panzer rollt die Rampe hoch, als sei sie ein Willkommensteppich, den man für ihn ausgelegt hat. Messner atmet tief durch. In gewissem Sinne ist er daheim. Er zieht seine Kleider an, bewaffnet sich, greift die Handlampe und springt hinaus. Die Luft ist still und lau, erfüllt von einem süßlichen, aber nicht unangenehmen Geruch und von den ungewohnten Schreien bisher nicht bekannter Vögel. Das Boot, das er in Fjellebroen requiriert hat, dümpelt noch neben der Betonrampe im seichten Wasser, Messner macht es an einer kleinen Mole fest. Messner würde sich jetzt gern ein wenig ausruhen, ein paar seiner gebunkerten Vorräte aus dem Wohnrhombus verzehren und ein wenig Musik hören, aber er weiß, dass er die Insel zumindest grob untersuchen muss, um vor unliebsamen Überraschungen so gut wie möglich gefeit zu sein. Zu seiner Freude findet er die zentralen Einrichtungen, die seinem Überleben dienen, unversehrt. Der Tiefenbrunnen, das Labor, die Vorratsund Waffenkammern sind alle intakt, und, soweit Messner das im Licht seiner Lampe erkennen kann, unberührt. Neuentwicklungen in Fauna und Flora beschränken sich auf farbenprächtige Vögel, die in den Zweigen des Inselwäldchens vielstimmige Konzerte aufführen, und auf seltsame, dreiblättrige Blümchen, die in dichten Kolonien den Boden zwischen den Bäumen bedecken und jenen süßlichen Geruch verströmen, den Messner schon gleich bei seiner Ankunft wahrgenommen hat. Die Vögel und ihre Musik erinnern ihn zwar an jenen heiklen Aufenthalt auf Borneo, aber er ist froh, dass sich nicht irgendwelche bösartigen Fleischfresser auf seiner Insel breit gemacht haben. Die dreiblättrigen Blümchen hat er im Verdacht, Drogenpflanzen zu sein, denn sie riechen sehr danach, und er nimmt sich vor, sie im Labor gründlich zu untersuchen, genau wie das Wasser aus seinem Tiefenbrunnen.
Der aufklappbare Stahlzaun funktioniert nach Plan, wirkt aber angesichts seiner jüngsten Erlebnisse relativ schwächlich – das Seeungeheuer zum Beispiel hätte damit keine Mühe. Der Wohnrhombus hat seine Farbe verändert. Als Messner ihn anstrahlt, schillert er wie ein Regenbogen. Aber er ist weder radioaktiv, noch elektrisch geladen, noch magnetisch, und die verbauten Materialien haben ihre grundlegenden Eigenschaften beibehalten. Messner beendet seine vorläufige Untersuchung, es ist 23:11 Uhr. Die Nacht ist nicht völlig dunkel, denn der Vulkanausbruch auf Tasinge, vielleicht zehn Kilometer entfernt, wirft ein Licht an den Himmel wie ein großer Hochofen beim Abstich. Endlich kann sich Messner ein wenig Ruhe gönnen. Er hat noch immer keinen wirklichen Hunger, zwingt sich aber zu einem bescheidenen Mahl. Er schläft ein, ohne es zu wollen. Der nächste Morgen ist wohltuend friedlich, auch wenn Messner mit verdrehten Knochen aufwacht, weil er die ganze Nacht im Sitzen geschlafen hat, den Rücken an seinen Wohncontainer gelehnt. Anscheinend ist ein wenig Vulkanasche von Tasinge herübergeweht, Messner muss sich auf jeden Fall graue Staubflocken von den Kleidern wischen, und in seiner näheren Umgebung sieht es aus, als habe es geschneit; nichts, was ein kräftiger Regen nicht abwaschen würde. Messner ist froh, nicht im Schlaf von einem massiven Ascheregen begraben worden zu sein. Nach allem, was er auf seiner Reise nach Odense und zurück durchgemacht hat, einen Tod à la Pompeji zu sterben, wäre der Gipfel der Ironie. Bei der Morgentoilette entdeckt er: Seine Haut ist intensiv hellrot, vom Kopf bis zu den Zehen. Es handelt sich dabei nicht um die kupferfarbene Tönung, die bei nordamerikanischen Indianern zu beobachten ist, sondern eher um die Farbe, die man vor dem Krieg an reflektierenden
Warndreiecken oder den Jacken von Eisenbahnarbeitern beobachten konnte. Da mit diesem Phänomen weder Juckreiz noch sonstige Schmerzen verbunden sind, beschließt er, es zu ignorieren, so gut es geht. Das wird ihm erschwert, weil sich die Vögel aus dem Zentralwäldchen der Insel sehr für seine Hautfarbe interessieren. Während er nackt im Freien duscht, landen sie um ihn herum, blasen ihre Kehlsäcke auf und geben kollerige Laute von sich, die klingen, als stünde die Paarung kurz bevor. Ab und zu erheben sie sich in höchster Erregung in die Luft, um sofort darauf wieder zu landen und mit ihrer Balz fortzufahren. Messner, stur auf seine Körperhygiene konzentriert, kann dennoch nicht umhin, die Tatsache zu bemerken, dass diese Vögel vier Hügel haben, was ihnen in der Luft trotz ihrer Größe eine kolibriartige Manövrierfähigkeit verleiht. Ihr Verhalten wird so aufdringlich, dass Messner zum Abtrocknen in den Wohnrhombus zurückkehren muss. Er zieht sich an, stellt sich aus seinen Vorräten ein üppiges Frühstück zusammen und geht vor die Tür, um zu prüfen, ob die Luft jetzt rein ist. Die Vögel sind verschwunden. Ja, frische Milch wäre besser, aber er wird sich an dieses mit Wasser angerührte Milchpulver gewöhnen müssen. Die konservierten Brötchen, die er in seinem Herd aufgebacken hat, werden einmal zur Neige gehen, und er wird sich sein eigenes Brot backen müssen. Er hat das vorhergesehen und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Orangensaft ist nicht ewig haltbar, aber möglicherweise gedeihen im Nachkriegsdänemark Orangen oder etwas Vergleichbares. Sein Frühstück verzehrend, findet Messner, dass er durchaus Grund hat, optimistisch zu sein. Langeweile wird schwerlich aufkommen, solange die Natur um ihn herum derart in Aufruhr ist. Er wird viel zu beschäftigt sein, denn schließlich gilt es zu überleben, und in der Zeit, die diesem Hauptanliegen nicht gewidmet werden muss, will die Welt um ihn herum erforscht werden. Außerdem hat Messner
eine Mediathek mit mehreren zehntausend Titeln in seinem Wohnrhombus angelegt, die innerhalb seiner Restlebensdauer praktisch nicht aufgearbeitet werden kann, vorausgesetzt diese Lebensdauer wird nicht durch unvorhergesehene Umstände erheblich ausgedehnt. Und schlussendlich ist die Annahme, er sei der letzte Mensch auf Erden, nur eine Arbeitshypothese. Er nimmt sich vor, sie in nächster Zeit zu überprüfen. Messner weiß genau, dass er jetzt, nach diesen zwei anstrengenden Tagen, Ruhe braucht. Danach will er sich auf seine nächste Reise vorbereiten. Es wird nicht morgen geschehen und nicht übermorgen. Aber er wird nach Kopenhagen fahren, dessen ist er gewiss.
Der Maler Julio Viera
Seine Selbstdarstellung ist so ironisch wie exzentrisch – was kein Zufall ist. Eines der großen Vorbilder des Malers Julio Viera ist der katalanische Surrealist Salvador Dali. Auch ihm ist gelungen, was Julio Viera schon in jungen Jahren vollbrachte: Ein Mammutbild von mehr als drei Metern Größe in nur 45 Minuten zu malen. Viera nannte das Werk »El Angel de Canarias«, was wiederum kein Zufall ist. Julio Viera wurde 1934 in Las Palmas auf Gran Canaria geboren. Eine erste Form von Ausstellung habe er, so sagt er selbst, schon im Bauch seiner Mutter ausgerichtet. Doch ernste Studien waren auch angesagt. Julio Viera absolvierte eine Ausbildung als Zeichner, Maler und Bildhauer an der Kunstschule Lujan Perez, lernte viel über Perspektive, Komposition und Farbgebung. Schon im Alter von 16 Jahren hatte er seine erste echte Ausstellung auf Gran Canaria und machte danach auf dem spanischen Festland und im Ausland von sich reden, was ihm ein gehöriges Selbstbewusstsein bescherte: »Wenn Picasso, Miro und Dali Genies sind, warum sollte ich keines sein?« Doch die Zeiten waren nicht für Genies gemacht: Julio Viera musste aus politischen Gründen emigrieren und arbeitete in Belgien im Kohlebergbau. Das hinderte ihn nicht, seine Arbeiten bei der Weltausstellung in Brüssel 1958 zu zeigen. Ab 1959 lebte er in Italien und war beeindruckt: von den Werken des Michelangelo, von den Renaissance-Bauten, von der Venus von Milo. Doch wohin seine Reisen ihn immer führten – nach Andalusien, Tanger, Portugal, Frankreich – immer wieder kehrte er zum Surrealismus zurück. Er malte z.
B. ein Bild mit dem Titel »Der einzige abstrakte Künstler ist der unsichtbare Mensch«. Immer wieder gibt es Anlehnungen an große Werke der Kunst, an Botticelli, Michelangelo, an den JugendstilArchitekten Gaudi, in kräftigen Farben, mystisch und surreal, mit einem Stich ins Groteske. Schließlich ließ er sich in Paris nieder, wo er auch seine Frau, die deutsche Malerin Hannelore, kennen lernte. 1961 und 1965 wurden seine Kinder Natalia und Leonardo geboren. Er wohnte in der Rue Fontaine in der Nähe des Moulin Rouge, wo auch André Breton, der große Surrealist, lebte. Viera versuchte, seine Bilder in den geheiligten Räumen des Louvre auszustellen. Als ihm das nicht gelang, hängte er sie kurzerhand an die Fassade des Gebäudes. Dafür wurde er mit dem »Grand Prix de Originalité« des französischen Fernsehens ausgezeichnet. Er malte für Cafes, Theater und Opernhäuser. Doch die politische Linie des Pariser Mais 1968 passte ihm nicht, und so verließ er die französische Hauptstadt und das Land und begab sich zunächst einmal wieder auf Reisen. Seit 1970 lebt er – und dieses Mal ist sein Aufenthalt von Dauer – auf Mallorca. Hier fungiert der Juwelier Enrique Moreno als sein Galerist und Agent. Julio Viera stellt regelmäßig in Palma, auf dem spanischen Festland und im Ausland aus. Er reist nach wie vor, wenngleich er sich auf der Insel zu Hause fühlt. Zur Zeit sind seine Arbeiten bei Enrique Moreno, Avenida Jaume III. 24, zu sehen. Julio Viera sagt dazu: »Besser ein Bild aufhängen als den Maler.« G. K. MALLORCA MAGAZIN
Anm. d. Herausgebers: Das Titelbild »Los cazadores de angeles«, zu Deutsch »Die Jäger der Engel«, ist ein großformatiges Ölgemälde und wurde eigens für die VISIONEN 2004 gemalt. Es versinnbildlicht auf symbolische Weise die darin enthaltenen Storys »Das Sterben der Engel«, »Die Asche des Paradieses« und, natürlich, die Titelstory »Der Atem Gottes«.