DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren en...
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DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben.
Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
Der Schrecken, der aus der Tiefe kam
Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Band 20417
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von C. Bertelsmann,
Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Deutsche Erstausgabe Januar 1998 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 19: Deep Trouble« bei Scholastic Inc., New York © 1994 by The Parachute Press, Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 555 Broadway, New York, NY10012, USA. »Goosebumps«™ and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1998 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Verlag GmbH, München Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Verlag GmbH, München Übersetzung: Günter W. Kienitz Lektorat: Janka Panskus Umschlagkonzeption: Klaus Renner bm Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20417-0 • Printed in Germany 10 9 8 7 6 5 4 3 2
Da war ich also, siebzig Meter tief unter der Meeresoberfläche. Ich war auf der Jagd meines Lebens. Der Jagd auf den Großen Weißen Stachelrochen. So nannten sie ihn im Hauptquartier der Küstenwache. Ich allerdings nannte ihn Joe. Der riesige Stachelrochen hatte bereits zehn Schwimmer gestochen. Niemand traute sich mehr ins Wasser. An der ganzen Küste machte sich Panik breit. Deshalb hatte man mich losgeschickt. William Deep junior aus Baltimore, Maryland. Ja, William Deep junior, der weltberühmte zwölfjährige Unterwasserforscher, der Schrecken aller Meeresungeheuer. Ich habe den Großen Weißen Hai gefangen, der den Myrtle Beach terrorisierte. Ich kämpfte mit dem Riesenkraken, der die gesamte CaliforniaChampionship-Surfmannschaft verschlungen hatte. Ich habe dem Zitteraal den Strom ausgeknipst, der der ganzen Stadt Miami Elektroschocks verpasste. Doch nun stand mir der Kampf meines Lebens bevor. Mit Joe, dem Großen Weißen Stachelrochen. Er lauerte da irgendwo, tief unten im Meer. Ich hatte alles, was ich brauchte: einen Taucheranzug, Schwimmflossen, eine Taucherbrille, eine Pressluftflasche und einen Giftpfeil in der Harpune. Moment mal - hatte sich da etwas bewegt? Direkt hinter dieser riesigen Venusmuschel? Ich hob meine Harpune und stellte mich auf einen Angriff ein. Da beschlug plötzlich meine Brille. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich rang verzweifelt nach Luft, aber umsonst. 5
Meine Sauerstoffflasche! Jemand musste sich daran zu schaffen gemacht haben! Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Siebzig Meter tief — und kein Sauerstoff! Ich musste nach oben — aber schleunigst! Ich paddelte mit den Beinen und strengte mich verzweifelt an, die Wasseroberfläche zu erreichen. Meine Lunge war zum Zerreißen gespannt. Meine Kräfte schwanden und ich fühlte mich schwindlig. Würde ich es noch schaffen? Oder würde ich hier, tief unten im Meer, sterben, als Abendessen für Joe, den Stachelrochen? Panik erfasste mich wie eine Meereswoge. Durch die beschlagene Taucherbrille hindurch suchte ich nach meiner Tauchpartnerin. Wo steckte sie nur, wenn ich sie mal brauchte? Schließlich entdeckte ich sie. An der Oberfläche schwamm sie, in der Nähe des Bootes. Hilf mir! Rette mich! Keine Luft mehr!, versuchte ich ihr zu signalisieren, indem ich wie ein Verrückter mit den Armen fuchtelte. Endlich bemerkte sie mich. Sie kam zu mir geschwommen und zerrte meinen benommenen, schlaffen Körper an die Wasseroberfläche. Ich riss mir die Taucherbrille vom Gesicht und schnappte nach Luft. »Was fehlt dir denn, Aqua Man?«, rief sie. »Hat dich eine Qualle erwischt?« Meine Tauchpartnerin ist tapfer. Sie lacht der Gefahr ins Gesicht. Ich keuchte. »Keine Luft mehr. Jemand... Flasche ... abgerissen...« Dann wurde alles schwarz.
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Meine Tauchpartnerin drückte meinen Kopf unter Wasser. Ich riss die Augen auf und kam prustend wieder hoch. »Werd normal, Billy«, sagte sie. »Kannst du nicht Schnorcheln, ohne dich wie ein kompletter Idiot aufzuführen?« Ich seufzte. Es machte keinen Spaß mit ihr. Meine »Tauchpartnerin« war in Wirklichkeit nur meine biestige Schwester Sheena. Und ich spielte nur, ich wäre William Deep junior, der Unterwasserforscher. Aber würde es Sheena denn umbringen, wenigstens einmal darauf einzusteigen? Ich heiße wirklich William Deep junior, aber alle nennen mich Billy. Im Übrigen ist Deep genau der richtige Nachname für mich, denn »deep« ist englisch und heißt »tief« — wie geschaffen für einen Tiefseeforscher! Ich bin zwölf - aber das habe ich, glaube ich, schon erwähnt. Sheena ist zehn. Sie sieht mir sehr ähnlich. Wir haben beide glattes schwarzes Haar. Meines ist kurz geschnitten, während ihr ihres bis zu den Schultern reicht. Wir sind beide dünn und haben knubbelige Knie und Ellenbogen und große, schmale Füße. Wir haben dunkelblaue Augen und kräftige, dunkle Augenbrauen. Darüber hinaus haben wir nichts gemeinsam. Sheena hat keine Phantasie. Sie hat sich nie vor Monstern im Schrank gefürchtet, als sie klein war. Sie glaubte weder an den Weihnachtsmann noch an den Osterhasen. Sie sagt immer nur: »So was gibt's doch gar nicht.« Ich tauchte unter und zwickte Sheena ins Bein. Angriff des Riesenhummer-Mannes! »Hör auf damit!«, schrie sie. Sie trat mir gegen die Schulter. Ich tauchte auf, um Luft zu holen. »He, ihr zwei«, sagte mein Onkel. »Seid vorsichtig da unten.«
7
Mein Onkel stand an Deck seines Meereslaboratoriumschiffes, der Cassandra. Er hatte uns beobachtet, wie wir neben dem Schiff schnorchelten. Mein Onkel heißt George Deep, aber jeder nennt ihn Dr. D. Sogar mein Dad, der sein Bruder ist, nennt ihn Dr. D. Vielleicht kommt das daher, dass mein Onkel genauso aussieht, wie man sich einen Wissenschaftler vorstellt. Dr. D. ist klein und dünn, trägt eine Brille und sieht sehr ernst und nachdenklich aus. Er hat braunes, gelocktes Haar und eine kahle Stelle am Hinterkopf. Jeder, der ihn sieht, sagt: »Ich wette, Sie sind Wissenschaftler.« Sheena und ich waren bei Dr. D. auf der Cassandra zu Besuch. Unsere Eltern lassen uns die Sommerferien jedes Jahr bei Dr. D. verbringen. Das ist auf jeden Fall besser, als zu Hause herumzuhängen. Diesen Sommer lagen wir vor Ilandra, einer winzigen Insel in der Karibik. Dr. D. ist Meeresbiologe, der sich auf die Tropen spezialisiert hat. Er studiert das Verhalten tropischer Fische und sucht nach neuen Meerespflanzen und Fischen, die noch unentdeckt sind. Die Cassandra ist ein großes, robustes Schiff. Es ist etwa fünfzig Meter lang. Den größten Teil nutzt Dr. D. als Labors und Forschungsräume. Oben auf dem Deck befindet sich eine Kabine, von der aus er das Boot steuert. Steuerbords, also auf der rechten Seite des Decks, ist ein Schlauchboot vertäut, backbords oder auf der linken Seite ist ein riesiges Glasbecken angebracht. Manchmal fängt Dr. D. sehr große Fische, die er vorübergehend in dem großen Aquarium hält - normalerweise nur so lange, bis er sie zu Forschungszwecken markiert hat, oder um sie zu pflegen, wenn sie krank oder verletzt sind. Das übrige Deck ist leer, sodass man gut darauf herumtollen oder sonnenbaden kann. Seine Forschungsreisen führen Dr. D. um die ganze Welt. Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Er sagt, er sei viel zu sehr damit beschäftigt, sich Fische anzusehen. Aber er hat Kinder gerne. Deshalb lädt er Sheena und mich auch jeden Sommer ein, ihn zu besuchen.
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»Bleibt beieinander, Kinder«, sagte Dr. D. »Und schwimmt nicht zu weit weg. Das gilt vor allem für dich, Billy.« Er schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. Das ist sein »Ich mein's ernst«-Blick. Sheena sieht er nie so an. »Hier in der Gegend wurden Haie gesichtet«, sagte er. »Haie! Wow!«, rief ich. Dr. D. guckte mich stirnrunzelnd an. »Billy«, sagte er. »Das ist eine ernste Angelegenheit. Bleib in der Nähe des Schiffs. Und halt dich vom Riff fern.« Ich hatte gewusst, dass er das sagen würde. Das Clamshell-Riff ist ein langes, rotes Korallenriff, das nur einige hundert Meter von der Stelle entfernt lag, an der wir ankerten. Seit wir hier angekommen waren, brannte ich darauf, es zu erforschen. »Um mich musst du dir keine Sorgen machen, Dr. D.«, rief ich zu ihm hinauf. »Ich komme schon nicht in Schwierigkeiten.« »Aber klar doch«, murmelte Sheena leise. Ich streckte die Hand aus, um sie noch einmal hummermäßig zu zwicken, aber sie tauchte unter. »Gut«, sagte Dr. D. »Und vergesst nicht — wenn ihr eine Haifischflosse seht, dann planscht nicht wild herum. Bewegung lockt Haie an. Schwimmt einfach langsam und gleichmäßig zum Schiff zurück.« »Wir werden dran denken«, sagte Sheena, die hinter mir aufgetaucht war und wie verrückt mit Wasser um sich spritzte. Ich konnte mir nicht helfen, ich war ein bisschen aufgeregt. Ich hatte mir schon immer gewünscht, einmal einen richtigen, lebenden Hai zu sehen. Natürlich hatte ich schon Haie im Aquarium gesehen. Doch die waren in einem gläsernen Becken eingesperrt, wo sie ruhelos hin und her schwammen, aber völlig harmlos waren. Das war nicht gerade aufregend. Ich wünschte mir am Horizont eine Haifischflosse zu entdecken, die durchs Wasser zog, näher und näher kam und geradewegs auf uns zusteuerte... Mit anderen Worten: Ich wünschte mir ein Abenteuer. Die Cassandra ankerte draußen im Ozean, ein paar hundert Meter vom Clamshell-Riff entfernt. Das Riff umgab die Insel 9
Ilandra. Zwischen dem Riff und der Insel erstreckte sich eine wunderschöne Lagune. Nichts würde mich davon abhalten, die Lagune zu erforschen — egal, was Dr. D. sagte. »Komm schon, Billy«, rief Sheena, während sie ihre Taucherbrille zurechtrückte. »Diesen Fischschwarm dort sollten wir uns mal näher ansehen.« Sie deutete auf winzige Wellen in der Nähe des Schiffbugs. Sie schob sich ihr Mundstück in den Mund und steckte den Kopf unter Wasser. Ich folgte ihr zum Bug. Bald umschwärmten Sheena und mich hunderte winziger, neonblauer Fische. Unter Wasser komme ich mir immer wie in einer fremden, fernen Welt vor. Solange ich durch einen Schnorchel atme, kann ich hier unten mit den Fischen und Delfinen leben, dachte ich. Vielleicht würden mir nach einiger Zeit sogar Flossen wachsen. Die winzigen blauen Fische begannen davonzuschwimmen und ich schwamm mit ihnen. Sie sahen einfach großartig aus! Ich wollte nicht, dass sie mich verließen. Plötzlich stoben die Fische wie ein Blitz davon. Ich versuchte ihnen zu folgen, aber sie waren zu schnell. Dann waren sie verschwunden! Hatte sie irgendetwas erschreckt und vertrieben? Ich schaute mich um. Knapp unter der Wasseroberfläche trieb büschelweise Tang. Dann sah ich etwas Rotes aufblitzen. Ich schwamm näher und spähte durch meine Taucherbrille. Nur wenige Meter vor mir sah ich höckerige rote Formationen. Rote Korallen. O nein, dachte ich. Das Clamshell-Riff. Dr. D. hatte mir doch verboten so weit zu schwimmen. Ich schickte mich an umzukehren. Mir war klar, dass ich besser zum Schiff zurückschwimmen sollte. Aber es war zu verlockend noch ein bisschen zu bleiben und mich umzusehen. Schließlich war ich jetzt ja schon mal da. Das Riff sah wie eine rote Sandburg aus, gespickt mit Unterwasserhöhlen und Tunnel. Kleine Fische schwammen eifrig ein und aus, sie waren leuchtend gelb und blau. 10
Vielleicht könnte ich näher heranschwimmen und ein paar der Tunnel erforschen, überlegte ich. Wie gefährlich konnte das schon sein? Plötzlich fühlte ich etwas an meinem Bein entlangstreichen. Es kitzelte und ließ mein Bein kribbeln. Ein Fisch? Ich schaute herum, konnte aber nichts entdecken. Da spürte ich es wieder. Ein Prickeln an meinem Bein. Und dann griff es nach mir. Wieder wandte ich mich um, um festzustellen, was das war. Wieder sah ich nichts. Mein Herz raste. Ich wusste, dass es wahrscheinlich nichts Gefährliches war. Aber ich hätte es gerne sehen können. Ich drehte mich um und begann heftig strampelnd zum Schiff zurückzuschwimmen. Aber etwas packte mein rechtes Bein — und hielt es fest! Ich erstarrte vor Angst. Dann schlug ich mit meinem Bein verzweifelt aus, so fest ich konnte. Lass los! Lass mich los! Ich konnte es nicht sehen - und ich konnte mich nicht losreißen! Das Wasser wirbelte und brodelte, während ich mit aller Kraft strampelte. Von Panik ergriffen, hob ich den Kopf aus dem Wasser und stieß einen erstickten, schwachen Schrei aus: »Hilfe!« Aber es half nichts. Was immer es war, es zog mich hinab. Hinab zum Grund des Meeres.
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»Hilfe!«, schrie ich noch einmal. »Sheena! Dr. D.!« Wieder wurde ich unter die Wasseroberfläche gezerrt. Ich spürte, wie sich etwas Schleimiges fester um meinen Knöchel schlang. Während ich im Wasser sank, drehte ich mich um -und da sah ich es. Es war riesig und dunkel. Ein Meeresungeheuer! Durch das schäumende Wasser funkelte es mich mit seinen gewaltigen braunen Augen an. Das schreckliche Ungeheuer schwebte wie ein riesiger dunkelgrüner Ballon im Wasser. Es hatte sein Maul zu einem stummen Schrei aufgerissen und zeigte zwei Reihen spitzer, zackiger Zähne. Ein riesiger Tintenfisch! Aber er hatte mindestens zwölf Fangarme! Zwölf lange, schleimige Tentakel! Einer war um meinen Knöchel geschlungen. Ein weiterer glitt gerade auf mich zu. NEIN! Meine Arme wühlten das Wasser auf, um an die Wasseroberfläche zu gelangen. Ich kämpfte mich hoch und schnappte verzweifelt nach Luft — doch das gewaltige Ungeheuer zog mich wieder hinab. Es war kaum zu glauben. Während ich sank, tauchten vor meinem inneren Auge tatsächlich Szenen aus meinem Leben auf. Ich sah meine Eltern, die mir zuwinkten, als ich an meinem ersten Schultag in den Schulbus kletterte. Mom und Dad! Ich werde sie nie wieder sehen! Was für eine Art abzutreten, dachte ich. Getötet von einem Meeresungeheuer! Das glaubt doch keiner. Um mich herum wurde alles rot. Ich fühlte mich schwindlig und schwach. Doch da zog mich etwas, zog mich nach oben. Hinauf zur Wasseroberfläche. Fort von dem Monster mit seinen Tentakeln. Ich schlug die Augen auf, würgte und spuckte. 12
Ich sah Dr. D. ins Gesicht! »Billy! Alles in Ordnung mit dir?« Dr. D. musterte mich besorgt. Ich nickte hustend und bewegte vorsichtig mein rechtes Bein. Der schleimige Fangarm war nicht mehr da. Das dunkle Ungeheuer war verschwunden. »Ich habe dich schreien hören und gesehen, wie du um dich geschlagen hast«, sagte Dr. D. »Ich bin vom Schiff aus so schnell ich konnte zu dir geschwommen. Was ist denn passiert?« Dr. D. steckte in einer gelben Rettungsweste. Er schob mir einen Gummirettungsring über den Kopf. Nun konnte ich mühelos an der Oberfläche schwimmen. Meine Flossen hatte ich beim Kampf mit dem Monster verloren. Meine Taucherbrille und der Schnorchel hingen mir um den Hals. Sheena schwamm herbei und hielt sich neben mir auf der Stelle, indem sie mit den Beinen Wasser trat. »Es hat mich am Bein gepackt!«, rief ich außer Atem. »Es hat versucht mich hinunterzuziehen!« »Was hat dich am Bein gepackt, Billy?«, fragte Dr. D. »Ich kann hier nirgends etwas sehen...« »Es war ein Meeresungeheuer«, erklärte ich ihm. »Ein riesiges! Es hat seine schleimigen Tentakel um mein Bein geschlungen... Autsch!« Etwas zwickte mich in den Zeh. »Es ist zurück!«, kreischte ich entsetzt. Sheena tauchte aus dem Wasser auf und schüttelte lachend ihr nasses Haar. »Das war ich, du Dussel!«, rief sie. »Billy, Billy«, murmelte Dr. D. »Du und deine wilde Phantasie.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt. Bitte - tu das nie wieder. Dein Bein hat sich wahrscheinlich in einem Büschel Tang verfangen. Das ist alles.« »Aber... aber...!«, stotterte ich. Er griff mit der Hand ins Wasser und zog eine Hand voll schleimiger grüner Fäden heraus. »Hier gibt's überall Tang.« »Aber ich hab's doch gesehen!«, schrie ich. »Ich hab seine Fangarme gesehen und seine großen Zähne!« 13
»So etwas wie ein Meeresungeheuer gibt es nicht«, sagte Sheena. Miss Klugscheißerin. »Wir sollten das auf dem Schiff diskutieren«, sagte mein Onkel und warf den Tangklumpen ins Wasser zurück. »Kommt jetzt. Ihr schwimmt mit mir zurück. Aber haltet euch von dem Riff fern. Schwimmt vorsichtig um es herum.« Er machte kehrt und schwamm in Richtung der Cassandra los. Ich sah, dass mich das Meeresungeheuer in die Lagune gezogen hatte. Das Riff lag zwischen uns und dem Schiff. Aber es gab eine Lücke im Riff, durch das wir schwimmen konnten. Während ich den beiden folgte, gingen mir grimmige Gedanken durch den Sinn. Wieso glaubten sie mir nicht? Ich hatte gesehen, wie das Ungeheuer mein Bein packte. Das war nicht bloß ein blöder Klumpen Tang gewesen. Ich hatte mir das nicht nur eingebildet. Ich war fest entschlossen, ihnen zu beweisen, dass sie sich irrten. Ich würde das Ungeheuer aufspüren und es ihnen zeigen irgendwann. Aber nicht mehr heute. Im Moment wollte ich erst einmal in die Sicherheit an Bord zurückkehren. Ich holte Sheena ein und rief: »Wettschwimmen bis zum Schiff!« »Der Verlierer isst eine Qualle mit Schokoladenguss!«, schrie sie. Einem Wettkampf kann Sheena einfach nicht widerstehen. Sie wollte sofort durchstarten, aber ich hielt sie am Arm fest. »Warte«, sagte ich. »So ist es nicht fair. Du hast Flossen an. Zieh sie aus.« »Pech für dich!«, rief sie und riss sich los. »Wir sehen uns am Schiff!« Ich sah zu, wie sie davonplanschte und rasch einen guten Vorsprung hatte. Sie wird nicht gewinnen, beschloss ich. Ich blickte zum Riff, das vor mir lag. Über das Riff zu schwimmen ginge schneller. Eine Abkürzung. Ich drehte ab und begann geradewegs auf das rote Korallenriff zuzuschwimmen. »Billy! Komm hierher zurück!«, schrie Dr. D. Ich tat so, als ob ich ihn nicht hörte. 14
Das Riff lag vor mir. Ich hatte es beinahe erreicht. Ich warf einen Blick zu Sheena, die ein Stück voraus durchs Wasser pflügte, und holte kräftiger aus. Mir war klar, dass sie nicht den Nerv hatte, über das Riff zu schwimmen. Sie würde seitlich um das Riff herumschwimmen. Ich würde dagegen abkürzen und sie schlagen. Doch plötzlich begannen meine Arme zu schmerzen. So weit zu schwimmen war ich nicht gewöhnt. Vielleicht kann ich auf dem Riff Halt machen und meinen Armen einen Augenblick Rast gönnen, dachte ich. Ich erreichte das Riff und wandte mich um. Sheena schwamm nach links, um die Korallen herum. Ich rechnete mir aus, dass mir ein paar Sekunden zum Ausruhen blieben. Ich trat auf das rote Korallenriff - und schrie vor Entsetzen auf!
Mein Fuß brannte wie Feuer. Ein pochender Schmerz schoss durch mein Bein hinauf. Ich brüllte und tauchte unter Wasser. Als ich wieder hochkam, hörte ich Sheena schreien: »Dr. D.! Komm rasch!« Selbst im kalten Meerwasser brannte mein Fuß. Dr. D. kam zu mir. »Billy, was ist denn nun wieder los?«, wollte er wissen. »Ich habe gesehen, wie er etwas ziemlich Dämliches getan hat«, sagte Sheena und grinste selbstgefällig. Hätte mein Fuß nicht so gebrannt, hätte ich ihr garantiert eins auf die Nase gegeben. »Mein Fuß!«, stöhnte ich. »Ich bin aufs Riff getreten... und... und...« Dr. D. legte eine Hand auf den Rettungsring, den ich um dem Bauch trug. »Au. Das tut weh«, sagte er und tätschelte mir die 15
Schulter. »Aber das ist nicht weiter schlimm. Das Brennen hört bald auf.« Er deutete auf das Riff. »All diese leuchtend roten Korallen sind Feuerkorallen.« »Was? Feuerkorallen?« Ich starrte entgeistert darauf. »Das wusste ich ja sogar!«, sagte Sheena. »Die sind mit einem schwachen Gift überzogen«, fuhr mein Onkel fort. »Wenn das mit deiner Haut in Berührung kommt, brennt es wie Feuer.« Und das sagt er mir jetzt, dachte ich. »Weißt du denn überhaupt nichts?«, fragte Sheena bissig. Sie legte es darauf an. Aber wirklich. »Du kannst von Glück sagen, dass du dir den Fuß nur verbrannt hast«, sagte Dr. D. »Korallen können sehr scharfkantig sein. Du hättest dir den Fuß auch aufschneiden können, sodass das Gift in deinen Blutkreislauf geraten wäre. Dann hättest du echte Probleme bekommen.« »Wow! Was wäre dann passiert?«, fragte Sheena. Sie schien ganz begierig darauf, zu erfahren, was für schreckliche Dinge mir hätten zustoßen können. Dr. D.s Miene wurde ernst. »Das Gift kann einen lahmen«, sagte er. »Ach, wie großartig«, sagte ich. »Also, halte dich von nun an von den roten Korallen fern«, warnte mich Dr. D. »Und von der Lagune ebenfalls.« »Aber dort lebt doch das Meeresungeheuer!«, protestierte ich. »Wir müssen dorthin zurück. Ich muss es euch zeigen!« Sheena wippte im grün-blauen Wasser auf und ab. »Gibt's doch gar nicht, gibt's doch gar nicht«, leierte sie. Das ist ihr Lieblingsspruch. »So was gibt's doch gar nicht - stimmt's, Dr. D.?« »Nun, das kann man nie wissen«, antwortete Dr. D. nachdenklich. »Wir kennen noch immer nicht alle Lebewesen, die in den Meeren leben, Sheena. Man sollte besser sagen, dass Wissenschaftler noch nie eines gesehen haben.« »Da hast du's, Sheena«, sagte ich. Statt einer Antwort spuckte mir Sheena einen Wasserstrahl entgegen. 16
»Hört mal, Kinder - es ist mir ernst damit, dass ihr von hier wegbleiben sollt«, sagte Dr. D. »Auch wenn in dieser Lagune kein Meeresungeheuer haust, so kann es hier doch Haie, giftige Fische und Zitteraale geben. Jede Menge gefährlicher Tiere. Schwimmt da also bitte nicht mehr hin.« Er legte eine Pause ein und sah mich stirnrunzelnd an. Er wollte sichergehen, dass ich ihm aufmerksam zugehört hatte. »Wie geht's deinem Fuß, Billy?«, fragte er. »Schon ein bisschen besser«, antwortete ich. »Na dann mal los. Das war genug Abenteuer für heute Morgen. Jetzt wollen wir zum Schiff zurückschwimmen. Es ist beinahe Zeit fürs Mittagessen.« Wir schwammen alle drei in Richtung der Cassandra los. Als ich mit den Beinen lospaddelte, kitzelte mich wieder etwas am Bein. Tang? Nein. Es strich über meine Hüfte wie - Finger. »Lass das, Sheena«, schrie ich wütend. Ich drehte mich rasch herum, um ihr Wasser ins Gesicht zu spritzen. Aber sie war gar nicht da. Sie war nicht einmal in meiner Nähe. Sie schwamm vor mir neben Dr. D. her. Sheena konnte mich also unmöglich gekitzelt haben. Aber irgendjemand hatte es eindeutig getan. Ich starrte ins Wasser hinab und plötzlich packte mich panische Angst. Was war da unten? Wieso triezte es mich so? War es drauf und dran, mich wieder zu packen und für immer hinabzuziehen?
17
Alexander DuBrow, Dr. D.s Assistent, half uns an Bord des Schiffes. »Ich habe Geschrei gehört«, sagte Alexander. »Ist alles in Ordnung?« »Alles bestens, Alexander«, sagte Dr. D. »Billy ist auf eine Feuerkoralle getreten, aber es geht ihm gut.« Als ich die Leiter hinaufkletterte, packte mich Alexander bei den Händen und zog mich an Bord. »Wow, Billy«, sagte er. »Feuerkorallen. Ich habe gleich an meinem ersten Tag hier aus Versehen Bekanntschaft mit den Feuerkorallen gemacht. Ich habe Sternchen gesehen. Das habe ich wirklich, Mann. Bist du sicher, dass es dir gut geht?« Ich nickte und zeigte ihm meinen Fuß. »Jetzt tut es mir schon nicht mehr so weh. Aber das war nicht das Schlimmste, was mir passiert ist. Ich wäre beinahe von einem Meeresungeheuer gefressen worden!« »Gibt's doch gar nicht, gibt's doch gar nicht«, sang Sheena. »Ich habe es wirklich gesehen«, beharrte ich. »Sie glauben mir nur nicht. Aber es war da. In der Lagune. Es war groß und grün und...« Alexander lächelte. »Wenn du das sagst, Billy«, sagte er. Er zwinkerte Sheena zu. Ich hätte gute Lust gehabt, auch ihm eins auf die Nase zu geben. Ein Student der Naturwissenschaften. Na und? Was wusste der denn schon? Alexander war Anfang zwanzig und sah im Gegensatz zu Dr. D. ganz und gar nicht wie ein Wissenschaftler aus. Er war sehr groß, über einen Meter neunzig, und muskulös. Er hatte dickes, gewelltes blondes Haar und blaue Augen mit kleinen Fältchen in den Winkeln. Er hatte breite Schultern und große, kräftig aussehende Hände. Da er viel Zeit an der Sonne verbrachte, war er gleichmäßig dunkel gebräunt. »Ich hoffe, ihr seid alle hungrig«, sagte Alexander. »Ich habe Sandwiches mit Hühnchensalat fürs Mittagessen vorbereitet.« »Oh. Toll«, sagte Sheena und rollte mit den Augen. 18
Alexander kochte meistens. Er hielt sich für einen guten Koch. Doch das war er nicht. Ich ging unter Deck in meine Kabine, um mir etwas Trockenes anzuziehen. Meine Kabine war nicht mehr als ein kleines Kabäuschen mit einer Koje darin und einem Schrank für meine Sachen. Sheenas Kabine sah genauso aus. Dr. D. und Alexander hatten größere Kabinen, in denen sie sogar herumgehen konnten. Wir aßen in der Kombüse, wie Dr. D. die Schiffsküche nannte. Sie bestand aus einem fest montierten Tisch, angeschraubten Stühlen und einer winzigen Kochecke. Als ich die Kombüse betrat, saß Sheena bereits am Tisch. Vor ihr stand ein Teller mit einem großen Sandwich und dasselbe wartete auch auf mich. Keiner von uns beiden war begierig darauf, Alexanders Sandwich mit Hühnchensalat zu probieren. Am Abend zuvor hatte es geschmorten Rosenkohl gegeben. Zum Frühstück an diesem Morgen hatte er uns Vollkornpfannkuchen serviert, die mir noch wie die gesunkene Titanic im Magen lagen! »Du zuerst«, flüsterte ich meiner Schwester zu. »Nö«, sagte Sheena und schüttelte den Kopf. »Du probierst. Du bist der Ältere.« Mein Magen knurrte. Ich seufzte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als den Hühnchensalat zu probieren. Ich grub meine Zähne in das Sandwich und begann zu kauen. Gar nicht so übel, dachte ich anfangs. Ein bisschen Hühnchen, ein bisschen Majonäse. Es schmeckte wie ein ganz normales Sandwich, das mit Hühnchensalat belegt war. Doch dann, ganz plötzlich, fing meine Zunge zu brennen an. In meinem Mund wütete ein Feuer! Ich ließ einen wilden Schrei los und griff nach dem Glas mit Eistee, das vor mir stand. Ich schüttete das ganze Glas auf einmal hinunter. »Feuerkorallen!«, schrie ich. »Du hast Feuerkorallen in den Hühnchensalat getan!« Alexander lachte. »Nur ein bisschen Cayennepfeffer. Als Würze. Schmeckt's dir?« »Ich glaube, ich esse lieber Cornflakes zu Mittag«, sagte Sheena und legte ihr Sandwich auf den Teller zurück. »Wenn du nichts dagegen hast.« 19
»Meinetwegen kannst du zu jeder Mahlzeit Cornflakes essen«, antwortete Alexander stirnrunzelnd. »Kein Wunder, dass du so mager bist, Sheena. Du isst doch nie etwas anderes als Cornflakes. Wo bleibt dein Sinn für Abenteuer?« »Ich denke, ich nehme auch Cornflakes«, sagte ich verlegen. »Nur so zur Abwechslung.« Dr. D. kam in die Kombüse. »Was gibt's zum Mittagessen?«, fragte er. »Hühnchensalat-Sandwiches«, sagte Alexander. »Ich hab sie gut gewürzt.« »Sehr gut gewürzt«, warnte ich meinen Onkel. Dr. D. schaute mich an und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ach, wirklich?«, sagte er. »Weißt du, ich bin eigentlich nicht besonders hungrig. Ich denke, ich esse einfach nur Cornflakes zu Mittag.« »Vielleicht könnten Billy und ich heute mal das Abendessen machen«, bot Sheena an. Sie schüttete Cornflakes in eine Schale und goss Milch dazu. »Es ist nicht gerecht, dass immer Alexander kochen muss.« »Das ist eine nette Idee, Sheena«, sagte Dr. D. »Was könnt ihr beiden denn?« »Ich weiß, wie man Schokokekse aus einer Backmischung macht«, sagte ich. »Und ich kann Karamellbonbons machen«, sagte Sheena. »Hmm«, sagte Dr. D. »Vielleicht sollte ich ja heute Abend kochen. Wie hört sich gegrillter Fisch an?« »Toll!«, sagte ich. Nach dem Mittagessen ging Dr. D. in sein Büro, um an seinen Aufzeichnungen zu arbeiten. Alexander nahm Sheena und mich ins Hauptlaboratorium mit. Das Arbeitslabor war echt stark! An den Wänden standen drei große Glasbecken, in denen es von seltsamen, unglaublichen Fischen nur so wimmelte. Das kleinste Aquarium enthielt zwei hellgelbe Seepferdchen und einen Trompetenfisch. Der Trompetenfisch war ein langer, rot-weißer, schlauchförmiger Fisch. Außerdem schwammen in dem Becken eine Menge bunte kleine Guppys herum. Mein 20
Onkel hat mir mal erklärt, dass sie ihren lustigen Namen von ihrem Entdecker haben, der Mr. Guppy hieß. Ein anderes Aquarium enthielt einige Große Segelflosser, die leuchtend orange-rot wie Feuer gefärbt waren, und einen Harlekinfisch, der zur Tarnung orange und blaue Streifen trug. Im größten Becken befand sich ein langes, schwarzgelbes, schlangenähnliches Ding mit einem Maul voller Zähne. »Bäh!« Sheena verzog angewidert das Gesicht, als sie sich den langen Fisch ansah. »Der ist aber echt krass!« »Das ist ein schwarzer Streifenaal«, sagte Alexander. »Er beißt zwar, aber nicht tödlich. Wir nennen ihn Biff.« Ich knurrte Biff durch die Glasscheibe hindurch an, aber er beachtete mich nicht. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, wenn man Biff im freien Meer begegnete. Seine Zähne sahen scheußlich aus, aber er war nicht annähernd so groß wie das Meeresungeheuer. Ich sagte mir, dass William Deep junior, der weltberühmte Unterwasserforscher, bestimmt mit ihm fertig würde. Ich wandte mich von den Fischbecken ab, blieb vor dem Schaltpult stehen und starrte auf all die Knöpfe und Anzeigen. »Wofür ist der da?«, fragte ich. Ich drückte auf einen Knopf. Ein Signalhorn quäkte laut. Erschrocken machten wir alle einen Satz. »Der lässt das Signalhorn tuten«, sagte Alexander lachend. »Dr. D. hat Billy gesagt, dass er nichts anfassen darf, ohne vorher zu fragen«, sagte Sheena. »Das hat er ihm schon eine Million Mal gesagt. Aber Billy hört nie.« »Halt die Klappe, Sheena!«, fuhr ich sie an. »Halt du die Klappe!« »Hey - kein Problem«, sagte Alexander und hob beschwichtigend die Hände. Er wollte, dass wir uns beruhigten. »Ist doch nichts passiert.« Ich wandte mich wieder dem Schaltpult zu. Die meisten der Anzeigeninstrumente waren beleuchtet und ihre roten Zeiger bewegten sich. Aber dann entdeckte ich, dass eine der Anzeigen dunkel war und der Zeiger sich nicht rührte. »Wofür ist die denn?«, fragte ich und deutete auf die 21
unbeleuchtete Anzeige. »Sieht aus, als hättest du vergessen sie einzuschalten.« »Ach, das ist die Kontrollanzeige der Nansenflasche«, sagte Alexander. »Die ist kaputt.« »Was ist eine Nansenflasche?« »Wir sammeln damit ganz tief unten Meerwasserproben«, erwiderte Dr. D.s Assistent. »Warum repariert ihr sie nicht?«, fragte ich. »Das können wir uns nicht leisten«, sagte Alexander. »Wieso nicht?«, fragte Sheena. »Gibt euch die Universität denn kein Geld?« Wir wussten beide, dass Dr. D.s Forschungsarbeit von der Universität von Ohio bezahlt wurde. »Sie haben uns Geld für unsere Forschung gegeben«, erklärte Alexander. »Aber es ist fast alle. Jetzt warten wir auf den Bescheid, ob sie uns mehr geben. In der Zwischenzeit haben wir kein Geld, um irgendwas zu reparieren.« »Was ist, wenn die Cassandra den Geist aufgibt oder so was in der Art?«, fragte ich. »Ich schätze, dann müssten wir sie eine Zeit lang ins Trockendock bringen«, sagte Alexander. »Oder eine andere Möglichkeit finden, an mehr Geld zu kommen.« »Wow«, sagte Sheena. »Das hieße, dass wir die Sommerferien nicht mehr hier verbringen könnten.« Der Gedanke, dass die Cassandra im Dock lag, gefiel mir ganz und gar nicht. Noch schlimmer war der Gedanke, dass Dr. D. an Land festsaß und keine Fische studieren konnte. Unser Onkel war jedesmal todunglücklich, wenn er an Land gehen musste. Außer auf einem Schiff fühlte er sich nirgends wohl. Ich weiß, wovon ich rede, weil er uns einmal über Weihnachten besucht hat. Normalerweise kann man mit Dr. D. immer eine Menge Spaß haben. Aber dieser Weihnachtsbesuch war ein Albtraum! Dr. D. verbrachte den lieben langen Tag damit, im Haus auf und ab zu laufen und uns Befehle zuzubellen wie ein Kapitän. »Billy, sitz gerade!«, brüllte er mich an. »Sheena, wisch das Deck!« Er war einfach nicht mehr er selbst. 22
An Heiligabend hielt es mein Dad schließlich nicht mehr aus mit ihm. Er sagte Dr. D., er solle sich entweder zusammenreißen oder von Bord gehen. Zu guter Letzt verbrachte Dr. D. einen Großteil der Weihnachtsfeiertage in der Badewanne und spielte mit meinen alten Spielzeugschiffen. Solange er im Wasser saß, war er wieder ganz der Alte. Ich wollte Dr. D. nie wieder an Land gestrandet erleben müssen. »Keine Bange, Kinder«, sagte Alexander. »Dr. D. hat bisher noch immer einen Weg gefunden, über die Runden zu kommen.« Ich hoffte, dass Alexander Recht behielt. Ich betrachtete eine andere, merkwürdige Anzeige, die mit ECHOLOT bezeichnet war. »He, Alexander«, sagte ich. »Kannst du mir zeigen, wie das Echolot funktioniert?« »Klar«, sagte Alexander. »Lass mich vorher nur noch ein paar Sachen erledigen.« Er ging zum ersten Aquarium und fischte mit einem Netz ein paar der Guppys heraus. »Wer möchte Biff heute füttern?« »Ich nicht«, sagte Sheena. »Igitt!« »Kommt nicht in die Tüte!«, sagte ich, während ich auf eines der Bullaugen zuging und hinausspähte. Ich dachte, ich hätte draußen einen Motor gehört. Bisher hatten wir nur sehr wenige Schiffe zu Gesicht bekommen. An Ilandra fuhren nicht viele Leute vorbei. Ein weißes Boot tuckerte an die Cassandra heran. Es war kleiner und neuer als unser Schiff. Ein Emblem an der Bootswand verkündete MARINA-ZOO. Ein Mann und eine Frau standen an Deck des Zooschiffes. Sie trugen beide saubere Kakihosen und Hemden mit angeknöpften Kragenenden. Der Mann hatte einen kurzen, ordentlichen Haarschnitt, das braune Haar der Frau war hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug einen schwarzen Aktenkoffer. Der Mann winkte jemandem auf dem Deck der Cassandra zu. Ich nahm an, das galt Dr. D. Nun standen Sheena und Alexander neben mir am Bullauge und schauten hinaus. »Wer ist das?«, fragte Sheena. 23
Alexander räusperte sich. »Ich geh besser mal nachsehen, worum es geht«, sagte er. Er reichte Sheena das Netz mit den Guppys. »Hier«, sagte er. »Füttere Biff. Ich komme später wieder.« Er verließ eilig das Laboratorium. Sheena starrte auf die zappelnden Guppys in dem Netz und schnitt eine Grimasse. »Ich werde nicht hier bleiben und zusehen, wie Biff diese armen Guppys frisst.« Sie drückte mir das Netz in die Hand und rannte aus der Kabine hinaus. Ich hatte auch keine Lust, Biff dabei zuzusehen, wie er die armen Fische vertilgte. Aber ich wusste nicht, was ich sonst mit ihnen anfangen sollte. Also kippte ich die Guppys rasch in Biffs Becken. Der Kopf des Aals zuckte nach vorn. Seine Zähne schnappten über einem der Fische zusammen und der Guppy verschwand. Sofort stürzte sich Biff auf den nächsten. Er war ein schneller Fresser. Ich warf das Netz auf den Tisch und verließ das Laboratorium. Während ich den engen Korridor entlanglief, beschloss ich an Deck zu gehen und frische Luft zu schnappen. Ich fragte mich, ob Dr. D. mich am Nachmittag noch einmal eine Weile Schnorcheln lassen würde. Wenn er Ja sagte, würde ich vielleicht zur Lagune schwimmen und sehen, ob ich eine Spur des Meeresungeheuers entdecken konnte. Hatte ich Angst? Ja. Aber ich war fest entschlossen meiner Schwester und meinem Onkel zu beweisen, dass ich nicht verrückt war. Und dass ich mir die Geschichte nicht ausgedacht hatte. Als ich an Dr. D.s Büro vorbeikam, hörte ich Stimmen. Das mussten Dr. D. und Alexander mit den beiden Leuten vom Zoo sein. Ich blieb einen Augenblick stehen. Ich hatte nicht vor zu lauschen, das schwöre ich. Aber der Mann vom Zoo hatte eine so laute Stimme, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn zu hören. 24
Und was er sagte, war das Unglaublichste, das ich in meinem ganzen Leben je gehört hatte. »Es ist mir ganz egal, wie Sie es anstellen, Dr. Deep«, brüllte der Mann. »Aber ich will, dass Sie diese Meerjungfrau finden!«
Eine Meerjungfrau! Das konnte ich nicht glauben! Wollte er wirklich, dass mein Onkel nach einer echten, lebenden Meerjungfrau suchte? Mir war klar, dass Sheena sofort losleiern würde: »Gibt's doch gar nicht, gibt's doch gar nicht.« Aber j hier sprach ein erwachsener Mann, ein Mann, der für den Zoo arbeitete, über eine Meerjungfrau. Da musste es sie doch wirklich geben! Vor Aufregung begann mein Herz zu klopfen. Ich werde vielleicht einer der ersten Menschen auf der Erde sein, der eine leibhaftige Meerjungfrau zu Gesicht bekommt!, dachte ich. Und dann kam mir ein noch viel besserer Gedanke: Was, wenn ich derjenige wäre, der sie fand? Dann wäre ich berühmt! Ich käme ins Fernsehen und was nicht sonst noch alles! William Deep junior, der berühmte Meeresforscher! Na ja, nachdem ich das gehört hatte, konnte ich doch nicht einfach weitergehen. Ich musste mehr hören. Mit angehaltenem Atem presste ich mein Ohr an die Tür und lauschte. »Mr. Showalter, Ms. Wickman, verstehen Sie mich bitte richtig«, hörte ich Dr. D. sagen. »Ich bin Wissenschaftler und kein Zirkusdompteur. Ich leiste ernst zu nehmende Arbeit. Ich kann meine Zeit nicht damit verschwenden, in diesen Gewässern nach Märchenwesen zu suchen.« Ich hörte Alexander fragen: »Was bringt Sie dazu, zu glauben, dass es da draußen wirklich eine Meerjungfrau gibt?« »Ein Fischer von einer der Inseln hier in der Gegend hat sie 25
entdeckt«, antwortete der Mann vom Zoo. »Er sagte, er wäre ziemlich nahe an sie herangekommen — und er ist ganz sicher, dass sie echt ist. Er hat sie in der Nähe des Riffs gesehen - dieses Riffs nicht weit von Ilandra entfernt.« Das Riff! Vielleicht lebte sie in der Lagune! Ich drückte mich an die Tür. Ich wollte kein einziges Wort der Unterhaltung verpassen. »Einige dieser Fischer sind reichlich abergläubisch, Mr. Showalter«, sagte mein Onkel verächtlich. »Solche Geschichten sind schon seit Jahren in Umlauf... aber es gibt wirklich keinen Grund, sie zu glauben.« »Wir haben dem Mann erst auch nicht geglaubt«, sagte die Frau. »Aber dann haben wir andere Fischer in der Gegend befragt und die behaupten auch, die Meerjungfrau gesehen zu haben. Ich glaube, dass sie die Wahrheit sagen, denn ihre Beschreibungen der Meerjungfrau stimmen überein, bis ins kleinste Detail.« Ich hörte den Schreibtischsessel meines Onkels knarren und malte mir aus, wie er sich nach vorne beugte, als er fragte: »Und wie genau haben die Fischer sie beschrieben?« »Sie sagten, sie sähe wie ein junges Mädchen aus«, erklärte ihm Mr. Showalter. »Abgesehen von dem« - er räusperte sich — »dem Fischschwanz. Sie ist klein und zierlich und hat langes blondes Haar.« »Ihr Schwanz soll glänzend und hellgrün sein «, sagte die Frau. »Ich weiß, das klingt unglaublich, Dr. Deep. Aber als wir mit den Fischern sprachen, waren wir überzeugt, dass sie wirklich eine Meerjungfrau gesehen haben!« Es trat eine Pause ein. Verpasste ich etwas? Ich presste mein Ohr fest gegen die Tür. Endlich hörte ich meinen Onkel fragen: »Und wozu genau wollen Sie diese Meerjungfrau fangen?« »Es ist offensichtlich, dass eine echte, lebende Meerjungfrau für unseren Meereszoo eine Aufsehen erregende Attraktion wäre«, sagte die Frau. »Die Leute würden von überall auf der Welt herbeiströmen, um sie zu sehen. Der Marina-Zoo würde Millionen von Dollar einnehmen.« »Wir sind bereit, Sie für Ihren Aufwand sehr gut zu bezahlen, Dr. Deep«, sagte Mr. Showalter. »Soweit ich weiß, geht Ihnen 26
das Geld aus. Was ist, wenn die Universität sich weigert, Ihnen etwas nachzuschießen? Es wäre doch schrecklich, wenn Sie Ihre wichtige Forschungstätigkeit deswegen aufgeben müssten.« »Der Marina-Zoo kann Ihnen eine Million Dollar zusagen«, sagte die Frau. »Falls Sie die Meerjungfrau finden. Ich bin sicher, mit so viel Geld könnten Sie Ihr Laboratorium eine ganze Weile weiterbetreiben.« Eine Million Dollar!, dachte ich. Wie sollte Dr. D. so viel Geld ablehnen können? Mein Herz hämmerte vor Aufregung. Ich presste mich gegen die Tür und lauschte angestrengt. Wie würde die Antwort meines Onkels lauten?
An die Tür gedrückt, hörte ich, wie Dr. D. einen langen, leisen Pfiff ausstieß. »Das ist eine Menge Geld, Ms. Wickman«, hörte ich ihn sagen. Es trat eine lange Pause ein. Dann fuhr er fort: »Aber selbst wenn es wirklich Meerjungfrauen geben sollte, würde ich es nicht richtig finden, eine davon einzufangen, um sie in einem Zoo auszustellen.« »Ich versprechen Ihnen, dass wir uns hervorragend um sie kümmern würden«, antwortete Mr. Showalter. »Unsere Delfine und Wale werden auch sehr gut versorgt. Die Meerjungfrau würde natürlich eine ganz besondere Pflege und Fürsorge genießen.« »Und vergessen Sie eines nicht, Dr. Deep«, sagte Ms. Wickman. »Wenn Sie sie nicht finden, dann wird es jemand anders tun. Und es gibt keine Garantie dafür, dass diese Leute sie genauso gut behandeln würden wie wir.« »Ich nehme an, Sie haben Recht«, hörte ich meinen Onkel antworten. »Wenn ich sie fände, würde das meine Forschungen 27
sicherlich gewaltig voranbringen.« »Dann werden Sie es also tun?«, fragte Mr. Showalter begierig. Sag ja, Dr. D.!, dachte ich. Sag ja! Ich drückte mich mit meinem ganzen Körper gegen die Tür. »Ja«, antwortete mein Onkel. »Wenn es wirklich eine Meerjungfrau gibt, dann werde ich sie finden.« Hervorragend!, dachte ich. »Sehr gut«, sagte Ms. Wickman. »Ausgezeichnete Entscheidung«, setzte Mr. Showalter begeistert hinzu. »Ich wusste, dass wir beim richtigen Mann für diese Aufgabe gelandet sind.« »Wir kommen in ein paar Tagen wieder, um zu sehen, wie die Suche so läuft. Ich hoffe, Sie haben dann schon gute Nachrichten für uns«, sagte Ms. Wickman. »Das ist nicht viel Zeit«, hörte ich Alexander bemerken. »Das ist uns klar«, antwortete Ms. Wickman. »Aber je eher Sie sie finden, desto besser, ganz klar.« »Und bitte«, sagte Mr. Showalter, »bitte halten Sie die Sache streng geheim. Niemand darf von der Meerjungfrau erfahren. Ich bin sicher, Sie können sich vorstellen, was passieren würde, wenn...« RATTTTTTTSCH! Ich verlor das Gleichgewicht und plumpste mit voller Wucht gegen die Tür. Zu meinem Schrecken schwang sie auf - und ich purzelte in den Raum hinein.
Ich landete in der Mitte der Kabine auf dem Boden, zusammen mit Mr. Showalter, den ich bei meiner Landung umgerissen hatte. Dr. D., Mr. Showalter, Ms. Wickman und Alexander glotzten mich alle mit aufgerissenem Mund an. Ich schätze, sie hatten nicht damit gerechnet, dass ich hereinplatzen würde. 28
»Äh ... hallo zusammen«, murmelte ich. Ich spürte, wie mein Gesicht brannte, und mir war klar, dass ich rot geworden war. »Schöner Tag für die Jagd auf eine Meerjungfrau.« Mr. Showalter sprang wütend auf die Füße und funkelte meinen Onkel an. »Die Sache sollte doch geheim gehalten werden!« Alexander trat zu mir und half mir auf. »Machen Sie sich wegen Billy keine Sorgen«, sagte er und legte schützend seinen Arm um mich. »Sie können ihm trauen.« »Das ist mir sehr peinlich«, erklärte Dr. D. seinen Besuchern. »Das ist mein Neffe, Billy Deep. Er und seine Schwester sind für ein paar Wochen zu Besuch bei uns.« »Können die beiden unser Geheimnis für sich behalten?«, fragte Ms. Wickman. Dr. D. schaute Alexander an. Alexander nickte. »Ja, ich bin sicher, das können sie«, sagte Dr. D. »Billy sagt zu niemandem ein Wort. Stimmt's, Billy?« Er blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an, was ich normalerweise absolut nicht leiden kann. Aber diesmal konnte ich es ihm nicht verübeln. Ich nickte. »Ja. Ich erzähle niemandem etwas davon. Das schwöre ich hoch und heilig.« »Nur so zur Sicherheit, Billy«, sagte Dr. D., »erwähne die Meerjungfrau bitte auch Sheena gegenüber nicht. Sie ist zu jung, um so ein großes Geheimnis für sich behalten zu können.« »Das verspreche ich«, antwortete ich feierlich und hob meine rechte Hand, als wollte ich einen Eid schwören. »Ich werde Sheena kein Sterbenswörtchen verraten.« Das war echt cool! Ich kannte das größte Geheimnis der Welt — und Sheena hatte nicht die leiseste Ahnung davon! Der Mann und die Frau vom Zoo tauschten einen Blick aus. Ich konnte sehen, dass sie noch immer besorgt waren. Alexander sagte: »Sie können sich auf Billy wirklich verlassen. Für sein Alter ist er sehr vernünftig und ernst zu nehmen.« Da kannst du aber darauf wetten, dass ich ernst zu nehmen bin, dachte ich. Ich bin William Deep junior, der weltberühmte Meerjungfrauenfänger. 29
Mr. Showalter und Ms. Wickman schienen sich ein wenig zu entspannen. »Gut«, sagte Ms. Wickman. Sie schüttelte Dr. D., Alexander und mir die Hand. Mr. Showalter sammelte einige Papiere zusammen und steckte sie in den Aktenkoffer. »Wir sehen uns dann in ein paar Tagen«, sagte Ms. Wickman. »Viel Glück.« Ich brauche kein Glück, dachte ich, während ich ein paar Minuten später zusah, wie sie auf ihrem Boot davonröhrten. Ich brauche kein Glück, weil ich gut bin. Und weil ich mich was traue. Alle möglichen aufregenden Gedanken sausten mir durch den Kopf. Würde ich Sheena gemeinsam mit mir im Fernsehen auftreten lassen, nachdem ich die Meerjungfrau ganz allein gefangen hatte? Wahrscheinlich nicht. In dieser Nacht schlich ich mich heimlich vom Schiff und ließ mich ins dunkle Wasser gleiten. Geräuschlos schwamm ich auf die Lagune zu. Ich warf einen Blick zur Cassandra zurück. Sie lag still vor Anker und alle Bullaugen waren dunkel. Gut, dachte ich. Niemand ist wach. Niemand kann also bemerken, dass ich verschwunden bin und mitten in der Nacht alleine im Meer schwimme. Im silbernen Schein des Mondes schwamm ich gleichmäßig und mühelos um das Riff herum und in die dunkle Lagune. Als das Riff hinter mir lag, verlangsamte ich meine Schwimmbewegungen. Ich ließ meinen Blick eifrig über die Lagune schweifen. Unter mir plätscherten leise die Wellen. Das Wasser glitzerte, als würden Millionen winziger Diamanten darauf schwimmen. Wo steckte die Meerjungfrau? Ich wusste, dass sie hier war. Ich würde sie hier irgendwo finden. Plötzlich vernahm ich von tief unten im Wasser ein leises Grollen. Ich lauschte angestrengt. 30
Das Geräusch, das anfangs nur ganz schwach war, wurde lauter. Die Wellen wurden heftiger und das Geräusch schwoll zu einem andauernden Dröhnen an. Es rumpelte wie ein Erdbeben. Ein Erdbeben auf dem Meeresgrund. Das Wasser kochte und brodelte. Ich hatte alle Mühe, mich an der Oberfläche zu halten. Was ging da vor sich? Plötzlich erhob sich in der Mitte der Lagune eine gewaltige Woge. Sie wuchs in die Höhe, wie ein riesiger Geysir. Höher und höher, über meinen Kopf hinaus, bis sie so hoch war wie ein Gebäude! Eine Gezeitenwelle? Nein. Die Woge brach. Ein dunkles Ungeheuer schob sich darunter hervor. Wasser lief an seinem gruseligen Körper hinab. Ein einzelnes Auge starrte mir daraus düster entgegen. Seine Fangarme wanden und streckten sich. Ich schrie. Das Monster blinzelte mich mit seinem schlammbraunen Auge an. Ich wollte umdrehen und davonschwimmen. Aber es war zu schnell. Die Fangarme peitschten mir entgegen - sie packten mich und schlangen sich fester und fester um meine Hüfte. Dann legte sich ein schleimiger, kalter Fangarm um meinen Hals und zog sich langsam zusammen.
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»Ich... ich bekomme keine Luft mehr!«, brachte ich mit erstickter Stimme hervor. Ich zerrte an dem Fangarm, der sich um meinen Hals wand. »Hilfe! Irgendjemand - zu Hilfe!« Ich schlug die Augen auf - und starrte an die Decke. Ich lag im Bett. In meiner Kabine. Das Laken war fest um mich herumgeschlungen. Ich holte tief Luft und wartete darauf, dass mein Herz zu hämmern aufhörte. Ein Traum. Nur ein Traum. Ich rieb mir die Augen, erhob mich und schaute durch das Bullauge hinaus. Die Sonne erhob sich gerade über den Horizont. Der Himmel leuchtete rot und das Wasser war blass violett gefärbt. Ich schaute blinzelnd über das Riff hinweg zur Lagune. Nichts rührte sich, alles war still. Von einem Meeresungeheuer war weit und breit nichts zu sehen. Ich wischte mir mit dem Ärmel meines Schlafanzugs den Schweiß von der Stirn. Kein Grund, dich zu fürchten, sagte ich mir. Es war nur ein Traum gewesen. Ein Albtraum. Ich schüttelte den Kopf und versuchte das Meeresungeheuer zu vergessen. Ich durfte mir von ihm keine Angst einjagen lassen. Es durfte mich nicht davon abhalten, die Meerjungfrau zu finden. War schon jemand auf? Hatte ich im Traum laut geschrien? Ich lauschte angestrengt, aber ich hörte nur das Knarren des Schiffs und die Wellen, die gegen die Außenwände plätscherten. Das rosa Morgenlicht versetzte mich in beste Laune. Das dunkle Wasser wirkte einladend. Schnell schlüpfte ich in meine Badehose und stahl mich leise aus der Kabine. Ich wollte nicht, dass mich jemand hörte.
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In der Kombüse sah ich eine halb leere Kaffeekanne, die auf der Warmhalteplatte stand. Das bedeutete, dass Dr. D. bereits aufgestanden war. Auf Zehenspitzen schlich ich den Gang entlang und lauschte. Er schien im Hauptlaboratorium herumzuwerkeln. Ich schnappte mir meinen Schnorchel, meine Flossen und die Taucherbrille und ging an Deck. Die Luft war rein. Geräuschlos kletterte ich die Leiter hinunter, ließ mich ins Wasser gleiten und schwamm los, in Richtung der Lagune. Mir war klar, dass es verrückt war, mich so fortzuschleichen. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie aufgeregt ich war. Selbst in meinen wildesten Tagträumen als William Deep junior, der berühmte Unterwasserforscher, hatte ich mir nicht ausgemalt, dass ich jemals eine echte, leibhaftige Meerjungfrau zu Gesicht bekommen würde! Während ich auf die Lagune zuschnorchelte, überlegte ich, wie sie wohl aussah. Mr. Showalter hatte gesagt, dass sie wie ein junges Mädchen aussah, mit langen blonden Haaren und einem grünen Fischschwanz. Verrückt, dachte ich. Halb Mensch, halb Fisch. Ich versuchte mir vorzustellen, ich hätte einen Fischschwanz anstelle meiner Beine. Mit einem Fischschwanz wäre ich der beste Schwimmer der Welt, dachte ich. Ich könnte die Olympischen Spiele gewinnen, ohne vorher großartig trainieren zu müssen. Ich fragte mich, ob sie hübsch war. Und ob sie überhaupt sprechen konnte. Ich hoffte es sehr, denn dann könnte sie mir etwas über die Geheimnisse des Meeres erzählen. Wie sie wohl unter Wasser atmete? Ob sie wie ein Mensch dachte oder wie ein Fisch? So viele Fragen ... Das wird das tollste Abenteuer meines ganzen Lebens, dachte ich. Wenn ich erst berühmt bin, werde ich ein Buch über meine Unterwasserabenteuer schreiben. Ich werde es Mut zur Tiefe 33
nennen, von William Deep junior. Vielleicht macht ja jemand sogar einen Film daraus. Ich hob den Kopf und bemerkte, dass ich mich dem Riff näherte. Jetzt hieß es, vorsichtig um die Feuerkorallen herumzuschwimmen. Ich hatte keine Lust, noch einmal mit ihnen in Berührung zu kommen. Ich konnte es kaum erwarten, die Lagune zu erforschen. Ich war so aufgeregt, dass ich den schrecklichen Traum, den ich in der Nacht gehabt hatte, völlig vergaß. Langsam, ganz langsam paddelte ich um das Riff herum und hielt nach den roten Korallen Ausschau. Ich war schon fast am Riff vorbei, als etwas an meinem Bein entlangstreifte. »Oh!«, schrie ich und schluckte vor Schreck eine Menge Salzwasser. Spuckend und würgend fühlte ich, wie sich etwas um meinen Knöchel schlang. Und mich kratzte. Diesmal wusste ich sicher, dass es kein Tang war. Tang hat keine Krallen!
Die Panik ignorierend, die mich fast erstarren ließ, trat und schlug ich mit aller Kraft um mich. »Hör auf! Hör auf mich zu treten!«, schrie eine Stimme. Die Meerjungfrau? »He...!«, schrie ich wütend auf, als Sheenas Kopf neben mir auftauchte. Sie schob ihre Taucherbrille nach oben. »So fest hab ich dich auch wieder nicht gekratzt!«, schnauzte sie mich an. »Du musst deswegen nicht gleich völlig durchdrehen!« »Was tust du hier?«, rief ich. »Und was tust du hier?«, fragte sie biestig zurück. »Du weißt doch, dass Dr. D. uns verboten hat, hierher zu schwimmen.« 34
»Dann solltest du also nicht hier sein — oder?«, schrie ich. »Mir war klar, dass du irgendwas vorhast, deshalb bin ich dir gefolgt«, antwortete Sheena und rückte ihre Brille zurecht. »Ich habe gar nichts vor«, log ich. »Ich schnorchle nur einfach so.« »Klar, Billy. Du schnorchelst um halb sieben Uhr morgens einfach nur so herum und ausgerechnet an einer Stelle, an der du nicht sein solltest - und wo du dir gestern die Füße an den Feuerkorallen verbrannt hast. Entweder hast du etwas vor, oder du bist total übergeschnappt!« Sie schaute mich mit schiefem Kopf an und wartete darauf, dass ich etwas erwiderte. Was für eine Alternative! Entweder hatte ich etwas ' vor, oder ich war verrückt. Wozu sollte ich mich bekennen? Gab ich zu, dass ich etwas vorhatte, müsste ich ihr von der Meerjungfrau erzählen — und das konnte ich nicht. »Okay«, sagte ich und zuckte die Achseln. »Ich schätze, ich bin verrückt.« »Als ob das was Neues wäre«, brummte sie. »Los, komm, wir schwimmen zum Schiff zurück, Billy. Dr. D. sucht uns bestimmt schon.« »Schwimm du zurück. Ich bleibe noch ein Weilchen hier.« »Billy«, sagte Sheena. »Dr. D. wird stinksauer werden. Wahrscheinlich ist er schon drauf und dran, ins Schlauchboot zu hüpfen und uns zu suchen.« Ich wollte gerade aufgeben und mit ihr zurückschwimmen, als ich aus den Augenwinkeln auf der anderen Seite des Riffs etwas spritzen sah. Die Meerjungfrau!, dachte ich. Das muss sie sein! Wenn ich mich jetzt nicht nach ihr umsehe, werde ich vielleicht die Gelegenheit meines Lebens verpassen! Ich wandte mich von Sheena ab und schwamm schnell los, geradewegs auf das Riff zu. Schon konnte ich Sheena schreien hören: »Billy! Komm zurück! Billy!« In ihrer Stimme schwang leichte Panik mit, aber ich kümmerte mich nicht darum. Sheena wollte mir sicher nur wieder Angst einjagen. »Billy!«, brüllte sie noch einmal. »Billy!« 35
Ich schwamm unbeirrt weiter. Jetzt aufzugeben kam überhaupt nicht in Frage. Aber wie sich herausstellte, hätte ich lieber auf sie hören sollen.
Während ich schwamm, sah ich mich nach einer geeigneten Stelle um, an der ich die Feuerkorallen sicher überqueren konnte. Wieder sah ich es spritzen. Auf der anderen Seite der Lagune. In der Nähe des Strandes. Das muss die Meerjungfrau sein!, dachte ich aufgeregt. Ich starrte wie gebannt auf die Stelle und versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen. Aber alles, was ich sah, war eine Art Rückenflosse. Ich schwamm am Riff vorbei in das tiefe, ruhige Wasser der Lagune. Wieder gab ich mir alle Mühe, die Meerjungfrau zu entdecken, aber plötzlich beschlug meine Taucherbrille. Verflixt!, dachte ich, ausgerechnet jetzt muss meine Taucherbrille undicht werden! Ich tauchte auf und setzte die Taucherbrille ab. Ich hoffte, die Meerjungfrau deswegen nicht aus den Augen zu verlieren. Nachdem ich mir das Wasser aus den Augen gewischt und die Taucherbrille ums Handgelenk gehängt hatte, schaute ich zur Lagune hinüber. Das war der Moment, in dem ich sie sah. Ein paar hundert Meter entfernt. Nicht den grünen Schwanz einer Meerjungfrau. Ich sah eine Flosse, die als weiß-graues Dreieck aus dem Wasser aufragte. Die Rückenflosse eines Hammerhais. Während ich sie noch voller Entsetzen anstarrte, wendete die Rückenflosse im Wasser und kam schnurgerade und unaufhaltsam wie ein Torpedo auf mich zugeschossen. 36
Wo war Sheena? War sie noch immer hinter mir? Ich warf einen Blick zurück und sah sie weit entfernt zum Schiff zurückschwimmen. Aber mir blieb keine Zeit, einen weiteren Gedanken an Sheena zu verschwenden, denn die graue Rückenflosse kam jetzt rasch näher. Ich beschloss vor dem Hai wegzuschwimmen und ruderte wild mit den Armen durchs Wasser. Aber er war schneller. Als er auf gleicher Höhe mit mir war, hörte ich auf mit den Armen zu schlagen und er zog an mir vorbei. Würde er sich verziehen? Würde er mich unbehelligt lassen? Mit klopfendem Herzen machte ich kehrt und schwamm in die andere Richtung. Auf das Riff zu. Fort von dem Hai. Meine Augen klebten an der Rückenflosse. Sie machte ebenfalls kehrt und steuerte in einem weiten Bogen auf mich zu. »Ahhh!« Ich stieß einen entsetzten Schrei aus, als mir klar wurde, dass er mich einkreiste. Nun wusste ich nicht mehr, in welche Richtung ich flüchten sollte. Der Hai schwamm zwischen mir und dem Schiff. Wenn ich umdrehte und es zum Riff schaffte, wäre ich vielleicht in Sicherheit. Die große Rückenflosse glitt näher. Ich kämpfte mich auf das Riff zu. Mir war klar, dass ich den Abstand zwischen mir und dem Hai halten musste. Plötzlich schoss die Rückenflosse vorwärts — und schob sich zwischen mich und das Riff. Der Hai umkreiste mich weiter, schwamm schneller und schneller und zog seine Kreise immer enger. Ich saß in der Falle. Aber ich konnte doch nicht einfach anhalten! Ich konnte nicht auf der Stelle ausharren und darauf warten, dass der Hai mich fraß. Ich musste kämpfen. Mit aller Kraft hielt ich weiter auf das Riff zu. 37
Nun war ich schon ganz nahe am Riff. Aber die Kreise des Hais wurden enger und enger. Ich atmete in kurzen, flachen Stößen. Vor Angst konnte ich nicht mehr klar denken. Nur noch zwei Wörter hallten in meinem Kopf wider: Der Hai. Der Hai. Wieder und immer wieder. Der Hai. Der Hai. Der Hai umschwamm mich in engen Kreisen. Sein Schwanz peitschte dabei so heftig auf und ab, dass hohe Wellen über mir zusammenschlugen. Der Hai. Der Hai. In panischem Entsetzen starrte ich ihm mit aufgerissenen Augen entgegen. Er schwamm so nahe heran, dass ich ihn deutlich sehen konnte. Er war riesig — mindestens drei Meter lang. Sein Kopf war breit und lang gezogen wie ein Hammerkopf, an dessen beiden Enden je ein Auge saß. Ein grässlicher, Furcht erregender Anblick. Ich hörte mich bebend sagen: »Nein... nein...« Dann streifte etwas Kaltes mein Bein. Der Hai. Der Hai. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich warf den Kopf zurück und heulte laut auf. »Aaaaaiiii!« Plötzlich zuckte ein Schmerz mir das Rückgrat hinunter. Der Hai hatte mir mit seiner Schnauze einen Stoß versetzt. Ich wurde hoch in die Luft geschleudert und landete mit einem Platsch wieder im Wasser. Ich erstarrte. Der Hai war hungrig. Er wollte kämpfen. Er umkreiste mich noch einmal und schoss dann geradewegs auf mich zu, mit aufgerissenem Maul. Ich sah mehrere Reihen scharfer Zähne. Ich stieß ein heiseres »Nein!« aus und schlug mit aller Kraft um mich. Die rasiermesserscharfen Zähne zischten an mir vorbei, sie verfehlten mein Bein nur um Haaresbreite. Das Riff. Ich musste unbedingt das Riff erreichen. Das war meine einzige Chance. Ich hechtete auf die Korallen zu, während der Hai heranschoss. Glücklicherweise konnte ich ihm ein weiteres Mal ausweichen 38
und griff nach den roten Korallen. Ein heftiger Schmerz fuhr mir durch die Hand, aber ich kümmerte mich nicht darum. Das Riff ragte ein knappes Stück aus dem Wasser heraus. Ich zog mich daran hoch, obwohl mein ganzer Körper brannte. Fast hatte ich es geschafft. Gleich würde ich in Sicherheit sein. Mit einem letzten kräftigen Schwung zog ich mich auf das Riff hinauf - da wurde ich ins Wasser zurückgerissen. Ich schrappte mit dem Bauch über das Riff. Mein Bein schmerzte fürchterlich und ich versuchte es wegzuziehen, aber es gelang mir nicht. Es steckte im Maul des Hais fest. Eine Stimme in meinem Kopf brüllte panisch. Der Hai. Der Hai. Er hatte mich geschnappt!
Mein ganzer Körper brannte, als ich ins Wasser zurückplatschte. Dem Hai war klar, dass er mich in seiner Gewalt hatte. Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren. Da spritzte ganz in der Nähe Wasser auf. Der Hai ließ mein Bein los und fuhr herum. Aber bevor ich Luft holen konnte, war er schon wieder zurück und griff mich an. Mit weit aufgerissenem Maul setzte er zum tödlichen Biss an. Ich schloss die Augen und stieß einen schrillen Schreckensschrei aus. Eine Sekunde verstrich. Dann noch eine. Nichts passierte. Plötzlich vernahm ich ein lautes, dumpfes Geräusch und schlug die Augen auf. Etwas hatte sich in zwei, drei Metern Entfernung zwischen mich und den Hai geschoben. 39
Ich starrte angestrengt hin. Das Wasser war aufgewirbelt worden und schäumte weiß. Mit einem Mal erhob sich ein langer grüner Fischschwanz aus dem Wasser und fiel dann platschend zurück. Ein anderer Fisch kämpfte mit dem Hai! Der Hai rollte sich herum, dann griff er an. Doch der grüne Fischschwanz versetzte ihm einen heftigen' Schlag und der Hai tauchte unter. Ich konnte nicht erkennen, was weiter passierte, da das Wasser sich auftürmte und hohe, schaumige Wellen nach allen Seiten schickte. Rings um mich her brodelte das Wasser und verwandelte sich in weißen Schaum. Über das Tosen des Wassers hinweg hörte ich ein schrilles Quieken. Haie quieken nicht, oder?, dachte ich. Wer oder was verursachte also diesen Laut? Plötzlich tauchte der Hai wieder auf, das Maul weit aufgerissen. Er schnappte nach etwas, einmal, zweimal. Doch er schnappte nur in die Luft. Jetzt erhob sich der lange grüne Fischschwanz wieder aus dem Wasser und schlug abermals heftig auf den Hai ein. Er landete einen Treffer auf dem breiten Hammerkopf. Der Hai klappte das Maul zu und versank im Wasser. Dann vernahm ich ein lautes, dumpfes Wumm! Das Wasser hörte zu brodeln auf. Eine Sekunde später tauchte die graue Rückenflosse ein paar Meter entfernt an der Wasseroberfläche auf und flitzte davon. Der Hai schwamm fort! Ich starrte den grünen Fischschwanz an, der sich über das dunkle, aufgewühlte Wasser bog. Als sich das Wasser beruhigt hatte, hörte ich einen leisen, melodischen Klang. Er war wunderschön und ein bisschen traurig. Als ob jemand gleichzeitig pfiff und summte. Es hörte sich ein wenig wie ein Wal an. Aber dieses Wesen war viel kleiner als ein Wal. Der grüne Schwanz schwang herum, dann hob das Wesen seinen Kopf. Einen Kopf mit langem blondem Haar. Die Meerjungfrau! 40
Während ich sie mit großen Augen anstarrte, vergaß ich meine Schmerzen völlig. Zu meiner Verblüffung sah die Meerjungfrau genauso aus, wie die Leute vom Zoo sie beschrieben hatten. Ihr Kopf und ihr Oberkörper waren kleiner als meiner, aber ihr leuchtend grüner Schwanz war lang und kräftig. Ihre großen meergrünen Augen blitzten. Ihre Haut strahlte in zartem Rosa. Es gibt sie wirklich!, dachte ich. Und sie ist wunderschön! Schließlich fand ich meine Stimme wieder. » Du... du hast mich gerettet«, stotterte ich. »Du hast mir das Leben gerettet. Danke!« Sie schlug scheu die Augen nieder und gurrte mir mit ihren rosa Lippen etwas zu. Was versuchte sie mir zu sagen? »Womit kann ich mich revanchieren?«, fragte ich sie. »Ich tue alles für dich, was in meiner Macht steht.« Sie lächelte und ließ wieder ein leises Summen ertönen. Sie versuchte mit mir zu reden. Ich wünschte mir, ich hätte sie verstehen können. Sie griff nach meiner Hand und untersuchte sie. Als sie die roten Striemen sah, die mir die Feuerkorallen zugefügt hatten, runzelte sie die Stirn. Ihre Hand fühlte sich kühl an. Sie strich damit über meine Handfläche und meine Schmerzen verschwanden. »Wow!«, rief ich. Ich muss mich ziemlich doof angehört haben, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Ihre Berührung war wie Zauberei. Solange sie meine Hand hielt, schwebte ich mühelos im Wasser, ohne mich bewegen zu müssen. Genauso wie sie. War das etwa auch wieder nur ein Traum? Um das zu überprüfen, schloss ich die Augen und öffnete sie dann wieder. Ich trieb noch immer im Meer und starrte die Meerjungfrau an. Nein. Das war kein Traum. Sie lächelte wieder, schüttelte den Kopf und ließ dabei die melodischen Laute ertönen. Ich konnte kaum glauben, dass ich noch vor wenigen Minuten verzweifelt mit einem Hai gekämpft hatte. 41
Suchend blickte ich um mich, aber der Hai war verschwunden. Das Wasser hatte sich inzwischen beruhigt und schimmerte nun wie Gold im Licht der Morgensonne. Und mittendrin schwamm ich mit einer echten Meerjungfrau vor einer verlassenen kleinen Insel im Meer. Das glaubt mir Sheena nie, dachte ich. Nicht in einer Million Jahren. Plötzlich schlug die Meerjungfrau mit ihrem Schwanz aus und verschwand unter der Wasseroberfläche. Verdattert sah ich mich nach ihr um. Sie war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen — keine Wellen, keine Blasen. Wo ist sie hin?, wunderte ich mich. Hat sie mich einfach so verlassen? Werde ich sie nie wieder sehen? Ich rieb mir die Augen und schaute mich noch einmal nach ihr um. Aber ich konnte nirgends eine Spur von ihr entdecken. Nur ein paar Fische huschten an mir vorbei. Sie war so plötzlich verschwunden, dass ich überlegte, ob ich vielleicht doch nur geträumt hatte. Aber genau in diesem Moment spürte ich ein leichtes Zwicken an meinem Fuß. »Autsch!«, schrie ich und wich panisch zurück. War der Hai zurückgekehrt? Da hörte ich hinter mir ein leises Plätschern und ein pfeifendes Kichern. Ich drehte mich um. Die Meerjungfrau lächelte mich spitzbübisch an und machte mit den Fingern eine zwickende Bewegung. »Du warst das!«, rief ich und lachte erleichtert. »Du bist ja noch schlimmer als meine kleine Schwester!« Sie pfiff wieder und klatschte mit dem Schwanz auf die Wasseroberfläche. Plötzlich fiel ein dunkler Schatten über ihr Gesicht. Ich hob den Blick, um zu sehen, woher er kam. Zu spät. Ein schweres Netz fiel über uns beide und hüllte uns ein. Erschrocken schlug ich mit Armen und Beinen um mich, doch dadurch verfing ich mich nur noch fester in den Schnüren. Hiflos mussten wir zusehen, wie sich das Netz um uns 42
zusammenzog und wir eng aneinander gedrückt wurden. Dann wurden wir mit dem Netz hochgezogen. Die Meerjungfrau riss die Augen weit auf und quiekte in panischer Angst. »IIIHHH!« Wir wurden aus dem Wasser gehievt. »IIIHHHH!« Das verängstigte Heulen der Meerjungfrau schwoll wie eine Sirene an und übertönte meine eigenen kläglichen Hilferufe.
»Billy — das glaub ich nicht!« Ich starrte durch die Maschen des Netzes nach oben und erkannte Dr. D. und Sheena, die uns gerade ins Schlauchboot zogen. Sheena blickte verblüfft auf mich und die Meerjungfrau herab. Auch Dr. D. hatte die Augen weit aufgerissen und sein Mund stand offen. »Du hast sie gefunden, Billy!«, sagte er. »Du hast die Meerjungfrau tatsächlich gefunden!« »Holt mich bloß schnell aus diesem Netz raus!«, schrie ich. Irgendwie fand ich die Idee, die Meerjungfrau zu fangen, nun gar nicht mehr so toll. »Die Leute vom Zoo hatten Recht«, murmelte Dr. D. vor sich hin. »Das ist unglaublich! Das ist erstaunlich. Das ist historisch...« Wir landeten in einem Knäuel auf dem Boden des Schlauchboots. Neben mir zappelte die Meerjungfrau und stieß spitze, zornige, klickende Geräusche aus. Dr. D. musterte sie eingehend und berührte ihren Schwanz. Die Meerjungfrau schlug damit heftig auf den Boden des Bootes. »Kann das irgendwie ein Trick sein?«, fragte er sich selbst laut. »Billy - ist das wieder einer deiner blöden Streiche?«, wollte Sheena argwöhnisch wissen. 43
»Es ist kein Trick«, sagte ich. »Könntet ihr mich jetzt vielleicht endlich aus dem Netz herausholen? Die Schnüre schneiden in meine Haut ein.« Sie beachteten mich nicht. Sheena streckte behutsam einen Finger durchs Netz und berührte die Schuppen am Schwanz der Meerjungfrau. »Ich kann's nicht fassen«, murmelte sie. »Sie ist wirklich echt!« »Natürlich ist sie echt!«, schrie ich. »Wir sind beide echt und wir liegen hier beide sehr unbequem!« »Nun, es ist schwer, dir noch irgendwas zu glauben«, maulte Sheena. »Nach allem, was du über Meeresungeheuer erzählt hast, seit wir hier sind.« »Ich habe aber wirklich ein Meeresungeheuer gesehen!«, schrie ich. »Ruhig, Kinder«, sagte Dr. D. »Wir sollten unsere Entdeckung schnell ins Labor bringen.« Er warf den Motor des Schlauchbootes an und wir ratterten zum Schiff zurück. Alexander wartete schon an Deck auf uns. »Es ist also wirklich wahr!«, rief er aufgeregt. » Es ist wirklich eine Meerjungfrau!« Sheena vertäute das Schlauchboot an der Cassandra, während Dr. D. und Alexander die Meerjungfrau und mich an Bord hievten. Dr. D. öffnete das Netz und half mir heraus. Die Meerjungfrau schlug mit dem Schwanz aus und verhedderte sich damit nur noch mehr in den Maschen. Alexander schüttelte mir die Hand. »Ich bin stolz auf dich, Billy. Wie hast du das angestellt? Es ist erstaunlich.« Er schlug mir kräftig auf den Rücken. »Ist dir klar, dass dies der großartigste Meeresfund des Jahrhunderts ist? Vielleicht sogar aller Zeiten?« »Danke«, sagte ich. »Aber ich habe gar nichts getan. Ich hab nicht sie gefunden - sie hat mich gefunden.« Die Meerjungfrau zappelte wild auf dem Deck herum. Ihr Quieken wurde immer schriller und verzweifelter. Alexanders Miene wurde besorgt. »Wir müssen etwas für sie tun«, sagte er drängend. »Dr. D., du musst sie freilassen«, sagte ich. »Sie muss ins Wasser zurück.« 44
»Ich werde das große Becken mit Meerwasser füllen, Dr. D.«, sagte Alexander und eilte los. »Wir können sie jetzt noch nicht freilassen, Billy«, sagte Dr. D. »Nicht, bevor wir sie untersucht haben.« Seine Augen blitzten vor Begeisterung. Aber dann fiel ihm auf, wie aufgebracht ich war. »Wir tun ihr nicht weh, Billy. Ihr wird nichts passieren.« Seine Augen blieben an meinem Bein hängen und er runzelte die Stirn. Er kniete sich hin, um es sich genauer anzusehen. »Du blutest ja, Billy«, sagte er. »Alles in Ordnung mit dir?« »Mir geht's gut«, sagte ich. »Aber der Meerjungfrau nicht.« Er überhörte das. »Wie ist das passiert?«, fragte er. »Ein Hai hat mich am Bein gepackt«, erklärte ich ihm. »Und gerade, als er mich mit sich ziehen wollte, ist die Meerjungfrau gekommen. Sie hat mir das Leben gerettet. Du hättest sehen sollen, wie sie mit dem Hai kämpfte.« Dr. D. drehte sich zur Meerjungfrau um und starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Wow«, sagte Sheena. »Sie hat einen Hai in die Flucht geschlagen? Ganz alleine?« Die Meerjungfrau schlug mit ihrem grünen Schwanz wütend aufs Schiffsdeck. »IIHHH! IIIHHH!«, heulte sie schrill. Es klang, als würde sie schreien. »Vergiss mein Bein«, rief ich. »Du musst die Meerjungfrau freilassen!« Dr. D. stand auf und schüttelte den Kopf. »Billy, ich bin Wissenschaftler. Diese Meerjungfrau ist eine äußerst wichtige Entdeckung. Ich bin es der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft schuldig, sie zu untersuchen. Der ganzen Welt bin ich es schuldig!« »Du willst doch nur die Million Dollar«, maulte ich. Mir war klar, dass das fies war, aber ich war jetzt richtig in Fahrt gekommen. Ich hielt es nicht aus, die Meerjungfrau so unglücklich zu sehen. Dr. D. sah gekränkt aus. 45
»Das ist nicht fair, Billy«, sagte er. »Ich denke, du weißt, dass das nicht stimmt.« Ich wich seinem Blick aus und tat so, als würde ich die Wunde an meinem Bein betrachten. Sie war nicht sehr tief. Alexander hatte mir ein Mullläppchen gegeben, das ich auf die Wunde drückte. »Ich will das Geld nur, um mit meiner Forschungsarbeit weitermachen zu können«, fuhr Dr. D. fort. »Ich würde die Meerjungfrau niemals dafür benutzen, reich zu werden.« Das stimmte. Ich wusste, dass Dr. D. an Geld für sich selbst nicht sonderlich interessiert war. Alles, was er wollte, war, weiterhin die Fischwelt zu erforschen. »Denk doch mal drüber nach, Billy. Du hast eine Meerjungfrau gefunden! Ein Wesen, von dem wir alle dachten, es würde gar nicht existieren! Wir können sie nicht einfach gehen lassen. Wir müssen ein bisschen was über sie herausfinden«, sagte er aufgeregt. Ich schwieg. »Wir tun ihr nichts zu Leide, Billy. Das verspreche ich dir.« Alexander kam zurück. »Das Becken ist bereit, Dr. D.« »Danke.« Dr. D. folgte ihm zur anderen Seite des Schiffes. Ich warf Sheena einen Blick zu, um festzustellen, auf wessen Seite sie stand. War sie dafür, die Meerjungfrau hier zu behalten? Oder sie freizulassen? Doch Sheena stand nur da und schaute vor sich hin. Ihre Miene war angespannt. Ich konnte sehen, dass sie sich nicht im Klaren darüber war, wer von uns Recht hatte. Aber als ich zur Meerjungfrau blickte, wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass ich Recht hatte. Sie hatte endlich aufgehört zu zappeln und mit dem Schwanz um sich zu schlagen. Jetzt lag sie, vom Netz umhüllt, still auf dem Deck. Sie atmete heftig und blickte mit feuchten, traurigen Augen auf das Meer hinaus. Ich wünschte mir, ich hätte mich nie auf die Suche nach ihr gemacht. Nun wollte ich nur noch einen Weg finden, wie ich ihr dabei helfen konnte, nach Hause zurückzukehren. Dr. D. und Alexander kamen zurück und hoben sie samt Netz auf. Alexander nahm ihren Schwanz und Dr. D. ihren Kopf. »Zapple nicht, kleine Meerjungfrau«, sagte Dr. D. mit beruhigender Stimme. »Halt still.« 46
Die Meerjungfrau schien ihn zu verstehen. Sie bewegte sich nicht, aber sie rollte mit den Augen und stöhnte leise. Dr. D. und Alexander trugen sie zu dem riesigen Glasbecken, das nun mit frischem Meerwasser gefüllt auf dem Deck stand. Sie hoben die Meerjungfrau behutsam in das Becken und streiften ihr, während sie ins Wasser glitt, das Netz ab. Dann legten sie einen Gitterdeckel oben auf das Becken und verriegelten ihn. Die Meerjungfrau wühlte mit ihrem Schwanz das Wasser auf. Nach einer Weile wurden ihre Bewegungen allmählich langsamer und schließlich war sie ganz ruhig. Ihr Körper sank wie leblos auf den Beckenboden hinab. Sie rührte sich nicht und atmete nicht. »Neeiin!« Mir entfuhr ein wütender Schrei. »Sie ist tot! Sie ist tot! Wir haben sie umgebracht!.«
Sheena war auf die andere Seite des Beckens gelaufen. »Billy, guck mal...!«, rief sie mir zu. Ich eilte zu ihr. »Die Meerjungfrau ist nicht tot«, informierte mich Sheena und deutete auf sie. »Sieh nur. Sie — sie weint oder so.« Meine Schwester hatte Recht. Die Meerjungfrau war auf den Boden gesackt und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. »Was tun wir jetzt?«, fragte ich. Ich bekam keine Antwort. »Wir müssen eine Methode finden, sie zu füttern«, sagte mein Onkel, die Augen auf das Becken geheftet, und rieb sich das Kinn. »Denkt ihr, sie ernährt sich wie ein Mensch oder wie ein Fisch?«, fragte ich. »Wenn sie uns das doch nur sagen könnte«, meinte Alexander. »Sie kann nicht sprechen, Billy, oder?« »Ich denke nicht«, sagte ich. »Sie macht nur Geräusche. Sie pfeift und klickt und summt.« 47
»Ich geh runter ins Labor und bereite einige Geräte vor«, sagte Alexander. »Vielleicht können wir mit Ultraschall etwas über sie herausfinden.« »Gute Idee«, sagte Dr. D. nachdenklich. Alexander eilte nach unten. »Ich denke, ich sollte nach Santa Anita fahren und ein paar Vorräte besorgen«, sagte Dr. D. Santa Anita war die nächste bewohnte Insel. »Ich werde die verschiedensten Lebensmittel kaufen. Wir können ihr alle nacheinander anbieten, bis wir etwas finden, was sie mag. Gibt es etwas, was ich euch beiden mitbringen soll, wenn ich schon mal dort bin?« »Wie war's mit Erdnussbutter?«, fragte Sheena rasch. »Ein Erdnussbuttersandwich kann Alexander doch unmöglich vermurksen!« Dr. D., der schon ins Schlauchboot kletterte, nickte. »Erdnussbutter also. Sonst noch was? Billy?« Ich schüttelte den Kopf. »Also gut«, sagte Dr. D. »In ein paar Stunden bin ich wieder da.« Er startete den Motor und das Schlauchboot preschte in Richtung Santa Anita davon. »Es ist so heiß«, beklagte sich Sheena. »Ich gehe für eine Weile in meine Kabine hinunter.« »Okay«, sagte ich, die Augen auf die Meerjungfrau gerichtet. Es war wirklich heiß an Deck. Nicht ein Windhauch war zu spüren und die grelle Nachmittagssonne knallte mir ins Gesicht. Aber ich konnte nicht unter Deck gehen. Ich konnte die Meerjungfrau doch nicht alleine lassen. Sie saß hinter der Glasscheibe bewegungslos im Wasser und ließ den langen Schwanz nach unten hängen. Als sie mich sah, presste sie Hände und Gesicht an die Scheibe und gurrte betrübt. Ich winkte ihr durchs Glas hindurch zu. Sie gurrte und summte mit leiser Stimme, als ob sie sich mit mir unterhalten wollte. Ich lauschte und versuchte sie zu verstehen. »Bist du hungrig?«, fragte ich sie. Sie schaute mich ausdruckslos an. 48
»Bist du hungrig?«, wiederholte ich und rieb mir dabei über den Bauch. »Mach so« - ich nickte mit dem Kopf auf und ab - »für Ja. Und so für Nein.« Ich drehte den Kopf hin und her. Ich hielt inne und wartete ab, wie sie reagierte. Sie nickte mit dem Kopf: Ja. »Ja?«, sagte ich. »Du bist hungrig?« Sie schüttelte den Kopf: Nein. »Nein? Du bist nicht hungrig?« Sie nickte mit dem Kopf: Ja. Dann schüttelte sie ihn wieder: Nein. Sie ahmt mich nur nach, dachte ich. Sie versteht mich nicht wirklich. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. Sie ist jung, dachte ich. Sie ist mir irgendwie sehr ähnlich. Das bedeutet, dass sie hungrig sein muss. Und wahrscheinlich mag sie das, was ich auch gerne esse. Vielleicht. Einen Versuch war es jedenfalls wert. Ich lief in die Kombüse hinunter, öffnete einen Schrank und holte eine Packung Kekse mit Schokosplittern heraus. Okay, das sind zwar nicht gerade Meeresfrüchte, dachte ich. Aber wem würden Kekse mit Schokosplittern nicht schmecken? Ich nahm ein paar Kekse heraus und verstaute die Packung anschließend wieder im Schrank. In dem Moment kam Alexander auf dem Weg ans Deck durch die Kombüse. Er trug einige Geräte im Arm. »Du holst dir was zu futtern?«, fragte er mich. »Für die Meerjungfrau«, erklärte ich ihm. »Meinst du, sie mag Kekse?« Er zuckte mit seinen breiten Schultern und sagte: »Wer weiß?« Ich ging zurück an Deck und er folgte mir mit seiner Ausrüstung. »Was sind das alles für Geräte?«, fragte ich ihn auf dem Weg. »Ich dachte, wir sollten die Meerjungfrau ein paar Tests unterziehen, vielleicht können wir ja etwas über sie herausfinden«, sagte Alexander. »Aber füttere sie ruhig erst einmal.« »Gut«, sagte ich. »Dann wollen wir mal gucken.« Ich hielt einen Keks vor die Glasscheibe. Die Meerjungfrau schaute ihn an, aber ich konnte nicht feststellen, ob ihr klar war, was das war. 49
»Mmmhh«, sagte ich und klopfte mir auf den Magen. »Lecker.« Die Meerjungfrau klopfte sich, mich nachahmend, ebenfalls auf den Bauch. Dann schaute sie mich mit ihren meergrünen Augen verständnislos an. Alexander griff nach dem Verschluss des Beckendeckels und entriegelte ihn. Ich reichte ihm den Keks und er ließ ihn ins Becken fallen. Die Meerjungfrau sah zu, wie er durchs Wasser auf sie zuschwebte. Sie machte keine Anstalten, sich ihn zu schnappen. Als er schließlich bei ihr ankam, war er durchgeweicht. Er fiel auseinander. »Igitt«, sagte ich. »Nicht einmal ich würde ihn jetzt noch essen.« Die Meerjungfrau schob die durchgeweichten Kekskrümel beiseite. »Vielleicht hat Dr. D. nachher ja etwas dabei, das sie mag«, sagte Alexander. »Das hoffe ich«, antwortete ich. Alexander stellte seine Geräte auf und hängte ein Thermometer sowie einige weiße Plastikschläuche in das Becken. »Oh, Mann«, schimpfte Alexander kopfschüttelnd. »Ich habe mein Notizbuch vergessen.« Er eilte noch einmal hinunter ins Labor. Ich beobachtete währenddessen die Meerjungfrau, die traurig durchs Becken schwamm, aus dem jetzt lauter Schläuche heraushingen. Sie erinnerte mich an die Fische unten im Labor. Nein, dachte ich. Sie ist kein Fisch. Und sie sollte nicht so behandelt werden. Mir fiel wieder ein, wie sie gegen den Hai gekämpft hatte. Sie hätte dabei getötet werden können. Ganz leicht sogar. Aber sie hatte trotzdem mit dem Hai gekämpft, nur um mir zu helfen. Die Meerjungfrau gurrte und ich sah, dass sie sich Tränen abwischte, die ihr übers Gesicht liefen. Sie weint wieder, dachte ich und fühlte mich schuldig und mies. Sie bittet mich um Hilfe. Ich drückte mein Gesicht an die Glasscheibe, so dicht an ihr Gesicht wie möglich. Ich muss ihr helfen, dachte ich. Ich legte einen Finger an die Lippen. »Pssst«, flüsterte ich. »Bleib ruhig. Ich muss jetzt rasch handeln!« 50
Mir war klar, dass ich im Begriff war, etwas zu tun, was Dr. D. ziemlich sauer machen würde. Wahrscheinlich würde mir mein Onkel nie verzeihen. Doch das war mir schnuppe. Ich würde das tun, was ich für richtig hielt. Ich würde die Meerjungfrau freilassen!
Meine Hand zitterte, als ich sie ausstreckte, um den Deckel des Beckens zu öffnen. Das Becken war höher als ich und ich wusste noch nicht so recht, wie ich die Meerjungfrau da herausbekommen sollte. Aber ich musste eine Möglichkeit finden. Während ich mich noch damit abmühte, den Deckel abzunehmen, fing die Meerjungfrau zu quieken an: »Iihh! IIIHHH!« »Pssst! Mach jetzt bloß keinen Lärm!«, warnte ich sie. Da packte mich plötzlich eine Hand am Arm. Ich keuchte verblüfft auf. Eine tiefe Stimme fragte: »Was tust du da?« Ich drehte mich um und stand Alexander gegenüber. Ich trat vom Becken zurück und er ließ meinen Arm los. »Billy, was wolltest du da eben tun?«, fragte er mich noch einmal. »Ich wollte sie freilassen!«, schrie ich. »Alexander, ihr dürft sie nicht da drin gefangen halten! Sieh doch nur, wie unglücklich sie ist!« Wir blickten beide zur Meerjungfrau, die wieder auf dem Boden des Beckens kauerte. Ich denke, ihr war klar, dass ich ihr zu helfen versucht hatte — und dass ich daran gehindert worden war. Auf Alexanders Gesicht entdeckte ich einen Anflug von 51
Traurigkeit. Es war deutlich zu sehen, dass sie ihm ebenfalls Leid tat. Aber er hatte seinen Job zu erledigen. Er wandte sich mir zu und legte mir einen Arm um die Schultern. »Billy, du musst verstehen, wie wichtig diese Meerjungfrau für deinen Onkel ist«, sagte er. »Er hat sein ganzes Leben lang auf eine Entdeckung wie diese gewartet. Es würde ihm das Herz brechen, wenn du sie freiließest.« Während er redete, führte er mich langsam vom Aquarium weg. Ich drehte mich noch einmal nach der Meerjungfrau um. »Aber was ist mit ihrem Herzen?«, fragte ich. »Ich denke, es bricht ihr das Herz, in dieses Fischbecken eingesperrt zu sein.« Alexander seufzte. »Es ist nicht ideal, das weiß ich auch. Aber es ist doch nur vorübergehend. Bald wird sie genug Platz zum Schwimmen und Spielen haben.« Aber klar doch, dachte ich grimmig. Im Zoo, wo sie tagtäglich von Millionen von Leuten begafft wird. Alexander nahm seinen Arm von meiner Schulter und rieb sich das Kinn. »Dein Onkel ist ein sehr fürsorglicher Mensch, Billy«, sagte er. »Er wird sein Bestes tun, um sicherzustellen, dass die Meerjungfrau alles bekommt, was sie braucht. Aber es ist seine Pflicht, sie zu erforschen. Das, was er über sie herausfinden kann, könnte dazu beitragen, dass die Menschen die Ozeane besser verstehen lernen und sich besser um sie kümmern. Das ist schließlich wichtig, stimmt's?« »Ich schätze schon«, sagte ich. Alexander hatte da ein gutes Argument vorgebracht. Außerdem hatte ich Dr. D. sehr gerne und wollte ihm seine große Entdeckung nicht verderben. Aber trotzdem - die Meerjungfrau sollte nicht für die Wissenschaft leiden müssen, fand ich. »Komm mit, Billy«, sagte Alexander. »Ich habe versprochen dir zu zeigen, wie das Echolot funktioniert, stimmt's? Lass uns ins Labor hinuntergehen.« Im Hinuntersteigen sah ich mich noch einmal nach der Meerjungfrau um. Sie hockte noch immer einsam und verlassen am Beckenboden. Sie hatte den Kopf gesenkt und ihr blondes Haar schwebte wie Seetang um sie herum. 52
Das Echolot war lange nicht so interessant, wie ich gedacht hatte. Es piepste zur Warnung, wenn die Cassandra auf Grund zu laufen drohte. Ich schätze, Alexander merkte, dass ich in Gedanken nicht beim Echolot war. »Wie war's mit Mittagessen?«, fragte er mich. O-oh. Mittagessen. Ich war tatsächlich hungrig, aber ich hatte keinen Appetit auf höllenscharfen Hühnchensalat. Ich zögerte. »Na ja, ich habe ziemlich ausgiebig gefrühstückt...« »Ich mache uns was ganz Besonderes«, bot Alexander mir an. »Wir könnten oben an Deck bei der Meerjungfrau ein kleines Picknick veranstalten. Komm mit.« Was blieb mir anderes übrig? Ich folgte ihm in die Küche. Er öffnete den kleinen Kühlschrank und holte eine Schüssel heraus. »Das habe ich schon heute Morgen eingelegt«, sagte er. Ich schaute in die Schüssel. Sie war mit dünnen weißen Streifen gefüllt, die wie Gummi aussahen. Sie schwammen in einer öligen dunkelgrauen Flüssigkeit. Was immer das war, ich wusste schon jetzt, dass ich es nicht hinunterbringen würde. »Das ist marinierter Tintenfisch«, sagte Alexander. »Zur Geschmacksverfeinerung habe ich ein paar Tropfen Tintenfischtinte dazugegeben. Darum ist die Marinade so grau.« »Mmhh«, sagte ich, während ich mit den Augen rollte. »Ich habe schon seit Tagen keine Tintenfischtinte mehr gegessen!« »Sei nicht so bissig. Du wirst überrascht sein, wie . gut es schmeckt«, entgegnete Alexander. Er reichte mir die Schüssel. »Du kannst das schon mal an Deck tragen. Ich bringe gleich Brot und Eistee hinterher.« Wie befohlen trug ich die Schüssel mit den Tintenfischstreifen an Deck und stellte sie in der Nähe des großen Beckens ab. »Wie geht's dir, Meerjungfrau?«, fragte ich sie. Sie wackelte ein bisschen mit dem Schwanz. Dann klappte sie den Mund auf und zu, als ob sie kauen würde. »Hey«, sagte ich. »Du hast Hunger, stimmt's?« Sie fuhr fort ihre Kaubewegungen zu machen. Ich schielte auf die Schüssel mit den Tintenfischstreifen. 53
Wer weiß?, dachte ich. Das ist vielleicht genau das, was ihr schmeckt. Ich stellte mich auf eine Querstange der Reling und' öffnete den Deckel des Beckens. Dann ließ ich einen der gummiartigen Tintenfischstreifen hineinfallen. Die Meerjungfrau schnellte vorwärts und schnappte ihn sich mit dem Mund. Sie kaute, dann lächelte sie. Es schmeckte ihr! Ich gab ihr mehr davon und sie futterte alles auf. Ich rieb mir den Bauch. »Schmeckt es dir?«, fragte ich sie. Ich nickte: Ja. Sie lächelte wieder. Dann nickte sie: Ja. Sie verstand mich! »Was machst du da, Billy?«, fragte Alexander. Er war an Deck gekommen und hatte zwei Teller mit aufgeschnittenem Brot in den Händen. »Alexander, sieh nur!«, rief ich. »Wir können uns verständigen!« Ich warf noch ein Stück Tintenfisch ins Becken. Sie aß es. Dann nickte sie: Ja. »Das bedeutet, dass es ihr schmeckt!«, sagte ich. »Wow«, murmelte Alexander. Er stellte die Teller ab und nahm sein Notizbuch zur Hand. Er kritzelte etwas hinein. »Ist das nicht total toll?«, wollte ich wissen. »Ich bin auch ein Wissenschaftler, Alexander — oder etwa nicht?« Er nickte, schrieb aber weiter. »Ich meine, ich bin der erste Mensch auf der Welt, der sich mit einer Meerjungfrau verständigt — stimmt's?«, hakte ich nach. »Wenn sie lange genug bei uns bleibt, kannst du dich vielleicht in Zeichensprache mit ihr unterhalten«, sagte er. »Denk nur mal dran, was wir alles von ihr erfahren könnten!« Er sprach laut aus, was er aufschrieb: »Isst gerne Tintenfisch.« Dann setzte er den Stift ab und sagte: »He, warte mal! Das ist unser Mittagessen!« O je, dachte ich. Hoffentlich ist er jetzt nicht eingeschnappt. Er sah erst mich an, dann die Schüssel und dann die Meerjungfrau. Plötzlich lachte er los. 54
»Wenigstens schmeckt einem hier, was ich koche!«, rief er aus. Etwa eine Stunde später kehrte Dr. D. mit Lebensmitteln und anderen Vorräten zurück. Glücklicherweise hatte er in Santa Anita jede Menge Meeresfrüchte eingekauft. Wir verfütterten einen Teil davon an die Meerjungfrau. Während sie aß, sah sich Dr. D. die Anzeigen der Messgeräte an, die Alexander am Becken aufgestellt hatte. »Interessant«, bemerkte Dr. D. »Sie sendet Ultraschallwellen aus. Genau wie Wale.« »Was bedeutet das?«, fragte Sheena. »Das bedeutet, dass hier in der Gegend wahrscheinlich noch mehr Meerjungfrauen leben«, sagte Dr. D. »Sie versucht wohl, mittels Unterwassergeräuschen Kontakt mit ihnen aufzunehmen.« Arme Meerjungfrau, dachte ich. Sie ruft nach ihren Freundinnen. Sie will befreit werden. Nach dem Abendessen ging ich in meine Kabine und schaute durch das kleine Bullauge hinaus. Die orangefarbene Sonne versank allmählich hinter dem purpurroten Horizont. Ein breiter goldener Lichtteppich schimmerte auf dem ruhigen Meer. Durch das Bullauge wehte eine kühle Brise herein. Ich beobachtete, wie die Sonne im Meer versank. Schlagartig wurde der Himmel dunkel, so als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Die Meerjungfrau ist da oben mutterseelenallein, dachte ich. Sie muss sich schrecklich fürchten. In einem Fischbecken eingesperrt in der Dunkelheit. Plötzlich flog die Tür zu meiner Kabine auf. Sheena kam schnaufend und mit aufgerissenen Augen hereingestürmt. »Sheena!«, schimpfte ich ärgerlich. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du vorher anklopfen sollst?« Sie beachtete mich nicht. »Aber Billy!«, keuchte sie. »Sie ist geflohen! Die Meerjungfrau ist abgehauen!«
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Mein Herz hämmerte wild, als ich vom Bett heruntersprang. »Sie ist nicht mehr da!«, schrie Sheena. »Sie ist nicht mehr in ihrem Becken!« Ich schoss zur Kabine hinaus, durch die Luke und an Deck hoch. Ein Teil von mir hoffte, dass sie wirklich in die Freiheit entkommen war. Doch der andere Teil wünschte sich, dass sie für immer bei uns bleiben könnte — und meinen Onkel zum berühmtesten Wissenschaftler der Welt und mich zum berühmtesten Neffen eines Wissenschaftlers machen würde! Bitte lass mit ihr alles in Ordnung sein, dachte ich. Als ich an Deck angekommen war, dauerte es ein Weilchen, bis sich meine Augen an die abendliche Dunkelheit gewöhnt hatten. Ringsherum glühten kleine Lämpchen am Schiffsrand. Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich zu dem riesigen Fischbecken hinüber, konnte aber nichts erkennen. Ich rannte los. Ich lief so schnell, dass ich beinahe über Bord gepurzelt wäre. Sheena klebte mir an den Fersen. »He...!«, rief ich, als ich die Meerjungfrau teilnahmslos im Wasser schwimmen und ihren grünen Schwanz im dämmrigen Licht schimmern sah. Es dauerte einige Sekunden, bis ich merkte, dass Sheena lachte. »Angeschmiert!«, rief sie schadenfroh. »Ich hab dich mal wieder reingelegt, Billy!« Ich stöhnte lange und laut. Schon wieder einer von Sheenas blöden Streichen. »Echt gut, Sheena«, sagte ich grimmig. »Sehr schlau.« »Du bist doch nur sauer, weil ich dich mal wieder reingelegt habe. Du bist so leicht an der Nase herumzuführen.« Die Meerjungfrau sah mich und ihre blassen Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Luuurrruuu, luuurrruuu«, gurrte sie mir zu. »Sie ist wirklich hübsch«, sagte Sheena. Die Meerjungfrau hofft, dass ich sie jetzt freilasse, dachte ich. Vielleicht sollte ich... 56
Sheena könnte mir helfen, überlegte ich. Zu zweit wäre es viel leichter. Würde meine Schwester mitmachen? »Sheena...«, setzte ich an. Da hörte ich hinter uns Schritte. »He, Kinder.« Es war Dr. D. »Es ist langsam Zeit fürs Bett«, rief er. »Wollt ihr nicht nach unten gehen?« »Zu Hause gehen wir nie so früh ins Bett«, beklagte sich Sheena. »Mag sein, aber ich wette, ihr steht zu Hause auch nicht so früh auf. Oder?« Sheena schüttelte den Kopf. Wir standen zu dritt am Wasserbecken und beobachteten schweigend die Meerjungfrau. Sie wedelte leicht mit ihrem Schwanz und ließ sich dann wieder am Beckenboden nieder. »Macht euch keine Sorgen um sie«, sagte Dr. D. »Ich werde in der Nacht ein paar Mal nach ihr sehen, um sicherzugehen, dass mit ihr alles in Ordnung ist.« Die Meerjungfrau presste ihre winzigen Hände gegen die Glaswand des Beckens. Mit ihren Augen flehte sie uns an, bettelte darum, dass wir sie freiließen. »Sobald sie erst einmal im Zoo ist, wird sie sich gleich besser fühlen«, sagte Dr. D. »Die bauen dort extra für sie eine Lagune mit einem Riff und allem Drum und Dran. Die wird genauso aussehen wie die Lagune vor Ilandra. Die Meerjungfrau wird darin frei herumschwimmen und spielen können. Sie wird sich wie zu Hause fühlen.« Das hoffe ich, dachte ich. Aber ich war mir da nicht so sicher. Die Cassandra schaukelte in dieser Nacht sanft auf den Wellen, aber ich konnte trotzdem keinen Schlaf finden. Ich lag in meiner Koje und starrte an die Decke. Durch das Bullauge fiel ein bleicher Strahl Mondlicht auf mein Gesicht. Ich konnte an nichts anderes denken als an die Meerjungfrau. Ich versuchte mir vorzustellen, wie man sich fühlte, wenn man den ganzen Tag in einem Glasbecken eingesperrt war. Wahrscheinlich auch nicht viel anders, als wäre man in dieser winzigen Zelle eingesperrt, dachte ich, während ich mich umsah. Meine Kabine war kaum größer als ein Schrank. 57
Es muss schrecklich sein, folgerte ich, während ich mit dem Kragen meiner Schlafanzugjacke herumspielte. Ich öffnete das Bullauge, um frische Luft hereinzulassen. Womöglich ist das Fischbecken noch nicht einmal das Schlimmste, überlegte ich. Ich weiß, dass Dr. D. sich wirklich um die Meerjungfrau sorgt und ihr nichts Böses will. Doch was geschieht, wenn die Leute vom Zoo sie wegholen? Wer wird sich dann um sie kümmern? Klar, sie bauen eine tolle künstliche Lagune für sie. Aber das ist nicht dasselbe wie eine echte Lagune. Und es werden immer Leute um sie herum sein, die sie die ganze Zeit anglotzen. Wahrscheinlich erwarten sie von ihr, dass sie Tricks vorführt und wie ein dressierter Seehund durch einen Reifen springt. Wahrscheinlich lassen sie die Meerjungfrau auch' in Werbespots im Fernsehen auftreten. Und in TV-Serien und in Filmen. Sie wird eine Gefangene sein. Eine einsame Gefangene für den Rest ihres Lebens. Und ich bin an allem schuld. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss etwas unternehmen, entschied ich. Ich muss verhindern, dass die Zooleute sie mitnehmen. In dem Moment glaubte ich etwas zu hören — ein leises Summen. Ich blieb ganz still liegen und lauschte. Zuerst dachte ich, es wäre die Meerjungfrau, aber rasch wurde mir klar, dass es ein Motor war. Ich hörte ihn in einiger Entfernung leise tuckern. Das Geräusch kam langsam näher. Ein Boot. Ich setzte mich auf und schaute durch das Bullauge hinaus. Ein großes Boot schob sich leise neben die Cassandra. "Wer war das? Die Zooleute? Mitten in der Nacht? Nein. Es war nicht das gleiche Boot. Dieses Boot war viel größer als das der Zooleute. Während ich durch das Bullauge hinausspähte, sah ich zwei dunkle Gestalten, die sich an Bord der Cassandra schlichen. Ihnen folgten zwei weitere. 58
Mein Herz begann zu rasen. Wer ist das bloß?, fragte ich mich. Was haben die vor? Was sollte ich tun? Sollte ich nach oben schleichen und sie heimlich beobachten? Aber was würde passieren, wenn sie mich entdeckten? Da hörte ich plötzlich andere seltsame Geräusche. Einen dumpfen Schlag und gleich darauf einen erstickten Schmerzensschrei. Sie kamen vom Deck. Vom Deck! Wo die Meerjungfrau hilflos in ihrem Becken gefangen saß. O nein!, dachte ich und spürte, wie mich eiskalte Angst packte. Sie tun der Meerjungfrau etwas zu Leide!
Ich stürmte an Deck, gefolgt von Sheena, die direkt hinter mir hergerannt kam. Als ich über eine Seilrolle stolperte, krallte ich mich an der Reling fest und konnte mich gerade noch fangen. Dann huschte ich blindlings auf das Fischbecken zu. Die Meerjungfrau hatte sich am Boden des Beckens zusammengerollt und die Arme schützend um sich geschlungen. Vier Männer standen nervös in der Nähe des Beckens. Sie waren alle schwarz gekleidet und trugen schwarze Masken über dem Gesicht. Einer der Männer hielt einen kurzen Schlagstock in der Hand. Und auf den Deckplanken lag, das Gesicht nach unten, eine ausgestreckte Gestalt. Dr. D.! Schreiend rannte Sheena zu unserem Onkel und kniete sich neben ihn nieder. »Sie haben ihn auf den Kopf geschlagen!«, rief sie. »Sie haben ihn bewusstlos geschlagen!« 59
Ich keuchte. »Wer sind Sie?«, wollte ich wissen. »Was tun Sie auf unserem Schiff?« Doch die vier Männer kümmerten sich nicht um mich. Zwei von ihnen falteten ein schweres Netz aus dicken Schnüren auseinander und breiteten es über dem Fischbecken aus. Dann ließen sie es ins Wasser fallen und zogen es über die Meerjungfrau. »Hören Sie auf!«, brüllte ich. »Was tun Sie da?« »Sei still, Junge«, brummte der Mann mit dem Schlagstock und hob drohend den Knüppel. Hilflos schaute ich zu, wie sie das Netz um die Meerjungfrau enger zogen. Sie kidnappten sie! »Iihhh! IIIIIHHHH!«, quiekte sie in panischer Angst und schlug wild mit den Armen um sich, um sich aus dem schweren Netz zu befreien. »Aufhören! Lassen Sie sie in Ruhe!«, schrie ich. Einer der Männer lachte auf. Die anderen drei schenkten mir weiter keine Beachtung. Sheena hatte sich über Dr. D. gebeugt und bemühte sich verzweifelt, ihn wach zu bekommen. Ich rannte zur Luke und schrie ins Schiffsinnere hinab: »Alexander! Alexander! Hilfe!« Alexander war groß und stark - vielleicht stark genug, um diese Männer aufhalten zu können. Ich lief zum Becken zurück. Die Meerjungfrau steckte im Netz fest. Alle vier Männer strengten sich gemeinsam an, sie herauszuziehen, während sie sich wand und mit aller Kraft zappelte. »IIIHHH!«, schrie sie. Ihr schrilles Quieken tat mir in den Ohren weh. »Könnt ihr sie nicht dazu bringen, damit aufzuhören?«, schrie einer der Männer wütend. »Schaff sie einfach nur an Bord«, sagte der Mann mit dem Schlagstock schneidend. »Halt!«, brüllte ich. »Das können Sie nicht tun!« Dann flippte ich völlig aus. Ohne lange nachzudenken, sprang ich auf die vier Männer los. 60
Ich habe keine Ahnung, was ich eigentlich vorhatte. Ich wusste nur, dass ich sie stoppen musste. Einer von ihnen stieß mich mühelos mit einer Hand zurück. »Halt dich da raus - oder es setzt was«, knurrte er. »Lasst sie los! Lasst die Meerjungfrau los!«, schrie ich außer mir. »Vergiss die Meerjungfrau«, sagte der Mann. »Du wirst sie nie wieder sehen.« Ich hielt mich an der Reling fest. Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich konnte die angsterfüllten Schreie der Meerjungfrau nicht ertragen. Ich konnte nicht zulassen, dass die Männer sie mitnahmen - nicht, ohne zu kämpfen! Sie hatte mir das Leben gerettet. Nun war ich an der Reihe, ihres zu retten. Aber was konnte ich tun? In der Zwischenzeit hatten sie die Meerjungfrau aus dem Becken gehievt. Drei der Männer hielten sie im Netz fest, während sie immer noch zappelte und dabei Wasser übers ganze Deck verspritzte. Ich werde mich auf die Männer stürzen und sie niederschlagen. Dann werde ich die Meerjungfrau ins Meer schieben und sie kann davonschwimmen und sich in Sicherheit bringen. So lautete mein Plan. Wie ein Footballspieler senkte ich den Kopf, holte tief Luft und rannte schnurstracks auf die Männer zu.
»Billy - nicht!«, schrie Sheena. Ich prallte mit einem der Männer, die das Netz hielten, zusammen und rammte ihm den Kopf mit Wucht in die Magengrube. Zu meiner Bestürzung schien er das kaum zu merken. 61
Er packte mich mit seiner freien Hand, hob mich hoch und warf mich ins Fischbecken. Ich fiel platschend ins warme Wasser, tauchte unter und kam prustend und spuckend wieder hoch. Durch die Glasscheibe hindurch musste ich mit ansehen, wie die Männer die Meerjungfrau auf ihr Boot verfrachteten. Sie entkamen! Ich versuchte aus dem Becken zu klettern, doch der Rand war zu hoch und ich rutschte an der nassen Glaswand immer wieder herunter. Mir war klar, dass es jetzt nur noch einen Menschen gab, der die maskierten Männer stoppen konnte. Alexander. Wo steckte er bloß? Hatte er den Lärm denn nicht gehört? »ALEXANDER!«, schrie ich, so laut ich konnte. Doch meine Stimme wurde von den Glaswänden des Beckens gedämpft. Da tauchte er endlich an Deck auf. Ich sah seinen großen Kopf mit dem blonden Haar und seinen muskulösen Körper auf mich zukommen. In letzter Minute! »Alexander!«, schrie ich, während ich wild paddelte, um nicht unterzugehen. »Halt sie auf!« Ich hörte, wie der Motor des Bootes knatternd ansprang. Einer nach dem anderen verschwanden die Männer von unserem Schiff. Drei von ihnen hatten die Cassandra bereits verlassen. Nur einer war noch an Deck. Durch die Glasscheibe beobachtete ich, wie Alexander auf ihn zulief und ihn an den Schultern packte. Ja!, dachte ich. Schnapp ihn dir, Alexander! Schnapp ihn! Ich hatte noch nie erlebt, dass Alexander jemanden schlug. Aber ich war sicher, dass er es konnte, wenn es nötig war. Doch Alexander schlug den maskierten Mann nicht. Stattdessen fragte er: »Habt ihr die Meerjungfrau sicher an Bord gebracht?« Der maskierte Mann nickte. »Gut«, antwortete Alexander. »Und habt ihr mein Geld?« »Haben wir.« »Okay«, murmelte Alexander. »Dann sollten wir jetzt schleunigst von hier verduften!« 62
Beinahe hätte ich mich an einem Mund voll Wasser verschluckt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Alexander mit den maskierten Männern unter einer Decke steckte. Er hatte immer den Eindruck gemacht, ein anständiger Kerl zu sein. Doch nun war mir klar, dass er die ganze Sache eingefädelt hatte. Er musste ihnen mitgeteilt haben, dass wir die Meerjungfrau an Bord unseres Schiffes hatten. »Alexander«, schrie ich, »wie konntest du nur?« Er blickte mich durch die Glasscheibe an. »He, Billy, Geschäft ist eben Geschäft«, sagte er mit einem Achselzucken. »Der Zoo wollte eine Million Dollar für die Meerjungfrau zahlen. Aber meine neuen Bosse zahlen zwanzig Millionen!« Ein dünnes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du kannst doch rechnen, Billy. Was würdest du wählen?« »Du miese Ratte!«, schrie ich. Ich hätte ihm gerne eine reingehauen und kämpfte verbissen darum, aus dem Becken zu kommen. Vergeblich. Es spritzte nur wie verrückt und ich bekam Wasser in die Nase. Alexander folgte dem maskierten Mann zum Boot, während ich nur hilflos gegen die Beckenwand hämmern konnte. Dann sah ich plötzlich, dass Sheena aufstand. Ich wandte meinen Blick dem Deck zu und entdeckte, dass sich Dr. D. bewegte. Alexander schien das nicht zu bemerken. Er stieg über Dr. D. hinweg, wobei es ihn noch nicht einmal zu kümmern schien, dass Dr. D. womöglich ernsthaft verletzt sein könnte. Ich beobachtete, wie mein Onkel die Hand ausstreckte und Alexander am Knöchel packte. »Aaah!« Alexander stolperte und landete hart auf Knien und Ellenbogen. Schreiend wich Sheena an die Reling zurück. Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung, dachte ich, während mein Herz schneller schlug. Vielleicht kommen sie zu guter Letzt doch nicht einfach so davon. 63
Alexander setzte sich benommen auf und rieb sich einen Ellenbogen. »Schnappt sie euch!«, rief er zu den maskierten Männern hinunter, worauf zwei von ihnen wieder an Bord der Cassandra kletterten und Dr. D. packten. Sheena rannte auf sie zu und drosch mit ihren schwachen kleinen Fäusten auf sie ein. Natürlich half das gar nichts. Der dritte maskierte Mann, der ebenfalls wieder an Bord gekommen war, packte ihre Arme und drehte sie ihr auf den Rücken. »Tritt ihn, Sheena!«, brüllte ich. Sie versuchte den Mann, der sie hielt, zu treten, aber der packte sie nur noch fester, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. »Lasst sie los!«, schrie ich verzweifelt. »Was sollen wir mit ihnen machen?«, fragte einer der Männer. »Was immer ihr mit ihnen macht, tut es rasch«, sagte Alexander. »Wir müssen hier weg.« Der Mann, der Sheena hielt, warf mir einen Blick zu. Ich bewegte mich verzweifelt im Wasser, um mich oben zu halten. »Sie könnten die Inselpolizei oder die Küstenwache verständigen«, sagte der Mann mit grimmigem Gesicht. »Am besten bringen wir sie um.« »Wirf sie alle ins Becken!«, empfahl ihm einer seiner Kumpane.
»Alexander!«, schrie Dr. D. »Ich weiß, du bist kein Unmensch. Lass nicht zu, dass sie das tun.« Alexander wich dem durchdringenden Blick meines Onkels aus. »Tut mir Leid, Dr. D.«, murmelte er. »Ich kann sie nicht davon abhalten. Wenn ich das versuchte, würden sie mich ebenfalls umbringen.« Ohne ein weiteres Wort stieg er in das Boot hinunter. Was für ein Scheusal, dachte ich wütend. Zwei der maskierten Männer hoben Dr. D. hoch und ließen ihn ins Becken fallen. Mit einem Platschen landete er neben mir. 64
»Alles in Ordnung?«, fragte ich ihn. Er rieb sich den Hinterkopf und nickte. Sheena kam als Nächste dran. Die Männer warfen sie ohne Anstrengung hoch und sie flog, mit Armen und Beinen strampelnd, durch die Luft. Dann klatschte sie ebenfalls ins Wasser. Die Männer schoben den Deckel zu und verriegelten ihn fest. Ich starrte zu ihnen hinaus, während mir voller Entsetzen klar wurde, dass uns nun keine Fluchtmöglichkeit blieb. Das Wasser im Becken war etwa zwei Meter tief. Wir strampelten und ruderten alle drei mit den Armen, um uns über Wasser zu halten. Es war kaum genug Platz für uns drei. »Gut«, sagte einer der Männer. »Lasst uns verschwinden.« »Warten Sie!«, schrie Dr. D. »Sie können uns doch nicht hier drin zurücklassen!« Die drei Männer sahen sich an. »Sie haben Recht. Das können wir wirklich nicht«, sagte einer von ihnen. Sie kamen auf uns zu. Sie sind also doch keine herzlosen Monster, dachte ich. Sie lassen uns nicht hier drin versauern. Aber was hatten sie dann mit uns vor? Der erste Mann gab den beiden anderen ein Zeichen. Sie legten ihre Hände an eine Seitenwand des Beckens. »Eins, zwei, drei...«, rief der erste Mann. Auf drei schoben sie das Becken über die Deckkante. Es kippte und wir wurden durcheinander gewirbelt, als wir fielen. Dann landete das Becken auf dem Wasser und wir prallten gegen die Glaswand. Meerwasser drang in das Becken ein. »Das Becken... wird untergehen!«, schrie Dr. D. Wir sahen, wie das Boot der Kidnapper davonbrauste. Unser Becken schaukelte in ihrem Kielwasser, bevor es zu sinken begann. »Wir gehen unter!«, brüllte Sheena. »Wir werden ertrinken!«
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Wir drückten alle drei verzweifelt gegen den Deckel. Ich hämmerte mit den Fäusten dagegen und Dr. D. versuchte sich mit der Schulter dagegen zu stemmen. Doch dann kippte das Becken und wir wurden alle zurückgeschleudert. Der Deckel bestand aus schwerem Stahlmaschendraht und war mit Schnappverschlüssen fest verriegelt. Weil wir die Verschlüsse von innen nicht erreichen konnten, mussten wir versuchen den Deckel aufzubrechen. Wir drückten mit aller Kraft, aber er bewegte sich nicht. Das Becken versank langsam immer tiefer im dunklen, wogenden Wasser. Der Mond verschwand hinter einer Wolkendecke und ließ uns in völliger Dunkelheit zurück. Uns blieben nur ein oder zwei Minuten, bevor das Becken völlig unter der Wasseroberfläche verschwinden würde. Sheena fing zu weinen an. »Ich habe solche Angst!«, heulte sie. »Ich habe solche Angst!« Erneut hämmerte Dr. D. verzweifelt mit den Fäusten gegen die Glaswand des Beckens. Ich tastete währenddessen den Deckel auf der Suche nach einer schwachen Stelle im Gitter mit den Händen ab. Plötzlich stieß ich auf etwas. Einen winzigen Riegel. »Seht mal!«, schrie ich und deutete auf den Riegel. Ich rüttelte daran und versuchte ihn zu öffnen. »Er rührt sich nicht!« »Lass mich mal ran.« Dr. D. zerrte mit den Fingern an dem Riegel. »Er klemmt«, sagte er. Sheena zog eine rote Spange aus ihrem Haar. »Vielleicht bekommen wir ihn damit locker«, sagte sie. Dr. D. nahm die Haarspange und stocherte damit heftig an dem Riegel herum. »Es funktioniert!«, sagte er. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht schaffen wir es hier raus! Dr. D. hörte auf herumzustochern und zog an dem Riegel. 66
Er bewegte sich! Er ließ sich öffnen! »Wir sind frei!«, schrie Sheena. Wir drückten alle drei gegen den Gitterdeckel, dann drückten wir noch einmal. »Kommt schon, Kinder, drückt fester«, drängte uns Dr. D. Wir drückten wieder, doch der Deckel rührte sich nicht. Der Riegel hatte ihn nicht vollständig freigegeben. Zwei weitere Riegel hielten ihn noch immer fest. Zwei Riegel, an die wir nicht herankamen. Wir wurden still. Die einzigen Geräusche waren jetzt Sheenas leises, verängstigtes Schluchzen und das gleichmäßige Rauschen der Wellen. Der Wasser reichte nun bereits beinahe bis zum Rand des Beckens. Schon bald würde es über uns zusammenschlagen. Plötzlich verdunkelte sich das Meer. Das Wasser wurde unruhig und das Becken schaukelte ein wenig schneller. »Was ist das für ein Lärm?«, fragte Sheena. Ich lauschte. Über das Tosen des Wassers hinweg hörte ich einen seltsamen Ton. Er war ganz schwach, als käme er von weit her. Ein schrilles, hohes Pfeifen. »Es klingt wie eine Sirene«, murmelte Dr. D. »Oder, besser gesagt, wie viele Sirenen.« Das unheimliche Heulen, das übers Wasser kam, schwoll in einem regelmäßigen Rhythmus an und ab. Es wurde lauter. Anscheinend kam es näher. Schließlich umgab uns das Geräusch — so schrill wie ein Kratzen auf Metall — von allen Seiten. Auf einmal wirbelten dunkle, schattenhafte Formen um das Becken herum. Wir drückten unsere Gesichter ans Glas. »Was für ein Geräusch! So was hab ich noch nie gehört. Was kann das bloß sein?«, fragte Dr. D. »Es — es kommt von überall rings um uns!«, stotterte ich. Die schattenhaften Gestalten wirbelten das dunkle Wasser auf. Ich spähte in den Schaum und versuchte angestrengt etwas zu erkennen. 67
Plötzlich erschien im finsteren Wasser ein Gesicht. Es drückte sich genau vor meinem Gesicht an die Glasscheibe! Ich keuchte überrascht auf und wich zurück. Da entdeckte ich noch mehr Gesichter. Wir waren von kleinen, mädchenhaften Gesichtern umgeben. Mit aufgerissenen Augen schauten sie drohend zu uns herein. »Meerjungfrauen!«, schrie ich. »Dutzende davon!«, murmelte Dr. D. entgeistert. Ihr Haar, wirre dunkle Strähnen im schwarzen Wasser, umrahmte ihre Gesichter. Sie wühlten das Wasser mit ihren langen Schwänzen auf, sodass das Becken heftiger und heftiger wackelte. »Was wollen sie denn?«, rief Sheena mit schriller und bebender Stimme. »Sie sehen wütend aus«, flüsterte Dr. D. Ich starrte zu den Meerjungfrauen hinaus, die wie Gespenster um uns herumschwirrten. Sie streckten ihre Hände aus und packten das Becken, während sie ihre Schwänze noch immer heftig aufs Wasser klatschen ließen. Das dunkle Wasser brodelte und schlug Wellen. Plötzlich begriff ich, was sie wollten. »Rache«, murmelte ich. »Sie sind gekommen, um Rache zu nehmen. Wir haben ihnen ihre Freundin weggenommen und nun werden sie es uns heimzahlen.«
Schattenhafte Hände pressten sich gegen das Glas. »Sie ziehen uns in die Tiefe hinab!«, rief Dr. D. Ich keuchte vor Entsetzen und starrte wie gebannt auf die Hände, die als schwarze Schattenrisse am Glas erkennbar waren. Dann, ganz plötzlich, begann sich das Becken zu heben. Aus dem Wasser heraus, höher und höher. »Huch! Was geschieht denn jetzt?«, fragte Sheena. »Sie — sie drücken uns wieder nach oben!«, rief ich erfreut. »Die Meerjungfrauen wollen keine Rache — sie retten uns!«, rief Dr. D. begeistert. 68
Das Becken schrappte gegen die Cassandra. Ich sah, wie die kleinen Hände der Meerjungfrauen eifrig über uns hantierten. Plötzlich sprangen die Schnappverschlüsse auf und der Gitterdeckel wurde abgenommen. Mit einem glücklichen Seufzen half Dr. D. Sheena hinaus und sie kletterte an Bord des Schiffes. Als Nächstes kletterte ich an Bord und zu zweit halfen wir Dr. D. aus dem großen Aquarium heraus. Wir waren klatschnass und zitterten vor Kälte. Aber wir waren in Sicherheit. Die Meerjungfrauen schwärmten um das Schiff herum und blickten mit ihren bleichen Augen zu uns herauf. »Danke«, rief Dr. D. ihnen zu. »Danke, dass ihr uns das Leben gerettet habt!« Das war nun schon das zweite Mal, stellte ich fest, dass mir eine Meerjungfrau das Leben gerettet hatte. Jetzt schuldete ich ihnen mehr als je zuvor. »Wir müssen die entführte Meerjungfrau zurückholen«, sagte ich. »Wer weiß, was Alexander und diese Scheusale mit ihr anstellen!« »Ja«, rief Sheena. »Denkt bloß mal dran, was sie mit uns gemacht haben!« »Ich wünschte, wir könnten sie befreien«, murmelte Dr. D. und schüttelte den Kopf. »Aber ich wüsste nicht, wie wir das schaffen sollen. Wie sollen wir das Boot der Kidnapper in der Dunkelheit finden? Die sind doch schon längst über alle Berge.« Aber ich sagte mir, es musste eine Möglichkeit geben. Ich beugte mich über die Reling und schaute zu den Meerjungfrauen hinab, die neben uns herschwammen und im Mondschein miteinander schwatzten und gurrten. »Helft uns!«, rief ich ihnen zu. »Wir wollen eure Freundin finden. Bitte — könnt ihr uns zu ihr bringen?« Ich hielt den Atem an und wartete. Würden die Meerjungfrauen mich verstehen? Waren sie in der Lage, uns zu helfen — irgendwie? Die Meerjungfrauen redeten und pfiffen miteinander. Dann schwamm eine von ihnen - eine dunkelhaarige Meerjungfrau mit einem besonders langen Schwanz - an die Spitze der Gruppe. Sie pfiff und klickte den anderen Meerjungfrauen etwas zu. Sie schien ihnen Befehle zu erteilen. 69
Wir drei beobachteten verblüfft, wie die Meerjungfrauen langsam eine lange Schlange bildeten - eine Meerjungfrau hinter der anderen —, die sich weit ins Meer hinaus ausdehnte. »Glaubt ihr, sie führen uns zu den Kidnappern?«, fragte ich. »Vielleicht«, antwortete Dr. D. nachdenklich. »Aber wie wollen die Meerjungfrauen das Boot finden?« Er rieb sich das Kinn. »Ich weiß! Ich wette, sie benutzen dazu ihren Ultraschall. Ich wünschte, ich hätte genug Zeit, mir die Laute, die sie machen, richtig anzuhören...« »Sieh mal, Dr. D.!«, unterbrach ihn Sheena. »Die Meerjungfrauen schwimmen davon!« Wir sahen, wie die dunklen Gestalten durch die rollende, dunkle See davonglitten. »Rasch!«, rief ich. »Wir müssen ihnen folgen.« »Nein, das ist zu gefährlich«, antwortete Dr. D. seufzend. »Mit Alexander und den vier großen, maskierten Männern können wir es nicht aufnehmen!« Er lief auf dem schmalen Deck auf und ab. »Wir sollten die Inselpolizei rufen«, sagte er schließlich. »Aber was sollen wir ihnen sagen? Dass wir hinter einer entführten Meerjungfrau her sind? Das würde uns doch niemand glauben.« »Dr. D., wir müssen ihnen folgen. Bitte!«, flehte ich. »Die Meerjungfrauen sind gleich außer Sicht!« Er starrte mich einen langen Moment an. »Okay. Dann aber los«, sagte er endlich. Ich lief eilig zum Heck, um das Schlauchboot loszubinden. Dr. D. ließ es zu Wasser und sprang hinein. Nachdem Sheena und ich ihm gefolgt waren, startete Dr. D. den Motor — und schon düsten wir der schimmernden Kette von Meerjungfrauen hinterher. Die Meerjungfrauen glitten so rasch durch die wogende See, dass wir es mit unserem kleinen Boot schwer hatten, nicht von ihnen abgehängt zu werden. Etwa fünfzehn oder zwanzig Minuten später fanden wir uns in einer kleinen verlassenen Bucht wieder. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und warf sein bleiches Licht auf ein Boot, das vor der Küste ankerte. Dr. D. stellte den Motor ab, damit uns die Entführer nicht näher kommen hörten. 70
»Sie schlafen bestimmt«, flüsterte ich. »Wie sollte Alexander nach allem, was er uns angetan hat, schlafen können?«, raunte Sheena mir zu. »Als er uns verließ, waren wir kurz davor zu ertrinken!« »Geld kann Menschen dazu bringen, die schrecklichsten Dinge zu tun«, erwiderte Dr. D. betrübt. »Aber es ist gut, dass sie denken, wir wären tot. Dadurch erwarten sie uns nicht.« »Aber wo steckt die Meerjungfrau?«, flüsterte ich, während ich zu dem dunklen Boot hinüberschaute, das im fahlen Mondlicht sanft auf den Wellen schaukelte. Schweigend ließen wir uns auf das unbeleuchtete Boot zutreiben. Gut, die Kidnapper haben wir also aufgespürt, dachte ich und hielt mich am Rand des Schlauchbootes fest, während wir uns dem Schiff näherten. Jetzt gibt es nur noch ein Problem. Was tun wir als Nächstes?
Der Wind legte sich völlig. Das Boot der Kidnapper lag fast unbewegt auf dem ruhigen, glasklaren Wasser der Bucht. »Wo sind denn all die Meerjungfrauen abgeblieben?«, flüsterte Sheena. Ich zuckte die Achseln. Weit und breit war nichts von ihnen zu sehen. Ich stellte mir vor, dass sie tief unter der Wasseroberfläche schwammen und sich dort verborgen hielten. Plötzlich bemerkte ich im Wasser neben dem Boot der Kidnapper kleine Wellen. Langsam und leise glitt unser Schlauchboot auf das Boot zu, während ich auf die Wellen starrte und versuchte herauszufinden, wovon sie verursacht wurden. Da sah ich im Mondlicht blondes Haar aufblitzen. »Die Meerjungfrau!«, flüsterte ich. »Dort ist sie!« 71
Sie war hinten am Boot der Entführer angebunden und schwamm im Wasser. »Sie haben offenbar kein Becken auf ihrem Boot«, flüsterte Dr. D. aufgeregt. »Glück für uns.« Plötzlich entdeckte ich noch mehr Gestalten, die Wellen verursachten. Die Meerjungfrauen waren aufgetaucht und umkreisten ihre gefangene Freundin. Ihre Schwanzflossen hatten sie wie riesige Fächer erhoben. Ich sah Hände, die sich nach der Meerjungfrau ausstreckten, Hände, die an dem Seil zerrten, das sie festhielt. Das Wasser wogte leise, während die Gestalten eifrig hantierten. »Die Meerjungfrauen befreien sie«, flüsterte ich. »Und was tun wir?«, fragte Sheena. »Wir passen auf, dass sie auch wirklich freikommt«, antwortete Dr. D. »Dann verschwinden wir still und leise. Die Kidnapper werden nie erfahren, dass wir hier waren.« Wir sahen zu, wie sich die Meerjungfrauen mit dem Seil abmühten, während unser Schlauchboot weiter auf das Boot der Entführer zutrieb. »Los doch, Meerjungfrauen!«, drängelte Sheena leise. »Beeilt euch!« »Vielleicht brauchen sie Hilfe«, sagte ich. Dr. D. lenkte das Schlauchboot zu den Meerjungfrauen hin. Ich keuchte erschreckt auf, als auf dem Boot der Kidnapper plötzlich ein Licht aufflammte. Ein Streichholz ließ eine Fackel auflodern. Eine zornige Stimme brüllte: »Was zum Geier macht ihr hier?«
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Ich wich vor der lodernden Fackel zurück, die mir fast ins Gesicht gestoßen wurde. Hinter der Fackel konnte ich das Gesicht eines der Entführer sehen, der mich wütend anfunkelte. Er hatte sich rasch seine schwarze Maske aufgesetzt, aber sie verbarg nur die obere Hälfte seines Gesichts. Ich hörte hastige Schritte und überraschte Rufe. Alexander und die übrigen drei Entführer erschienen an Deck. »Wie seid ihr hierher gekommen?«, wollte der Mann mit der Fackel wissen. »Warum seid ihr nicht tot?« »Wir sind wegen der Meerjungfrau hier«, rief Dr. D. zu ihm hinauf. »Sie können sie nicht hier behalten!« Die Fackel schwang gefährlich nahe an meinem Kopf vorbei. Ich stand auf und schlug nach ihr, um sie ins Wasser zu stoßen. »Billy, nein!«, rief Dr. D. Der Kidnapper zog die Fackel so plötzlich zurück, dass ich im Schlauchboot vornüber fiel und auf Sheena purzelte. »Geben Sie uns die Meerjungfrau zurück!«, forderte Dr. D. »Wer etwas findet, dem gehört's«, höhnte der Kidnapper. »Sie haben also ihre lange Reise für nichts und wieder nichts gemacht. Und jetzt sehen Sie mal her — Ihr Boot brennt.« Er senkte die Fackel zum Schlauchboot hinunter und setzte es in Brand.
Die Flammen loderten orange und gelb vor dem blauschwarzen Nachthimmel auf. Sie breiteten sich rasch über das Vorderteil des Schlauchbootes aus. Sheena stieß einen entsetzten Schrei aus und versuchte vor den Flammen zurückzuweichen. Voller Panik wollte sie ins Wasser 73
springen, doch Dr. D. hielt sie zurück. »Spring nicht! Du würdest ertrinken!« Das Feuer knisterte. Die hellen Flammen schössen in die Höhe. Dr. D. holte eine gelbe Rettungsweste vom Boden des Schlauchboots und begann verzweifelt, damit auf das Feuer einzuschlagen. »Billy - schnapp dir auch eine Rettungsweste!«, brüllte er. »Sheena - such den Eimer und lösch die Flammen mit Wasser — dalli!« Ich fand eine Rettungsweste und schlug auf die Flammen ein, während Sheena rasch Meerwasser aufs Feuer kippte. Über das Knistern der Flammen hinweg hörte ich Alexander schreien: »Schafft die Meerjungfrau an Bord. Wir müssen von hier verschwinden!« »Dr. D.!«, schrie ich. »Sie hauen ab!« Dann hörte ich die Kidnapper brüllen: »Die Meerjungfrau! Wo ist die Meerjungfrau?« Ich sah zur Bootswand. Die Meerjungfrau war verschwunden. Ihre Freundinnen hatten sie befreit. Einer der Entführer streckte seinen Arm aus und packte mich. »Was habt ihr mit der Meerjungfrau gemacht?«, wollte er wissen. »Lassen Sie ihn los!«, schrie Dr. D. Ich versuchte mich aus dem Griff des Mannes loszureißen, aber er hielt mich eisern fest. Da sah ich, wie ein anderer Entführer mit einem Schlagstock auf Dr. D. s Kopf zielte. Dr. D. wich dem Schlag aus. Daraufhin versuchte der Kidnapper, ihm die Faust in die Magengrube zu rammen. Wieder konnte Dr. D. ausweichen. Ich trat um mich und wand mich im Griff des Entführers. Sheena kam mir zur Hilfe, indem sie an seiner Hand zerrte. Doch da packte sie der dritte Entführer an den Handgelenken, hob sie hoch und warf sie auf den Boden des Schlauchbootes. »Finger weg von den Kindern!«, rief Dr. D. »Alexander! Hilf uns!« Doch Alexander rührte sich nicht vom Fleck. Die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt, stand er an Deck und sah dem Kampf seelenruhig zu. Die Flammen waren schon fast gelöscht, aber plötzlich loderten sie wieder auf. 74
»Sheena — das Feuer!«, schrie ich. »Lösch das Feuer!« Sie schnappte sich den Eimer und schüttete überall Meerwasser hin. Einer der Kidnapper trat ihr den Eimer aus der Hand, der mit einem Platschen im Wasser landete. Da griff sich Sheena geistesgegenwärtig eine Rettungsweste und schlug damit die letzten Flammen aus. »Steig runter in ihr Boot und schmeiß sie alle ins Wasser!«, hörte ich einen der Kidnapper rufen. Ein Mann schickte sich an, in unser Schlauchboot zu klettern. Doch plötzlich taumelte er und ruderte wild mit den Armen. Er stieß einen verdatterten Schrei aus, als sich das Schiff heftig nach links neigte. Es sah aus, als wäre es von einer riesigen Woge erfasst worden. Jetzt schrien auch die übrigen Kidnapper auf, als ihr Boot hin und her zu schaukeln begann. Anfangs nur langsam, dann immer stärker. Während ich mich am Rand des Schlauchbootes festhielt, sah ich zu, wie sich die Entführer an die Reling klammerten und verblüfft durcheinander brüllten. Dr. D. erhob sich langsam und versuchte festzustellen, was da vor sich ging. Das Boot der Entführer schlingerte so heftig, als würde es auf großen Wellen reiten. Die Meerjungfrauen! Jetzt konnte ich sie sehen. Sie hatten das Boot der Kidnapper eingekreist und ließen es heftig schwanken. Heftiger. Und heftiger. Die Kidnapper mussten sich hilflos festklammern. »Mission erfüllt!«, rief Dr. D. fröhlich. Er ließ den Motor an und wir rauschten davon. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie das Schiff immer noch im Wasser schlingerte und schaukelte. Und ich entdeckte unsere Meerjungfrau, die jetzt frei hinter den anderen Meerjungfrauen durch die schimmernden Wellen glitt. »Sie hat's geschafft!«, rief ich. »Sie ist frei!« »Ich hoffe, es geht ihr gut«, sagte Sheena. »Wir kümmern uns morgen um sie«, sagte Dr. D., während 75
wir zum Meereslaboratorium zurücksteuerten. »Nun wissen wir ja, wo wir sie finden.« Sheena guckte mich an und ich guckte sie an. O nein, dachte ich. Das kann doch nicht wahr sein, nach allem, was geschehen ist! Will Dr. D. die Meerjungfrau etwa wieder einfangen - und sie dem Zoo ausliefern? Sheena und ich trafen uns am nächsten Morgen in der Kombüse. Jetzt, da Alexander fort war, mussten wir uns selbst um unser Frühstück kümmern. »Glaubst du, die Meerjungfrau ist in die Lagune zurückgekehrt?«, fragte Sheena. »Wahrscheinlich«, antwortete ich. »Dort lebt sie schließlich.« Sheena schob sich einen Löffel Cornflakes in den Mund und kaute mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Sheena«, sagte ich, »wenn dir jemand eine Million Dollar gäbe, würdest du ihm dann zeigen, wo die Meerjungfrau lebt?« »Nein«, antwortete Sheena. »Nicht, wenn er sie fangen will.« »Ich auch nicht«, sagte ich. »Das ist es, was ich nicht begreife. Dr. D. ist ein klasse Typ. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass...« Ich brach ab, denn ich hatte ein Geräusch gehört. Das Geräusch eines Motors. Sheena lauschte. Sie hörte es ebenfalls. Wir ließen unsere Löffel fallen und rannten nach oben. Dr. D. stand an Deck und blickte aufs Meer hinaus. Ein Schiff kam näher. Ein weißes Boot, auf dessen Seitenwand in großen Buchstaben MARINA-ZOO stand. »Die Zooleute!«, sagte ich zu Sheena. »Sie sind da!« Was wird Dr. D. tun?, fragte ich mich mit wachsender Furcht. Würde er ihnen erzählen, wo die Meerjungfrau war? Würde er die Million Dollar annehmen? Sheena und ich duckten uns hinter die Führerkabine. Wir beobachteten, wie das Marina-Zoo-Schiff sich neben die Cassandra schob. Ich erkannte Mr. Showalter und Ms. Wickman wieder. 76
Mr. Showalter warf Dr. D. ein Tau zu und Ms. Wickman sprang an Bord. Gleich darauf folgte ihr Mr. Showalter. Lächelnd schüttelten die Zooleute Dr. D. die Hand. Er nickte ihnen feierlich zu. »Wir haben von den Fischern auf Santa Anita gehört, dass Sie die Meerjungfrau gefunden haben«, sagte Mr. Showalter. »Wir würden sie jetzt gerne mitnehmen.« Ms. Wickman öffnete ihren Aktenkoffer und holte einen dünnen Umschlag hervor. »Hier ist ein Scheck über eine Million Dollar, Dr. Deep«, sagte sie lächelnd. »Wir haben ihn auf Sie und das Cassandra-Forschungslabor ausgestellt.« Sie hielt meinem Onkel den Scheck hin. Ich spähte hinter meinem Versteck hervor. Bitte nimm ihn nicht an, Dr. D., flehte ich im Stillen. Bitte nimm den Scheck nicht! »Vielen Dank«, sagte mein Onkel. Er streckte die Hand aus und nahm den Scheck von ihr entgegen.
»Eine Million Dollar bedeutet für mich und meine Arbeit sehr viel«, sagte Dr. D. »Ihr Zoo hat sich sehr großzügig gezeigt. Deshalb tut es mir wirklich sehr Leid, dass ich das jetzt tun muss.« Er hob den Umschlag hoch und riss ihn in zwei Teile. Die beiden Zooleute starrten ihn entgeistert an. »Ich kann das Geld leider nicht annehmen«, sagte Dr. D. »Was wollen Sie damit sagen, Dr. Deep?«, wollte Mr. Showalter wissen. »Sie haben mich auf die Jagd nach einem Hirngespinstgeschickt«, antwortete mein Onkel. »Seit Sie das letzte Mal hier waren, hab ich die Gewässer hier gründlich abgesucht. Ich habe mit meinen Geräten jeden Zentimeter der Lagune und des angrenzenden Meeres überprüft. Und jetzt bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass es keine Meerjungfrauen gibt.« 77
Jaaaa!, jubelte ich im Stillen. Am liebsten wäre ich auf und ab gehüpft und hätte vor Freude laut geschrien — doch stattdessen blieb ich mit Sheena hinter dem Führerstand verborgen. »Aber was ist mit den Geschichten der Fischer?«, wandte Ms. Wickman ein. »Die Fischer in der Gegend erzählen sich schon seit vielen Jahren Geschichten über Meerjungfrauen«, erklärte ihr Dr. D. »Ich denke, sie glauben wirklich, dass sie an diesigen Tagen Meerjungfrauen im Nebel erblickt haben. Doch was sie in Wahrheit gesehen haben, sind Fische oder Delfine oder Seekühe oder vielleicht sogar schwimmende Menschen. Denn Meerjungfrauen gibt es nicht. Sie sind reine Phantasiegestalten.« Mr. Showalter und Ms. Wickman seufzten beide enttäuscht. »Sind Sie da sicher?«, fragte Mr. Showalter. »Völlig sicher«, antwortete mein Onkel bestimmt. »Meine Geräte sind sehr empfindlich. Damit spüre ich selbst winzige Elritzen auf.« »Wir respektieren Ihre Meinung, Dr. Deep«, sagte Mr. Showalter betrübt. »Sie sind der führende Experte für exotische Meereswesen. Deshalb haben wir uns ja auch an Sie gewandt.« »Danke«, sagte Dr. D. »Dann hoffe ich, dass Sie meinen Rat annehmen und die Suche nach einer Meerjungfrau aufgeben.« »Ja, ich schätze, das müssen wir wohl«, sagte Ms. Wickman. »Vielen Dank, dass Sie sich für uns bemüht haben, Dr. Deep.« Sie schüttelten einander die Hände. Dann kletterten die Zooleute auf ihr Boot zurück und schipperten davon. Kaum war die Luft rein, stürmten Sheena und ich aus unserem Versteck hervor. »Dr. D.!«, rief Sheena und schlang ihre Arme um ihn. »Du bist der Beste!« Dr. D. begann übers ganze Gesicht zu strahlen. »Danke, Kinder«, sagte er. »Von nun an sagt keiner von uns zu irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen über Meerjungfrauen. Abgemacht?« »Abgemacht«, stimmte Sheena sofort zu. »Geht klar«, sagte ich. Wir schüttelten uns die Hände. Die Meerjungfrau war unser Geheimnis.
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Ich hatte geschworen, dass ich die Meerjungfrau niemand gegenüber erwähnen würde, aber ich wollte sie ein letztes Mal sehen. Ich wollte ihr Lebewohl sagen. Nach dem Mittagessen zogen sich Sheena und Dr. D. in ihre Kabinen zurück, um ein Nickerchen zu halten. Immerhin waren wir fast die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Ich tat so, als wollte ich mich ebenfalls aufs Ohr legen. Doch kaum waren die beiden eingeschlafen, schlich ich aus meiner Kabine und ließ mich ins hellblaue Wasser gleiten. Ich schwamm zur Lagune, um nach der Meerjungfrau zu suchen. Die Sonne stand hoch am blassblauen Himmel und strahlte auf das ruhige Wasser der Lagune herab, das schimmerte, als wäre es mit Gold überzogen. Meerjungfrau? Wo bist du?, dachte ich. Ich war gerade am Riff vorbei, als ich einen neckischen Ruck an meinem Bein spürte. Sheena?, dachte ich. War sie mir etwa schon wieder gefolgt? Ich fuhr blitzschnell herum, um sie zu ertappen. Niemand da. Dann war es wahrscheinlich Tang, dachte ich und schwamm weiter. Ein paar Minuten später zupfte es wieder. Kräftiger dieses Mal. Hey — das muss die Meerjungfrau sein!, sagte ich mir. Ich drehte mich wieder um und hielt Ausschau nach ihr. Das Wasser warf kleine Wellen. »Meerjungfrau?«, rief ich. Plötzlich tauchte ein Kopf aus dem Wasser auf. Ein gewaltiger, schleimiger, dunkelgrüner Kopf. Mit einem riesigen Auge. Und einem Maul voller spitzer Zähne. »Das Meeresungeheuer!«, kreischte ich. »Das Meeresungeheuer!« Würden sie mir diesmal glauben?
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Band8 OMNIBUS Nr. 20262 Die Puppe mit dem starren Blick Band 9 OMNIBUS Nr. 20263 Nachts, wenn alles schläft
Atemlos, mit kalten Händen oder eben mit einer Gänsehaut verschlingt man diese Bücher. Die Helden sind ganz normale zehn- bis zwölfjährige Mädchen und Jungen, ziemlich neugierig und mutig, die keine Angst davor haben, nachts auf einen Friedhof zu gehen. R. L. Stine selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.«
Band 10 OMNIBUS Nr. 20355 Der Gruselzauberer Band 11 OMNIBUS Nr. 20356 Die unheimliche Kuckucksuhr Band 12 OMNIBUS Nr. 20023 Die Nacht im Turm der Schrecken Band 13 OMNIBUS Nr. 20396 Meister der Mutanten Band 14 OMNIBUS Nr. 20397 Die Geistermaske Band 15 OMNIBUS Nr. 20398 Die unheimliche Kamera
Band1 OMNIBUS Nr. 20149 Der Spiegel des Schreckens
Band 16 OMNIBUS Nr. 20399 ... und der Schneemensch geht um
Band 2 OMNIBUS Nr. 20150 Willkommen im Haus der Toten
Band 17 OMNIBUS Nr. 20417 Der Schrecken, der aus der Tiefe kam
Band 3 OMNIBUS Nr. 20151 Das unheimliche Labor
Band 18 OMNIBUS Nr. 20418 Endstation Gruseln
Band 4 OMNIBUS Nr. 20152 Es wächst und wächst und wächst...
Band 19 OMNIBUS Nr. 20419 Die Rache der Gartenzwerge
Band5 OMNIBUS Nr. 20153 Der Fluch des Mumiengrabs Band6 OMNIBUS N r. 20236 Der Geist von nebenan Band7 OMNIBUS Nr. 20308 Es summt und brummt - und sticht!