Gefahr aus der Tiefe
Die neuen Horden der Nacht erwachen
von Peter Terrid
Atlan - König von Atlantis - Nr. 477
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Gefahr aus der Tiefe
Die neuen Horden der Nacht erwachen
von Peter Terrid
Atlan - König von Atlantis - Nr. 477
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In das Geschehen in der Schwarzen Galaxis ist Bewegung gekommen – und schwerwiegende Dinge vollziehen sich. Da ist vor allem Duuhl Larx, der verrückte Neffe, der für gebührende Auf regung sorgt. Mit Koratzo und Copasallior, den beiden Magiern von Oth, die er in seine Gewalt bekommen hat, rast er mit dem Organschiff HERGI EN durch die Schwarze Galaxis, immer auf der Suche nach weiteren »Kollegen«, die er ihrer Lebensenergie berauben kann. Der HERGIEN folgt die GOL'DHOR, das magische Raumschiff, mit Koy, Kolphyr und vier Magiern an Bord. Die Pthorer sind Duuhl Larx auf der Spur, um ihm seine beiden Gefangenen abzujagen, und nähern sich dabei immer mehr dem Zentrum der Schwarzen Galaxis. Was Atlan und Razamon betrifft, so ist es den beiden Männern quasi in letzter Minute gelungen, sich von Dorkh, das dem Untergang geweiht ist, abzusetzen. Das Raumfahrzeug, das der Arkonide und der Berserker be stiegen haben, erlaubt es ihnen allerdings nicht, einen anderen Planeten anzusteuern. Und so müssen die beiden Männer im Grunde froh sein, daß ihr Fahrzeug aufgebracht wird und sie selbst auf die Welt der Auserwählten gelangen. Was Pthor betrifft, so bahnen sich auch dort wieder schwerwiegende Dinge an. Eines davon ist die GEFAHR AUS DER TIEFE …
Die Hautpersonen des Romans:
Heimdall, Sigurd und Balduur - Die Odinssöhne wollen sich für
Pthor einsetzen.
Bördo - Sigurds mißratener Sprößling.
Sator Synk - Ein Kämpfer sucht neue Aufgaben.
Lykaar und Braheva - Ein Ehepaar auf Reisen.
Genlis - Ein böser alter Mann.
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1.
Schwer fiel die Hand auf das aufgeschlagene Buch, wieder und wieder donnerte die Faust auf das Holz des Tisches. »Wie lange war ich jetzt fort? Länger als einen Monat, fast fünf Wo chen. Zeit genug für dich, Geschäfte zu machen, dich anzustrengen. Und was ist das hier? Was muß ich sehen, wenn ich heimkehre – leere Seiten!« Lykaar zuckte schuldbewußt zusammen. Braheva hatte sicherlich nicht ganz unrecht, aber er versuchte dennoch, sich zu verteidigen. »Die Zeiten sind schlecht«, sagte er und ruderte hilflos mit den Armen. »Die Geschäfte gehen nicht gut, und auf Pthor geht es drunter und drü ber.« »Ach was!« Braheva machte eine weitausholende Armbewegung, mit der sie nicht nur Lykaars zaghaften Widerstand, sondern beinahe auch ihn selbst weg gefegt hätte. »Du hast keine Lust gehabt, das ist es. Andere haben es zu et was gebracht, haben Seite auf Seite ihrer Kontobücher gefüllt, mit langen dicken Zahlen. Nur du, du hast dich natürlich wieder herumgetrieben. Ver suche nicht, den Bauch einzuziehen, es hilft dir nichts. Ich weiß, wie viele Löcher dein Gürtel hat, und daß du ihn schon wieder erweitert hast. In Kneipen und auf Gelagen hast du dich herumgetrieben, gefressen und ge zecht mit diesem Gesindel.« »Aber, Liebste …«, versuchte Lykaar sich zu wehren. Braheva in ihrer Entrüstung sprach so laut und deutlich, daß man sie drei Häuserblocks weit hören konnte, und genau in dem Viertel wohnten auch Lykaars Freunde, mit denen er viele Becher geleert hatte. »Meine Freunde sind doch kein Gesindel. Es sind achtbare Geschäftsleute, Händler wie ich.« »Papperlapapp«, entgegnete Braheva. »Nichtsnutze sind sie, Herumtrei ber, lichtscheues Gesindel einer wie der andere.« Wenn es darum ging, ihre Mitmenschen zu beurteilen, kannte Braheva wenig Gnade, und das galt besonders dann, wenn sie zu einem Urteil über ihren Mann ansetzte. »Und was soll jetzt werden?« fragte Braheva und deutete auf die leeren Seiten des Abrechnungsbuchs. »Wovon wollen wir uns und unsere Kinder ernähren?« Lykaar verkniff sich den Hinweis, daß er seit knapp einem Jahr mit Bra heva verheiratet war und sich Kindersegen bislang noch nicht eingestellt hatte. »Es muß etwas geschehen«, stellte Braheva fest. »Und zwar bald. Ich gebe dir zwei Tage, dann wollen wir uns noch einmal unterhalten. Laß dir etwas einfallen – aber etwas Vernünftiges.«
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Lykaar lächelte und nickte fleißig. Er gab sehr zaghaft seiner Gattin einen Kuß auf die Wange, dann sah er zu, daß er aus dem Haus kam. Es war später Nachmittag, und mit etwas Glück traf er einige seiner Freunde, mit denen er sich beraten wollte. In der Tat saßen sie schon zusammen und tranken. Gallizzo, der rundli che Wirt der Schenke, eilte flugs heran und stellte vor Lykaar einen großen hölzernen Humpen auf. Oben türmte sich in verlockendem Weiß die Schaumkrone des frischgezapften Bieres. »Willkommen«, sagte Peran, lang und hochaufgeschossen und wie im mer in seinem blauen Gewand. Alles, was er an Kleidung besaß, schien dieses blaue Gewand zu sein. »Auf dein Wohl und das deines Weibes.« Lykaar lächelte und tat Bescheid. »Sie ist böse«, sagte er, nachdem er einen tiefen Zug aus dem Humpen genommen hatte. »Das kann man sehen«, sagte Achar grinsend; seine Zähne waren so lückenhaft wie seine Stirn gelichtet, aber das tat der Freundschaft natürlich keinen Abbruch. »Du schleichst herein wie einer, der Prügel austeilen will.« »Austeilen? Ich? Ach du liebes Pthor«, seufzte Lykaar. Es war ein Kreuz mit dieser Ehe. Lykaar hätte es wissen sollen. Er und Braheva paßten eigentlich überhaupt nicht zusammen. Eine Ehe wie diese gab es in ganz Orxeya, ach was, in ganz Pthor nicht. Lykaar war als Or xeyaner völlig aus der Art geschlagen. Er war als Händler nicht gewitzt, raufte nicht gern, und seine Trinkfestigkeit ließ auch zu wünschen übrig. Wo andere noch munter den Becher kreisen ließen, lag er meistens schon unter den Bänken. Für einen Orxeyaner war Lykaar entschieden zu weich lich und friedfertig ausgefallen. Braheva hingegen, sein holdes Weib, kannte keine Angst und wußte sich durchzusetzen. Es war überhaupt fast ein Wunder, daß sie einen Mann gefunden hatte – reich war sie nicht, für eine richtige Orxeyanerin war sie viel zu mager, und ihre Haare waren nicht rot und zu langen Zöpfen ge flochten, sondern wogten in wilden Wellen um den Kopf. »Was soll ich nur machen?« sagte Lykaar traurig. »Alle Lebensfreude ist dahin.« »Hm«, machte einer aus der Runde. »Bring sie um.« Lykaar sah ihn empört an. Der Sprecher zuckte mit den Schultern. »Nun, schick sie zu ihrer Mutter zurück.« »Dann kommen sie zu zweit zurück«, seufzte Lykaar. »Verprügle sie, wie es sich gehört«, sagte Peran und wischte sich den Bierschaum vom Mund. »Und wer pflegt mich nachher?« erkundigte sich Lykaar verdrossen. Er nahm einen tiefen Zug aus dem Krug. »Ich weiß nicht mehr, was ich ma
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chen soll.« »Wenn du es nicht weißt, frage Braheva«, sagte Achar. »Sie wird es wissen.« »Das ist genau das, wovor ich Angst habe«, stieß Lykaar hervor. »Sie kommt auf die wunderlichsten Gedanken.« »Das kann man wohl sagen«, sagte Peran mit einem anzüglichen Seiten blick. »Schließlich hat sie dich auch geheiratet.« »Hört auf mit den Spötteleien«, forderte Lykaar. »Sagt mir lieber, was ich machen soll.« »Lauf weg«, sagte Peran. »Irgendwohin – überall ist es weniger gefähr lich als in Brahevas Nähe.« »Ich muß doch sehr bitten«, empörte sich Lykaar. »Wie sprichst du von der Frau, die ich liebe?« »Ha«, machte Peran. »Du liebst sie?« »In der Tat«, sagte Lykaar überzeugt. »Du hast gar keine andere Wahl«, höhnte Peran. »Wenn du sie nicht lie bst, schlägt sie dich tot – erst mit Worten und später richtig.« »Unfug«, wehrte Lykaar ab. »Ich werde mich doch vor einem Weib nicht fürchten.« »Nicht vor einem, mein Freund, vor deinem!« verbesserte Achar. »Aber jetzt einmal ernsthaft. Wenn du eine Runde bestellst, werden wir uns die Köpfe aufrichtig zerbrechen.« Lykaar überdachte das Angebot. Die Kerbhölzer der Freunde waren noch recht frisch. Noch waren sie also nicht betrunken genug, um nicht vielleicht doch einen guten Ratschlag ausbrüten zu können. »Einverstanden«, sagte Lykaar. Er winkte Gallizzo heran. »Große Hum pen für mich und meine Freunde.« Gallizzo grinste vergnügt und zog davon. »Also«, sagte Lykaar. »Was fällt euch ein?« »Wir haben noch kein Bier«, erklärte Achar. »Ohne Bier fällt mir nie et was ein.« »Deswegen säufst du so viel«, meinte Lykaar. »Und offenbar ist es im mer noch nicht genug. Als Erfinder bist du jedenfalls nicht sehr gut.« »Das stimmt«, sagte Achar und zeigte die Zähne. »Im Erfinden bist du besser – vor allem deiner Frau gegenüber.« Langsam ging das beständige Gelächter seiner Freunde Lykaar auf die Nerven. »Ich habe keine Angst«, behauptete er. »Weder vor meinem Weibe, noch vor sonst irgendwem.« »Oha«, sagte Peran. »Wie wäre es dann mit einem kleinen Ausflug – vielleicht zum Blutdschungel? Dort soll man gute Geschäfte machen kön nen, wenn man weiß, wie man Geschäfte macht.«
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»Pah«, sagte Lykaar. Gallizzo kam heran und stellte die Humpen ab. Vor Lykaars Augen schnitt er vier tiefe Kerben in das Holz, das in Längs richtung gespalten war. Wenn Lykaar, wie er es meistens tat, am Ende des Monats bezahlte, konnte er seine Hälfte des Kerbholzes mit der des Wirts vergleichen – paßten die Kerben zueinander, war die Rechnung richtig. »Ich kann«, behauptete Lykaar, »Geschäfte machen, wo immer ich will.« In der Runde entstand betretenes Schweigen. »Glaubt ihr mir etwa nicht?« Lykaar hatte vor vier Wochen von seinem Weib einen geharnischten Rüffel einstecken müssen, weil er ihr zu umfangreich geworden war. Dar aufhin hatte Lykaar zumindest in den letzten Tagen fast nichts zu sich ge nommen – vergebens, wie sich herausgestellt hatte. Jetzt, auf fast nüchter nen Magen, wirkte das Bier besonders rasch und gründlich. Lykaar hatte erst ein paar Züge genommen, ein Literchen höchstens, und schon war er angetrunken. »Ich mache überall Geschäfte«, behauptete Lykaar und unterstrich seine Ansicht durch einen tiefen Zug aus dem Humpen. »Überall, sage ich euch. Auch in der FESTUNG.« Achar grinste. »Wenn dem so ist«, sagte er augenzwinkernd, »warum wirst du dann nicht Wanderhändler?« »Wanderhändler? Was soll das sein?« »Eine Erfindung von mir«, erklärte Achar. »Du kaufst dir einen schönen großen Wagen, richtest ihn her, so daß du ihn als Wohnung und als Lager raum verwenden kannst, dann spannst du ein paar Yassels davor, und schon kannst du überall auf Pthor herumziehen und Geschäfte machen.« Lykaar setzte den Humpen ab. Seine braunen Augen – ziemlich unpas send für einen waschechten Orxeyaner – bekamen einen träumerischen Ausdruck. »Das werde ich tun«, murmelte er gedankenverloren. »Herumziehen und überall nur kurz haltmachen. Wie Pthor. Ich werde der erste Dimensi onshändler sein, Lykaar der Einzigartige.« »Na also, damit wäre dein Problem gelöst«, sagte Achar zufrieden. »Und wie es der Zufall will, habe ich zufällig gerade ein durchaus brauch bares Gefährt an der Hand. Wohlfeil, versteht sich, ein Gefährt, das einem Synk angemessen wäre …« »Laß den Namen aus dem Spiel«, sagte Lykaar hastig. »Dieser lüsterne Raufbold hat einmal versucht, sich an mein Weib heranzumachen …« »Pah«, machte Peran. »Das tut er bei jeder.« »Wie ist das nun mit dem Wagen?« fragte Achar, bevor das Gespräch eine für ihn wenig erfolgversprechende Wendung nehmen konnte. Man
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mußte mit Lykaar verhandeln, solange er angetrunken war – im Voll rausch konnte er keine Unterschrift mehr leisten. »Ist gemacht«, sagte Lykaar. »Was soll er kosten …?« »Was hat das Ding gekostet? Wieviel?« »Es ist wirklich wohlfeil, Liebste«, beteuerte Lykaar. Sie war hinreißend schön, wenn sie sich ärgerte, fand Lykaar, und er pries nicht selten sein Schicksal, daß sie sich so oft über ihn ärgerte – in diesem Augenblick aber wäre es ihm lieber gewesen, sie wäre etwas weni ger schön gewesen. Braheva stemmte die Hände in die Hüften. »Willst du mir allen Ernstes erzählen, daß du das bißchen, was wir ha ben, für diesen klapprigen Karren und ein magersüchtiges YasselViergespann verkauft hast?« »Vergiß nicht die Ladung«, sagte Lykaar hastig. »Eine ganz tolle Sache, die Achar erfunden hat.« »Auch das noch!« rief Braheva aus. »Achar. Der hat doch noch nie et was erfunden, was zu einem praktischen Zweck etwas getaugt hätte. Was ist es denn diesmal? Ein ganz besonderer Patentknoten, den niemand wie der aufbekommt? Oder eine ganz besonders dichte Ladeplane, unter der alle Lebensmittel verderben?« »Etwas ganz anderes«, erklärte Lykaar. »Seife.« »Sagtest du Seife?« »Er hat ein paar ganz besondere Stoffe hineingemischt«, sagte Lykaar hastig. »Geruchsstoffe, ganz einmalig. Du wirst es erleben.« »Das fürchte ich auch«, sagte Braheva grimmig. »Wieviel hast du von dem Zeug gekauft?« »Alles, was er hatte«, gestand Lykaar kleinlaut. »Er ist doch mein Freund, nicht wahr?« »Schöne Freunde«, wetterte Braheva. »Jeder anständige Orxeyaner mei det diese Lumpen. Anstatt Handel zu treiben oder Überfälle auf die Be wohner des Blutdschungels zu organisieren, was tun sie, deine Freunde? Der eine betätigt sich als Seifensieder, der andere versucht sich als Heil kundiger ohne Patienten, der dritte ist ein Rechtsgelehrter, dem niemand zuhören will … rück endlich mit der Wahrheit heraus: wieviel von unse rem Hab und Gut gehört uns noch?« Lykaar machte sich klein. »Der Wagen, die Tiere und die Ladung«, sagte er. »Damit ist unsere Zu kunft gemacht. Wir haben ausgesorgt.« »Das haben wir«, bestätigte Braheva finster. »Denn jetzt werden wir bald verhungert sein. Eine Wagenladung voll Seife – hat man jemals von einem solchen Narren gehört. Seife, eine ganze Wagenladung Seife. Hat man jemals gehört, daß jemand soviel Seife braucht, he? Wie oft wäscht
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du dich im Jahr, eh? Zwei-, drei-, viermal, wie es sich gehört. Und wieviel Seife brauchst du da? Nicht mehr als eine Nuß. Und wieviel Seife haben wir geladen?« »Mehr als zwanzig Fässer voll«, gestand Lykaar. »Aber es ist ganz be sondere Seife, sie riecht so gut.« »Wer kauft so ein Zeug? Seife, die riecht? Wonach riechst du? Wonach riechen deine Freunde? Nach Braten und Bier, und wenn ihr euch ein biß chen anstrengen würdet, vielleicht auch nach Blut und Schweiß. Und wo nach riecht deine Seife?« »Nach Äpfeln«, sagte Lykaar kleinlaut. Braheva war niemals so schön gewesen wie in diesem Augenblick, fand er. »Äpfel? Wer möchte nach Äpfeln riechen, womöglich noch nach fauli gen?« »Es riecht nach frischen Äpfeln, Liebste«, sagte Lykaar hastig. »Sehr frischen Äpfeln … du wirst sehen, man wird sich um unsere Ware reißen.« Braheva sah ihren Mann an, der unter diesem Blick gleichsam zusam menzuschrumpfen schien. »Wieviel Zeit bleibt uns?« sagte sie dann. Lykaar schluckte. »Noch ein paar Stunden«, gab er zu. Es war mitten in der Nacht; Braheva hatte auf ihren Mann gewartet, der nach dem vorteilhaften Handel zurückgekehrt war – auf allen vieren. Bra hevas Begrüßung hatte ihn jedoch rasch wieder nüchtern werden lassen. »Dann hilf mir packen«, sagte sie und machte sich an die Arbeit. Zwei Stunden später hatten sie ihre Habseligkeiten beieinander – ein bißchen Kücheneinrichtung, Kleider und ein paar Decken, was zum Le bensbedarf gehört. Möbel gab es wenige, und die hatte Lykaar zusammen mit dem Haus verkauft. Vor der Tür stand der Wagen, ein buntbemaltes Gefährt mit einem Ge spann Yassels davor, wie man es sich klappriger kaum vorstellen konnte. Braheva begann unwillkürlich zu flüstern, als habe sie Angst, die Tiere mit zu lauter Stimme erschrecken und damit zum sofortigen Zusammenbruch verleiten zu können. »Und du hoffst, daß diese Mähren uns und den Wagen ziehen können?« fragte Braheva mit gedämpfter Stimme. »Kreuz und quer durch Pthor?« »Bestimmt«, gelobte Lykaar. »Als erstes sollten wir zur FESTUNG fah ren, dort wird man sich sicher für unsere Seife interessieren.« Braheva sah ihren Gatten an und schüttelte den Kopf. »Du und deine Einfälle«, murmelte sie. »Nun ja, wenigstens ist dies kei ne langweilige Ehe. Nun gib schon her!« Sie nahm Lykaar die Zügel aus der Hand, dann schnalzte sie mit der Zunge. Die Yassels drehten gleichzeitig die Köpfe nach hinten, als wollten sie sich vergewissern, daß sie richtig gehört hatten.
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Braheva machte das freundlichste Gesicht, als sie halblaut sagte: »Wenn ihr euch nicht augenblicklich in Bewegung setzt, werdet ihr zu Wurst verarbeitet.« Daraufhin setzten sich die Tiere folgsam in Bewegung. Braheva half dem überraschten Lykaar auf den Bock und lächelte zufrieden. »Siehst du«, sagte sie. »Alles nur eine Frage der richtigen Behandlung.«
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2.
»Doch!« »Nein!« »Doch!« Heimdalls Geduld war reichlich strapaziert. Dieser Satansbraten stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und erlaubte sich die Frechheit, ei nem Odinssohn, der zudem sein Onkel war, die Zunge herauszustrecken. »Du wirst das nicht tun«, brüllte Heimdall. »Und wie willst du mich daran hindern?« höhnte der Knabe. »Willst du mit mir raufen? Reicht dein Mut dazu, ja? Traust du dich an Kinder her an?« »Balduur«, knirschte Heimdall, »halte mich zurück, oder ich erschlage ihn mit der blanken Faust.« »Zu zweit gegen einen?« giftete Bördo. »Seid ihr sicher, daß das ge nügt? Wollt ihr nicht noch ein paar Leute zu Hilfe rufen?« »Was habe ich getan, um dieses Kind zu verdienen?« jammerte Heim dall geschlagen. »Kecker Knabe, wärest du nicht meines Bruders Sohn … deine Gebeine würden längst in der Sonne blinken.« »Schau, Onkel Balduur, wie er mit Worten stark tun kann«, meinte Bör do hämisch. »Nur wenn es richtig zur Sache geht, dann taugt ihm die Tap ferkeit nichts.« Heimdall lehnte sich gegen eine Wand und schloß die Augen. Er fühlte sich jedem Gegner gewachsen, aber vor der schier unglaublichen Aufsäs sigkeit dieses Knaben kapitulierte er. Die einzige Möglichkeit, den Frech ling zur Ruhe zu bringen, schien darin zu bestehen, ihm den Schädel ein zuschlagen. »Du wirst hier unten bleiben, dort, wo auch dein Vater lebt. Die oberen Stockwerke gehen dich nichts an.« »Pah«, machte der Knabe. »Mein Vater geht mich auch nichts an. Ich tue, was ich will, punktum!« Heimdall und Balduur sahen sich verzweifelt an. Sigurd war für ein paar Stunden auf die Jagd gegangen und noch nicht zurückgekehrt. Seinen Sohn Bördo hatte er in der Obhut seiner Brüder gelassen – und nun sah es eher danach aus, als wären die Odinssöhne des Schutzes bedürftig. Bördo ließ keine Gelegenheit aus, seinen Onkeln klarzumachen, was er von ihnen und ihrer Tapferkeit hielt. »Ich gehe jetzt«, sagte Bördo herausfordernd. »Wehe euch, wenn ihr mich zurückzuhalten versucht.« Er machte ein paar Schritte. »Du bleibst hier!« brüllte Heimdall. »Ich warne dich ein letztes Mal.«
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»Pah«, machte der Knabe. Der nächste Schritt. Heimdall stieß einen Schrei ohnmächtiger Wut aus, dann machte er zwei gewaltige Sätze und holte aus. Der Schlag hätte Bördo von den Beinen gefegt, aber der Knabe war längst nicht mehr an der Stelle, an der Heimdall ihn vermutet hatte. Heimdalls Faust krachte gegen einen hölzernen Beuteschild, den Sigurd an dieser Stelle seiner Wohnung aufgehängt hatte. Der Schild barst und fiel als Splitterregen auf den Boden. Heimdall brüllte vor Schmerz auf. »Wenn ich dich erwische«, stieß er hervor. Er brauchte sich nicht erst zu bemühen, den Wutentbrannten zu mimen – seine Laune entsprach diesem Vorhaben. Bördo stand mitten im Raum und streckte Heimdall erneut die Zunge heraus. Heimdall suchte an der Wand unter Sigurds Trophäen nach irgendeinem biegsamen Stock, mit dem er Bördo Sanftmut und Rücksicht auf Onkel einzubleuen gedachte. Leider fand sich dort nichts, was dem Knaben nicht ein paar Knochen gebrochen hätte. Heimdall mußte auf die bloße Faust zurückgreifen. »Komm doch her, wenn du dich traust«, meckerte Bördo. »Kommt doch, alle beide. Mit euch nehme ich es auf, ihr Jämmerlinge.« Balduur, vom Temperament her zwischen Heimdalls verschlossener Härte und Sigurds sonnenhaftem Frohsinn angesiedelt, schüttelte traurig den Kopf. Die Schwierigkeiten wollten kein Ende nehmen, nicht die äu ßerlichen, die Pthor unablässig bedrohten, aber auch die inneren nicht, mit denen die Odinssöhne zu kämpfen hatten. Jetzt war offenbar Sigurd an der Reihe, große Schwierigkeiten zu bekommen. Der Sohn, den er mit der Valjarin Garmakylia gezeugt hatte, machte fortlaufend Schwierigkeiten. Bördo konnte seinem Vater und dessen Brüdern nicht verzeihen, daß sie so jämmerlich versagt hatten, als es hart auf hart gegangen war. »Beruhige dich, Bördo«, sagte Balduur langsam. »Deine Erregung kann ich verstehen, aber glaube mir, du irrst dich.« »Ich kenne euch drei gut genug«, sagte Bördo giftig. »Ihr braucht mir nichts zu erklären, ich weiß, wie Jammerlappen aussehen.« Balduur schüttelte den Kopf. Was war zu tun, um Bördo zur Vernunft zu bringen – offenbar gab es da keine Möglichkeit. Balduur sah Heimdall an. »Ich glaube nicht, daß es viel hilft, wenn du ihn verprügelst«, sagte Bal duur müde. »Er wird es nicht begreifen.« »Möglich, daß er nicht begreift«, sagte Heimdall grimmig. »Ich tue es nicht um seinetwillen, sondern um mir den Seelenfrieden zurückzugeben. Ich werde …«
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»Gar nichts wirst du!« schrie Bördo. Wenig war von dem alten Bördo übriggeblieben, von dem schlanken hochgewachsenen Knaben, der ein sehr ruhiges und gepflegtes Pthora ge sprochen hatte. Jetzt strotzte seine Rede von Gewalttätigkeit, troff von Gift und Bosheit. Bördo machte einen Satz zur Seite, und in Windeseile hatte er aus der Sammlung seines Vaters ein Schwert von der Wand gerissen. »Komm doch her, wenn du dich traust, Heimdall!« schrie Bördo. »Komm doch, es wird mich vergnügen, dich vor mir herzutreiben und dei nen Rücken mit schmählichen Wunden zu zieren.« Niemals hatte irgend jemand länger als zwei Sätze so zu Heimdall ge sprochen, nach diesen zwei Sätzen war Heimdalls Faust niedergefahren und hatte den Höhner verstummen lassen, nicht selten für immer. Und nun ertrug Heimdall Stunde um Stunde das Gegeifer dieses Knaben. »Es tut mir leid, Balduur«, stieß Heimdall hervor. »Ich kann nicht an ders – ich werde ihn umbringen.« Bördo lachte einfach auf. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut und lange, und an Heimdalls Schläfe pulste eine immer dicker werdende Ader. »Du mich umbringen?« Heimdall ging langsam auf Bördo zu. Aus den Augenwinkeln heraus behielt er die Einrichtung des Hauses im Auge. Sehr behutsam rückte er Bördo auf den Pelz, sorgsam darauf achtend, daß er den Knaben in einen Winkel drücken konnte, wo Bördo ihm nicht mehr entwischen konnte. Dann war es soweit. Heimdall machte noch einen Schritt … und fuhr entsetzt zurück. Buchstäblich im allerletzten Augenblick hatte er dem Schwerthieb aus weichen können, mit dem Bördo ihm allen Ernstes die Gurgel durchge schnitten hätte, wäre Heimdall nicht gedankenschnell zurückgezuckt. »Das darf nicht wahr sein«, ächzte Heimdall. »Balduur – der Bursche hat allen Ernstes versucht, mich umzubringen.« »Ich habe es dir gesagt«, stieß Bördo hervor. Er zeigte die Zähne, das Schwert hielt er stoßbereit – und Heimdall wußte, daß der Knabe mit einer solchen Waffe umzugehen verstand. »Wenn du mich anrührst, schlage ich dich nieder.« »Er wird tun, was er sagt«, mischte sich Balduur ein. »Ganz bestimmt, Heimdall, sieh dich vor.« Die Bemerkung schmeichelte Bördo, und Heimdall nutzte die kurze Zeitspanne, in der Bördos Eitelkeit seine Wachsamkeit überstieg. Nach dem Verstreichen dieser Zeitspanne hielt Heimdall Bördos Schwertarm umklammert. Einen Herzschlag später hätte er beinahe wieder losgelassen, denn Bör
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do hatte sich mit einem infamen Fußtritt zur Wehr gesetzt. Der Schmerz ließ Heimdall fast weiß werden. Er griff mit der zweiten Hand zu und riß Bördo das Schwert aus der Hand, dann holte er mit der Waffe aus. Bördo rührte sich nicht um Haaresbreite. Ruhig sah er zu, wie Heimdall das Schwert auf seinen Kopf heruntersausen ließ. »Ich bringe es nicht fertig«, stöhnte Heimdall auf. »Ich kann doch nicht das Kind meines Bruders erschlagen, nur weil es aufsässig ist. Verschwin de, bevor ich es mir anders überlege.« Bördo lachte nur. »Sogar dazu fehlt dir der Mumm. Feine Göttersöhne seid ihr, alle mit einander.« Er verschwand aus dem Raum. Heimdall hängte das Schwert an seinen Platz zurück und suchte sich ein Sitzmöbel. Schwer ließ er sich hineinfallen. Sigurds Heim entsprach seinem Charakter – es wurde nicht zu Unrecht Lichthaus genannt. Bei Tag und Nacht strahlte das Haus des Odinssohns von innen heraus eine blendende Lichtfülle in das Land. So stand südlich der Straße der Mächtigen zwischen Donkmoon und Aghmonth das sechzig Meter hohe Gebäude des Göttersohns, von außen nur als Lichtgestalt erkennbar. Von innen konnte man die Umwelt draußen indes sehr wohl wahrnehmen. In nen war auch erkennbar, daß die gesamte Struktur des Hauses, Decken und Wände, aus stabilisierter Energie zu bestehen schien. Sigurd bewohnte nur die unterste Etage des Hauses, von dem es hieß, Odin selbst habe die Heimstatt seines Sohnes mit einem Blitz geschaffen. Die oberen Etagen waren leer und verlassen, durch eine Wendeltreppe er reichbar. Diese untere Etage war nach Sigurds Geschmack eingerichtet, mit viel Holz und Leder, dem fröhlich-kriegerischen Charakter des Odinssohns entsprechend, der die Jagd liebte und von den Odinssöhnen der weltoffen ste war. Dies wurde auch durch die Tatsache offenkundig, daß er eine Ver bindung mit einer Sterblichen eingegangen war. Bördo, der sich in diesem Augenblick in den leeren oberen Räumen herumtrieb, war die Frucht die ser Ehe. »Sehr lange halte ich das nicht mehr aus«, seufzte Heimdall. Balduur zuckte nur mit den Schultern. Er hatte einen Humpen Bier vor sich stehen, aus dem er ab und an einen kleinen Schluck nahm. Die Lage der Odinssöhne war alles andere als beneidenswert. Sie hatten Niederlagen hinnehmen müssen, und das schmeckte ihnen, den Siegge wohnten, überhaupt nicht. Und jetzt trieb sich auch noch der mißratene Bengel im Hause herum und hänselte die Unglücklichen, die sich selbst
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wegen ihres Versagens Vorwürfe genug machten. »Haben wir eine andere Wahl?« fragte Balduur. »Wir müssen mit Pthor und seinen Bewohnern leben, wie immer sie sich auch gebärden.« »Leben nennst du das?« fragte Heimdall grollend. Fast wütend schüttete er das Bier in sich hinein. »Es muß etwas geschehen«, forderte er. »Und zwar bald.« Balduur zuckte mit den Schultern. Was sollte geschehen? War nicht genug, was sich in den letzten Mona ten abgespielt hatte? Ein wenig war Ruhe eingekehrt auf Pthor, eine ge fährliche Ruhe, eher unheilverkündend als beruhigend. Von den Magiern in der Barriere von Oth war so gut wie nichts mehr zu hören, fast schien es, als gäbe es sie gar nicht mehr. Die FESTUNG war nach dem Kampf der Magier verlassen worden, es hatte die Odinssöhne dort nicht mehr gehalten. Auch die Gesandten aus al len Teilen Pthors hatten sich abgesetzt, als sie den Abzug der Odinssöhne gesehen hatten. Jetzt gab es nur noch eine Handvoll Technos und Dellos, die sich in der Nähe der Pyramiden aufhielten und nach dem Rechten sa hen. »Was immer geschehen kann«, sagte Heimdall düster, »gut wird es nicht sein.« »Was euch schadet, kann mir nur nutzen!« Heimdall brauchte sich nicht umzusehen. Er wußte, wer solcherart mit Gift spritzte. »Nun? Ist es dir zu langweilig geworden da oben?« »Die Räume oben sind so leer wie eure Herzen. Das sind auch bloß Rumpelkammern.« Heimdall war zu müde, um sich jetzt noch einmal über die Frechheiten des Knaben aufzuregen. »Warte, bis dein Vater nach Hause kommt …« »… dann wird der etwas erleben«, setzte Bördo den Satz frech fort. Bal duur holte tief Luft und atmete geräuschvoll wieder aus. »Warum gehst du nicht nach draußen, wie andere Kinder in deinem Al ter?« »Bin ich ein normales Kind?« fragte Bördo. »Bei solchen Eltern und Verwandten.« »Sigurd«, murmelte Heimdall, und es klang wie ein Fluch, »was um al les in der Welt hat dich dazu getrieben, diese Frucht deiner Lenden am Le ben zu lassen.« »Wahrscheinlich war er schon damals zu feige, der ehrenwerte Vater.« Es schien keinen Satz zu geben, den Bördo nicht mit Gift hätte anrei chern können. Was auch immer gesagt oder getan wurde, Bördo fand eine Möglichkeit, zu giften und zu geifern.
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»Dein Vater …«, begann Heimdall, unterbrach sich aber, als von drau ßen ein Gedankenbefehl Sigurd eine Öffnung in der Außenmauer des Lichthauses schuf. In dem so entstandenen Rahmen erschien Sigurd, Bör dos Vater. »Hahaha!« gellte Bördos Lachen durch das Lichthaus. »Seht ihn euch an!« Heimdall schluckte, Balduur schüttelte fassungslos den Kopf. Sigurd war nicht nur ohne Beute heimgekehrt, ein Vorgang, wie man sich ihn kaum vorstellen konnte. Er sah zudem aus, als wäre er von einem Yassel kreuz und quer durch das Land geschleift worden, einige sehr morastige Stellen eingeschlossen. Heimdall stand auf und ging zu Sigurd hinüber. Das Gesicht des jüng sten der Odinssöhne glich einer versteinerten Maske. »Was um alles in der Welt ist passiert?« fragte Heimdall drängend. »Rede, Bruder! Bist du überfallen worden?« Sigurd machte einige Schritte in sein Haus hinein. Er sah zum Fürchten aus. Wo er hintrat, hinterließ er braune Flecken auf dem fellbedeckten Bo den. »Trink erst einmal«, sagte Balduur, füllte einen großen Humpen mit Bier und reichte ihn dem Bruder. Sigurd schien durch ihn hindurchzuse hen, dann nahm er den Humpen, setzte ihn an und leerte ihn mit einem tie fen Zug. »Hahaha«, kicherte noch immer Bördo voller Häme. Sigurd sah auf. Heimdall erschrak, als er diesen Blick sah, und Bördo verstummte au genblicklich. In Sigurds Blick flackerte ungezügelte Mordlust, und dieser Drang würde auch vor Bördo nicht haltmachen. »Rede, was ist geschehen.« »Ich hatte es auf gute Beute abgesehen«, murmelte Sigurd. »Ein kapita ler Eber, ein guter Braten für uns alle, eine riesige Portion Fleisch.« »Und? Wo ist der Eber?« Sigurds Gesicht überzog sich langsam mit feiner Röte. »Draußen«, sagte er und griff nach Heimdalls Arm, als der hinauseilen wollte, um die Beute hereinzutragen. »Du brauchst nicht hinauszustürmen, er lebt noch.« »Erzähle«, bat Balduur. Er füllte den Humpen nach. »Ich habe den Burschen gesehen, ein prächtiger Kerl, wild und unbän dig, und er stand genau vor mir. Ich habe den Speer gehoben, um ihn zu fällen …« »Ja, und … weiter?« »Ich machte einen Schritt, und prompt lag ich auf der Nase. Ich bin ge stolpert.«
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Ein leises Kichern erklang von der Wendeltreppe her. Bördo hatte sich ganz nach oben verzogen, so weit wie möglich aus der Reichweite seines Vaters. »So etwas kann passieren«, sagte Heimdall begütigend, obwohl er sich nicht erinnern konnte, daß ihm oder einem seiner Brüder früher einmal ein solch klägliches Versagen unterlaufen war. »Du hast dir dabei aber nicht den Speer mit solcher Wucht selbst vor die Stirn geschlagen, daß du ohnmächtig liegengeblieben bist«, murmelte Si gurd. »Das allerdings nicht«, sagte Heimdall, der Fürchterliches zu ahnen be gann. »Als ich zu mir kam, ich weiß selbst nicht, wann und warum überhaupt, da …« »Ja? Nun? Was war?« »… lag ich in der Suhle. Das Vieh muß mich, als ich ohnmächtig war, vor sich hergerollt haben. Ich lag mitten in einer Herde grunzender Wild schweine, und jetzt weißt du auch, warum ich so aussehe.« Balduur schüttelte den Kopf. »Das glaubt dir kein … Mensch«, stieß er hervor. »So etwas tun Wild schweine nicht.« »Das weißt du«, schrie Sigurd wütend. »Und Heimdall weiß es, und ich weiß es auch, aber dieses … oh, wie ich es hasse, dieses Vieh. Es hat es je denfalls nicht gewußt.« »Wenn das herauskommt, bist du blamiert für alle Tage«, sagte Heim dall trocken. Von draußen kam durch die noch immer offen stehende Tür ein heiseres Krächzen. »Hugin und Munin!« rief Bördo und fegte die Treppe hinunter. »Vielleicht wissen sie Neues.« Sigurd sah seinem Sohn nach, als der an ihm vorbeiflitzte. Dann fixierte er seine Brüder. »Gleichgültig, was die Raben uns zutragen«, sagte er. »Etwas muß ge schehen, so kann es jedenfalls nicht weitergehen.«
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3.
»So kann es jedenfalls nicht weitergehen«, sagte Sator Synk unwillig. »Ich habe einfach nichts mehr zu tun – und das halte ich nicht aus.« »Andere wären glücklich, brauchten sie nicht mehr zu kämpfen und ihr Leben einzusetzen.« »Ha!« machte Sator Synk. Der Orxeyaner war sichtlich mit sich selbst unzufrieden. Er strotzte gleichsam vor Tatendrang, fand aber nichts, woran er sich hätte austoben können. Seit er und Leenia sich bei Koy und Kolphyr getrennt hatten, wa ren Synks Robotguerillas, immer wieder ausgeschwärmt, aber sie hatten nichts finden können. Es schien keinen Gegner mehr für die eigenwillige Truppe des Orxeyaners zu geben – und das stimmte Sator Synk über die Maßen verdrießlich. In diesem Fall war es Leenia, die diesen Verdruß an zuhören hatte. »Tatenlos sitze ich hier herum«, ereiferte sich Sator Synk. »Nichts ge schieht, rein gar nichts. Es wird langweilig.« »Mir nicht«, sagte Leenia gelassen. »Aber mir«, gab Synk zu verstehen. »Ich brauche Tätigkeit, Aktionen. Zu meinem Leben gehören Braten, Bier und Beulen.« Leenia lächelte zurückhaltend. »Hast du Hunger? Brauchst du etwas zu trinken?« Sator Synk hob den gefüllten Humpen. »Einstweilen nicht«, sagte er und nahm einen kräftigen Zug. »Ich habe keinen Durst, trotzdem …« »Was hast du vor?« fragte Leenia knapp. Sator Synk zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich selbst nicht so recht«, gab er zu. »Ich würde gerne loszie hen und nach dem Rechten sehen.« »Warum tust du es nicht?« »Allein? Ohne Hilfe?« Leenia hatte einen Vorschlag parat. »Geh zum Herrn Soltzamen und frage ihn, ob du deine Robottruppe wieder bekommen kannst.« »Und du?« »Ich werde in jedem Fall hierbleiben.« Sator Synk setzte den geleerten Bierhumpen ab und fegte sich ein paar Krümel aus dem Bart. Seine hellblauen Augen blitzten in dem rotbärtigen Gesicht. »Genau das werde ich tun«, verkündete er. »Das werde ich, so wahr ich Sator Synk bin.«
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Leenia sah ihm nach, als er abzog, um den Herrn Soltzamen aufzusu chen. Bereits nach einer halben Stunde war Sator Synk wieder zur Stelle – und er war sehr empört. »Nein hat er gesagt«, ereiferte sich der Orxeyaner. »Einfach nein.« »Du bekommst deine Roboter nicht?« »Nein, er will sie nicht hergeben.« Leenia wußte, daß Synks Robotguerillas seit seiner Ankunft in Wolter haven wieder normalen Tätigkeiten nachgingen. »Und warum?« »Der Herr Soltzamen sagt, es gäbe keine Gegner mehr, gegen die die Roboter antreten könnten. Und außerdem, sagte der Herr Soltzamen, brau che er seine Diener inzwischen für andere wichtige Aufgaben. Hast du da für Worte?« »Er wird wissen, was er sagt«, meinte Leenia. »Es ist wirklich friedlich im Lande.« »Täuschung«, behauptete Sator Synk. »Lug und Trug. Du wirst sehen.« Leenia sah auf. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde nichts sehen«, sagte sie freundlich, aber entschieden. »Ich werde hierbleiben und mich ausruhen, und du solltest das gleiche tun.« Der stämmige Orxeyaner schüttelte den Kopf, daß der lange rote Bart wehte. »Keinesfalls«, stieß er hervor. »Ich werde nach dem Rechten sehen, und wenn du nicht mitkommst, dann werde ich allein aufbrechen. Pah, wozu brauche ich die Guerilleros – ist ein Sator Synk nicht Manns genug, seine Feinde niederzuwerfen?« »Tu, was dir richtig erscheint«, sagte Leenia freundlich. »Und du willst wirklich nicht …?« »Ich bleibe hier«, antwortete Leenia. Sator Synk sah sie sichtlich mißvergnügt an, dann zuckte er mit den Schultern. »Wie du meinst«, sagte er. »Ich komme auch allein zurecht.« Er machte sich sofort an die Arbeit, sein Vorhaben in die Tat umzuset zen. Es war später Nachmittag, und der Oxeyaner hatte keine Lust, zu Fuß durch Pthor zu wandern. Infolgedessen brauchte er zuallererst ein Fahr zeug. Eine halbe Stunde später war der Zugor zur Stelle – ohne daß Synk zu vor den Herrn Soltzamen um Erlaubnis gebeten hatte. Dann packte der Or xeyaner flüssigen und festen Mundvorrat zusammen, dazu einige Waffen. Und zwei Stunden nach dem erfolglosen Gespräch mit dem Herrn Soltza men war Sator Synk unterwegs. Als erstes sah er zu, daß er sich von Wolterhaven entfernte, erst danach wollte er seinen Kurs endgültig festlegen.
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Sobald die Stadt der Robotbürger außer Sicht war, ließ er den Zugor langsamer fliegen. »Und nun? Wohin?« fragte er sich selbst halblaut. Sein Weg führte ihn am Blutdschungel vorbei, aber dort nach alter or xeyanischer Tradition ein wenig herumzustöbern, erschien dem Orxeyaner wenig verlockend. Sein Weg führte ihn zwangsläufig auch an seiner Hei matstadt vorbei, aber Synk hatte auch zu einem Besuch Orxeyas keine rechte Lust. Zur rechten Hand erstreckten sich die Berge der Großen Bar riere von Oth, auch das erschien Synk nicht als verlockendes Ziel. Einstweilen folgte er der Straße der Mächtigen in Richtung auf die FE STUNG – sie sollte das endgültige Ziel für Synks Ausflug sein, aber vor erst hatte es der Orxeyaner nicht sehr eilig. Synk summte leise ein orxeyanisches Kampflied, während er gleichzei tig den Zugor steuerte, einen Krug Bier anbrach und sich ein Stück fette Wurst abschnitt. Solcherart gegen alle nur denkbaren Unbilden gefeit, ließ er den Zugor fliegen und erfreute sich seines Lebens. »Kalmlech«, sagte er kauend. »Das ist das rechte. Dort werde ich nach sehen.« Die Ebene lag ohnehin auf der Route, und vielleicht ließ sich dort etwas finden, was Synk und die Robotguerilleros zu neuer Tätigkeit anspornen konnte. Den Pthorern war, wie Synk genau wußte, die Ebene von Kalmlech von alters her nicht geheuer, daran hatte sich auch nach dem Verschwinden der Horden der Nacht nichts geändert. Noch immer galt das Gebiet als verru fen und überaus gefährlich. Es gab Sagen aus alten Zeiten, nach denen die Gnitaheide, so wurde Kalmlech ab und an ebenfalls genannt, ein großes Geheimnis berge. Wieder andere wußten angeblich aus grauer Vorzeit von einem sagenhaften Schatz, der irgendwo auf der Ebene von Kalmlech auf den glücklichen Finder harre. Sator Synk hielt von solchen Mären und Sa gen wenig, er suchte nach handfesteren Dingen – und auch dazu gab es ge nügend Erzählungen. Kalmlech jedenfalls war ein Ort des Schreckens ge blieben, dem sich die Pthorer nur ungern zu nähern wagten. Für einen kampferprobten Haudegen vom Schlage eines Sator Synk stellten dieses Gerüchte bestenfalls Herausforderungen dar – abschrecken konnten sie ihn nicht, mehr noch, sie konnten ihn in seiner Untätigkeit nur reizen. Infolgedessen war Sator Synk frohgelaunt und erwartungsvoll, als er seinen Zugor um Orxeya herumzulenken begann, die Nase auf die Ebe ne von Kalmlech gerichtet. »Seife, die nach Äpfeln riecht«, murmelte Braheva. »Wann hat man je so etwas gehört.« »Warte nur ab, Liebste«, beschwor Lykaar sein Weib. »Es wird sich al les zum Guten wenden. Ungeheure Geschäfte werden wir machen.«
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»Ungeheuer ist das passende Wort«, sagte Braheva. Die Yassels trotteten kurzatmig über die Straße der Mächtigen, und ihr Schnaufen und Schnauben kündeten an, daß sie binnen kurzer Frist er schöpft zusammenbrechen würden. Hinter den prustenden Tieren schwankte der Wagen hin und her. Das Holz ächzte und jammerte, die Fe dern der Aufhängung quietschten, die Plane schlug hart gegen den Über bau. Lykaar und Braheva gingen neben dem Wagen – ihrer beider Gewicht hätten die Yassels schwerlich als zusätzliche Last bewältigt. Die beiden mußten froh sein, daß die ausgemergelten Tiere den Wagen überhaupt fortzuzerren vermochten. Ziel der Reise sollte zunächst Zbahn sein, dort würde man weitersehen. Vielleicht ließ sich mit den Technos ein Geschäft machen, und wenn nicht mit ihnen, dann vielleicht mit dem Gesindel, das sich in den Vorstädten von Zbahn herumtrieb. Lykaar hatte zwar gewisse Zweifel, ob er ausge rechnet in diesen finsteren und schmutzigen Vierteln seine Seife würde verkaufen können, auf der anderen Seite aber gab es theoretisch an kaum einem Ort Pthors eine so fundamentale Nachfragesituation für Seife wie ausgerechnet dort. Wenn jemand Seife in großer Menge brauchte, dann die Technos in den Elendsvierteln zwischen den einzelnen Stadtteilen von Zbahn. »Wir wollen rasten«, bestimmte Lykaar. »Die Tiere brechen sonst noch zusammen.« Braheva bedachte die Yassels mit einem kritischen Blick. Die Tiere sa hen tatsächlich sehr erschöpft aus, obwohl sie nach der Mittagsrast erst wenige Kilometer zurückgelegt hatten. »Einverstanden«, sagte sie. »Spann ab. Ich werde mich nach einer Was serstelle umsehen.« Lykaar machte sich an die Arbeit, die Yassels aus dem Geschirr zu be freien, das sie vor den Wagen gespannt hielt. Es war dies keine Arbeit, die ihm lag – von praktischen Dingen hatte er von je her wenig verstanden, und dieses Zaumzeug und die Ledergurte waren entsetzlich kompliziert. Als Braheva schließlich zurückkehrte, waren zwar die Yassels frei – sie weideten friedlich neben der Straße – dafür aber war Lykaar eingespannt, und es bedurfte halbstündiger Arbeit, ihn aus dem völlig verdrehten und verknoteten Zaumzeug herauszuschälen. »Ich möchte wissen, warum ich dich zum Mann genommen habe«, mur melte Braheva verzweifelt, als sie Lykaar endlich freigekämpft hatte. »Aus Liebe vielleicht?« vermutete Lykaar. Braheva bedachte ihn mit einem verweisenden Blick, dann machte sie sich daran, das Abendessen zuzubereiten. Lykaar schlug derweilen ein Zelt auf, in dem die beiden die Nacht verbringen wollten. Braheva kochte vorzüglich, sie verstand es, aus Kleinigkeiten förmliche
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Kunstwerke herzustellen – ein Grund für Lykaars Umfänglichkeit. Auch an diesem Abend griff er wacker zu, Braheva hielt sich wie stets sehr zu rück. Irgendwie schien es unmöglich, sie auf jenes handliche Format hin aufzumästen, wie es von den Orxeyanern so sehr geschätzt wurde. Braheva sorgte dafür, daß die Yassels versorgt wurden, dann gingen die beiden schlafen. »Wie viele Tage werden wir brauchen bis Zbahn?« fragte Braheva, während sie sich in die Decke einrollte. »Schwer abzuschätzen«, sagte Lykaar schlaftrunken. »Es wird davon abhängen, wie schnell die Yassels ziehen können.« Er wollte gerade die Kerze ausblasen, als in seinem Gesichtskreis ein Insekt auftauchte. Lykaar war kein Feigling, niemand wußte das besser als er, aber er be saß einen gesunden Abscheu vor Insekten, die mit ihren Stacheln Löcher in Menschenhäute bohren und häßliche Pickel hinterlassen konnten. »Weg da!« knurrte Lykaar und schlug nach dem schwarzen Flieger. Das Insekt verendete zwischen seiner Faust und der Zeltwand, die heftig ins Schwanken geriet. »Was machst du da?« fragte Braheva, ohne aufzusehen. »Ich erschlage eine Fliege oder so etwas Ähnliches. Da ist noch eines von den Viechern.« Er schlug erneut zu, und er traf auch. Es fehlte nicht viel, und er hätte ein Loch in die Zeltbahn getrieben. Zu seinem Entsetzen waren plötzlich zwei weitere der häßlichen schwarzen Brummer aufgetaucht. »Elende Krabbler!« schimpfte Lykaar und versuchte, die Eindringlinge zu vertreiben, aber das ließ sich nicht so leicht bewerkstelligen. Bald gab es ein halbes Dutzend der daumengroßen Insekten im Innern des Zeltes. Braheva richtete sich auf. »Wo kommen die ganzen Tiere her?« fragte sie schlaftrunken. Lykaar sah ein Insekt, das sich in ihren hellblonden Haaren verfangen hatte, er holte aus, den krabbelnden Frevler zu erschlagen, aber ein warnender Blick aus Brahevas Augen hielt ihn zurück. Das Zelt war erfüllt vom Summen der eingedrungenen Insekten, inzwi schen waren es mehr als drei Dutzend. Und als Lykaar eines erschlug und dabei die Zeltwand ausbeulte, gab es draußen ein drohendes Brummen. »Heiliges Pthor«, ächzte Lykaar. »Wo mögen die Viecher herkommen – und was suchen sie überhaupt hier?« Eines der Insekten geriet in die Flamme der Kerze und verging in einer blitzschnell auflodernden Flamme. Zurück ließ es einen ekelhaften Schmorgeruch. »Mach das Licht aus!« befahl Braheva ihrem Mann, während sie ihre Haare von sechs oder sieben der Plagegeister befreite. Bis jetzt war weder
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sie noch Lykaar gestochen oder gebissen worden, aber das konnte sich vielleicht ändern. Lykaar holte aus, um die Kerze zu löschen, hielt dann aber inne. Sein Gesicht überzog sich mit wächserner Blässe. »Oh nein!« hauchte er angstgeschüttelt. »Das nicht.« »Was ist los?« fragte Braheva. »Sieh nur!« stieß Lykaar hervor. »Sieh nur – sie sind tollwütig.« »Was?« Braheva sah in die Richtung, die Lykaars bebende Hand ihr andeutete. Zum ersten Mal sah sie einen der geflügelten Eindringlinge aus der Nähe. Es waren daumengroße Flugameisen, vermutlich auf dem Hochzeits flug. Was Lykaar aber bis ins Mark erschreckt hatte, und nun auch Brahe va bleich werden ließ, war etwas anderes. Deutlich zu erkennen war der schwärzliche Leib mit den sechs Beinen und dem Flügelpaar. Deutlich zu erkennen war der kleine schwarze Kopf – und dort erkannte Braheva ebenso deutlich und unübersehbar, daß Lykaar richtig gesehen hatte. Die Ameisen hatten Schaum vor dem Maul. Sator Synk hatte es nicht eilig und ließ den Zugor langsam fliegen. Er ge noß es, über das Land zu blicken – so als gehöre dies alles ihm allein. Der Zugor zog ruhig seine Bahn, das Bier war noch angenehm kühl, und das eingepackte Brot schmeckte vorzüglich. So betrachtet, hatte der Orxeyaner allen Grund, mit sich und seinem Geschick zufrieden zu sein. An Orxeya, seiner Heimat, war Sator Synk vorbeigeflogen. Er hatte an diesem Tag wenig Lust, sich mit Landsleuten zu treffen, obwohl es sicher lich eine prächtige Rauferei gegeben hätte. Sator Synk war ein ganz klein wenig betrunken, und er sang ein fröhli ches Kampflied, während er nach einem Plätzchen Ausschau hielt, an dem er sich und den Zugor für eine nächtliche Pause abstellen konnte. Irgendwo neben der Straße der Mächtigen gab es sicherlich ungestörte Winkel, in denen man nicht so schnell von anderen gefunden werden konnte. Etwas kam brummend herangebraust und prallte gegen das linke Bein des Orxeyaners. Dann kam ein weiteres Etwas und platschte Sator Synk mitten ins Ge sicht. »Elender Kerl!« brüllte der Orxeyaner gereizt. »Wer wagt es, mit irgend etwas nach einem Sator Synk zu werfen. Kommt her, ihr Feiglinge, stellt euch und kämpft.« Er bekam keine Antwort, nur einen weiteren Brocken ins Gesicht, und dann merkte Sator Synk, daß er offenkundig so betrunken war wie niemals zuvor in seinem Leben.
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Zum einen spürte er nämlich ein paar winzige Beine auf seiner Wange krabbeln, und dann, als das Insekt längst davongeschwirrt war, nahm Sator Synk einen feinen Geruch nach frischem Apfelwein wahr, und zu allem Überfluß hatte er ebenso plötzlich einen ganz entsetzlichen Geschmack nach Seife im Mund. »Das Grauen geht um auf Pthor«, murmelte Synk stark erschüttert. Ir gendwo in der Nähe mußte es einen Schwarm flügger Ameisen geben, die auf Hochzeitsreise waren. So etwas gab es in diesem Landstrich häufiger, aber wo kam, zum Teufel, dieser penetrante Apfelgeruch her? Und der sei fige Geschmack, der immer stärker wurde? Sator Synk hörte das Brummen des Schwarmes. Es mußten ein paar Myriaden sein, eine unvorstellbar große Zahl, wie bei solchen Schwärmen üblich. Wieder klatschte ein flügellahmes Insekt auf der Bordwand des Zugors auf, und wieder roch es nach frischem Apfelwein. »Eine Destille?« vermutete Sator Synk. »Hier?« Er konnte sich nicht vorstellen, warum sich ein Schnapsbrenner neben der Straße der Mächtigen seine versteckte Brennerei errichten sollte – der Mann hätte verrückt sein müssen. Zudem war jetzt nicht die Zeit, Äpfel in Schnaps zu verwandeln. »Wie dem auch sei«, murmelte Synk und grinste, als er an große Krüge Apfelschnaps dachte. »Ich werde nachsehen.« Er ließ den Zugor beschleunigen, dem Zug der betrunkenen Ameisen entgegen. Das rhythmische Klatschen der Tiere auf der Bordwand des Zu gors verriet dem Orxeyaner, daß er auf dem richtigen Kurs war. Der Ap felgeruch wurde immer stärker und stärker. Es mußte eine ungeheuer große Brennerei sein, genau voraus, von der noch nie jemand etwas gehört hatte. Sator Synk hatte zwar große Zweifel, ob er seinen Sinnen noch trau en durfte, aber er steuerte weiter auf die Quelle des seltsamen Geruchs zu. Nach wenigen Minuten war er am Ziel.
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4.
»So hilf mir doch!« schrie Lykaar. Er schlug mit den Händen um sich, in dem verzweifelten Bemühen, sich von den fliegenden Ameisen zu befreien. Braheva war mit der gleichen Arbeit beschäftigt, und auf beide wartete ein Wagen, der buchstäblich schwarz war von ermatteten Insekten, die sich auf der hellen Plane ausruh ten. Wo immer Lykaar nach der Plane griff, um die lästigen Tiere abzu schütteln, zerdrückte er ein paar Insekten und hinterließ auf der Plane einen blutigen Fleck. Aus dem Innern des Wagens heraus summte und brummte es. Offenbar wurden die Ameisen vom Duft der Seife von weither angezogen, und in ihrer Gier nach der Apfelseife konnte sie nichts aufhalten. Weit entfernt von dem Lagerplatz mühten sich die angehobbelten Yassels, sich vom Schauplatz des verzweifelten Kampfes zu entfernen. Lykaar griff nach dem Wassereimer und schüttete den Inhalt über die Plane des Wagens. Erreichen konnte er damit nicht das geringste, wie er betrübt feststellen mußte. Zwar wischte der Schwall ein paar Dutzend von der Plane, aber die freien Plätze waren im Handumdrehen wieder besetzt. Lykaar sah im Geiste schon die gesamte kostbare Ladung von den Ameisen verzehrt, und der Gedanke gab ihm neue Kraft. Er kümmerte sich nicht länger um die kitzelnden Füße auf seiner Haut und in seinen Haaren. Er mußte etwas tun, um die Tiere ein für allemal zu vertreiben. Sein Blick fiel auf das kleine Lagerfeuer, an dem Braheva das Abendessen zubereitet hatte. Noch gab es Glut an der Feuerstelle. Lykaar rannte hin und griff nach einem Stück trockenen Holzes. Er hat te Glück, das Feuer loderte bald wieder auf. »Na wartet!« stieß Lykaar ergrimmt hervor. Sehr laut zu sprechen wagte er nicht – dazu hätte er nämlich den Mund weit öffnen müssen, und der Gedanke daran, daß in dem offenen Mund eine Ameise … da schwieg er lieber. »Bist du übergeschnappt!« schrie Braheva, als sie sah, wie Lykaar mit einer Fackel dem Wagen zu Leibe rücken wollte. »Du wirst ihn verbren nen!« Sie rannte auf Lykaar zu und riß ihm die Fackel aus der Hand. Dann rannte sie ein paar Schritte zur Seite und hielt die Fackel in die Höhe. Der abziehende Rauch verriet ihr, woher der Wind wehte. »Bring Holz hierher!« schrie sie. »Und auch ein paar nasse Stücke.« Lykaar hatte sich nach einem Jahr Ehe bereits ans Gehorchen gewöhnt. Er rannte also sofort los, um die Anweisungen seines Weibes auszuführen. Er wußte aus Erfahrung, daß Braheva in solchen Fragen den klügeren
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Kopf hatte und in aller Regel einfallsreich genug war, sich aus allen Miß lichkeiten herauszuwinden, in die sie beide durch Lykaars besonderes Ta lent hineingeschlittert waren. Mit einem Armvoll Brennholz eilte Lykaar zum Standort seiner Frau hinüber. Braheva hatte inzwischen ein kleines Feuer entfacht. Der Rauch trieb, wie Lykaar feststellte, genau auf den Wagen zu, in dem es immer noch höchst bedrohlich summte und brummte. Und aus der Ferne kamen von irgendwoher immer neue Schwärme – der Flug schien kein Ende zu nehmen zu wollen. »Los, hilf mir, das Feuer zu vergrößern!« drängte Braheva. »Wir brau chen mehr Qualm.« Folgsam schnürte Lykaar das Feuer. Immer höher schlugen die Flam men und erleuchteten den Schauplatz des Geschehens taghell. Erst jetzt konnte Lykaar sehen, daß nicht nur der Wagen, sondern auch der Boden rings um das Lager schwarz war von Insekten. Nie zuvor in seinem Leben hatte Lykaar eine solche Menge von Insekten zu Gesicht bekommen. Irgendwo in dem schwärzlichen Gewimmel mußte eigentlich auch das Zelt stehen, aber vielleicht war es längst unter dem Gewicht der Insekten zusammengebrochen. »Versuche, die Yassels einzufangen!« wies Braheva ihren Gatten an. »Ich komme hier schon zurecht.« Lykaar erkannte bei einem raschen Rundblick, daß die Tiere ver schwunden waren. Er nahm eine Fackel und rannte los. Er erinnerte sich, wo er sie zuletzt gesehen hatte – in dieser Richtung mußten sie im nächtli chen Dunkel zu finden sein. Sie schienen sich weit entfernt zu haben. Nach ein paar Minuten konnte Lykaar das Feuer schon nicht mehr sehen, mit dem Braheva die Insekten auszuräuchern plante. »Heda!« rief Lykaar. »Kommt heraus!« Nichts rührte sich. Nachts im Freien herumzulaufen, war nichts, was Lykaar mit großem Vergnügen tat. Jedenfalls erschrak er bis ins Mark, als er in seiner unmit telbaren Nähe ein verdächtiges Scharren und Stampfen hörte, und er fuhr blitzschnell herum. Zu sehen gab es nichts, nur Sand und Steine und Sträu cher. Lykaar schluckte. Am liebsten hätte er die Fackel weggeworfen, die ihn weithin sichtbar machte. Dann aber hätte er blind im Dunkeln herumtap pen müssen, und davor hatte er noch viel mehr Angst. Wenn nur Braheva in seiner Nähe gewesen wäre, hätte er sich wesent lich wohler gefühlt. Lykaars Weib besaß ein Durchsetzungsvermögen, dem wahrscheinlich auch die Horden der Nacht nicht gewachsen gewesen wären – jedenfalls erschien es Lykaar ab und zu in diesem Licht.
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Vorsichtig bewegte er sich weiter. Er nahm allen Mut zusammen und hob die Fackel ein wenig. Quelle des Geräusches war ein Yassel, das angehobbelt neben einem Busch stand und emsig daran knabberte. Lykaar stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Wenigstens eines«, sagte er zufrieden. »He, du Vieh, wo ist dein Freund?« Das Yassel antwortete nicht. Lykaar sah dem Tier ein paar Augenblicke beim Fressen zu, dann überlegte er sich, daß die anderen Yassels nicht sehr weit entfernt sein konnten. Etwas tapferer in der Haltung schritt Ly kaar weiter. Er fand die anderen Tiere tatsächlich in der Nähe, und er schaffte es auch, sie langsam zum Wagen zurückzulotsen. Einfach war das nicht, weil die Yassels ihren eigenen Willen besaßen und es Lykaar von je her ein we nig am Durchsetzungsvermögen gefehlt hatte. Er schaffte es dennoch, die Tiere in der Nähe des Wagens an einen Pflock anzubinden. Das Feuer, das Braheva entfacht hatte, loderte hoch auf, und der ätzende Qualm tat tatsächlich seine Wirkung. Wenn die Fluginsekten nicht in ihrer Gier nach dem Licht im Feuer verendeten, kippten sie nach kurzer Zeit vom Rauch getötet von der Plane. »Braheva!« rief Lykaar. »Ich habe die Tiere wiedergefunden!« Von seinem Weib war nichts zu sehen. Wahrscheinlich war sie auf der rückwärtigen Seite des Wagens damit beschäftigt, die Plane zu lösen, um auch diese Seite dem Rauch zugänglich zu machen, vor allem aber das In nere, denn dort hatte sich, wie das Brausen verriet, ein gewaltiger Schwarm zusammengefunden, um Lykaars ganze Habe aufzuzehren. »Braheva, Liebste!« rief Lykaar. Er ging um den Wagen herum, und er erkannte, daß es schlimmere Gefahren gab als Nacht und Dunkel und Hor den der Nacht und Flugameisen. Denn an dem Wagen lehnte, die Körperhaltung geprägt von Erfolgssi cherheit und Zuversicht, ein Mann, den Lykaar nirgendwo ungerner sah als ausgerechnet hier. Sator Synk, und er war ins Gespräch mit Braheva vertieft. »Heda!« rief Lykaar. »Was macht ihr da?« Sator Synk sah sich nicht einmal um. Mit einer lässigen Bewegung deu tete der Orxeyaner über die Schulter. »Lebst du noch immer mit dem da zusammen?« erkundigte er sich mit fühlend. Lykaar platzte beinahe vor Wut, denn er wußte nur zu gut, daß er in ei nem Handgemenge mit diesem kampferprobten Haudegen keine Chance gehabt hätte. Bestenfalls hätte er sich lächerlich gemacht. Braheva nestelte eifrig an den Knoten herum, mit denen die Plane am
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Rand des Wagengestells befestigt war. Sie wirkte ein wenig unsicher, ein Anblick, den Lykaar noch nicht geboten bekommen hatte. Offenkundig war es dem rotbehaarten Raufbold tatsächlich gelungen, Braheva mit Schmeichelworten beinahe zu umgarnen. Lykaar trat näher. »Du könntest mit anfassen«, stieß er hervor. »Oder tritt zur Seite, es könnte sein, daß du zwischen die Fronten gerätst.« Sator Synk wölbte die Brauen. »Ach?« sagte er. Im Hintergrund erkannte Lykaar einen Zugor, der auf dem Boden stand. Mit so einem Gefährt hatte man natürlich weniger Sor gen als mit einem von Yasseln gezogenen Karren. Lykaar drosch mit großer Wut auf die Plane ein. Ein halbes Hundert der fliegenden Plagegeister wurde aufgescheucht und fiel zu Boden. Wütend zertrat Lykaar die Insekten. »Ein kurzweiliger Ausflug, den ihr da unternehmt«, spottete Sator Synk. Er dachte offenbar gar nicht daran, sich nützlich zu machen. Er stand ein fach da, und er starrte Braheva in einer Art an, die Lykaar das Blut in den Kopf steigen ließ. Am liebsten hätte er den orxeyanischen Wüstling, als den er Sator Synk einstufte, ebenso zerdrückt wie die Insekten, aber er wußte, daß Synk solchen Versuchen wirksameren Widerstand entgegenzu setzen hatte als die schwarzen Krabbler. »Was habt ihr geladen, daß ihr für diese Viecher so aufregend und an ziehend seid?« fragte Sator Synk. »Seife«, erklärte Braheva. »Ach«, meinte Sator Synk spöttisch. »Ich hatte wegen des Geruchs auf Apfelschnaps getippt, es würde auch besser passen.« Genußvoll zerquetschte Lykaar eine Handvoll Insekten, stellvertretend. »Die Seife riecht so«, versetzte Braheva. Endlich war die Plane auch auf dieser Seite losgeworfen und konnte herabgezogen werden. Tausende von Insekten wurden dabei zerquetscht, und einen Augenblick später strich die erste schwarze Rauchschwade über die Fässer auf dem Wagen, die schwarz waren von Insekten. Das Surren schwoll zu einem bösartigen Brummen an, dann suchten die Insekten das Weite. Sie boten einen seltsamen Anblick, als sie in dichten Schwärmen abzo gen, die schwarzen Körper und daran die weißen Flocken des Schaums. »Bei allen nächtlichen Teufeln«, ächzte Sator Synk. »Was habt ihr denn da in das Feuer geworfen? Es riecht grauenvoll.« Der Gestank war in der Tat kaum mehr auszuhalten. Es war ein stechen der Geruch nach Fauligem, widerlich und ekelhaft. Kein Wunder, daß die Ameisen das Weite suchten. Die drei Orxeyaner rannten um den Wagen herum, damit sich der stin kende Qualm nicht in ihren Kleidern festsetzte. Sator Synk untersuchte aus
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weitem Abstand das Feuer. »Sehr geschickt«, lobte er höhnisch. »Wer hat euch auf den Gedanken gebracht, eine so riesige Stinkwurz ins Feuer zu werfen?« »Niemand«, stieß Lykaar hervor; hinter dem Rücken ballte er die Fäu ste. »Im Dunkeln konnte ich nichts sehen, so ist es dann passiert.« In Sator Synks Gesicht klaffte zwischen den roten Strähnen des Bartes ein Loch. Offenkundig amüsierte sich Synk großartig. »Von eurer Apfelseife könnt ihr euch verabschieden«, erklärte er. »Zum einen wäscht sich niemand so oft, zum anderen schon gar nicht mit einer Seife, die nach Äpfeln riecht und Ameisen anlockt, zum dritten nicht mit einer Seife, die zudem voller toter Ameisen ist – und zum guten Schluß dürfte es mit dem Apfelgeruch nicht mehr weit her sein.« Er hatte zweifelsohne recht, aber Lykaar hätte es vorgezogen, diese Feststellung selbst zu treffen. »Wir wissen selbst, was wir zu tun haben«, erklärte Braheva und stemmte die Hände in die Hüften; sie sah wieder einmal sehr schön aus, fand Lykaar, und er freute sich, daß ausnahmsweise nicht er der Gegen stand ihrer Entrüstung war. »Ich wollte euch nicht kränken«, sagte Sator Synk begütigend. Im er sten Augenblick dachte Lykaar voller Hoffnung, daß Synk vielleicht Angst davor hatte, sich mit ihm zu raufen, dann aber wurde ihm klar, daß Synk lediglich um seinen guten Ruf bangte, der argen Schaden erleiden würde, käme es je zu Ohren anderer, daß sich der bärenstarke Synk ausge rechnet an Lykaar vergriffen hatte. Lykaar begann, sich einmal mehr leid zu tun – was immer auch geschehen war in den letzten Stunden, es war je desmal ihm zum Schaden ausgefallen. Sator Synk grinste breit. »Braucht ihr Hilfe?« fragte er. »Soll ich euch mit dem Zugor nach Or xeya bringen?« Seine Augen machten Braheva ein mehr als eindeutiges Angebot, aber Lykaars Weib lehnte mit einem ebenso eindeutigen Blick ab. »Wir kommen schon zurecht«, sagte Braheva. »Aber wir sind dir für dein Angebot dankbar. Wohin wird dich dein Weg führen?« Sator Synk deutete hinaus ins nächtliche Dunkel. »Irgendwohin«, sagte er leichthin. »Ich werde schon ein Plätzchen fin den. Ihr aber solltet euch in acht nehmen – ihr werdet bald die Ebene von Kalmlech erreichen, und dort ist es bekanntlich nicht geheuer.« Lykaar konnte es sich nicht verkneifen, den Orxeyaner ein wenig zu är gern. »Wieso? Laufen dort noch mehr von deiner Sippe herum?« fragte er bissig. Synk drehte sich zu Lykaar herum. Es war das erste Mal, daß er Lykaar
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voll ansah. In den Augen des Rotbärtigen stand Verwunderung geschrie ben, daß Lykaar es wagte, ihn gleichsam am Bart zu zausen. »Ich würde mich in jedem Fall vorsehen«, sagte Synk, ohne auf Lykaars Spott einzugehen. Er drehte sich wieder zu Braheva um. Lykaar hatte zwar nichts dagegen, daß andere sein Weib zu schätzen wußten, aber dies sollte sich nach Möglichkeit in engeren Grenzen halten als denen, die Sator Synk bevorzugte. Synk grinste anzüglich. »Solltet ihr in Schwierigkeiten geraten, so ruft nach mir«, sagte er laut. »Ich werde stets zur Stelle sein, in welchem Notfall auch immer.« Er deutete eine Verbeugung an, die ausschließlich Braheva galt, dann schritt er davon. Nach wenigen Schritten hatte er seinen Zugor erreicht, und Lykaar sah mit sichtlichem Vergnügen, wie er das Gefährt bestieg und davonflog. Auf der anderen Seite wäre er gerne mitgeflogen – so ganz hat te er sich mit dem Leben im Freien noch nicht anfreunden können. »Hilf mir«, sagte Braheva. »Wir müssen die Plane säubern!« Es war eine gräßliche Arbeit. Die schwere Leinwand war gefettet, um regendicht zu sein. In dieses Fett hatte sich das Blut zerquetschter Insekten und der grauenvolle Gestank der verbrannten Stinkwurz gleichsam hinein gefressen. Es traf sich gut, daß es Wasser in der Nähe gab, mit dem man die Plane wenigstens teilweise reinigen könnte. Lykaar schleppte das Wasser heran, und trotz der Nachtkühle war er bald in Schweiß gebadet. Braheva hingegen unterzog sich der unappetitli chen Aufgabe, die Plane zu reinigen und sah nach kurzer Zeit ebenso schrecklich aus wie der Gegenstand ihrer Bemühungen. Aus kleinen Rit zen in den Fässern, die früher mit Werg abgedichtet, jetzt von den Amei sen aufgeknabbert worden waren, quoll Seife hervor, vermischte sich mit dem Wasser und dem Blut und bedeckte nach kurzer Zeit Wagen und Leu te mit einem grünlich schillernden Sud, der seinesgleichen suchte. Je mehr Wasser Lykaar heranschleppte, um so schlimmer wurde die Arbeit. Ein mal rutschte er auf dem seifigen Untergrund aus und landete der Länge nach in einer schlammigen Pfütze. Danach hatte er das Aussehen eines Nachtmahrs, und sein einziger Trost war, daß außer Braheva ihn niemand zu Gesicht bekam. Als die Plane endlich notdürftig hergerichtet war, begann die nicht min der mühselige Arbeit, den Wagen wieder herzurichten. Das Feuer war un terdessen kleiner geworden und roch nicht mehr ganz so schrecklich, das aber nahmen die Nasen der beiden nicht wahr – nach dem Geruchsattentat der Stinkwurz waren ihre Riechorgane für feinere Düfte einstweilen be täubt. Der Wagen war bedeckt mit einer zähen Schmiere aus Insektenbrei, her abgelaufener Seife und einem Wasser-Aschengemisch. Alles zusammen
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ergab eine Paste, die man nur mit größter Mühe wieder herunterbekam. Braheva schrubbte und wischte, als gelte es ihr Leben, während Lykaar sich mühte, die Fässer abzudichten, damit der kostbare Inhalt sich nicht aufs Land ergoß, weitere Insekten anlockte oder anderweitig Ärger berei tete. Lykaar ahnte, daß diese Nacht eine Nacht der Katastrophe geworden war. Ihm schwante, daß Synk mit seiner Lagebetrachtung durchaus ins Schwarze getroffen hatte – und das hieß, daß Lykaar ruiniert war. Ihm blieben nur der klapprige, schmierige Wagen, vier magere, ebenfalls klapprige Yassels und eine magere Frau, die auf einem Sklavenmarkt zu verkaufen zum einen ihr kümmerliches Gewicht und zum anderen seine Zuneigung unmöglich machten. Zu allem Überdruß mußte er auch noch zusehen, wie er die hoffnungslos ruinierte Ware irgendwo wieder loswur de – Lykaar hatte die Befürchtung, daß es sich die Göttersöhne nicht gefal len lassen würde, wenn ein Teil ihrer Straße der Mächtigen von ein paar Tonnen verdorbener Seife verunziert wurde. »Was für eine Nacht«, murmelte Lykaar, als er sich einmal für ein paar Minuten eine Pause gönnte. Ihm war so elend zumute wie nie zuvor in seinem Leben. Er war an Leib und Seele erschöpft, die Zukunft schimmerte in düsterem Grau, er war von den Haaren bis zu den Zehen dreckig und verschmiert, er hatte nicht geschlafen und überhaupt … Braheva sah ihren Gemahl an und strich sich etwas Schmieriges aus dem Gesicht, was einmal eine blonde Locke gewesen war. Sie sah Lykaar ernst an, dann begann sie unvermutet zu lachen. »Mein lieber Mann«, prustete sie. »Als wir uns heirateten, hast du mir aufregende Nächte versprochen. Wahrlich, ich muß dir zugeben, das hast du gehalten.« Lykaar starrte Braheva entgeistert an, dann fiel er in das Gelächter ein. Langsam wurde es hell über Pthor. Vielleicht ließ sich noch etwas ret ten, dachte Lykaar, erfüllt von neuer Zuversicht. Er machte sich ans Werk.
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5.
Sator Synk pfiff ein vergnügtes Lied. Es hatte ihm Spaß gemacht, das töl pelhafte Pärchen bei ihrem verzweifelten Bemühen zu beobachten, sich durchzuschlagen. Wahrscheinlich waren sie jetzt schon auf dem Weg zu rück nach Orxeya. »Es wird auch besser für sie sein«, murmelte Sator Synk. Eine unbestimmbare Gefühlslage hatte von dem Orxeyaner Besitz er griffen. Fast glaubte er das Herannahen einer großen Gefahr körperlich spüren zu können. Ein wenig kam sich der Orxeyaner auch schwach vor – lieber wäre ihm gewesen, er hätte seine Robottruppe um sich gewußt, allen voran Digl fonk, und die Vergangenheit hatte mehr als deutlich gezeigt, daß im Ernst fall auch auf die ehemalige Körperlose Leenia Verlaß war. »Was denn, alter Knabe«, redete Synk sich Mut zu. »Du wirst doch nicht verzagen, ehe du den Feind gefunden hast …?« Er mußte wieder an die Orxeyaner denken, die er in der letzten Nacht getroffen hatte. Ein wunderliches Pärchen, und dann noch die Ameisen … Sator Synks Laune hob sich beträchtlich, als er daran dachte. Sein Zugor schwebte mit geringer Fahrt über das Land, ohne erkennba res Ziel. Synk wollte sich die Ebene von Kalmlech einmal in Muße be trachten und nach weiteren Abenteuern und Geheimnissen absuchen – da war ein Kurs so recht wie der andere. Kritisch musterte der Orxeyaner seine Vorräte. Von allem war genug an Bord, nur mit der Bewaffnung war es nicht zum besten gestellt. Doch im Ernstfall war Sator Synk, Held der Schlacht gegen die Krolocs und Drachentöter, Manns genug, seine Feinde mit der bloßen Hand zu erwür gen; es konnte also kommen, was wollte, Sator Synk war es recht. Seit Stunden flog der Zugor mit geringer Fahrt über das Land, und zu Synks Leidwesen hatte sich bislang nichts finden lassen, an dem der Or xeyaner mit dem roten Bart seine Kräfte hätte austoben können. Und doch … irgendwo hinter dieser fast schon aufdringlichen Ruhe über Pthor lauerte die Gefahr. Synk wußte das, er konnte es nur nicht be weisen. Wenn das ganze Land förmlich nach Friedfertigkeit und Stille stank – dann waren verheerende Unwetter meist nicht weit. Und die dräu enden Gefahren pflegten in der Regel der vorangegangenen Friedensperi ode zu entsprechen. Synk sah sich um. Es war schreckerregend friedlich. Ein schwacher Wind wehte und bewegte die dünnen Zweige der Sträucher. Auf einem Fels sonnte sich eine kopfstarke Familie fingerlanger Echsen, die rasend schnell Reißaus nahm, als Synk sie überflog. Irgendwo in der Luft hingen
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ein paar Vögel, deren Gesang über das Land schallte. »Grauenvoll«, murmelte Synk. »Schreckerregend.« Es war so friedlich ringsum, daß man fürchten konnte, Pthor werde im nächsten Augenblick auseinanderbersten. Dann entdeckte Synk mit seinen kleinen hellen Augen eine Bewegung. Es war nicht mehr als ein schemenhaftes Huschen, ganz am äußersten Rande seines Gesichtskreises. Der Orxeyaner leckte sich die Lippen. Dort vorne war etwas. Sich entschließen und den Entschluß in die Tat umsetzen, das waren für Synk Dinge, die nur ein paar Sekundenbruchteile in Anspruch nahmen. Der Zugor beschleunigte und fegte auf den Ort zu, wo die Bewegung statt gefunden hatte. Zu sehen war jetzt nichts mehr, nur karges Land. Dieser Teil Pthors war nicht gerade üppig bewachsen, genau richtig für die Horden der Nacht, die früher in der Ebene zu finden gewesen waren. Was hätte man aus dem Land alles machen können, hätte es nicht unun terbrochen Streit und Ärger gegeben. Wundervolle Siedlungen hätte man errichten können, reiche Städte, mit denen die Orxeyaner hätten Handel treiben können. Ab und zu hätte man einen kleinen Raubzug unternom men, um danach einen bierschäumenden Friedensvertragsschluß feiern zu können. Vielleicht kam es später einmal dazu, hoffte Sator Synk. Ihm war im Augenblick alles recht, was das monotone In-den-Tag-Leben unterbrechen und mit dem Salz der Gefahr würzen konnte. Sator Synk ließ den Zugor etwas höher steigen. Das Gelände stieg ein wenig an, sehr gleichmäßig sogar – etwas zu gleichmäßig, befand Synk ein paar Augenblicke später. Sein Instinkt für Gefahren meldete sich, er war auf der Hut. Er flog mit dem Zugor einen Hügel hinauf. Unterwegs drosselte er die Fahrt. Unterhalb des Kammes hielt er sogar an. Synk stieg aus. Zu Fuß nahm er die letzten Meter in Angriff. Auf der anderen Seite schien etwas zu leuchten. Dann war der Kamm erreicht. Sator Synk blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihm erstreckte sich ein Krater, ein sanft geneigtes trichterförmiges Loch im Boden, sicherlich ein paar hundert Meter durchmessend. In der Mitte dieses Kraters gab es einen Fleck, von dem das schillernde Leuchten ausging. »Heiliges Pthor!« murmelte Sator Synk. Daß dieses Leuchten nicht mit rechten Dingen zuging, konnte jeder se hen. Wo kam dieses Leuchten her, was war es, was da schillerte und gleiß te? Sator Synk sah nur eine Möglichkeit, das herauszufinden – er mußte
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sich näher heranschleichen. Synk warf sich auf den Boden. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, auf was er sich da flach an den Boden gepreßt zuschlängelte, aber ihn be drückte die Ahnung, daß er unversehens einem neuen schrecklichen Ge heimnis von Pthor auf den Grund gekommen war. Nie hatte er von diesem Krater gehört, geschweige denn von dem atemberaubenden Leuchten in seiner Mitte. Der Schein war so hell, daß man gar nicht direkt hineinsehen konnte in die leuchtende Zone. Sator Synk war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß die Furcht ihn beschlichen hatte. Daß er überhaupt noch lebte, verdankte er nicht zuletzt dem Umstand, daß er die Angst kannte und nicht wie ein ahnungsloser Tor mitten in jede Gefahr hineinstolperte. Was er da unter sich sah, gab Anlaß zu höchster Besorgnis. Oder war es der sagenumwobene Schatz, der da tausendfach gebrochen das Licht hin ausschoß in den Tag? Synk konnte sich keinen Schatz aus Gold und Geschmeide vorstellen, der solchen Glanz zu erzeugen vermochte. Nein, es mußte einen anderen Grund geben für das kalte Feuer, das die Augen blendete. Langsam und vorsichtig schlich Synk näher und näher. Immer mehr mußte er die Augen schließen, um nicht für immer geblendet zu werden von dem alles überstrahlenden Gleißen. Was war es, was da so schimmerte, so prachtvolle Farben gleichsam verschoß? Sator Synk blieb liegen. Weiteres Vordringen erschien ihm nicht rat sam. Schon konnte er kaum mehr etwas sehen, fraß sich das schimmernde Licht durch die geschlossenen Lider, ein Gleißen und Scheinen, strahlend hell, und dann … … mitten in dem strahlenden Schein, schwarz auf goldgleißendem Hin tergrund: ein Schatten, ein Schemen, eine Kontur … Sator Synk erstarrte bis ins Mark. Er wußte, was er gesehen hatte. »Ich möchte wissen, was das alles soll«, sagte Bördo mürrisch. »Warum brechen wir plötzlich auf? Was hat das für einen Sinn?« »Halte den Mund, dreister Knabe«, knurrte Heimdall. Vier Yassels waren gesattelt worden, auf ihnen strebten die Göttersöhne der FESTUNG zu. Es hatte sich von selbst verstanden, daß Bördo mitge nommen worden war. Der Knabe hatte sich in einer Weise entwickelt, die befürchten ließ, er werde selbst Sigurds Lichthaus in Schutt und Asche le gen, ließe man ihn allein in der Heimstatt des Göttersohns zurück. Also war auch für Bördo ein Yassel bereitgestellt worden, und die einmütige Erklärung der Odinssöhne, sie würden Bördo notfalls die Hirnschale ein schlagen, hatte den Knaben dazu bewegen können, sich den Verwandten
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anzuschließen. Natürlich wußte Bördo, was auch die Odinssöhne wußten, daß nämlich keiner der drei ernstlich fähig war, Bördo ein Haar zu krüm men. Daß der Knabe mitgekommen war, lag nur daran, daß er unbedingt wissen wollte, welche Botschaft die Odinsraben überbracht hatten. Denn eines war Bördo sofort klargeworden – die Botschaft der Raben hatte seinen Vater und dessen Brüder in höchstem Maß erschreckt. Sie hatten sich kaum Zeit genommen, die Yassels richtig zu satteln, an Mund vorrat und Wegzehrung hatten sie gar nicht erst gedacht. Und nun trieben sie die Yassels erbarmungslos voran. Fast schien es, als griffen dunkle Mächte wieder nach Pthor. »Wissen will ich, was geschehen ist!« rief Bördo. Er hielt sich gut auf dem Yassel. Der Knabe war nicht besonders kräftig gewachsen, aber groß für sein Alter, zäh und hartnäckig, geschmeidig und im Kampf voll Hinter list und notfalls auch Heimtücke. Die Odinssöhne wußten genau: gelang es ihnen nicht, die Entwicklung des Knaben noch zu dieser Zeit in rechte Bahnen zu leiten, zogen sie einen rechten Schlagetot groß, der auf Pthor weit eher berüchtigt als berühmt werden würde. »Du wirst früh genug erfahren, was los ist«, verkündete Sigurd. »Es ist jetzt nicht die Zeit …« »Wer sagt das?« »Ich!« rief Sigurd. »Pah«, machte Bördo. »Wer bist du schon?« Sigurd schickte einen leisen Seufzer zum Himmel. »Daß aus solcher Wonne solche Wut erwachsen kann«, murmelte er. »Oh Garmakylia, welche Frucht ist deinem Leib entsprossen.« »Nun, was ist? Bekomme ich endlich eine Antwort?« beharrte der Kna be. Bördo hatte sich ein passendes Schwert an die Hüfte gehängt und machte ein grimmiges Gesicht. »Später«, vertröstete ihn sein Vater. »Warte, bis wir an der FESTUNG sind.« Heimdall und Balduur ritten hinter Vater und Sohn und reagierten auf den Wortwechsel auf ihre Weise. Während Heimdall dumpf grollte, konn te Balduur ein leises Lächeln nicht unterdrücken. Vielleicht entsann er sich anderer Väter, die mit ihren Söhnen nicht minder hart gestraft waren als Sigurd. Bördo allerdings war zweifelsohne ein ganz besonderer Knabe, der nicht nur seinem Vater das Leben zum Ärgernis machen konnte. »Ich will nicht warten«, verkündete Bördo. »Ich will es jetzt wissen.« Er vermochte dreinzuschlagen wie ein alter Haudegen, er war frecher als eine ganze Schar von bezahlten Spaßmachern und Narren, aber er konnte auch von ungeheurer kindlicher Hartnäckigkeit sein. Heimdall fragte sich finster grollend, zu welcher schrecklichen Größe es der Knabe bringen mochte, wenn ihm die Jahre die Muskeln stärkten und den Ver
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stand schulten. »Knabe«, grollte Heimdall. »Fühltest du schon dieser Hand harten Hieb?« Er hielt Bördo die Rechte unter die kecke Nase. Bördo antwortete auf seine Weise – er streckte dem Onkel die Zunge heraus und trat ihm derart heftig vor das rechte Bein, daß Heimdall den Steigbügel verlor. Es fehlte nicht viel, und Heimdall wäre in vollem Ga lopp aus dem Sattel gestürzt. Heimdall murmelte eine Verwünschung, über die Bördo nur laut lachte. Wäre die FESTUNG nicht in Sicht gekommen, wäre Heimdall vielleicht abgestiegen, um dem frechen Wicht endlich einmal die Tracht Prügel zu verabreichen, die er für angemessen hielt. So aber wurde Bördo durch den Anblick der FESTUNG zunächst ein mal von weiteren erlesenen Dreistigkeiten auf Kosten seiner Verwandten abgelenkt. Zudem entdeckten die scharfen Augen des Jungen etwas, was ihn noch weit mehr interessierte. Auf die vier Reiter kam nämlich ein Zugor gerast, und das mit einer aberwitzigen Geschwindigkeit. »Bei der Häßlichkeit der Krolocs!« fluchte Heimdall. »Ist der Kerl ver rückt?« Der Zugor-Lenker schien nicht die geringste Rücksicht zu kennen. Er fegte mit seinem Gefährt über das Land, als gebe er keine Hindernisse und auch keine Yassels samt Reiter, die von den erschreckten Tieren abgewor fen und zu Tode geschleift werden konnten. »Es ist Synk!« rief Balduur. »Der Orxeyaner.« »Auch das noch«, seufzte Sigurd auf. »Der hat mir gerade noch ge fehlt.« In Bördos Augen leuchtete die Freude. Ein Pthorer, der seinen werten Verwandten ein Ärgernis war, konnte Bördo nur zupaß kommen. Viel leicht konnte man sich mit dem Zugor-Lenker, dessen selbstmörderisch rücksichtslose Fahrweise Bördo sofort angenehm ins Auge stach, zu listi gen Streichen und hinterhältigem Schabernack verbünden, vielleicht gar zu größeren Aktionen. »Heda! Sigurd!« gellte Sator Synks Ruf. »Heimdall, Balduur, haltet an!« Man konnte die Eingeweide des Zugors förmlich krachen hören, als Sa tor Synk das Gefährt ebenso brutal zum Stehen brachte, wie er es zuvor über das Land gedroschen hatte. Sigurd machte ein abweisendes Gesicht, Heimdall sah finster drohend drein wie stets, Balduurs Gesicht zeigte keinerlei Gemütsregung. Nur Bör do sah vergnügt auf den langen roten Bart, die kleinen hellen Augen des Ankömmlings.
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»Was treibt dich her, Sator Synk?« fragte Sigurd sehr zurückhaltend. »Äußerste Not, größte Gefahr«, rief Sator Synk. Die Odinssöhne konn ten sehen, daß Sator Synks Gesicht echte und tiefe Besorgnis verriet. Der Orxeyaner war kein Mann der bleichen Furcht, was ihn beben machte, konnte Pthor in den Grundfesten erschüttern. »Sprich deutlicher«, forderte Heimdall den Ankömmling auf. Aus ei nem Teil des Zugors stieg ein feiner Rauchfaden in die Höhe. Sator Synk war mit dem Zugor wahrlich nicht schonend umgegangen. »Sie sind wieder da«, berichtete Sator Synk. »Die Horden der Nacht. Sie steigen aus den Tiefen der Erde hinauf ans Licht.« Sigurd wölbte die Brauen. »Aus den Tiefen der Erde?« fragte er zweifelnd. »Oder aus der Neige deines Bechers?« »Hältst du mich für so blöde, daß ich nicht zwischen den Gestalten des Rausches und der Wirklichkeit zu unterscheiden weiß? Was ich sage, ist wahr – sie sind zurückgekehrt, sie quellen aus dem Boden und rotten sich zusammen, um Pthor zu verheeren.« Sigurd und die älteren Brüder sahen sich an. »Zweifelst du«, fragte Sator Synk entsetzt. »Hältst du mich tatsächlich für so verrückt, den Zugor zuschanden zu fahren, nur um mir mit dir einen schäbigen Scherz zu erlauben? Ich habe Wichtigeres zu tun, als einen Od inssohn zu foppen.« Sigurd nickte nur. »Ich weiß«, sagte er dann ruhig. »Ich traue dir, Sator Synk – denn wis se, daß uns die Raben die gleiche Nachricht zugekrächzt haben. Wie sieht der Ort aus, an dem die Bestien zutage treten?« »Ein Krater«, berichtete Sator Synk hastig. »Darin flimmert und schil lert ein nie gesehenes Leuchten – und aus diesem Leuchten kommen sie, aus stummer Tiefe steigt das nächtliche Heer zu Tag.« Sigurd murmelte eine Verwünschung. »Hugin und Munin künden das gleiche«, sagte er düster. »Also stimmt es; sie kehren zurück.« »Oder werden neu geboren«, warf Heimdall ein. »Was wissen wir, was die Tiefen Pthors an Schaurigem bergen?« »Egal, was sie bergen«, rief Bördo laut. »Wir werden sie aufstöbern, be kämpfen und vernichten.« Die Odinssöhne sahen sich an und schüttelten den Kopf. Bördos Taten drang machte offenbar vor nichts halt. »Nun, was ist? Wollt ihr nicht? Übermannt euch wieder die Furcht?« »Du verwechselst Furcht mit Vorsicht, Knabe«, sagte Sator Synk. »Man muß wissen, wohin man schlägt, wenn man Erfolg haben will.« »Schlappes Gesindel«, fauchte Bördo. Er wäre am liebsten auf und da
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von geritten, das war ihm anzusehen, aber er wagte es einstweilen nicht, weil er sonst hätte zu Fuß gehen müssen. Sein Yassel war bei seinem On kel in sicherem Griff. »Was diese Nachricht bedeutet, brauche ich wohl niemandem zu erläu tern«, sagte Sator Synk. »Für Pthor brechen schwere Zeiten heran.« »Wie viele hast du gesehen, Mann von Orxeya?« fragte Sigurd. Sator Synk machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Nur ein paar«, gestand er ein. »Richtig gesehen habe ich sie nicht, da für war das Gleißen zu stark. Aber ich habe genug erkannt, um zu wissen, wovor ich warne. Die Horden der Nacht kehren zurück, und diesmal ist Pthor noch übler dran als jemals zuvor.« »Dann sollten wir losreiten«, schrie Bördo wütend. »Draufhauen, nicht reden, ihr Memmen.« Sator Synk bedachte den Knaben mit einem geringschätzigen Blick. »Erst müssen wir Genaueres wissen«, sagte der Orxeyaner. »Und wir sollten unsere Aktionen zusammenfassen. Jeder Waffenarm wird jetzt ge braucht, und wir müssen zusehen, daß wir alle zugleich zurückschlagen. Pthor muß in jedem Fall gewarnt werden vor den Gefahren aus der Tiefe.« Die Odinssöhne sahen sich betroffen an. »Weiß außer dir noch jemand von der Gefahr?« fragte Heimdall. »Es wird schwer, die Pthorer zurückzuhalten und zum Angriff zu führen, wenn sie schon jetzt davonrennen oder planlos angreifen.« »Außer mir? Niemand, nehme ich an. Vielleicht … aber die zählen nicht. Nein, einstweilen wissen nur wir von der Gefahr, die auf Pthor zu kommt. An uns liegt es, sie abzuwenden.« »Wie denn?« höhnte Bördo. »Durch stundenlanges Schwätzen?« »Ich schlage vor, wir reiten zur FESTUNG und sehen uns an, was es zu sehen gibt«, sagte Balduur. »Dadurch, daß wir hier reden, ist jedenfalls nichts gewonnen.« Die anderen nickten und trieben die Yassels an. Bördo unternahm einen Ausbruchsversuch, wurde aber sehr bald gestoppt. Sein Wutgeheul drang weit über die Ebene. »Ihr solltet ihn auf die Horden der Nacht loslassen«, bemerkte Sator Synk, der mit Worten ebenso dreinzuschlagen verstand wie mit der Waffe. »Seine Manieren werden die Monstren in den Schoß der Erde zurücktrei ben.« Bördo ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Wenn dein Anblick nicht genügt, sie zurückzujagen, Sator Synk, dann gibt es nichts, wovor sie Angst haben. Oder hast du dich des Nachts ange schlichen, da dich niemand sehen konnte?« Sator Synk sah an Bördo vorbei. Es war schwer, es mit dem Knaben auszuhalten.
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6.
»Entsetzlich«, murmelte Heimdall. Das Bild verblaßte und verschwand dann ganz. Es war ohnehin nicht sehr scharf gewesen, aber es hatte den Odinssöhnen gezeigt, daß Sator Synk keineswegs übertrieben hatte. Die Odinssöhne hatten nicht verlernt, was sie über die FESTUNG und ihre Möglichkeiten erfahren hatten. Sie hatten sich des Wachen Auges be dient, um Genaueres über die Gefahr zu erfahren. Im Wachen Auge arbei teten zwar keine Technos mehr, aber die Automaten waren noch tätig. Sie hatten ein paar verschwommene Bilder geliefert, kümmerlich, verglichen mit früheren Zeiten, aber deutlich genug, das Ausmaß der Gefahr erahnen zu lassen. Den Odinssöhnen war klar: es mußte rasch, entschlossen und wirkungs voll gehandelt werden, wollte man eine neuerliche Katastrophe – vielleicht ein für allemal die letzte – für Pthor und seine Bewohner vermeiden. »Gehen wir mit Hirn vor«, sagte Balduur. »Den Feind haben wir er kannt, wir wissen auch, wo er ist …« »In der Gnitaheide«, warf Bördo ein. Für einige kurze Minuten schien der Knabe zur Ruhe gekommen zu sein. »Jetzt taucht die zweite Frage auf. Was können wir dieser Gefahr entge gensetzen?« Sator Synk machte ein verdrossenes Gesicht. »Wenn der Herr Soltzamen sie herausrückt, die Robotguerilleras.« »Das ist nicht genug«, warf Heimdall ein. »Waffen haben wir keine mehr«, sagte Balduur düster. »Was nicht schon im Kampf mit den Krolocs aufgezehrt und zerstört wurde, haben die Scuddamoren beschlagnahmt, was sie noch übrigließen, ist den Ugharten und Trugen in die Hände gefallen.« »Kann man nicht die Ugharten …« »Ist bereits versucht worden«, sagte Heimdall. »Das letzte Organschiff, das noch auf dem Boden Pthors stand, ist gestartet.« »Nach Kalmlech?« Heimdall schüttelte den Kopf. »Es hat Pthor verlassen.« Sigurd murmelte einen Fluch. »Die GOL'DHOR ist ebenfalls von ihrem Platz vor der FESTUNG ver schwunden«, murmelte er. »Zugors sind Mangelware, Waffen fast noch rarer. Womit sollen wir die neuen Horden bekämpfen? Mit Knüppeln und Steinen?« Eine bedrückende Stimmung lag in dem Raum, unter der sogar der ewig
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aufbegehrende Bördo zu leiden begann. Die Lage schien nicht nur übel, nicht nur äußerst bedrohlich; sie schien, kaum erkannt, schon hoffnungslos zu sein. »Gibt es denn wirklich keinen Verbündeten für uns?« fragte Balduur mißmutig. Sator Synk meldete sich zu Wort. »Langsam, Freunde«, sagte er halblaut. »Ich kann mich erinnern, von einem Schiff gehört zu haben, daß sich gleichsam an Pthor herangeschli chen hat. Wenn ich mich nicht sehr in meiner Erinnerung täusche, dann müßte dieses Schiff noch jetzt zu finden sein, und zwar südlich der Barrie re von Oth.« Sigurd hob abwehrend die Hand. »Was soll uns das helfen?« fragte er. »Es sind Fremde, was soll sie dazu bewegen, uns zu helfen.« »Vielleicht ist das Schiff dort notgelandet«, vermutete Bördo, »vielleicht wartet es nur auf uns, wer weiß?« »Kein Pthorer könnte es steuern«, gab Heimdall zu bedenken. »Und keiner weiß, was für Waffen es birgt, wer sie bedient und wie sie taugen. Ich bin bereit, alles zu unternehmen, was Pthor helfen kann – aber dieses Vorhaben scheint mir absurd.« »Weil ihr zu feige seid«, rief Bördo. »Das ist doch die einfachste Lö sung – wir suchen das Schiff, stellen fest, wem es gehört, freunden uns mit dem Besitzer an …« »Was insbesondere dir nicht sehr schwerfallen wird«, konnte sich Heimdall nicht zu sagen verkneifen. »… solange ich niemandem erzähle, von wem ich abstamme und mit wem ich verwandt bin«, schlug der Knabe zielsicher zurück. Sator Synk machte ein ernsthaftes Gesicht, grinste aber still in sich hin ein. Bördo war ein Giftmaul allererster Güte und Synk nicht unsympa thisch. »Und dann greifen wir mit dem Schiff die Horden der Nacht an«, setzte Bördo seinen Gedankengang fort. Heimdall winkte ab, Balduur schüttelte den Kopf. »Ein sinnloses Unterfangen«, meinte Sigurd. »Ich …« »Pah«, machte Bördo verächtlich. »Ich«, wiederholte Sigurd und sah seinen Sohn zornentflammt an, »halte nichts von dieser Idee. Das ist nicht einmal der sprichwörtliche Strohhalm. Das ist in Wirklichkeit nichts weiter als der Versuch, irgend et was zu tun, um nicht untätig bleiben zu müssen. Woher wollen wir wissen, daß nicht jene Fremden uns die Horden der Nacht auf den Hals geschickt haben?« »Darum müssen wir sie ja fragen«, verkündete Bördo.
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»Ich rate ab«, beharrte Sigurd. »Sator Synk, was meinst du dazu?« Dem Odinssohn war anzusehen, welche Antwort er erwartete. Er wurde überrascht. Synk wiegte den rotbeschopften Schädel. »Man sollte es wenigstens versuchen«, sagte er. »Schaden kann schließ lich nichts.« Sigurd leckte sich die Lippen. Heimdall und Balduur sahen sich ver stohlen an. Synk wußte genau, was die Odinssöhne ausbrüteten. Bördo allein loszuschicken, verbot sich von selbst, und das Verhältnis zwischen den Odinssöhnen und dem Orxeyaner war nicht eben das innig ste. Sigurd dachte, was auch seine Brüder dachten – daß dies nämlich eine großartige Möglichkeit war, wenigstens für ein paar Tage Bördo loswer den zu können. »Würdest du auf den Knaben achtgeben?« fragte Sigurd lauernd. »Achtgeben?« fragte Bördo empört. »Der da?« Mit einem gewaltigen Satz war »der da« neben Bördo und hatte den Odinsenkel am Nacken gefaßt. »Wer sonst?« sagte Sator Synk freundlich und hielt den Knaben mit ei sernem Griff fest. Bördo widersetzte sich seltsamerweise nicht, sondern wurde schlaff und fügsam unter Synks Griff. Sator Synk wandte sich an Sigurd. »Ich will es wagen«, sagte er. »Hier werde ich vor Untätigkeit nur ver rückt.« Er konnte sich ausrechnen, daß die Odinssöhne auch ihn am liebsten in beträchtlicher Distanz wußten. Er kam ihren Plänen also sehr entgegen. »Einverstanden«, sagte Sigurd. »Ich nehme den Zugor«, verkündete Sator Synk sofort. Sigurd preßte die Lippen aufeinander. Zugors waren rar geworden auf Pthor und entsprechend kostbar. Ein so seltenes Gefährt einem Gespann anzuvertrauen, das man um beinahe jeden Preis loswerden wollte … »Du kannst ihn haben«, bestimmte Sigurd. »Immerhin …« »… habe ich ihn in Wolterhaven gemaust, nicht ihr«, versetzte Sator Synk trocken. »Enkel Odins, packe dein Bündel, wir brechen sofort auf.« »Du hast mir gar nichts zu befehlen«, maulte der Knabe. »Du kannst hierbleiben, Wicht«, entgegnete Synk trocken. »Wenn du mit mir zusammen kühne Abenteuer erleben willst, dann hast du zu parie ren.« Bördo sah den Orxeyaner von der Seite an, scheel und mit offenkundi gem Zweifel. »Nun ja«, sagte Bördo schließlich und verschwand aus dem Raum. »Ein Satansbraten«, sagte Synk. »Man merkt, daß er von euch abstammt
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– er scheint von jedem die schlechteste Charaktereigenschaft geerbt zu ha ben.« »Was das angeht«, giftete Balduur zurück, »wird er von dir auch noch allerlei zu lernen haben.« Die Männer waren gereizt, ihre Nerven waren bis zum Zerreißen ange spannt. Einmal mehr schwebte Pthor mitsamt seinen Bewohnern in höch ster Gefahr – und niemals zuvor waren die Möglichkeiten der Pthorer so erbärmlich gewesen wie in diesen Tagen. Fast wehrlos waren die Bewoh ner des Dimensionsfahrstuhles den Gestalten des Grauens ausgeliefert, die aus dem dunklen Schoß der Erde aufstiegen, um das Land zu verheeren. Bördo kehrte nach ein paar Minuten zurück; wenn er wußte, was er wollte, war er ein flinker Bursche, wendig und pfiffig. Sator Synk fragte sich allerdings, ob es ihm gelingen würde, sich mit dem Knaben so anzu freunden, daß man ihm den Rücken kehren durfte. Die Odinssöhne sahen schweigend zu, wie die beiden den Zugor fertig machten und bestiegen. »Wir melden uns, sobald wir etwas erreicht haben«, verkündete Sator Synk. Bördo grinste vergnügt. Ihm schien die Angelegenheit sehr viel Spaß zu machen. »Lebt wohl«, sagte er freundlich. »Es tut mir leid, Abschied nehmen zu müssen, aber das Schicksal will es so. Lebt wohl, werter Vater und teure Onkel. Fahr zu, Sator Synk, mach schnell. Der Abschiedsschmerz zerreißt mir das Herz.« »Diese Giftschlange«, knurrte Balduur. »Dieses widerwärtige Heuchlerge sicht. Uns so anzureden – werter Vater, teure Onkel.« Mit düsterem Gesicht sah Heimdall dem davonziehenden Zugor hinter her. Er warf einen Seitenblick auf Sigurd, der dastand wie vom Donner ge rührt. »Dein Sohn, Bruder«, sagte Heimdall. »Dein dich innig liebender, freundlicher Sohn.« Sigurd zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. »Was kann ich für die Manieren des Knaben«, sagte er halblaut, dann ballte er die Fäuste. »Aber das verspreche ich euch – den werten Vater, den wird er mir büßen!« Sie kehrten in die Festung zurück, ratlos, was zu tun sei, ohne Zuver sicht, ohne Hoffnung. Niemals zuvor war die Lage so elend gewesen, hat ten sich die Odinssöhne derart hilflos gefühlt. Balduur suchte sich einen stillen Winkel aus und begann nachzugrü beln. Er wollte irgend etwas tun, um Pthor zu helfen und seine Bewohner vor einer neuerlichen Katastrophe zu bewahren. Etwas mußte unternommen
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werden, um die grauenvolle Gefahr aus der Tiefe abzuwenden. Balduur preßte die Lippen aufeinander. Tiefe, das war das Stichwort. Balduur stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es in den Tiefen Pthors wohl ausse hen mochte. Wo kamen die neuen nächtlichen Horden her? Hatten sie geschlummert in den Tiefen des Dimensionsfahrstuhls, um ausgerechnet in diesen Tagen zu Leben zu erwachen und auf die Oberflä che vorzustoßen? Warum ausgerechnet jetzt, heute, in diesen Tagen? Wa rum nicht schon früher? Was war Pthor nicht alles zugestoßen? Es hätte tausenderlei Gründe geben können, diese Bestien zu erwecken und auf Pthor loszulassen. Warum war das erst jetzt geschehen? Und wie geschah es? Gab es Hallen dort unten, gewaltige Stapelplätze des Grauens, Silos des Schreckens? Was hatten die Horden der Nacht dort unten gemacht? Und wie hatten sie die Zeit des Wartens überbrückt? Und wer hatte sie dort zu sammengezogen? Zu welchem Zweck? Fragen über Fragen, aber der Göttersohn fand keine Antwort. Ver schwommene Vorstellungen formten sich in seinem Hirn, alptraumhafte Szenerien – gewaltige Lager, in denen die Horden der Nacht gestapelt la gen wie Felle im Winterlager eines Jägers, hartgefroren, übereinander. Und irgendwo, vielleicht, eine Maschine, eine Apparatur, die auf ein be stimmtes Zeichen hin … »Aber wer?« murmelte Balduur. »Wer?« Wer konnte das Zeichen gegeben haben, das die Mechanismen des Grauens auslöste, die Horden erweckte und ausspie, um sie das Land ver wüsten und die Bewohner vernichten zu lassen? Wer oder was saß an den Schalthebeln dieser unterirdischen Anlage? Balduur fand beim besten Willen keine Antwort. »Müßige Denkerei«, knurrte er. »Zu nichts nutze.« Er hatte keine rechte Vorstellung von dem, was es in der Unterwelt des Dimensionsfahrstuhls zu sehen gab, und wenn er sich ein Bild zu machen suchte, dann war er sich klar darüber, daß er wild drauflos phantasierte. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte, nur Sator Synks Bericht, von dem er längst nicht alles glaubte. Man mußte von den tatsächlichen Fähigkeiten des Or xeyaners seine Eitelkeit abziehen, auch von seinen Berichten. Viele Feinde ergaben viel Ehre, selbst wenn man vor ihnen davonlief, wie Synk es ge tan hatte. Auf der anderen Seite war Balduur ehrlich genug, sich einzuge stehen, daß Synk keine andere Wahl gehabt hatte. Wichtig war, Pthor in Alarm zu versetzen, ein Orxeyaner allein, selbst wenn es sich um Sator Synk handelte, konnte einen neuerlichen Ansturm der Horden der Nacht nicht aufhalten. Niemand fing einen Wasserfall mit der hohlen Hand auf.
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»Also«, knurrte Balduur. Er sah Fenrir an. Der Wolf lag auf dem Bo den, den Kopf auf die Vorderbeine gelegt. »Was tun wir?« Fenrir sah auf, knurrte und legte den Kopf zurück. »Auch eine Antwort«, sagte Balduur. Wie mochte es aussehen da drunten, wo geheimnisvolle Apparaturen, falls es überhaupt welche gab, fiel Balduur ein, gräßliche Gestalten zum Leben erweckten. Über das Gesicht des Göttersohns flog die Andeutung eines Lächelns. »Natürlich«, sagte er. »Daß ich daran nicht gedacht habe.« Das war eine Möglichkeit, vielleicht die einzige, die sich bot. Man muß te hinabsteigen in die unterpthorische Welt unter der FESTUNG, hinab zur »Seele« des Dimensionsfahrstuhls. Vielleicht ließen sich dort Informatio nen beschaffen. »Nur dort«, stieß Balduur hervor. Er fand seinen Plan glänzend. Jawohl, so würde er es machen. Er sah nach dem Fenriswolf. Zusammen mit Fenrir, sicher war sicher, würde er hinabsteigen zur »Seele« und sie nach den Vorgängen an der Oberfläche befragen. Möglich, daß sich so eine Chance ergab, wirksame Waffen ge gen die Horden der Nacht zu finden. »So wird es gemacht«, stieß Balduur hervor. »Komm, Fenrir, wir stei gen hinab zu La'Mghor.« Im stillen sah er sich bereits als Retter von Pthor, befreit und gereinigt von allen früheren Vorwürfen und Selbstvorwürfen. Und diesem Knaben, diesem Bördo … »Wo ist Balduur?« Heimdall zuckte mit den Schultern. Er hatte den Bruder seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Kein Wunder, war er doch vollauf damit beschäf tigt gewesen, die heikle Lage zu bedenken und nach Abhilfe zu sinnen. »Also«, sagte Sigurd, und es klang entschlossener, als er vielleicht woll te, »wir müssen etwas tun. Wir können nicht einfach hier sitzen bleiben und warten, bis die Horden der Nacht die FESTUNG umheulen.« »Und was willst du tun?« fragte Heimdall, der längst ähnliche Gedan ken gewälzt hatte, aber zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen war. »Ob Balduur etwas eingefallen ist?« »Was weiß ich«, stieß Sigurd hervor. »Bist du dir darüber im klaren, daß wir etwas tun müssen – nicht wir Pthorer allgemein, sondern wir Brü der im besonderen. Wir müssen die Ereignisse der Vergangenheit verges sen machen und dieses neuerliche Auftauchen der Horden ist die beste Möglichkeit dafür.« »Dein heiteres Gemüt in Ehren«, versetzte trotzig Heimdall, »aber hast du eine Idee?« »Zuerst einmal müssen wir die Bewohner von Pthor warnen«, sagte Si
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gurd. »Wir können die Hilflosen nicht einfach ihrem Schicksal überlas sen.« »Wie du meinst«, versetzte Heimdall. Sigurd befahl einen der Technos herein, die sich noch in der FESTUNG aufhielten. »Wir brauchen ein Funkgerät«, bestimmte Sigurd, sobald der Techno erschienen war. »Gibt es eines?« »Wozu?« fragte der Techno kalt zurück. Sigurd behielt die Ruhe, obwohl er sich ärgerte. Es war den Brüdern schon aufgefallen, als sie die FESTUNG erreicht hatten – sehr begeistert waren die dort lebenden Technos über den Besuch der Odinssöhne nicht. Ihre Begeisterung hielt sich in so engen Grenzen, daß sie einer schroffen Ablehnung nicht unähnlich sah. »Wir wollen Pthor warnen«, sagte Sigurd. »Die Horden der Nacht stei gen wieder empor und überschwemmen das Land.« »Und ihr wollt …« »Wir wollen«, sagte Heimdall grimmig. Er richtete sich hoch auf und machte ein düsteres Gesicht. »Wir werden diese neue Katastrophe verhin dern, wenn es möglich ist.« Der Techno sah von einem zum andern. Sehr viel Vertrauen schien er in die Odinssöhne nicht zu setzen, das war nicht zu übersehen. »Es ist gut«, sagte er dann. »Folgt mir. Wir haben ein Funkgerät, mit dem man zahlreiche kleinere Stationen erreichen kann.« Heimdall kniff die Augen zusammen. »Und wo sind diese kleineren Stationen?« Der Techno zeigte ein völlig unbeteiligtes Gesicht. »Sie gehören den Pthorern, die sich verleiten ließen, für Thamum Gha zu arbeiten«, sagte er dann. »Sie haben sie entweder von den Ugharten be kommen oder aus der Hand der Magier empfangen. Ich bin sicher, man wird euren Alarmruf hören.« »Hoffentlich«, murmelte Heimdall. Und für einen kurzen Augenblick sah er sich um – als wähnte er die Horden bereits zwischen den Pyramiden der FESTUNG.
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7.
»Das gibt eine Katastrophe«, sagte Braheva ruhig. Lykaar schüttelte heftig den Kopf. »Ich hätte gedacht, du besäßest etwas mehr Zuversicht«, sagte er vor wurfsvoll. Der Wagen stand am Fuß eines Hügels. Es war keine sonderlich hohe Erhebung, aber offenkundig zuviel für die Yassels, die seit Stunden sehr merkwürdig schnaubten und schnauften. Lykaar und Braheva hatten den normalen Weg verlassen, ihr neues Ziel hieß Donkmoon. Der Grund dafür, daß sie die Straße der Mächtigen ver lassen hatten, war recht einfach – sie hätten dort zuviel Aufsehen erregt, und allgemeine Aufmerksamkeit war das letzte, was Lykaar in diesen Ta gen ersehnte. Denn auf dem Wagen geschahen geheimnisvolle Dinge. Immer wieder während der Fahrt hatte sich Lykaar umgedreht, einen Blick geworfen auf die fleckige Plane und nach den Klängen gelauscht, die unter der Plane hervordrangen. Es waren beängstigende Geräusche, ein fürchterliches Summen und Klappern und Rütteln. Fast konnte man glau ben, ein halbes Dutzend Erdteufel tobe sich im Innern der Fässer aus. Und jetzt hing der Wagen fest, die Yassels schnauften und waren offen bar am Ende ihrer Kräfte, und Lykaar war müde und hungrig – denn die Ameisen hatten den gesamten Mundvorrat aufgefressen – und Braheva schaute ungnädig drein. »Den Hügel noch, dann rasten wir«, gestand Braheva zu. Offenbar war auch sie ein wenig müde geworden – um die arg strapazierten Yassels zu schonen, waren die beiden den größten Teil der Strecke zu Fuß gegangen. »Vorwärts!« rief Lykaar und trieb die Yassels an. »Nicht so lahm.« Er stemmte sich gegen den Wagen, und das Gefährt setzte sich langsam in Bewegung. Braheva übernahm es, die Yassels vorwärtszutreiben, und Lykaar half von hinten durch eifriges Drücken und Schieben. »Es war deine Idee«, sagte Braheva, als Lykaar sich in einer kleinen Pause den Schweiß aus dem Gesicht wischte. »Ich wollte in Orxeya blei ben, aber du und deine Freunde …« »Laß meine Freunde in Ruhe«, sagte Lykaar. Zwar reute ihn der Handel längst, aber er wollte das vor Braheva nicht zugeben. »Weiter!« Schritt für Schritt stemmten sie den Wagen den Hügel hinauf. Die An höhe war mit Gras bewachsen, und das Gras war ein wenig feucht, gerade richtig, um Lykaar immer wieder ausgleiten zu lassen. Dennoch kamen sie dem Gipfel des Hügels näher. Die Yassels ächzten
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und keuchten immer lauter, und Lykaars Atem ging pfeifend. Dann war es geschafft, eine letzte Kraftanstrengung – der Wagen stand auf dem Hügel. »Ich hätte keinen Schritt weitergekonnt«, sagte Lykaar. Er war völlig erschöpft und schweißüberströmt. Braheva zeigte sich ungerührt. »Du hast diesen Weg vorgeschlagen«, sagte sie. »Ich bin dir nur ge folgt, wie ich es versprochen habe – stets und überall an deiner Seite.« Lykaar sah sie erschöpft an. »Ich hatte das damals als Versprechen aufgefaßt, nicht als Drohung«, murmelte er so leise, daß Braheva ihn nicht hören konnte. Er sah sich um. Hügel. Hier einer, dort noch einer, und in der Ferne weitere Hügel. Hü gel, wohin man sah. Für andere mochte dieser Landstrich Teil der Ebene von Kalmlech sein, und für ZugorFlieger wie diesen affigen Sator Synk handelte es sich vermutlich tatsächlich um brettebenes Land. Für kleine schuftende Handlungsreisende mit schwerbepacktem Wagen und vier halblahmen, asthmatischen Yassels kam das Land einem endlosen Ge birgszug gleich. Das Schlimmste war, daß sie mittendrin steckten – der Weg zurück zur Straße der Mächtigen würde ebenso beschwerlich sein wie der Weg nach vorn. Die Aussichten waren alles andere als verheißungsvoll. Lykaar seufzte wehleidig und lehnte sich gegen den Wagen. Die Yassels quiekten empört, dann aber setzten sie sich so rasch in Be wegung, wie Lykaar das noch nicht erlebt hatte. Der Wagen, gerade ausba lanciert, rollte nämlich los, kaum daß Lykaar sich dagegen gelehnt hatte, und nun polterte er hinter den verzweifelt davonstürmenden Yassels den Hügel hinunter – in die richtige Richtung, aber mit viel zuviel Fahrt. Braheva stand mit unglaublicher Ruhe da und sah zu, wie eine einzige Unbedachtsamkeit ihres Mannes das letzte bißchen Habe in einen Müll haufen verwandelte. Immer schneller rollte der Wagen hinab, immer gehetzter liefen die Yassels, die von dem wildgewordenen Gefährt überrollt zu werden droh ten. Ein Stein, groß wie ein Kopf, tauchte in Fahrtrichtung auf. Lykaar schloß die Augen, er wollte es nicht mitansehen. Dann hörte er das schmetternde Krachen, mit dem Wagenrad und Stein zusammenprallten, danach noch weitere knirschende Schläge, das Ge räusch splitternden Holzes, einen gellenden Schrei, der von den Yassels ausgestoßen wurde, danach ein dumpfes Poltern und einen sehr leisen Seufzer, der von Braheva stammen mußte. Langsam öffnete Lykaar die Augen.
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Dann riß er sie weit auf. Der Wagen war nicht zertrümmert, jedenfalls nicht zur Gänze. Er hatte nur einen Teil seiner Ladung verloren – eines der Fässer rollte noch und hinterließ eine grünliche Seifenspur auf dem Gras. Neben dem Wagen la gen völlig erschöpft die Yassels und hatten alle viere von sich gestreckt. Die Plane flatterte lose im Wind, und das Brausen und Brummen aus dem Laderaum war noch stärker geworden. Braheva sah ihren Mann an, und der schrumpfte unter diesem Blick förmlich zusammen. »Du«, sagte Braheva. »Du …« Sie verkniff sich weitere Bemerkungen. Lykaar zuckte entschuldigend mit den Schultern und stieg dann vorsichtig in die Senke hinab, um nach dem Wagen zu sehen. »Es ist eine Katastrophe«, sagte Braheva gelassen. »Wir liegen fest. Den Wagen bekommen wir nicht mehr flott.« Lykaar schluckte. Ganz von der Hand zu weisen war Brahevas Zweifel nicht. Im Näher kommen hatte Lykaar festgestellt, daß eine der Achsenbefestigungen sich gelöst hatte, das bedeutete, daß er entweder die Ladung beiseite stellen und den Wagen kippen mußte, um die Befestigung reparieren zu können, oder daß er sich unter den morschen Wagen hätte schieben müssen, stets in der Gefahr, von dem herabsackenden Wagen zerquetscht zu werden. »Sieh als erstes nach den Tieren«, bestimmte Braheva. »Ich kümmere mich um den Rest.« Mit den Yassels war nicht mehr viel anzufangen, stellte Lykaar betrof fen fest. Die Tiere schienen halbtot vor Erschöpfung und waren weder mit guten noch mit drohenden Worten auf die Beine zu bringen. »Das ist das Ende«, murmelte Lykaar niedergeschlagen. Er barg das Faß, das sich davongemacht hatte und unterwegs einen Teil seines Inhalts auf dem Gras verteilt hatte – eine sehr seltsame Schmiere, die Blasen warf und leise blubberte und inzwischen nicht mehr nach Apfel roch. »Wie sieht es aus?« fragte Braheva, als Lykaar zurückgekehrt war und das halbleere Faß abgestellt hatte. Lykaar sah seiner Frau in die Augen. »Aus«, sagte er kleinlaut. »Wir sind arme Leute, die Yassels werden so schnell keinen Schritt mehr machen können.« »Sieh dir das einmal an«, sagte Braheva und deutete auf eine Reihe von Abdrücken. »Wofür hältst du das?« Froh, von der allgemeinen Katastrophe abgelenkt zu werden, beugte sich Lykaar zu den Spuren hinab. »Seltsam«, murmelte er. »Überaus seltsam.«
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»Das habe ich auch schon bemerkt«, kommentierte Braheva trocken. »Für was hältst du die Spuren? Was für ein Tier war das?« Lykaar kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Tja«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. Er wußte natürlich genau, um was für eine Spur es sich handelte. Es gab kein ihm bekanntes Lebewesen, das eine solche Spur auf weichem Gras boden hinterließ. So trat kein Yassel auf, kein Mensch, nichts, was Lykaar vom Sehen her kannte. Auf der anderen Seite verriet der Abdruck, daß das Wesen ziemlich beeindruckende Krallen gehabt haben mußte, in der Grö ßenordnung unterarmlanger Dolche. Das ließ zweifelsfrei auf eine gemein gefährliche Bestie schließen, und da sich diese Spur am Rand der Ebene von Kalmlech befand, gab es eine sehr naheliegende Erklärung dafür – ein Mitglied der Horden der Nacht, eines von den Scheusalen, die Pthor schon einmal heimgesucht hatten. Bekanntlich aber waren die Horden der Nacht für immer unschädlich gemacht worden – die Spur konnte also nur eine Fälschung sein. »Ich weiß, was es ist«, sagte Lykaar. »Eine Kreatur der nächtlichen Horden hat sie gemacht, aber schon vor langer Zeit.« Braheva rümpfte die Nase. »Und das soll sich so lange gehalten haben?« fragte sie skeptisch. »Sicher«, sagte Lykaar und schwindelte hemmungslos ins Blaue hinein. Er konnte Braheva schließlich nicht sagen, daß er an einen sehr üblen Spaß eines boshaften Zeitgenossen glaubte. »Die Senke ist windgeschützt«, plapperte er drauflos. »Daher halten sich solche Spuren sehr lange, jahrelang manchmal.« Braheva schien beruhigt. »Wenn du es sagst«, meinte sie. »Ich habe mir den Wagen angesehen. Er ist zu reparieren.« »Wirklich?« Lykaars Stimme verriet erheblichen Zweifel. Er war sicher, daß er selbst mit der kräftigen Braheva zusammen keine Chance hatte, den Wa gen auf die Seite kippen zu können. Infolgedessen würde er sich unter den Wagen legen müssen – ein Gedanke, der ihn mit kalter Furcht erfüllte. »Gib acht, daß die Ladung nicht verrutscht«, sagte Braheva. Sie hatte bereits Werkzeug aus dem Kutschkasten geholt und machte nun Anstalten, unter den Wagen zu kriechen. »Was denn? Du …« Braheva warf einen bezeichnenden Blick auf jenen Bereich von Lykaars Körper, den er als Wohlstandswölbung bezeichnete und den sein Weib kurz und gnadenlos als Bauch titulierte. Bevor Lykaar etwas sagen konnte, war Braheva unter den Wagen ge glitten und hantierte mit dem Werkzeug an der Achse herum. Lykaar
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schluckte ein ums andere Mal. Vor seinem geistigen Auge sah er in einer Sekunde alles vernichtet und zerstört, was ihm das Leben angenehm ge macht hatte. Die Yassels vor Erschöpfung zugrunde gegangen, die Ladung rettungslos verdorben, der Wagen nicht mehr instandsetzbar … »Gib mir den Hammer!« forderte Braheva. Hastig erfüllte Lykaar die Forderung. Die Ladung auf dem Wagen schwankte ein wenig, das Holz gab ein deutlich hörbares Ächzen von sich. Lykaar schickte ein Stoßgebet zum Himmel hinauf. Geschmeidig wand sich Braheva unter dem Wagen hervor, sie drückte Lykaar das Werkzeug in die Hand. »Für die letzte Arbeit braucht man mehr Kraft, als ich sie habe«, sagte sie einfach. Lykaar grinste säuerlich. Zum einen freute er sich, daß sein Weib soviel Zutrauen in seine Kraft besaß, zum anderen erfüllte ihn der Gedanke mit Schrecken, sich unter das ächzende Gefährt begeben zu müssen. Mit noch viel mehr Schrecken aber erfüllte ihn der Gedanke, sich vor Braheva lä cherlich zu machen, wenn er nicht mindestens soviel Tapferkeit bewies wie sie. Lykaar nickte und robbte rücklings unter den Wagen. Der Anblick über ihm war schreckerregend. Das Holz war sichtlich morsch, und die Reparatur konnte bestenfalls dazu führen, daß der Wagen bis zum nächsten Schmied durchhielt. Vielleicht schaffte es der Wagen bis Donkmoon, dort konnten die Gordys Abhilfe schaffen. In der Zwischen zeit aber … Lykaar machte sich ans Werk. Zwischen den einzelnen Hammerschlä gen hörte er das Ächzen des Holzes, und jedesmal glaubte er, die letzte Se kunde seines Daseins sei angebrochen. Der Wagen brach nicht zusammen. Er machte zwar einige Anstalten da zu, aber er hielt, bis sich ein schweißgebadeter, ziemlich käsig aussehen der Lykaar unter dem Gefährt hervorgearbeitet hatte. Sobald er seinen Kopf aus der Gefahrenzone wußte, erlaubte sich Lykaar einen langen Seufzer der Erleichterung. Als er dann wieder in die Höhe sah, blickte er in das bleiche Gesicht seines Weibes. Braheva war sichtlich erschüttert. »Die Yassels«, sagte sie tonlos. Lykaar wurde schlaff. Also doch. Er hatte es befürchtet, aber im Inner sten dennoch gehofft, die Tiere wenigstens durchzubringen. Nun waren sie verendet, das Kapital verloren, die Ladung ebenfalls, denn ohne Yassels war sie nicht von der Stelle zu bringen. Langsam stand Lykaar auf, ein geschlagener, ruinierter Mann. Er wollte hinübergehen zu den Yassels, blieb aber wie angewurzelt stehen. »Heiliges Pthor!« stöhnte er auf.
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Die Tiere waren keineswegs tot. Im Gegenteil, sie waren lebendiger als jemals zuvor. Verändert hatte sich vor allem ihr Aussehen – sie waren grün, am gan zen Körper dunkelgrün, fast wie das Gras, das sie mit unglaublicher Gier in sich hineinschlangen. »Wie ist das geschehen?« fragte Lykaar entgeistert. »Sie haben ein paar Grashalme gefressen«, wußte Braheva stockend zu berichten. »Und an dem Gras muß ein wenig von der Ladung gewesen sein. Kaum hatten sie davon genascht, wurden sie plötzlich lebendig – und dann wurden sie grün.« Lykaar schluckte. Ursprünglich war das Gebräu eine von seinem Freund Achar erfundene Seife gewesen, angereichert mit seltsamen Geruchsstoffen. Dann hatten sich ein paar Millionen Ameisen damit vermischt, und zu guter Letzt hatte sich der gräßliche Rauch einer verbrennenden Stinkwurz in die Seife ge fressen. Was während der rumpeligen Fahrt noch mit dem Inhalt der Fäs ser geschehen war, konnte Lykaar nicht wissen – nur sehen, welche Wir kungen das Endprodukt zu erzielen vermochte. »Unglaublich«, sagte er. »Ob die Wirkung anhält?« »Woher soll ich das wissen?« fragte Braheva. »Was weiß ich, vielleicht fallen sie gleich vergiftet um.« »Das wäre sehr unangenehm«, murmelte Lykaar. Er hatte einige Schwierigkeiten, sich auf die veränderte Lage einzustellen. Gerade noch hatte er sich mit dem Tod der wertvollen Tiere abgefunden, jetzt mußte er befürchten … ja, tatsächlich, die hatten dichten Schaum vor den Mäulern. Ob sie toll geworden waren? »Lassen wir sie fressen«, schlug Lykaar vor. »Mehr können wir ohnehin nicht unternehmen.« Braheva sah ihn von der Seite an. »Vielleicht solltest du auch etwas von diesem seltsamen Sud nehmen«, sagte sie halblaut. Lykaar rollte mit den Augen. »Willst du mich vergiften?« fragte er entgeistert. »Was weiß ich, zu welchem Höllenbräu sich die Seife verändert hat.« Er grinste schlau. »Kein Krümelchen davon werde ich verzehren, Teuerste«, sagte er ver schmitzt. »Aber eines weiß ich – wenn den Tieren das nicht schadet, wer de ich mich mit Achar zusammentun. Wir müssen dann nur dafür sorgen, daß die Yassels nicht mehr grün werden. Wenn das funktioniert, werden wir prachtvolle Geschäfte machen können.« »Alte klapprige Yassels kaufen und in nagelneue junge Tiere verwan deln?« erkundigte sich Braheva.
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»Genau das«, stimmte Lykaar zu. Braheva machte jenes Gesicht, das sie immer aufsetzte, wenn sie mit Lykaar unzufrieden war, ein Alarmzeichen, wie Lykaar sehr wohl wußte. »Vielleicht«, murmelte sie kaum hörbar, »kann man auch alte Ehemän ner in junge damit umwandeln.« Lykaar schwieg beleidigt. Daß er ein paar Jahre älter war als sein Weib, gab Braheva kein Recht, ihn wie einen klapprigen Greis zu behandeln. »Vielleicht«, äffte er sie nach, »kann man auch eine Suppe zusammen brauen, die zänkischen Weiber in friedliche verwandelt.« »Zanke ich zuviel mit dir?« fragte Braheva. »Bist du wirklich dieser Meinung?« »Natürlich nicht«, sagte Lykaar hastig. Insgeheim nahm er sich vor, mit Achar ein paar Worte zu reden. Diese Seifensiedekunst schien Zukunft zu haben; vielleicht konnte man sich auch mit dem Magier zusammentun und dann ganz besondere Tränklein zusammenbrauen. »Ich hab's«, stieß Lykaar hervor. »Allerdings«, sagte seine Frau anzüglich. »Wir suchen uns ein anderes Ziel«, sagte Lykaar begeistert. »Natürlich, ganz klar.« »Mir ist gar nichts klar«, versetzte Braheva. »Wir wenden uns nach Süden«, sagte Lykaar enthusiastisch. »Wir wer den diese geheimnisvolle Wunderseife an die Magier verkaufen.« »Bist du von Sinnen«, fragte Braheva. »Willst du allen Ernstes in die Große Barriere von Oth?« »Natürlich«, sagte Lykaar. »Dort leben bekanntlich die Magier.« »Muß ich dich an das erinnern, was wir alle auf Pthor in den letzten Monden erlebt haben?« fragte Braheva. »Kein Mensch weiß, wie es jetzt in der Barriere aussieht, ob die Magier überhaupt noch leben, und wenn, was sie für eine Laune haben. Und du willst dich kopfüber hineinstürzen in die Gefahr?« »Andere Zaubertränke könnte man eintauschen«, murmelte Lykaar, der gar nicht mehr auf Braheva achtete. »Liebestränke …« »Leg einen großen Krug für dich zur Seite«, spottete Braheva. »… und andere Tränke. Verjüngungsmittel. Ja, das ist es. Ich werde mich mit Achar zusammentun. Lykaar und Achar, Tränke aller Art.« Braheva schüttelte verzweifelt den Kopf. »Zaubertränke aller Art«, verbesserte sich Lykaar. »Ich werde die Trän ke in der Barriere von den Zauberern abholen und gegen die Sachen ein tauschen, die Achar für uns erfinden wird.« »Ein Narr bist du«, schimpfte Braheva. »Wer soll dir den Sudel abkau fen?« »Großhandel in Zaubertränken aller Art«, ergänzte Lykaar. Seine Augen
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waren in die Ferne gerichtet. »Wir werden – ist das nicht eine prachtvolle Idee? – die Odinssöhne damit beliefern. Lieferanten für die FESTUNG – das ist doch etwas anderes als mit den Leuten aus dem Blutdschungel Handel zu treiben.« »Die können wenigstens bezahlen«, sagte Braheva trocken. Lykaar sah immer noch an ihr vorbei in die Ferne, nach Süden, dort, wo jenseits der Straße der Mächtigen die Große Barriere von Oth lag – der Ort, den Braheva von allen Orten Pthors am wenigsten aufzusuchen wünschte. Sie warf einen Blick zur Seite. Die Yassels waren noch immer sehr grün. »Wenn das nur gutgeht«, murmelte sie.
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8.
Genlis hieß der Orxeyaner, der eines der Funkgeräte besaß, von denen die Technos in der FESTUNG zu Sigurd und Balduur geredet hatten. Genlis war ein alter Mann, das Gesicht zernarbt von zahlreichen Kämp fen, aber leider nicht nur das Gesicht, sondern auch der Rücken. Manch ei ner hatte Genlis im Kampf von hinten gesehen, und die immerwährende Schande der Feigheit drückten den alten Mann fast noch mehr als der pei nigende Schmerz, der sich vor allem bei Witterungsumbrüchen stets in den Narben einzustellen pflegte. Genlis saß auf einem der Plätze Orxeyas, unbeobachtet, selber aber ge nau beobachtend. Es konnte nicht schaden, wenn man genau hinsah, wenn es etwas zu petzen und zu verraten gab. Es war vor allem gut, wenn sich ein wenig herumsprach, daß Genlis schnüffelte – die Leute bekamen dann ein wenig Angst vor ihm. Für Genlis war es gleichgültig, ob man ihn aus Respekt oder Vorsicht freundlich grüßte – es kam ihm auf den Schein an, nicht auf das, was dahinter steckte. Daß man hinter seinem Rücken schlecht über ihn redete, das kümmerte Genlis nicht – er hätte es auch nicht ändern können. Es war angenehm warm, und wohlig reckte und dehnte Genlis die Glie der. Fast tat es ihm leid, daß die Zeiten so ruhig waren auf Pthor. Man konnte seinen Geschäften nachgehen, im Augenblick war wieder ein Trupp Orxeyaner zu den Völkern des Blutdschungels unterwegs, man konnte feiern wie jener Haufen, der vor einer Schenke im Freien saß und das Leben so offenkundig genoß, daß Genlis ein quälendes Gefühl des Neides überfiel. »Irgendwann«, murmelte Genlis, während er den fast zahnlosen Mund zur Travestie eines Lächelns verzog. »Irgendwann …« Eines Tages würde die Stunde kommen, auf die Genlis wartete. Eines Tages würden Thamum Gha und seine Helfer Besitz ergreifen von Pthor; sie würden die Guten strafen und die Schlechten wie ihn für ihre Schlech tigkeit belohnen – Genlis war da in seiner Selbsteinschätzung von einer Ehrlichkeit, die seine Mitbürger verblüfft hätte, hätten sie jemals davon er fahren. An diesem Tag würde Genlis Rache nehmen, Rache für die Demütigun gen, für die Vorwürfe, die peinigenden Fragen, die schnellen Blicke. Rä chen würde er sich an den Kriegern, die nichts von ihm hielten, an den Händlern, mit denen er die üblen Geschäfte getätigt hatte und die so wenig von Genlis hielten, wie er von ihnen. Rächen würde er sich an den Wei bern, die ihn stets verachtet und verschmäht hatten. Schade, dachte Genlis, daß der Tag der Rache so lange auf sich warten
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ließ, daß sich so spät erst die Möglichkeit bot, zu triumphieren. Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Genlis, während er in der Son ne saß und seinen Feinden beim Feiern zusah. Er kannte die Leute gar nicht, die dort feierten, aber er wußte, daß sie seine Feinde waren – wer et was zu feiern hatte, war in den Augen des alten Orxeyaners ein Feind. Genlis nippte an seinem Bier. Er hatte nicht viel zusammenraffen kön nen in den paar Jahren seines aktiven Lebens und bei den paar Malen, wo es ihm gelungen war, Beute zu machen. Genlis lebte ärmlich, und das ver droß ihn ebenso sehr wie die Tatsache, daß er in einer besonders engen und ungemütlichen Unterkunft zu Hause war. Der alte Mann stand auf. Es tat ihm weh, die anderen in ihrer bierseligen Fröhlichkeit ansehen zu müssen, das Lachen hören zu müssen, das über den Platz schallte – ein of fenes unbeschwertes Lachen voller Lebensfreude. Genlis humpelte vom Platz. Die Narben schmerzten, das lahme Bein schmerzte noch mehr, und am schwersten zu ertragen war für Genlis das Gefühl, daß er seine Rache träume wahrscheinlich niemals würde ausleben können. Die Zeit arbeitete gegen den Alten, sie fraß ihn langsam auf, bevor er seinem Haß die Zügel schießen lassen konnte. »Elendes Alter«, murmelte Genlis. Nichts war ihm erspart geblieben, nicht körperliche Schmerzen, wie die, die ihn in diesem Augenblick beim Gehen peinigten, nicht Schmach und Demütigung vor aller Augen, wenn seine Leistungen auf Kriegszügen zum Gegenstand des allgemeinen Spottes gemacht worden waren. Er konnte kaum kauen, vertrug nur wenig Alkohol, und sein Liebesleben war eine einzige Ansammlung von Pleiten und Enttäuschungen gewesen. Daß er sich den weitaus größten Teil dieser bedrückenden Erinnerungen selbst zu zuschreiben hatte, nahm dem Gedanken nichts von seiner Schärfe. Genlis, der größte Versager und hinterhältigste Rachekopf, den Orxeya hervorgebracht hatte, humpelte langsam seiner Wohnung entgegen. Sie lag am Rand der Stadt, versteckt in einem Winkel. Man mußte ein paar ausge tretene Treppen hinaufsteigen, für einen alten Mann mit wundem Bein kei ne Kleinigkeit, und Genlis konnte sich noch des boshaften Grinsens seines Vermieters erinnern, als er die Wohnung bezogen hatte. Indessen war Genlis keine andere Wahl geblieben – sein bisheriger Vermieter hatte ihn unter dem Hohngelächter der Menge an die Luft gesetzt, weil Genlis nur die Miete nicht bezahlt hatte, sondern obendrein auch noch die Stirn ge habt hatte, sich des Vermieters Töchterlein in höchst eindeutiger Weise zu nähern. »Ach, Genlis? Wieder zurück?« Der Vermieter sah aus dem Fenster, als Genlis herankam. Er grinste dreckig. Ihn würde sich Genlis … aber der Schmerz in seinem Bein hin
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derte ihn daran, sich genüßlich auszumalen, wie er den Dreistling langsam zu Tode quälen würde. Wäre doch nur endlich der Tag gekommen, an dem er hätte Rache neh men können. Köpfe würde er rollen lassen. Genlis machte sich an den Aufstieg zu seiner Wohnung. Die Treppe war hölzern und gab ächzende Geräusche von sich, während sich der alte Mann mühsam in die Höhe zog. Die Wohnung bestand lediglich aus einer Kammer, in der Genlis seine wenigen Habseligkeiten zusammengepackt hatte – Waffen, die so nutzlos waren wie sein zahnarmer Mund, ein paar zerlumpte Kleidungsstücke, ein Strohsack. Das war alles, was Genlis in den langen Jahren seines Lebens erreicht hatte, wenig, wenn man bedachte, was er sich alles vorgenommen hatte, als er mit jungen Gliedern durch die Straßen Orxeyas stolziert war. Keines dieser Ziele hatte er erreicht, in den meisten Fällen war er nicht einmal in die Nähe des Zieles gekommen. Die Frau, die er begehrt hatte, hatte ihn kurzerhand ausgelacht und sich dem Vater dieses elenden Halun ken Sator Synk an den Hals geworfen. Beim ersten Kriegsdienst war er ohnmächtig geworden, als das erste bißchen Blut floß – und es war nicht einmal sein eigenes gewesen. An diesem Abscheu hatte sich einiges geändert, nichts aber daran, daß aus dem überheblichen Genlis früherer Jahre ein harter, böser Mann ge worden war, verachtet und verspottet, nur am Leben gehalten von einer Rachegier, die jedes andere Gefühl übertönte. Genlis warf sich auf sein Lager. Er drehte sich zur Seite, wollte schla fen, im Schlaf das nachholen, was ihm tagsüber nie gelungen war. Es fiepte. »Elende Viecher«, murmelte Genlis. Es war nicht das erste Mal, daß er von Mäusen und Ratten heimgesucht wurde. Es fiepte wieder. Und Genlis begriff. Das Funkgerät. Er wurde angerufen. Das Funkgerät, endlich. Der Tag der Rache, er war da. Das Funkgerät, wo steckt es? Aufrappeln, nachse hen, weg mit den Lumpen. Irgendwo mußte es sein, irgendwo in der Kam mer. Sie war doch nicht so groß, daß man das Funkgerät wirklich ver stecken konnte. Rache – endlich würde er sich austoben können. Wenn nur das verfluchte … da war es. Mit bebenden Händen griff Genlis nach dem Funkgerät. Eine kleine Lampe zeigte ihm an, daß er richtig gehört hatte. Er war angefunkt wor den, man hatte ihn gerufen. Genlis bebte am ganzen Körper. Was würde man von ihm verlangen? Kam Thamum Gha, um seine schwere Hand auf Pthor zu legen? Würde endlich Blut fließen, das Genlis so gern in Strömen vergossen hätte? Gen
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lis schaltete mühsam das Gerät ein. Die Finger wollten nicht mehr recht, und er zitterte vor Erregung. Er gab einen krächzenden Laut von sich. »Genlis!« »Wer redet?« »Genlis, stets zu Diensten.« »Aha.« Genlis fieberte, vor Erregung. Wer war es, der da sprach? Thamum Gha selbst? »Hier spricht die FESTUNG!« Eisiger Schreck durchfuhr Genlis. In der FESTUNG trieben sich Tech nos herum. Was wollten die von ihm? »Wer spricht?« »Sigurd«, erklang es aus dem kleinen Lautsprecher. Vorbei, aus – es wurde nichts aus der Rache. Einer dieser Odinssöhne, verflucht mögen sie sein bis ins zehnte Glied, spielte mit dem Funkgerät in der FESTUNG herum. Und Genlis hatte seinen Namen genannt. Das konnte ihn den Kopf kosten. »Hör zu, Genlis, du mußt deine Freunde warnen.« Fast hätte der alte Mann aufgelacht. Freunde? Er? »Pthor droht eine große, schreckliche Gefahr. Neue Horden der Nacht sind aufgetaucht und überziehen das Land mit Furcht und Schrecken. Ver barrikadiert euch, rüstet euch zur Verteidigung.« »Horden der Nacht?« Genlis traute seinen Ohren nicht. Er glaubte, dieses Problem sei erle digt, ein für allemal – und jetzt stiegen sie wieder ans Tageslicht, die Alp traumgestalten aus der Ebene von Kalmlech. Wie weit war Orxeya davon entfernt? Einstweilen weit genug, aber auf Dauer? »Du mußt alle Bürger warnen, Genlis. Ihr müßt euch zum Schutz zu sammen schließen und euch gegen die Horden verteidigen.« Plötzlich wurde Genlis ganz ruhig. Vielleicht …? »Kannst du deine Warnung in einigen Minuten wiederholen?« fragte Genlis. »Warum das?« »Ich bin allein, man wird meinem Wort nicht Glauben schenken. Ich werde einige Freunde aufsuchen, dann rufe ich dich an. Kann man das so machen, Sigurd?« »Dein Vorschlag ist gut, rufe mich zurück.« Die Lampe erlosch, die anzeigte, daß eine Verbindung bestand. Das Ge rät wurde stumm. Triumphierend sah Genlis auf das Funkgerät hinab. Endlich hatte er ei ne Möglichkeit gefunden, seine Rache zu vollziehen – und, oh angenehme
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Bosheit des Schicksals, die Odinssöhne halfen ihm sogar dabei. Er brauch te sich nicht einmal in Gefahr begeben. Genlis nahm das Gerät und hastete aus seiner Kammer. Fast wäre er die krumme Treppe hinuntergefallen. »He, Genlis, wohin willst du? Vergiß nicht, morgen ist der Zins fällig für deine Wohnung!« Genlis hätte dem dicken Wirt am liebsten ein paar Beleidigungen an den Kopf geworfen, aber er beherrschte sich. »Komm mit«, rief er ihm statt dessen zu. »Ich habe wichtige Neuigkei ten.« »Du?« Eine riesige Wanne voll Hohn und Verachtung enthielt dieses eine Wort, und einmal mehr beherrschte sich Genlis. »Ja, ich. Komm auf den Marktplatz, dort wirst du mehr erfahren.« »Du bist verrückt geworden, Alter«, rief ihm der Wirt nach. »Völlig verrückt. Ich werde doch deinetwegen mein Geschäft nicht im Stich … he, Genlis!« Der Alte hörte nicht mehr. So schnell ihn seine lahmen Beine trugen, hastete er zu dem Platz zurück, an dem er sich gesonnt hatte. Noch immer saßen die Zecher beieinander und ließen die Becher kreisen. Die Runde war sogar noch größer geworden. »Heda, Leute!« rief Genlis. »Heda!« Schweigen breitete sich aus. Mit verschlossenen Gesichtern sahen die Gäste Genlis näherhumpeln. Niemand, der Genlis nicht verabscheute, nie mand, der nicht eine Geschichte wußte, in der Genlis die Rolle des jäm merlichen Schurken gespielt hatte. »Ihr müßt mich anhören«, rief Genlis schon von weitem. Er eilte auf die Gruppe zu. »Eine wichtige Botschaft aus der FESTUNG!« »Was hast du mit der FESTUNG zu tun?« fragte einer scharf. »Pack dich, Alter. Du störst uns.« Genlis zeigte das Funkgerät, hielt es hin. Er sah, daß man ihn verwun dert anstarrte. »Seht ihr?« sagte er. »Ich habe ein Funkgerät, und gerade hat mich Si gurd angerufen, um mir zu sagen, daß die Horden der Nacht wiedererstan den sind.« »Du bist ja betrunken!« »Wovon?« fragte Genlis zurück. »Wartet, ihr werdet es erleben.« Die Menge hatte sich vergrößert. Es war nicht zu übersehen: man erwar tete sich einen Spaß auf Kosten des alten Mannes. Genlis schaltete das Funkgerät ein. »Hier Genlis«, sagte er laut. »Ich rufe die FESTUNG.« Keine Reaktion. Genlis wiederholte seinen Anruf, auch diesmal blieb
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das Gerät stumm. Todesangst überfiel den alten Mann. Diese Niederlage würde seine letz te sein, das wußte er. Wenn das Funkgerät jetzt versagte … Die Menge war größer geworden, Männer und Frauen, vereinzelt Kin der. Gelächter kam auf. »Typisch Genlis, nur Geschwätz, nichts dahinter! Verschwinde, Alter!« »Hier Genlis!« schrie der Alte. »Hier Genlis. Ich rufe die FESTUNG.« Genlis schwankte, als er mit unglaublicher Erleichterung Sigurds Stim me erkannte. »Hier FESTUNG. Sigurd spricht.« »Donnerwetter, er hat tatsächlich recht.« »Wiederhole, was du mir gesagt hast, Sigurd. Die Bürger von Orxeya wollen mir nicht glauben.« Aus dem kleinen Lautsprecher drang die Stimme des Odinssohns. »Hört mich an, Bürger von Orxeya. Ich habe erfahren, daß aus der Ebe ne von Kalmlech neue Horden der Nacht aufsteigen aus der Tiefe. Sie be drohen jeden von uns, ganz Pthor ist in Gefahr, denn wir haben nur mehr wenige Waffen.« »Himmel!« schrie eine hohe Stimme. »Die Horden der Nacht!« Genlis lächelte in sich hinein. Die Dinge nahmen die Wendung, die er sich gewünscht hatte. »Ihr müßt euch sammeln«, beschwor Sigurd die Bewohner Orxeyas. »Ihr müßt alle verfügbaren Waffen zusammentragen und euch zu einem schlagkräftigen Haufen vereinigen.« »Wir sind verloren!« rief einer, und ein anderer fiel ein: »Schutzlos sind wir ihnen ausgeliefert.« Sigurd schien den Schrei gehört zu haben. »Wenn ihr euch klug verhaltet, werden wir die Gefahr bannen, ganz si cher. Ihr müßt …« »Glaubt ihr, was der uns sagt?« schrie ein Mann. »Daß wir eine Chance haben, uns gegen die Ungeheuer von Kalmlech zu verteidigen? Jetzt, wo wir kaum noch Waffen haben? Nachdem wir immer wieder überfallen, ausgeplündert und entwaffnet worden sind? Traut ihr diesem … Odins sohn?« So, wie der Mann den Namen aussprach, erinnerte er an einen Fluch. »Lauft!« schrie eine Stimme. »Lauft um euer Leben!« »Rette sich, wer kann!« Genlis grinste verhalten. Genau das hatte er erhofft. Er wollte ein Übri ges tun. »Seid vernünftig«, schrie er. »Sie sind furchtbar und grauenvoll. Sie werden euch einzeln erwischen und vernichten. Also verbündet euch.« »Ach, halte den Mund, alter Schwätzer. Was verstehst du schon vom
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Kämpfen. Ich sage euch, lauft um euer Leben.« Die Menge auf dem Platz vergrößerte sich zusehends, und das, obwohl Dutzende von Orxeyanern fortstürzten, um ihre Familien zu rufen und sich in Sicherheit bringen zu können. »Hier in Orxeya sitzen wir fast wie in einem Vorratslager. Die Horden können sich ausrechnen, wo sie uns finden werden, und wenn sie die mor schen Mauern übersteigen, dann sitzen wir in der Todesfalle. Ich jeden falls verschwinde von hier.« »Wohin?« rief ihm jemand zu. »Wohin sollen wir laufen – Pthor ist nicht groß genug für die Horden und für uns.« »Ich werde nach Wolterhaven gehen«, erklärte einer. »Die Robotbürger werden am ehesten mit der Gefahr fertig.« »Ach, Unsinn – im Blutdschungel werde ich mich verstecken, da findet mich keiner. Wenn ihr hierbleiben wollt – viel Spaß.« Mit innerer Freude sah Genlis zu, wie sich sein Racheplan in Szene setzte, wie sie in Panik gerieten, die Peiniger und Unterdrücker. Er sah die bleichen Gesichter der Menschen, er sah Frauen weinen und Kinder schreien, und es bereitete ihm boshaftes Vergnügen, diese Panik anzuhei zen. Er wußte, daß sie Narren waren, die Orxeyaner. Herunterspringen von Pthor konnten sie nicht, also mußten sie irgendwann und irgendwo den Kampf mit den Horden der Nacht aufnehmen – und ihn entweder gewin nen oder untergehen. »Warum gehen wir nicht zur FESTUNG?« schlug einer vor. »Die Tech nos in der FESTUNG sollen uns helfen, und die Odinssöhne.« »Ach die.« »Nur in der FESTUNG sind wir sicher vor den Horden der Nacht. Ich werde mich in der FESTUNG in Sicherheit bringen.« Eine andere Stimme. »Seid vernünftig, Leute, verfallt nicht in Panik. Die Lage ist nicht annä hernd so schlimm, wie ihr jetzt glaubt.« Einen Herzschlag lang stand das Schicksal der Orxeyaner auf der Kip pe, und in diesem Augenblick tauchte ein Mann auf, der alles entschied – er kam mit fliegenden Haaren auf den Platz gestürmt. »Flüchtlinge!« schrie er mit gellender Stimme. »Vor den Toren stehen Flüchtlinge, die sich vor den Horden bergen wollen.« »Sie stehen schon vor Orxeya, ganze Heere«, brüllte einer. »Weg von hier, nur weg!« Die Nachricht, daß die ersten Opfer der neuen Horden Orxeya bereits erreicht hatten, gab den Ausschlag. Schreiend stoben die Menschen aus einander. Genlis kicherte voll Schadenfreude in sich hinein.
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So würden sie sich selbst zugrunde richten, und das war genau das, was sich der böse alte Mann erhoffte. Die Horden der Nacht würden es übernehmen, seine Rache an den Be wohnern von Orxeya zu vollziehen.
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9.
»Findest du das Ding wirklich schön?« Sator Synk zuckte zusammen, als habe er einen Schlag auf den Kopf be kommen. »Bitte?« Bördo deutete ungeniert auf Synks Bart, der breit und rot auf die Brust hinab wallte. »Ich fragte, ob du das Ding schön findest. Es muß doch ziemlich lästig sein, so etwas mit sich herumzuschleppen.« Sator Synk schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht«, behauptete er. »Der Bart ist des Mannes Zierde und des Weibes Freude.« Irgendein Betrunkener hatte diesen Spruch einmal von sich gegeben, und in diesem Augenblick war er Synk eingefallen. »Sind Männer ohne Bärte Memmen?« »Nicht notwendigerweise«, sagte Sator Synk. »Es gibt Helden mit und ohne Bart.« »Und es gibt Feiglinge mit und ohne Bart«, ergänzte Bördo. »Dachte ich es mir doch.« »Hast du keine anderen Sorgen?« erkundigte sich Synk. Der Zugor zog seine Bahn über Pthor. Synk steuerte ihn in weitem Bo gen an die Barriere von Oth heran – er hatte keine Lust, die Ebene von Kalmlech gradlinig zu durchfliegen, denn er fürchtete Bördos überschäu mende Kampfeslust. Beim Anblick der Horden wäre Bördo vermutlich mit einem Satz aus dem Zugor herausgesetzt, um sich dem Feind entgegenzu werfen, auch wenn er nicht die geringsten Chancen hatte. Daher hatte Sator Synk den Zugor einen Umweg machen lassen – an Donkmoon vorbei, über den Heimdall-Abschnitt der Straße der Mächtigen hinweg, dann fast parallel zur Küstenstraße Zbahn-Zbohr, und im Augen blick des Gesprächs überquerte der Zugor gerade das silberfarbene Band der Straße zwischen Zbahn und Orxeya, den Honir-Abschnitt der Straße der Mächtigen. Das Wetter war gut, man konnte einen Teil der schneebe deckten Gipfel sehen, die die Große Barriere von Oth ausmachten. »Ob es überhaupt noch Magier gibt?« meinte Bördo unvermittelt. Synk zuckte mit den Schultern. »Das werden wir herausfinden«, sagte er zuversichtlich. Er sah ab und zu hinter sich, aber von den Horden der Nacht war nichts zu sehen. Noch schien das Heer des Grauens nicht groß genug, Pthor ganz zu über schwemmen, aber das konnte sich sehr schnell ändern. Sator Synk hatte den furchtbaren Verdacht – den er den Odinssöhnen verschwiegen hatte,
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um nicht als furchtsam zu gelten –, daß die Horden gerade erst ihre Vorhut ausgeschickt hatten, daß der eigentliche Ansturm eines gewaltigen Heeres von Ungetümen erst bevorstand. Vielleicht würden sie binnen weniger Ta ge zu Tausenden aus dem gleißenden Schein hervorbrechen, und dann schlug für Pthor die letzte Stunde – wenn es nicht in letzter Minute gelang, das Loch zu verstopfen, aus dem das Grauen hervorgequollen kam. Zu diesen Gedanken bildete das Land einen seltsamen Kontrast. Die Landschaft südlich von Honirs Abschnitt war recht bunt und vielgestaltig ausgefallen, zudem herrschte klares Wetter. Man hätte sich gemütlich ins duftende Gras legen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen können – während einige Wegstunden entfernt das personifizierte Unheil in großer Zahl aus dem Boden hervorbrach. Bördo schien für Naturschönheiten keinerlei Sinn zu haben. Nun ja, überlegte sich Synk. Bördo war jung, hatte ein hartes Leben hinter sich, und obendrein hatte er noch die schwere Enttäuschung verwinden müssen, daß sein Vater und seine Onkel so jämmerliche Versager gewesen waren. Ob Bördo wohl wußte … Synk sah seinen jungen Gefährten von der Seite an. Ausnahmsweise machte Bördo ein leidlich vergnügtes Gesicht. Er ließ die Beine baumeln, spielte an seinem Schwert herum und pfiff sogar ab und zu. Ob er wußte, was das für ein Lied war, dessen Melodie er halblaut ertönen ließ? Als Synk die Weise erstmals gehört hatte, war er schamrot angelaufen. »Du bist kein Feigling, nicht wahr?« Synk wiegte den Kopf. Wußte der Knabe von Synks Belastung, von der schweren Schuld … vermutlich nicht. Aber dennoch … »Ich hoffe nicht«, sagte Sator Synk. »Man kann nie wissen, wie ein Mann reagiert, wenn es wirklich ums Ganze geht, wenn ein Herzschlag über Leben und Tod entscheidet.« Bördo kniff die Augen zusammen. Zufrieden war er mit dieser Antwort sicherlich nicht. »Man wird sehen«, sagte er. »Ich kann Memmen nicht leiden.« »Das freut mich«, sagte Synk philosophisch. Die Berge kamen immer näher. Es wurde Zeit, sich einen Platz auszusu chen, an dem man den Zugor verstecken konnte. Die Magier sahen es ver mutlich nicht gerne, wenn man in ihrem Herrschaftsbereich mit Zugors herumkurvte, es war besser, man bewegte sich zu Fuß. »Wo wollen wir anfangen?« sagte Sator Synk. Er überließ dem Knaben die Entscheidung, vielleicht machte es Bördo Spaß, eine Wahl zu treffen. Der Sigurdsohn deutete geradeaus. »Dort!« sagte er. Der Platz war so gut wie jeder andere. Sator Synk fand einen Einschnitt, in dem er den Zugor windgeschützt
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abstellen konnte. Dort war das Gefährt auch von niemandem zu sehen – außer vielleicht von den Magiern, die ja die seltsamsten Dinge zuwege brachten. »Dann los«, sagte Synk, sobald der Zugor untergebracht war. Die beiden ungleichen Kämpen machten sich auf den Weg. Sator Synk war sehr gespannt, was er finden würde. Die Magier hatten sich immer recht publikumsscheu gezeigt, und so ganz genau hatte noch keiner in Erfahrung gebracht, was es in der Großen Barriere von Oth zu finden gab – das galt gleichermaßen für die Landschaft wie für die dort le benden Magier. Ganz genau kannte niemand die Zahl der Magier, ganz ge nau wußte niemand, was die Magier einzeln oder zusammen bewerkstelli gen konnten – man mußte also auf allerhand gefaßt sein. »Es sieht eigentlich recht hübsch aus«, meinte Bördo. »Blumen, Kräuter …« »… faß keines von den Kräutern an«, warnte Sator Synk. »Wer weiß, ob so eine Pflanze nicht von einem Magier absichtlich dorthin gesetzt wor den ist.« »Ach was«, entgegnete Bördo. Er raufte die erstbeste Pflanze aus, die ihm in die Finger geriet, und probierte vorsichtig von den Blättern. »Schmeckt gut«, behauptete er. »Ganz wunderbar schmeckt das.« »Du wirst es erleben«, sagte Sator Synk. »Es gibt Dinge, mit denen man keinen Spaß treiben sollte.« Er kam sich fast ein wenig komisch vor, als er mit dem Knaben weiter ging. Man hätte glauben können, ein Vater führe seinen Sohn spazieren, um ihm einmal die Berge zu zeigen. Daß der Sohn in diesem Fall ein waschechter Raufbold war, wie er auch unter den rauflustigen Orxeyanern selten vorkam, ließ sich auf den ersten Blick nicht sehen. Bördo machte auch das unschuldigste Gesicht von der Welt – nur das Lied, das er pfiff, irritierte wieder. Die beiden stiegen langsam die Berge hinauf. Es war an dieser Stelle ziemlich einfach, in den Bereich der Magier einzudringen – die Wege wa ren nicht sonderlich steil oder beschwerlich, man konnte fast glauben, die Magier hätten die Pfade eigens für Besucher geschaffen. Dennoch drehte sich Sator Synk immer wieder suchend um. In keinem Winkel von Pthor mußte man so auf Überraschungen gefaßt sein wie bei den Magiern. Es gab – angeblich – mehr als viereinhalb Hundertschaften Magier in der Großen Barriere von Oth, einer seltsamer und wunderlicher als der andere, zum Teil Könner, die die unglaublichsten Dinge zuwege brachten, zum Teil sonderliche Tröpfe, die selbst nicht recht wußten, was sie taten. Eine Eigenschaft war den Magiern indessen gemeinsam – sie galten zu Recht als Sonderlinge. »Na, wo sind denn nun deine Magier?« fragte Bördo. Spielerisch köpfte
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er eine Pflanze und sah zu, wie sich die abgeschlagene Blüte in einen Vo gel verwandelte und davonhüpfte. »Weit können sie nicht sein«, meinte Sator Synk und deutete auf den Vogel. »Einer müßte eigentlich ganz in der Nähe sein.« »Aber wo?« Diese Frage hatte sich Sator Synk ebenfalls gestellt. Es war fast gespen stisch friedlich in diesem Teil der Barriere. Es war angenehm warm, Vögel sangen, Blumen dufteten, irgendwo plätscherte ein Quell – alles Ge räusche, die Sator Synk in höchstem Maß beunruhigten. Er wußte, daß die Bewohner der Barriere ihre eigenen Vorstellungen von Wohnraum hatten. Es hatte Luftschiffe gegeben, Höhlen, Stelzenhäu ser und vieles mehr. »Dort vorn!« rief Bördo. »Eine Höhle.« Die beiden hatten die Schwerter in der Hand, als sie sich vorsichtig dem schwarzen Loch im Fels näherten, auf das Bördo gewiesen hatte. Ein fürchterlicher Geruch nach verbranntem Holz und verschmortem Haar schlug den beiden entgegen. »Hier kann doch niemand wohnen«, meinte Bördo. »Das weiß man bei Magiern nie so genau«, versetzte Synk. Er spähte in die Höhle hinein. Es war tatsächlich ein verräuchertes Loch, der Boden mit seltsamen Fel len bedeckt. An den Wänden der Höhle waren steinerne Ringe zu erken nen, vermutlich dienten sie dazu, die Fackeln zu halten, deren Feuer den Raum erhellen sollte. »Niemand zu sehen«, sagte Bördo. »Heda, Magier! Zeige dich.« »Nicht so laut«, ermahnte Synk den Knaben. »Wenn man mich hören soll, muß ich rufen«, versetzte Bördo. Von dem Magier, der in der Höhle gehaust hatte, war nichts zu sehen. Sator Synk fiel nur auf, daß der gesamte Raum vor der Höhle mit den wundervollsten Blumen bewachsen war – ein seltsamer Kontrast zu dem verräucherten Wohnloch. Langsam wurde es Sator Synk unheimlich zumute. Hier stimmte doch etwas nicht. Er wollte nicht länger Sator Synk heißen, wenn die Angele genheit nicht oberfaul war. Das durfte einfach nicht wahr sein, daß es ein Magier widerspruchslos zuließ, daß Fremde in seiner Wohnung herumstö berten, selbst wenn es sich um eine so heruntergekommene Höhle wie die se handelte. Sator Synk trat ein paar Schritte zurück. Er wollte sich die nähere Um gebung der Höhle einmal ansehen. Und dann nahm er plötzlich eine Bewegung wahr … »Still«, sagte Balduur leise. Der Fenriswolf grollte verhalten.
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Balduur und Fenrir hatten die Oberfläche Pthors hinter sich gelassen. Der Odinssohn drang langsam in die Unterwelt des Dimensionsfahrstuhles vor – langsam vor allem, weil er nicht wußte, womit er zu rechnen hatte. Es hatte sich allerlei zugetragen in den letzten Monaten, und Pthor war ei nige Male schwer geprüft worden. Das hatte sich schon beim Betreten der unterpthorischen Welt gezeigt – es hatte große Veränderungen gegeben. Kammern waren zusammengebrochen, Gänge versperrt, Säulen geborsten. An anderen Stellen gab es Durchlässe, die früher nicht bestanden hatten. Balduur hatte sehr bald bemerkt, daß er sich einen völlig neuen Weg wür de suchen müssen. Vielleicht, so überlegte sich der Odinssohn, war dies leichter mit Fenrirs Hilfe. Der Wolf fand möglicherweise einen leichteren und kürzeren Weg zur »Seele«, als es Balduur möglich war. »Komm, Fenrir«, murmelte Balduur. Seine tiefe Stimme bekam in diesen Gewölben einen noch traurigeren Klang, als sie ihn gewöhnlich hatte. Das Bild der Verwüstungen waren auch bestenfalls dazu geeignet, Depressionen hervorzurufen. Eines stand für Balduur fest – es war richtig gewesen, daß er diesen Vorstoß allein unternommen hatte. Denn angesichts der Zerstörungen, die Pthors Unterwelt davongetragen hatte, war ein Fehlschlag dieses Vorsto ßes wahrscheinlicher als ein Erfolg. Und Balduur hatte keine Lust, sich zu blamieren. Wenn diese Aktion fehlschlug, wollte er still und unauffällig zurückkehren in die FESTUNG, ohne den Brüdern von der Pleite berich ten zu müssen. Eingedenk der letzten Ereignisse war es Balduur ratsam er schienen, seine kühnen Pläne nicht herauszuposaunen, sondern erst einmal festzustellen, was sich machen ließ. Einstweilen sah es nicht günstig aus. Fenrir schlich voran, beschnüffelte die Trümmer und suchte sich einen Weg. Es war dies selbst für den Fenriswolf kein leichtes Unterfangen. Jeder, der diesen Bezirk unter der FESTUNG früher betreten hatte, hätte größte Mühe gehabt, sich in dem Wirrwarr zurechtzufinden. Obwohl die Struktur im wesentlichen gleichgeblieben war, hatten sich dennoch die Äußerlich keiten so verändert, daß man die Umgebung kaum wiedererkannte. »Lange wird es Pthor nicht mehr machen«, murmelte Balduur. Es sah ganz danach aus. Wenn die Verwüstungen und Beschädigungen, die schon in diesem Bereich zu sehen waren, sich auch auf den Kern der unterpthorischen Anlage erstreckten … Balduur dachte den Gedanken vor sichtshalber gar nicht erst zu Ende. Mühsam folgte er dem Wolf, der sich gewandt zwischen den Trümmer blöcken durchschlich. Natürlich wußte Balduur, daß er genaugenommen keine Chance hatte,
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zur »Seele« vorzudringen – er wußte, daß die »Seele« von Pthor hinter ei nem Energieschirm verborgen war, und zwar seit Atlan aus der Dimensi onsschleppe ein manipuliertes Schaltteil mitgebracht hatte. Seltsamerweise gab gerade der Anblick des Trümmerhaufens Balduur das Gefühl, seine Mission könnte am Ende doch erfolgreich sein – war nämlich die Unter welt Pthors im richtigen Maß beschädigt, dann gab es zwar die »Seele« noch, nicht aber den lästigen Schutzschirm. Es gehörte viel Glück zu die ser Kombination, aber Balduur sagte sich, daß er ohnehin nicht viel andere Dinge tun konnte. Der Fenriswolf grollte leise. »Was gibt es, Fenrir?« Balduur blieb stehen, neben dem Wolf. Die Fackel in Balduurs Hand knisterte leise, ein anderes Licht gab es in diesem Teil der Unterwelt nicht. Der Wolf drängte sich an Balduur heran. Balduur horchte, aber er hörte nichts. Das Gehör des Wolfes war natur gemäß viel schärfer als das des Odinssohnes. »Was hast du gewittert, Wolf? Zeige es mir, geh voran!« Balduur flüsterte. Vielleicht war das, was Fenrir wahrgenommen hatte, in unmittelbarer Nähe zu finden. Balduur überlegte, ob er die Fackel lö schen sollte, er entschloß sich dann, sie brennen zu lassen. Fenrir bewegte sich langsam vorwärts, mit gesträubtem Fell. Fast schien es, als habe der Wolf Angst – ein Gedanke, der Balduur bis ins Mark er schütterte. Wieder grollte Fenrir, er zeigte die Fänge. »Leise«, mahnte Balduur. »Niemand darf uns hören.« Wer mochte sich hier unten herumtreiben? Wer hatte in diesem Teil der FESTUNG etwas zu suchen? Waren – ein schrecklicher Gedanke – die Horden der Nacht auch hier schon am Werk? Stiegen sie vielleicht aus den unergründeten Bezirken der FESTUNG-Unterwelt ebenso ans Licht wie aus dem gleißenden Licht, von dem Sator Synk berichtet hatte? Balduur faßte das Schwert fester. Viel Aussicht hatte er nicht, im Kampf mit den Monstren zu siegen, aber er wollte sich notfalls wenigstens seiner Haut gewehrt haben, bevor er von den Bestien zerrissen wurde. Immer tiefer führte Fenrir den Odinssohn in die Unterwelt der FE STUNG hinab. Niemand war zu sehen, niemand zu hören, und doch wuchs die Unruhe des Wolfes mit jeder Minute. Das Grauen beschlich Balduur. War der Feind vielleicht unsichtbar? Lauerte die Gefahr, die Fenrir spürte oder zu spüren glaubte, überall zugleich in der Luft? Balduur sah sich scheu um, er gewahrte nichts. »Weiter!« drängte er den Wolf. So oder so, eine Entscheidung war fäl
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lig. Entweder erreichte Balduur die »Seele«, oder er stieß auf die Gefahr, die Fenrir beschäftigte. Balduur versuchte, die unvermeidliche Begegnung vorherzuplanen. Er sah zu, daß er immer in sicherer Deckung blieb, als erster sehen konnte, ohne gesehen zu werden. »Still!« Ein Geräusch wurde hörbar. Jemand bewegte sich, nur ein paar Dutzend Schritte entfernt. Dann tauchte die erste Gestalt in Balduurs Gesichtskreis auf …
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10.
»Uff!« sagte Lykaar und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das wäre geschafft!« Braheva nickte müde. Es war eine üble Strapaze gewesen, die Yassels und den Karren aus der Mulde wieder herauszubekommen. Die Yassels waren nicht mehr grün, sondern sahen ganz normal aus. Und sie strotzten auch nicht mehr vor Kraft – sie hatten allerdings auch nicht mehr das klapprige Aussehen, das sie zu Beginn der Reise gezeigt hatten. Jetzt sahen sie aus wie kerngesunde kräftige Yassels, und Lykaar hatte ein ums andere Mal darauf hingewiesen, daß er es gewesen war, der diese Prachttiere wohlfeil erstanden hatte. »Sag einmal«, meinte Braheva. »Was bitte ist das hier?« Sie deutete auf eine weitere Fährte, noch größer und noch entschieden schreckerregender als die erste in der Senke. Lykaar betrachtete die Ab drücke, und er sah keine andere Wahl, als seine Schwindelgeschichte fort zusetzen. »Auch Horden der Nacht«, sagte er und zeigte ein selbstzufriedenes Grinsen. »Uralt, diese Spur.« »Hier oben, wo der Wind ständig weht?« Lykaar wußte auch für dieses Problem eine fachmännisch klingende Antwort. »Hier oben kann so eine Fährte von der Sonne hartgebacken werden, wie Ziegel. Und das hält dann natürlich auch so lange wie Ziegel. Du weißt, wie lange Ziegel halten?« Braheva bedachte ihn mit einem verweisenden Blick. »Halte mich nicht für blöde«, sagte sie, gab sich aber mit Lykaars Er klärung zufrieden. »Was ist nun – reisen wir weiter, Richtung Oth?« »Natürlich«, versicherte Lykaar. »Nur dort können wir die Geschäfte machen, die ich mir vorstelle.« Braheva hielt Lykaars Kassenbuch in der Hand und sah trübe auf die leeren Seiten. »Hoffentlich hast du recht«, sagte sie skeptisch. »Ich habe immer recht«, behauptete Lykaar schlicht. »Vorwärts, Vie cher!« Die Yassels setzten sich in Bewegung. Die Ladung war wieder verstaut worden, auch der Schaden an der Achse war weitgehend behoben. Bis zur Großen Barriere von Oth mußte der Wagen halten – danach würde man weitersehen, überlegte sich Lykaar. Vielleicht konnte einer der Magier an packen und ihm helfen. Magier sollten ja die seltsamsten Sachen zuwege
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bringen können, vielleicht war einer dabei, der sich auf die Reparatur de fekter Wagen verstand. Lykaar hatte zwar gelinde Zweifel, ob sich die Magier zu solchen Handlangerdiensten würden mißbrauchen lassen, aber eine Nachfrage kostete schließlich nichts. Die Yassels zogen den Wagen nach Süden. Es ging durch leicht hügeli ges Gelände, und die Yassels mußten sich anstrengen, den Wagen zu zie hen. Es war fast ein Wunder zu nennen, wie sehr die seltsame Mixtur den Tieren zu Kraft verholfen hatte. Lykaar war sich sicher – mit diesem Sud würde er das Geschäft seines Lebens machen. Es würde nur, überlegte er sich, ein wenig schwierig werden, die Bedingungen zu rekonstruieren, die zu diesem Ergebnis geführt hatten – Lykaar verspürte weder zu einem neuerlichen Zusammentreffen mit Flugameisen Lust, noch nach einem Räucherfeuer mit einer schmorenden Stinkwurz darin. Vielleicht konnte man ein paar Bewohner Orxeyas anheuern, solche Arbeiten zu erledigen – vielleicht diesen alten Widerling Genlis. Der würde wahrscheinlich mit Freuden zugreifen, um sich das tägliche Brot und Bier verdienen zu kön nen. »Ach ja«, murmelte Lykaar. »Woran denkst du?« fragte Braheva. »An nichts«, beteuerte Lykaar eilig. Braheva machte ein zweifelndes Gesicht, sagte aber nichts. Lykaar war binnen weniger Augenblicke zurück in Orxeya. Narr, er, daß er dieses Leben hinter sich gelassen hatte. Um diese Zeit des Tages hätte er auf dem Tongmäer Geschäfte treiben können, gut verdienen und sich danach einen ordentlichen Humpen Bier gönnen dürfen – vielleicht sogar einen Humpen Kromyat. Man hätte mit den Freunden reden und la chen können, und später am Abend wäre man heimgegangen zum Weibe … Lykaar warf einen Blick auf Braheva. Um die Yassels zu schonen, mar schierten die beiden Orxeyaner neben dem Karren. Braheva tat Lykaar plötzlich leid – es war nicht recht von ihm, sein Weib durch diese Gegen den zu scheuchen. Sie gehörte ins Haus, überlegte sich Lykaar. Nun, wenn die Geschäfte mit den Magiern getätigt waren, konnte er sich ein neues und schöneres Haus kaufen, vielleicht im Süden von Orxeya, mit Blick auf die Gebirgsriesen der Barriere an schönen Tagen. Doppelstöckig mußte das Haus sein, gebaut aus den besten Lehmziegeln, die sich in Orxeya er stehen ließen. Dort sollte Braheva wirtschaften, jawohl, so gehörte es sich. Abends konnten dann die Freunde kommen, und man konnte ihnen einen reichlichen Braten spendieren, und das Kromyat-Faß in seinem Keller würde niemals leer sein … das war ein Leben. »Das hast du nun davon, daß du an gar nichts denkst«, sagte Braheva gelassen und half Lykaar auf, der sich unversehens auf dem Boden liegend
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wiedergefunden hatte. In Gedanken versunken mußte er wohl gestolpert sein. »Danke«, sagte Lykaar und klopfte sich die Kleidung sauber. »Ich kom me schon zurecht.« »Ach, wirklich?« Brahevas Mundwerk konnte einem ab und zu auf den Geist gehen, dachte Lykaar. Es war nicht das schlechteste, eine gescheite Frau zu ha ben, aber mußte sie wirklich so gescheit sein? »Die Straße der Mächtigen«, sagte Braheva und deutete nach vorn. Lykaar erkannte das silberne Band sofort, das sich durch das Land schlängelte. Dies war der Honir-Abschnitt der Straße, und für Orxeyaner war die Benutzung der Straße untersagt, warum, das wußte Honir allein. »Kannst du mir verraten, was das zu bedeuten hat?« fragte Braheva. Lykaar schüttelte den Kopf. Er begriff nicht, was geschehen war. Auf der Straße der Mächtigen be wegten sich Menschen, an den rötlichen Haaren unschwer als Orxeyaner zu erkennen. Orxeyaner aber hatten auf der Straße der Mächtigen nicht das geringste zu suchen, schon gar nicht in dieser Zahl. Was aber Lykaar noch mehr ver wunderte, war die Tatsache, daß ein großer Teil der Reisenden schwer be packt war – als schleppten sie ihr ganzes Hab und Gut davon. »Was mag da los sein?« fragte Braheva. Lykaar sah sich um. Von der Straße aus war sein Yasselgespann nicht zu sehen, das gleiche galt für ihn und Braheva. Die beiden konnten also das Treiben auf der Straße verfolgen, ohne selbst beobachtet werden zu können. »Es sieht aus, als wäre irgendwo etwas Besonders los«, sagte Lykaar. »Aber ich verstehe nicht, was.« »Es sieht so aus, als wären sie auf der Flucht«, meinte Braheva mit ei nem Sinn für das Praktische. »Flucht? Wovor sollten sie fliehen?« fragte Lykaar. »Und vor allem – wohin? Die Leute sind übergeschnappt, das ist alles.« »Du bist übergeschnappt«, gab Braheva scharf zurück. »Sieh doch hin, Lykaar. Dort laufen Hunderte von Menschen, noch dazu auf der Straße der Mächtigen, wo sie nichts zu suchen haben. Sie sind schwer bepackt, und sieh nur, wie eilig sie es haben.« Ein Zugor kam herangerast und fegte an den Orxeyanern vorbei, mit ho her Geschwindigkeit und außerordentlicher Rücksichtslosigkeit. »Der Bursche sollte mir begegnen«, knurrte Lykaar beim Anblick des Gefährts. Er war von tiefer Sorge erfüllt. Brahevas Argumente hatten ihm zu den ken gegeben – es sah tatsächlich nach einer Massenflucht aus. Und jetzt
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kamen auch andere Völker dazu – es sah aus, als habe sich halb Pthor in Bewegung gesetzt. »Gehen wir hinunter und fragen sie«, schlug Lykaar vor. Braheva warf einen Blick zurück. »Und die Yassels?« fragte sie. »Geh du und frage, ich bleibe hier und kümmere mich um unseren Wagen.« Lykaar sagte nichts, der Vorschlag klang vernünftig. Er stand auf und machte sich auf den Weg. Immer beklemmender erschien ihm das Schau spiel, das vor seinen Augen stattfand. Er fragte sich, was geschehen sein mochte in den letzten Tagen. Was hatte es Neues gegeben? Lykaar näherte sich der Straße. Ein rüstiger Orxeyaner mit eisgrauem Bart stapfte in seiner Nähe vorbei, auf dem Rücken ein schweres Bündel. »Heda, Alter«, rief Lykaar und trabte heran. »Bist du so freundlich, mir ein paar Fragen zu beantworten?« Der Alte blieb stehen, beäugte Lykaar mißtrauisch. »Frage, was willst du wissen? Woher kommst du überhaupt?« Lykaar deutete über die Schulter. »Von da!« Der alte Mann rollte mit den Augen, als könne er nicht begreifen, was er hörte. »Aus Kalmlech? Aus der Ebene?« »Ja, sicher. Warum nicht?« »Junge, bist du von Sinnen? Kennst du nicht die Horden der Nacht?« Lykaar machte eine wegwerfende Geste. »Kindermärchen«, sagte er herablassend. »Die Horden der Nacht sind längst vernichtet.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Sie sind wiedergekommen«, stieß er hervor. »Was glaubst du, warum wir so laufen. Pthor wird überschwemmt von ihnen, sage ich dir. Grauen volles spielt sich ab. Ganze Siedlungen sind vernichtet worden, Wolterha ven brennt an allen Ecken und Enden, der Blutdschungel ist ausgetrocknet, und auf dem Dämmersee lodern gewaltige Brände.« »Na, na«, meinte Lykaar, der großen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Alten hegte. »Du mußt sie doch gesehen haben«, sagte der Orxeyaner. »Du kommst doch aus der Ebene. Hast du sie nicht gesehen, die Schreckensgestalten?« »Kein einziges Ungeheuer hat sich gezeigt«, sagte Lykaar. Er wollte einen Witz machen und fügte hinzu: »Das einzige Ungeheuer, mit dem ich zu tun hatte, war mein …« Lykaar wurde blaß. Das Wort gefror ihm förmlich in der Kehle. Die Spuren. In der Senke. Und auf dem Hügel. Die Spuren mit den Krallen, den mörderischen Tatzen.
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»Oh nein«, sagte Lykaar. Schweiß trat auf seine Stirn. »Nicht das.« Wie ein Narr war er mit seinem Wagen und seinem Weib durch die Horden durchgefahren, blind für alles, was sich um ihn herum abspielte. Wahrscheinlich waren sie zu Dutzenden an ihm vorbeigerast, die gräßli chen Gestalten, sie hatten ihn so wenig gesehen wie er sie. Um Haaresbreite dem Tod entronnen – ohne es zu wissen. Der Gedanke ließ Lykaars Beine schwach werden. »Bist du sicher?« fragte er den Alten, der ihn mitfühlend ansah. »Völlig«, beteuerte der Alte. »Ich habe doch mit eigenen Augen gese hen, wie sie Orxeya überwunden haben. Von unserer Stadt steht kein Stein mehr auf dem anderen, Feuer überall, und über den Ruinen liegt Leichen geruch.« »Ach was, Alter«, warf einer der Vorübergehenden ein. »Übertreibe nicht.« »Ich übertreibe?« ereiferte sich der Alte. »Ich? He du, bleib stehen, da mit ich mit dir reden kann, du Lügenbeutel. Ich übertreibe? Habe ich nicht die Leichen meiner Enkel unter den Trümmern unseres Heimes hervorge zogen? Habe ich nicht Stunde um Stunde mit den anderen gegen die scheußlichen Monstren gekämpft? He, du, renn nicht weg.« Leiser fuhr er zu Lykaar gewandt fort: »Es ist wahr, Söhnchen, was ich dir berichte. Grausig sieht es aus, über all Mord und Brand und Totschlag. Die Leute sind wie verrückt geworden, sage ich dir. Es ist grauenvoll.« Lykaar war sichtlich beeindruckt. Er spürte das brennende Verlangen, Brahevas Nähe zu suchen. »Und wohin lauft ihr? Was habt ihr vor?« Der Alte zuckte mit den Schultern. »Irgendwohin, wo uns die Horden nicht finden. Ich will nach Zbahn, vielleicht gibt es dort eine Rettung – wenn nicht, werde ich den Heldentod sterben, bis zuletzt gegen die Horden der Nacht streitend, wie es sich für einen echten Orxeyaner gebührt.« Was das betraf, verspürte Lykaar keinerlei Verlangen danach, ein nor maler Orxeyaner zu sein – er wollte nur überleben, möglichst zusammen mit Braheva. Der Alte hastete davon und ließ einen sehr verwirrten Lykaar zurück. Im gleichen Augenblick kam ein weiterer Zugor herangebraust, diesmal aus der Richtung Zbahn, überladen mit Flüchtenden. »Lauft!« schrien die Technos auf der Flugscheibe den Orxeyanern zu. »Lauft, was ihr könnt. Zbahn ist verloren, nur noch wenige Stunden, und die Stadt wird vernichtet sein.« Lykaar schluckte noch heftiger. War das der endgültige Untergang? War es um Pthor geschehen? Es sah
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ganz danach aus. Wenn schon die wackeren, unerschütterlichen Helden von Orxeya, die nichts fürchteten außer vielleicht ihren Frauen, wenn schon sie in hellen Scharen flüchteten, dann mußte es wahrscheinlich übel um Pthor bestellt sein. Lykaar wandte sich um und ging langsam zurück. Was sollte er Braheva sagen? Daß er allen Ernstes befürchtete, binnen weniger Stunden sterben zu müssen? Lykaar hatte ziemlich große Angst, ganz besonders vor einem Ende durch die Horden der Nacht, aber er begriff, daß er sich jetzt zusammen reißen mußte. Wenigstens durfte Braheva von der Gefahr nichts wissen. Lykaar wollte sie nicht mit Todesfurcht peinigen. »Nun, was ist los?« fragte Braheva. Lykaar grinste schief. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er einleitend. »Vermutlich nicht«, entgegnete Braheva trocken. »Es handelt sich um eine Wette«, berichtete Lykaar. »Völlig verrückt, die Leute. Irgendeiner hat mit dem Unfug angefangen, und nun laufen sie von Zbahn nach Orxeya und von Orxeya nach Zbahn. Einfach absurd.« »Genau so hört es sich an«, sagte Braheva. »Und worum haben sie ge wettet?« »Weiß ich nicht«, sagte Lykaar. Er bemühte sich, möglichst zuversicht lich auszusehen. Arme Braheva, dachte er, so jung, und muß schon sterben, und er zerfloß beinahe vor Mitleid, bis ihm einfiel, daß er ja eben falls bald sterben würde. »Jedenfalls ist das ganze Land zwischen Orxeya und Zbahn mit diesen Verrückten überschwemmt. Da ist kein Durchkommen mehr.« »Aha, und was machen wir dann?« fragte Braheva. »Hier stehenblei ben? Das meinst du doch nicht wirklich?« »Wir suchen uns ein anderes Ziel«, sagte Lykaar. Braheva schloß die Augen und ließ die Arme am Körper herabsinken. »Das darf nicht wahr sein«, empörte sie sich. »Erst willst du nach Donkmoon, dann willst du zur FESTUNG, dann muß es die Barriere von Oth sein, wo diese Magier sich herumtreiben, und jetzt ist es schon wieder ein anderes Ziel?« »Nicht ein anderes«, sagte Lykaar. »Ich will in die FESTUNG.« »Und was sollen wir dort?« fragte Braheva. Uns vor den Horden der Nacht verbergen, dachte Lykaar, aber er sprach es nicht aus. »Ich glaube, wir könnten dort die Odinssöhne treffen und ihnen unser Wundermittel verkaufen.« »Du bist verrückt«, sagte Braheva. »Völlig übergeschnappt. Ich kenne nur ein lebendes Wesen, das noch verrückter und dümmer ist als du.«
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»Und wer sollte das sein?« erkundigte sich Lykaar zweifelnd. »Ich, daß ich dich zum Mann genommen habe«, zischte Braheva wü tend. Lykaar hatte da andere Erinnerungen – nach seinem Gedächtnis war er es gewesen, der Braheva zum Weib genommen hatte, aber Feinheiten die ser Art spielten nun wirklich keine Rolle mehr. »Und wie willst du zur FESTUNG kommen?« erkundigte sich Braheva. »Sollen wir den Weg etwa zurückfahren, den wir gekommen sind?« Lykaar dachte an die Spuren, die er gesehen hatte, an die Schreckensge stalten, die jetzt vermutlich die Ebene von Kalmlech erfüllten, und wurde bleich. »Nein, nein«, stieß er hervor. »Wir wählen einen anderen Weg.« Braheva kniff die Augen zusammen. »Du verheimlichst mir etwas«, sagte sie nachdenklich. »Ich kenne dich genau, Lykaar. Du willst irgend etwas verbergen. Also rede.« Lykaar schüttelte trotzig den Kopf. »Es gibt nichts«, sagte er. Dem Tode so nahe, und dann noch zanken, es war entsetzlich. »Also, ich begreife dich nicht«, meinte Braheva. »Du stellst dich an, als wären die Horden der Nacht hinter dir her.« »Wirklich?« fragte Lykaar käsig. »Genau so«, meinte Braheva. »Und die Leute auf der Straße, die beneh men sich wie aufgescheuchte Vögel, schwirren wild durcheinander, ohne Ziel und Plan. Also, Lykaar – wohin wenden wir uns?« »Zur FESTUNG«, sagte Lykaar. Nur dort, sagte er sich, gab es eine Möglichkeit der Rettung. Vielleicht wußten die Odinssöhne einen Rat, vielleicht kehrte auch Atlan zurück, vielleicht … es gab so viele Möglichkeiten. Sie alle konzentrierten sich für Lykaar auf die FESTUNG. »Wir ziehen zunächst nach Zbahn«, sagte Lykaar. Er rief sich die Karte von Pthor ins Gedächtnis. »Dann stoßen wir nach Norden, an Donkmoon vorbei genau auf die FESTUNG.« »Und du glaubst, man wird dich dort einlassen?« »Davon bin ich fest überzeugt«, sagte Lykaar, und er schämte sich die ser Lüge nicht einmal. »Wenn du meinst«, sagte Braheva. Sie fügte sich, und Lykaar war seinem Geschick dankbar, daß Braheva ihren stets vorhandenen Widerspruchsgeist einmal vergessen hatte. Braheva trieb die Yassels an. Der Weg zur FESTUNG konnte fortge setzt werden. Lykaar versuchte gar nicht erst, den Weg, den er bisher ge nommen hatte, auf der Karte nachzuvollziehen – es wäre eine aberwitzige Schlangenlinie dabei herausgekommen.
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Bis die beiden an der FESTUNG ankamen, war die Ladung vermutlich verdorben, aber was schadete das, wenn sie wenigstens ihr Leben retteten. Schweigend marschierten die beiden hinter den Yassels her und sorgten dafür, daß der lebhaft schwankende Wagen auf der richtigen Spur blieb. Erst als es dämmerte, ließ Lykaar die Yassels anhalten. Der Platz war für eine Rast nicht schlecht gewählt – windgeschützt, sichtsicher, und der Sand, auf dem gelagert werden sollte, war noch warm von der Tagessonne. In der Nähe gab es genügend Gras für die Yassels, denen Lykaar eine Handvoll seiner speziellen Seife ins Trinkwasser tat, um sie am nächsten Morgen besonders kräftig und munter vorzufinden. Braheva bereitete unterdessen das Abendmahl. Sie aßen schweigend, was selten vorkam in dieser Ehe. Erst nach dem Abendessen faßte Braheva ihren Mann scharf ins Auge. »Du wolltest mir etwas erzählen«, sagte sie einfach. Lykaar schrumpfte ein wenig zusammen. »Nun ja«, sagte er zaghaft. »Ich weiß nicht recht.« »Aber ich weiß«, meinte Braheva trocken. »Also rede, es hört uns ja niemand.« Lykaar seufzte, dann berichtete er, was er von dem alten Orxeyaner er fahren hatte, und er vergaß auch nicht hinzuzufügen, was die Technos aus Zbahn gerufen hatten. »Das ist das Ende«, murmelte Braheva, als Lykaar mit seinem Bericht fertig war. »Einem neuerlichen Ansturm der Horden sind wir nicht ge wachsen.« »Ich weiß«, sagte Lykaar traurig. »Warum willst du ausgerechnet zur FESTUNG?« fragte Braheva. Lykaar überlegte nicht lange. »Die FESTUNG ist das Zentrum der Macht«, erklärte er. »Wenn es Hil fe gibt, dann dort.« Braheva nickte. »Das werden viele denken«, überlegte sie laut. »Wir werden eine Men ge Pthorer unterwegs finden, die alle zur FESTUNG wollen.« »Das stimmt«, gab Lykaar zu. »Aber hast du einen besseren Vor schlag?« Braheva schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise, dann sah sie ihn an. »Rück ein bißchen näher, ich habe dann weniger Angst.« Lykaar folgte der Aufforderung sofort, und obwohl er wußte, daß in der Ebene von Kalmlech der Tod in tausendfältiger Form umherschlich und nach Opfern suchte, fühlte er sich plötzlich wohl und warm. Die Horden der Nacht waren unterwegs. Mochten sie. Noch war Pthor nicht verloren, dachte Lykaar, noch nicht.
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Weiter geht es in Atlan Band 478 von König von Atlantis mit: Die neuen Feinde von Peter Terrid
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