ERNST KÄSEMANN
Das Neue rfestament als Kaiion
Das Neue Testament als Kanon Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion
Herausgegeben von Ernst Käsemann
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Schutzum~ebl.ag: Karlgeorg Hoefer. OVandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 1970. - Prlnted 1n Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne aUJdriickllche Genehmigung det Verlage• bt es nicht gellattet, du Buch oder Teile daraut auf foto- oder aktutomechanitehem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Gulde-Druck, Tüblngen. Bindearbeit: Hubert & Co, Göttingen
Der theologischen Fakultät an der Universität Oslo in Freundschaft und Dankbarkeit !
Inhalt 9
Einführung I. Awgewählte Aufsätze
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GBRHARD GLOEGE, Zur Geschichte des Sduiftverständnisses .
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HEBMANN
STRA~,
Die Krisis des Kanons der Kirdte
WERNER GEORG KÜMMEL, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Karions
41 62
ÜSIW\ CULLMANN, Die Tradition und die Festlegung des Kanons durch
die Kirche des 2. Jahrhunderts
.
1-IANs FRHR. v. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments
98 109
ERNST las~, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?
124
KURT .Al.ANo, Das Problem des·neutestamentlichen Kanons .
1M
HERMANN DmM, Das Problem des Schriftkanons
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HANs KÜNG, Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontroverstheologisches Problem
175
PETER LENGSFELD, Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 005 lhRBERT BRAUN, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische For219 schung den Kanon auf? . WILLI MARxsEN, Das Problem des neutestamentlichen Kanons aus der Sicht des Exegeten 233 CARL HEINZ RATScHow, Zur Frage der Begründung des neutesta-
mentlichen Kanons aus der Sicht des systematischen Theologen
247
WILFRIED JoEST, Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des Neuen Testaments
258
GEIUIARD EDELING, "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 282
11. Kritische Analyse .
336
lll. Zusammenfassung
399
Einführung Uber die Entstehung und Geschimte des neutestamenttimen Kanons sind wir vortrefflim informiert•. Seine theologisme Relevanz ist dagegen heftiger denn je zuvor umstritten. Die Diskussion darüber wird heute nicht nur in der gelehrten Zunft, sondern auch in der Gemeinde leidenschaftlich, und zwar in allen Konfessionen und Denominationen und infolgedessen aum ökumenism, geführt. Der Streit wurde durch die aus der Aufklärung resultierende historischkritische Bibelerklärung ausgelöst, die, sich ständig radikalisierend, bei den Experten überall mehr oder weniger selbstverständlim vorausgesetzt, im liberalen Christentum methodisch anerkannt, von nichtfundamentalistischen Kird:l.en und Gemeinschaften wenigstens im wissensmaftlichen Bereid:l. toleriert wird. Sie hat inzwisd:l.en selbst im römischen und orthodoxen Katholizismus, wenngleich in verschiedenen Gebieten mit ungleid:l.em Gewimt, immer stärkeren Eingang gefunden. Dem entspricht allerdings eine Kehrseite, von weld:l.er her erst die Heftigkeit und Weite des Kampfes begreiflirh werden. Die Frage der historisch-kritisrhen Auslegung der Schrift ist, wenn sie das früher einmal gewesen sein sollte, gegenwärtig nirht länger primär die einer wissensrhaftlimen Methodik und ihrer Bedeutung für die Exegese. Unüberhörbar verbinden sirh mit ihr Urteile über das Wesen des mristlichen Glaubens, die normative Geltung der Bibel, Grenzen und Einheit konfessioneller, kirchlirher, ökumenischer Gemeinschaft, welche die Christenheit im ganzen herausfordern. Man hat sim diesem Samverhalt entschlossen zu stellen und benötigt dazu dringlich einer Bestandsaufnahme, welche wünsrhenswerter Weise die Problematik zumal aus der geschichtlichen Entwicklung des vorigen Jahrhunderts quer durm alle Kirchen darstellen sollte. • Vgl. dazu vor allem H. Frhr. von Campenhausen, Die Entstehung der duist· liehen Bibel, 1968. Uber die Diskussion innerhalb des römischen Katholizismus in· formiert besonden eingehend N. Appel, Kanon und Kirche. Die Kanonkrise im heutigen Protestantismus als kontroventheologisches Problem, 1964. Neben der durchlaufenden Seitenzählung dieses Bandes ist bei den in ihn übernommenen Beiträgen auch die Seitenzählung der maßgeblichen Encheinungsorte übernommen worden, damit nach dieser zitiert werden kann. Die Literaturverweise in den Beiträgen von Cullmann und Lengsfeld wurden nach den bibliographischen Angaben in den Buchausgaben ergänzt. -Den Verlagen, bei denen die hier übernommenen Beiträge entmalig erschienen, sei für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks gedankt.
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Einführung
Ein sold:ter Entwurf würde jedoch ein ungewöhnlich hohes Maß von Spezialkenntnissen in der allgemeinen Geistes- und Theologiegeschichte voraussetzen, langjährige Arbeit erfordern, wenn ein Einzelner sich dazu anschicken wollte, und den Rahmen eines einzigen Buches sprengen. In ein Dilemma würde aber auch der Versuch führen, die heutigen Äußerungen zu unserm Thema systematisch zusammenzustellen und wenigstens fragmentarisch von da aus immer wieder in die Vergangenheit zurückzublenden. Der unbefangene Leser würde dem Chaos differierender und gegensätzlicher Meinungen aus dem Widerstreit von Theologie und Gemeindefrömmigkeit, Konfessionen und Denominationen, Exegese und Dogmatik, amtlimer Verlautbarungen, individueller Äußerungen und von Gruppen abgegebener Bekenntnisse hilflos ausgeliefert. Der Sammler würde zu einer Auswahl gezwungen sein, die ihn auch bei bestem Willen des unzureichenden Überblicks und mangelnder Objektivität beschuldigen ließe. Wie vielfach in unserer Situation wird man sich notgedrungen konzentrieren, den Vorstoß in geschichtliche Tiefe und ökumenische Weite äußerst reduzieren und verzichten müssen, auf den Altären wissenschaftlicher Vollständigkeit oder traditionell dogmatischer Fragestellungen opfern zu wollen. Ein exemplarischer Ausschnitt aus der Diskussion, der Dokumentation und kritische Analyse verbindet, ist möglich, sinnvoll und vielleicht am hilfreichsten. So werden im folgenden 13 Aufsätze zum neutestamentlichen Kanonproblem aus dem deutschsprachigen Bereich und dem Gesichtsfeld historischer Bibelkritik wiedergegeben und anschließend auf ihre Prämissen und Konsequenzen hin erörtert. Ein geraffter Oberblick über die Rezeption und die Auslegung der Schrift in den verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte wird vorangestellt, um in die gegenwärtige Problematik einzuführen. Den Abschluß bildet eine hermeneutische Besinnung zum Thema "Schrift und Tradition" aus reformatorisch orientierter Sicht, welche in außerordentlicher Gründlichkeit und Schärfe zum Ausgang des konfessionellen Streites um die Bibel zurücklenkt, damit zugleich in das ökumenisd:te Gespräch eingreift und die historische Kritik auf den ihr gebührenden Platz eines Hilfsmittels in der Verständigung und Scheidung der Geister verweist. Die Gesamtkird:te kann und darf sie nicht übersehen. Sie kann und darf ihr aber auch nicht das letzte Wort überlassen, weil ihre Einsichten und begründeten oder unbegründeten Folgerungen wie der von da aus bestimmte Streit um den Kanon nur ein Aussd:tnitt, eine Konsequenz und die heutige Signatur des Streites um das Evangelium sind. Man hat dieses Evangelium nie ein für alle Male, wenn daraus nicht eine religiöse Tradition unter andem werden soll. Jede christliche Generation muß es neu für sich und die Welt
Einführung
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entdecken, wobei Irrwege wie im menschlichen Leben überhaupt nicht zu vermeiden sind. Wahrheit gibt es nicht ohne Preis und Risiko, und das spiegelt sich sogar noch in den jeweils angewandten Methoden wieder, die sich selbst ad absurdum führen können. Philologische und historische Arbeit ist hier notwendig, weil das Evangelium seinen Niederschlag in Schriften gefunden hat, welche wie alle andern ständiger Interpretation und wissenschaftlicher Untersuchung bedürfen. Anders ließe sich ihr exakter Sinn schon deshalb nicht erfassen, weil sie aus der Antike stammen, ihr Text aus unzähligen überlieferungsvarianten nur in annähernder Genauigkeit rekonstruiert werden kann und ein Prozeß von Ubersetzungen, welche stets neue Möglichkeit des Verständnisses erschlossen haben, unser eigenes Urteil vorherbestimmt. Wir haben unablässig in Richtung auf das Ursprüngliche vorzustoßen, ohne dabei den unmittelbaren Zugang zu ihm uneingeschränkt gewinnen zu können. Der Faktor des Irrtums im einzelnen und ganzen ist nie auszuschließen. Umgekehrt vermag historisch-philologische Arbeit, die immer traditionskritisch erfolgt, herrschende Vorurteile zu durchbrechen und zu einem dem Ursprünglichen angemesseneren Verständnis zu führen, wobei kirchliche Systematik ebenso gestört werden wie profitieren kann. Die Schriften, mit denen wir uns beschäftigen, sind kanonisch zusammengefaßt und besitzen insofern dogmatisches Gewicht in der Christenheit auch dann noch, wenn kritische Wissenschaft es nicht mehr anerkennen oder respektieren sollte. Die Exegeten stehen jedenfalls nicht allein auf dem Plan. Sie müssen sich isolieren und würden von der Wirklichkeit abstrahieren, wären sie sich nicht der dogmatischen Tragweite ihres Tuns bewußt und wollten sie den Dialog mit den Systematikern abbrechen, welche die Stimme der kirchlichen Tradition reflektieren und, in welcher Weiterführung und Umgestaltung auch immer, lebendig erhalten. Gerade auf dieses Wechselspiel zwischen Exegeten und Systematikern kommt es in unserm Bande an. Fragestellungen, Ergebnisse und Kontroversen der neutestamentlichen Kritik lassen sich in den sogenannten Einleitungen dieses Faches, dogmatische Positionen und Probleme in entsprechenden Lehrbüchern nachlesen. Hier sollen Exegeten auf ihre systematischen Voraussetzungen und Leitbilder hin befragt werden und Systematiker Antwort auf die exegetische Herausforderung geben. Weil im deutschsprachigen Bereich die Auseinandersetzung um den Kanon zwischen diesen Kontrahenten am radikalsten vor sich geht, ist die Begrenzung auf die vorgelegten Beiträge sinnvoll. Sie bietet wenigstens ein Modell des stattfmdenden theologischen Dialogs, an dem man sich orientieren kann. Die Auswahl im einzelnen war schwierig. Auszüge aus Kompendien sind vermieden worden.
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Einführung
Ein Höchstmaß an Information sollte mit besonders charakteristischen und provozierenden Stellungnahmen verbunden werden. Das ließ sich ohne schmerzliche Verzichte nicht erreichen. Immerhin ist der Horizont weit genug gespannt, um der Mannigfaltigkeit und dem Widerstreit der Stimmen Raum zu geben, welche die Kanonkritik grundsätzlich bejahen und nicht vorschnell apologetischen Vermittlungsversuchen huldigen. Lust und Qual des Wählens habe ich reichlich ausgekostet. Ich wäre zufrieden, wenn selbst der nicht unmittelbar beteiligte Leser das Gefühl hätte, Zeuge eines noch anhaltenden Erdbebens zu sein, bei dem die Betroffenen damit beschäftigt sind, Trümmer zu beseitigen, das Erhaltene zu retten, den Wiederaufbau zu diskutieren oder als unmöglich zu erklären. Auch in der Kirchengesdrichte sind Erdbeben zuweilen nötig, um aus morschen Häusern herauszuholen und in eine sicher unbequeme, jedenfalls ungewisse Zukunft zu zwingen. Wer dieser etwas verwegenen Meinung ist, mag sogar nicht ohne Hoffnung zuschauen und mittun. Stabilitas loci ist uns geistig und christlich weder verheißen noch bekömmlich. Konservative wie liberale Theologie werden nur erschreckt sich ins freie Feld neuer Erfahrung wagen. Die Unangefochtenen stellen sich nicht der Selbstbesinnung. So bitter diese sein mag, so ist sie doch fruchtbar, wenn sie uns aus Trägheit, Selbstgefälligkeit und
Verstockung aufrüttelt und uns dazu nötigt, noch einmal gleichsam von vom zu beginnen. Meinem Assistenten F. Lang schulde ich großen Dank für vielerlei Hilfe in der Sichtung und Auswahl des Materials wie bei der Korrektur. Ich bedauere, daß seine Vorarbeit nur in einigen Zitaten aus älterer oder ökumenischer Literatur verwertet werden konnte. Doch hat gerade sie mir gezeigt, daß ich mich zu äußerster Reduktion zu entschließen hatte. Tübingen, 1. April1970
Ernst Käsemann
Ausgewählte Aufsätze
GERHARD GLOEGE
Zur Geschichte des Schriftverständnisses • I. Die Schrift in der Alten Kirche 1. Voraussetzungen Der Umgang mit der Bibel setzt den Kanon voraus. Dieser hatte sich als zweiteiliges Werk- bestehend aus dem Neuen und dem Alten Testament - in Auseinandersetzung mit der Gnosis und vor allem in der Abwehr Mareions durchgesetzt. Mit der Einheit des Kanons war der Gedanke der einheitlichen Heilsgeschichte grundlegend gegeben: in letzterer verwirklicht sich der Heilsratschluß des einen Gottes, der die Welt schafft und erhält, erlöst und der Vollendung entgegenführt. Alles Verstehen der Bibel war daher von vornherein heilsgeschichtlich • Deutsche Fassung des Artikels "Bible use", in: The Encyclopedia of the Lutheran Church, ed. 1. Bodensieck (Minneapolis/USA), I, 249-262, erstmals veröffentlicht in: G. Gloege, Verkündigung und Verantwortung. Theologische Traktate II, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967, ~292. Literatur zum Ganzen: M. Kiihler, Art. Bibel, in: RE1 11, 686--691; G. Rietschel, Art. Bibellesen und Bibelverbot, ebd. 700-713; G. Heinrici, Art. Hermeneutik, ebd. VII, 718-750; W. Schweitzer, Das Problem der Biblischen Hermeneutik in der gegenwärtigen Theologie, in: ThLZ 75 (1950), 467--478; 0. Weber, Art. Hermeneutik, in: EKL II, 120-126; G. Gloege, Art. Bibel 111. Dogmatisch, in: RGG1 I, 1141-1147; C. Kuhl, Art. Bibelwissenschaft I. Altes Testament, ebd. 1227-1235; W. G. Kümmel, Art. Bibelwissenschaft 11. Neues Testament, ebd. 1236-1251; G. Ebeling, Art. Hermeneutik, ebd. 111, 242-262 (besonders wichtig); M. Elzel H. Liebing, Art. Schriftauslegung IV, ebd. V, 1520-1535; A. Bea, Art. Biblische Hermeneutik, in: LThK1 II, 435--439; R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament (1678); ders., Histoire critique des principaux commentaires du Nouveau Testament (1693); L. Diestel, Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869); 1. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, 1-111 (1926-1933); B. Smalley, The Study of the Bibel in the Middle Ages (Oxford [194{)] 1 1952); M. 1. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik I (1 1948), §§ 16-20 (Lit.); H. Grass, Die katholische Lehre von der heiligen Schrift und von der Tradition (1954); E. G. Kraeling, The Old Testament since the Reformation (London 1955); H.-1. Kraus, Geschichte der hist.-krit. Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart (1956); W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Orbis 111, 3 (1958); H. Beintker, Die evangelische Lehre von der heiligen Schrift und von der Tradition (1961).
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GEI\BAlU) GLOEGE
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orientiert, bzw. mußte sich mit der heilsgeschichtlichen Orientierung auseinandersetzen.- Der Anspruch der Bibel, in Gestalt literarischer Urkunden das Wort Gottes zu enthalten, stellte jede Generation neu vor die Aufgabe, zwischen der Aussage (ß) des jeweiligen Textes und I seinem Sinn (a) zu unterscheiden. So war der Kirche und ihren Lehren vonAnfang an als Grundproblem jeder Bibelauslegung dieFrage nach dem Verhältnis von Buchstabe (littera: ß) und Geist (spiritus: a) mitgegeben. Die Ausleger und Benutzer der Bibel können wir je nach dem, ob das eine oder das andere Moment stärker hervortritt, als Lit· teralisten (ß) oder Spiritualisten (a) unterscheiden. Dabei wird auch stets die jeweilige Stellung zur Autorität der Kirche deutlich.
2. Die alexandrinische Schule Zu den wirksamsten Voraussetzungen des weiteren (insbesondere mittelalterlichen) Schriftverständnisses1 gehören die Werke der großen Alexandriner. In ihnen begegnet uns im Gefolge (neu-)platonischer Oberlieferung (u. a. auch Philos) die spiritualistische Form der Bibelauslegung in klassischer Ausprägung (a). Für Clemens von Alexandrien (t vor 216) ist die Bibel ein großes zusammenhängendes Ganzes, in dem jeder Teil gleich wichtig ist. Sie ist die einzige Quelle der Erkenntnis (yvooo~). Als solche ist sie Gottes Wort. überall spricht in ihr der Herr durch seine Werkzeuge: die Apostel und Propheten. Ihre innere Einheit wird durch den Geist (mreü11a) begründet und verbürgt. Da die Bibel ein vom Geist durchwaltetes Gefüge ist, ist auch das Alte Testament cluistologisch zu deuten. Die Einheit der Schrift wird auf Kosten der Verschiedenheit ihrer Teile behauptet: es gibt nur einen Bund, der sich den einzelnen Phasen des göttlichen Heilsplanes anpaßt. Will man die Bibel recht verstehen, so bedarf man eines Maßstabes (xavoov): der kurzen Zusammenfassung der biblischen Hauptlehren, wie sie summarisch im kirchlichen Glaubensbekenntnis vor1 P. Heinisch, Der Einfluß Philos auf die älteste christliche Exegese (1908); E. v. Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: HamackEhrung (1921), 1-13; G. Zimmermann, Die hermeneutischen Prinzipien Tertullians (Diss. Leipzig, 1937); W. den Boer, De Allegorese in het Werk van Clemens Alexandrinw (Leiden 194{)); J. Danielou, Origene (Paris 1948); H. de Lubac, Histaire et espriL L'intelligence de l'Ecriture d'apres Origene (Paris 1950); Fr. L. Ripke, Paradoxe Einheit durch Interpretation bei Klemens von Alexandrien (Diss. Göttingen 1955); vgl. ThLZ 81 (1956), 631 f.; H. Karpp, Schrift und Geist bei Tertullian. BFChTh 47 (1955); P. Brunner, Charismatische und methodische Schriftauslegung nach Augustins Prolog zu De doctrina christiana, in: KuD 1 (1955) 5969, 85-103; R. Lorenz, Die Wissenschaftslehre Augustins, in: ZKG 67 (1955/56), 29-60; 21~251; G. Strauß, Schriftgebrauch, Schriftawlegung und Schriftbeweis bei Augustin, BGH 1 (1958).
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Zur Geschimte des Sduiftverständnisses
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liegen. So vermag die Bibel, die große Erzieherin, Stütze des Lebens zu sein. AlsUrheberinder Wahrheit ist sie Quelle für die Verkündigung wie auch Hilfe zur Ausformung des ethischen Ideals. - Neben die I Bibel tritt als zweite Quelle der Erkenntnis die Tradition (xaQ
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GERHAI\D GLOI!.GE
J. Die antiochenische Schule
Im Gegensatz zu den Alexandrinern streben die Antiochener- dem aristotelischen Realismus folgend - die philologische Erfassung des Bibeltextes an. Diodor von Tarsus (t 394) und besonders Theodor von Mopsuestia (f 428) verwerfen die spiritualistische Allegorese (a) und dringen auf historisch-grammatische Auslegung (ß). Angeregt durch die jüdische Exegese und unterstützt durch die Kenntnis des Syrisch-Aramäischen suchen sie die Häresie auf exegetischem Felde zu besiegen. Ihre Methode der Interpretation des Alten Testaments ist nicht die Allegorie, sondern die Typologie. Die Heilsökonomie des Alten Testaments ist- kraftGottesanordnender Vorsehung- VorbereitWlg auf den neuen BWid. In einem Wort oder einem Vorgang des Alten Testaments präfiguriert Gott Höheres, Künftiges, das im Neuen Testament eintrifft. Die Auslegungsweise gibt die Möglichkeit, bei Festhaltung des ungeteilten Schriftganzen die heilsgeschichtlichen Verschiedenheiten stärker zu betonen und zugleich das praktisch-paränetische Interesse zu befriedigen. Vor allem lehrte sie auch, auf den Sprachgebrauch wie den Sachzusammenhang zu achten.
4. Frühe Abendländer Standen sowohl die Alexandriner wie die Antiochener in einem kritischen Verhältnis zum kirchlichen Gemeindeglauben, so wird diese Spannung durch die frühen abendländischen Exegeten gemindert. Bereits Tertullian (f nach 222), der vom Wortsinn auszugehen rät, hatte dem Schriftprinzip der Häretiker, die christliche Lehren mit philosophischen Anschauungen vermischen, das Traditionsprinzip entgegengestellt. Die von Christus der Kirche gelehrte Glaubensregel (regula fidei), die Gesetz und Heil umschließt, garantiert die richtige Auslegung. Nur innerhalb der auf apostolische Sukzession zurückgehenden Kirche und ihres commonsensekann die Bibel sachgemäß gebraucht werden. Die allegorische Methode des Origenes gewann jedoch im Laufe der Zeit, allerdings mit einem spürbar praktischen Einschlag, auch auf die lateinische Kirche Einfluß. Für Ambrosius, Erzbischof von Mailand (t 397), ist die Bibel voller Mysterien, die nur Erleuchtete verstehen. Der Schriftsinn ist ein dreifacher: ( a) historisch-buchstäblich, (b) mystisch und (c) moralisch. Die Schrift selbst ist ja oft dreifach: (a) naturalis in Gen., (b) mystica in Lev. und (c) moralis in Dt.; ein Gleiches gilt für das Schrifttum "Salomos": (a) natürlich-vernünftig im Prediger, I (b) mystisch-geistlich im Hohen Lied und (c) moralisch-praktisch in den Sprüchen. Die Psalmen und Evangelien vereinigen alle drei Arten.
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Zur Gesdllchte des Schriftverständnisses
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Ähnlich urteilt Hieronymus (t 420), der- grammatism und rhetorisch gleich gut gebildet- der Schöpfer der von der römisch-katholischen Kirche allein anerkannten lateinischen Bibelübersetzung, der sog. Vulgata (die allgemein Verbreitete), ist. Er übersetzteviele Werke der griechismen Väter (besonders des Origenes) und sdlrieb zahlreiche Kommentare zu biblischen Büchern, die die abendländisme Bibelauslegung bestimmten. Als Ubersetzer und (im antiken Sinne) Textkritiker achtet er streng auf den ursprünglichen Schriftsinn, bleibt aber nicht beim buchstäblichen Sinn (ß), dessen einseitiges Verständnis den Häretiker erzeugt, stehen. Die vom hl. Geist "gesdlriebene und veröffentlichte" Bibel ist in sich widerspruchsfrei und deshalb oberste Autorität. Freilich muß sie geistlich (a) verstanden werden, wozu viel Fleiß und Mühe nötig ist. Die Unterschiede zwischen den Testamenten werden klarer gesehen, ja ihre Gegensätze beobachtet: die Weltoffenheit des Alten und die Weltkritik des Neuen Testaments (z. B. ihre gegensätzliche Stellung zur Gewaltanwendung: Ps. 45,4Mt. 26, 52), Gesetz und Evangelium verhalten sich wie die vergängliche Gnade zu der ewigen, wie der Schatten zur Wahrheit.
5. Augustin Der für Jahrhunderte wirksamste Bibelausleger wurde A. Augustin (t 430). Sein Umgang mit der Schrift stellt eine Synthese zwischen griechischer Spiritualität und lateinischem Realismus dar. Neuplatonisches Lebensbewußtsein öffnete ihm das geistliche Schriftverständnis, insbesondere den Zugang zu der von den Alexandrinern gepflegten allegorischen Methode, die ihm von Ambrosius vermittelt wurde. Der Manichäismus erregte ihn durch seine Bibelkritik, die besonders den anthropomorphen Anschauungen des Alten Testaments (dem veränderlichen, grausamen, lügnerischen Gott) galt; dagegen half die Allegorese. Zugleich hat jedoch die christozentrische Frömmigkeit der manichäischen Psalmen ihn "mystisch" beeinflußt. Als Lehrer der Grammatik und Rhetorik ist er, ähnlich wie die Antiochener, an den Texten als literarischen Größen interessiert. So ist Augustin Spiritualist (a) und Litteralist (ß) in einem. Bei ihm kann man zum ersten Male von einer Henneneutik reden. Seine Beurteilung der Bibel wird nur innerhalb seiner Wissenschaftstheorie verständlich. Göttliche Wahrheiten und Tatsachen werden entweder(a) durch Autorität oder (b) durch Zeichen erkannt. I (a) Göttliche Autorität besitzt Gottes Offenbarung durch auserwählte Zeugen. Anschaulich und faßbar wird sie in der Gestalt Jesu Christi. Die Bibel istNiederschlag aller Offenbarungserfahrungen und folglich irrtumslos. Aber ihr kanonisches Ansehen hat sie nicht aus 2 Käsemann, Kanon
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GEBHABD GLOEGE
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sich selbst, sondern dadurch, daß ihre Schriften apostolisch sind und durm Oberlieferung (Sukzession) beglaubigt werden. Hinzu kommt ihre Verbreitung unter vielen Völkern. Bibel und Kirche sind gleichrangige Zeugen der Wahrheit. Die Bibel ist gemäß der Glaubensregel auszulegen. Freilich: die Kirche empfängt über die Bibel hinaus Offenbarung. Von einem "sola scriptura" weiß Augustin nichts. Autorität und Vernunft sind aufeinander angelegt: die Bibel will Einsicht ermöglichen. (b) Augustins spiritualistisdte Tendenzen drücken sidt in seiner Zeichen-Lehre bzw. seiner darin erscheinenden Sprachphilosophie aus. Hier wird zwisdten Zeichen (signa) und Dingen (res), zwischen Äußerem und Innerem unterschieden. Verstanden werden kann die Bibel nur, wenn der menschliche Geist den Buchstaben der Texte übersteigt und sich unmittelbar zu Gott erhebt. Das äußere Ohr hört den Sprachklang des Wortes Gottes, das innere Ohr lauscht dem "ewigen Worte". Die Worte der Bibel sind nur äußerer Anlaß, sozusagen jenseits des Phonetisdten mit Gott Kontakt zu erlangen. Die Wortwerdung des Geistes (Inverbation) entspricht der Fleischwerdung Christi (Inkarnation). Die inspirierte Bibel, deren grammatischer Wortlaut Zeichenhaft den gegenwärtigen Herrn bezeugt, und der auf spirituelle Erkenntnis angelegte Mensch gehören zusammen. Allerdings stellt hier die Kirche den Raum dar, in dem sidt beide im Licht der göttlichen Liebe begegnen: "Im würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der Kirche bewegte."
ll. Die Bibel im Mittelalter 1. Der praktische Biblizismus: die Bibel (a) als Kodex der Sitten und (b) als Programm
War für die Exegeten der Alten Kirche die Bibel vor allem das große Lehrbuch der göttlichen Wahrheit, so wurde sie schon früh zum heiligen Gesetzbuch für den einzelnen wie die Gemeinschaft'. I 1 F. Kropatschek, Das Sduütprinzip der lutherischen Kirche I. Die Vorgeschi
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(a) Das Neue Testament wird bei einem sol
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GERHARD GLOEGE
willige Armut und mystische Vereinigung mit ein. Jedoch sucht man die Welt, die man selbst verachtet, zu evangelisieren. Dennoch hält man- der mönchischen Frömmigkeit aufgeschlossen- gut katholisch an der doppelten Sittlichkeit ("nur" Glaubende und Vollk.ommene) fest. TheologisdJ. gründlicher durchdenkt John Wyclif (t 1384) den Biblizismus. Für ihn ist die Bibel das Gesetzes-Corpus der Christokratie: Iex caritatis. Christus allein garantiert die Wahrheit der ganzen Schrift. Das Neue Testament ist Iex gratiae, von den Evangelisten als authentischen Notaren Christi aufgezeichnet, daher inspiriert, klar und sidJ. selbst beglaubigend. Nur die Bibel ist Gottes Wort. Sie enthält den Glauben der Kirche. Weil jeder Mensch ein Theologe und Gesetzeskundiger (legista) sein soll, muß jeder sie kennen. Wyclif übersetzte zum ersten Male die gesamte Bibel ins Englische (1380/82). Kirche und Welt sind durch diese Magna Charta zu regieren. Sie verbietet den geistlichen Herren, irdische Güter zu besitzen. Sie reinigt das seit der Konstantmischen Schenkung (Donatio Constantini) vergiftete Leben der KirdJ.e. J. Wyclifs Ideen werden durch die Hussiten zum revolutionären Biblizismus radikalisiert. In Böhmen, wo separatistische Bewegungen (Waldenser) wirkten, entsteht aus dem einheimischen Spiritualismus der militante Biblizismus: J. Hus (f 1415) aktualisiert Wyclif: "Das Gesetz Jesu Christi reicht aus, um die streitende Kirche zu regieren." Nach seinem Märtyrertode versuchen die radikalen, chiliastisch gestimmten Taboriten, der Welt das Evangelium mit Feuer und Schwert aufzuzwingen. Gottes Gesetz soll das öffentliche Leben beherrschen, die neue gesellschaftliche Ordnung schaffen. Könige, Herren, Adlige und Ritter sind auszurotten wie Unkraut. Steuern fallen dahin. Fürsten- und StadtredJ.te werden als Menschengesetze durch das Gottesgesetz gewaltsam ersetzt. "Verflucht ist jeder Gläubige, der sein Schwert vom Blut der Widersacher des Gesetzes Christi [ der Bibel!] fernhält." -Dagegen wollen die Böhmischen Brüder (seit 1447) die Friedensethik des Neuen Testaments allgemein verwirklidJ.en und die I verweltlichte KirdJ.e durdJ. das Liebesgebot zum "apostolischen Zeitalter" zurückführen. Die römische Kirche versudJ.t, den häretischen Auswüchsen dadurch zu begegnen, daß sie das Lesen der Bibel in der Muttersprache (vor allem in Konventikeln) gebietsweise untersagt. Ein generelles "Bibelverbot" gibt es im Mittelalter jedoch nicht.
=
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Zur Geschichte des Schriftverständnisses
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2. Der heilsgeschichtliche Biblizismus: die Bibel als Kompendium (a) der individuellen Erfahrung und (b) der Heilsgeschichte (a) Während der praktisch-programmatische Biblizismus die Geltung der Bibel stärkt, gefährdet der spekulative Spiritualismus sie aufs höchste. Die Bedeutung des Bibeltextes tritt für die apokalyptisch Gesinnten gegenüber der eigenen ekstatischen Erfahrung zurück (Hildegard von Bingen, t 1178; Birgitta von Schweden t 1373) oder erlischt ganz (bereits im Montanismus etwa ab 160; Amalrich von Bena, t 1204; Brüder und Schwestern vom freien Geist, 13./14. Jahrhundert). Besonnenere Geister verlangen immerhin die Übereinstimmung der "Offenbarungen" mit eindeutigen Bibelworten (Richard von St. Victor, t 1173). Die Franziskaner-Spiritualen um Joachim von Floris (t 1202) verkünden den Anbruch des johanneischen Zeitalters, das das petrinische und paulinische ablöst: Altes und Neues Testament werden durch das "ewige Evangelium" abgeschafft. Jedes Zeitalter hat seineeigene "Bibel". Das dritte Zeitalter hat die "ungeschriebene" Bibel; Buchstabe und Schrift hören auf. Die Bibel selbst wird zur Quelle einer kirchenkritischen Geschichtsphilosophie. U. a. gehört Petrus Olivi (t 1298), der eine für das Mittelalter einflußreiche Postille über die Offenbarung des loharmes schrieb, zu diesen Radikalen. (b) Gegenüber dem enthusiastischen Spiritualismus haben jedoch andere Exegeten des Mittelalters die Bibel nüchterner zu verstehen gesucht. Freilich sind die Unterschiede zwischen kirchlicher und geistlicher Auslegung teilweise recht erheblich. Die Bibel ist das Kompendium der Heilsgeschichte Gottes mit der Welt. Motive der Geschichtstypologie des Neuen Testaments (Röm. 4-5; Gal. 4; Hehr.) werden überformt durch die griechische Paideia-ldee und durch Elemente hellenistisch-jüdischer Apologetik. So wird die Bibel zum prophetischen Generalbericht über die chronologisch berechenbare Erziehung der Menschheit (vgl. später G. E. Lessing) durch den Gott-Logos. Mittels des Weissagungsbeweises (vgl. bereits Mt.) wird der biblische Zusammenhang zwischen Schöpfung und Erlösung, Gesetz und Evangelium als gradweise fortschreitende Entwicklung gedeutet, deren Rhythmus I die Epochen der Kirche strukturiert. Gottes Heilsplan entfaltet sich in überhöhender Stufung: dreifach bei Theophilus von Antiochien (t nach 180) in den Zeitaltern vor, unter, nach dem Gesetzvierlach bei lrenäus (t nach 190) in den Bundesschlüssen mit Adam, Noah, Mose, Christus. Die heilsökonomische Periodisierung zeigt die Einheit der Bibel in ihrer Mannigfaltigkeit, macht aus der Polyphonie der Stimmen "das eine symphonische Melos" hörbar. Augustin setzt diese heilsgeschichtliche Deutung voraus, das Mittelalter über-
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nimmt und variiert sie. Die areopagitsche Mystik prägt das Bibelverständnis der Vi.k.torianer, vorab Hugos von St. Viktor (f 1141).1n der Bibel findet dieser die Fülle der göttlicl:J.en Mysterien, Sakramente und Symbole verborgen: ihre Summe ist- nacl:J. "Zeitenserie und Gescl:J.lechterfolge" verscl:J.ieden- das Wacl:J.stum des Reimes Christi in den Fortscl:J.rittsphasen des Natur-, Schrift- und Gnadengesetzes. Ihm folgend bewundert Bonaventura (t 1274) an der Bibel nacl:J. Eph. 4, 14-17 ihre Weite (alles umfassend), Länge (universelle Gescl:J.icl:J.te), Höhe (Herrlichkeit der Seligen) und Tiefe (Gottes Gericl:J.t).
J. Der theoretische Biblizismus: die Bibel als Corpus (a) der Lehre und (b) des Naturrechts (a) Der spekulative Trend wird durcl:J. die doktrinäre Reflexion gedämpft. Der spanische Enzyklopädist lsidor von Sevilla (t 636) sieht in der Bibel die Fundgrube einer Zahlenmystik, die auf alles real Wißbare anwendbar ist. Der angelsäcl:J.siscl:J.e Hofgelehrte Alkuin (t 804) will die Bibel, die er als Kompilator überlieferter Auslegungen kommentiert und deren lateinischen Text er revidiert, "katholiscl:J." im Sinne des vulgär-augustiniscl:J.en Symbolismus verstanden wissen und der nacl:J. Kulturwissen hungernden Zeit als Bildungsgut ersdiließen. Thomas von Aquino (t 1274) faßt das scholastische Bibelverständnis zusammen: für ihn ist die Scl:J.rift der Autorität der Väter und der Oberlieferung grundsätzlich übergeordnet. Der buchstäblime Sinn bildet die Grundlage für den dreifachen geistlichen Sinn. Dieser wird nacl:J. Augustin real-typologisch verstanden: Gott macht nimt nur Worte, sondern aU
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der stoischen Philosophie her. Nach Robert Grosseteste (t 1253) ist die Bibel das Steuer, das Petri Schifflein zum Hafen des Heils lenkt. Das in ihr erhaltene göttliche Recht ist mit dem Naturrecht identisch. Roger Bacon (t 1292) singt in seiner Epistel an den Papst das "Lob der hl. Schrift" : Alle Weisheit ist allein in ihr zu finden. Sie ist Quelle und Regel des Glaubens. Ihrer Lektüre muß man daher vor der dogmatischen Arbeit an den Sentenzen den Vorzug geben. Marsilius von Padua (t ca. 1543) begründet mittels der Bibel und des kritisch angewendeten Naturrechts die Theorie des Konziliarismus gegenüber dem Episkopalismus. Die Bibel darf allein durch das Generalkonzil ausgelegt werden. Für Ockham (t 1547) ist allein die Bibel irrtumslose Autorität, weil sie älter ist als alles Kirchenrecht. Ihr Inhalt deckt sich mit dem Naturrecht und bildet die widerspruchslose Korrespon· denz von Gottes Wort und Vernunft. Der ganzen Kirche gehört die Bibel, wie auch ihre Auslegung. Theologie ist Bibelwissenschaft. Widerspruch gegen die Bibel bedeutet Häresie. Die unfehlbare Bibel steht über dem irrtumsfähigen Papst. -Nach dem Konziliaristen Job. Gerson (f 1429) legt die Bibel sich selbst aus. Christi schlichtes Evangelium bildet, gegenüber dem positiven Recht der Kirche, das Reformprogramm. Das göttliche oder Naturgesetz enthält die prinzipiellen Forderungen: Gott absolut zu gehorchen, ihn und die Menschen zu lieben, das Eigentum zu schützen, Gewalt und Unrecht gewaltsam abzuwehren. Pierre d' Ailly (t 1420) sieht zwar in den biblischen Schriftstellern die Sektretäre des hl. Geistes, hält aber spiritualistisch die Bibel nur für ein Abbild des wahren Gesetzes, das dem Menschen von jeher übernatürlich eingepflanzt ist. - Mit der polemischen Losung "Allein die Schrift" der Reformtheologen J. Pupper von Goch (t 1475), J. v. Wesel (t 1481) und W. Gansfort (t 1489) klingt das Mittelalter aus. I
lll. Das Wort Gottes bei Luther Martin Luther setzt die Arbeit der Humanisten an den Schriften des Alten (J. Reuchlin, t 1522) und des Neuen Testaments (D. Erasmus, t 1536) voraus. Unter Rückgriff auf den hebräischen und griecbisdlen Urtext bedient er sich der philologisch-historischen Erkenntnisse der Zeit. In intensivem Studium der Bibel vernimmt er in neuer Weise Gottes eigene lebendige Stimme. Gottes Rede, die er in der Bibel zu hören beginnt, ist ihm aber nicht ein allgemeines "Wort Gottes", sondern das Evangelium Jesu Christi (solus Christus), das als Gnadenwort das Gerichtswort des Gesetzes überwindet (sola gratia) und im Glauben (sola fide) angeeignet wird: viva vox evangelii. Bei
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dieser Neuentdeckung werden alte Elemente der mittelalterlichen Oberlieferung übernommen, aber sie erhalten vom Evangelium her neue Funktionen bzw. werden inhaltlich umgeschmolzen3 •
1. Anknüpfung an das Mittelalter Materiell übernimmt Luther von der Überlieferung des Mittelalters: (a) das Schriftprinzip (sola scriptura), das gut vulgärkatholisch ist und sowohl von den Scholastikern wie den freieren Denkern (R. Grosselteste, R. Bacon, J. Gerson, P. d'Ailly, J. v. Wesel) und von den Häretikern (Waldenser, Hussiten) vorausgesetzt wird. (b) die Theorie von der Inspiration, die auf die jüdische Apokalyptik (IV. Esra; M. Maimonides) und die neuplatonische Pneuma-Idee (Philo) zurückgeht. Sie ist ein Erbe spätantiker Religionsphilosophie, also keineswegs spezifisch "christlich" und sowohl dem Vulgärkatholizismus (Gregor d. Gr.) eigen wie der Scholastik (Thomas), der frühen Exegese (Walafried Strabo, t 849) wie der späteren Kirchenkritik (P. d'Ailly, G. Biel), von den Spiritualisten ganz zu schweigen. (c) das Auslegungsaxiom: daß die Bibel sich selbst auslegt und alle einzelnen Stellen untereinander und zusammen ein Ganzes bilden a 0. Scheel, Luthers Stellung zur Hl. Schrift (1902); K. A. Meissinger, Luthers Exegese in der Frühzeit (1911); K. HoU, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Aualegungskunst (1920), in: Gesammelte Aufsätze I (46 1927), 544-582; P. Althaus, Gehorsam und Freiheit in Luthers Stellung zur Bibel, in: Luther 9 (1927), 74 bis 86 = Theologisdle Aufsätze I (1929), 140 ff.; E. Hirsch, Luthers Deutsdle Bibel (1928); P. Schempp, Luthers Stellung zur Hl. Sdlrift, FGLP 2, 3 (1929); E. Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie nadl der 1. Pss-Vorlesung, AKG 15 (1929); W. Elert, ML I (1931) S 14 f.; H. Bomkamm, Das Wort Gottes bei Luther (1933); ders., Luther und das Alte Testament (1948); F. Hahn, Luthers Aualegungsgrundsätze und ihre theologischen Voraussetzungen, in: ZSTh 12 (1934/35) 165 bis 218; ders., Faber Stapulensis und Luther, in: ZKG 57 (1938), 556-432; E. Schlinlt, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften ([1940] 1 1946), Kap. I; G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersudlung zu Luthers Hermeneutik, FGLP 1 (1942); ders., Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: ZThK 48 (1951}, 172-230; R. Prenter, Spiritua creator (Kopenhagen [19#] 1 1946); W. A. Quanbeck, The Henneneutical Principles of Luther's Early Exegesis (Diss. Princeton, 1948); J. M. Reu, Luther and the Scriptures (Columbus 1949); Fr. K. Schwnann, Gedanken Luthers zur Frage der Entmythologisierung, in: Festsdlrift fiir R. Bultmann (1949}, 208-220 = ders., Wort und Gestalt (1956), 165-178; W. v. Loewenich, Luther als Aualeger der Synoptiker (1954); H. fZJstergaard-Nielsen, Scriptura sacra et viva vo:x, FGLP X/10 (1957); E. Wölfel, Luther und die Skepsis, FGLP X/12 (1958); G. Rupp, Word and Spirit in the First Years of the Reformation, in: ARG 49 (1958), 1~26; R. Hermann, Von der Klarheit der Hl. Schrift (1958); G. Ebeling, J. Atkinson, R. Josefson, in: Lutherforschung heute. Referate und Berichte des 1. Internationalen Lutherforschungskongresses, hrsg. v. V. Vatja (1958), 32-63; G. Krause, Studien zu Luthers Auslegung der Kleinen Propheten, BHTh 33 (1962); K. Bomluunm, Luthers Aualegung des Galaterbriefes von 1519 und 1531, AKG 55 (1963).
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(bes. in der Spätzeit: J. Gerson, W. Gansfort, J. v. Wesel, W. v. Ockham) und daß auch im Alten Testament Christus ihr Inhalt sei. 2. Oberwindung des Mittelalters Materiell überwindet Luther jedoch den mittelalterlichen Biblizismus, indem er folgende Elemente preisgibt, die grundlegend waren: (a) die Identifizierung von Bibel und Vernunft (etwa R. Bacon: alle Weisheit sei in der Bibel enthalten, ähnlich J. Wyclif). (b) die Identifizierung von Bibel, Evangelium und Gesetz, die für die Individualethik (imitatio) den Verdienstbegriff einschloß, für die Sozialethik die Idee der Theokratie (Vorbild: der Gottesstaat des Alten Testaments). (c) die Identifizierung des in der Bibel verfaßten göttlichen Rechtes (lex caritatis) mit dem natürlichen Recht unter Rezeption des aristotelischen Begriffs der Billigkeit (btlElxELa). J. Das lebendige Wort
Das Kriterium für jene Beibehaltung und Neuformung der alten Elemente (1) und ihrer Abstoßung (2) ist die grundlegende Erkenntnis, daß in der Bibel Gottes lebendige Stimme hörbar wird. Die Bibel ist für Luther in erster Linie nicht optisch, sondern akustisch zu verstehen. Mit diesem Bibelverständnis ist der theoretisch-doktrinäre· Biblizismus (s. o. II, 3) erledigt. "Lehre" (doctrina) der Bibel ist ihm nicht Theorie, sondern die den Menschen und die Welt angreifende Verkündigung: Predigt. Jesus selbst schrieb kein Buch, forderte auch nicht die Jünger auf, Bücher zu schreiben, sondern hinzugehen und allen Völkern das Heil zu verkündigen. Die schriftliche Fixierung der Botschaft im Bibelbuch stellt nur einen Notbehelf dar, der durch das. Abnehmen des Geistes in den ersten Gemeinden und das Auftreten der Irrlehre nötig I wurde (WA 10 I/1, 625 ff.). Zugleich versteht Lu-· ther das in der Bibel sprechende Wort als den Mutterschoß der Kirche. Das mündliche Wort ist das Zeichen, um das sich die Kampfschar Christi sammelt. Zeimen der Kirche (nota ecclesiae) ist das Wort nimt als Etikett, sondern als Daseinsgrund. "Das Evangelium ist vor (prae) Abendmahl und Taufe das einzige, gewissesteund edelste Symbol der Kirche. Denn allein durm das Evangelium wird die Kirme empfangen, geformt, genährt, erzeugt, erzogen, geweidet, bekleidet, gesclunückt, gestärkt, bewaffnet, bewahrt. Kurzum: das ganze Leben und Wesen der Kirme besteht im Worte Gottes (tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo dei)." Luther meint hier mit dem "Worte Gottes" ausdrücklim nimt das geschriebene Bibelwort, sondern das mündliebe Evangelium, das in der Predigt verkündigt wird
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(WA 7, 720 f.). Die Bibel ist für ihn nicht Corpus himmlischer Lehre, "Lehr- und Lesebuch" (legibile), sondern "Predigt-, Höre- und Streitbuch" (doctrinale, audibile, pugnax: WATR 2, Nr. 2185).
4. Die Gerechtigkeit Gottes Allerdings entdeckt Luther die Bibel als Träger des Rufes Gottes in der Auslegung ihres Textes, bei der Klarstellung des Begriffes "Gerechtigkeit Gottes" (Röm. 1, 17). Dabei hilft ihm die kritische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, von Mose und Christus. Er lernt die Gerechtigkeit des Gesetzes von der Gerechtigkeit des Evangeliums unterscheiden (WATR 5, Nr. 5518). Die Gerechtigkeit Gottes ist ihm fortan nicht die fordernde Gerechtigkeit, durch die Gott den Menschen straft, sondern die schöpferische Gerechtigkeit, durch die er den Sünder gerecht macht. Mit dem Verständnis, daß diese Gerechtigkeit mit der Gnade identisch ist, hatte ihm "der Hl. Geist die Schrift offenbart" (WATR 3, Nr. 3232 c). Ihm wird die Unterscheidung zur Pforte des Paradieses (WA 54, 185, 14 ff.) und so zum hermeneutischen Axiom für die Bibelauslegung. Noch die Konkordienformel weiß, daß der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium einen hermeneutischen Sinn hat. Er ist "ein besonders herrlich Licht ... , welches dazu dienet, daß Gottes Wort recht geteilet und der heiligen
Propheten und Apostel Schriften eigentlich erkläret und verstanden" werden (FC SD V = BSLK 951, 4 ff.). Indem Luther Gesetz und Evangelium kategorial unterscheidet, aktualisiert er die Bibel zur Gottesrede, die durch Töten lebendig macht, durch Gericht zur Gnade führt. Mit diesem Bibelverständnis ist der gesetzliche, programmatische Biblizismus (s. o. II, 1) erledigt. Die Bibel ist für Luther nicht Codex religiös-sittlicher Vorlschriften, weder für den einzelnen noch für die Gesellschaft, sondern die Gestalt der richtenden und rettenden Gottesrede.
5. Das prophetische Buch Diese Erkenntnis hat sich aber nur im Rahmen einer exegetischen Bemühung vollzogen, bei der sich Luther gewisser Begriffe des überlieferten Schemas vom "vierfachen Schriftsinn" bedient. Dieser beruhte auf der für das Mittelalter durchgängigen Unterscheidung von buchstäblicher und geistlicher Auslegung. Die buchstäbliche (ß) Auslegung forderte die grammatisch-historische Methode; die geistliche (a) daneben die allegorisch-mystische (a 1), die tropologisch-moralische (a 2) und die anagogisch-eschatologische (a 3). Als Königin der Exegese galt die Allegorie (a 1). Luther dagegen erklärt den buchstäblichen Sinn für den geistlichen Quellsinn. Er identifiziert also ß
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und a und kombiniert ihn mit der zum Hauptsinn erhobenen Tropo· logie (a 2). Der "geistlirhe Burhstabe" (ß und a in einem: littera spiri· tualis) enthält als Grundsinn das Zeugnis Jesu Christi, also das Heils· handeln Gottes, das sirh mittels des tropologischen Gegenwartssinnes (a 2) am Mensrhen verwirklicht. Derselbe Text, der das Handeln Gottes in Christus verkündet, srhafft im Hörenden die neue Schöpfung. Der Verkündete wirkt den Glauben. Christus schafft den Christen. Wie Christus ganz Gottes Werk ist, so ist auch der Glaubende allein Gottes Werk. Das Ergebnis dieser tropologischen Exegese, die das Heilsgesrhehen von "damals und dort" im "heute und hier" vergegenwärtigt, ist die Rerhtfertigungslehre (E. Seeberg). Bereits Faber Stapulensis, dessen Psalterausgabe (1509) Luther für seine erste Vorlesung (1513/14) benutzte, hatte den buchstäblichen Sinn (ß) für den geistlichen (a) erklärt. Luthers Konzeption ist nur darin neu, daß er und wie er die bereits vollzogene Identifikation mit der tropologisch·existentiellen Auslegung verband. Neu ist auch die Konsequenz, mit der er der Anagogie (a 3) und besonders der Allegorie (a 1) den Abschied gibt. Jedenfalls sind beide nicht mehr für die Auslegung der Bibel konstitutiv. Luther bezieht die Bibel streng auf die Christusbegegnung, so daß die Botsrhaft das Gewissen trifft und Glauben schafft. Dadurch werden die "Leseworte" des Geschirhtsburhes zu "lauter Lebensworten" (WA 31/1, 67). An die Stelle der Vernunft, des Gesetzes und der Spekulation tritt der mit dem Evangelium identische Christus. Als der Person gewordene Freispruch, den Gott im Gericht fällt, ist er der einzige Inhalt der Bibel und wird durch den hl. Geist beglaubigt. Mit diesem Bibelverständnis ist der heilsgeschichtlirhe Biblilzismus (s.o. II, 2) erledigt. Die Bibel ist für Luther nicht das Compendium einer Gotteshistorie, die zu philosophischen Spekulationen veranlaßt, sondern das prophetische Buch, das Jesus als den Christus verheißt.
6. Buchstabe und Geist Luthers entscheidende Tat auf dem Gebiet der Bibelbenutzung besteht einerseits darin, daß er den mittelalterlichen Biblizismus auf der ganzen Linie (s. die Abschnitte 3-5) radikal überwindet, andererseits darin, daß er das von Augustin formulierte Problem "Buch· stabe und Geist" vom neu verstandenen Evangelium aus neu beantwortet. Luther denkt von der in Jesus Christus geschehenden Gottesgeschichte her. Indem er den Satz Joh. 1, 14 von der Fleischwerdung des Wortes ernst nimmt, gewinnt er den konkreten Geistgedanken. Für Luther gibt es wohl eine logische Unterscheidung, aber keine tatsächliche Trennung von beiden: das "Wort" ist geisthaltig- und um-
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gekehrt: der "Geist" ist wortgebunden. "Der Geist ist im Buchstaben verborgen." "Die hl. Schrift ist Gottes Wort, geschrieben und (daß ich so rede) gebuchstabet und in Buchstaben gebildet, gleichwie Christus ist das ewige Gotteswort, in die Menschheit verhüllt, und gleichwie Christus in der Welt gehalten und gehandelt ist, so gehts dem schriftlichen Gotteswort auch" (WA 48, 31). Wie Luther in seinem reformatorischen Lebenswerk zur Rechten gegen den Papst und zur Linken gegen die Schwärmer anzukämpfen hat, so muß er sich im Verständnis der Bibel nach zwei Seiten hin abgrenzen: zur Rechten (a) gegen den Litteralismus (Buchstabentheologie) und zur Linken (b) gegen den Spiritualismus (Geistfanatismus). (a) Gegen den Litteralismus (ß) setzt Luther das Zeugnis vom freien, lebendigen Wort (a). "Wort" bedeutet für ihn ursprünglich nicht Schrift-, sondern Geistwort. Gewiß: Geistwort ist "äußerliches Wort" (verbum externum), vorgetragen durch den Mund von Menschen: mündliches Wort. Ist aber für den alten Bund die schriftlich fuierte Urkunde, der Buchstabe wesentlich, so für den neuen Bund die mündliche Verkündigung, das Kerygma. Das Wort muß zum Klingen kommen, wie die Notenschrift in klingende Musik umgesetzt werden will. So ist auch die geschriebene Bibel nur Hilismittel, um die Erinnerung an das verkündigte Wort festzuhalten und rein zu erhalten gegen allen Millbrauw. - Luther liest die Bibel, auch das Alte Testament, christozentrisch. Den christozentrischen Kanon im Kanon sieht er im Joh.Ev., 11. Joh., Röm., Gal., Eph., 1. Petr. Er liest die Synoptiker vom vierten Evangelium her. Er versteht das Neue Testament von Paulus her (WADB 6, 40, 29 :ff.). (b) Gegen den Spiritualismus (a) setzt Luther das an den Buchstaben konkreter Texte sich bindende Wort (ß), das nur aus eben diesen Texten zu erheben ist. Die Smwärmerei der "Innerlidlkeit", des "unmittelbaren" Zuganges zu Gott ist Wahn, aber nicht minder smeinbar entgegengesetzter Enthusiasmus des Papstes, der "alle Rechte ... im Schrein seines Herzens" zu haben vorgibt (Schmalk. Art III, 8, 4 = WA 50, 245 BSLK 454, 8 f.). - Das Evangelium kann nur durch die Sprachen erhalten werden. "Die Sprachen sind die Scheiden, darin dies Messer des [hl.] Geistes stedtt." Sie sind der Schrein für das Kleinod, das Gefäß für diesen Trank, die Kammer für diese Speise, die Körbe für Brote, Fisdie und Brodten (Mt. 14,20: WA 15, 38 = BoA 2, 451, 26 :ff.). Allein dies Motiv läßt ihn, ähnlich wie die Humanisten, und dom ganz anders begründet, die Sprache ernst nehmen.
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7. Das Kriterium: Christus Indem Luthers Verstehen der Bibel ganz durch die Erkenntnis Christi bestimmt ist, gewinnt er ein Sadlkriterium, durch das nicht
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nur die Lehre der Kirche zu überprüfen ist, sondern auch jede Aussage der Bibel selbst. So wird Luther zum Begründer einer christozentrischen Bibelkritik. Ist Christus "Herr und König der gesamten Schrift", so bedeutet das positiv: Luther übernimmt den Kanon der Kirche (und damit auch das Alte Testament) nicht aus Gründen der Pietät, sondern von seinem Christusverständnis her. Dadurch tritt er in Gegensatz zu Marcion, den Manichäem und Katharern, die den Widerspruch zwischen Altem und Neuern Testament dramatisieren, den Gott des Alten Testaments veränderlich, grausam und lügnerisch finden und das ganze mosaische Gesetz als vom Teufel gegeben verwerfen. Das christozentrische Kriterium bedeutet kritisch: als Herr der Schrift ist Christus nicht nur Grund, sondern auch Grenze ihrer Autorität: Kanon im Kanon. In den Vorreden zum September-Testament von 1522 steht der gewichtige Satz: "Das ist der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man siebet, ob sie Christus treiben oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeiget, Röm. 3, und S. Paulus nichts denn Christum wissen will, 1. Kor. 2. Was Christum nicht lehret, das ist noch nicht apostolisch, wennsgleich S. Petrus oder Paulus lehrete. Wiederumb was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns gleid:J. Judas, Hannas, Pilatus und I Herodes tät" (WADB 7, 384: Vorrede auf die Episteln S. Jakobi und Judas). Damit verwandelt Luther den historisch-formalen Begriff des Apostolischen (ob eine Schrift von einem Apostel stamme) in ein Sachkriterium. Von daher ist seine christozentrische Kritik nicht nur an Büchern des Alten Testaments, sondern auch an denen des Neuen Testaments zu verstehen. Die später von der Orthodoxie ausgebaute Unterscheidung von proto- und deuterokanonischen Schriften hat bei Luther ihren Ursprung. In der genannten Ausgabe des Neuen Testaments läßt der Reformator den Jakobus-, Judas- und Hebräerbrief sowie die Apokalypse ohne Numerierung und ohne Seitenzahl - wie eine Art Anhang - drucken. Bedeutsamer ist aber noch die Konsequenz, mit der Luther dem rationalistisch-gesetzlid:J.en Bibelverständnis der Biblizisten die These entgegensetzt: "Wenn die Gegner die Schrift treiben gegen Christus, so treiben wir Christus gegen die Schrift" (WA 39/1, 47). "Christus treiben" heißt aber für Luther: die Rechtfertigung verkündigen.
8. Das Budz. der Gottesgeschichte Die Ausrichtung der Schriftaussagen auf Christus lehrt Luther das Alte wie das Neue Testament geschichtlich verstehen. Ist der abstraktformale Biblizismus überwunden, so wird die Bibel zur "göttlichen Aeneis" (WA 48, 241): sie erzählt von den Schicksalen, die der Verheißung Gottes zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten, bei
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verschiedenen Geschlechtern und Völkern widerfahren. Gottes verheißendes Wort liegt mit dem Menschen beständig im Kampf und gelangt durch Niederlagen zum Siege; auf Irrgängen und Umwegen läuft es seinem Ziele entgegen. Es sagt nicht allen Menschen aller Zeiten und Länder dasselbe, sondern spricht jeweils in ihre besondere Situation seinen besonderen Ruf. Luther hat also das an der Bibel wahrgenommen, was wir heute ihre konkrete "Geschichtlichkeit" nennen. Jeder Mensch hat jederzeit zu prüfen, ob ihm das betreffende Bibelwort wirklich gilt - oder nicht. Was Israel gesagt ist, oder den Jüngern, gilt nicht ohne weiteres den Christen; was damals gesagt wurde, gilt nicht ohne weiteres heute. Der Glaubende ist also stets zur rechten Prüfung beim Gebrauch der Bibel aufgerufen. Aber jeder einzelne und jede Generation ist in besonderer Weise eingeladen, sich in den Lauf des lebendigen Wortes hineinnehmen zu lassen. I
IV. Stadien auf dem weiteren Wege 4 1. Die lutherische Theologie Unter Luthers Mitarbeitern und Schülern kommt es zu einer weitgehenden Rationalisierung des Bibelverständnisses. (a) Bereits Ph. Melanchthon (CR 23, 585 ff.) rürkt die ganze Bibel in doktrinäre Sicht. Sie ist die Quelle der reinen Lehre. Ihre einzigartige Autorität beruht auf ihrem Inhalt, der als vollkommen irrtumslos gilt. Die göttliche Offenbarung stellt, zum.al durch Wunder beglaubigt und verbürgt, die absolute Wahrheit dar. Ihre Sätze besitzen dieselbe Gewißheit wie die ebenfalls von Gott mitgeteilten mathematischen Axiome. Neben die Bibel treten als Normen ihres Ver• E. Nagel, Zwinglis Stellung zur m. Schrift (1896); G. Moldaenlce, Schriftverständnis und Schriftdeutung im Zeitalter der Reformation I. M. Flacius lllyricus, FKGG (1936); T. H. L. Parker, The Oracles of God (1947) (Calvin); .A. M. Hunter, The Teaching of Calvin (11950); B. Hägglund, Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Joh. Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis (Lund 1951); W. Kreclr., Wort und Geist bei Calvin, in: Festschrift für G. Dehn (1957), 167-181. D. Fr. Schleiennacher, Ober den Begriff der Hermeneutik, in: Sämtliche Werke III/3 ((1829] 1 1835), 344--386; ders., Hermeneutik, hrsg. v. H. Kimmerle, AAH 1959, 2 (1959); Fr. Overbeclr., Ober Entstehung und Recht einer rein kritischen Betrachtung der neutestamentlichen Schriften i!l der Theologie (1871); P. Gennrich, Der Kampf um die Schrift in der deutschen evangelischen Kirche des 19. Jahrhunderts (1898); M. Kähler, Dogmatische Zeitfragen I. Zur Bibelfrage (11907); H. E. Weber, Historisch-kritische Schriftforschung und Bibelglaube ((1913] 1 1914); E. Peterson, Das Problem der Bibelauslegung im Pietismus des 18. Jahrhund~, in: ZSTh 1 (1923), 468--481; E. W. W endebourg, Die heUsgesdüchtliche Theologie J. Chr. K. v. Hofmanns in ihrem Verhältnis zur romantischen Weltanschauung, in: ZThK 52 (1955), 64--10+.
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ständnisses die altkirchlichen Symbole. über der Bibel als Corpus der Lehre wird die Kirche zur Schule, die Theologie zur Scholastik. (b) Matt. Flacius schafft in seinem "Clavis scripturae sacrae" (1567) die erste lutherische Hermeneutik. Neben einem biblisch-theologischen Wörterbuch umfaßt dies Standardwerk Abhandlungen, die Grammatik, Rhetorik und Stilistik methodisch der Exegese dienstbar machen wollen. Das Schriftganze tritt in den Blick; ZusammenhangsExegese wird gefordert. Freilich trägt die Wiederaufnahme aristotelischer Begriffe und Denkstrukturen zur Rekonstruktion des verbal-inspirierten Bibelbuches beL Die Kirchenlehre wird zur norma normans der Exegese, denn der Inhalt der Bibel ist mit dem orthodoxen Dogma identisch. Aus der Schrift als dem Gnadenmittel wird die Bibel als Erkenntnisquelle. I (c) Unter großem Aufwand von Scharfsinn hat die lutherische Orthodoxie eine systematische Lehre von der hl. Schrift erarbeitet. Dabei bleiben kritische Gesichtspunkte, wie die Unterscheidung von proto- und deuterokanonischen Schriften, wach. Auch verbirgt sich hinter rationaler Doktrin wahre Frömmigkeit, die den Lobpreis der Bibel singt und nicht nur denkerisch aus ihr lebt. Die Lehre von den "Eigenschaften" (affectationes, z. B. Abr. Calov, t 1686) oder "Herrlichkeiten" (a\Jxi}J.W'ta, Job. Gerhard, t 1637) enthält unverlierbare Erkenntnisse des Schriftverständnisses: Die Bibel setzt (a) ihre Wahrheit krafteigenen Spruches durch (auctoritas). Sie schließt (b) jede andere sie zusätzlich beglaubigende Instanz (z. B. die Tradition) aus (perfectio bzw. sufficentia). Sie deckt (c) dem Menschen in konkreter Anrede das Dasein vor Gott in der Welt auf (perspicuitas). Sie läßt (d) den Menschen in unausweichlicher Entscheidung die Rettung aus Gottes Gericht ergreifen- oder verfehlen (efficacia). (d) Eine beachtliche Intensivierung verdankt das Bibelstudium dem Pietismus, der die Bibel in erster Linie "erbaulich" verstand. Von spiritualistischen Motiven gespeist, hält er gegenüber dem Wiederaufkommen des doktrinären Biblizismus die Erinnerung daran wach, daß der Ruf der Bibel das Leben des Menschen und der Gemeinschaft angeht. So ·erscheinen in ihm fundamentale Erkenntnisse der tropologischen Exegese Luthers wiedergewonnen (Ph. J. Spener, t 1705), die innerhalb der Orthodoxie verlorenzugehen drohten. Grundlage ist der buchstäbliche Sinn (ß), der zugleich übernatürlich und geistlich ist (a). A. H. Francke (t 1727), Orientalist und Vorkämpfer für die Lektüre der hebräischen Bibel, wirkt auf Philologie und Textkritik anregend. Der Außenseiter N. L. Graf von Zinzendorf (t 1760) antizipiert - in den Spuren Luthers das Grundmotiv der Inkarnation für Sprache und Schriftverständnis fruchtbar machend - Gedanken J. G. Hamanns, S. Kierkegaards und H. Bezzels: die Bibel ist Zeugnis des sich
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selbst herablassenden Gottes (Kondeszendenz). Jedenfalls überkommt den modernen Menschen mittels dieser existentiellen Exegese der Bibel sein bisher letztes religiöses Bildungserlebnis von Gewicht.
2. Die reformierte Theologie Neben Luther treten andere Formen des Bibelverständnisses. (a) H. Zwingli (f 1531) verkörpert ihm gegenüber relativ selbständig, von humanistischen Impulsen beflügelt, einen gesetzlichen Spiritualismus. Mittels der augustinischen Korrelation von "res" und "signum" versteht er die Bibel als Wort des hl. Geistes, das aber auch I anderen Ortes vernehmbar wird. Christus selbst schreibt sein Gesetz in das Herz. Die vom Geist bewegte Seele wird befähigt, den Buchstaben der Bibel zu verstehen. Eine unvermittelte Beziehung zwischen Gottesgeist und Menschengeist gibt den äußeren Zeichen ihren Sinn. (b) J. Calvin (lnstitutio I, 6 ff.) vertritt, hierin Luthernäherstehend, -ein lebendiges Schriftverständnis. In der Bibel begegnet er dem erleuchtenden Worte, durch das Gott den Menschen anspricht (promissio) und beansprucht (Iex), um ihm seine Majestät zu offenbaren. Das "heimliche Zeugnis des Geistes" (testimonium Spiritus sancti ar<:anum) wirkt Erkenntnis des in der Bibel sich bekundenden Gotteswillens. Der Vater bezeugt sich im Sohne durch den hl. Geist. Schrift (ß) .und Geist (a) sind wechselweise fest verknüpft, ebenso Geist und Glaube. Die Bibel ist "Schule des hl. Geistes", in der Gottes Offenbarungsworte (oracula) laut werden. (c) Der reformierte Biblizismus ist noch in der zweiten Generation (vgl. die BSRK), bei ausgesprochener Inspirationstheorie, durch das Moment der Verkündigung belebt. Aus ihm entwickelt sich die Föderaltheologie, die in der Bibel die Geschidlte von sich einanderablösenden Gottesbündnissen sieht. Der Gedanke des Bundes (foedus) beeinflußte bereits den Lutheraner G. Calixt (f 1656) und findet bei J. Coc~ejus (f 1669) seine klassische Ausprägung. Indem der Zeitbegriff Maßstab der Gesmichte wird, wird damit zugleich das neuzeitliche Geschichtsdenken (J. G. Herder) kräftig angeregt und vorgeprägt. J. A. Bengel (t 1752) versteht von der Idee der Zeitenordnung (ordo temporum) her die Bibel als Urkunde einer universalen, organism fortschreitenden Ökonomie Gottes. Sie ist ihm lebendiges "System göttlicher Zeugnisse", "ein einheitlich zusammenhängendes Gefüge", "ein ganzheitlicher Leib", "himmlisches Depositum" (Gnomon, praef. §§ 1, 27). Als geistlich-leiblicher Organismus erzeugt sie den heiligen "schriftgemäßen Gottesmenschen". Diese Bibeltheorie ist geschichtlich äußerst wirksam geworden. Sie wirkte auf das fromme wie
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auf das gelehrte Bibelstudium vertiefend ein. J. T. Beck (t 1878) sieht in der Schrift einen "sich fortbildenden Organismus der Theopneustie". J. Ch. K. v. Hofmann (t 1877) sucht in ihr die "weissagende Gesclllchte" (Altes und Neues Testament bezogen auf die Mitte Jesus Christus), die sich im Heiligungsstand des Christen verwirklicht. Zugleich mit pietistischen Motiven prägt die Theorie die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Freilich droht sie, die Philologie (J. G. Hamann, t 1788) in Sprachmythologie und die Theologie in I Theosophie (Fr. Chr. Oetinger, t 1782) zu verkehren und die so in der Reformation entdeckten historischen Elemente der Bibel in Geschichtsphilosophie zu verflüchtigen. 3. Die römisch-katholische Theologie und die orthodoxe Kirche
Die Reformation nötigte die römische Kirche zu einer normativen Formulierung ihres Bibelverständnisses. Zwar hatte bereits der kirchliche Positivismus der Franziskaner, obwohl er sein abstraktes Schriftprinzip kritisch einsetzte, nicht nur die Autorität der Kirche als Ordnungsmacht verstärkt (Bonaventura, Duns Scotus), sondern auch ihr Monopol der Schriftauslegung gefestigt (J. Gerson), doch erst in der Abwehr des reformatorischen Schriftprinzips ordnete die römische Kirche die schriftlid:ten und mündlid:ten Traditionen (Plur.) dem gesetzlich verstandenen Lehrbuch der Bibel gleich. Das Konzil von Trient erklärte 1546, daß "alle Heilswahrheit und sittliche Ordnung", die aus dem Evangelium quelle, "enthalten ist in geschriebenen Büchern und in ungeschriebenen Überlieferungen, die von den Aposteln aus Christi eigenem Munde empfangen wurden, oder von den Aposteln selbst nach dem Diktat des hl. Geistes gleichsam von Hand zu Hand überliefert und so bis zu uns gekommen sind". Das Konzil erklärt, daß es beide (d. h. Bibel und Tradition) "mit gleicher Pietät und Ehrfurcht annehme und ehre". "Der hl. Mutter Kirche kommt es zu, über den wahren Sinn und die Auslegung der hl. Schrift zu urteilen." Niemand darf sie gegen das Verständnis der Kird:te und die einmütige Meinung der Väter auslegen (Sess. IV: Denz. 32 , 1501 ff.). Das Vatikanische Konzil hat 1870 sogar die Tradition der im Papsttum repräsentierten Kirche unterworfen (Sess. IV: Denz. 3050 ff.). Damit wurde die Schriftautorität praktisch entkräftet (Leo XIII.: Enz. "Providentissimus Deus" von 1893: Denz. 3280 ff.).lmmerhin behauptet 1920 Benedikt XV. für ihren gesamten Inhalt Inspiration und Irrtumslosigkeit (Enz. "Spiritus Paraclitus": Denz. 3652 ff.). Pius XII. forderte noch 1943 in einer auf diesen Grundsätzen ruhenden "Hermeneutik" zum vertieften Bibelstudium auf und ordnete Litteralsinn (ß) und geistlichen Sinn (a) ein3 Kücmann, Kanon
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ander zu (Enz. "Divino afflante Spiritu": Denz. 3825 ff.). Trotzdem wurde mit der Defmition des Dogmas von der leiblichen Himmelfahrt Marias 1950 (Const. Apost. "Munificentissimus Deus": Denz. 3900 ff.) schließlich sogar die das Schriftverständnis bisher regulierende Tradition zugunsten des Kirchlichen Lehramtes radikal problematisiert. Nach wie vor gilt jedoch die Bibel "bloß" als "schriftliches Depositum" oder I "urkundliche Quelle des Glaubens" innerhalb eines Entwicklungsprozesses, der Offenbarung und Uberlieferung genetischorganisch verbindet. Die autoritäre Erklärung des "lebendigen, permanenten Lehrapostolats" sorgt als "souveräne und direkte Regel" für ihre Auslegung und disziplinäre Anwendung. Die Bibel ist "dem Buche der Natur ähnlich", aber in weit höherem Sinne und Grade, "ein objektiv vor die Augen des Menschen gestelltes Kunstwerk, ein Gemälde und Drama der göttlichen Weisheit" zur "Anregung" mannigfachster Erkenntnisse und zur "Veranschaulichung" der übernatürlichen Welt (M. J. Scheeben, Nr. 267; 271; 240). Die orthodoxe Kirche glaubt, daß sie selbst "keine geringere Zeugenkraft hat als die hl. Schrift. Denn da der Urheber von beiden der gleiche hl. Geist ist, ist es dasselbe, ob du von der Schrift oder von der katholischen [ = orthodoxen] Kirche belehrt wirst" (Bekenntnis des Dositheus, 1672). Das von den sieben alten ökumenischen Konzilen (325-787) abschließend festgelegte Dogma enthält die unwandelbare Lehre der Schrift. Ihre im Dogma fixierte Kraft durchwaltet das gesamte Dasein in Kultus und Frömmigkeit. Sie legt sich aus in der hl. Kirche, ihren Liedern und Heiligenlegenden. Durch die Ikonen, in denen sich die Abgebildeten inkarniert vergegenwärtigen, durch das mit Küssen verehrte Evangelienbuch, durch die Dramatik des Gottesdienstes vollzieht sich das in der Bibel beschriebene Heilsgeschehen vom Anfang bis zum Ende der Weltgeschichte. Die im Evangelium aufgezeichnete Fleischwerdung des Logos bewirkt Vergottung des Menschen, Heiligung der Kreatur, Verklärung des Kosmos. Zwischen Schrift, Uberlieferung und Werk der Kirche besteht vollkommene Ubereinstimmung. Alle drei sind äußerlich, innerlich ist nur der Geist Gottes. "Die Schrift hat keine Grenzen, denn jede Schrift, welche die Kirche als die ihre anerkennt, ist hl. Schrift" (A. Chomjakow, 1840). Im Leben des Kirchenvolkes spielt die Bibel eine untergeordnete Rolle. Da sie schwerverständlich ist, braucht sie nicht von allen Gläubigen gelesen zu werden. Ihren zentralen Ort hat sie im liturgischen Geschehen. Ihre Worte, Gedanken, Gestalten durchtränken die liturgischen Texte.Ihre Energien ereignen sich real im Gottesdienst. Ihren Sinn versucht man- unter Ablehnung des "reinen Biblizismus" (des 18. und 19. Jahrhunderts) - in intensiverer Predigtarbeit zu erschließen.
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4. Kritische Bibelforschung Im Gegenschlag gegen jedes dogmatisch gebundene Bibelverständnis werden die Impulse des Humanismus und der durch ihn befruchteten I Sprachforschung, aber auch die des Sozianismus, des Arminianismus (H. Grotius) und des englischen Deismus (Cherbury, J. Locke, J. Toland, M. Lindal, Th. Chubb usw.) in allen Kirchen und Konfessionen virulent. Wirkte der Rationalismus in den orthodoxen Systemen mehr konstruktiv, so trat fortan seine kritisch, destruktive Kraft hervor. Der Jude B. Spinoza (t 1677) formuliert als erster die Prinzipien der literar-historischen Bibelkritik. Der französische Oratorianer Richard Sirnon (t 1712) versteht die Bibel als Literaturwerk und entdeckt hinter dem Werden ihrer Schriften die Entstehung schriftlicher und mündlicher überlieferungen. Die Umwälzungen auf den Gebieten der allgemeinen Welterkenntnis und der Naturwissenschaften (Kopernikus im 17., Kant im 18. und Darwin im 19. Jahrhundert) radikalisieren die neu entstehende historisch-kritische Bibelforschung, provozieren aber zugleich die negative Reaktion der Kirche. Im Zuge der Aufklärung, die die Leitbcgriffe "Natur und Vernunft" zum Siege führt, versucht J. S. Semler (t 1791) die biblische Geschichte von dogmatischer überfremdung zu befreien und- wie bereits R. Bacon im Mittelalter- zwischen historischer und dogmatischer (bzw. erbaulicher) Exegese zu unterscheiden. Indem man die Theorie von der Verbalinspiration als biblische Randaussage erkennt, fmdet man zugleich zurück zum geschichtlichen Charakter der Bibel und ringt um Auslegungsmethoden, die ihrem Verständnis angemessen sind. Die philosophisch-historische Forschung betrachtet die Bibel primär als Quellensammlung. Rationalistische Elemente und Haß gegen die Religion (H. S. Reimarus, t 1768; Wolfenbütteler Fragmente 1774 ff.) misd:J.en sich mit spiritualistischen Tendenzen und Liebe zur Wahrheit. FürG. E. Lessing gilt: "Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion." Die Bibel enthält die Elementarbücher des Alten und Neuen Testaments, über deren "Staffeln" die ewige Vorsehung die "Erziehung des Menschengeschlechts" betreibt, bis hin zur höchsten Stufe der Aufklärung, der Zeit der Vollendung. J. G. Herder (t 1803) lehrt die Bibel, als "ein Buch durch Mensd:J.en für Menschen gesd:J.rieben", menschlich zu lesen und erlaßt das geschichtliche Moment kräftiger. Fr. D. Schleiermacher - nicht nur Wissenschaftler, sondern auch bedeutender Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitskirche (t 1834)- entwickelt aus der Analyse des Verstehens- Sprad:J.e und Denken unterscheidend - zum ersten Male eine allgemeine moderne Hermeneutik. Nach ihm begründet nid:J.t das Ansehen der hl. Schrift den Glauben an Christus, sondern umgekehrt setzt jene diesen J•
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voraus. Erst im 19. Jh. kommen infolge der sich verfeinemden historischen Methode rationalistische Postulate zur Wirkung: die Texte J der Bibel sollen, wie andere Schriften des Altertums, mittels der Momente der Kritik, Analogie und Korrelation aus dem allgemeinen Kausalzusammenhang immanenten Geschehens erklärt werden. (b) Allerdings wird das historische Verstehen der Bibel zwiefach getrübt: (1) durch das Aufkommen der modernen Wissenschaftsidee, die seit dem 18. Jahrhundert an den Naturwissenschaften orientiert ist und objektive Dinge exakt erfassen, logisch beweisen, mathematisch formulieren will (R. Descartes, G. W. Leibniz, I. Kant) und in der Bibel "ewige Wahrheiten" zu finden meint (Rationalismus). Die Bibel bezeugt aber den Ungegenständlichen, Unverrechenbaren, Unverfügbaren, der nicht erklärt werden kann, sondern verstanden werden will. Die andere Trübung (2) erfolgt durch die Geistphilosophie, die neuplatonischer Überlieferung entstammt, christliche Erfahrungen säkularisiert und die Bibel als Niederschlag antiker und spätantiker vorderorientalischer Religiosität auffaßt (Idealismus). - Die Bibel ist aber etwas anderes und mehr als eine Sammlung religiöser Dokumente.- Beide Eintrübngen werden um so bedenklicher, als zu gleicher Zeit die Einheit des biblischen Kanons faktisch zerfällt. Das Auseinandertreten der Wissenschaft des Alten und der des Neuen Testaments hat weniger methodische Gründe (Arbeitsteilung) als gnmdsätzlime. Durm sie wird die Preisgabe des biblischen Kanons drastisch dokumentiert. Der Verbindung beider Eintrübungen liegen antidogmatisme, aber dogmatism begründete Ressentiments zugrunde, die unter dem mißverständlichen Begriff der "liberalen Theologie" zusammengefaßt wurden.
f. Historisch-kritische Forschung Noch unter ihrer Herrschaft kommt es zur echten Hinwendung zur Geschichte, von der aus allein die Einheitlichkeit der Bibel wiedergewonnen werden kann. Sie vollzieht sich in drei Etappen: (a) Die rein-historische Tendenzforschung bedient sich vorwiegend analytism der Literarkritik. Im Alten Testament untersucht J. Weilhausen (f 1918) die Geschichte des Volkes Israel, im Neuen Testament D. Fr. Strauß (t 1874) das "Leben Jesu" und F. Chr. Baur (t 1860) die Entstehung des Urchristentums. Alle drei sind unterschiedlich durm Hegels Geschichtsphilosophie beeinflußt. Individuen und Institutionen müssen von Ideen her verstanden werden. Trotz der Abwertung großer Teile der biblischen Überlieferungen als unhistarisch bzw. mythoJlogisch bleibt als Ertrag die Einsicht in die Vielschichtigkeit der biblischen Quellen, die zeitlich z. T. weit auseinan-
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derliegen. Im Alten Testament erzielt die seit dem 18. Jahrhundert in Fluß geratene Pentateuch-Kritik in Heraushebung verschiedener Quellen relative Gewißheit (J. Wellhausen). Im Neuen Testament erreicht die Evangelienkritik die Anerkennung der Zweiquellentheorie: die Annahme der Erzählungs- (Mk.) und der Spruchsammlung (Q) (H. J. Holtzmann). (b) Die religionsgeschichtliche Forschung sucht die Einseitigkeit der literarkritischen Methode ergänzend zu regulieren. Ideen und Institutionen werden vom Individuellen her verstanden. Für das Alte Testament haben u. a. H. Gunkel (t 1932), für das Neue Testament u. a. 0. Pfleiderer (t 1908) und W. Bousset (t 1920) die Anschauungen der biblischen Schriften aus ihrer religiösen Umwelt zu interpretieren versucht. So veranschaulichen ägyptische, babylonische, hethitische, kanaanäische Einflüsse die Eigenart des Alten Testaments, indoiranische, hellenistische, gnostische, rabbinische, essenische Elemente (Handschrifteniunde von Qumran) die des Neuen Testaments. Die Erforschung des Spätjudentums, besonders seiner Apokalyptik, rückt beide Testamente wieder näher aneinander. Darüber hinaus hat die Archäologie durch Funde und Ausgrabungen Lebensräume vergangener Kulturen mit ihren Denkmälern, Literaturen und Mythologien entdeckt, deren Kenntnis für das Verständnis der Bibel unerläßlich ist. In Abgrenzung gegen die Religionsgeschichte gewinnt die "konsequente Eschatologie" (J. Weiß, Alb. Schweitzer) die Erkenntnis, daß das Neue Testament in seinen Grundbestandteilen ein eschatologisches Buch ist. (c) Zugleich mit der zur reformatorischen Exegese zurückrufenden (dialektischen) "Theologie des Wortes" (K. Barth) vollzieht sich nach dem 1. Weltkrieg eine Rückwendung zur geschichtlich-theologischen Betrachtung, die Wende vom Liberalismus zum Kritizismus. Ideen und Individuen werden von den Institutionen her verstanden. Ältere theologische Tendenzen kommen in der form- und überlieferungsgeschichtlichen Forschung zur Geltung. Bereits im Alten Testament von H. Gunkel angewandt (später von A. Alt, M. Noth, G. v. Rad), wird sie durch M. Dibelius, R. Buhmann, K. L. Schmidt in der synoptischen Kritik des Neuen Testaments durchgeführt. Den Kernbestandteil der Evangelien bilden nicht historische Protokolle, sondern mündlich überlieferte "Perikopen" (Sprüche und Erzählungen), die ihren ursprünglichen "Sitz im Leben" in Gottesdienst, Missionspredigt, Unterweisung, aber auch in Apologetik, Polemik, schriftgelehrter Arbeit, Gelmeindedisziplin usw. haben. Ihre Absicht ist nicht, historische Ereignisse aufzuzeichnen, sondern dogmatisch-erbaulich zu belehren. Ihre spätere Zusammenfassung und Rahmung zu Gruppen oder endlich zum Evangelienbuch ist sekundäres Werk der glauben-
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den Gemeinde. Indem man innerhalb der Bibel, mittels differenzierter Methoden literarisd:J.e Formen und Gattungen und ihre Oberlieferung verständlich mad:J.en kann, tritt die ursprünglid:J.e Botschaft (Kerygma) nad:J.Inhalt und Tendenz überzeugender hervor. Die historisch-kritisd:J.e Forsd:J.ung hat im Zuge zunehmender Spezialisierung Hervorragendes geleistet, indem sie den Text, die Textkritik (K. v. Tisd:J.endorf; B. F. Westcott, J. A. Hort, B. H. Streeter), die Sprad:J.e, die literarisd:J.en Formen, die Bildung des Kanons usw. gesd:J.id:J.tlich erfaßte. Jeder Bibelleser lebt von den mühsam gewonnenen Früd:J.ten zäher Kleinarbeit. Gilt es doch, aus der Fülle von Bibelhandschriften, deren ungeheure Zahl immer noch wächst (vgl. die Papyri- und Qumranfunde), den bestmöglichen Bibeltext herzustellen.
V. Gegenwärtige Fragestellungen Für die gegenwärtige Bibelwissenschaft5 ist damit die theologisd:J.e Fragestellung in den Vordergrund gerückt. Voraussetzung jedersachE. v. Dobschütz, Vom Auslegen in Sonderheit des Neuen Testaments ((1922] K. Girgensohn, Die Inspiration der hl. Schrift (1925); E. Fascher, Vom Verstehen des Neuen Testaments (1930); ders., Textgeschichte als hermeneutisches Problem (1953); E. Schaeder, Das Wort Gottes, BFChTh 2, 22 (1930), 111-128; Fr. Torm, Hermeneutik des Neuen Testaments (1930); A. Oepke, Geschichtliche und übergeschichtliche Schriftauslegung ([1931] 1 1947); R. Bultmann, Glauben und Verstehen I (1933) 85-113, 153-187, 268-293; II (1952) 211-235; H. Echtenuu:h, Es stehet geschrieben (1937); K. Barth, KD 1/2 (1938), §§ 19-21; KD IV /1 (1953), 182 f., 404 ff., 804 f.; W. Zimmerli, Auslegung des Alten Testaments, in: ThB119 (194<>), 145-157; E. Brunner, Offenbarung und Vernunft (1941), 117 ff. - H. H. Rowley, The Relevance of the Bible (London 1942); A. Hunter, The Unity of the New Testament (London (1943] 11946); H. Cun.liffe-Jones, The Authority of the Biblical Revelation (London 1945); C. H. Dodd, The Bible To-day (1947); 0. Eißfeldt, Geschichtliches und Obergeschichtliches im Alten Testament (1947); A. G. Hebert, Scripture and the Faith (London 1947); R. Bring, A. Fridrichsen, H. J. Lindroth, 0. Linton, A. Nygren, E. Sjöberg, in: En bok om bibeln (Lund 1947); G. Wingren, Predikan (Lund 1949); R. Bring, Kristendomstolkningar (Stockholm 1950); E. Dinlr.ler, Bibelautorität und Bibelkritik, in: ZThK 47 (1950), 70-93 (auch in SGV 193 (1950] erschienen); G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen 1
1 1927);
Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: ZThK 47 (1950), 1-46 ders., Wort und Glaube (1960), 1-49; E. Kiisemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: EvTh 11 (1951/52), 13-21; ders., Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: EvTh 12 (1952/53), 455-466 = Exegetische Versuche und Besinnungen I (1 1961), 224--236; G. Gloege, Mythologie und Luthertum ([1952] 1 1963); R. Hauge, GudsAbenbaring og troslydighet (Oslo 1952), 155 ff.; Fr. Baumgärtel, Verheißung (1952); G. v. Rad, Typologische Auslegung des Alten Testaments, in: EvTh 12 (1952/53), 17-33; R. Josefson, Bibelns auktoritet (Stockholm 1953); A. N. Wilder, Biblical Hermeneutic and American Scholarship, in: Neutestamentliche Studien für Rud. Buhmann, BZNW 21 (1954), 24--32; A. A. v. Ruler, Die christliche Kirche und das Alte Testament (1955); T. Aultrust, Forkynnelse og historie (Oslo 1956); W. Eichrodt, Ist die typo-
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gemäßen Exegese ist die radikale Preisgabe einer illusionären Unverjbindlichkeit des Exegeten und die Übernahme wissenschaftlicher Verantwortlichkeit im Raume kirchlicher Existenz. Während in der Wissenschaft vom Alten Testament heute ein weitgehender Arbeitskonsensus prinzipieller Art erreicht ist, stehen sich in der Erforschung des Neuen Testaments zwei "Richtungen" gegenüber. Während die eine sich stärker am Rahbinismus ausrichtet, repräsentiert durch P. Billerbecks "Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch", und mehr "konservativ" wirkt (A. Schlatter, G. Kittel, J. Jeremias, 0. Michel, E. Stauffer), orientiert sich die andere mehr an den hellenistisch-gnostischen Einflüssen (R. Buhmann, E. Käsemann, G. Bornkamm., H. Braun u. a.). Methodisch ausgleichend wirkt die Formgeschichte. Durch die Kritik R. Bultmanns und seiner Schüler erhalten die Fragen der Hermeneutik besonderes Gewicht. Über die "existentiale Interpretation" (R. Bultmanns "Entmythologisierung"!) hinaus gilt es zu einer bereits von J. Schniewind (f 1948) geforderten existentiellen Auslegung vorzudringen, die das Zueinander von Theologie I("Idee"), Person ("Individuum") und Gemeinde ("Institution") berücksichtigt. Historische und theologische Problematik beginnen sich wechselseitig zu befruchten. Zwar legt man einerseits den Ton auf das "Kerygma", das ohne historischen Gehalt inhaltlich zu "verdampfen" droht, während man andererseits die "Heilstatsachen" betont, diepositivistisch verstanden -zur "Realtheologie" zu erstarren drohen. Dennoch spiegelt sich in der Spannung zwischen Botschaft (a) und Geschichte (ß) in neuer Form die alte Polarität von spiritus (a) und logische Exegese sachgemäße Exegese?, in: ThLZ 81 (1956), 641-654; R. Prenter, Die systematische Theologie und das Problem der Bibelauslegung, ebd. 577-586; H. W. Wolf!, Zur Hermeneutik des Alten Testaments, in: EvTh 16 (1956), 337 bis 370; R. Hermann, Gotteswort und Menschenwort in der Bibel (1956); H. Diem, Was heißt schriftgemäß? (1958); ders., Der Theologe zwischen Text und Predigt, in: EvTh 18 (1958), 289-302; G. Ebeling, Wort Gottes und Hermeneutik, in: ZThK 56 (1959), 224-251 = ders., Wort und Glaube (1960), 319-348; R. Hermann, Offenbarung, Wort und Texte, in: EvTh 19 (1959), 99-116; W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: KuD 5 (1959), 218-237, 259-288; Cl. Westermann (Hrsg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, ThB 11 (1960) (Lit.verz.: S. 363-366); G. Bornkamm, Geschimte und Glaube im Neuen Testament, in: EvTh 22 (1962), 1-15; 1. Moltmann, Exegese und Eschatologie der Geschichte, ebd. 31-66; Cl. Westermann, Was ist eine exegetische Aussage?, in: ZThK 59 (1962), 1-15; H. W. Wolf!, Das Alte Testament und das Problem der existentialen Interpretation, in: EvTh 23 (1963), 1-30; Ed. Schweizer, Die historisch-kritische Bibelwissenschaft und die Verkündigungsaufgabe der Kirche, ebd. 31-34; Komelis H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments (1963); K. Koch, Was ist Formgeschichte? (1964); F. Mildenberger, Gottes Tat im Wort (1964); James Ban, The Semantics of Biblical Langnage (Oxford 1961); dt.: Bibelexegese und moderne Semantik {1965).
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littera (ß) wider. Der Nachweis, daß die Bibel doch "recht hat", ist nicht durch archäologische Funde zu erbringen (denn sie beziehen sidt auf etwas, worüber uns die Bibel nicht informieren will), sondern allein durch das Zeugnis der Verkündigung und den Glauben, der sich freudig empfängt (denn sie beziehen sich auf die Rechtfertigung des Menschen und der Welt durch Christus). Für die gesamte Bibelforschung gilt es, in der Detailforschung den Grundsatz zu erproben: die Bibel hat- analog der Gottmenschlichkeit Jesu Christi - "zwei Naturen". Sie ist einerseits ganz und gar "Bibel", d. h. Menschenwort, das Gottes einst ergangene Tatrede bezeugt, Sammlung von Glaubensaussagen und Berichten über Offenbarung, Denkmal einer Vergangenheit. Und sie ist andererseits ganz und gar "hl. Schrift", d. h. Gotteswort in menschlicher Knedltsgestalt, Ausdruck seines Herrenwillens: bestimmende Macht für Gegenwart und Zukunft. Das bedeutet praktisch für die Kirche wie für jeden einzelnen Christen: "in, mit und unter" der Bibel (ß) als einer Sammlung antiker religiöser Urkunden glauben wir dem Rufe der Schrift (a), in der Gott selbst redet durch den Sohn im hl. Geist. - Es ist dreierlei zu bedenken: (1) Die Bibel ist nicht Sammlung historischer Protokolle über die Entstehung von Welt und Mensch, Natur und Geschichte zu lnformationszwecken, sondern das Buch der Kirche, "Urkunde für den
Vollzug der kirchengründenden Predigt" (M. Kähler). Ihr Redestil ist nicht die informierendeAussage über etwas, sondern die appellierende Ansage an den Menschen (Kerygma). (2) Die Bibel ist begründet in Gottes geschehender Verkündigung seines Gerichtes und Heiles (Gesetz und Evangelium). Sie zielt zugleich auf Sendung, auf Missionierung der Welt. Als Mittel der universalen Botschaft der Kirdte ist sie das Buch der Menschheit (Mission). (3) Die Bibel bedarf, indem sie Gottes Geschichte mit der Welt immer neu aktualisieren will, ständig der rechten Auslegung. Der Text Ihat seinen Sinn auszusagen, der Buchstabe den Geist zu entbinden, die "Note" den Ton hörbar zu machen (Interpretation). Die Kirche weiß mit Luther, daß Gott und die Bibel wie Schöpfer und Geschöpf voneinander zu unterscheiden (WA 18, 606, 11 f. BoA 3, 101, 4 f.: "duae res sunt Deus et Scriptura Dei"), aber auch stets aufeinander zu beziehen sind. Daher weiß sie sich an die Geschichte gewiesen, in deren Medium sich Gott und Mensch treffen. Die Theologie sollte wissen, daß der geistliche Sinn der Bibel (a) nicht am historisch überlieferten Text (ß) vorbei zu erfragen ist, sondern nur in ihm selbst gefunden wird. "Richtige Pneumatik und richtige Historik sind unlöslich beieinander" (Ad. Schlauer).
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Die Krisis des Kanons der Kirche* Joh. Gerhards und Joh. Sal. SemZers Erbe
I. Eine schleidzende Krankheit der evangelischen Theologie und damit der evangelischen Kirche ist die Unklarheit ihres Verhältnisses zu den Urkunden ihres Ursprungs, also zum Bibelkanon, genauer dessen ungeschichtliches, nämlich intellektualistisch-juridisches Mißverständnis und seine Auswirkungen. In Luthers Kampf gegen die mittelalterliche Kirche bildete die im Sinne des evangelischen Grundartikels von der Rechtfertigung (Art. Smalc. II) verstandene hl. Schrift die Grundlage seiner eigenen inneren Stellung und daher aucl:t der Ausgangspunkt seines Angriffs und seiner Verteidigung. Es genügt nicht, einfach zu sagen, die hl. Schrift oder auch das Neue Testament sei diese Grundlage gewesen. Es muß heißen: Die im Sinne des evangelischen Grundartikels verstandene hl. Schrift. Denn Luther wurde der Reformator nicht dadurch, daß er die hl. Schrift entdeckte, sondern dadurch, daß ihm wie in einer plötzlicl:ten Erleuchtung der Schlüssel zu ihrem Verständnis- eben im Rechtfertigungsglauben-geschenkt wurde. Den Bibelkanon hat er von der mittelalterlichen Kircl:te geerbt. Aber der half ihm nicht in seinen Seelennöten. Als er jedocl:t in Röm 1, 17 den Kanon des Kanons entdeckte, da war ihm geholfen1• I Darum wenn Luther in seiner Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Kirche schlechterdings keine Autorität gelten lassen wollte als die hl. Schrift, so folgt daraus nicht, daß er gewillt gewesen wäre oder hätte sein müssen, alles, was zur Bibel gerecl:tnet wurde, als eine • Ersbnals veröffentlicht in: ThBl 00, J. C. Hinrichs-Verlag, Leipzig 1941~ Sp. 295-310. 1 Dieses Verhältnis von Bibelkanon und Rechtfertigungsglauben spiegelt z. B. die Apologie der C. A. wenigstens im deutachen Text IV 2 f. (M 80) deutlich wieder: Dieweil aber solcher Zank ist über dem höduten fürnehmsten Artikel der ganzen christl. Lehre, also daß an diesem Artikel ganz viel gelegen ist, welcher auch zu klarem richtigen Verstande der ganzen hl. Schrift fürnehmlich dienet, und zu dem unaussprechlichen Schatz und dem rechten Erkenntnis Christi allein den Weg weiset, auch in die ganze Bibel allein die Tür auftut, ohne welchen Artikel auch kein arm Gewissen ein rec:hten ... Trost haben ... mag etc.
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in sich gleichwertige und gleichgewichtige Masse anzusehen und sich jedem Buchstaben ohne weiteres zu fügen, wenn es auch bisweilen den Anschein hatte. Seine erstaunlich freimütigen Urteile über einzelne Teile der Bibel und gerade auch des Neuen Testaments beweisen das. Die klassische Formulierung seines Verhältnisses zur Bibel fmdet sich bekanntlich in der Vorrede zum Jakobusbrief v. J. 1522: "Darin stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein, daß sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man sieht, ob sie Christum treiben oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeigt, Röm 3, 21, und St. Paulus nichts denn Christum wissen will, 1. Kor 2, 2. Was Christum nicht lehrt, das ist noch nicht apostolisch, wenn's gleichSt. Petrus oder Paulus lehrte. Wiederum, was Christum predigt, das wäre apostolism, wenn's gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte." Das Verhältnis dessen, was man später als Formal- und Materialprinzip der Reformation unterschied, verstand Luther demnach dialektisch. Darin offenbart sich die lebendige Ursprünglichkeit seines Glaubens und ist seine kühne Freiheit gegenüber allem Buchstabenwesen begründet. Dieses dialektische Verständnis der Schriftautorität, das damit gegebene Verhältnis freier Gebundenheit wich jedoch in der Folgezeit mehr und mehr einem intellektualistisch-juridischen. Die heftigen dogmatischen Streitigkeiten mit den Römischen, mit schwärmerischen und anderen Richtungen und im eigenen Lager der Evangelischen führten folgerichtig in der Konkordienformel zur scharfen Herausstellung der hl. Schrift als des allein anzuerkennenden Erkenntnisprinzips (vgl. besonders Epitome, De compendiaria regula atque norma 1. 7 u. 8). Aber davon, daß es auch für Verständnis und Wertung des Kanons einen Kanon gebe, ist nicht die Rede. Der dialektische Charakter des ursprünglich-reformatorischen Verständnisses der Schriftautorität kommt nicht zum Ausdruck2 • Die Erinnerung an die ungünstigen Urteile Luthers über einige Schriften auch des neutestamentlichen Kanons lebte zwar noch fort. Aber der Unterschied zwischen kanonischen und apokryphen Schriften des Neuen Testaments wurde selbst von Chemnitz (t 1586), der noch entschieden an ihm festhielt, keineswegs mehr in der religiösen Weise Luthers, sondern äußerlich-historistisch mit dem Mangel eines völlig einheitlichen Urteils der christlichen Urzeit über diese Schriften begründet (Exam. conc. Trid. I 92). Job. Gerhard (t 1637) wollte die Gegenüberstellung von kanonischen und apokryphen Schriften des Neuen Testaments lieber durch die Unterscheidung von kanonischen Büchern erster und zweiter Ordnung ersetzt wissen (Loci theol. li 186). "Kanonisch" waren 1 Der später formulierte Grundsatz der Auslegung der Schrift secundum analogiam fidei ist dafür kein Ersatz.
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sie beide. Man sprach dann von protokanonischen und deuterokanonischen Schriften (Quenstedt). Das hatte aber nur die Bedeutung einer Erinnerung daran, daß über die menschlichen auctores secundarü der zweiten Gruppe hie und da in der alten Kirche Zweifel zutage getreten waren. Über den auctor primarius, nämlich den hl. Geist, und darum auch über die Autorität dieser Schriften habe es dagegen keinen Zweifel gegeben. Es war nur folgerichtig, daß man die ganze Unterscheidung zuletzt als dogmatisch unerheblich beiseite schob3 • Einer Theologie, deren Interesse nicht auf das gelschichtliehe Verständnis der Bibel und besonders des Neuen Testaments, sondern allein darauf gerichtet war, sie als die von keiner Unsicherheit bedrohte Urkunde der göttlichen Offenbarung darüber, was der das ewige Heil erstrebende Mensch zu glauben und zu tun hat, als principium cognoscendi zu erweisen und sicherzustellen, konnte an solchen Unterscheidungen nichts liegen. Um so energischer wurde die Lehre von der hl. Schrift als dem principium cognoscendi certissimum ausgebaut. Das ist sie, weil Gott selbst ihr eigentlicher und alleiniger Urheber ist, der seine Offenbarung eben darum schriftlich niederlegen ließ, weil die Reinheit der Lehre gegen jede Entstellung gesichert werden mußte. Die hl. Schrift ist instrumenturn publicum, eine öffentliche Beweisurkunde, dei auctoritate, iussu ac mandato perscriptum. Die Aufzeichnung erfolgte freilich durch menschliche Schriftsteller, die aber, ohne aus Eigenem etwas hinzuzufügen, nur niederschrieben, was vom hl. Geist ihnen eingegeben war, - bloße amanuenses dei oder notarii des hl. Geistes. Dessen Autorität deckt also den gesamten Inhalt bis in alle Einzelheiten. Keinerlei Irrtum, auch nicht in Nebensächlichkeiten, keinerlei Unvollkommenheit, auch nicht nach der sprachlich-formalen Seite hin, kann daher zugegeben werden. Weil die Bücher der hl. Schrift, und nur sie, so entstanden sind, darum also kommt ihnen und nur ihnen kanonische Autorität zu, d. h. es darf in keiner Weise, weder in Abstrichen noch durch Zutaten von ihnen abgewichen werden. Der Kanon steht mit seinem ganzen Inhalt als unverbrüchliches Gesetz da, an welchem die gesamte kirchliche Lehre auszurichten ist. Was Gott in seinem Wort geoffenbart hat, ist untrüglich wahr et reverenter credendum et amplectendum (Gerhard). Hinter dieses Prinzip kann nicht zurückgegangen werden. Zur Rechtfertigung dieser Lehre von der Schrift berief man sich - mit recht sorgloser Exegese - auf einige mehr oder weniger entlegene Bibelstellen, besonders 2. Tim 3. 16 und 2. Petr 1, 21, die freiDie Belegstellen findet man am bequemsten bei Heinr. Schmid, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche, § 12 Kanon u. Apokryphen. Hier benutzt in der 5. Au.ß. (1863). -Zu der ganzen Entwicklung vgl. H. E. Weber, Reformation, Orthodoxie u. Rationalismus I 2 {1940) bes. S. 260 ff. 1
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lieh höchstens den Wert von Selbstzeugnissen haben konnten. Aber ein eigentlicher "Beweis" für das Recht dieses Bibelglaubens konnte naturgemäß überhaupt nicht geführt werden. Man konnte sich nur auf das testimonium spiritus sancti, also auf die persönliche innere Erfahrung berufen, die aus der hl. Schrift das Wort Gottes vernimmt, von ihm getroffen wird und sich zum Glauben führen läßt. So überzeugt die hl. Schrift von sich selbst den, dem es gegeben wird. Das ist zwar ein Zirkel. Aber dieser Zirkel ist unvermeidlich. Denn das Verhältnis von Glaube und Bibel ist dialektisch. Was man darüber hinaus als innere und äußere Kriterien für die spezifische Qualität der kanonischen Schriften anführte, wie z. B. ihr Alter, die die biblischen Lehren bestätigenden Wunder, das Zeugnis der Kirche, das Zeugnis der Märtyrer, der Missionserfolg der Kirche usw., war ebenfalls nicht als Beweis, sondern höchstens als Ausrufungszeichen und Hinweis darauf anzusprechen, daß es mit diesen Schriften eine besondere Bewandtnis habe, und war auch nicht anders gemeint. Doch ist zu beachten, daß man bei der Frage der Zugehörigkeit der einzelnen Schriften zum Kanon des Neuen Testaments auf das Zeugnis der apostolischen Zeit über Herkunft und Charakter dieser Schriften - sie konnte am besten ihre Zuverlässigkeit und ihren Inspirationscharakter beurteilen- entscheidendes Gewicht legte. Doch glaubte man so die Autorität der hl. Schrift als einer unbe-
dingt zuverlässigen Norm und als der einzigen Norm für das, was christlich ist, genügend gesichert. Aber in Wirklichkeit war dies nur ein System von Postulaten. Diese Lehre hatte ihren Ursprung weder in der Wirklichkeit der Bibel, noch in der Erfahrung an und mit ihr, und zwar weder der Erfahrung des einzelnen, noch der Erfahrung der Kirche. Auf die Erfahrung des einzelnen wurde zwar mit dem Argument I des testimonium spiritus sancti zurückgegriffen. Aber dieses Argument ist offensichtlich völlig unfähig, von der göttlichen Inspiration und Autorität ganzer Schriften oder gar des Kanons zu überzeugen. Es reicht nicht weiter als die Wahrheit oder die Wirklichkeit, die den Betreffenden innerlich ergreift und überwindet. Der Antrieb zur Entwicklung der Lehre lag vielmehr in dem Postulat einer unbedingt zuverlässigen äußeren Autorität, eben eines instrumentum, einer Beweisurkunde, auf die man sich jederzeit berufen konnte. Zu diesem Zweck bediente sie sich des aus der jüdischen Theologie übernommenen und in der Zeit des Werdens des neutestamentlichen Kanons auf dessen Schriften ausgedehnten Theologumenons der lnspirationslehre, das man in einer bis dahin unbekannten Strenge und Exklusivität ausbaute, ohne sich dabei durch die widerstrebende Wirklichkeit, der dies System von Postulaten aufgezwungen werden sollte, stören zu lassen. Aber die Füße derer, die dies künstliche Ge-
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bäude abtragen sollten, standen bereits vor der Tür. Hollatz' (1648 bis 1713) Zeitgenosse war Richard Sirnon (1638-1712), dessen kritische Geschichte des Textes und der Obersetzungen des Neuen Testaments schon 1689 und 1690 erschienen war. Ihre Ubersetzung ins Deutsche zu veranlassen, hat Johann Salomo SemZer (1725-1791) im Interesse seines Kampfes gegen die herrschende orthodoxe Bibeltheorie noch nach Abschluß seines wichtigsten Werkes, nämlich der vierbändigen Abhandlung von freier Untersuchung des Kanon (1771 bis 1775), für nützlich gehalten (1776 f.).
li. Joh. Sal. Semler war keineswegs der erste in Deutschland, der seinen Angriff auf die orthodoxe Bibeltheorie richtete. Vor ihm tat das z. B. Job. Gottl. Toellner (t 1774). Aber Semlers Angriff, mit umfassender Gelehrsamkeit ausgeführt, war der wirksamste. Doch war es ihm gar nicht um Angriff zu tun. Vielmehr war seine Absicht, der Sache des Christentums zu dienen, indem er den Druck der Scbwie1igkeiten beseitigte, durch welche nach seinen Erfahrungen die orthodoxe Theorie jedenfalls die, welche auf eigenes Denken und Urteilen nicht verzichten wollten, dem Glauben entfremdete. Er sucht nichts "als die wahre und folglich leichtere Anempfehlung der christlichen Lehre und eignen Religion unter unsern Zeitgenossen", eine Aufgabe, die die Theologieprofessoren "zunächst befördern, und alle ihre Bemühungen dazu heiligen und ernstlich anwenden sollen" (I Vorr. 4 b). Er will mit seinen Untersuchungen über den Kanon "vielen redlimen Zeitgenossen aus ihrer unaufhörlichen Unzufriedenheit und innerlichen Unruhe so helfen, daß sie die lebendige Erkenntnis Gottes, und die treue Anwendung der leichten und göttlichen Lehre Jesu, ohne Anstoß, zu ihrer großen Beruhigung und inneren Uberzeugung, anwenden können" (II 14). Seine offene und ehrliche Prüfung langhergebrachter theologischer Theorien dient nur "der leichten und praktischen Einsicht und Annahme der wesentlichen Grundsätze des Christentums" (II 15). Er hat nur "die erhabene Absim t, die christliche wahre Religion nach ihrem göttlichen Grunde zu verteidigen und leichter auszubreiten, mitten unter den sogenannten Christen" (II 608. 581). Denn oft genug hat er beobachtet, daß viele unter dem Einfluß der traditionellen Gleichsetzung von Bibel und Christentum oder Bibel und Wort Gottes all' die Mängel, Schattenseiten und Menschlimkeiten, die sie an der Bibel wahrnehmen, für Mängel der christlieben Religion selbst halten und dann alles miteinander aufgeben (I 63 f.). Oft spricht Semler davon, daß er dieLeser aus der "Unmhe und Angst" befreien will, "in welche man sie
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durch Beibehaltung einer alten Lehrordnung, bisher gesetzt hat" (III 407), welche diese Bücher als ein Ganzes ansieht, das aus gleichartigen, gleichwertvollen und gleichverbindlichen Teilen besteht. Denn die gemeine ILehrart über den Kanon sei "der echtenBeförderungder christlichen inneren Religion, so den Wachstum in Vollkommenheiten des Verstandes so gut als des Willens mit sich bringt" weder nötig noch dienlich gewesen (I 20 f.). Und die konsequent und wahllos durmgeführte Bibellektüre - etwa in der Hausandacht - habe nur zur Folge, daß "der Christ sich gleichsam verkälte oder sich an dem sonst leichten Fortgang in seinem Wachstum hindere" (I 70). Wie den religiösen Nöten, die aus dem Druck der orthodoxen Bibeltheorie sich ergeben, will Semler zugleich dem Verfall der Theologie, ihrer Erstarrung in ödem Traditionalismus wehren, die in den gleimen Voraussetzungen wurzele. Immer wieder spottet er über die Eintönigkeit der Kompendienwissenschaft, die mit geschlossenen Augen an den Fragen vorübergeht, welche die geschichtliche Wirklichkeit dem erwachenden kritischen Sinn in den Weg legt, und die den erwachenden Geist des Individuums in ererbter Selbstverständlichkeit festzuhalten strebt. Demgegenüber vertritt Semler das Recht des Individuums auf kritische Prüfung, auf selbständiges Urteil und auf Freiheit der Auswahl der biblischen Schriften und Stoffe, von denen es wirkliche innere Förderung zu erwarten hat. Solche freie Prüfung und Erkenntnis wird "den Wachstum der christlichen Religion" nur fördern. "Der wählende Leser der kanonischen Schriften ist zu allen moralischen Vorzügen fähiger ... , was doch der Endzweck aller gehörig gegründeten und vernünftigen Religion ist", als der durch die traditionelle Lehrart gebundene (vgl. z. B. Vorrede zu I; 66. 125 f.; Vorr. zu III). Es ist mithin nichts weniger als die Wut des Aufklärens, was den "Vater der Aufklärung" bei seiner freien Untersuchung des Kanons getrieben und geleitet hat. Der Motor war vielmehr ein sehr positives, praktisch-religiöses, ja geradezu seelsorgerliebes Interesse und - in dessen Dienst - der Wunsch, die Theologie zu der geschichtlichen Wirklichkeit und zu den Aufgaben der historisch-kritischen Forschung zu rufen, die ihrer warteten. Semler zwang sie, der Krisis des Kanons ins Gesicht zu sehen, der sie sich gegenübergestellt fand. Zu diesem Zweck unterzog er die orthodoxe Bibeltheorie einer dreifachen Kritik, einer historischen, einer dogmatischen und einer religiösen. In der reichlich ungepflegten Schreibweise Semlers kreuzen sich zwar diese Gesichtspunkte beständig. Aber es dient der Ubersichtlichkeit, sie auseinanderzuhalten. Die orthodoxe Theorie vom Kanon ist nach Semler zunächst durchaus unhistorisch. Sie beruht auf unhaltbaren historischen Vorausset-
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zungen. Weder berücksichtigt sie den tatsächlichen historischen Befund, noch hat sie den Vorgang der Kanonsbildung richtig gedeutet. Die orthodoxe Theorie setzt eine im wesentlichen einstimmige Oberlieferung der Kirche, zumal der Alten Kirche, über Text, Entstehung und Bestand des Kanons voraus. Semler zeigt, daß dies eine geschichtswidrige dogmatische Fiktion ist. "Aber durch Konsequentien, durch Erdichtungen in abstracto aus der Mondwelt, wird für Kenntnisse, die ihrer Natur nach historisch sind und historisch bleiben, wenig nützlicher Einfluß erleichtert" - heißt es in Semlers schönem Deutsch (111 Vorr. 28 f.). Man stellt dogmatische Sätze über den Begriff des Kanons auf. Aber aus dogmatischen Abhandlungen entsteht keine Gewißheit über historische Vorgänge (vgl. z. B. 111 434). Die orthodoxe Bibeltheorie setzt zunächst einen sicheren Text voraus. Semler zeigt, daß es einen zweifellos sicheren Text des Neuen Testaments nicht gibt (vgl. z. B. 111 420). Was hilftdiekanonische Autorität, wenn man nicht sagen kann, welchem Text sie zukommt? Zu dieser Erkenntnis hat sich Semler selbst erst durchringen müssen. Das Comma Johanneum 1. Job 5, 7. 8 hat er in seiner Erstlingsschrift noch verteidigt, um einige Jahre I später seine Echtheit mit besseren Gründen zu bestreiten. Er ist dann nächst J. A. Bengel der Bahnbrecher der textkritischen Arbeit der deutschen Theologie geworden. Bei der Entstehung des Kanons sodann ist es sehr menschlich zugegangen. Zunächst gab es überhaupt keinen besonderen christlichen Kanon. Man übernahm den jüdischen. Dann hatten die einzelnen Gemeinden, Provinzen, Parteien je ihren eigenen Kanon, dessen Bestand von allerlei Willkürlichkeiten und Privatneigungen der Kirchenleiter abhängig war. Aus praktischen Gründen wurde allmählich ein Ausgleich herbeigeführt. Dabei ging es keineswegs immer sehr geistlich zu. Minderheiten wurden vergewaltigt. Diplomatische Rücksichten und Zweckmäßigkeitserwägungen spielten eine größere Rolle, als der später für entscheidend angesehene Gesichtspunkt des göttlichen Ursprungs. Ein völlig einheitliches Urteil wurde nie erzielt. Bei der sich oftmals wiederholenden Entwicklung dieser Gedanken entfaltet Semler die ganze Fülle seiner großen Gelehrsamkeit. Er geht- ein Bahnbrecher- die Kanonsgeschichte der ersten Jahrhunderte durch; er zeigt, wie verschieden die einzelnen Kirchen geurteilt, wie sie geschwankt und einander widersprochen haben, wie selbst päpstliche Entscheidungen - betr. II Macc. - in entgegengesetztem Sinn gefällt worden sind. Ergebnis: Es hat nie einen völlig gleichförmigen christlichen Kanon gegeben; zwischen Orient und Okzident ist eine gemeinsame Verabredung über den Kanon nie zustande gekommen. Auch im Okzident haben nie alle Gebiete einen übereinstimmenden Kanon besessen. Die Vorstellung also von der Einmütigkeit
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der Alten Kirche über den Bestand des Kanons ist historisch haltlos. Woraus alsbald das Recht des freien Urteils über den Kanon gefol.gert wird. Denn nach dem öfter zitierten Sprichwort "Tout ce qui varie est faux". Aber auch wenn die Dinge anders lägen, wäre damit noch nicht geholfen. Denn die Aufstellung des Kanons hatte durchaus nicht den Sinn, eine absolut unverbrüchliche Norm für Denken, Urteil und Verhalten der ganzen Gemeinde und jedes ihrer Glieder zu errichten. Sie war vielmehr ein kirchenregimentlieber Akt, der nur die gemeinsame öffentliche Religionsübung regeln wollte. Der Kanon war das kirebenregimentliehe Verzeichnis der gottesdienstlichen Vorlesebücher, auf .äußeren Zweckmäßigkeitsgründen und bischöflichen Abmachungen beruhend, ·daher nur mit äußerlicher Verbindlichkeit (externa obligatio li 513). Er war der Kanon der Kirchendiener, nicht aber der Kirchenglieder (I 19 f.). Der Privatgebrauch religiöser Bücher, die Privatreligion der einzelnen blieb davon unberührt. Nur der öffentlichen Verwirrung sollte durch den Kanon gesteuert werden. Er ist somit ein Stück der kirchlichen Theologie. Aber diese ist nicht dasselbe wie Religion. Diese ist im eigentlichen Sinne überhaupt nicht Sache
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von kein äußerliches oder historisches Zeugnis" (I 28 f. 244, 111 353). Ebensowenig vermag das Urteil von Kirchenversammlungen. Schon Gregor von Nazianz sprach von den Konzilien seiner Zeit als Versammlungen von Gänsen und Kranichen, unter denen er sich schäme zu erscheinen (I 230). Protestanten hätten vollends Grund, sich nicht auf solche Autoritäten zu berufen. Auch Aussagen der Apostel selbst sind in dieser Beziehung, wie Semler ausdrücklich hinzufügt, ohne Beweiskraft. Mit der Menge der sonstigen Beweise der Dogmatik steht es nicht besser. Man nennt die Wunder. Semler bestreitet sie nicht, ob er auch sein Urteil zurückhält. Aber möchten auch hie und da in der hl. Schrift enthaltene Lehren je und dann durch Wunder bestätigt sein- was ist damit gewonnen für Ursprung und Autorität des Buches, das von ihnen berichtet?- Man verweist auf die Erhabenheit und Heiligkeit der Lehre. Wo aber wäre in den Büchern Ruth oder Esra, dem Hohenlied oder dem Philemonbrief, ganz zu schweigen von der Apokalypse - dieses Buch hat der rohe jüdische Feuer- und Zorngeist ausgehaucht (I 252) - die Erhabenheit der Lehre? - Man nennt die Weissagungen, die erfüllt seien. Aber selbst wenn man sie zugeben wollte- wozu Semler keineswegs ohne weiteres bereit ist-, was beweisen die Weissagungen etwa der Genesis für die Chronik? - Man spricht von der Bekehrungskraft der Bibel. Spurgeon hoffte, im Himmel einmal Leute zu fmden, die durch die Geschlechtsregister der Genesis bekehrt worden wären. Aber Semler fragt, ob etwa durch diese Namenreihen, durch die Geschichten von Jephta und Simson, durch die Berichte von Heiraten und Feldzügen, wie sie jedes Volkes Geschichte aufweise, jemand zum Glauben gebracht sei. -Der apostolische Ursprung! Aber haben die Apostel nicht auch manche Zeilen gleichgiltigen Inhalts geschrieben? (vgl. z. B. 111 352). Übrigens stehe es mit der Überzeugung von der Göttlichkeit dieser Schriften schlecht genug, wenn sie von der historischen Gewißheit über die Verfasser abhänge. Denn hier blühte der Zweifel durch Jahrhunderte (111 360). -Die stets herangezogene Bibelstelle 2. Tim 3, 16 aber beweist so wenig, daß Paulus hier vielmehr criteria inspiratarum scripturarum hat an die Hand geben wollen (II 147) und somit den größten Teil des Alten Testaments, nämlich alles, was nicht zur Besserung nützlich ist, für nicht von Gott eingegeben erklärt! Wie etwa der fanatische "Roman" des Estherbuches oder die Kultusvorschriften des Levitikus zur Besserung nützlich sein sollten, ist ja doch nicht einzusehen I So zerpflückt Semler ein Argument der üblichen criteria, an denen sich die hl. Schrift als Wort Gottes bewähre, nach dem anderen. Einzig das testimonium spiritus sancti, das innere Oberzeugtwerden von dem Wahrheitsgehalt und Wert, die Förderung, welche man durch 4
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sie erfährt, kann die Autorität der hl. Schrift beweisen (II 39); vielmehr nicht der hl. Schrift, sondern nur der Stelle, um die es sich gerade handelt. Auf Esther, Ruth oder die Erzählung von Bileams Eselin wird sich dieses Argument nie erstrecken! "Dies ist der einzige rechte Beweis des göttlichen Ursprungs der Begriffe und Lehren; aber alle einzelnen Schriften und Teile derselben, die jetzt die Bibel heißen, trifft er nicht. Ich glaube auch nicht, daß Luther oder Melanchthon jemalen verlangt haben, Leser sollen sich überzeugen durch göttliche Kraft und Wirkung, von dem göttlichen I Ursprung der Erzählungen von Philistern, Simson, Boas, Esther usw." (II 73). Dies führt bereits zur religiösen Kritik hinüber. Gewiß hat auch die traditionelle Theorie der Frömmigkeit dienen wollen. Aber sie verkannte deren Bedürfnisse. Denn sie bedarf gar nicht solch eines Kanons. Wohl bedarf sie des Wortes Gottes. Aber, wie Sem.ler nicht müde wird zu wiederholen, das Wort Gottes ist nicht gleich scriptura sacra. Das Ursprüngliche ist die mündliche Predigt (I 216 f.). Die kanonischen Schriften sind nur ein Niederschlag des mündlichen Unterrichts. Des Kanons bedarf es also gar nicht. "Die Grundlehren des Christentums an und für sich konnten auch ohne Schriften und Bücher richtig und vollständig angenommen, verstanden und erklärt werden" (111 99). Wie lange haben manche Kirchen nur ein Evangelium gehabt! Aber sie entnahmen daraus dasselbe wie wir aus den vieren, geschweige denn, daß die Frömmigkeit des ganzen jüdischen Kanons mit seinen 24 Schriften bedürfte! Aber dieser Kanon in seiner Gesamtheit ist auch durchaus unfähig zu leisten, was man von ihm erwartet. Dienen etwa die Bücher Esra, Nehemia, Esther, Ruth, Richter, Chronik der "moralischen Ausbesserung"? Womit Semler bezeichnet, was man heute etwa sittlich-religiöse Förderung nennen würde. Hat man etwa aus den Geschichten von Jakob und Jephta einen inneren Gewinn? überhaupt- was geht uns das Alte Testament an? Es enthält die Geschichte des jüdischen Volkes. Aber das ist daher auch nur dessen Angelegenheit. Gewiß enthalten die alttestamentlichen Geschichten manche Wahrheiten. Aber sie sind verhüllt und verkapselt in Provinzialideen, Lokal-, Familien- und Zeitideen. Von alldem Vergänglichen sind sie nur schwer zu lösen. Die zeitgeschichtliche Einkleidung, die Verbindung mit den Idiotismen des jüdischen Wesens ist zu eng, Religion und bürgerliche Sozietät sind zu innig miteinander verknüpft, als daß nicht die gleiche Belehrung und Förderung anderwärts, zumal in der Geschichte der Christenheit, viel besser gefunden werden könnte als in "ausländischen", "hebräischen" Geschichten (z. B. I 65. 78 f. 239). Doch nicht nur das. Der jüdische Kanon ist vielfach geradezu minderwertig und schädlich. Der jüdische Haß gegen alle anderen Völker,
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wie ihn das BuchEsther atmet; die Hoffnung auf sinnliche Glückseligkeit in diesem Leben; die erotischen Schilderungen des Hohen Liedes - dieses und vieles sonst ist für unser religiöses Leben vielmehr nachteilig als förderlich. Bei den Juden selbst hat dieser Kanon vielfach den moralischen Fortschritt gehindert. "Für Christen aber ist es" - der Ausdruck ist Semler nicht zu stark - "unleugbar unanständig, eine so uneingeschränkte Hochachtung gegen alle Bücher, so die Juden unter ihrer Mikra begreifen, zu hegen, als wenn, wo sie nicht alle diese Bücher einem Einfluß Gottes beilegten und ihnen einen unaufhörlichen Nutzen, geistliche Wahrheiten daraus geradehin zu ihrer geistlichen Wohlfahrt zu lernen und anzuwenden, zuschrieben, alsdann der christlichen Religion wirklich so und soviel zu ihrer wahren Beschaffenheit und Brauchbarkeit fehlen würde" (I 108). Aber auch vor dem Neuen Testament macht Semlers religiöse Kritik durchaus nicht halt. Daß die Apokalypse "mit ihren groben und z. T. albernen Bildern und Malereien", "die niemand ehrlicherweise ... in Lehrsätze und Begriffe der christlichen Heiligkeit verwandeln kann" (I 155), im Neuen Testamente steht, ist ihm geradezu anstößig. Aber auch bei Paulus findet Semler manche Stücke, die mit dem wirklichen Christentum nichts zu tun haben, Reste jüdischen Denkens, Anschauungen, die nur als Akkomodation an den kleinen jüdischen Geist zu begreifen sind. Die Beschreibung z. B. des Werkes Christi als Erlösung vom Fluch des Gesetzes sei eine Anpassung an den vom Gesetz geängsteten Geist des Judentums. Ähnlich steht es mit den Relden Jesu selbst. Die von ihm wirklich oder scheinbar geteilte Dämonenvorstellung z. B. ist eine bloße "Zeitidee" und als solche heute wertlos. Freilich hat man sich bemüht, durch Allegorese das Anstößige zu beseitigen, das Unerbauliche erbaulich zu machen. Aberwas fürwunderliche Blüten sind dabei getrieben worden! Wenn doch z. B. die Coccejaner die Schlacht bei Mühlberg, die Gefangennahme des sächsischen Kurfürsten unter Karl V. und die Befreiung der Niederlande im - Hohenliede geweissagt fanden. Aber" wozu sollte denn jener Poet von diesen ausländischen Begebenheiten und nicht lieber ebenso gut von der ostindischen englischen oder holländischen Kompanie den Juden etwas vorsingen?" (I 83). Also die Allegorese ist nur eine leere und verräterische Ausflucht. Denn in ihr liegt das Eingeständnis, daß in den Texten selbst oft genug nichts Erbauliches enthalten ist (cf. z. B. I 52). Nun will Semler durchaus nicht bestreiten, daß auch die von ihm als wertlos beurteilten Teile des Kanons mit ihren Gedanken zu ihrer Zeit einen bestimmten Zweck hatten, ja daß sie unter göttlicher Leitung den Menschen zugekommen sind. Deshalb sind sie aber noch
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lange nicht "bis ans Ende der Welt zu der Menschen Seligkeit durch Vermehrung und Ausbesserung moralischer Kenntnisse nötig und nützlich" (II 152 f. ). Es gibt Fortschritt und Wachstum. Und das ist für Semler ein weiterer Mangel der gegnerischen Theorie, daß sie die Unterschiede des geistigen und sittlichen Zustandes der Menschen nicht berücksichtigt. Als ob die Bibel ein Buch wäre von gleichem Wert in allen Teilen für alleund zu allen Zeiten! Aber die herrschende Theorie vom Kanon hält alle auf der gleichen Stufe fest und hindert so den Fortschritt - während doch "wahre Christen ... ihre große christliebe Fähigkeit üben und anwenden und den alten Buchstaben, die Zeit, wo der Glaube und der Geist noch nicht da war, den Schatten, das Nachtlicht unterscheiden müssen" (II 95). Hat doch auch Paulus für die Kinder aaQXLXOO~ geredet, für die Erwachsenen aber vernünftig. So ist die Lehre vom Kanon nur eine Bestätigung der häufig von Semler geäußerten Meinung, daß nur sehr weniges von der Kirchentheologie zur Förderung und "Erleichterung" der wahren, inneren Religion dienlich ist. Das Ergebnis der Semlerschen Kritik ist demnach dieses: die traditionelle Bibeltheorie ist unhaltbar. Sie steht im Widerspruch zur geschichtlichen Wirklichkeit; sie ist religiös unmöglich.Die Wurzel des Ubels ist die Verwechselung von hl. Schrift und Wort Gottes, die einander gleichgesetzt werden. Der Grundsatz der Gegenseite lautet: Christiani citra ullam dubitationem aut demonstrationem simpliciter credere debent, verbum dei esse verbum dei, oder - was ja wohl dasselbe sei, canonem esse canonem. Das sei Axiom. Denn auch die Lehre von den criteria der hl. Schrift (oben (Sp. 297) wolle ja nur allerlei "Motive" aufzählen, durch welche den noch Ungläubigen der Eindruck von der Göttlichkeit der hl. Schrift vermittelt werden solle. Cum Christianis enim non de scriptura sed e scriptura disputandum est. Gegen das apriorische Postulat dieses Standpunktes- mit Semler zu reden: Dichtung in abstracto aus der Mondwelt - richtet sich sein leidenschaftlicher Kampf. Er wird nicht müde, gegen den Satz, verbumdeiesse verbum dei, zu protestieren. Das Wort Gottes ist zwar im "Wort Gottes", nämlich der Bibel, "hie und da enthalten" (I 48. 131 u. ö.). Abernicht scriptura sacra in einem Bande genommen ist geradehin das Wort Gottes" (I Vorrede S. 9). Das Wort Gottes ist "ein Mittel zu einer allgemeinen Absicht, für alle Menschen, zu ihrer größten Vollkommenheit und Ausbesserung" (111 598). Aber die jüdischen "Nationalnachrichten" haben damit nichts zu tun. Die fides, "so sich auf der Menschen Seligkeit und Gottes Ehre bezieht", kann große Teile der hl. Schrift gar nicht zum Gegenstandehaben (II 18). Mögen Ruth, Esther, Hoheslied "zu der hl. Schrift, wie dieser historische relative Terminus unter den Juden aufJ
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gekommen ist", gehören, so deshalb noch lange nicht zum Worte Gottes (I 75). Daher protestiert Semler gegen den Unfug, die ganze Bibel wie sie ist, in Predigt oder Hausandacht durchzunehmen. Er wünscht einen Bibelauszug, der fortließe, was nur den Juden gehört (z. B. I 70), und findet den Standpunkt der "papistischen Gelehrten" in dieser Beziehung durchaus verständig. Ein solcher Auszug werde positiv dieselben Dienste leisten wie die Vollbibel (III 541). Die "charakteristischen, lokalen Teile" dienen doch nicht der inneren Förderung. Das tut nur "das Allgemeine". Jenes ist nur für die Gelehrten (I 86). Darüber aber, was zu diesem wertvollen "Allgemeinen" gehöre, könne eine Unsicherheit nicht entstehen. Hier beruft sich Semler auf die ursprüngliche Evidenz der sittlich-religiösen Erkenntnis: "Die, die Gottes Eingebung zuerst erfahren haben, haben den göttlichen Ursprung dieserneuen Vorstellungen und den Zusammenhang derselben mit Gottes Wirkung bloß aus dem Inhalt und aus der Erfahrung der neuen Wirkung abgenommen, wodurch ihre vorige Neigung gebessert worden" (III 318). "Göttliche Wahrheiten empfehlen sich, weil sie gemeinnützig sind, sogleich von selbst. Die Wirklichkeit ihres Inhalts entdeckt sich ohne Untersuchung" (III 336). Hiernach könnte es den Anschein haben, als ob für Semler doch noch irgendwie ein Kern des Kanons übrig bliebe. In Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Vielmehr wird der Begriff des Kanons so erweicht, daß man von seiner völligen Auflösung sprechen muß. Wertlos ist das Historische, das Individuelle, das Lokale. Was aber ist das Wertvolle, das bleibt? Semler sagt: das Allgemeine, nämlich was darum von allgemeinem, an die Schranken von Ort, Zeit und Individuum nicht gebundenem Wert ist, weil es "der moralischen Ausbesserung", wir würden sagen: der geistigen und sittlichen Förderung dient. Semler denkt nicht nur an Tugendlehren und -vorbilder, sondern zugleich an alle Wahrheiten, die ihm zu einer geläuterten Gotteserkenntnis gehören. Dringt man aber aufs Konkrete, so greift man ins Leere. Materielle, allgemeingiltige Regeln für die Auswahl des als bleibend wertvoll Anzuerkennenden gibt es für ihn nicht und kann es nicht geben, weil der geistig-sittliche Stand der Menschen örtlich, zeitlich und individuell verschieden ist (I § 5). Nur dann, so weit und so lange hat man die Bücher des Kanon als göttlich zu beurteilen, wenn, soweit und solange man sie ihrem Endzweck dienlich findet, daß nämlich "Gott dadurch Menschen in heilsamen und notwendigen Wahrheiten viel gewisser, leichter und nützlicher hat unterrichten lassen wollen" (I 8). Darüber, wie weit das der Fall ist, muß jeder für sim selbst entscheiden (II 123. 179. 281). Und auch sein Urteil wird sich wandeln. Das Buch Ruth oder den Philemonbrief erklärt Semler nicht für durchaus nutzlos. Aber sie werden nutzlos, sobald jemand
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die hier vertretenen Grundsätze schon selbst besitzt oder gar darüber hinauswächst (I 25 f.). Der "Kanon" wird eine fließende Größe, und da man geistig-sittliche Förderung keineswegs nur aus biblischen Schriften empfangen kann, so schrumpft der Bibelkanon nicht nur zusammen, sondern er verliert zugleich alles Spezifische gegenüber der außerbiblischen Literatur, während andrerseits auch aus den späteren Jahrhunderten immer Neues hinzutreten könnte. Semler selbst will diese Folgerungen nicht ziehen. Aber entziehen kann er sich ihnen nur durch Inkonsequenzen und - von seinen Grundanschauungen aus geurteilt- willkürliche Einschränkungen. Natürlich ist Semler der Meinung, daß Gott auch unter den Heiden moralische Wahrheiten verbreitet, die geradezu als seine Eingebungen anzusehen sind (z. B. IV 284. 326 f.). Aber "es ist keine Fantasay und Einbildung, I daß Gott in den Christen durch größere geistliche Wirkungen sich beweiset und offenbaret, als durch natürliche sonst auch göttliche Religion je geschehen ist oder geschehen mag" (111 Vorr. S. 28). Ja, er statuiert, daß kanonische Schrüten nur aus der apostolischen Zeit, nur aus den Schriften des Urchristentums stammen dürften. Er statuiert es. Aber er begründet es nicht. Was ihn dazu bestimmt, ist nicht die Folgerichtigkeit seiner Theorie, sondern das Schwergewicht der Tradition, die sein Gefühl beherrscht. Die Freiheit des geschichtslosen Individuums beugt sich unwillkürlich der Autorität der Geschichte. Auch dem Einwand, daß es nach ihm des Kanonisierens kein Ende sein werde (II 410), da z. B. das Kirchenlied eines Orthodoxen oder auch eines Sozinianers, in dem Gottes Weisheit und Güte gepriesen wird, für Semler Anspruch auf kanonisches Ansehen haben müsse, kann er nichts Durchschlagendes entgegenstellen. Semler antwortet zwar: Keineswegs; denn es sei nur die Rede von den in den vorigen Zeiten in den Kanon gebrachten Schriften (II 413); auch erweise sich der Inhalt einer Schrift nur dann als göttlich, wenn er neue, übernatürlich entstandene Vorstellungen und Urteile enthalte. Neue moralische Begriffe könnten sich aber in protestantischen Kirchenliedern der Natur der Sache nach nicht fmden. "Es muß ... dieses Merkmal (des Kanonischen) seine wahre Größe und Ausdehnung haben: mehrere moralische Wahrheiten, muß neue, vorher unbekannte Objekte und Realitäten begreifen, neue Verknüpfung mit den schon daseienden Erkenntnissen; neue und mehrere Wirkungen, zu größeren und mehreren moralischen, inneren Vollkommenheilen ... und nun muß dies immer fortgehen ... so ist das der gewisseste und unfehlbare Beweis ... des göttlichen Ursprungs solcher Begriffe und der dazu gehörigen Realitäten" (111 328; vgl. Il412. 596; 111 319). Es liegt auf der Hand, daß von Semlers Grundstellung aus geurteilt es sich hier
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um willkürliche Einschränkungen handelt, die den Zweck haben, nun doch den biblischen Schriften eine Sonderstellung zu sichern. Auch der Besorgnis, daß mit wachsender moralischer Vollkommenheit der Kanon einer fortschreitenden Schwindsucht anheimfallen müsse, glaubt sich Semler entziehen zu können. "Allgemeine unaufhörliche Brauchbarkeit der Begriffe und Lehrsätze" (II 398) ist ihm wesentliches Merkmal des Kanonischen, und er traut der Bibel in hohem Maße diese dauernde Brauchbarkeit zu und beruft sich dafür auf die Erfahrung aller christlichen Jahrhunderte (111 335 f.). Da er aber gleichzeitig nicht müde wird, das ständige moralische Wachstum - oder vielmehr den Wachstum - zu betonen, und sich auch selbst über manche biblische Schriften, wie etwa Apokalypse und Philemonbrief, längst hinausgewachsen erscheint, so ist nicht einzusehen, weshalb es schließlich mit den übrigen Schriften anders gehen sollte. SemZer hat demnach den herkömmlichen Kanonsbegriff, die herkömmliche Bibeltheorie wohl zersetzt, aber eine neue überzeugende Begründung der dennoch fortbestehenden Autorität der Bibel in keiner Weise zu geben vermocht, obwohl er gefühlsmäßig unter der Wirkung der Tradition dahin strebte. Seine Wirkung war darum nur eine unterwühlende, auflösende, nicht eine aufbauende, trotz seiner gegenteiligen Absicht. Der Begriff des Kanons hatte in Wirklichkeit für ihn nur noch eine historische Bedeutung. Er gehörte ihm der Vergangenheit an, wie er denn gelegentlich von dem "ehemaligen Kanon" sprechen kann (I 174). Am besten überließe man "den ganzen Praß vom canone der Kirchengeschichte" (III Vorr. S. 35). Der Grund dieser Unfähigkeit Semlers liegt in dem juridischdoktrinären Religionsbegriff-den er als nicht weiter diskussionsbedürftige Voraussetzung mit seinen Gegnern teilte. "Religio christiana est ratio colendi verum deum in verbo praescripjta" formulierte Quenstedt. "Religio, quae est forma aut ratio colendi deum, ambitu suo complectitur credenda et agenda" heißt es bei Hollatz. Dies konnte Semler durchaus akzeptieren. Denn auch für ihn bestand die christliche Religion aus Wahrheiten, Erkenntnissen, Lehrsätzen, die man glauben und anerkennen muß und einem entsprechenden Verhalten. Für den Inhalt beriefen sich seine Gegner auf das "Wort Gottes", dessen Autorität entscheidend nur mit dem testimonium spiritus sancti internum zu begründen war. Semler akzeptierte auch das, aber so, daß er das Wort Gottes vom" Wort Gottes", nämlich der hl. Schrift, unterschied, und das Argument, welches die Autorität der Bibel begründen sollte, als kritischen Maßstab gegen sie wandte. Er verstand das testimonium spiritus sancti internumals die Evidenz der sittlichreligiösen Erkenntnis. Diese aber stützt die Autorität der Bibel nur so, daß sie sie zugleich einschneidend - auf die einleuchtenden
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Wahrheiten und den moralisch förderlichen Gehalt- begrenzt. Eben der juridisch-doktrinäre Religions- und Wahrheitsbegri.ff, der die stille Voraussetzung der orthodoxen Kanonstheorie bildete, führte zu ihrer Auflösung. Darum konnte eine Neubegründung der Autorität des Kanons von hier aus nicht gewonnen werden.
I II. Was von Semlers Kanonskritik am stärksten nachwirkte, war sein Angriff auf die in der orthodoxen Kanonstheorie enthaltenen historischen Elemente. Was er nach der dogmatischen und religiösen Seite hin ausgeführt hatte, war unvermeidlich stark subjektiv gefärbt. Aber den objektiven historischen Argumenten konnte man sich nicht entziehen. So erhielt die Erforschung der Geschichte des Kanons und besonders der Entstehungsverhältnisse der einzelnen neutestamentlichen Schriften die stärksten Antriebe, aber so, daß sie vermöge eben dieses Ursprungs lange Zeit hindurch unterdemdogmatischen Vorzeichen des Kampfes um den Kanon, sei es im Angriff oder in der Abwehr, vor sich ging. Durch diese eigentümliche Problemverschlingung, welche die Untersuchungen über den Ursprung der neutestamentlichen Schriften, nümlich über die Frage ihrer Echtheit, stets zugleich als
Streit um ihr kanonisches Ansehen empfinden ließ, erhielten die Auseinandersetzungen über Echtheit und Unechtheit der neutestamentlichen Schriften, die Jahrzehnte hindurch mit einer für uns schier unverständlich gewordenen Inbrunst geführt wurden, ihr Temperament. Höchst bezeichnend ist in dieser Beziehung ein Aufsatz von F. Chr. Baur über das Thema: "Die Einleitung in das Neue Testament als theologische Wissenschaft; ihr Begriff und ihre Aufgabe, ihr Entwicklungsgang und ihr innerer Organismus" (Theol. Jahrb. 1850/1851). Die "Einleitungswissenschaft" ist für Baur - durchaus dem Geiste Semlers entsprechend - "Kritik des Kanons". Ihr Gegenstand "sind die kanonischen Schriften, aber nicht wie sie an sich sind, sondern mit alljenen Vorstellungen und Voraussetzungen, die sie zu kanonischen machen. Als kanonische Schriften sind sie Schriften, mit welchen sich der Begriff einer bestimmten dogmatischen Autorität verknüpft. Sie gelten dem Dogma als göttlich inspirierte Schriften, als urkundlicher Ausdruck und Inbegriff der göttlichgeoffenbarten Wahrheit, welche die bestimmende Norm für das ganze theoretische und praktische Verhalten des Menschen sein soll. Das eigentliche Objekt der Kritik ist nun eben dieses Dogmatische an ihnen, das Prinzip ihrer kanonischen Autorität. Die Einleitungswissenschaft hat daher zu untersu-
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chen, ob diese Schriften auch an sich das sind, was sie nach der dogmatischen Vorstellung, die man von ihnen hat, sein sollen, und da die erste Voraussetzung ... ist, daß sie von den Schriftstellern wirklich verfaßt sind, welchen sie zugeschrieben werden, so ist ihre erste Aufgabe die Beantlwortung der Frage, mit welchem Recht sie sich für apostolische Schriften ausgeben" (1850 S. 478). Präziser als es in diesem Passus geschieht, kann die dogmatische Abzweckung der historischen Untersuchung nicht ausgesprochen werden. Das Ergebnis ist, "daß der kritische Begriff des Kanons ein wesentlich anderer ist, als der dogmatische"; "der dogmatische Begriff widerspricht der Wirklichkeit der Sache" (1851 S. 315). Da (nach Baur) ein großer Teil der neutestamentlichen Schriften keineswegs von den Autoren stammt, denen die kirchliche Überlieferung sie zuschreibt, so haben sie ihr Recht im Kanon verwirkt. Sie sind aus ihm hinauszuweisen. (1850 s. 466. 467. 472). H. J. Holtzmann bemerkte hierzu (ThStKr 1860 S. 412), es bestehe bei Baur ein Widerspruch in der Disziplin selbst, da nach ihm "die Einleitung in die kanonischen Schriften zu zeigen habe, daß es keine kanonischen Schriften gibt". Wenn er aber dort weiter der Einleitung die Aufgabe zuschreibt, "die dogmatischen Begriffe, die wir als evangelische Theologen von den kanonischen Schriften haben ... , ins rechte Verhältnis zu setzen mit den derzeitigen sicheren Resultaten der historischen Kritik" -so scheint damit im Holtzmannschen Stile nichts anderes gesagt zu sein als auch Baur meinte. Daß sich Holtzmann auch später von diesen Gedanken keineswegs frei gemacht hat, zeigt sich darin, daß er dem ganzen "besonderen Teil" seiner "Einleitung" die Oberschrift gab: "Die protestantische Kritik des Kanons."' An frühzeitigem Einspruch gegen die dogmatisch-historische Problemverschlingung, deren bezeichnendster Vertreter F. Chr. Baur ist, hat es nicht gefehlt. Ed. Reuß faßte die Aufgabe rein literargeschichtlich, ebenso z. B. H. Hupfeld. Er warf Baur - mit Recht - Rückfall in den Dogmatismus der Anfangszeit der protestantischen Wissenschaft vor. Ihm sei die "Einleitung" nicht eine geschichtliche Wissen• Auf beide, Baur wie Holtzmann, traf die spöttische Bemerkung zu, die man in der Vorrede zu Ed. Reuß' Geschichte der hl. Schriften Neuen Testaments (6. A., 1887, S. VI) findet: "Unsere Alten, in ihren Lehrbüchern, stellten sich die Aufgabe, zu beweisen, daß alle Bücher, welche in den gedruckten protestantischen Bibeln stehen, und nur diese, wirklich dahin gehören und die Eigenschaften haben, welche ein biblisches Buch, ein Teil des Offenbarungskodex haben müsse. So war die ,Einleitung' in der Tat eine theologische Disziplin. Aber wie der ,Theologie' direkt viel damit gedient sein kann, wenn jetzt der Reihe nach ungefähr allen diesen Büchern ihr Anrecht auf diese Stelle abdisputiert wird, und gerade dies die Hauptsache bei der ganzen Arbeit ist, geht über meine Begriffe."
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schaft, sondern eine dogmatische, eine Magd der Dogmatik, wie den Alten, nur in entgegengesetzter Richtung (ThStKr 1860 S. 12-20). Aber die Belastung mit dogmatischen Folgerungen blieb ein schweres Hemmnis für die Entwicklung einer unvoreingenommenen Erforschung und Beurteilung des Ursprungs des urchristlichen Schrifttums. Die dogmatisch-historische Problemverschlingung löste sich für das theologische Empfmden nur sehr allmählich. Wenn man in Feines "Einleitung" liest, es sei die Aufgabe der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft, den geschichtlichen Grund und das geschichtliche Recht der Wertung des Neuen Testaments zu erweisen, die in ihm das Buch sieht, das für die christliche Kirche Urkunde der Offenbarung Gottes und Norm des Glaubens und Lebens bildet (8. A. 1936 S. 4), so wird man darin einen letzten Ausläufer dieser verhängnisvollen Problemverschlingung erblicken müssen. Wer wollte sagen, daß sie im Bewußtsein der Heutigen nicht mehr nachwirkt? Viel bedeutsamer aber ist die hemmende Wirkung, die von hier aus auf die Klärung des Verhältnisses der christlichen Gemeinde zur Bibel ausging. Denn ihre Gedanken über die Bibel wurden hierdurch bei historistisch-dogmatischen Versuchen festgehalten und so der Durchstoß zu einer klaren religiösen und zugleich echt geschichtlichen Betrachtung verhindert. Jene Bemühungen sind historistisch, sofern sie auf der I Vorstellung ruhen, die Autorität der neutestamentlichen Bücher durch gesd:lichtliche Einzelnachweise über ihren Ursprung begrenzen oder begründen zu können oder auch nur etwas Entscheidendes hierzu auf diesem Wege beizutragen. Hier müßte schon der Umstand zur Vorsicht mahnen, daß dann das Ansehen dieser Schriften immer von den schwankenden Urteilen der "derzeitigen sicheren Resultate der historischen Kritik" abhängig bliebe. Wie "derzeitig" diese Resultate großenteils waren oder sind, bedarf keiner Erörterung. Abgesehen davon aber kann das kanonische Ansehen der biblischen Bücher so nur durch Verkoppelung mit Residuen der alten Inspirationslehre begründet werden. Gelingt es, die Herkunft dieser oder jener Schrift von Aposteln oder Männem der apostolischen Zeit zu dem optimalen Grad von Wahrscheinlichkeit zu erheben, der bei geschichtlichen Fragen der Art überhaupt erreichbar ist, so ist das zwar historisch gewiß von hohem Interesse. Es ist aber schlechterdings nicht einzusehen, inwiefern damit eine maßgebende religiöse Autorität, wie sie der Begriff des Kanons in sich schließt, begründet wäre, es sei denn, daß im voraus die entsprechende religiöse Autorität der Apostel oder der apostolischen Männer feststeht, d. h. wenn sie in dieser ihrer Eigenschaft und deren Betätigungen als inspiriert gedacht werden. Die Herkunft der Schriften von Aposteln oder apostolischen Männem ist dann also
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deshalb entscheidend, weil diese inspiriert sind. Damit befmden wir uns aber sofort wieder im Strudel der Schwierigkeiten der apriorischen Inspirationstheorie mitsamt ihrem doktrinär-juridischen Religionsverständnis, die Semler aufgedeckt und zur Geltung gebracht hat, ohne widerlegt werden zu können5 • Wo aber diese Gedankengänge heute noch festgehalten werden, wirken sie sich durch ihren Widerspruch zur geschichtlichen Wirklichkeit der biblischen Schriften in Auseinandersetzung mit dem kritischen oder geradezu antichristliehen Zeitgeist noch viel verheerender aus als zur Zeit Semlers. Keine Behandlung der biblischen Schriften hat heute noch irgendwelche Glaubwürdigkeit, welche der geschichtlichen Wirklichkeit dieser Bücher nicht in voller Aufgeschlossenheit und Ehrlichkeit Rechnung trägt. Die Wirklichkeit ist stärker als alle apologetische Künstelei. Daß die kirchliche Unterweisung aller Stufen gehemmt durch eingewurzelte Gewöhnung einerseits, durch theologische Unsicherheit andrerseits, diesem Sachverhalt zu wenig Rechnung getragen hat und in der Handhabung des biblischen Wortes weithin bei einer "Theologie als ob" stehen geblieben ist, nämlich bei einer Theologie, als ob es keine historisch-kritische Schriftforschung gäbe oder diese eine bloße Frucht menschlichen Vorwitzes und Unglaubens, nicht aber eines sehr ernsten gewissenhaften Wahrheitsstrebens sei und daher ignoriert werden könne, hat die Krisis des Kanons, in der wir seit annähernd zweihundert Jahren stehen, nicht etwa gemildert, sondern nur vertieft und zeitigt- gewiß neben anderen Ursachen- in der heutigen Entfremdung des Volkes von Bibel, Christentum und Kirche verhängnisvolle Folgen. Das Verhältnis der christlichen Gemeinde zum Neuen Testament (und seiner Vorstufe im Alten Testament) ist nicht dem Verhältnis des Staats zu seinem Grundgesetz oder einer Körperschaft zu ihrer Satzung vergleichbar. Es ist ein lebendig-religiöses Verhältnis. Es kann deshalb nicht historisch-dogmatisch, sondern nur geschichtlichreligiös, nämlich aus der tatsächlichen Lebensbeziehung der Kirche und ihrer Glieder zum Neuen Telstament begründet werden. Diese Lebensbeziehung ist aber nicht so zu beschreiben, daß das Neue Testament die "Urkunde der Offenbarung Gottes" enthielte, auf der sich dann die Kirche aufbaut. Es gibt keine Urkunden der göttlichen Offenbarung, (man müßte denn an die beiden Gesetzestafeln von Ex ---1 Damit wird nicht die Unmöglichkeit einer Inspirationslehre gegenüber den biblischen und besonders den neutestamentlichen Schriften behauptet. Jedes christliche Verhältnis zur Bibel drängt vielmehr auf eine solche Lehre hin. Aber sie kann immer nur der abschließende dogmatische Ausdruck eines schon bestehenden religiösen Verhältnisses zu den biblischen Schriften, nie dagegen die Grundlage eines erst zu gewinnenden sein. Es kann nur eine aposteriorische und demgemäß begrenzte, nie eine apriorische, unbegrenzte Inspirationslehre geben.
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32, 15 denken; aber die sind zerbrochen) und kann keine geben. lgnatius von Antiochien hatte ganz recht, wenn er seinen Gegnern zurief: "Meine Urkunden sind Jesus Christus, ... sein Kreuz, sein Tod, seine Auferstehung und der durch ihn bestehende Glaube" (Philad. 8, 2). Man sollte also diesen höchst konfusen Begriff fallen lassen. Die neutestamentlieben Schriften sind Urkunden, nämlich Urzeugnisse der glaubensvollen Verkündigung, aus der die Kirche erwachsen ist, "Zeugnisse der kirebengründenden Predigt", wie M. Kähler zu sagen pflegte. Das Zentrum dieser Zeugnisse bildet die Gestalt Christi und sonst nichts-, deren erlösende, lebenspendende Macht die Zeugen als erlebte Wirklichkeit bekunden. Das geschieht in der Form von Berichten über ihn, von mancherlei Bildern, Vergleichen und lehrhaften Aussagen. Aber nicht diese Lehren, sondern die Gestalt, die sie schildern und von deren Bedeutung sie handeln, bildet den Mittelpunkt. Die christliebe Gemeinde schätzt diese Schriften, weil sie von der in ihnen bezeugten Gestalt zu dem Glauben überwunden wurde, in dem sie den Frieden mit Gott und ewiges Leben fmdet. Diese religiöse Lebensbeziehung erneuert sieb in ihr von Geschlecht zu Geschlecht. Sie ist eine Lebensbeziehung der Gemeinde wie ihrer einzelnen Glieder, die die Wahrheit von Job 6, 56 an sich erfahren und daher von dieser Gestalt nicht loskommen. Der Christ glaubt demnach, um abermals eine der präzisen Kählerschen Formulierungen zu gebrauchen, "an die Bibel" (sofern man diesen ungenauen Ausdruck einmal gelten lassen will) um Christi willen, nicht aber an Christus um der Bibel willen. Da dieses Verhältnis zum Neuen Testament geschichtlich erwachsen ist und sich im Lauf der Geschichte immer wieder erneuert, ist es zugleich als religiös und geschichtlich zu bezeichnen. Das so begründete Verhältnis läßt eben darum zugleich die Freiheit zu völlig unbefangener Würdigung dieser Schriften sowohl nach der religiösen wie nach der geschichtlichen Seite zu und macht zugleich ihren doktrinär-juridischen Mißbrauch unmöglich. Da nämlich der Glaube, um den es sich hier handelt, Glaube an die Gestalt Christi ist, kann niemals gefolgert werden, daß die Urzeugnisse dieses Glaubens, in denen gewiß Gottes Geist, aber durch gläubige Menschen, zu uns redet, von dem Menschlichen dieser Zeugen nichts mehr an sich tragen dürften und also alle Aussagen und Urteile unbesehen als autoritativ übernommen werden müßten. Vielmehr ist es einzig folgerichtig, alles vom Zentrum aus zu prüfen und zu beurteilen. Mit anderen Worten: Was Luther in seiner Vorrede zum Jakobusbrief über das Christum-Treiben gesagt hat, bringt mit der intuitiven Sicherheit des Genius den Sachverhalt auf die schlechthin zutreffende Formel. Auch nach der geschichtlichen Seite hin läßt das so verstan-
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dene und begründete Verhältnis der gläubigen Gemeinde zum Neuen Testament der Forschung völlige Freiheit. Denn um es gleich an einem Hauptpunkt zu erläutern: ob das 4. Evangelium vom Zehedaiden stammt (das dürfte immer noch das weitaus Einleuchtendste sein) oder von anderer Hand- so bleibt es die "Vollendung des neutestamentlicllen Glaubenszeugnisses", aucll wenn man die Freiheit der Umformung der Einzelheiten, die kerygmatische Stilisierungso wäre das zu nennen - sehr hoch anschlägt (und das muß man wohl). Die Frage nach dem Verfasser des 4. Evangelium behält literargesclliclltlich ihre große Bedeutung; hinsichtlich des religiösen und theologischen Gewichtes tritt sie durchaus in den Hintergrund. Wollte man hier einwenden, daß sich diese Betrachtungsweise wehrlos der historischen Skepsis auslie!fere, die etwa im Zweifel an der Geschiclltlichkeit Jesu ihren Gipfel erreicht, so wäre darauf zu antworten, daß dieser Zweifel ein theoretisches Gespinst ist, dem nur der Charakter einer logizistischen Denkübnng, aber keine Wirklichkeitsbedeutung zukommt. Wird man einmal das Dritte Reich ohne Adolf Hitlcr geschichtlich begreiflich zu machen versuchen? Daß ein doktrinär-juridischer Mißbrauch des Neuen Testaments bei dieser Anschauung nicht mehr möglich ist, bedarf keines weiteren Nachweises. Hie und da soll ja noch immer ein primitiver "Schriftbeweis" in übung sein, welcher glaubt, die christliche Legitimität einer dogmatischen Aussage durch Heranziehnng vereinzelter Bibelstellen dartun zu können. Nach dem hier Gesagten kann vielmehr dieser Nachweis nur im biblisch-theologischen Zusammenhang vom Zentrum des neutestamentlichen Glaubens aus geführt werden. Der biblische Wahrheitsbegriff ist nicht doktrinär-juridisch, sondern personhaft: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Die Krisis des Kanons der Kirche, das Erbe Joh. Gerhards und Joh. Sal. Semlers, kann nur durch ein geschichtlich-religiöses, in der tatsächlichen Lebensbeziehung der Kirche und ihrer Glieder begründetes Verständnis der Autorität der hl. Schrift und darum in Freiheit über· wunden werden.
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Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons• I Die Frage nach dem Wesen und der richtigen Bewertung des neutestamentlichen Kanons steht heute nicht im Mittelpunkt der theologischen Diskussion. Man nimmt in der Regel den Kanon als gegebene Größe hin, ohne sich über die Notwendigkeit des Vorhandenseins einer abgegrenzten Sammlung urchristlicher Schriften oder über Recht und Unrecht der geschehenen Abgrenzung klare Vorstellungen zu machen. Diese Unklarheit aber ist innerhalb einer Kirche, die ihre göttliche Botschaft allein aus dem im Kanon gesammelten urchristlichen Schrifttum (und erst in dessen Licht dann auch aus dem Alten Testament) empfängt, nicht wohl tragbar, und so hat H. Strathmann1 diese Unklarheit mit Recht "eine schleichende Krankheit der evangelischen Theologie und damit der evangelischen Kirche" genannt. Erhebt nämlich innerhalb einer an das Evangelium allein gebundenen Kirche die theologische Lehre ebenso wie die praktische Verkündigung den Anspruch, dem Menschen rettende Botschaft und bindende Weisung nur darum verkünden zu sollen, weil Gottes Wort sie dazu ermächtigt, so darf gerade die Frage nicht unbeantwortet bleiben, wo dieses Wort sicher zu finden sei und wie man es in den biblischen Schriften sicher finden könne. Diese Frage schien ja so lange leicht zu beantworten zu sein, als die überzeugung herrschte, "daß das Neue Testament seit unvordenklichen Zeiten der Kirche den Dienst leiste", welchen es den Vätern der Kirche am Ende des 2. Jahrhunderts geleistet hat, als man begann, sich über den Umfang des neutestamentlichen Kanons Gedanken zu machen2 • Diese Oberzeugung aber wurde unhaltbar, als durch Johann Salomo SemZer • Aus: W. G. Kümmel, Heilsgeschehen und Geschichte. Ges. Aufsätze 1933 bis 1964, hg. von E. Grässer, 0. Merk und A. Fritz (Marburgcr Theologische Studien 3), Elwert-Verlag, Marburg 1965, S. 230-259 (Erstveröffentlichung in: ZThK 47, 1950, s. 277-313). 1 H. Strathmann, Die Krisis des Kanons der Kirche. Job. Gerhards und Job. Sal. Semlers Erbe, ThB120, 1941, Sp. 295 ff. (295). 1 So nach Th. Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, 1, 1888, S. 434; ähnlich auch M.-J. Lagrange, Histoire ancienne ducanon du Nouveau Testament, 1933, s. 5 f.
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und seine Nachfolger der Nachweis geführt worden war, daß der Kanon des Neuen Testaments sich erst im Laufe des 2. Jahrhunderts allmählich zu formen begonnen hat und daß seine Abgrenzung zu der uns geläufigen Form erst die Folge einer jahrhundertelangen Auseinandersetzung innerhalb der Kirche gewesen ist. Damit stand ja fest, daß Entstehung und Abgrenzung des Kanons innerhalb der kirchlichen Entwicklung vom 2. Jahrhundert an vor sich gegangen ist, daß der Kanon also zum mindesten in seiner endgültigen Form eine I Schöpfung der Kirche und damit Resultat eines geschichtlichen Werdeprozesses ist. Eine die geschichtliche Wirklichkeit ernst neh· mende Theologie und Verkündigung sieht sich also im Kanon einer geschichtlichen Größe gegenübergestellt, angesichts derer die Frage nach ihrer Entstehung und nach der sachlichen Berechtigung ihrer Entwicklung unausweichlich gestellt werden muß. Und es gibt keine andere Möglichkeit, über Bedeutung und Umfang des neutestamentlichen Kanons für die Kirche von heute Klarheit zu gewinnen als auf dem Wege über die geschichtliche Frage nach dem Werden dieser Schriftensammlung. Diese geschichtliche Frage nach dem Werden des neutestamentlichen Kanons, die Kanonsgeschichte, ist aber dann auch in doppelter Hinsicht von aktueller theologischer Bedeutsamkeit. 1. Die Untersuchung der Kanonsbildung darf ihr Augenmerk nicht bloß auf die wechselreichen Wandlungen in der Abgrenzung des Kanons richten, sondern muß vor allem fragen nach den Motiven, die überhaupt zur Bildung eines neuen Kanons und zur Ausschließung oder Einbeziehung der einzelnen Schriften in diesen Kanon führten. Denn der Kanon als geschichtlich gegebene Größe kann nur aus den bei seiner Bildung bestimmenden Vorstellungen begriffen werden, die sachliche Berechtigung oder Notwendigkeit gerade dieser Abgrenzung kann ohne Kenntnis der dabei einstmals treibenden Motive nicht nachgeprüft werden. Die bis heute umstrittene Frage, ob die Gesamtheit der von der Alten Kirche kanonisierten Schriften mit Recht zum Kanon gerechnet wird, kann man also nur unter Berücksichtigung des geschichtlichen Werdens dieser Abgrenzung zu beantworten versuchen. 2. Viel wichtiger ist aber, daß die Einsicht in das geschichtliche Werden und die geschichtliche Bedingtheit der Kanonsbildung die theologische Besinnung dazu zwingt, die Frage nach dem Recht, der Notwendigkeit und der bleibenden Bedeutung der Kanonsbildung überhaupt zu stellen und von da aus die Frage zu klären, in welchem Sinn dieser geschichtlich gewordene Kanon auch für uns heute normativen Charakter haben könne oder müsse. Denn es kann kein Zweifel sein, daß mit der Erkenntnis vom geschichtlichen Werden und damit der zufälligen Gestalt des neutestamentlichen Kanons sidl
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die Frage stellen mußte und immer wieder stellt, ob der geschichtlich so zufällig zustande gekommene Kanon überhaupt bleibende normative Bedeutung haben könne bzw. worin diese normative Bedeutung begründet sei. Die Einsicht in die geschichtliche Zufälligkeit der überlieferten Gestalt des neutestamentlichen Kanons hatte ja schon loh. Sal. Semler dazu geführt, den Kanon praktisch aufzugeben, da für ihn nur noch das im Kanon als wertvoll bestehen bleibt, was der "moralischen Ausbesserung" dient3 • Und die kritische Theologie neigte lange Zeit dazu, den Kanon nur noch als eine geschichtliche Gegebenheit zu werten, die durchaus zufälligen Charakter trage und dogmatisch keine maßgebende Bedeutung mehr haben dürfe4 • Die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit und I Zufälligkeit des Kanons hatte also die Aufhebung seiner Anerkennung als einer wesentlichen Norm, die Bestreitung seiner Notwendigkeit zur Folge. Aber so sehr die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der Kanonsbildung und Kanonsabgrenzung davon befreien mußte, "daß dieser Kanon aus einer Stütze ein drückendes Joch werden- bleiben durfte" 5 , so problematisch mußte doch die völlige Preisgabe des Kanonsbegriffes für eine Theologie sein, die wieder darum wußte, daß alle christliche Verkündigung ihre Begründung und Ermächtigung allein durch das einmalige Handeln Gottes in Jesus Christus und den Aposteln erhält, und der darum die Frage brennend ist, wo dieses einmalige Heilshandeln Gottes uns in unverfälschter Form faßbar sei. Wenn wir uns an die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus Christus gebunden wissen, so müssen wir ernstlich fragen, ob der Kanon des Neuen Testaments nicht doch eine bleibende und unaufgebbare Bedeutung habe. Darum ist eine Neubesinnung auf Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons eine unumgängliche Aufgabe einer an das Evangelium gebundenen Theologie, eine Aufgabe, die freilich nur unter sorgfältiger Berücksichtigung der Geschichte dieses Kanons in befriedigender Weise gelöst werden kann. Es wird darum notwendig sein, der grundsätzlichen Besinnung über a Siehe den Nachweis bei H. Strathmann, ThBl20, 1941, Sp. 298 ff. Vgl. z. B. H.J. Holtzmann, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das NT, 18928, S. 186: "Damit ist aber der Begriff des Kanons in seiner scharfen dogmatischen Umrissenheil überhaupt aufgegeben, und insofern hat die ,Geschichte des Kanons' ihren unvermeidlichen Abschluß gefunden"; W. Wrede, Uber Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, 1897, S. 11: "Wo man die Inspirationslehre streicht, kann auch der dogmatische Begriff des Kanons nicht aufrecht erhalten werden ... Wer also den Begriff des Kanons als feststehend betrachtet, unterwirft sich damit der Autorität der Bischöfe und Theologen jener Jahrhunderte. Wer diese Autorität in andem Dingen nicht anerkennt ... , handelt folgerichtig, wenn er sie auch hier in Frage stellt." Siehe auch H. Weinel, Biblische Theologie des Neuen Testaments, 1921 1, S. 8 f. 1 A. Jülicher-E. Fascher, Einleitung in das Neue Testament, 19317, S. 558. 4
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die bleibende Bedeutung des neutestamentlichen Kanons einen kurzen überblick über die Entstehung und weitere Geschichte dieses Kanons vorauszuschicken6 , wobei besonders auf die in dieser Geschichte wirksamen Motive das Augenmerk gerichtet werden soll.
II Jesus und die Urchristenheit haben das Alte Testament als Heilige Schrift gekannt und anerkannt. Es ist aber äußerst fraglich, ob der alttestamentliche Kanon zur Zeit Jesu in Palästina schon endgültig abgeschlossen war, da wir erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts von der offiziellen Abgrenzung des palästinischen Kanons hören7, so daß wir schwerlich das Recht haben, für die palästinische Urchristenheit die Vorstellung eines endgültig abgeschlossenen Kanons vorauszusetzen. Darüber hinaus steht Jesus der von ihm anerkannten Norm der "Schriften" im einlzelnen durchaus frei gegenüber, weil er sich das Recht zuerkennt, als der eschatologische Ausleger der Gottesworte in eigener Vollmacht darüber zu entscheiden, was innerhalb der "Schriften" wirklich Gottes Wort ist8 • Indem Jesus so der überlieferten Schriftnorm autoritativ gegenübersteht, wohnt der christlichen Stellung zur alttestamentlichen Schriftnorm von vorneherein eine kritische Komponente inne: oberste Norm ist sachlich die Person Jesu selbst. Das zeigt sich ganz ähnlich auch bei Paulus. Auch Paulus kennt die jüdische Bibel als Autorität und zitiert aus allen drei Teilen des hebräischen Kanons9 • Da er das Alte Testament meistens nach der Septuaginta zitiert, jedenfalls nicht auf den Urtext zurückgreift, ist es äußerst wahrscheinlich, daß für ihn das Alte Testament den Umfang der Septuaginta hatte. Von einer Abgrenzung des jüdisch-hellenistischen Kanons hören wir aber aus jüdischen Quellen nirgendwo etwas, und als die ersten christlichen Kanonsverzeichnisse für das Alte Testament aufgestellt wurden, wichen sie in den einzelnen Kirchenprovinzen sehr stark voneinander ab 10 • Es ist darum sehr wahrscheinlich, daß 1 Für die Einzelheiten sei verwiesen auf die Darstellungen in den "Einleitungen in das NT" von A. Jülicher-E. Faseher (19317), P. Feine-/. Behm (19368), W. Michaelis (1946), ferner auf 1. Leipoldt, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I. II, 1907/08. Die beste Quellensammlung ist noch immer E. Preuschen, Analeeta II: Zur Kanonsgeschichte, 191()1 (eine Neuauflage ist dringend erwünscht); die kleinere Sammlung von F. W. Grosheide, Some Early Lists of the Books of the New Testament, 1948, ist unzureichend. 7 0. Ei.ssfeldt, Einleitung in das AT, 1934, S. 618 ff. 8 Siehe W. G. Kümmel, Jesus und der jüdische Traditionsgedanke, ZNW 33, 1934, S. 105 ff.; A. Oepke, Jesus und das AT, 1938; ders., Studia Theologica II, 1948/50, 136. • 0. Michel, Paulus und seine Bibel, 1929. 10 A. Jepsen, Kanon und Text des AT, ThLZ 74, 1949, S. 65 ff. (68 f.).
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auch Paulus als ehemaliger hellenistischer Jude keinen abgeschlossenen Kanon des Alten Testaments voraussetzt, und 1 Kor 2, 9 zitiert er ja zweifellos einen apokryphen Text als Bestandteil der "Schrift" 11 • Aber auch Paulus steht dieser überlieferten Schriftnorm kritisch gegenüber. Nicht nur behauptet er, daß allein die Christen als Träger des Geistes Christi die Heilige Schrift der Juden richtig interpretieren können (2 Kor 3, 6. 15-17; 1 Kor 10, 11), sondern er beruft sich mehrfach als auf die abschließende Autorität auf ein Wort des Kyrios, der für ihn der irdische Jesus und der Auferstandene ist (1 Thess 4, 15; 1 Kor 7, 10; 9, 14). Neben diese dem Alten Testament übergeordnete Norm tritt die Autorität des vom Auferstandenen berufenen Apostels (1 Kor 7, 25. 40; 14, 37 f.; Galt, 1 ff.), die ebenso wie die Worte des Kyrios noch eine lebendige und nirgendwo festgelegte Norm darstellt. Schon hier ist also die von den Juden übernommene Norm der jüdischen "Schrift" nicht mehr die einzige Norm, sondern es bildet sich daneben eine neue sachliche Norm; an die Stelle des irdischen Jesus ist dabei nach Ostern und Pfingsten der mit dem irdischen Jesus identische Auferstandene getreten, der nun dieselbe eschatologische Autorität beansprucht wie der eschatologische Lehrer der Bergpredigt (Mt 5, 21 ff.). Letzte Norm ist so von Beginn des Urchristentums an der auferstandene Herr, der in seinen eigenen Worten ebenso wie in der Verkündigung der von ihm berufenen Zeugen dem Hörer begegnet. Die Frage kann darum nicht sein, wie es überhaupt zu einerneuen Normbildung in der christlichen Kirche kommen konnte, sondern warum und in welchem Sinn diese Norm die Gestalt eines Schriftenkanons angenommen hat bzw. annehmen mußte. Das spätere Urchristentum bestätigt diesen Sachverhalt. Auch hier gilt das Alte Testament als Heilige Schrift, ohne als Kanon scharf abgegrenzt zu sein, aber auch I hier weiß man, daß nur die Christen die Schrift richtig interpretieren können, weil die Christusoffenbarung dem alten Bund weit überlegen ist (Apg 17, 2 f.; Job 5, 39 ff.; 2 Tim 5, 15 f.; Hehr 8, 15; 10, 1 usw.). So tritt auch hier die Autorität des Kyrios über die alte Norm der "Schrift" (Apg 20, 55; Apk 2, 1 ff.), und daneben beanspruchen die Anordnungen der christlichen Lehrer normative Geltung, ob man nun in der Rolle eines der ältesten Apostel redet {Eph 4, 1; 1 Tim 6, 15 ff.; 1 Petr 5, 1 f.) oder als zeitgenössischer christlicher Lehrer schreibt (Hehr 10, 26 f.; 5 Job 5 ff.; Apk 1, 1-3). Aber es ist die lebendige Stimme der Verfasser dieser Schriften und nicht eine "Heilige Schrift", die diese Autorität beansprucht11• So tritt 11 Nam Origenes handelte es sim um secreta Eliae prophetae, s. H. LietzmannW. G. Kümmel, An die Korinther I. II, 19494, S. 13, 170. 11 Apk 22, 18 f. bildet keine Ausnahme, da die Verwünschungsformel das Bum als inspiriert deklariert, nimt aber eine Kanonisation vollziehen will (s. B. Olsson,
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denn auch weiterhin im frühen nachapostolischen Zeitalter neben die alttestamentliche Schrift das durch die Apostel vermittelte Gebot des Herrn (2 Petr 3, 2), und dieser Kyrios ist der Gemeinde zugänglich in seinem eigenen Wort oder im Wort der Apostel (lgn. Magn. 7, 1)13 , und noch um die Mitte des 2. Jahrhunderts stellt 2 Clem 14, 2 "die Apostel" neben "die Bücher" (Altes Testament). Das Wort des Herrn und der Apostel ist also nach wie vor die oberste Autorität, und es ist nicht in Büchern festgelegt, oder zum mindesten nicht in Büchern, die den Heiligen Schriften zugerechnet werden. Sind so "die Apostel der älteren Periode ein rein idealer Kanon, ungreifbar, unkontrollierbar" 14 , und sind sie ebenso wie der Kyrios nur in der noch ungefestigten mündlichen und schriftlichen Oberlieferung zugänglich, so ergab sich doch aus dieser rein innerkirchlichen Entwicklung mit dem Abbrechen der mündlichen Tradition früher oder später unausweichlich die Notwendigkeit, die für die Kirche unentbehrliche Norm des Kyrios und der Apostel nur noch in Schriften aus der Apostelzeit zu suchen. Und sobald sich die Frage nach dem sicheren Zugang zur eschatologischen Offenbarung Gottes in Jesus Christus und den Aposteln stellte, mußte der Fundort ein zweiteiliger sein, weil die neue Norm sowohl den Kyrios wie die Apostel zum Reden bringen mußte. Diese Entwicklung bahnt sich gegen das Ende des nachapostolischen Zeitalters an. Jetzt werden Jesusworte wie alttestamentliche Schriften zitiert (Barn 4, 14; 2 Clem 2, 4), so daß ein Evangelienwort die gleiche normative Geltung erhält wie die Heilige Schrift des Alten Testaments, ohne daß freilich irgendwie angedeutet wäre, daß man sich schon über die Entstehung einerneuen schriftlichen Autorität bewußt wäre. Für Apostelschriften können wir dagegen noch nicht zur gleichen Zeit die Anführung als "Schriften" beobachten15 ; doch nachdem einmal Evangelienschriften als "Schrift" eingeschätzt wurden, mußten früher oder später auch Apostelschriften ebenso gewertet werden.! Aber diese ausdrückliche Wertung von Evangelientexten als ZNW 31, 1932, S. 84 ff.). Röm 16, 26 cpaVEQ<.Ot!vto~ 6! vüv 6..U n yQacp
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"Schrift" und dieses Wissen um die unentbehrliche Autorität apostolischer Äußerungen bedeutet noch nicht, daß damit bereits das Neue Testament, wenn auch nur im Keim, vorhanden gewesen wäre. Ehe es zur bewußten Bildung und dann auch Abgrenzung einerneuen normativen Schriftensammlung kommen konnte, mußten erst überhaupt Sammlungen urchristlicher Schriften geschaffen werden und mußten solche Sammlungen zu einem größeren Ganzen vereinigt werden. Beide Voraussetzungen müssen aber gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts erfüllt gewesen sein, ohne daß wir diese Vorgänge im einzelnen sicher verfolgen könnten. Paulusbriefe sind schon zu Lebzeiten des Paulus zwischen den Gemeinden ausgetauscht worden, und am Anfang des 2. Jahrhunderts muß eine Sammlung von Paulusbriefen bestanden haben, wie die häufige Bezugnahme auf Paulusbriefe in den Schriften des nachapostolischen Zeitalters ebenso wie die Analogie der Sammlung der Ignatiusbriefe beweist16• Von einer Sammlung sonstiger Apostelschriften hören wir vor der Zeit der eigentlichen Kanonsbildung in der zweiten Hälfte des 2. J ahrhunderts nichts, und wir können nur darauf verweisen, daß einige dieser Schriften zweifellos schon im nachapostolischen Zeitalter benutzt worden sind 17• Die andere Frage, seit wann es eine Zusammenstellung mehrerer Evangelienschriften gegeben hat, ist noch schwieriger zu beantworten, weil bei der Anführung evangelischer Texte bis gegen das Ende des 2. Jahrhunderts nirgendwo eine bestimmte Evangelienschrift zitiert wird. Doch steht fest, daß Ignatius Johannes und Matthäus benutzt hat und daß Papias Matthäus, Markus und Johannes kannte und miteinander verglich; Papias hat also zum mindesten diese drei Evangelien als zusammengehörig, schwerlich aber schon als geschlossene Sammlung betrachtet, wie sein Suchen nach mündlicher Oberlieferung der Herrnworte beweist (Eus. h. e. III, 39, 3 f.) 18• 11 A. v. Harnack, Die Briefsammlung des Apostels Paulus und die anderen vorkonstantinischen christlichen Briefsammlungen, 1926, S. 6 ff. Vgl. auch J. Knor, Mareion and the New Testament, 1942, S. 172 f. - Daß erst Markion eine planmäßige Sammlung von Paulusbriefen angelegt habe, ist eine unwahrscheinliche Vermutung (gg. W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 1934, s. 224). 17 1. Clemens 36, 2 f. kennt den Hebräerbrief, Polykarp 7, 1 und 10, 2 den 1. Johannes- und 1. Petrushrief; Papias hat nach Eus. h. e. 111, 39, 17 den 1. Petrus- und 1. Jobarmesbrief zitiert und anerkannte die Zuverlässigkeit der Apokalypse des Johannes (frgm. V Bihlmeyer, erhalten bei Andreas Caesar. praef. in Apc.). 11 Für die Kenntnis des Johannesevangeliums durch lgnatius vgl. C. Maurer, lgnatius von Antiochien und das Johannesevangelium, 1949; für die Benutzung des Matthäusevangeliums durch lgnatius s. B. H. Streeter, The Four Gospels, 19361, S. 504 ff. Die bekannten Äußerungen des Papias über Matthäus und Markus finden sich bei Eus. h. e. 111, 39, 15 f.; die Kenntnis des Jobarmesevangeliums durch Papias ergibt sich sehr wahrscheinlich aus dem antimarkionitischen Jobarmesprolog
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Tatian schließlich hat seine Evangelienharmonie zwar vielleicht erst nach der Mitte des 2. Jahrhunderts abgefaßt 19, setzt aber bei seiner Zusammenarbeitung der vier Evangelien deutlich voraus, daß diese vier I Evangelien bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts in Rom als Sammlung bekannt gewesen sind. Und noch einen Schritt weiter führt etwa zur gleichen Zeit Justin, der in seiner Apologie an Antoninus Pius (ca. 155) berichtet, daß im sonntäglichen Gottesdienst die "Apostel-Memoiren" (d. h. Evangelien, s. ap. I, 66, 3) oder die Schriften der Propheten verlesen werden (ap. I, 67, 3). Hält man neben diese Nachricht die Tatsache, daß Justin mehrfach synoptische Texte als "geschrieben" zitiert20 und darauf hinweist, diese "Memoiren" seien verfaßt "von seinen (d. h. Christi) Aposteln und deren Nachfolgern" (Dial. 103, 8), so kann kein Zweifel darüber herrschen, daß Justin eine Sammlung von Evangelienschriften kennt, die er auf Apostel und deren Schüler zurückführt, und daß er dieser Sammlung gleiche Autorität und gottesdienstliche Bedeutung zuerkennt wie den Schriften des Alten Testaments. Justin kennt also eine neue, dem Alten Testament gleichgestellte Heilige Schrift, die auf alle Fälle die Evangelien umfaßt; und wenn er einmal von "anderen Schriften" redet und dabei an die Apokalypse denkt (ap. I, 28, 1), so kann man mit guten Gründen fragen, ob ihm nicht auch schon diese Schrift kanonische Geltung hat21 • Aber ob diese Vermutung zu Recht besteht oder nicht, fest steht auf alle Fälle, daß wir bei Justin einem neuen Kanon begegnen, der im gottesdienstlichen Gebrauch noch einteilig zu sein scheint, der aber keineswegs abgeschlossen ist und deutlich die Tendenz hat, auch Apostelschriften aufzunehmen. Und auch das ist ganz deutlich, daß sich dieser neue Kanon völlig unreflektiert aus den Bedürfnissen des kirchlichen Lebens entwickelt hat: fehlte das mündliche Wort der Männer der Apostelzeit, so mußte man die Worte des Herrn ebenso wie die Verkündigung der Apostel aus Evangelien- und Apostel-Schriften entnehmen, die damit ganz von selber in die Würde einer dem Alten Testament überlegenen Norm ein(Papias frgm. XIII Bihlmeyer; s. dazu A. v. Hamo.ck, Die ältesten Evangelienprologe und die Bildung des NT, SAB, Phil.-hist. Kl. 1928, S. 333 f.). 11 Nach Eusebius (h. e. IV, 29, 6) hat Tatian die Evangelienharmonie erst als Sektenhaupt, d. b. nach seiner Trennung von der Kirche ca. 170, verfaßt; aber die Geschid:J.te des Diatessarontextes spricht viel eher dafür, daß er das Werk schon früher in Rom geschaffen hat (s. C. Peters, Das Diatessaron Tatians, 1939, S. 212 f.). ~ Dial. 100, 1.4; 101,3; 102, 5; 103,6. 8; 104, 1; 105, 1.5.6; 106, 1.3.4. Daß Justin auch das Johannesevangelium kannte, läßt sich nur wahrsd:J.einlich mad:J.en (vgl. ap. I, 61, 3 f. Dial. 88, 7); dagegen W. Bauer, Red:J.tsgläubigkeit und Ketzerei, 208 f. 11 Bestätigend könnte sein, daß Dial. 81, 4 die Autorität des Apokalyptikers Johannes neben die des Kyrios gestellt wird. W. Bauer, aaO, S. 218macht darauf aufmerksam, daß sich bei Justin aber keine Kenntnis der Paulusbriefe verrät.
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rückten, welche Würde vorher den Worten des Kyrios und den Anordnungen der apostolischen Zeugen eingeräumt worden war. Die Bildung eines neutestamentlichen Kanons hat sich also mit dem Ende des urchristlichen Zeitalters als notwendige Formwerdung innerhalb der Kirche vollzogen, und dieser Kanon hatte von Anfang an aus sachlichen Gründen die Tendenz, Evangelienschriften und Apostelschriften nebeneinander zu enthalten. Nun war freilich etwa zur gleichen Zeit um die Mitte des 2. Jahrhunderts in Rom der Kleinasiate Markion aufgetreten und hatte nach seiner endgültigen Trennung von der römischen Gemeinde für seine Gemeinde unter völliger Verwerfung des Alten Testaments eine neue Heilige Schrift geschaffen, die aus E'Öayylllov und W.:ocno).~ bestand, das heißt aus einem verkürzten Lukasevangelium und zehn ebenfalls verkürzten Paulusbriefen (ohne die Pastoralbriefe). Die Kirchenväter sind nun in ihrer Polemik gegen Markion von der Anschauung ausgegangen, Markion habe aus einem bereits bestehenden Vierevangelienkanon der Kirche ebenso wie aus einer umfanglreicheren kirchlichen Sammlung der Apostelschriften eine willkürliche Auswahl getroffen22 • Demgegenüber hat A. Hamack die Anschauung vertreten, Markion habe als erster nicht nur den Gedanken eines neuen Schriftenkanons, sondern auch die Zweiteiligkeil dieses Kanons erfunden, und die Kirche ho.be beides von Markion übcmom-
men23; die Schaffung eines Neuen Testaments ebenso wie dessen Ausgestaltung in zweiteiliger Form wären demnach erst ein Gegenschlag der Kirche gegen Markions grundlegende Schöpfung gewesen. Noch einen Schritt weiter ist neuerdings J. Knox gegangen mit seiner These, daß die Kirche durch Markions Kanon aus E'ÖayyULov und W.:ootoA.o; gezwungen worden sei, dem Kanon Markions einen umfangreicheren Kanon aus vier Evangelien und einem erweiterten Apostolos einschließlich der Apostelgeschichte gegenüberzustellen2'. Nun kann ja keine Frage sein, daß Markion als erster einen geschlossenen Kanon geschaffen und an die Stelle des Alten Testaments ge11 Siehe besonders Iren. adv. haer. 111, 12, 15 (11, 67 ed. Harvey) und Epiph., haer. 42, 9 bei Prewchen, Analeeta II, S. 7 f. Ähnlich noch M. Meinertz, Einleitung in das NT, 19334, S. 334. 11 A. v. Harnack, Die Entstehung des NT und die wichtigsten Folgen der neuen Sdlöpfung, 1914, S. 40 ff.; ders., Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott, 19241, s. 72 f., 210 ff., 441* ff. 14 J. Kno:r, Mareion and the New Testament. An Essay in the Early History of the Canon, 1942. Kno:r behauptet sogar, Markions t:uayyH.tov gehe auf eine frühere Form des Lukasevangeliums zurück als das kanonische Lukasevangelium, und das kanonische Doppelwerk Lukas-Apostelgeschichte sei erst im Gegensatz zu Markions Kanon nach 150 durch Erweiterung des ursprünglichen Lukasevangeliums geschaffen worden, um den Paulus kirchlich einzuordnen. Diese These, die für das Lukasevangelium nur durch sorgfältige textkritische Untersuchungen ausreichend
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stellt hat; dagegen ist es keineswegs sicher, daß Markion sein eines Evangelium aus dem kirchlichen Vierevangelienkanon ausgesucht und daß er mehr als die zehn von ihm aufgenommenen Paulusbriefe gekannt hat25 • Daß Markions Kanon eine Auswahl aus dem schon vorhandenen reicheren kirchlichen Kanon gewesen sei, wie es die Kirchenväter wollten, widerspricht in der Tat allem, was wir von der Stellung der Kirche zu den Schriften des späteren Neuen Testaments aus der Zeit Markions wissen. Aber ebensowenig gibt es ausreichende Beweise für die Annahme, erst Markions Kanon habe die Bildung eines zweiteiligen Neuen Testaments oder gar des Vierevangelienkanons veranlaßt. Wir hören ja von der Zusammenordnung mehrerer Evangelienschriften, wie wir sahen, schon vor der Mitte des 2. Jahrhunderts, und der Vierevangelienkanon hat sich gar nicht mit einem Schlag, sondern nur zögernd im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts in der Kirche durchgesetzt28 • Und die schon vor Markion nachweisbare Anschauung von der normativen Bedeutung der Lehre der Apostel hat ebenfalls in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts nur langsam dazu geführt, daß Zitate aus Apostelschriften den IEvangelienzitaten gleichgestellt wurden27 • Markions Kanonsbildung hat also weder die Entstehung eines Neuen Testaments noch die Bildung eines Vierevangelienkanons noch gar die Nebeneinanderstellung von Evangelien und Apostelschriften erst veranlaßt. Die Gleichstellung von Evangelienschriften mit der Heiligen Schrift des Alten Testaments und das langsame Einrücken apostolischer Schriften in die gleiche Würde ergaben sich vielmehr aus dem schon im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter sich zeigenden Bedürfnis der Kirche mit innerer Notwendigkeit. Aber das Vorhandensein des abgeschloswiderlegt werden könnte, ist weder durch die vorgelegte Wortstatistik bewiesen noch in Obereinstimmung mit der Tatsache, daß die Apostelgeschichte die Sammlung der Paulusbriefe noch nicht kennt. II Siehe W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei, S. 225 ff. 11 Noch Tatian konnte es wagen, die vier Evangelien in eines zusammenzuziehen; die von Epiphanius als "Aloger" bezeichneten Gegner des Montanismus konnten um 170 das Johannesevangelium und die Apokalypse als Werke des Gnostikers Kerinth verwerfen, ohne aus dem Rahmen der Kirche zu fallen (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 43 ff., 146 ff.; W. Bauer, aaO, S. 209 f.). 17 Tatian hat auch eine sprachliche Überarbeitung der Paulusbriefe vorgenommen (Eus. h. e. IV, 29, 6); Athenagaras führt ein zusammengesetztes Pauluszitat xa'ta 'tOV lut6a'toA.ov an (de res.18);Theophilus vonAntiochien stellt 'tO EÜayyt:A.LOv und ln Jli!V xat 6 eEio~ >..6yo~ (zusammengesetztes Zitat aus Paulus) nebeneinander (s. R. M. Grant, The Bible of Theophilus of Antioch, JBL 66, 1947, S. 173 ff.); der Gnostiker Ptolemäus (s. A. v. Hamack, Ptolemäus, Brief an die Flora, 1912) zitiert den xueLo~ und Ilaü>..o~ 6 ci1t6'toA.o~ in gleicher Weise (II, 4; III, 15; IV, 5). Andererseits stellen die Märtyrer von Scili (um 180, s. Preusdten, Analeeta II, S. 17) neben die libri, zu denen zweifellos auch die Evangelien zu rechnen sind, die epistulae Pauli viri iusti.
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senen Kanons der Markioniten hat die schon im Gang befindliche Entwicklung zweifellos beschleunigt. Nun mußte die Entwicklung dahin gehen, eine bestimmte Zahl von Evangelien als allein maßgebend zu bezeichnen und die Sammlung der Paulusbriefe, die Markion schon vorgefunden hatte, zu einer Sammlung aller Zeugnisse der Apostel zu erweitern, wobei auch die Apostelgeschichte einbezogen28 und der von Papias und Justin schon so hoch geschätzten Johannesapokalypse der Weg zur Anerkennung als "Schrift" bereitet wurde. Markion hat also schwerlich die Kanonsbildung der Kirche angeregt, wohl aber beschleunigt und in Nebenpunkten beeinflußt29 . Wir sehen denn auch, daß sich die in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts fortgebildeten Ansätze zur Bildung des Vierevangelienkanons und zur Gleichstellung einer Sammlung von Apostelschriften mit diesem Evangelienkanon am Ende des 2. Jahrhunderts weitgehend konsolidiert haben. Den drei großen Theologen, die am Ende des 2. Jahrhunderts die Traditionen des Westens und Ägyptens repräsentieren, steht die Vierzahl der Evangelien ebenso fest wie die Wertung von 13 Paulusbriefen, der Apostelgeschichte und des 1. Petrusbriefes als Bestandteile der "Heiligen Schrift". Und doch bestehen noch erhebliche Unterschiede. Irenäus, der die Vierzahl der Evangelien als providentiell nachzuweisen sucht30 , führt keine von ihm zitierten I Apostelschriften ausdrücklich als "Schrift" an31 ; Clemens von
Alexandrien dagegen stellt noch apokryphe Schriften wie Bamabas und 1. Clemens den späteren kanonischen Schriften des Neuen Testaments gleich, verrät überhaupt noch kein Wissen um eine feste 18 Die Apostelgeschichte wird vor dem letzten Drittel des 2. Jahrhunderts nirgendwo sicher zitiert (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 195 f.; die Benutzung durch lgnatius hat W. L. Knox, The Acts of the Apostles, 1948, S. 1 f. nicht wirklich bewiesen). Sie ist auch relativ lange nicht als kanonisch betrachtet worden, wie die große Breite der Varianten im 2. Jahrhundert beweist (s. M. Dibelius, The Text of Acts, JR 21, 1941, S. 421 ff.). Aber das beweist nicht, daß die Apostelgeschichte erst im Zusammenhang mit einer kirchlichen Bearbeitung des Lukasevangeliums im Gegensatz zu Markion verfaßt worden sei (so J. Knox, Marcion, S. 126 ff.), sondern nur, daß die Apostelgeschichte erst spät im 2. Jahrhundert kanonisiert wurde, als man daran ging, auch über den Umfang des Apostelteils des neuen Kanons sich Gedanken zu machen. 11 Die Kirche hat nicht nur die markionitischen Prologe zu den Paulusbriefen, sondern auch den markionitischen Laodizenerbrief, ja teilweise auch markionitische Textformen (Doxologe des Römerbriefs) unbemerkt übernommen (s. die Nachweise bei A. v. Hamack, Marcion, S. 127• ff., 134• ff. und Studien zum NT I, 1931, s. 184 ff.). 10 Die theologische Unmöglichkeit dieses Versuchs betont mit Recht 0. Cullmann, Die Pluralität der Evangelien als theologisches Problem im Altertum, ThZ 1, 1945, s. 23 ff. (38 ff.). 31 Nur haer. 111, 12, 12 (II, 65 Harvey) werden einmal die Paulusbriefe im Vorbeigehen zu den scripturae gerechnet.
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Grenze des Kanons 32 ; und T ertullian, der als erster ausdrücklich vom Alten und Neuen Testament redet (deres. cam. 39), weiß, daß überdie normative Geltung bestimmter Apostelschriften verschiedene Meinungen herrschen33 • Man kennt also im Westen und in Ägypten am Ende des 2. Jahrhunderts einen neuen Kanon, der unbestrittenermaßen aus vier Evangelien und einem Apostelteil besteht, wobei der Apostelteil noch keineswegs einheitlich begrenzt wird. Dieser Sachverhalt wird bestätigt durch das älteste vorhandene Kanonsverzeichnis, das Muratarische Fragment, das zweifellos den römischen Kanon vom Ende des 2. Jahrhunderts wiedergibt34 • Auch hier zeigt sich das Bewußtsein, daß die Christen einen neuen Kanon besitzen {vgl. den Gegensatz der nach der Zahl vollständigen Propheten zu den apostoli in fine temporum, Z. 79 f.); auch hier zeigt sich die Tatsache, daß es neben den für den Verfasser unumstritten kanonischen Schriften noch solche gibt, die darum kämpfen, "in die katholische Kirche aufgenommen zu werden" (Z. 66), wozu der angebliche Laodizenerbrief des Paulus (aus der markionitischen Kirche stammend) und der Hirt des Hermas gehören, während an der Zugehörigkeit der Petrusapokalypse zum Kanon der Verfasser im Gegensatz zu anderen Christen nichts auszusetzen hat (Z. 71/3). Wichtiger aber ist, daß wir hier zum erstenmal in die Motive bewußter Kanonsabgrenzung einen Einblick erhalten: als kanonisch werden nur Schriften anerkannt, die von einem Apostel stammen bzw. unter dessen Autorität geschrieben sind und die für die ganze catholica ecclesiabestimmt sind. Damit ist von Anfang an als maßgebendes, aber nicht streng durchführbares Motiv für die Zulassung zum Kanon die Abfassung einer Schrift durch einen "Apostel" zur Anwendung gekommen, das Neue Testament ist also durch einen nach einem bestimmten Maßstab sich vollziehenden Ausleseprozeß abgegrenzt worden, ohne daß die Abgrenzung des Apostelteils Ende des 2. Jahrhunderts schon endgültig vollzogen gewesen wäre. So ging denn in den beiden folgenden Jahrhunderten der Kampf weitgehend um die Frage der endgültigen Abgrenzung des Apostelteils des neuen Kanons; doch war auch die Vierzahl der Evangelien u S. J. Ruwet, Clement d'Alexandrie, canon des ~critures et apocryphes, Biblica 29, 1948, s. 77 ff., 240 ff., 391 ff. 13 Er nennt den von ihm auf Bamabas zurückgeführten Hebräerbrief nur receptior apud ecclesias im Verhältnis zum Hirten des Hennas (de pud. 20, 2); nennt er diese Apokalypse hier als apocryphus pastor moechorum und führt dieses Urteil auf Gemeindebeschlüsse zurück (de pud. 10, 12), so hatte er diese Schrift früher als kirchlicher Theologe zur scriptura gerechnet (de orat. 16, s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 36 f.). 14 M.-J. Lagrange hält mit guten Gründen Hippolyt für den Verfasser (Le canon d'Hippolyte et le fragment de Muratori, Rev. Bibi. 1933, S. 161 ff.). Der Text des Fragments bei Preuschen, Analeeta II, S. 27 ff.
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noch nicht endgültig überall anerkannt. Origenes hat noch das apokryphe Hebräerevangelium zu den in ihrer kanonischen Geltung Ivon manchen umstrittenen Schriften geredmet35 , und Ende des !2. Jahrhunderts mußte der Bischof Serapion von Antiochien in seiner Diözese das Petrusevangelium wegen seiner doketischen Ansichten verbieten, ohne daß das Buch darum aus dem kirchlichen Gebrauch verschwunden wäre38 ; in der syrisch sprechenden Kirche hat gar bis zum 5. Jahrhundert nur das Diatessaron Tatians in kirchlichem Gebrauch gestanden, und die syrischen Bischöfe des 5. Jahrhunderts konnten auch dann nur unter Schwierigkeiten das Diatessaron durch den Vierevangelienlmnon verdrängen37 • Doch sind das nur Einzelfälle, die zeigen, daß das Bewußtsein noch längere Zeit nicht verlorenging, daß der Vierevangelienkanon nicht von jeher bestanden hat und erst im Laufe einer, wenn auch relativ kurzen, Entwicklung Anerkennung gefunden hatte. Dagegen blieb die Frage der Abgrenzung des Apostelteils des neuen Kanons noch lange der eigentliche Gegenstand der Diskussion, auf derenEinzelheitenhier nicht eingegangen zu werden braucht. Das Kriterium, mit dem die Auseinandersetzung in erster Linie um die kanonische Geltung des Hebräerbriefs, der Johannesapokalypse, des !2. Petrus-, !2. und 3. Johannes-, Judas- und Jakobusbriefes geführt wurde, ist auch weiterhin die Anerkennung oder Bestreitung der Abfassung einer Schrift durch einen Apostel (vgl. Origcnes bei Eus. h. e.
VI, !25, 10), aber man sieht sich immer wieder zu dem Zugeständnis gezwungen, daß über diese Frage in manchen Fällen verschiedene Urteile möglich sind, und stellt darum letztlich auf das Urteil der Mehrheit über diese Fragen ab (so besonders Euseb selber, z. B. h. e. 111, !25, 3 ff.). Diese Unsicherheit in der Abgrenzung des Apostelteils des Kanons, die in Syrien besonders groß gewesen zu sein scheint38, war unvermeidlich, wenn als maßgebendes Kriterium für die kanonische Geltung einer Schrift die apostolische Abfassung angewandt wurde, eine Entscheidung über den Verfasser aber in manchen Fällen 15
M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon du Nouveau Testament, 1933,
s. 96 f.
• Eus. h. e. VI, 12, 2 ff.; über den weiteren Gebrauch des Buchs in Syrien s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 177 f. 17 S. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 165 ff. und J. Schäfers, Evangelienzitate in Ephräms des Syrers Kommentar zu den paulinischen Schriften, 1917. 18 Die antiochenischen Väter des 4. Jahrhunderts anerkannten teilweise nur drei, teilweise gar keine katholischen Briefe als kanonisch und lehnten alle die Apokalypse ab (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 91 f., 247 f.). In der nationalsyrischen Kirche finden sich vor der Peschitta (Anfang des 5. Jahrhunderts) keine katholischen Briefe und keine Apokalypse im Kanon, und auch dort fehlten noch 2. Petr, 2. und 5. Job, Jud, Apk, die erst in die Philoxeniana (6. Jh.) zur Angleichung an den Kanon der Griechen eingefügt wurden (s. W.Bauer, Der Apostolos der Syrer, 1903).
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(etwa beim Hebräerbrief oder der Apokalypse) nur durch dogmatische Überlegungen oder überhaupt nicht sicher möglich war. So bedurfte es denn eines autoritativen Entscheids, um hier eine endgültige Regelung zu treffen. Er geschah in der griechischen Kirche durch den bekannten 39. Osterfestbrief des Athanasius von 36739 , der das Neue Testament in seinem heutigen Umfang festlegte und erreichte, daß nur noch in ganz vereinzelten Fällen im griechischen Kirmengebiet an der Zahl dieser 27 Schriften des Neuen Testaments gerüttelt wurde. Im Westen hat Papst Innozenz I. 405 in einem Brief an einen französischen Bischof ebenfalls den Kanon Ides Athanasius vertreten40 , und an dieser Entscheidung ist von amtlicher Seite nicltt mehr gerüttelt worden, mochten auch vereinzelte Handschriften noch eine Zeitlang älteren Anschauungen folgen. Die endgültige Abgrenzung des Neuen Testaments in der Alten Kirdie ist also durch einen nicht weiter begründeten autoritativen Entscheid vollzogen worden. Das Mittelalter hat sich einfach an diesen Entscheid gehalten, und erst durch den Humanismus wurden die von Hieronymus überlieferten Bedenken der Alten Kirche gegen die apostolische Herkunft der im 3. und 4. Jahrhundert umstrittenen Schriften wieder belebt. Cajetan ging so weit, einige dieser Schriften als nicht apostolisch und darum nicht im vollen Sinne kanonisch zu bezeichnen41 • Dieser Kritik gegenüber verwarf das Decretum de canonicis scripturis des tridentinischen Konzils42 jede Abstufung innerhalb des Kanons und bezeichnete ausdrücklich alle Schriften des Apostelteils des Kanons als Werke von Aposteln, stellte darüber hinaus aber die ungeschriebene Tradition den geschriebenen Büchern gleich. Damit war nicht nur die Grenze des neutestamentlichen Kanons unwiderruflich gezogen, sondern auclt diese Grenzziehung zugleich relativiert, weil die veritas ja nur zu einem Teil im Kanon enthalten ist. Es ist darum unvermeidlich gewesen, daß das Vaticanum noch weitergehend die Kirche der Schrift und der Tradition überordnete und die letzte Autorität dem ex cathedra lehrenden Papst zuschrieb 43 . Damit ist die Grenze des Kanons für die katholische Theologie letztlich unwesentlich geworden, und das Problem der sachlich richtigen Abgrenzung des Kanons kann sich gar nicht mehr stellen. Dieses Problem dagegen mußte in der Reformation notwendiger" Abgedruckt bei Prewchen, Analeeta II, S. 42 ff. 40 S. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 230 Anm. 3. 41 S. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 33 ff. Vom Hebräerbrief sagt Cajetan: "qUDniam nisi sit Pauli, non perspicuum est canonicam esse" I u C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 19244 , S. 291 f. 43 C. Mirbt, aaO, S. 458, 16 ff.; S. 465, 24 ff. Vgl. dazu H. Strathm.ann, Heilige Schrift, Tradition und die Einheit der Kirche, ThBl 21, 1942, S. 33 ff. (36 ff.).
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weise aufbrechen. Luther war ausgegangen von der Überzeugung, daß die ganze Bibel einen einheitlichen Sinn habe, hatte aber schon bald bemerkt, daß nicht alles im N eueruTestament mit dem von ihm als zentral erkannten paulinischen Evangelium in Übereinstimmung seiu.. Diese Einsicht fand ihren Niederschlag in den Vorreden zum Septembertestament von 1522cs. Hier betont Luther einerseits, daß es nur ein Evangelium gibt, weil alle Schriften von Christus reden 48 , unterscheidet aber andererseits die besten Bücher von denen, die weniger Predigt Christi enthalten, und stellt daneben dann noch die Bücher, die nicht zu den "rechten, gewissen Hauptbüchern des Neuen Testaments" gehören (Hebräerbrief, Jakobus- und Judasbrief, Apokalypse)47, und die er darum ohne Numerierung ans Ende seiner Übersetzung stellte. I Die Anfechtung der vollen kanonischen Geltung dieser vier Schriften begründet Luther einerseits mit der Bestreitung ihrer apostolischen Herkunft in der Alten Kirche und führt selber Gründe gegen die Abfassung der Schriften durch einen Apostel an 48 ; andererseits treibt Luther eine sachliche Kritik an Hebräer, Jakobus und Apokalypse mit dem Hinweis darauf, daß sie mit Paulus in Widerspruch stehen, und mit der Feststellung, daß sie nicht "Christum predigen und treiben" 49 • Luther ist in der Verbindung dieser beiden Forderungen für die kanonische Geltung einer neutestamentlichen Schrift dabei so weit gegangen, daß er apostolisch nennen möchte,
"was Christum predigt, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett" 50 • Die konsequente Anwendung dieses Grundsatzes würde bedeuten, daß nicht die Abfassung durch einen Apostel, sondern die Obereinstimmung mit dem apostolischen Christuszeugnis der entscheidende Maßstab für die Zugehörigkeit zum Kanon sei. AberLuther hat diesen zweifellos richtigen Grundsatz nicht konsequent durchführen können, weil ihm letztlich im Anschluß an die altkirchliche und humanistische Fragestellung doch die Abfassung durch einen Apostel das entscheidende Kriterium blieb. So bleibt sein Urteil über den kanonischen Charakter der von ihm angefochtenen Schriften doch un" K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, 19231 - 1 , S. 549, 560 f.; G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, 1942, S. 402 ff. 4$ Lutlzer, Weimarer Ausgabe (WA), Deutsche Bibel (DB), Bd. 6 und 7. 41 "Vorrede an das NT", WA, DB 6, S. 2 und 6. 47 "Welches die rechten und edelsten Bücher des NT sind" (WA, DB 6, S. 10 f.); "Vorrede auf die Epistel zu den Hebräern" (WA, DB 7, S. 344). 48 Die altkirchlichen Bedenken gegen die apostolische Abfassung des 2. Petrusbriefes und des 2. und 3. Jobarmesbriefes scheint Lutlzer nicht zu kennen oder übersieht sie, obwohl Erasmus diese Nachridlten im Anschluß an Hieronymus weitergegeben hatte (s. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 17 f.). •• Vorreden zu Hebr, Jak und Jud, Apk (WA, DB 7, S. 344, 384, 404). 60 "Vorrede auf die Episteln Sanct Jacobi und Judas" (WA, DB 7, S. 584).
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sicher-5 1, aber an dem unevangelischen Charakter des Jakobus- und Judasbriefes hat Luther immer festgehalten 52 • Diese kanonkritischen Urteile Luthers haben freilich kaum weitergewirkt: die andem Reformatoren und die spätere reformatorische Theologie haben keinen Zweifel an der vollen Kanonizität der 27 neutestamentlichen Schriften zugelassen, und wenn z. B. J. Brenz die sieben von der Alten Kirche umstrittenen Schriften zu den libri apocryphi zählte und nicht zum dogmatischen Beweis zulassen wollte53 , so haben die späteren Dogmatiker diese rein historisch gemeinte Unterscheidung als unnötig wieder aufgehoben5• und darin die richtige Einsicht gezeigt, daß die Frage nach dem dogmatischen Normcharakter einer Schrift durch die unsichere Antwort auf die Frage nach ihrem Verfasser nicht entschieden werden kann. Als dann die Theologie der Aufklärung den Nachweis führte, daß der neutestamentliche Kanon eine geschichtlich gewordene Größe sei, da löste sich dieser nur mit historischen Argumenten abgegrenzte Kanon als dogmatischer Begriff völlig auf, wie wir gesehen haben, und so kam es zu der Kanonskrise, die bis heute andauert und eine Gefahr für eine biblisch begründete Theologie bedeultet. Es muß darum im folgenden unsere Aufgabe sein, unter voller Berücksichtigung der geschichtlichen Tatbestände die Frage nach der Notwendigkeit und der Grenze des neutestamentlichen Kanons zu beantworten.
III Nach katholischer Anschauung hat die Kirche die neutestamentlichen Bücher als von Gott inspirierte Schriften anvertraut bekommen und nur diese ihr anvertraute Wahrheit durch Aufstellung eines Verzeiclmisses dieser Bücher autoritativ verkündet, so daß der treue Sohn der Kirche auf deren Autorität hin diese Wahrheit glauben kann55 • Die Geschichte des Kanons beweist, daß diese Anschauung unrichtig ist. Der Gedanke einerneuen Schriftautorität ist erst im Laufe des 2. Jahrhunderts aufgekommen, und die Kirche hat nicht nur mit Einige der schärfsten Urteile über den Jakobusbrief und die Apokalypse hat Lut.her in den späteren Ausgaben der deutschen Bibel gestrichen (s. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 79 f.). 51 Zum Jakobusbrief vgl. bes. WA, Tischreden, Nr. 5443 (aus dem Jahr 1542); noch 1543 wies Luther eine Berufung auf Jakobus gegenüber der übrigen Schrift zurück (K. Roll, Gesammelte Aufsätze I, 1gz)!-1, S. 561 Anm. 6). Zum Judasbrief vgl. die Zitate aus WA 14, S. 75 ff. bei J. Leipoldt, Geschichte II, S. 75 Anm. 1. 51 S. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 127 ff. 14 Siehe K. Barth, Kirchliche Dogmatik, I, 2, 1938, S. 528 f. 16 M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon, S. 5. 171 ("La verite qu'elle [sc. die Kirche] a definie touchant les livres canoniques doit se trouver dans le depöt de Ia revelation, scelle a la mort du dernier des Apötres"). 61
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Hilfe der Tradition die später aufgekommenen Zweifel an der apostolischen Herkunft der neutestamentlichen Schriften widerlegt18, sondern die Kirche hat nach langem Hin und Her deklariert, was allein als Bestandteil der Heiligen Schrift zu gelten und darum normative Bedeutung hat. Die Kirche hat bei dieser Deklaration in der Hauptsache die Abfassung der einzelnen Schriften durch einen Apostel als letztes Kriterium für die Zugehörigkeit zum neutestamentlichen Kanon angewandt; doch galt dieses Prinzip in der ältesten Zeit der Kanonsbildung noch nicht ausschließlich, andernfalls wären die Evangelien des Markus und Lukas und die Apostelgeschichte überhaupt nicht in den Kanon gekommen 57 • Der Kanon ist also in seiner abgeschlossenen Form zweifellos eine bewußte Schöpfung der Kirche; im Verhältnis zum Kanon als geschlossener Größe ist also die organisierte Kirche primär. Und als die Kirche durch autoritative Entscheide festlegte, welche Schriften endgültig zum Kanon gehören dürften und welche nicht, hat sie die in den Gemeinden da und dort herrschende kanonische Schätzung einer Schrift immer wieder außer Kraft gesetzt, sich aber auch da und dort überzeugen lassen, daß eine andere kirchliche Gruppe eine richtigere Anschauung über die apostolische Herkunft einer bestimmten Schrift vertrete58 • Es ist also das Urteil der Kirche gewesen, das bestimmte Schriften als kanonisch und damit als normativ I deklarierte, ohne daß diese Schriften selber auf solche Geltung Anspruch erhoben hätten (vgl. nur den Jakobusbrief!); aber das bedeutet nicht, daß der Kanon des Neuen Testaments überhaupt M.-J. Lagrange, aaO, S. 179. Schon Justin hat festgestellt, daß die "Memoiren" verfaßt seien v1t0 'tÖ>V O:tocno>.wv a\hoüxal 'tÖ>V btdvouc; naQaxoAoui'r)aanwv (Dial. 103, 8); Papias hat das Markusevangelium unter die Autorität des Petrus gestellt (Eus. h. e. 111, 39, 15), und der antimarkionitisme Lukasprolog (abgedruckt bei Huck-Lietzmann, Synopse der drei enten Evangelien, 1936', S. VIII) bezeid:met Lukas als Schüler der Apostel und des Paulus. Für die Apostelgeschimte betont smon das Muratorisme Fragment, es handle sim um acta omniwn apostolorwn, und das Buch habe den gleichen Verfasser wie das Lukasevangelium. Man hat also die zweifellos nicht von "Aposteln" verfaßten Schriften unter die Autorität von "Aposteln" gestellL 11 So ist Ende des 4. Jahrhunderts der bis dahin im Westen nur gelegentlich als Bamabasbrief bekannte Hebräerbrief durch den Einfluß der östlimen Theologen als 14. Paulusbrief stufenweise in den Kanon aufgenommen worden; so hat man im Osten im Laufe des 4. und 5. Jahrhunderts die Apokalypse auch dort als kanonism anerkannt, wo man sie vorher völlig abgelehnt hatte. So stand andereneits die Petrusapokalypse nach dem Muratorismen Fragment am Ende des 2. Jahrhunderts im Kanon der römismen Gemeinde und wurde von Giemens von Alexandrien ausgelegt (Eus. h. e. VI, 14, 1), geriet aber dann fast völlig in Vergessenheit, während der Bamabasbrief und der 1. Clemensbrief, die von Giemens von Alexandrien als kanonism angesehen worden waren und in den Codex Sinaiticus bzw. Alexandrinus des Neuen Testaments aufgenommen wurden, nie in ein Kanonsverzeichnis gelangt sind. H
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eine bewußte Schöpfung der Kirche gewesen sei. Vielmehr hatten sich die Worte des Kyrios und die apostolische Verkündigung schon im apostolischen Zeitalter als neue Norm über das Alte Testament gestellt, und aus dieser zunächst nur im lebendigen Wort sich äußernden Norm mußte beim sich vergrößernden Abstand von der Apostelzeit notwendigerweise vom Anfang des 2. Jahrhunderts an die Norm des geschriebenen Wortes des Kyrios und der geschriebenen Apostelverkündigung werden. Daß es zur Bildung eines neuen Kanons überhaupt kam, war darum die einfache Folge aus der Tatsache, daß die Kirche begründet ist auf das durch die Apostel bezeugte Christusgeschehen und ohne dieses Zeugnis nicht sein kann. Ist so die Entstehung eines neuen Kanons Teil der Formwerdung der Kirche und nicht bewußte Schöpfung, so ist dieser Kanon doch durch die Jahrhunderte nur dadurch bewahrt worden, daß die Kirche ihm durch einen bewußten Akt eine Begrenzung gab. Dieser Tatbestand, der sich aus der Kanongeschichte eindeutig ergibt, stellt uns nun vor die doppelte Frage, ob diese Bildung eines Kanons eine auch für uns maßgebende Tatsache ist und ob die autoritative Abgrenzung dieses Kanons durch die Alte Kirche berechtigt sei bzw. wie wir die Grenze des Kanons zu beurteilen haben. Wenden wir uns zunächst der Beantwortung der ersten Frage zu, so müssen wir ausgehen von dem ganz einfachen Tatbestand, daß wir als Christen mit der für unsern Glauben in irgendeiner Weise wesentlichen geschichtlichen Gestalt Jesu nur dann in Berührung kommen und bleiben können, wenn uns von Jesus etwas überliefert wird, wenn uns ein irgendwie gearteter Bericht über ihn zugänglich ist. Eine Uberlieferung über die geschichtliche Gestalt Jesu ist uns aber erhalten fast ausschließlich in den Schriften des Neuen Testaments, und darum kann kein christlicher Theologe bestreiten, daß die Evangelien des Neuen Testaments als grundlegende Quelle für unsere Kenntnis der geschichtlichen Gestalt Jesu für uns unentbehrlich sind59 • Aber diese Uberlegung führt nicht weiter als bis zu der Feststellung, daß die Christen ohne die geschichtlichen Nachrichten über Jesus in den Evangelien keine I Jünger Jesu sein können, wie es keine Platoniker hätte geben können, bestünde keine Uberlieferung über 11 Ob wir aus außerduistlichen Quellen etwas über die Penon Jesu erfahren und ob wir in späteren christlichen Schriften geschichtlich braudlbare Oberlieferungen über Worte und Taten Jesu fmden, die nicht in den Schriften des Neuen Testaments enthalten sind, darf in diesem Zusammenhang beiseite gelassen werden. Beides ist sehr wahrscheinlidl der Fall (s. einerseits H. Windisch, Das Problem der Geschichtlichkeit Jesu: Die außercbristlidlen Zeugnisse ThR N. F. 1, 1929, S. 266 ff., andererseits 1. leremias, Unbekannte Jesusworte, 1948); aber die Frage nach der geschichtlichen Zuverlässigkeit dieser doch vereinzelten Nachrichten kann ja nur von den kanonischen Evangelien her beantwortet werden.
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die Lehre Platos. Der Kanon des Neuen Testaments enthält aber nicht nur Worte Jesu und Berichte über Jesus, sondern in seinem Werden wie seinem endgültigen Bestande nach eine Zusammenstellung von EuayyH.lov und lm6otoAo~. Und der Kanon ist nicht als Sammlung geschichtlicher Oberlieferungen entstanden, sondern aus dem Bedürfnis, die Kunde von Jesus und das Zeugnis für Jesus als Norm für die christliche Verkündigung weiterhin zur Verfügung zu haben. Worin aber besteht diese nonnative Verkündigung des Neuen Testaments? Nicht in einer unbeteiligten oder doch in der Hauptsache einfach berichtenden Überlieferung von Jesus, da ja durch die formgeschichtliche Arbeit an den Evangelien klargestellt worden ist, daß auch die synoptischen Evangelien als ganze und in ihren wesentlichsten Bestandteilen kerygmatischen Charakter tragen60. Vielmehr besteht die grundlegende Verkündigung des Neuen Testaments in EuayyEAlOV und lm6otoÄo~ in gleicher Weise in dem Zeugnis, daß der Mensch Jesus von N azareth der Messias, der Menschensohn, der Gottessohn sei, weil Gott den ans Kreuz Geschlagenen von den Toten auferweckte und "sichtbar werden ließ nicht dem ganzen Volk, sondern den von Gott vorher ausgewählten Zeugen" (Apg 10, 40 f.). Und die Schriften des Neuen Testaments wollen im Leser diesen Glauben wecken und stärken. Der Kanon des Neuen Testaments ist darum seinem wesentlichen Inhalt nach nicht geschichtliche Mitteilung, sondern zeugnishafte Aussage über ein geschichtliches Faktum. Solche zeugnishafte Aussage über Gottes Tat in Jesus Christus ist aber auch das Wesen der Verkündigung der Apostel und ihrer Schüler und Helfer gewesen, und nur auf Grund solcher zeugnishaften Aussagen ist die Kirche entstanden61. Diese Verkündigung der Apostel und ihrer Schüler war zunächst mündliche Verkündigung, aus dieser mündlichen Verkündigung erwuchs der Glaube der ersten Christengemeinden. Nur wo dieses Zeugnis gehört werden konnte, konnte Glaube und damit Kirche entstehen, der Glaube war gebunden an die Zuverlässigkeit der Verkündigung der apostolischen Zeugen. Nun konnte dieses Zeugnis gehört werden, solange es Christen der ersten und zweiten Generation gab, die am Christusgeschehen noch persönlich Anteil genommen oder direkt aus • Siehe dazu M. Dibelius, Gospel Criticism and Christology, 1935; K. L. Schm.idt, Fondement, but et limites de la methode dite la "Formgeschichte" appliquee aux Evangiles (in "Le Probleme du Christianisme primitif", 1938, S. 7 ff.); H. W. Bartsch, Die theologischen Konsequenzen der formgeschichtlichen Betrachtung der Evangelien, ThBl 19, 1940, S. 301 ff. 11 "Das Apostelwort gehört selbst in die Offenbarung Gottes durch Jesus Christus hinein. Der Akt der geschichtlichen Gottesoffenbarung ist erst dort vollendet, wo er im Apostel zum sprachlichen \Vort ... und zum Glauben schaffenden Zeugnis wird" (E. Brunner, Offenbarung und Vernunft, 1941, S. 121).
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dem Munde der ersten Zeugen davon gehört hatten62 • Dieses Zeugnis konnte aber nach dem Aussterben der Christen der ersten und zweiten Generation nur noch weiter gehört werden, wenn es in schriftlicher Form niedergelegt und weitergegeben wurde. So trat völlig notwendigerweise im Laufe des I 2. Jahrhunderts an die Stelle des mündlichen Zeugnisses der ersten Christenheit das schriftliche Zeugnis aus der Apostelzeit als die Botschaft, an der allein der Glaube sich entzünden und auf die allein der Glaube sich mit guten Gründen stützen konnte, weil nur hier in ursprünglicher Weise von Jesus berichtet und von Jesus Christus Zeugnis abgelegt wurde. Dieses ursprüngliche Zeugnis aber mußte für die Kirche erhalten bleiben, weil der christliche Glaube nur möglich ist, wenn er Kunde hat von dem geschichtlichen Heilshandeln Gottes, das das Wirken Jesu Christi ebenso in sich befaßt wie die Schaffung der Gemeinde durch die Auferweckung Jesu Christi. Die Kunde von diesem Heilshandeln Gottes, die nie anders denn als Zeugnis von diesem Heilshandeln ausgesprochen werden konnte, war aber als menschliches Zeugnis Menschenwort und damit selbst eine geschichtliche Größe, die vor ständiger Umbildung und damit Auflösung des Ursprünglichen nur bewahrt werden konnte, wenn sie fixiert und dadurch vor Vermehrung, Verminderung oder Veränderung geschützt wurde. Weil die Heilstat Gottes sich in der Geschichte vollzog, war die Bildung einer neuen schriftlichen Norm notwendig, die die Berichte von Jesus und die Bezeugung der Wirklichkeit des Auferstandenen und seiner Gemeinde enthielt. Nicht deswegen mußten den Christen des 2. Jahrhunderts die schriftlichen Zeugnisse der apostolischen Zeit maßgeblich sein, weil in diesen schriftlichen Zeugnissen die ursprüngliche Ergriffenheit und Glaubenstärke der neuen Bewegung zu spüren war, sondern weil die Männer der apostolischen Zeit die ersten Zeugen waren, die darum dem Heilsgeschehen zeitlich am nächsten standen, und weil so ihr Zeugnis der Verderbnis durch Mißverständnis oder Umbildung am wenigsten ausgesetzt war83 • Weil die Apostel die Zeugen der ersten Zeit waren, die das Heilsgeschehen als einmaliges geschichtliches Ereignis in sich barg, ist das Amt und die Funktion der Apostel, wie immer man diesen Begriff begrenzen mochte, auch einmalig geblieben und in der späteren Kirche mit Recht nicht fortgeführt worden64 • 11 Vgl. noch Papias' Prooemium (bei Eus. h. e. III, 39, 4): "\Venn aber irgendwo ein Nachfolger der Ältesten kam, so forschte ich nach den Worten der Ältesten ... Denn im glaubte nicht von dem, was aus Büchern stammt, so viel Nutzen zu haben als von dem, was aus lebendiger, bleibender Stimme (ertönt)." 11 "Der Vorrang des apostolischen Zeugnisses ist nicht ein inhaltlidter, sondern ein geschichtlicher, der der heilgeschichtlichen Ordnung" (P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, 1947, S. 179). 14 Siehe dazu besonders Ph.-H. Menoud, L'Eglise et lcs ministeres selon le Nou-
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Darum konnte aber auch nur eine Sammlung der schriftlich niedergelegten Äußerungen der Männer der Apostelzeit in der Form eines nicht mehr abzuändernden Kanons die apostolische Botschaft von Gottes Heilstat späteren Generationen so unverfälscht wie möglich weitergeben und so in die Nachfolge der Apostel eintreten81 , damit auch die späteren Generationen die Möglichkeit hätten, ihren Glauben auf die ursprüngliche Kunde von Gottes Heilstat aufzubauen und ihre Glaubenserkenntnis an der apostolischen Botschaft zu messen. Die Schätzung bestimmter urchristlicher Schriften als der alttestamentlichen Norm gleichgestellt, ja übergeordnet, ist so notwendigerweise in der frühen Kirche entstanden, und die Abgrenzung gegen die Irrlehre, besonders gegen Markion, hat die Kirche nicht erst veranlaßt, einen Kanon zu schaffen, sondern nur das Bewußt!werden der Kanonsbildung beschleunigt. Der Glaube, daß Gott sich in Jesus Christus einmalig offenbart hat, geht also der Einsicht in die Notwendigkeit und den normativen Charakter des neutestamentlichen Kanons von Anfang an voraus, zieht aber diese Einsicht notwendigerweise hinter sich her. Nur der Glaube, der im Zeugnis der im Kanon enthaltenen urchristlichen Schriften der Botschaft von Jesus Christus begegnet ist, kann darum die Berechtigung und Notwendigkeit eines neutestamentlichen Kanons für die christliche Kirche erkennen und bejahen; wo Jesus nls Religionsstifter angesehen und das Urchristentum als eine Zeit besonders lebendiger Religiosität gewertet wird, muß die Notwendigkeit einer solchen Norm bestritten werden. Ist so mit dem Glauben an die Einmaligkeit und Geschichtlichkeit der Christusoffenbarung die Anerkennung der Notwendigkeit eines neutestamentlichen Kanons gegeben, so kann auch die Notwendigkeit nicht bestritten werden, daß dieser Kanon abgegrenzt sein muß. Es ist geschichtlich nicht ganz sicher zu erkennen, wann und aus welchen Motiven sich die Notwendigkeit einer genauen Begrenzung des neuen Kanons zuerst ergeben hat. Die älteste uns bekannte Kanonsliste, das Muratorische Fragment, erhebt den Anspruch, diejenigen Bücher aufzuzählen, die in der Gemeinde dem Volk sich kundtun dürfen (se publicare in ecclesia populo ... potest Z. 77 f.), betrachtet also die als kanonisch anerkannten Bücher allein als diejenigen, die im Gottesdienst vorgelesen werden dürfen; und wenn dann weiter gesagt wird, daß ein nichtkanonisches Buch weder unter den zahlenmäßig abgeschlossenen Propheten noch unter den "Aposteln am veau Testament, 1949, S. 25 ff. und H. v. Campenhau.sen, Der urchristliche Apostelbegriff, Studia Theologica I, 1947, S. 96 ff. (bes. 121 f.). 111 Vgl. die Bemerkungen von H. v. Cam.penhau.sen, aaO, S. 127 ff. und G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, ZThK 47, 1950, S. 1 ff. (13 f.).
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Ende der Zeiten" vorgelesen werden dürfe (Z. 78/80), so zeigt sich hier deutlich das Bewußtsein, daß auch die Schriften der Apostel eine grundsätzlich geschlossene Größe darstellen, ohne daß über den Umfang dieser Größe schon allgemeine Obereinstimmung herrschte. In dieser Kanonsliste ist also am Ende des 2. Jahrhunderts die Vorstellung deutlich vorhanden, daß das Neue Testament eine klare Abgrenzung haben müsse. Und dieses Bewußtsein ist wohl auch schon etwas früher zu erschließen, wenn Melito von Sardes (um 180) eine Liste der alttestamentlichen Bücher aufstellt und sie bezeichnet als "die Bücher des Alten Bundes" (Eus. h. e. IV, 26, 13 f.), wobei der Liste der Bücher des Alten Bundes doch wohl eine aufzustellende Liste der Büdler des Neuen Bundes entspricht. Völlig eindeutig ist diese Vorstellung vom geschlossenen Kanon dann bei Tertullian vorhanden, der die ganze Bibel als "totum instrumenturn utriusque testamenti" (adv. Prax. 20) bezeichnet. Vor Melito können wir dieses Bewußtsein, daß die neue Offenbarungsurkunde eine feste Grenze haben müsse, aber nicht sichernachweisen68 • Die Annahme, daß die Kanonsbildung Markions die Kirche mehr oder weniger gezwungen habe, den Kanon Markions durch einen umfangreicheren abgeschlossenen Kanon zu überbieten67 , hat sich uns als unwahrscheinlich erwiesen, weil die Kirche schon aus Iinneren Gründen auf dem Weg war, mehrere Evangelienschriften und eine Sammlung von Apostelschriften zu einer zweiteiligen schriftlichen Norm zusammenzuschließen, deren Sinn als Bewahrung der Stimme der apostolischen Verkündigung notwendigerweise zur Ausschließung späterer Schriften und damit zu einer gewissen Abschließung dieser Norm führen mußte. Markions Vorbild hat die innerkirchliche Entwicklung aber zweifellos beschleunigt und bewußter gemacht. Wenn auf der anderen Seite A. v. Hamack die These vertrat, daß der Kampf gegen die montanistische These vom Weitergehen der Offenbarung im Parakleten allererst die Kirche veranlaßt habe, den Kanon als instrumenturn novum ideell abzuschließen68, so ist auch diese Vermutung unwahrscheinlich, weil sich schon bei Justin die Tendenz zeigt, neben die als Norm gewerteten Evangelien Apostelschriften zu stellen, und weil man es andererseits zur Zeit des beginnenden Montanismus gerade noch nicht gewagt hat, den Apostelteil des neuen Kanons als wirklich abgeschlossen hin.. Zwischen Melito und Tertullian ist das Zeugnis des antimarkionitischen Anonymus (Polykrates von Ephesus?, so W. Kühnert, ThZ 5, 1949, S. 436 ff.) bei Eus. h. e. V, 16, 3 anzusetzen, der von der Gefahr der Zufügung zum "Wort des neuen Bundes des Evangeliums" redet, was zweüellos auf "Schriften des Neuen Bundes, und zwar nicht nur Evangelien führt" (so A. v. Harnack, Die Entstehung des NT, 1914, s. 27). 17 So J. Kno:r, Mareion and the New Testament, S. 32 ff. • A. v. Hamack, aaO, S. 24 ff.
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zustellen, und sich über die Art der zu vollziehenden Abgrenzung noch keineswegs im klaren war. Es spricht vielmehr alles dafür, daß die Notwendigkeit, den Kanon als Schutz des apostolischen Kerygmas grundsätzlich als abgeschlossen zu denken, sich der Kirche im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts aufdrängte, weil mit dem Fernerrücken der apostolischen Zeit die Möglichkeit immer geringer wurde, daß noch unbekannte apostolische Schriften auftauchten, die Gefahr des Eindringens späterer Fälschungen oder umfangreicher Veränderung des apostolischen Schrifttums aber immer größer wurde. Freilich hat dieses Bewußtsein, daß die für den neuen Kanon in Betracht kommenden Schriften grundsätzlich beschränkt sein müßten, zunächst keineswegs zur Folge gehabt, daß man diese Schriften in ihrem Wortlaut als unantastbar ansah. Denn es kann keine Frage sein, daß zwar die Aufnahme einer Schrift unter die kanonischen Schriften ihren Text vor der völligen Verwilderung schützte18 ; aber ebenso ist sicher, daß der große Variantenreichtum gerade auch der am frühesten zum Kanon gezählten Schriften (synoptische Evangelien, Paulusbriefe) zum allergrößten Teil bis in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, als diese Schriften bereits gottesdienstlich gebraucht und als Norm gewertet wurden70 • Die Anschauung, daß der Kanon grundsätzlich als abgeschlossen zu denken sei, hat also nicht zu einer sklavischen Fixierung des Textes der kanonischen Bücher geführt. Damit ist aber auch schon gesagt, warum der Kanon des Neuen Testaments seijnem Wesen nach abgegrenzt sein muß, wenn er die Aufgabe erfüllen soll, um derentwillen er geschaffen wurde. Begegnet die Kirche im Kanon dem Zeugnis der geschichtlichen Heilstat Gottes, wie es die Männer der apostolischen Zeit allein unverfälscht verkünden konnten, und kann dieses Zeugnis von späteren Generationen nur gehört, nicht aber neu gegeben werden, so kann dieses Zeugnis gegen eine Verderbnis nur dann geschützt werden, wenn es in seiner geschichtlichen Gegebenheit erhalten und darum unverändert bleibt. " Auffallend starke Variantenbreite zeigen die erst spät im 2. Jahrhundert kanonisierte Apostelgeschichte (s. M. Dibelius, The Text of Acts, JR 21, 1941, S. 421 ff.) und die pericope adulterae (Job 7, 53-8, 11), die erst im 4. Jahrhundert aus der apokryphen Oberlieferung in den kanonischen Text eingedrungen ist (s. Th. Zahn, Das Evangelium des Johannes 1921 1-., S. 723 ff.). 70 So sind z. B. die sachlich bedeutsamen Varianten Job 1, 13 (lS; ... lyEvvi)atJ, s. die Erörterung der Bezeugung bei F.-M. Braun, Qui ex deo natus est, Aux sources de la tradition chretienne, Melanges offerts a M. Goguel, 1950, S. 11 ff.), Mt 27, 16 f. ('l11ooii'v BaQaßßäv, s. A. Merx, Das Evangelium Matthaeus, 1902, S. 400 f. und B. H. Streeter, The Four Gospels, 19365, S. 87, 101), Gal2, 5 (Fehlen des ouöt, s. H. Schlier, Der Brief an die Galater, 1949, S. 40 Anm. 2) genauso sicher für das ausgehende 2. Jahrhundert bezeugt wie ihre breiter bezeugten Gegenlesarten.
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Diese Erkenntnis zieht aber zwei wichtige Folgerungen nach sich. 1. Enthält der Kanon die apostolische Botschaft, die die Kirche begründet hat und auf die sich der Glaube allein immer wieder gründen kann, so muß sich die im Kanon enthaltene Verkündigung selber als Wahrheit erweisen und kann nicht erst durch die Kirche als Wahrheit erwiesen werden. Die Kirche übermittelt uns wohl den Kanon, aber sein Inhalt muß sich uns selbst in seinem Sinn erkennbar machen71, kann also seinen Sinn nicht von der Kirche vorgeschrieben erhalten. Jegliches kirchliche Bekenntnis kann nur als aktuelle Interpretation des Neuen Testaments berechtigt sein und muß sich immer vom Neuen Testament her prüfen und korrigieren lassen. 2. Der Kanon kann der Kirche das unverfälschte Kerygma der Apostelzeit und dadurch den Zugang zum geschichtlichen Heilsereignis nur dann sichern, wenn der geschlossene Kanon nicht dadurch überflüssig gemacht wird, daß eine mündliche oder schriftliche Tradition sich neben oder über ihn stellt72 . Die Notwendigkeit, daß der Kanon grundsätzlich geschlossen sein müsse, kann nur dort eingesehen und bejaht werden, wo die Einmaligkeit des geschichtlichen Heilshandeins Gottes nicht in Frage gestellt wird durch die Gleichstellung der späteren Kirche mit dem apostolischen Zeugnis. Diese Einsicht macht das Christentum nicht zur Buchreligion73 , nimmt dagegen die Unwiederholbarkeit und den begründenden Charakter der christlichen Urgeschichte ernst. Das der Kirche verheißene Zeugnis des Geistes (Joh 14, 16 f.; 16, 12 f.) schafft nicht neue Offenbarung, sondern ermöglicht nur die immer neue lebendige Begegnung mit der geschichtlichen Offenbarung. IV Ist so mit der Entstehung eines neuen Kanons das Wissen darum gegeben, daß der Kanon auf das apostolische Zeugnis beschränkt und "Da die Autorität des Neuen Testaments keine andere als die des Evangeliums ist, beglaubigt sie sich auch nicht anders als so, daß das Evangelium sich mit seiner Wahrheitsmacht bezeugt, d. h. Jesus Christus durch das Zeugnis von ihm Glauben an sich wirkt. Es kann nicht die Autorität der Schrift vor und unabhängig von der Autorität des Evangeliums begründet werden" (P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, 1947, S. 200). 71 So schon eindeutig die Professio fidei Tridentinae von 1546 (s. C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums ..., S. 339, 32 ff.). 71 Wo die geschichtliche Einmaligkeit des Heilshandeins Gottes verkannt wird, weil das Urchristentum nur als "Zeitalter des Enthusiasmus" angesehen wird, muß der Gedanke des Abgeschlossenseins des Kanons als bedauerliche Fehlentwicklung beurteilt werden: "Das Zeitalter des Enthusiasmus ist geschlossen und für die Gegenwart der Geist wirklich- um mit Tertullian zu reden (adv. Prax. 1) - verjagt; er in in ein Buch gejagt!" (A. v. Hamack, Die Enstehung des NT, 1914, S. 25). 71
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darum grundsätzlich geschlos!sen sein müßte, so stellt sich nun die letzte Frage nach der richtigen Abgrenzung des Kanons und nach der Handhabung der Kanonsgrenze. Da der Kanon uns von der Alten Kirche überliefert, und zwar in einer durch autoritativen Entscheid der Kirche abgegrenzten Form überliefert ist, kann es nicht unsere Aufgabe sein, eine Grenze des Kanons überhaupt erst zu ziehen. Wir fmden uns vielmehr dem Kanon der Alten Kirche gegenüber und stehen vor der Frage, ob dieser Kanon sachgemäß begrenzt worden ist oder nicht bzw. ob wir diese Abgrenzung in dem Sinne beibehalten müssen und können, wie sie von der Alten Kirche gemeint war. Diese Frage ist aber durchaus notwendig, ja ihre rechte Beantwortung für die Grundlegung einer wirklich biblisch begründeten Theologie unerläßlich. Wir sahen ja, daß die Entstehung des Kanons ein notwendiger Vorgang beim Übergang von der Urkirche zur frühkatholischen Kirche war und daß der Kanon seine Funktion nur erfüllen kann, wenn er grundsätzlich für jede spätere Erweiterung geschlossen ist. Nun hat die Kirche zwar nicht den Kanon durch einen bewußten Akt geschaffen, wohl aber im 4. Jahrhundert nach zweihundertjährigem Schwanken eine endgültige Begrenzung des Kanons dekretiert, die als Werk der Kirche notwendigerweise der immer erneuten Nachprüfung bedarf. Hat doch die Betrachtung der zur endgültigen Kanonsabgrenzung führenden Auseinandersetzungen deut-
lich gezeigt, daß die Kirche bei der endgültigen Festlegung des Apostelteils des Kanons nicht einfach einen vorhandenen Tatbestand festgestellt, sondern für bestimmte, nicht in allen Teilen der Kirche anerkannte Anschauungen über die Herkunft einzelner Schriften allgemeine Anerkennung gefordert und durchgesetzt hatn. Das Motiv für 7& Wenn K. Barth sagt: "Die Kirche konnte und kann sich den Kanon in keinem Sinn dieses Begriffes selber geben ... Sie kann ihn nur als schon geschaffenen und ihr gegebenen Kanon nachträglich nach bestem Wissen und Gewissen, im Wagnis und im Gehorsam eines Glaubensurteils, aber auch in der ganzen Relativität einer menschlichen Erkenntnis der dem Menschen von Gott eröffneten Wahrheit feststeHen ... Irgend einmal und in irgendeinem Maß ... haben gerade diese Schriften kraft dessen, daß sie kanonisch waren, selbst dafür gesorgt, daß gerade sie später als kanonisch auch anerkannt und proklamiert werden konnten" (Kirchl. Dogmatik I, 2, 1938, S. 524 f.), so ist das angesichts des Verlaufs der Kanonsgeschichte in der Alten Kirche falsch. Die Kirche hat sich ganz gewiß den Kanon nicht gegeben; aber sie hat bei der endgültigen Grenzziehung nicht einfach festgestellt, was kanonisch war, weil es sich schon als kanonisch erwiesen hatte, sondern sie hat die gegen die apostolische Herkunft bestimmter Schriften bestehenden Bedenken ganzer Teile der Kirche durch autoritativen Entscheid beiseite geschoben und damit diese Schriften für große Teile der Christenheit erst kanonisch gemacht. K. Barths Behauptung entspricht zwar der katholischen Anschauung (s. S. 243), übersieht aber, daß der Kanon in seiner endgültigen Form eine zufällige geschientliehe Größe ist und darum an der Kontingenz jeder geschichtlichen Größe Anteil hat. Wenn die Kirche wirklich nur festgestellt hätte, was kanonisch schon war,
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die Ausschließung einiger Schriften, die da und dort als normative angesehen worden waren (Petrusapokalypse, Bamabas- und 1. Clemensbrief, Hirt des Hermas usw.), ganz besonders aber für die endgültige Aufnahme der längere Zeit umstrittenen Schriften (Hebräer-, Jakobus-, Judas-, 2. und 3. Johannes-, 2. Petrusbrief, Apokalypse) war fast aus!schließlich die Frage, ob diese Schriften durch einen Apostel abgefaßt sein könnten; bei dieser Diskussion über die apostolische Herkunft der einzelnen Schriften haben dann in geringerem Maße auch sachliche Motive eine Rolle gespielt, freilich nur in dem Sinn, daß die Erörterung inhaltlicher Fragen bei der Entscheidung über die apostolische Abfassung mit zur Entscheidung beitrug75 • Die Folge dieser Anschauung, daß die kanonische Autorität einer Schrift abhängig sei von ihrer Abfassung durch einen Apostel, war zunächst in der Alten Kirche, daß mit der Anerkennung der apostolischen Abfassung einer urchristlichen Schrift deren volle Zugehörigkeit zum neutestamentlichen Kanon als gesichert erschien; wo sich eine solche Sicherheit nicht gewinnen ließ wie etwa beim Hebräerbrief78, mußte die kanonische Geltung einer solchen Schrift unsicher bleiben. Und als man auf Grund der historischen Fragestellung der Aufklärung die traditionellen Angaben über die Verfasser aller neutestamentlichen Schriften grundsätzlich einer geschichtlichen Prüfung unterwarf, da brachte die traditionelle Verkoppelung von apostolischer Abfassung und kanonischer Geltung es mit sich, daß die Frage nach dem Verfasser einer neutestamentlichen Schrift aus einer rein gedürfte auch K. Barth nicht nachher fordern, daß die Kirche "sich gegen weitere Belehrung auch hinsichtlich des Umfangs dessen, was ihr als Kanon tatsächlich anvertraut ist, nicht zum vomherein verschließen" dürfe (aaO, S. 532, s. auch S. 526). Der endgültig abgeschlossene Kanon muß vielmehr ohne Umschweife als der Nachprüfung bedürftiges Werk der Kirche auf Grund des geschichtlichen Sachverhalts anerkannt werden. 71 So ist in der nationalsyrischen Kirche des 3. und 4. Jahrhunderts der Philemonbrief als unerbaulich dem Paulus abgesprochen oder wenigstens als nicht inspiriert aus dem Kanon ausgeschlossen worden (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 209 ff.); so hat Dionysius von Alexandrien die Apokalypse dem Evangelisten Johannes hauptsächlich aus stilistisch-sprachlichen Gründen abgesprochen, aber daneben auch die irdisch-ausmalende Eschatologie gegen die Herkunft vom Evangelisten angeführt (Eus. h. e. VII, 25, 3 f.); und der Bischof Serapion von Antioc:hien hat am Ende des 2. Jahrhunderts die zunächst gegebene Erlaubnis zur gottesdienstlichen Verlesung des Petrusevangeliums zurückgezogen, nachdem ihm der doketisc:he Charakter der Schrift durch eigene Lektüre deutlich geworden war (Eus. h. e. VI, 12, 3 ff.). J. Leipoldt, Geschichte I, S. 267 hat darauf verwiesen, daß auch ganz gelegentlich einmal Kanonizität trotz fehlender Apostolizität behauptet worden ist. 71 Origenes (bei Eus. h. e. VI, 25, 13 f.) stellt fest, daß die Gedanken des Hebräerbriefs paulinisc:h seien, die Sprache aber nicht; er will darum zulassen, daß man man den Brief als Paulusbrief betrachte, wo man es bisher tat; "wer aber den Brief geschrieben hat, weiß in Wahrheit Gott".
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schichtliehen zu einer eminent theologischen Frage wurde: was "unecht" und darum nicht von einem "Apostel" geschrieben war, konnte nicht kanonisch sein, und was kanonisch sein sollte, mußte als "echt" erwiesen werden77 • Bei allen diesen Argumentationen wurde aber ein grundlegender Fehler gemacht: man arbeitete mit einem auf bestimmte Personen beschränkten Begriff des "Apostels", ohne zu beachten, daß dieser Begriff durchaus nicht streng faßbar ist. Denn der bei Paulus erkennbare älteste Apostelbegriff der Urkirche bezeichnet mit diesem Titel eine nicht genau begrenzte Zahl von Christus selbst berufener Auferstehungszeugen und Missionare, zu denen auch Paulus sich rechnet; schon bei Lukas dagegen wird der Begriff, freilich nicht ganz konsequent, auf die Zwölf beschränkt, während Paulus diesen Titel nicht erhält (Apg 14, 4 ist die Ausnahme, die I die Regel bestätigt); und vom Ende des 1. Jahrhunderts an wird Paulus zwar fast ausnahmslos auch zu den Aposteln gerechnet, dagegen mehr oder den Aposteln gesehen78 • weniger in Abhängigkeit von den Zwölfen Wird so der Apostelbegriff im Neuen Testament selber mehrdeutig gebraucht, so ist darüber hinaus nicht einmal sicher, daß das Neue Testament für die Verfasser des Jakobus- und Judasbriefes, die nach der ältesten Tradition von den Herrenbrüdern dieses Namens stammen sollen, überhaupt den Aposteltitel gebraucht hat79 • Es ist also
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völlig unmöglich, den Begriff des "Apostels" geschichtlich scharf zu 77 Das hat schon F. C. Baur deutlich formuliert: "Die Einleitungswissenschaft hat zu untersuchen, ob diese Schriften auch das an sich sind, was sie nach der dogmatischen Vorstellung, die man von ihnen hat, sein sollen ... Thre erste Aufgabe ist die Beantwortung der Frage, mit welchem Recht sie sich für apostolische Schriften ausgeben"; er redet dementsprechend von "jeder mit den besten kritischen Gründen aus dem Kanon verwiesenen Schrift" (Theol. Jahrbücher 1850, S. 478 und 472; auf diese Äußerung verweist H. Strathmann, aaO, Sp. 306 f.). 78 Siehe W. G. Kümmel, Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein in der Urgemeinde und bei Jesus, 1943, S. 5 ff. und besonders H. v. Campenhausen, Der urchristliche Apostelbegriff, Studia Theologica I, 1947, S. 96 ff. und für die spätere Zeit J. Wagenmann, Die Stellung des Paulus neben den Zwölf in den ersten drei Jahrhunderten, 1926, S. 55 ff. 78 Die Zurückführung des Jakobusbriefes auf den Herrnbruder begegnet zum erstenmal bei Eus. h. e. II, 23, 24, aber schon Origenes hatte den Verfasser ö än6a"toAO~ genannt, ohne über dessen Identität sich im klaren zu sein (s. A. Meyer, Das Rätsel des Jakobusbriefes, 1930, S. 51 ff.); und so heißt der Verf. denn "Apostel" in den abschließenden Kanonsverzeichnissen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts (Athanasius, s. Preuschen, Analeeta II, S. 44, und die römische Synode von 382, s. Th. Zahn, Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 19041, S. 85). Es ist aber äußerst fraglich, ob Paulus den Jakobus zu den Aposteln gerechnet hat (s. W. G. Kümmel, aaO, S. 45 Anm. 15), und im übrigen Neuen Testament erhält Jakobus nirgendwo diesen Titel. - Der Judasbrief wird schon von Tertullian (de culL fern. I, 3) auf einen Apostel, von Giemens von Alexandrien (adumbr. in epistula Judae, Werke hrsg. von 0. Stählin 111, 1909, S. 206) auf den Herrenbruder zurückgeführt; aber im Neuen Testament wird Judas nirgends Apostel genannL
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defmieren, und schon darum ist die Anschauung, daß die Abfassung durch einen "Apostel" Vorbedingung für die kanonische Geltung einer neutestamentlichen Sduift sei, unhaltbar. Und wenn sich darüber hinaus aus den Diskussionen in der Alten Kirche ebenso wie aus der modernen Einleitungswissenschaft ergibt, daß in mehreren Fällen überhaupt nicht sicher festgestellt werden kann, wer eine bestimmte neutestamentliche Schrift geschrieben hat, so ist es erst recht unmöglich, die Entscheidung über die Zugehörigkeit einer urchristlichen Schrift zum Kanon von ihrer Abfassung durch einen "Apostel" abhängig zu machen. Die Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons mit Hilfe der Rückführung jeder einzelnen Schrift auf einen Apostel als Verfasser muß darum völlig aufgegeben werden. Muß man so die Verkoppelung der Fragen nach der apostolischen Abfassung und der Kanonizität einer neutestamentlichen Schrift aufgeben, so ergibt sich ebenso unausweichlich die Folgerung, daß die Frage nach der Grenze des neutestamentlichen Kanons nicht mehr unter Weiterführung der Diskussionen des 3. und 4. und des 16. Jahrhunderts gestellt werden kann. Denn dort ging es ja fast ausschließlich um die Frage, ob die sogenannten Antilegomena (Hehr, Jak, Jud, 2. Petr, 2. und 3. Job, Apk) auch wie die 20 unbestrittenen Schriften des Neuen Testaments als kanonisch anzusehen seien oder nicht, und die Entscheidung über diese Frage wurde, mit der einzigen Ausnahme Luthers, letztlich nur von der Frage nach der apostolischen Herkw#\ dieser Schriften her zu entscheiden gesucht. Im Anschluß an diese altkirchlich-humanistische Fragestellung sucht auch heute noch die Dogmatik immer wieder die Richtigkeit der letzten altkirchlichen Kanonsbegrenzung zu begrünlden oder in Frage zu stellen80 • Sucht man aber von dieser Fragestellung aus die Grenzen des neutestament81 So redetE. Brunner, Offenbarung und Vernunft, 1941, S. 131 von einer "Kanonsperipherie", "innerhalb deren etwa der 2. Petrusbrief, der Judasbrief, der Jakobusbrief und die Apokalypse liegen". Und W. Elert, Der christliche Glaube, 194{), S. 221 ff. behauptet, die Theologie sei immer erneut vor die Frage nach der Geltung der Antilegomena gestellt, und nennt für die Entscheidung der Kanonsfähigkeit zwei Kriterien: "erstens, ob sich in ihrem Zeugnis die Verheißung erfüllt, die Christus an die Sendung des Pneumas knüpfte, zweitens, ob es ursprüngliches oder, anders gesagt, ob es kein abgeleitetes Zeugnis ist". Nun ist das erste Kriterium durchaus berechtigt, das zweite aber schwerlich durdtführbar, da literarische Abhängigkeit, auch wo sie sicher nachweisbar ist, kein Argument gegen kanonische Geltung zu sein braucht. Elert will denn von hier aus nur den Judasbrief als "nicht ursprüngliches Zeugnis" gelten lassen, weil sein Inhalt fast ganz im 2. Petrushrief enthalten sei. Aber wenn man schon dieses Kriterium der "Ursprünglichkeit" im literarischen Sinne aufstellt, darf man die Frage der literarischen Priorität zwischen 2. Petrus und Judasbrief nicht offen lassen, wie Elert es tut, weil ja bei der wahrscheinlicheren Annahme der Abhängigkeit des 2. Petrusbriefes vom Judasbrief diese aus anderen Gründen so problematische Schrift gerade als "ursprüng-
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liehen Kanons zu bestimmen, so müßte sich die Folgerung ergeben, daß die Entscheidung der Kirche des späteren 2. Jahrhunderts betreffs der unbestritten kanonischen Schriften unantastbar sei, nicht aber die der Kirche des 4. Jahrhunderts betreffs der umstrittenen Bücher. Und überdies müßte man dann zugeben, daß die Pastoralbriefe eine unanfechtbare kanonische Autorität besäßen, nicht aber der Hebräerbrief. Diese theologisch unmöglichen Folgerungen beweisen, daß die Frage nach der Grenze des neutestamentlichen Kanons nicht mehr von der Fragestellung aus gelöst werden kann, ob auch die letzte Entscheidung der Alten Kirche auf Grund ihrer Fragestellung nach der "apostolischen" Herkunft der noch umstrittenen Schriften bindend sei oder nicht. Vielmehr müssen wir entschlossen von dem Tatbestand ausgehen, daß der von der Alten Kirche uns überlieferte Kanon uns nicht nur durch bestimmte seiner Schriften, die aus mehr zufälligen Gründen länger umstritten waren als andere, sondern als ganzer vor die Frage stellt, ob er sachgemäß abgegrenzt sei oder nicht. Gehen wir bei der Antwort auf diese Frage von der grundlegenden Einsicht aus, daß die Kirche einen neutestamentlichen Kanon darum haben muß, weil das Zeugnis der ersten Christenheit von der geschichtlichen Heilstat Gottes in Jesus Christus, seiner Auferstehung und der Gründung seiner Gemeinde weitergegeben und vor Auflösung und Umbildung bewahrt werden mußte, so ist klar, daß Schriftep., die nach einem bestimmten Zeitpunkt, also etwa nach dem ersten Viertel des 2. Jahrhunderts, abgefaßt worden sind, nicht mehr als ursprüngliche Zeugnisse angesehen und darum auch nicht mehr zum Kanon gerechnet werden können. Insofern ist der Ausschluß des Hirten des Hermas aus dem Kanon durch das Muratorische Fragment durchaus richtig damit begründet worden, daß er erst neuestens geschrieben worden sei81 • I Freilich läßt sich dieses chronologische Argument nicht als positives Kriterium verwenden, denn der 1. Giemensbrief z. B., der noch von Giemens von Alexandrien zu den kanonischen Schriften gerechnet wurde, liegt zeitlich schwerlich weit vom Johannesevangelium ab, müßte also nach diesem rein chronologischen Maßstab ebensogut in den Kanon aufgenommen werden wie das 4. Evangelium. Und von den lgnatiusbriefen, die zweifellos noch ins erste Viertel des 2. Jahrhunderts gehören, wohin etwa auch die lid:J." und damit als in höherem Maße kanonisd:J. ersd:J.einen müßte! Die Frage der literarischen Ursprünglichkeit kann ebensowenig kanonskritische Bedeutung haben wie die Frage der "apostolischen" Abfassung der sogenannten Antilegomena. 81 "Den Hirten aber, den neuerdings zu unsem Zeiten Hermas in der Stadt Rom verfaßte, als auf dem Stuhl der Stadt Rom sein Bruder Bisd:J.of Pius saß, soll man deshalb zwar lesen, aber er kann nid:J.t in der Gemeinde dem Volk öffentlid:J. verkündigt werden, weder unter den Propheten, die der Zahl nach vollständig sind, noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten" (Z. 73 ff.).
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Pastoralbriefe oder der 2. Petrushrief zu verlegen sein werden, wissen wir nicht, daß sie je als kanonisch gewertet worden seien. Der chronologische Maßstab läßt sich also nur negativ anwenden, indem man feststellt, daß Schriften aus der Zeit der ältesten Apologeten (etwa Barnabasbrief, Papias, Polykarpbrief) nicht mehr zum Kanon gehören können. Weitere formale Kriterien für die Zugehörigkeit einer urchristlichen Schrift zum neutestamentlichen Kanon gibt es aber nicht. Ist es der Sinn der Bildung und Abschließung des neutestamentlichen Kanons, das Zeugnis der ältesten Christen über das geschicl:Itliche Heilshandeln Gottes gegenüber späteren Veränderungen und Zufügungen abzuschließen, so muß die Möglichkeit zugegeben werden, daß ein derartiges urchristliches Schriftstück heute noch auftaucht: und der Kirche muß das Recht zugestanden werden, ein solches erst jetzt gefundenes Dokument der Apostelzeit auch heute noch in den Kanon aufzunehmen, wenn es sich bei Prüfung nicht nur als urchristlicl:I, sondern auch als in Obereinstimmung mit dem grundlegenden neutestamentlichen Kerygma erwiese82 • Und umgekehrt muß die Kirche das Recht haben, ein zum endgültigen Bestand des Neuen Testaments gehöriges Dokument aus dem Kanon wieder auszuscheiden, falls sicher erwiesen werden könnte, daß eine solche Schrift erst jenseits der chronologischen Grenzen des apostolischen Kerygmas entstanden ist. Aber dazu ist einschränkend doch einerseits zu sagen, daß ein solcher den altkirchlichen Kanon abändernder Akt nur dann mehr als ein weiteres historiscl:I zufälliges Ereignis sein könnte, wenn die Gesamtheit der Christenheit sich dazu verstehen könnte, was kaum denkbar istss. Und andererseits könnte, wie schon das Beispiel des 1. Giemensbriefes beweist, die Frage, ob eine neu gefundene Schrift aufzunehmen oder eine bisher als kanonisch angesehene auszuscheiden wäre, doch auf keinen Fall nur nach dem chronologischen Diese Frage wäre heute etwa zu stellen gegenüber der pericope adulterae, die nicht zum Johannestext gehörte, als das 4. Evangelium kanonisiert wurde, die aber wahrscheinlich in "apokrypher" Oberlieferung bis in die Zeit des Urchristentums zu verfolgen ist; die Frage wäre auch zu stellen gegenüber einzelnen apokryph überlieferten Worten und Taten Jesu; doch läßt sich deren Alter weniger sicher erweism (s. J. Jeremias, Unbekannte Jesusworte, 1948). Auf alle Fälle müßten dabei die kanonischen Evangelien der Maßstab sein. 81 "Es ist klar, daß eine solche Veränderung des Kanonbestandes ... sinnvoll und legitim nur als ein kirchlicher Akt, d. h. in Form einer ordentlichen und verantwortlichen Entschließung eines verhandlungsfähigen Kirchenkörpers Ereignis werden könnte" (K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, S. 530). Eine chronologische Umordnung und Ergänzung des Kanons durch Apokryphen, um dadurch "eine dem Stande der Wissenschaft entsprechende Neugruppierung und Ergänzung des Kanons zu erreichen" (das fordert E. Platzhoff-Lejeune, Schweiz. Theol. Umschau 19, 1949, S. 108 ff.), könnte nur Ausdruck subjektiver Willkür sein. 81
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Gesichtspunkt entschieden, sondern müßte I in entscheidender Weise durch Besinnung auf den sachlichen Gehalt der betreffenden Schrift geklärt werden. Damit sind wir aber bei der Erkenntnis angelangt, daß wir den von der Alten Kirche durch autoritativen Entscheid abgeschlossenen Kanon als gegebene Tatsache anerkennen müssen, ohne seinen Umfang als notwendig begründen zu können. Damit ist nicht gesagt, daß der Entscheid der Alten Kirche über den Umfang des Kanons für uns den Charakter einer bindenden Norm haben könne, schon darum nicht, weil dieser Entscheid ja bis ins 16. Jahrhundert nicht allerseits anerkannt worden ist, ganz besonders aber darum nicht, weil wir wissen, daß dieser Entscheid mittels des sachlich unhaltbaren Maßstabs der "apostolischen" Herkunft der einzelnen Schriften gefällt worden ist84 • Der Entscheid der Alten Kirche über den Umfang des Kanons ist vielmehr für uns der einzig mögliche Ausgangspunkt für die notwendige Besinnung über die Frage, was nun wirklich innerhalb des gegebenen Kanons Norm für den Glauben sein kann und muß. Denn der Kanon ist, wie wir sahen, Norm ja nicht auf Grund einer kirchlichen Autorität, die uns seinen normativen Charakter garantiert, sondern er ist Norm auf Grund des nns aus dem Kanon selber entgegentönenden und unsem Glauben weckenden Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus. Und das kann ja nur heißen: der Kanon
ist Norm für die Verkündigung der Kirche und damit für den Glauben, insoweit und nur insoweit er solches Christuszeugnis ist. Es kann also gar keine Frage sein, daß Luthers Grundsatz völlig richtig ist, daß kanonisch sei, "was Christum prediget und treibet" 85 • Nur bleibt die Frage zu beantworten, wie dieser Grundsatz konkret angewandt werden könne. Suchen wir aber auf diese Frage eine wirklich zuverlässige Antwort, so müssen wir mit der schon genannten Erkenntnis Ernst machen, daß die Frage nach dem "apostolischen" Verfasser in diesem Zusammenhang völlig aus dem Spiele bleiben muß. Aber ganz genauso müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es eine durchaus unberechtigte Voraussetzung ist, daß das Christuszeugnis in den älteren Schriften am unverfälschtesten zu finden sein müsse, so daß also 84 Es ist darum falsch, daß man die einst gefallenen Entscheidungen der Kirche "wie hinsichtlich des Dogmas so auch hinsichtlich des Kanons als in Kraft und Geltung stehend ansehen müssen" werde (so K. Barth, aaO, S. 530). K. Barth zitiert darum zustimmend die in der Confessio Gallicana von 1559 erfolgte Festlegung des Umfangs der Heiligen Schrift auf den altkirchlichen Kanon (aaO, S. 525), während die lutherischen Bekenntnisschriften mit Recht keine solche Festlegung vorgenommen haben (s. P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 199 und W. Eiert, Der christliche Glaube, S. 221). ea S. oben S. 242.
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etwa die Synoptiker infolge ihrer größeren Nähe zum geschichtlichen Jesus dem völlig vom Christusbekenntnis der Urkirche her redenden Johannesevangelium in jeder Hinsicht überlegen sein müßten. Wir haben ja das Zeugnis von Jesus Christus in allen Schriften des Neuen Testaments nur in menschlicher Form, und die menschliche Irrtumsfähigkeit und das menschliche Unverständnis der göttlichen Wahrheit gegenüber ist angesichts der älteren Schriften ebenso in Rechnung zu stellen wie angesichts der jüngeren. Es ist darum ganz gewiß möglich und sogar wahrscheinlich, daß der zeitllich größere Abstand von der Geschichte Jesu auch eine sachliche Entfernung von der ursprünglichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus mit sich bringt; aber wenn wir nicht bewußt im Gegensatz zum ganzen Neuen Testament die Offenbarung auf den geschichtlichen Jesus vor Ostern und Pfmgsten einschränken, so kann die frühere oder spätere Entstehung einer urchristlichen Schrift innerhalb der für den Kanon in Betracht kommenden Zeit (sog. apostolisches und nachapostolisches Zeitalter) an sich noch nichts über ihr sachliches Verhältnis zum apostolischen Kerygma aussagen88 • Wir kommen zu einer nicht rein subjektiven, aber auch nicht rein historisierenden Bestimmung der Grenze des neutestamentlichen Kanons nur dann, wenn wir den uns von der Alten Kirche überlieferten Kanon von dem Wissen her prüfen, daß hier von der geschichtlichen, endgültigen Offenbarung Gottes die Rede ist. Und das heißt ja nicht nur, daß die urchristliche Verkündigung der geschichtlichen Person Jesu und den geschichtlichen Ereignissen nach seinem Tode eine für immer gültige göttliche Bedeutung beimißt, sondern daß diese Verkündigung selber eine in der vergangenen Geschichte sich vollziehende und darum nicht zeitlose und unwandelbare Verkündigung ist. Das Zeugnis des Neuen Testaments ist seinem Wesen nach ein vielfältiges und sich entwickelndes, und gerade darum kann nur eine Sammlung der verschiedenartigen Zeugnisse, d. h. der Kanon, uns in ausreichender Weise mit dem urchristlichen Kerygma der Apostelzeit in Verbindung bringen87 • Dieses vielgestaltige Zeugnis hat aber seine für alle Zeiten normative Bedeutung nicht deswegen, weil es im Kanon steht, sondern darum, weil es in einem zeitlich ee Die Forderung von P. Althaus (Die christliche Wahrheit I, S. 195), "die Nähe einer Schrift zur Offenbarungsgeschichte, zu dem ursprünglichen missionarischen Zeugnis der Apostel" müsse durch historische Untersuchung festgestellt werden, ehe über die Kanonizität einer Schrift entschieden werden könne, ist nur dann richtig, wenn man sie auf die historische Feststellung beschränkt, daß eine Schrift vor etwa dem zweiten Viertel des 2. Jahrhunderts entstanden sei. 87 0. Cullmann, Die Pluralität der Evangelien als theologisches Problem im Altertum, ThZ 1, 1945, S. 23 ff. (40 ff.) hat mit Recht die Mehrzahl der kanonischen Evangelien mit der notwendigen Beschränktheit des einzelnen Christuszeugnisses begründet.
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und sachlich nahen Verhältnis zur geschichtlichen Christusoffenbarung steht. Daraus ergibt sich, daß eine Schrift des Neuen Testaments, aber ebenso auch nur ein Abschnitt einer neutestamentlichen Schrift, um so sicherer zum normativen Kanon gerechnet werden muß, je eindeutiger der Text auf die geschichtliche Christusoffenbarung hinweist und je weniger er durch außerchristliche Gedanken oder durch spätere christliche Fragestellungen verändert ist88 • Was aber von dieser Christusoffenbarung und ihrer Bedeutung für den Glauben nicht redet, hat nur in einem beschränkten oder auch in gar keinem Maße Anteil am normativen Charakter des Kanons89 • I Wie aber finden wir, ob eine Schrift oder Schriftstelle eindeutig auf die geschichtliche Christusoffenbarung hinweist oder nicht? Wir haben diese Christusoffenbarung ja nicht außerhalb ihrer Bezeugung im Neuen Testament, können das normative Zeugnis über sie also nur durch kritische Zusammenschau der verschiedenen Formen der neutestamentli
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mas sich eine in den Grundzügen einheitliche Verkündigung ergibt91 , so haben wir eine zentrale Verkündigung gewonnen, an der das übrige Zeugnis des Neuen Testaments gemessen werden kann. Solches Messen bedeutet eine in historischer Arbeit sich vollziehende Aufgabe, die in vieler Hinsicht erst geleistet werden muß. Es wird sich bei solcher Untersuchung auf der einen Seite herausstellen, daß auch die geschichtlich späteren Schriften des Neuen Testaments zu einem erheblichen Teil eine sachlich berechtigte oder sogar notwendige Weiterbildung der zentralen Christusverkündigung enthalten (das gilt z. B. weitgehend für das Evangelium und die Briefe des Johannes, den Hebräer-, 1. Petrus- und Epheserbrief, die Geschichtsanschauung der Johannesapokalypse); es wird sich auf der andem Seite zeigen, daß auch Schriften, die an bestimmten Punkten in sachlichem Gegensatz zur zentralen Christusverkündigung stehen (der Hebräerbrief mit seiner Lehre von der Unmöglichkeit der 2. Buße; die Pastoralbriefe und der Judasbrief mit ihrem Glaubensbegriff; die Apokalypse mit ihrer Erwartung eines messianischen Zwischenreiches und der Ausmalung der sich folgenden eschatologischen Ereignisse; der 2. Petrusbrief mit seiner hellenistischen Erlösungslehre und seiner Aufhebung der eschatologischen Naherwartung), daneben durchaus an der allgemein neutestamentlichen Christusverkündigung Anteil haben (der Hebräerbrief durch seine ganz auf die Einmaligkeit des Opfers Christi gebaute Sühnelehre; die Pastoralbriefe durch ihre Betonung der Fleischwerdung und der rettenden Kraft des eschatologischen I Geistes; die Apokalypse mit ihrer Betonung der Folgerichtigkeit des eschatologischen Handeins Gottes und ihrer Betrachtung der Gegenwart als vorauswirkendem Beginn der Endzeit; der 2. Petrushrief mit seiner Betonung der bleibenden Bedeutung der Erwartung des eschatologischen "Tages" usw.; nur der kleine Judasbrief enthält keinerlei zentrale Christusverkündigung). Es wäre also durchaus unsinnig, diese in irgendeiner Hinsicht zur zentralen Verkündigung in Spannung stehenden Schriften deswegen schon aus dem Kanon zu verweisen, zumal manche der genannten Anstöße ihre Parallelen auch in sonst durchaus der zentralen Verkündigung zugehörigen Schriften haben92 • Ja, es findet sich bei Vertretern des zentralen Kerygmas 11 Vgl. W. G. Kümmel, Jesus und Paulus, ThB119, 1940, S. 209 ff. und meine Bemerkungen in M. Dibelius, Paulus, 1951, S. 141 ff.; ferner C. H. Dodd, The Apostolic Preaching and its Developments, 1936 (dazu ThR N.F.14, 1942, S. 93ff.) und H.-D. Wendland, Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im NT, 1938, s. 10 ff., 23 ff., 69 ff. 11 Die Lehre des Hebräerbriefs von der Unmöglichkeit der 2. Buße hat ihre Parallelen in 1.Job 5, 16 f. und in entfernterem Maß in Mk 3, 28--30; der Glaubensbegriff der Pastoralbriefe und des Judasbriefs begegnet ähnlich auch Hehr 11, 1-6 und Jak 2, 14 ff. (s. W. G. Kümmel, Der Glaube im NT, seine katholische
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durmaus audl "apokryphes" Einzelgut93 , und es fmden sidl dort sachliche Widersprüche gegen das ursprüngliche Christuszeugnis96 • Die eigentliche Grenze des Kanons läuft also durch den Kanon mitten hindurch, und nur wo dieser Sachverhalt wirklich erkannt und anerkannt wird, kann die Berufung katholischer oder sektiererischer Lehren auf bestimmte Einzelstellen des Kanons mit wirklich begründeten Argumenten abgewehrt werden95 • Diese "innere Grenze" des Kanons kann nur durch ständig neue Besinnung auf die zentrale Christusverkündigung und durch Prüfung des gesamten neutestamentlichen und außerkanonisdlen frühkirclilichen Schrift!tums an dieser zentralen Verkündigung erkannt und gesichert werden98 • Von solcher Besinnung und reformatorische Deutung, ThBl 16, 1937, S. 209 ff., bcs. 216 f.); eine Ausmalung der eschatologischen Ereignisse im Sinne der Apokalyptik ähnlich wie in der Apokalypse fmdet sich auch Mk 13 und par. und in abgeschwächtem Maße bei Paulus t.Kor 15 und 2.Thess 2; die eschatologische Naherwartung tritt auch im Jobarmesevangelium völlig zurück. 13 K. L. Schmidt, Kanonische und apokryphe Evangelien und Apostelgeschichten, 1944, S. 33 f. hat darauf verwiesen, daß die Erzählung vom Tod des Täufers Mk 6, 17 ff. und par. "innerhalb der kanonischen Evangelien ein eigentliches Apokryphon" ist; der Mythos von der Hadespredigt Christi t.Petr 3, 19 f. hat im Neuen Testament keine Parallele und ist eine sachlich problematische Erweiterung des ältesten Kerygmas (s. den Nachweis in Abschnitt Il, b meines Aufsatzes "Mythos im NT", ThZ 6, 1950, Heft 5, S. 321-337 [329 ff.]); Apg 20, 7 ff. und 28, 3 ff. finden sich völlig profane und ohne jede erkennbare Beziehung zum Christuskerygma stehende Wundererzählungen (s. M. Dibelius, Stilkritisches zur Apostelgeschichte, Eucharisterion für H. Gunkel Il, 1923, S. 42 f., 45). 14 Die Vorstellung von der religiösen Unterlegenheit der Frau dem Mann ge· genüber (1.Kor 11, 2 ff.) widerspricht der christlichen Einsicht des Paulus (Gal 3, 28; s. meine Bemerkungen in der 4. Aufl. von H. Lietzmann, An die Korinther I, Il, 1949, S. 183 f.); in der Apostelgeschichte findet sich (17, 28 f.) die dem Men· sehenbild des ganzen Neuen Testaments widersprechende Vorstellung von der Gottverwandtschaft des Menschen (s. W. G. Kümmel, Das Bild des Menschen im NT, 1948, S. 51 ff.); die Vorstellung von der NadLweisbarkeit der Auferstehung Christi durch die Tatsache des Essens des Auferstandenen mit den Jüngern (Lk 24, 36 ff.) und durch die Wirklichkeit des leeren Grabes (Mt 27,62 ff.; 28, 11 ff.) widerspricht der ursprünglichen Verkündigung, die nur eine Bezeugung der Aufer· stehung Christi kennt (s. meinen in der vorigen Anmerkung genannten Aufsatz und ThR N. F. 17, 1948/49, S. 6 ff.). 11 Siehe dazu meinen Aufsatz ThB116, 1937, S. 209 ff. und die Bemerkung von P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 213: "Die evangelische Kritik an Rom läßt sich nicht ohne Kritik innerhalb der Schrift vom Evangelium her vollziehen." Vgl. auch Luthers oft zitierte These von 1535 (WA 39, 1, S. 47): "Scriptura est, non contra, sed pro Christo intelligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scriptura non habenda ... Quod si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam" (von Althaus, S. 211 angeführt). 81 Es fehlen z. B. fast völlig Arbeiten, die den sachlich berechtigten Ausschluß der "nachapostolischen" Literatur aus dem N'euen Testament nachweisen, etwa an Hand des Moralismus und der Traditionslehre des 1. Giemensbriefes oder der willkürlichen Typologie des Bamabasbriefes. Ein wichtiger Vorstoß in dieser Richtung
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aus gewinnen wir die Freiheit, die zentrale Christusverkündigung des Neuen Testaments in ihren verschiedenen Formen wirklich als Nonn zu begreifen97 , von der der Christ jeder späteren Zeit als der Hörende sich abhängig weiß, ohne in Versuchung geraten zu müssen, jedes Wort des Neuen Testaments nur darum alsnormativ anzusehen, weil es in die kirchliche Sammlung der apostolischen Schriften aufgenommen worden ist. Die Grenze des neutestamentlichen Kanons ist darum historisch geschlossen, sachlich aber immer von neuem zu bestimrnen98 • Und darin hat der Kanon nur Anteil an der geschichtlichen Zufälligkeit und Ungesichertheit, aber ebenso an der einmaligen und unbedingten Bedeutsarnkeit des rettenden Handeins Gottes in Christus. Und sowenig wir das Christusgeschehen in eindeutige Formeln fassen können, sowenig können wir den das Zeugnis von diesem Geschehen bewahrenden Kanon eindeutig begrenzen. Das mag für den Theologen eine Not sein, der er sich aber nicht entziehen darf. Für den Glaubenden ist die Unsicherheit der Grenze des neutestamentlichen Kanons ein Hinweis auf die Fleischwerdung des Logos. ist von K. L. Schmidt durch seinen Vergleich des Petrusevangcliums mit den kanonischen Evangelien vorgenommen worden (Kanonische und apokryphe Evangelien und Apostelgcschichten, 1944, S. 37 ff.); und für lgnatius liegen wichtige Untersuchungen in dieser Richtung vor, besonders Ph.-H. Menoud, L'originalite de la pensee johannique, Rev. de theol. et de philos. 1940, S. 233 ff. und C. Maurer, lgnatius von Antiochien und das Johannesevangelium, 1949. ' 7 Zum Wortsinn von xavwv vgl. H. W. Beyer, ThW 111, 1938, S. 600 ff. 118 Wo man die Grenze des neutestamentlichen Kanons nach der Alten Kirche hin grundsätzlich offenläßt, wie es E. Stauffer tut (Die Theologie des NT, 19484), muß unvermeidlimerweise die urchristliche Botschaft von der frühkatholischen Fortbildung des Urchristentums her uminterpretiert werden, und der Kanon verliert seinen Charakter als Maßstab für die kirchliche Verkündigung (s. meine Bemerkungen ThLZ 75, 1950, S. 424 ff.). Wo umgekehrt die "Einheitlichkeit" der neutestamentlichen Aussagen als zu erstrebendes Ziel vorausgesetzt wird, wie etwa bei M. Barth (Der Augenzeuge, 1946), da müssen nicht nur sich widersprechende Aussagen gewaltsam zur Einheit geführt werden, sondern da wird auch die Wirklichkeit nicht ernst genommen, daß der Kanon Zeugnis einer Entwicklung des Christuszeugnisses ist, und die geschichtliche Wirklichkeit des sich wandelnden Urzeugnisses muß ersetzt werden durch eine ungeschichtliche Konstruktion (s. dazu E. Käsemann, ThLZ 73, 1948, S. 665ff.). Die Gleichwertigkeit des ganzen Kanons ist zum Prinzip erhoben von 1.-L. Leuba, L'institution et l'evenement, Diss. NeuchAtel 1950, S. 6 ("Mais ce a quoi l'Eglise et le theologien se refuseront, c'est a se confier a l'etude historique pour determiner ce qui est canonique et ce qui ne l'est plus. La decision a ete prise une fois pour toutes. L'Eglise reformee, si fiere, a juste titre, du fondement scripturaire de Sa theologie, fera bien de s'en SOUVenir, Ia toute premierel"). Dagegen betont mit Recht im Sinne des oben Ausgeführten E. Käsemann, Verkündigung und Forschung, 1950, S. 209 f., die Gefahr eines "massiven und primitiven Kanonbegriffs" für die "sachliche Autorität des reformatorisch verstandenen Evangeliums".
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OsKAR CuLLMANN
Die Tradition und die Festlegung des Kanons durch die Kirche des 2. Jahrhunderts• Um die Bezogenheil von Schrift und Tradition zu bestimmen, sind wir in den beiden ersten Kapiteln vom Grund der christlichen Kirche ausgegangen, von der Zeit, die wir die der heilsgeschichtlichen Mitte genannt haben, von der Zeit Jesu und seiner Apostel. Wir haben über dieses Problem das Neue Testament selbst befragt, und es schien uns dabei der Gedanke des Apostolats, oder besser gesagt: der Einzigkeil des Apostolats, die dort gegebene Antwort zu fordern. Indem der ganze Beweis vom Gedanken des apostolischen Amts her geführt wurde, ist bisher als Schrift bloß das Neue Testament in Betracht gezogen worden, d. h. das unmittelbare Zeugnis der Apostel über die Grundtatsachen des Werks des fleischgewordenen Christus und über ihre eigenen Taten. Nunmehr wollen wir die Frage von der Geschichte der alten Kirche
her beleuchten und untersuchen, ob die bisherigen Ergebnisse hier ihre Bestätigung finden. Wie wir im vorangehenden die Lösung unseres Problems in der Schrift gefunden haben, so wollen wir sie jetzt sozusagen in der Tradition selbst suchen. Vor allem wird hervorzuheben sein, daß die werdende Kirche selbst apostolische Tradition von kirchlicher unterschieden wissen wollte, indem sie die zweite deutlich der ersten, d. h. sich selbst der apostolischen Tradition unterordnete. Um die These von der überlegenheil der Schrift zu bekämpfen, pflegt die katholische Theologie mit Nachdruck die zeitliche Priorität der Tradition gegenüber der Schrift zu betonen. Diese Priorität wird nun niemand leugnen, wenn es sich um diejenige der apostolischen Tradition handelt. Doch wenn sich zeigen läßt, daß die Kirche selbst durch die Kanonbildung einen Wesensunterschied zwischen vor- und nachkanonischer Tradition anerkannte, so beweist der zeitliche Vorrang der mündlichen apostolischen Tradition vor ihrer schriftlichen Niederlegung nichts für die Tradition an sich. Wir sprechen hier zunächst vom Ursprung der ersten christlichen Schriften, dann von dem des Kanons. In der Tat liegt die mündliche Tradition der Apostel zeitlich I vor • Aus: 0. Cullrnmrn, Die Tradition als exegetisches, historisches und theologisdles Problem, Zwingli-Verlag, Zürich 1954, S. 42-54.
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den ersten apostolischen Schriften und war sicher umfangreicher als die schriftliche Tradition1• Was bedeutet aber die Tatsache, daß die Apostel und ihre Wortführer diese mündliche Tradition zu einem gewissen Zeitpunkte schriftlich festgelegt haben? Das ist ein für die Heilsgeschichte höchst bedeutsames Geschehen. Sein Sinn kann nur darin liegen, daß die mündliebe Tradition der Apostel fest umgrenzt wurde, um in dieser Form zu einer endgültigen Norm für die Kirche zu werden, zu einer Zeit, von der an die Kirche sich über die ganze Welt verbreiten und bis zur Aufrichtung des Gottesreiches gebaut werden sollte. Nimmt man an, daß die mündliche Tradition der Apostel der Kirche als depositum anvertraut wurde, damit diese daraus im Laufe der Zeiten gleichwertiges, normatives, in den apostolischen Schriften nicht enthaltenes Gut gewinne, dann wird durch diese Annahme die Tatsache der Abfassung von Schriften durch Menschen, welche die Kirche als "heilige Schriftsteller" bezeichnet, vollständig entwertet. Die apostolischen Schriften werden in diesem Falle zu wohl nützlichen, aber keineswegs mehr unentbehrlichen Werkzeugen herabgewürdigt. In Wirklichkeit ist die Theorie "geheimer", ungeschriebener apostolischer Tradition, deren Gefährlichkeit die Kirche selbst wahrgenommen hat, durch die Gnostiker geschaffen worden2 • Wenn dagegen die schriftliche Niederlegung der apostolischen Botschaft eine Grundtatsache der Inkarnation ist, haben wir das Recht und die Pflicht, apostolische Tradition und die Schriften des Neuen Testaments in eins zu sehen, beide dagegen von der nachapostoliscben, nachkanonischen Tradition zu scheiden. Wir !werden sehen, daß die erst mündlieb überlieferteGlaubensregelnur darum als Norm neben der Schrift angenommen wurde, weil man sie für apostolischen Ursprungs hielt. Ob die apostolische Tradition mündlieb oder schriftlieb war, ist weniger gewichtig, als daß sie durch die Apostel festgelegt wurde. Hat nun die alte Kirche tatsächlich zwischen apostolischer und nachapostolischer Tradition unterschieden? Hier muß von der Einführung 1 Dies gebe ich G. Bavaud, &riture et Tradition selon M. Cullmann, Nova et vetera 1953, S. 136, gerne zu, der hier an 2.Thess 2,15 ("Haltet die Oberlieferungen fest, die ihr gelehrt worden seid, sei es durch ein Wort, sei es durch einen Brief") erinnert und folgert, die Schrift sei nur ein Teil der Tradition. 1 G. Bavaud, op. cit., S. 137 f. erinnert mit Recht daran, daß die Aufgabe der ·Tradition nach katholischer Lehre nicht bloß in der Auslegung der Schrift besteht, sondern auch in der Bestimmung dessen, was zum apostolischen depositum gehört, das ja auch mündliche Oberlieferungen umfaßt (1.Tim 6,20; 2.Tim 1,14). Ich habe diese Funktion der katholischen Tradition schon in meinem Aufsatz "1kriture et Tradition", Dieu vivant Nr. 23, S. 47 ff. (58), berücksichtigt. Aber ich betone, daß nur die Schrift und nicht die kirdillehe Tradition Norm sein kann bei der Feststellung dessen, was apostolisches depositum ist (auch in Fragen von Riten und Institutionen). Im Verständnis der Norm ist unser Gegensatz begründet.
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des Kanons durch die Kirche des 2. Jahrhunderts gesprochen werden. Auch dies Ereignis ist von allergrößter Wichtigkeit für die Heilsgeschichte. Ich bin durchaus einig mit der katholischen Theologie, daß die Kirche selbst im Prinzip den Kanon geschaffen hat. Daraus ziehe ich sogar das Hauptargument für meinen Beweis. Die Festlegung des christlichen Schriftkanons zeigt an, daß die Kirche selbst zu bestimmter Zeit eine klare Scheidelinie zwischen der Zeit der Apostel und der Zeit der Kirche, zwischen der Zeit der Grundlegung und der Zeit des Aufbaus, zwischen der apostolischen Gemeinde und der Kirdie der Bischöfe, kurz zwischen apostolischer und kirchlicher Tradition gezogen hat. Dies Ereignis wäre sinnlos, wenn darin nicht die Bedeutung der Kanonbildung läge. Es ist gut, sich dazu die Lage zu vergegenwärtigen, in der die Kirdie sidi gedrängt sah, den Kanonbegriff überhaupt zu denken. Wie wir durch Papias erfahren, der ja eine Auslegung der Worte Jesu geschrieben hat, besteht um das Jahr 150 noch eine mündliche Uberlieferung. Er beruft sich selbst dabei auf die viva vox und schreibt ihr mehr Bedeutung zu als den Schriften. Von Papias besitzen wir aber nicht nur diese grundsätzliche Erklärung, sondern auch einige Beispiele für die von ihm verwendete mündliche Uberlieferung, die uns deutlich zeigen, was wir von einer mündlichen Tradition um 150 zu halten haben! Sie ist durch und durch legendenhaft. Man kann sich bei der Lektüre des Papiasfragmentes über Joseph Barsabbas, den nach Apg. 1,23 ff. nidit gewählten Kandidaten, davon überzeugen. Vor allem aber sei erinnert an den obszönen und ganz legendären Bericht über den Tod des Judas Ischariot. Gegen 150 ist man eben trotz der noch verhältnismäßigen Nähe zur apostolischen Zeit doch schon zu weit von ihr entfernt, als daß die lebendige Tradition irgendwie Ursprünglichkeit gewährleisten I konnte. Die mündlichen Uberlieferungen, die Papias wiedergibt, sind in der Kirche geboren und wurden durch sie weitergegeben. Außerhalb ihrer bestand ja kein Verlangen, die Strafe des Verräters in so derben Farben zu schildern. Papias irrte also, wenn er die viva vox wertmäßig über die geschriebenen Bücher stellte. Normativen Wert hatte die mündliche Tradition zur Zeit der Apostel, der Augenzeugen, nicht mehr aber um 150, nachdem sie von Mund zu Mund überliefert worden war. Die durch Papias erwähnten Oberlieferungen stehen nicht allein. Aus der gleichen Zeit besitzen wir die ersten apokryphen Evangelien, in denen andere mündliche Oberlieferungen verwertet sind. Es genügt, darin zu lesen, wie das Jesuskind lebendige Sperlinge erschuf, Wasser in seiner Schürze trug, auf wunderhafte Art lästige Kameraden umbrachte, es genügt auch, in den zahlreichen apokryphen Apo-
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steigeschichten zu blättern, um zu verstehen, daß die Tradition in der Kirche die Wahrheit nicht mehr sichern konnte, auch wenn sie sich auf eine Überlieferungskette stützte, auch wenn all diese Oberlieferungendurch Ketten, die auf die Apostel zurückgehen sollten, gerechtfertigt wurden. Papias beruft sich ja ebenfalls darauf, wenn er erklärt, sich bei Männern erkundigt zu haben, die mit den Aposteln noch in Berührung gestanden hatten. Das kirchliche Lehramt an sich vermag die Reinheit des Evangeliums nicht zu wahren. Durch die Einführung eines Kanonprinzips hat die Kirche anerkannt, daß von jetzt an die Tradition kein Wahrheitskriterium war. Sie hat unter die apostolische Tradition einen Strich gesetzt und damit erklärt, daß von jetzt an jede spätere Tradition durch die apostolische überprüft werden müsse. Das besagt mit andern Worten: hier ist die Tradition, welche die Kirche begründet und die sich ihr aufgedrängt hat3 • Damit hat sie gewiß nicht der Fortentwicklung der Tradition ein Ende setzen wollen. Aber sozusagen durch eine Tat der Demut hat sie jede aus ihr hervorgegangene spätere Tradition dem Maßstab der in den Heiligen Schriften festgelegten apostolischen Tradition unterstellt. Die Aufstellung eines Kanons kam der Erkenntnis gleich: I von nun an muß unsere kirchliche Tradition überwacht werden; dies wird sie- mit dem Beistand des Heiligen Geistes -allein durch die schriftlich festgesetzte apostolische Tradition; denn wir entfernen uns allmählich zu sehr von der Zeit der Apostel, um über die Reinheit der Tradition ohne übergeordnete schriftliche Norm wachen zu können; zu sehr, um zu vermeiden, daß leichte, legendenhafte und sonstige Entstellungen sich einschleichen, überliefert werden und so an Umfang gewinnen. Doch dies bedeutete gleichzeitig auch, daß die einzig als apostolisch geltende Tradition begrenzt werden mußte; denn alle Gnostiker beriefen sich auf geheime, ungeschriebene, angeblich apostolische Traditionen. Mit der Kanonbildung war gesagt: wir verzichten von nun an darauf, die andern, von den Aposteln nicht aufgeschriebenen Traditionen als Normen anzuerkennen; gewiß können andere ursprüngliche apostolische Traditionen bestehen, aber als apostolische Norm betrachten wir einzig, was in diesen Büchern aufgeschrieben ist, da sich erwiesen hat, daß mit der Aufnahme mündlicher, von den Aposteln nicht aufgeschriebener Traditionen als Normen der Prüfstein dafür verloren geht, inwiefern zahlreiche verbreitete Traditionen mit Recht Apostolizität beanspruchen. Die Forderung, die im Kanon eingeschlossenen Schriften als Norm zu betrachten, schloß die Erkenntnis in sich, daß siege1 Dieser Punkt wird stark von K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 1, S. 109 ff., her· vorgehoben, in seinem Gefolge auch von H. Diem, Das Problem des Schriftkanons, Theol. Studien, Nr. 32, 1951.
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nügen. Das Lehramt der Kirche hat mit dem entscheidenden Akt der Kanonbildung nicht abgedankt, hat aber seine zukünftige Tätigkeit von dieser Norm abhängen lassen. Die katholische Theologie gibt zwar zu, um einen Satz von J. Danielou zu zitieren4 , "daß die Festlegung des Kanons den Ort bezeichnet, wo die eigentliche Offenbarung aufhört, doch leugnet sie, daß dies den Sitz der Autorität verlege und von der lebendigen Kirche auf den geschriebenen Bumstaben übertrage". Wir werden aber auch nicht behaupten, daß die Autorität von der Kirche auf den Buchstaben übergegangen ist; denn vor der Kanonbildung gab es noch keine eigentlime Lehrvollmacht, wie es das Wuchern apokrypher Traditionen im Smoße der Kirdie beweist. Unter den zahlreichen christlimen Schriften haben sich die den zukünftigen Kanon bildenden Bücher der Kirche lediglich Idurch ihre innere apostolische Autorität aufgedrängt, so wie sie sich noch heute uns aufdrängen, weil Christus, der Kyrios, in ihnen spricht. Indem die Kirche des 2. Jahrhunderts einen Kanon forderte (es geht hier um das Prinzip, nicht um die endgültige Bildung des Kanons), bat sie nicht nur im Blick auf die auftauchenden Gefahren, vor allem gegenüber der Gnosis, Stellung genommen. Sie hat einen die ganze Zukunft der Kirche verpflichtenden Entscheid getroffen. Sie hat nicht für die andern, sondern für sich selbst eine Norm aufgestellt und bat die Kirche aller Zeiten dieser Norm unterworfen. Ohne sich ihres Lehramtes zu berauben, hat sie dieses klar umschrieben: wahres Lehramt wird es nur insofern sein, als es seinen Ausgangspunkt in einem Akt der Unterwerfung unter die kirchliche Norm des Kanons nimmt. Aus dieser Unterwerfung allein gewinnt es seine Kraft. Der Heilige Geist wirkt dann auch in dieser Unterwerfung. In diesem Rahmen wird die Geisteingebung der Kirche immer gewährt werden. Ist es jedoch erlaubt, der Bildung des Kanons solche Bedeutung für die Heilsgeschichte zuzuschreiben? Wird damit nicht der Kirche des 2. Jahrhunderts, der ja der Kanongedanke entsprungen ist, eine außergewöhnliche Würde beigelegt? Man wird anerkennen müssen, daß dies ein für die Zeit der Kirche entscheidendes Geschehen war. Um 150 war man einerseits noch nahe genug bei der Zeit der Apostel, um mit Hilfe des Heiligen Geistes die mündlichen und schriftlichen Oberlieferungen zu sichten. Anderseits hatte das erschreckende Wuchern gnostischer und legendärer Traditionen die Kirche für diese Tat der Demut, für die Unterwerfung aller späteren Eingebung unter eine Norm, reif gemacht. Zu keiner andern Zeit der Kirche hätte die Kanonbildung vollzogen werden können. Damals hat Gott die • J. Danielou, Reponse a Oscar Cullmann, Dieu vivant, Nr. 24, S. 107 ff. (109), im folgenden zitiert: Dan.ielou, Rep.
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Kirche dazu begnadigt, den Unterschied zwischen Inkarnationszeit und Zeit der Kirche zu erkennen. Einzig die klare Unterscheidung zwischen den beiden Zeiten kann der Kirche das hohe Bewußtsein wahren, in der Heilsgeschichte ihren Ort, ihre Zeit zu haben. Sie hat dies Bewußtsein insoweit, als sie erkennt, daß die Zeit Jesu und der Apostel die Mitte aller Zeiten ist und allen Zeiten, auch der der Kirche, ihren eigentlichen Sinn gibt. Durch die Schaffung einer Norm hat die Kirche verzichtet, ihre I eigene Norm zu sein5 , da sie festgestellt hatte, daß ihr Lehramt ohne
eine überlegene schriftliche Norm die apostolische Tradition nicht rein erhalten konnte. Ganz im Bewußtsein ihrer hohen Sendung, den Leib Christi auf Erden in der Gegenwart darzustellen, also im Bewußtsein der höchsten Sendung, hatte sie begriffen, daß sie ihr nur in der Unterwerfung unter die Norm des apostolischen Kanonstreu sein konnte. Hätte die Kirche den Kanon mit der stillschweigenden Voraussetzung geschaffen, daß ihm das Lehramt der Kirche, also die späteren Traditionen, als normative Autoritäten gleichgeordnet wären, dann hätte die Bildung des Kanons keinen eigentlichen Sinn gehabt. Wenn das Lehramt der Kirche nach wie vor der Schaffung des Kanons eine gleichwertige, höhere Norm bliebe, könnte die Kirche selbst als letzte Instanz stets aufs neue über die Obereinstimmung der Unterweisung ihrer Lehrer mit der apostolischen Tradition urteilen. Die Kanonbildung wäre somit überflüssig gewesen. Sie ist sinnvoll nur dann, wenn die Kirche von da an in der Ausübung ihres Lehramtes sich dieser übergeordneten Norm unterwirft und immer wieder zu ihr zurückkehrt. Ich wage sogar die paradoxe Behauptung, daß das Lehramt der Kirche sich einer wirklichen Unfehlbarkeit wenigstens in dem Maße nähert, als sie in der Unterwerfung unter den Kanon jeden Anspruch auf Unfehlbarkeit aufgibt. Die durch die Kirche geschaffene Tradition erhält für das Verständnis der göttlichen Offenbarung einen wirklichen Wert in dem Maße, als sie sich nicht als unentbehrliches Transparent zwischen die Bibel und den Leser schiebt. Der durch die Kirche des 2. Jahrhunderts gebildete Kanon umfaßt nicht nur die Bücher der Apostel, sondern auch das Alte Testament. Es konnte zunächst darum aufgenommen werden, weil man die Zeit der Inkarnation als die Mitte der Zeiten erkannt hatte, als die Mitte einer Heilsgeschidlte, die vor der Inkarnation beginnt und sich nach ihr fortsetzt. Das Alte Testament ist in den Kanon aufgenommen worden als Zeugnis für diejenige heilsgeschichtliche Zeit, die die Fleischwerdung vorbereitet. So haben Jesus und die Apostel die Ge1 K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 1, S. 107, spricht dies auf seine Weise aus: "In der ungeschriebenen Tradition ist die Kirche nicht angeredet, sondern im Gespräch mit sich selbst begriffen."
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schichte Israels verstanden. Die I Kirche hat also damit den Aposteln Treue bewiesen, daß sie dem Alten Testament in der apostolischen Norm, im Kanon, einen Raum zugewiesen hat. Damit drängt sich aber ein Einwand auf: wird die Geschichte des alten Gottesvolkes normativ, wie sollte dies nicht auch für das neue Gottesvolk, für die Kirche, zutreffen? Wird damit nicht die Zeit der Vorbereitung auf die Fleischwerdung hin vor der Zeit ihrer Entfaltung, nämlich vor der Zeit der Kirche, bevorzugt? Dieser Einwand ist in der Tat gegen mich erhoben worden8 • Dagegen ist daran zu erinnern, daß ja die Kanonbildung als Bestandteil der Heilsgeschichte betrachtet werden muß. Die Festlegung dieser Norm bedeutete gewiß nicht, entgegen der Ansicht vieler Protestanten, die Heilsgeschichte stehe von nun an bis zur Wiederkehr Christi still. Nein, das Volk des neuen Bundes ist im Gegenteil vor dem des alten Bundes bevorzugt; denn es lebt bereits im neuen Aeon, obwohl die Endvollendung noch aussteht. Der Heilige Geist, der sich im alten Bunde nur in einigen Gottesmännem kundtat, ist von nun an allen Gliedern der Kirche zugänglich; so wird in der Rede des Petrus (Apg. 2, 16 ff.) das Pfingstwunder durch die Joelweissagung ausgelegt: "In den letzten Tagen werde ich ausgießen von meinem Geist über alles Fleisch." Damit ist ober noch nicht zugegeben, daß diese Zeit der Kirche
Norm wäre, trotz aller göttlichen Gnadengaben, die sie vor allem in den Sakramenten besitzt. Dem oben erwähnten Einwand ist in erster Linie entgegenzuhalten, daß die Voraussetzung, es habe im alten Bunde ein unfehlbares Lehramt gegeben, nicht richtig ist. Man darf Autorität des Alten Testamentes und unfehlbares Lehramt nicht verwechseln1. Wohl gibt es schon im Volke Israel ein Wirken des Geistes, aber kein unfehlbares Lehramt. Die Autorität des Alten Testaments, das schon durch die Juden im wesentlichen als Kanon umgrenzt war, hat sich der alten Kirche als ein Bestandteil der normativen Heilsgeschichte in Christus aufgedrängt, ebenso wie sich ihr auch die Autorität der einzelnen neutestamentlichen Bücher aufgedrängt hat. Die Kirche hat dort die Gegenwart des Heiligen Geistes erkannt. Darum betonen die alten I Glaubensbekenntnisse, daß er durch die Propheten geredet hat. Das bedeutet mit anderen Worten: das Alte Testament ist für die Kirche nur insoweit kanonisch, als es auf das Neue Testament hinzielt, d. h. als man annimmt, daß die Zeit der Inkarnation auch für die ihr vorangehende normativ ist und so deren Auslegungsregel wird. Die apostolischen Schriften sind also nicht nur Norm für • Durch J. Danielou, erst mündlich, dann in Rep., S. 111 ff. 7 Diese Verwechslung scheint mir Dan.ielous Einwand (Rep., S. 111 f.) zugnmde zu liegen.
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die nachapostolische, sondern auch für die vorapostolische Zeit. Be· steht eine Entsprechung zwischen der kirchlichen Tradition und der Schrift, dann nur zwischen der kirchlichen Tradition und dem Alten Testament, die beide in den apostolischen Berichten des Neuen Testa· mentes ihre Norm, ihren Kanon haben. Die Zeit der Kirche jedoch ist nicht abgeschlossen, im Gegensatz zur Vorbereitung der Inkarnation Christi in der Geschichte des Volkes Israel, die zur Zeit der Apostel und der Kanonbildung abgeschlossen war. Beweist dagegen nicht die Glaubensregel, daß die Tradition der Kirche als Norm neben die Schrift tritt? Von Anfang an muß der Tat· sachedie größte Beachtung geschenkt werden, daß zur gleichen Zeit, nämlich gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts, ilu wie dem Kanon nor· mative Autorität zugeschrieben wurde. Durch irrige Vorstellungen über die Tragweite gewisser Väteraussagen aus dem 2. Jahrhundert verleitet, pflegen wir zu sehr, Glaubensregel und Kanon in Gegensatz zu stellen, als ob die Glaubensregel die ununterbrochene Tradition der Kirche bildete neben der abgeschlossenen Tradition, den Schrif· ten der Apostel. In Wirklichkeit entsprach die endgültige Festlegung der apostolischen Glaubensregel genau dem gleichen Bedürfnis wie die Kanonisierung der apostolischen Schriften. Das Zeugnis der Apo· stel ist nicht in ihr Credo und in ihre Schriften geschieden. Beides bil· det ein Ganzes als apostolische Tradition im Gegensatz zur nachapo· stolischen. Die apostolische Glaubensregel ist die Tradition, von der die Väter des 2. Jahrhunderts reden8 • Ihre ursprüngliche Weitergabe auf I mündlichem Wege ist weniger bedeutsam als die überzeugung, daß ihr Wortlaut wie derjenige der kanonischen, neutestamentlichen Schriften durch die Apostel festgelegt wurde. Nach der Oberzeugung der Kirche des 2. Jahrhunderts handelt es sich nicht um eine geheime Tradition, sondern um einen Text, der wie die neutestamentlichen Bücher schon zur Zeit der Apostel feststand. Dieses Credo war gleichermaßen eine apostolische Zusammenfas· sung der neutestamentlichen Bücher, sozusagen eine apostolische Auslegungsregel für alle unter sich so verschiedenen Bücher. Die Viel· faltder apostolischen Schriften erforderte für die verschiedenen Be· dürfnisse der Kirche9 eine kurze Zusammenfassung der ihnen ge· meinsamen Wahrheiten. Um Auslegungsnorm zu sein, mußte dieses Unter diesem Gesichtspunkte müßte man vor allem Irenäus studieren. übrigens müßte die vorliegende Arbeit durch eine Untersuchung über die Tradition in der alten Dogmengeschichte ergänzt werden. Soeben ist das Problem in bezug auf den Amtsgedanken im bedeutenden Werk von H. von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 1953, S. 163 ff., behandelt worden. 1 Siehe 0. Cullmann, Die ersten christlichen Glaubensbekenntnisse, Aufl. 1949. 1
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Credo apostolisch sein. Wohl gab es hinsichtlich des genauenund endgültigen Wortlautes noch Schwankungen10, doch im großen waren die verschiedenen Sätze schon in den Bekenntnissen aus der Mitte des 2. Jahrhunderts enthalten. Vor allem war damals das Prinzip einer apostolischen Glaubensregel als Norm angenommen. Die Rückführung eines jeden Satzes auf einen derZwölfeist eine Legende, drückt aber die Wahrheit aus, daß den ältesten Bekenntnissen kürzere Formeln zugrunde liegen, deren Text im apostolischen Zeitalter festgelegt wurde und deren Spuren wir im Neuen Testament nachgewiesen haben. Ganz verschieden ist die Bedeutung der späteren kirchlichen Bekenntnisse, wie sie durch die Konzilien ausgearbeitet wurden. Diese sind in dem Maße notwendig, als sie zu Fragen ihrer Zeit, Izu drohenden Häresien Stellung nehmen. Sie sind notwendig. Daher muß zu jeder Zeit die Kirche ein Credo aufstellen. Nie jedoch können diese späteren Bekenntnisse dem den Aposteln zugeschriebenen Bekenntnis gleichgestellt werden; nie können sie für alle Zeiten gültige Normen werden. Ich muß zwar auch hier wiederholen, was ich über die nachapostolischen Traditionen der Kirche gesagt habe. Sie haben ihre große Bedeutung darin, daß sie unser Verständnis der apostolischen Offenbarung leiten können, aber sie sind im Gegensatz zum sogenannten Apostolikum nicht wie dieses gleichsam eine letzte Seite, die dem Neuen Testament angefügt werden könnte. Ich komme also zur Folgerung, daß die von mir vollzogene Unterscheidung von apostolischer und nachapostolischer Tradition keineswegs willkürlich ist, daß es vielmehr die Unterscheidung ist, welche die Kirche im entscheidenden Augenblick, im 2. Jahrhundert, selbst vollzogen hat, indem sie das Prinzip eines apostolischen Kanons und einer apostolischen Zusammenfassung der Botschaft festgelegt hat. "\!Vir könnten eine innere Bestätigung unserer bisherigen Darlegungen in der Entwicklung der Patristik fmden. Seit langem hat 11 Das habe ich schon in meinem Aufsatz in Dieu vivant, Nr. 23, S. 64, zugegeben, indem ich betonte, daß es nur um das Prinzip eines apostolischen Glaubensbekenntnisses geht. Ich habe anderseits in meiner Arbeit über "die ersten christlichen Glaubensbekenntnisse", 1949, die Beziehung zwischen den s
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man festgestellt, daß mit Ausnahme der lgnatiusbriefe die Schriften der sogenannten Apostolischen Väter (1. Klem.; 2. Klem.; Barnabasbrief, Hirt des Hermas, Polykarpbrief), die nicht mehr dem apostolischen Zeitalter, sondern dem beginnenden 2. Jahrhundert angehören, trotz ihres theologischen Interesses sich vom Denken des Neuen Testamentes beachtlich entfernen und in weitem Maße einem Moralismus verfallen, der den für die apostolische Theologie so wichtigen Begriff der Gnade, des erlösenden Todes Christi verkennt11 • Man hat aum hervorgehoben, daß die Kirchenväter, die nach 150 geschrieben haben, lrenäus und Tertullian, trotzihres zeitlim größeren Abstandes vom Neuen Testament den innem Gehalt des Evangeliums unvergleichlim besser erlaßt haben. Dieser smeinbar paradoxe Tatbestand erklärt sim durchaus aus der für die Kirche so wichtigen Festlegung des Kanons als Norm aller Tradition. Die Apostolischen Väter haben zu einer Zeit gesdtrieben, da die neutestamentlichen Schriften schon bestanden, Iaber noch nicht mit kanonischer Autorität versehen, d. h. abgesondert waren. Sie verfügten demnach über keine Norm, waren aber von der apostolischen Zeit zu weit entfernt, um unmittelbar aus der Quelle des Augenzeugnisses schöpfen zu können. Die Begegnungen des Polykarp und des Papias mit apostolischen Persönlichkeiten konnten eine reine Obermittlung ursprünglicher Traditionen nicht mehr gewährleisten: ihre literarische Hinterlassenschaft beweist es. Nach 150 war die Verbindung mit dem apostolischen Zeitalter dank der Kanonbildung wieder hergestellt, dank der Ausscheidung aller trüben, entstellenden Quellen. Es bestätigt sich hier, daß die Kirche durch die Unterwerfung aller spätem Tradition unter den Kanon ein für allemal ihre apostolische Grundlage gerettet hat. Sie hat es ihren Gliedern dadurch ermöglicht, stets aufs neue und zu allen Zeiten das ursprüngliche apostolische Wort zu hören, ja noch mehr, die Gegenwart Christi zu erfahren, ein Vorrecht, das keine durch Polykarp oder Papias vermittelte mündliche Tradition ihr zusichern konnte. Wir haben gesehen, daß die Schrift ausgelegt werden muß. Die Kirche soll sich für diese Auslegung verantwortlich fühlen. Sie muß unter Umständen Stellung nehmen zu gewissen, von ihren Lebrem oder von unabhängigen freien Forschern ihrer Zeit vorgeschlagenen Bibelerklärungen. Dom ihre Verantwortlimkeit besteht in diesem Falle darin, daß sie in der demütigen Unterwerfung unter die apostolisme Norm des Kanons ein entscheidendes Wort spricht. Dies schließt ein Doppeltes ein: daß sie erstens zukünftige Geschlemter nicht dazu 11
Siehe Th. F. Torrance, The Doctrine of Grace in the Apostolic Fathers, 1948.
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anhält, für die Bibelauslegung vom Entscheid auszugehen, den sie geben zu müssen glaubt, daß sie sich vielmehr an die überlegenheil der Schrift als eines unmittelbaren Zeugnisses für die göttliche Offenbarung erinnere als an eine Uberlegenheit über ihre eigene Auslegung, die nur ein abgeleitetes, weil menschliches Zeugnis sein kann; daß sie zweitens ihren Entscheid fälltangesichtsdes biblischen Textes selbst und im Vertrauen auf das innere Zeugnis des Heiligen Geistes, sich auf die Tradition bloß als auf eine untergeordnete Quelle, als auf einen Wegweiser berufend, der uns insofern die Richtung weisen I kann, als wir uns nicht über das apostolische Wort stellen und als wir bereit bleiben, nötigenfalls auf ihn zu verzichten. Empfinden wir es nicht immer wieder als eine Befreiung, wenn wir nach dem Studium zahlreicher auch noch so vorzüglicher Kommentare das biblische Wort selbst lesen, mit der gesunden Unbefangenheit des Katechumenen, der das erfahren will, was dieApostelgesehen und gehört haben, und uns dabei bemühen, das in den Kommentaren Gelesene zu vergessen. Gewiß muß die Bibel ausgelegt werden; denn ihre Urheber waren Kinder ihrer Zeit, und sie enthält deshalb unvermeidliche, jeder menschlichen Rede, die göttliches Wort übersetzen will, anhaftende Unvollkommenheiten. Aber ist es nicht Kleinglaube, wegen des menschlichen Gepräges der durch die Apostel überlieferten Offenbarung w1d wegen unserer menschlichen Sd1wachheit,
die uns beim Lesen allen Irrtümern aussetzt, behaupten zu wollen, wir könnten die apostolische Botschaft nur durch eine lange Vermittlerkette hören, in der übrigens das Menschliche eine größere Rolle spielt, da es sich nicht um Augenzeugen handelt? Zwar müssen wir an das biblische Wort mit unseren philologischen Kenntnissen herangehen und dem einfachen Leser, der nicht über sie verfügt, gewisse Anleitungen geben. Aber damit der Exeget wie der einfache Leser im 20. Jahrhundert die Stimme der Apostel und in ihr die des Kyrios selbst hören können, müssen sie die Gewißheit haben (und sie weitergeben), daß die Augenzeugen auch in der Sprache ihrer Zeit zu uns noch unmittelbar sprechen können, und zwar gerade wenn wir bereit sind, uns vor ihr Wort zu stellen im Glauben an den Heiligen Geist, der auf Vermittler verzichten kann.
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Die Entstehung des Neuen Testaments• Der Gegenstand, den wir betrachten wollen, ist keinem ganz unbekannt und manchem wohlvertraut: das Neue Testament. Ich möchte davon reden, wie das Neue Testament zu einer grundlegenden und maßgebenden Urkunde geworden ist, die neben und vor dem Alten Testament von allen christlichen Kirchen als verbindlicher "Kanon", d. h. als Richtschnur und Norm ihres Lebrens und Lebens anerkannt ist. Nun ist die Geschichte der Entstehung der einzelnen neutestamen'tlichen Schriften, ihres Zusammenrückens und ihrer abschließenden Bestätigung im Rahmen unseres Neuen Testaments, aufs Ganze gesehen, kein Problem mehr. Alle Einleitungen und Kanonsgeschichten geben darüber Auskunft, und die noch offenen Fragen betreffen fast nur Quisquilien, die für den Nicht-Fachmann ohne Interesse sind. Ich werde diese Dinge hier also nach Möglichkeit beiseite lassen und mich dort, wo ich sie berühren muß, auf das Allernotwendigste beschränken. Es ist eine andere Seite des Geschehens, die immer noch zur Betrachtung reizt und, wie mir scheint, noch nicht zur Genüge erforscht ist: die Frage nach den Voraussetzungen und nach den inneren Gründen, den bewußten oder unbewußten Motiven und Absichten, die für das Zustandekommen des Neuen Testaments entscheidend wurden. Wir wissen, daß heilige Bücher ein weit verbreitetes religionsgeschichtliches Phänomen sind, und es liegt scheinbar nahe, auch das Faktum unserer Bibel nach einem aUgemeinen Gesetz religiöser Entwicklung zu verstehen, wonach auf die Zeit der ursprünglichen, souveränen Bewegung des Glaubens die Zeit der ängstlichen Sicherung und Erstarrung folgt, auf die Herrschaft des Geistes die Knechtschaft des Buchstabens, auf die Führung durch schöpferische Persönlichkeiten die Tyrannei der Schriftgelehrten und Theologen. Aber so einfach liegen die Dinge in Wirklichkeit nicht. Der Aberglaube einer allgemeingültigen Wirkung vermeintlicher historisch-psychologischer Gesetzmäßigkeilen ist hier wie überall das sicherste Mittel, die Erkenntnis der wahren Zusammenhänge, des eigentlich geschimtlichen • Vortrag bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1962, erstmals veröffentlicht in: Heidelberger Jahrbücher VII, Springer-Verlag, BerlinGöttingen-Heidelberg 1963, S. 1-12.
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Lebens einer Vergangenheit, die wir verstehen wollen, gerade zu verdecken. Wir wenden uns darum einfach und unmittelbar an die alten Zeugnisse selbst: was hat die Begründung eines neutestamentlichen Kanons nötig und möglich gemacht, und welch einen Sinn sahen die Generationen, die ihn zustande brachten, in dieserneuen Schöpfung, die bis auf diesen Tag gültig und wirksam geblieben ist? Ich beschränke mich allein auf die !bestimmenden Anfänge der Entwicklung in der Überzeugung, daß die Gründe und Gedanken, die das Neue Testament geschaffen haben, auch für seine weitere Geschichte und für seine wirkliche Bedeutung nicht gleichgültig sein können, sondern maßgebend und bedeutsam bleiben. Hätte man einen Christen um das Jahr Hundert gefragt, ob seine Gemeinde ein heiliges und verbindliches Buch göttlicher Offenbarung besäße, so hätte er die Frage stolz und ohne Zögern bejaht: die Kirche besaß solche Bücher, das "Gesetz und die Propheten", das heute so genannte Alte Testament. Über hundert Jahre lang, noch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Justin, erscheint das Alte Testament als die einzige, maßgebende und völlig ausreichende heilige Schrift der Kirche, auf die sich die Juden, die Christus ablehnen, darum nur zu Unrecht berufen. Denn die Weissagungen dieses Buches gehen auf diesen Herrn, Christus; er selbst redet klar und vernehmlich durch die alttestamentlichen Propheten und steht in der Fluchtlinie der ganzen bisherigen Heilsgeschichte, die er ans Ziel bringt. Blickt man auf die allegorischen und rabbinisch-juristischen Auslegungskünste des gleichzeitigen Judentums, so wirkt eine solche Behauptung nicht mehr so abstrus, wie sie heute auf den ersten Blick erscheinen mag; die Kurzschlüssigkeil des Beweisverfahrens entscheidet jedenfalls noch nicht über das Recht des christlichen Anspruchs gegenüber der Synagoge in der bis heute umkämpften Frage nach der wahren geschichtlichen Kontinuität. Uns genügt hier die Feststellung, daß damals kein Christ an dem erwiesenen Recht dieser christlichen Anschauung auch nur im geringsten gezweifelt hat; daß zur Sicherung über das Alte Testament hinaus weitere, schriftliche Urkunden erwünscht oder erforderlich sein könnten, kam ihm nicht in den Sinn. Freilich, die selbstverständliche Voraussetzung war dabei, daß die Geschichte Jesu, die sich, wie man sagte, in diesen Tagen und unter uns, in aller Öffentlichkeit abgespielt hatte, nun auch bekannt geworden und "aller Welt" zur Rettung verkündigt sei. Dies geschieht durch die christliche Predigt, die jedermann hören kann und die für jede einzelne Gemeinde im Mittelpunkt steht. Sie bewirkt als ein unmittelbares, wesenhaft mündliches Zeugnis Umkehr und Vergebung und schafft im Namen und in der Vollmacht Jesu eine neue
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Mensd:ilieit und Menschlichkeit im heiligen Geist der Kindschaft und der Freiheit, der die Gegenwart des auferstandenen Herrn selber ist. Der zeitliche Abstand, in dem man sich zu ihm als einer geschidltlirhen Größe der Vergangenheit befmdet, wird dabei nidlt als wesentlich empfunden, da er durch die Botsdlaft und die "mitfolgenden Zeidlen" seiner Herrschaft und Madlt durmaus überwunden ist. Es ist dies eine Uberzeugung, die kein Jahrhundert der Kirdle aufgeben kann, ohne sich selber aufzugeben; trotzdem steckt an dieser Stelle ein Problem, das sich auf die Dauer nidlt übersehen läßt, sondern ans Licht treten wird. Der Kanon des Neuen Testamentes ist schließlich die Antwort auf die Fragen, die hier ihren Anfang nehmen. Jesus Christus ist kein Mythos und keine bloße Idee; der Glaube steht und fällt mit der Wirklichkeit seiner Geschichte und kann nur von der Botschaft wahrhaft leben, die wirklidl ihn bezeugt und seine unverwischbaren Züge trägt. Es ist aber eine unabänderlidle Gegebenheit des geschidltlichen Lebens, daß es Traditionen, von denen man zehrt, eben dadurch zugleich verwandelt und umbildet. Das braucht weder Abfall noch Entfremdung zu bedeuten; aber weil es dies, weil es Fälsdlung und Verirrung in der Kirchengeschichte sehr wohl gibt, bleibt die Frage nach der inneren, sachlichen Oberemstimmung mit dem Ursprung wesentlich und im I Falle des Christusglaubens die lebenentscheidende Frage schlechthin. Wie soll sie sidl mit Hilfe einer Oberlieferung beantworten lassen, die sich, selber nidlt gesdlützt, mit der Kirche weiter und weiter von ihrem Ausgangspunkt entfernt, an dem sie doch gemessen werden soll? Es gibt da nur ein Mittel: die unveränderte Bewahrung der Quellen, wie sie am Anfang aus dem Geschehen selber geflossen sind. Der Glaube an eine ewige Unmittelbarkeit des Vergangenen oder eine unfehlbare Bewahrung des Ursprungs wäre ohne sie nichts als eine hybride Utopie. In den Anfängen der Kirdle lagen solche Erwägungen, wie gesagt, noch fern; man erwartete ein baldiges Ende der Welt, man rechnete noch nicht mit den Gefahren der zeitlichen Erstreckung und vertraute sorglos auf die Kraft der lebendigen Wahrheit. Aber es wäre trotzdem ein Irrtum zu meinen, daß man die Pflicht zur treuen und wörtlidlen Bewahrung des Ursprünglichen gar nicht empfunden hätte. Damit treten wir in die Vorgeschichte des christlidlen Kanons ein. Zweifellos geht der Grundstock der Jesusworte und der Jesusgeschichte, wie sie unsere Evangelien bieten, noch auf die Urgemeinde und das frühe palästinensisdle Christentum zurück. Wieweit und mit weidlern Maß von Treue und Zuverlässigkeit - darüber gehen die Meinungen der Forsdler weit auseinander; denn wir sind hier ganz auf Rückschlüsse und Kombinationen angewiesen. Sicher urteilen können wir nur über den einen Mann der ersten Generation, von
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dem allein noch reiche und authentische Zeugnisse erhalten sind; das ist der Apostel Paulus. Von Paulus wissen wir, daß er nach eigenem Zeugnis bestimmte, geformte Texte über den Tod und die Auferstehung Christi, über die Einsetzung des Abendmahls und vielleicht noch weitere in seinem Sinne heilswesentliche Daten der Christusgeschichte- obwohl selber Apostel- dennoch aus älterer Oberlieferung "übernommen" und seinen Gemeinden förmlich weiter "übergeben" hat, als festen, ökumenischen Besitz ursprünglich christlicher Tradition. Diese Texte gelten ihrem sachlichen Gehalt nach als für den Glauben grundlegend. Paulus fordert von seinen Gemeinden ihre genaue Kenntnis und setzt sie auch außerhalb seines Missionsbereiches als gegeben voraus. Er argumentiert mit ihnen, indem er sie zitiert und von da aus weitergehende Folgerungen zieht, sei es praktischer, sei es grundsätzlicher Art. Wir haben damit also schon das typische Verhältnis der sinngemäßen Anwendung und "Auslegung" eines vorgegebenen, feststehenden Textes, der "kanonisch" ist. Allerdings ist der Text in diesem Falle noch kein schriftlicher Text- aber dieser Unterschied spielt ja auch sonst grundsätzlich und praktisch nicht die Rolle, die wir ihm heute zuzuschreiben gewohnt sind, und gerade die christliche Oberlieferung ist gegen ihn so völlig gleichgültig, daß wir den übergang von der mündlichen zur schriftlichen Uberlieferllllgsweise kawn jemals auch nur markiert finden. EnLscheidend ist die feste Prägung, die geordnete Weitergabe und Kontrolle und die unbestrittene, verpflichtende Autorität. Dazu käme noch das Moment der genauen Abgrenzung gegen weniger zuverlässige, "apokryphe" Traditionen; aber Derartiges scheint Paulus noch nicht zu kennen, und um so bedeutsamer ist der Nachdruck, den er dennoch auf die Bewahrung der alten Traditionen legt. Wäre die Kirche in seiner Bahn geblieben, so wäre sie wesentlich früher zu einem Kanon der Christus-überlieferung gekommen, der wohl ärmer, dafür aber im rein historischen Sinne zweifellos auch sicherer gewesen wäre als unser heutiges Neues Testament. Sie hat es nicht getan. Das zeigt nicht nur der Umstand, daß in der Folgezeit alle ausdrücklichen Hinweise und Zitierungen, wie sie Paulus bringt, völlig fehlen, sondern das beweist vor allem der Zustand, in den die Überlieferung alsbald geraten ist und I in den apokryphen wie in den später kanonisierten Evangelien heute noch vorliegt. Die Abendmahlsberichte stimmen miteinander nicht mehr überein und fehlen z. B. im Jobarmesevangelium vollständig, und gerade die Auferstehung, auf deren ursprüngliche Bezeugung Paulus gepocht hatte, erfährt unzählige, immer phantastischere Ausgestaltungen- von den später einsetzenden Iegendarischen Geburtserzählungen nicht erst zu reden. Derartiges wäre bei einer allgemeinen Normierung und text-
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liehen Sicherung der Tradition niemals möglich gewesen. Aber der Blick für die Gefahren dieser Entwicklung ist für das erste noch nicht erwacht. Die Ansätze zu einer Konsolidierung werden zunächst von einer anderen Seite aufgenommen. Schon Paulus hatte einige Jesusworte gekannt; er läßt sie in den erbaulich-mahnenden Partien seiner Briefe einige Male - nicht sehr häufig - anklingen und beruft sich auf andere als unbezweifelbare Autorität bei der Entscheidung moralischrechtlicher Fragen. Aber sie enthalten für ihn offenbar nicht "das Evangelium". Dieses ist für ihn, mit Luther zu reden, vielmehr "die Historia von Christo, Gottes und Davids Sohn, gestorben und auferstanden und zum Herrn gesetzt". So hat Paulus die Jesusworte allem Anschein nach auch nicht zur festen Überlieferung gezählt, in der er seine Gemeinden unterweisen mußte, während er die großen Heilsdaten der Christusgeschichte mit solchem Nachdruck weitergibt und gegebenenfalls wieder in Erinnerung ruft. Der spätere Katechumenenunterricht verfährt in dieser Hinsicht gerade umgekehrt. Er überläßt die Christuspredigt der freien Auslegung und Verkündigung; aber die praktischen, das sittliche Leben der Gemeinde bestimmenden Grundsätze macht er zum wesentlichen Inhalt der kirchlichen Unterweisung. Diese wird jetzt regelmäßig auch mit Jesusworten gestützt. Auf die Dauer ist ein solcher Katechismus aber doch zu dürftig und überdies auch nicht allgemein und nicht 1mveränderlich genug, um sich als Ansgangspunkt einer kanonischen Entwicklung zu bewähren. Darum bedeutete es einen gewaltigen Schritt vorwärts, als die Form des Evangeliums gefunden war und schnell Verbreitung fand. Das Markusevangelium faßt die beiden Ströme der Verkündigung, die großen theologisch akzentuierten Hauptstücke des Lebens, Leidens und der Auferstehung Jesu und eine Reihe seiner Worte und Erzäh· Iungen zu einer neuen Einheit zusammen, die durchaus geeignet erscheint, die maßgebende, ein für alle Mal gültige Urkunde über die Person und Geschichte des Herrn zu bleiben. Erst jetzt werden Jesu Verkündigung und Jesu Schicksal als innere Einheit begriffen, so daß sie sich gegenseitig auslegen und einer nur moralisierenden oder mythologisierenden Deutung entzogen sind. Doch auch das Markusevangelium wird durchaus nicht allein maßgebend und "kanonisch", sondern die Entwicklung setzt sich ungehemmt weiter fort. Sowohl Matthäus wie Lukas gehen über Markus alsbald hinaus, indem sie seinen Text überarbeiten und mit anderen, teils gleichfalls alten, teils aber auch jüngeren Schriften oder überlieferungskomplexen zusammenschließen und in ihrem Sinne interpretieren. Das Johannesevangelium, das überhaupt auf anderen Grundlagen aufbaut und einen anderen Charakter trägt, betont sogar aus8 Käsemann, Kanon
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drücklieh nicht etwa die Endgültigkeit seiner Darstellung, sondern vielmehr die Unerschöpflichkeit der Oberlieferung und gibt damit, gewollt oder ungewollt, erst recht den Weg für neue Gestaltungen und Umbildungen des überlieferten Gutes frei - die auch nicht ausbleiben. Der einzige Evangelist, der sich über die Absicht und Bedeutung seines Vorhabens selbst geäußert hat, ist Lukas, in der bekannten Vorrede zu seinem Doppelwerk, mit der er das Evangelium eröffnet. Es ist in unserem Zusammenhang nicht uninterlessant, daraus zu entnehmen, wie er seine Aufgabe versteht. "Da sich nun schon viele darangemacht haben", heißt es hier, "einen Bericht über die Dinge abzufassen, die unter uns zur Erfüllung gekommen sind, entsprechend dem, was uns die Männer überliefert haben, die von Beginn an Augenzeugen und Diener des Wortes waren, erschien es auch mir richtig, von Anfang an allem sorgfältig nachzugehen und es genau und zusammenhängend für dich, hochansehnlicher Theophilos, niederzuschreiben, damit du erkennst, daß die Lehre, in der du unterwiesen bist, auf einem festen Grunde ruht." Lukas hat also und kennt bereits Vorgänger; er unterläßt es, gegen sie direkt zu polemisieren, aber sie haben ihn offenbar doch nicht recht befriedigt. Er will etwas Vollständigeres und Besseres bieten als sie, indem er weiter ausholt (sein Evangelium beginnt bekanntlich schon mit der Gehurt Johannes des Täufers) und indem er die genau ermittelten Daten in die seiner Meinung nach zeitlich und sachlich richtige Ordnung bringt. Erst so wird der gebildete, hochgestellte Adressat deutlich erkennen können, daß der christliche Unterricht auf sicheren Grundlagen steht und volles Vertrauen verdient. Lukas gibt sich also als kritisd:J.en Historiker, der die ältesten Nachrichten zusammenfaßt, wobei als Quelle in seinem Sinne vor allem an die "zwölf Apostel" zu denken ist, die für ihn die berufenen Zeugen und Hüter der ursprünglichen Christus-Tradition darstellen. Die betonte Bindung an die älteste Uberlieferung, ohne die der Glaube haltlos und "eitel" bliebe, erinnert an den Apostel Paulus; nur daß jetzt an die Stelle der verpflichtenden "Ubernahme" und "Weitergabe" vielmehr die methodische Prüfung und Sicherung durch historisches Erforschen getreten sind. Und Lukas kann - anders als Paulus - für ein solches nach eigener Initiative geschaffenes Werk natürlich auch keine sozusagen kanonische Anerkennung beanspruchen, obschon er darin eine die bisherigen Versuche überholende Leistung sieht und also wohl auch hofft, daß sie sich durchsetzen und allgemeine Geltung erringen werde. Wie wenig dieses gelungen ist, wie weit von jeder kanonisd:J.en Ordnung wir uns immer noch befmden, kann man beispielsweise aus
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der kommentierenden Sammlung von Jesusworten und -geschichten entnehmen, die schon im zweiten Jahrhundert ein gewisser Papias veranstaltet hat. Auch Papias kennt natürlich evangelische Schriften; aber weit davon entfernt, sich auf sie zu berufen, begibt er sich vielmehr aufs neue auf die Suche nach Jesus-Oberlieferungen, wobei er gerade solchen den Vorzug gibt, die auf mündlichem Wege, sei es auf die Apostel, sei es auf andere alte Zeugen, zurückgeführt werden. "Ich werde mich's nicht verdrießen lassen", schreibt er in der Vorrede seines Werks, "dir mit den Auslegungen auch all das zusammen· zustellen, was ich von den Alten gut gelernt und gut behalten habe, und ich verbürge mich für dessen Wahrheit ... Denn das, was aus Büchern stammt, scheint mir nicht so viel Nutzen zu bringen wie das, was sich durch mündliche Rede lebendig erhalten hat"- ein Grundsatz, dem wir auch sonst begegnen. Obgleich es also Evangelien gibt, verschmäht man es, sie als bindendes Zeugnis zu benützen. Es ist kein Zufall, daß man bis zu Irenäus, der um 180 nach Christus schreibt, wohl Christusworten, aber keinem einzigen Zitat begegnet, das eine bestimmte Schrift als solche ins Auge faßte. Kein Wunder, wenn die Worte unter diesen Umständen schon bei Papias, wie Eusebios versichert, einigermaßen "mythologisch" wirkten und Zweifeln an der Echtheit Raum gaben. Wahrhaft gefährlich wird die Situation aber erst dort, wo man sich nicht mehr damit begnügt, wirklich oder vermeintlich alte Oberlieferungen zu sammeln und Iweiterzugeben, sondern wo man bei ihrer Auswahl und Bearbeitung bewußt tendenziös verfährt und in theologischer Absicht neue Oberlieferungen schafft. Solches konnte nicht ausbleiben. Man führte die Texte dann gern auf "geheime" Belehrungen zurück, die Jesus irgendeinem seiner Jünger- besonders nach der Auferstehung - erteilt haben sollte, und die der kirchlichen Offentliehkeil zunächst verborgen blieben. Schon Lukas scheint sich gegen Derartiges zu kehren, wenn er Paulus in der Apostelgeschichte Abschied nehmend erklären läßt, daß er bei seinem Verkündigen nichts unterschlagen und seinen Gemeinden den "ganzen Ratschluß Gottes" treulich dargeboten habe. Auch Papias sucht sich gegen die fremden Lehren und Gebote abzugrenzen, die nicht "vom Herrn dem Glauben gegeben sind noch von der Wahrheit selber herstammen". Aber was war mit solchen allgemeinen Warnungen und Berufungen auf die Uberlieferung, die alte Uberlieferung, die von Anfang an und ein für allemal den Aposteln gegebene Oberlieferung zuletzt ausgerichtet, wenn diese selbst eine zwar nicht inhaltlose, aber doch schwankende und nirgends klar begrenzte Größe blieb? Die Menge der Lehrer und Irrlehrer, der Gruppen und Sekten zeigt, und die immer lautere Klage der Polemiker bestätigt, daß die Lage gegen
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Mitte des zweiten Jahrhunderts durchaus kritisch geworden war und dringend nach Abhilfe verlangte, wenn der Name Christi noch etwas bedeuten und das Christentum im religiösen Synkretismus der Zeit nicht untergehen sollte. In dieser Situation kommt es zur Bildung eines neutestamentlieben Kanons. Aber es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu meinen, er wäre darum aus den älteren Formen der Verkündigung und Überlieferung allmählich wie von selber herausgewachsen. Am Anfang steht vielmehr die Tat eines bedeutenden Einzelnen, eines lrrlehrers, der durch die Eigenart seiner Botschaft förmlich gezwungen war, ein solches "Instrument" zu suchen oder zu schaffen: Markion; und erst im Gegenschlag gegen dessen Kanon und in der Auseinandersetzung mit ihm entsteht dann auch in der Großkirche verhältnismäßig schnell die Vorstellung und dann auch der klare Umriß unseres heutigen "Neuen Testaments". Wir haben gesehen, daß die Kirche bis dahin nur eine heilige Schrift allgemein kannte und anerkannte, das waren "die Archive" des Alten Testaments, wie es bei lgnatios von Antiocbien genannt wird. Dies gilt nicht für die Großkirche allein, sondern auch für ihre Sekten, nicht etwa nur die judenchristlichen, sondern - entgegen einem immer noch verbreiteten Vorurteil- gerade auch für die sogenannten Gnostiker, nur daß diese im Alten Testament- fast wie die "religionsgeschichtlich" eingestellten Theologen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts- verschiedene Stufen und Schichten unterschieden, deren jeweiliges Recht von Christus her zu bestimmen war. Markion war damals der einzige, der den für jene Zeit fast abenteuerlieben Mut fand, das Alte Testament radikal zu verwerfen. Zwar hielt auch er es für ein göttliches Offenbarungsbuch; aber es war der falsche, rachsüchtige Gott des Gesetzes und dieser Welt, der sieb darin offenbart hatte, während der wahre, fremde und unbekannte Gott der Sündenvergebung und Barmherzigkeit erst jetzt zur Welt gekommen und in seinem Sohn bekannt geworden ist. Dieser besitzt wieder nur einen einzigen echten Zeugen nnd Apostel, nämlich Paulus, der sich selbst als solchen bezeichnet. Damit stand Markion als Christ vor einer neuen, bis dahin unerhörten Situation: er hatte keine Bibel und er hatte auch keine verläßliche Überliefernng mehr; denn die christlichen Schriften, die er vor sich hatte- bei Markion ist alles schriftlich, und eben darum konnte er am allerwenigsten auf Urkunden verzichten- waren für I seine Lehre nicht zu gebrauchen. Auch die Paulusbriefe und das paulinische Evangelienbuch, das er hinter dem Lukasevangelium zu entdecken meinte, mußten also- dies war die Folgerung, die er zogvon irgendwelchen Judaisten bösartig verfälscht sein, und er beschloß, sie von diesen Verfälschungen zu reinigen. Das geschah we-
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unmittelbar und besser an das eindeutige Zeugnis des Neuen Testamentes halten. Markion hatte aus dem Strom der überlieferten urchristlichen Zeugnisse ein einziges Evangelium herausgehoben und willkürlich zugerichtet; die Kirdle stellte vielmehr vier ältere Evangelien zusammen und erklärte sie zu gleichwertigen Zeugnissen der ersten Verkündigung. Die Versuchung war freilich groß, nom einmal den Weg des Lukas und Matthäus zu beschreiten und die verschiedenen Schriften zu einem einzigen, umfassenden Evangelium zu vereinen. Wir hören aus dem zweiten Jahrhundert gleim von zwei Versuchen dieser Art, und der eine, die Evangelienharmonie Tatians, hat sich bei syrischen Christen bis ins fünfte Jahrhundert hinein als maßgebendes I Evangelium behauptet. Aber im ganzen konnte die Kirche diesen Weg doch nicht mehr gehen: wie sollte sie den "Fälschungen" Markions mit einer Urkunde begegnen, die sie ihrerseits erst erstellt und neu eingeführt hatte? Markion hatte nur einen Apostel anerkannt und zum Garanten seines Bibelbuches erklärt, auf den er im Kampf mit der gesamten sonstigen Oberlieferung unmöglich verzichten konnte (es gibt vor Markion nicht den geringsten Ansatz zu einer solchen Zusammenfügung evangelischer und apostolischer Schriften); aber jetzt besitzt alsbald auch das katholische Neue Testament als zweiten Teil eine Briefsammlung neben den Evangelien - nur daß sie sich nicht auf Paulus allein beschränkt, sondern alles wnfaßt, was
an vermeintlich apostolischen Briefen noch irgend zu beschaffen war. Wie Markions Sammlung soll auch diese jetzt im erweiterten Sinne apostolisch, d. h. von Paulus und den zwölf Aposteln garantiert sein, und zwischen Evangelium und Apostolos schiebt man die Apostelgeschichte als willkommenes Verbindungsstück ein - die Geschichte "aller" Apostel, wie sie bezeichnenderweise auch genannt wird. Was diese neue Sammlung tatsächlich leistet, werden wir zum Schluß noch kurz zu fragen haben. Zuvor müssen wir aber auf eine letzte Schriftengruppe noch einen Blick werfen, die wir bis jetzt nicht zu beachten brauchten: die ausgedehnte Gruppe der prophetisch-apokalyptischen Literatur. Zwar schien die Kirche mit dem Erscheinen und der Auferstehung Christi ans Ende der Zeiten gelangt zu sein, und soweit sie in der Gegenwart der beginnenden Heilszeit und Erfüllung steht, änderte darum auch die Prophetie ihren bisherigen Charakter (wovon hier jetzt nicht zu reden ist); aber die letzte Erfüllung der Wiederkunft und des Gerichts Christi stand ja immer noch aus, und im Blick auf diese Zukunft ist auch die Zukunftsweissagung alten Stils in der Kirche lebendig geblieben. Es gehört zum Wesen solcher Orakel, daß man sie wörtlich erhalten muß, damit man die Zeichen der Zeit danach erkennen und die eingetretene Erfüllung sicher konstatieren kann. So ist die Offenbarung
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Johannis mit ihren Zukunftsvisionen nicht zufällig das einzige Buch im Neuen Testament, das als solches seine Beamtung und Bewahrung fordert und jede Änderung seines heiligen Wortlauts mit schrecklimen Flüchen bedroht. Trotzdem ist nichts verkehrter als die gelegentlich vertretene Meinung, von dieser Schrift und in dieser Gesinnung sei der Gedanke eines neutestamentlichen Kanons überhaupt ausgegangen und auf die anderen Bücher übertragen worden. Prophetisme Bücher stehen auf sich selber, und so weit man in den Anfängen der Kirche sie überhaupt einzuordnen sucht, werden sie am ehesten den alttestamentlichen Propheten angegliedert, deren Kreis damals ja auch noch nimt fest geschlossen war und gerade von Christen vielfach interpoliert und erweitert wurde. Das konnte bei der damaligen Schätzung des Alten Testamentes dem Ansehen der neuen prophetischen Bücher natürlim durchaus keinen Abbrum tun. So werden die Johannes-, die Hermas-, die Petrusapokalypse zunächst unbedenklich als Offenbarung genommen, in den Gemeinden vorgelesen und geschätzt. Markion hatte in seinem Kanon nichts Derartiges geboten, und eben darum war die Entwicklung nach dieser Seite hin völlig offen geblieben. Hier hat erst eine andere revolutionäre Bewegung, gleichfalls noch im zweiten Jahrhundert, Wandel geschaffen - das war die "neue Prophetie" des Phrygers Montanus, die die ganze Christenheit im Namen einerneuen Geistesausgießung zu erwecken und zu reformieren sumte. Die Montanisten selbst haben das Neue Testament der Kirche alsbald übernommen und ihre eigenen Orakel gleichsam als dritten I Teil daran angehängt. Die katholische Kirche aber hat den Montanismus verworfen und mit der Verurteilung seines Enthusiasmus nunmehr alleneueren Weissagungen kritisch in Frage gestellt. War ihr Kanon gegenüber Markion eine Erweiterung, so wirkte der Montanismus vielmehr restriktiv. Einzig der Offenbarung Johannis, die nach Alter, Geist und Inhalt in der Tat eine Sonders~ lung einnimmt, ist es am Ende doch noch gelungen, innerhalb des Neuen Testamentes als "das prophetische Buch" einen Platz zu finden -nach jahrhundertelangen Kämpfen und Auseinandersetzungen und immer neuen Anfechtungen bis auf diesen Tag. Alle weiteren Apokalypsen werden nur gelegentlich zum Neuen Testament gezählt und schließlich ausgeschieden, auch wenn sie nicht unbedingt verurteilt sind und als ein geistlicher Lesestoff besonderer Art immer wieder Freunde finden. In dem Briefkanon gibt es bis ins vierte und fünfte Jahrhundert hinein ebenfalls noch erhebtime Schwankungen und gelehrte Streitigkeiten über die Zugehörigkeit, die durch den Humanismus und die Reformation später z. T. wieder erweckt worden sind. Aberdiehaupt-
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sächlichen Entscheidungen sind doch alle schon gegen Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Jahrhunderts gefallen. Seitdem gibt es die Idee und den wesentlichen Inhalt unseres Neuen Testaments. Welches ist nun der ursprüngliche Sinn dieser größten und zweifellos folgenreichsten Schöpfung- nicht des Urchristentums, aber der frühen Kirchengeschichte und der Geschichte des Christentums überhaupt? Das Neue Testament ist kein Buch, das die alte Kirche sich selbst nach ihrem Bedürfnis gezimmert hätte. Es ist kein Gesetzbuch, kein Katechismus und keine Dogmatik - das sind gewiß auch sehr nützliche und mehr oder weniger unentbehrliche Dinge, die aber - nach Umständen wechselnd - durchweg neben dem Neuen Testament entstanden sind und es wohl voraussetzen, aber in dem, was es eigentlich ist, niemals ersetzen können. Das Neue Testament wollte ursprünglich die Sammlung der echten und alten Zeugnisse sein, der historischen wie der lehrhaften, aus denen man erfahren konnte, wer und was der wirkliche und wahre Jesus Christus gewesen sei, so, wie er gelebt und gelehrt hat, gekreuzigt und auferstanden ist, und so, wie er als Gottes Tat zu glauben und im Glauben zu verstehen und zu bewähren ist. Insofern ist dieses Buch im ernstesten Sinne historisch gemeint. Aus diesem doppelten Anspruch, die historisch wie theologisch ursprüngliche Kenntnis und Erkenntnis Jesu zu vermitteln, erklärt sich ebenso die zeitliche Grenze wie die inhaltliche Weiträumig-
keit seiner Auswahl. Erhebt das Neue Testament diesen Anspruch aber nun wirklich zu Recht? Man muß die Antwort auf diese Frage differenzieren. Blickt man auf die Absicht und die Möglichkeiten der Kirche, die das Neue Testament sammelte und konstituierte, so kann man, wie mir scheint, getrost versichern, daß eine bessere Auswahl nach Lage der Dinge damals weder zu erwarten noch zu erreichen war. Es ist immer wieder erstaunlich, mit wie sicherem Instinkt die Christen noch zu Beginn des dritten Jahrhunderts das alte und wesentliche Material, soweit es zu haben war, ergriffen und festgehalten haben. Es sieht nicht danach aus, als wäre in jener Zeit irgendwie noch weiteres, altes Gut vorhanden gewesen, das die Kirche aus dogmatischen Gründen preisgegeben und verschmäht hätte. Selbst den Galaterbrief, den vielleicht überhaupt erst Markion wieder entdeckt und absichtsvoll an die Spitze seiner paulinischen Briefsammlung gestellt hatte, hat sietrotzseines im höchsten Maße unbequemen Inhalts nicht verworfen, sondern aufgenommen und anerkannt.! Das, was uns an apokryphen Evangelien und Briefen heute noch erhalten ist, kann andererseits das Urteil über ihre tendenziöse Fremdartigkeit und historische Minderwertigkeit, aufs Ganze gesehen, nur bestätigen. Man kann höchstens im entgegengesetzten Sinne
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die Frage stellen, ob die antimarcionitische Kirche im Bestreben, in ihrem Kanon eine möglichst breite Basis zu gewinnen, des Guten oder vielmehr weniger Guten hier und da nicht zu viel getan und- durch den Inhalt und durch apostolische Zuschreibungen getäuscht- Schriften aufgenommen hat, die besser draußen geblieben wären. Der Zweite Petrushrief steht im Kanon, obgleich er eine sehr durchsichtige, bewußte Fälschung von zweifelhaftem Range darstellt, und die schönen Sprüche und Lebensregeln des Jakobusbriefes haben selbst den bloßen Namen Jesu so gut wie gar nicht erwähnt. Aber das sind Randerscheinungen, über die sich im einzelnen streiten läßt, wie schon die alte Kirche über solche Fragen gestritten hat. Für die Beurteilung des Neuen Testaments im Ganzen können sie nichtsdestoweniger beiseite bleiben. Nun stößt man in kanongeschichtlichen Darstellungen freilich immer wieder auf die Behauptung, die Aufnahme in den Kanon sei in erster Linie gar nicht nach sachlichen Gesichtspunkten erfolgt, sondern entscheidend sei die vermeintliche - mit Ausnahme der paulinischen Briefe wohl durchweg nur vermeintliche - Abfassung durch einen Apostel gewesen. Wenn das zuträfe, würde es unser Bild hinsichtlich des Ernsts und der Motive, die hier am Werke waren, erheblich trüben. Aber diese gängige Vorstellung ist falsch, zum mindesten sehr schief. Weder Markus noch Lukas waren Apostel - aber ihre Evangelien stehen gleichwohl im Kanon mit unverkürzter Autorität. Andererseits trugen das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse den Namen des vornehmsten Apostels; sie standen als Schriften des Petrus z. T. bereits im kirchlichen Gebrauch- und wurden dennoch verworfen. Der lange Streit um die Jobarmesoffenbarung oder um die Kanonizität des Hebräerbriefes macht es vollends deutlich, wie wenig in kritischen Fällen mit dem bloßen Namen eines Apostels entschieden war. Der apostolische Titel ist nicht die Voraussetzung, sondern das Resultat einer Prüfung, die in erster Linie nicht nach formalen, sondern nach sachlichen, sowohl historischen wie theologischen Gesichtspunkten durchgeführt wurde - schlecht und recht mit den Mitteln, die die Wissenschaft von damals zu bieten hatte. Eine wesentliche Rolle spielte bei diesen Entscheidungen vielfach die Erwägung, ob eine Schrift schon seit langem in den Gemeinden verbreitet war und gottesdienstlich verlesen wurde. Das ist kein bloßes, übrigens unverächtliches Argument für das Alter eines solchen Dokuments. Es liegt darin zugleich die Anerkennung seiner geistlichen Bewährung im praktischen Gebrauch, die gewiß nicht allein, aber u. U. doch noch schwerer ins Gewicht fällt als die Vorliebe oder die Antipathie gegenüber dieser oder jener theologischen Meinung, Vorstellung oder Begrifflichkeit. Es liegt darin zugleich so etwas wie
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eine ursprüngliche "Bestätigung" durch die Gemeinden selbst, während irgendwelche amtlichen Entscheidungen und Konzilsbeschlüsse, wie sie seit dem vierten Jahrhundert gelegentlich vorkommen, für die Entstehung des Kanons keine Rolle spielen. Das Wesentliche des Kanons ist früher als seine abschließende Begrenzung durch das Kirchenrecht; seine einzelnen, durchaus nicht "kanonisch" gemeinten Bücher sind früher als der Kanon selbst, und das ursprüngliche Christus-Zeugnis und Bekenntnis ist in gewissem Sinne sogar noch älter als die Kirche, die dadurch geschaffen ist und die daraus lebt. I Aber - und damit kommen wir zur zweiten wichtigeren und schwierigeren Seite des Problems: kann der Kanon, so wie er nun vorliegt, das Ziel, das er sich gesteckt hat, wirklich erfüllen? Ist er eine ausreichende Quelle, um die Geschichte, die Gestalt und die ursprüngliche Bedeutung Jesu, um die es ihm und uns geht, wahrhaft erkennbar zu machen? Es braucht nach dem Gesagten nicht ausgeführt zu werden, daß von einer exakten historischen Zuverlässigkeit der Daten, Worte und Angaben in vielen Fällen keine Rede sein kann, und auch die Anschauungen und Theologien, die das Neue Testament enthält, sind keineswegs miteinander ohne weiteres identisch. Aber dies versteht sich beinahe von selbst. Wie sollen überlieferungen, die so lange sich selbst oder vielmehr dem intensiven Gebrauch verschiedener Gemeinden überlassen waren, welche mit und von ihnen leb-
ten, vor äußeren Erweiterungen, Verschiebungen und Verwandlungen einfach bewahrt geblieben sein? Wie sollen Schriften, die im Laufe eines Jahrhunderts in ganz verschiedener Blickrichtung und Situation entstanden sind, die Akzente dennoch gleichmäßig setzen und das Wesentliche ihres Christus-Glaubens in immer gleicher Weise wiederholen? Wäre es so, so hätte der christliche Glaube damals nicht gelebt oder die sauber zusammenstimmenden Berichte und Gedanken wären kein Zeichen der wahren Ursprünglichkeit, sondern der nachträglichen Glättung und Redaktion, der ebenso wenig zu entnehmen und zu trauen wäre wie den abgesprochenen Aussagen unredlicher Zeugen bei einem Verhör. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Neuen Testamentes muß solange ohne befriedigende Antwort bleiben, wie man es nur als Sammlung mehr oder weniger sicherer Daten und Lehrsätze ansieht und nicht als das geschichtlich entfaltete Zeugnis von einer Person und Wirklichkeit versteht, deren Worte und Taten zwar nicht mehr einzeln zu rekonstruieren, deren Wille, Schicksal und Bedeutung aber noch immer aus ihrer ersten Überlieferung, ihrer ursprünglichen Wirkung und aus dem antwortenden Widerhall zu begreifen sind. Die Frage, die sich verständigerweise allein stellen läßt, ist die, ob die spannungsreiche Mannigfaltigkeit des Neuen Testaments eine Wirk-
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lichkeit offenbart und einen Geist atmet, die dann- dieser Schluß ist für mich unabweisbar- auf ein und denselben Ursprung und Herrn zurückweisen, so daß er in dem, was er wirklich war, bedeutet und ist, noch immer gehört, verstanden und bejaht werden kann. Wenn die Schriften unseres Neuen Testaments diesen Dienst heute noch leisten, braucht die Vielfältigkeit ihres Zeugnisses nicht mehr zu erschrecken, sie wird vielmehr zu einem Reichtum, den der, der ihn versteht, niemals missen möchte; denn es ist dann- um noch einmal einem Christen unserer frühen Zeit das Wort zu geben- doch immer nur "der eine anfängliche Geist, der in allen Evangelien alles verkündet". Aber diese geistige Einheit ist allerdings nicht ein für alle Mal und nicht auf den ersten Blick zu haben; sie ist nicht mit einer bestimmten theologischen Formel oder einem Grundgedanken identisch, wie man ihn als "Kanon im Kanon" zu bezeichnen liebt. Diese geschichtliche Einheit muß gesucht werden, soll sie sich finden lassen, d. h. sie erfordert ganze Arbeit und ganze, immer neue Hingabe. Es läßt sich, meine ich, nun nicht bestreiten, daß die Christen der alten Kirche und aller Zeiten den einen Sinn im Neuen Testament ernsthaft gesucht und daß sie ihn hier- je auf ihre Weise und gewiß auch je in ihrenGrenzen-immerwiedergefundenhaben. UnsereZeit und unsere Theologie haben darum gewiß keine Veranlassung, sich hochmütig über sie und damit über ihre eigene Vergangenheit zu erheben. Aber es ist freilich ebenso klar, daß die ungezählten Probleme, die das Neue Testament dem I Fragenden bietet, sich heute anders stellen als vor grauen Zeiten und darum anders, d. h. nicht ohne die Hilfe einer kritischen Wissenschaft, bewältigen lassen, die die geschichtliche Besonderheit der Urkunden bewußt untersucht und bestimmt. Schließlich hat die alte Kirche selbst damit ja schon den Anfang gemacht. Diese kritische Bemühung ist nicht bloß eine unumgängliche Forderung geistiger Wahrhaftigkeit; sie ist vielmehr selbst eine Förderung auf dem Wege, den uns das Neue Testament weist, zurück zum Ursprung unserer Geschichte und zum verborgenen Herrn der Schrift, den sie allein für alle Zeiten bezeugt. Glaube und Wissenschaft gehören an dieser Stelle also zusammen, und je ernster sie sich verstehen, um so weniger sind sie zu scheiden. Gewiß, es waren nicht die geringsten Gelehrten und nicht die schlechtesten Gläubigen, die Recht und Möglichkeit dieses Bundes bezweifelt haben, und wer wollte bestreiten, daß Irrtümer und Verfehlungen ihnen auf beiden Seiten oft genug recht zu geben scheinen! Aber daß dieser Bund angesichts der Bibel trotzdem glaubhaft und wirklich bleibe dazu gibt es die theologische Wissenschaft, und das ist im Rahmen unserer Universität die besondere Aufgabe einer evangelisch-theologischen Fakultät.
ERNST KÄSEMANN
Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?* Die Frage, ob der nt.liche Kanon die Einheit der Kirche begründe, muß um der Variabilität der Verkündigung im NT willenvom Historiker verneint werden. Der Beweis für diese Behauptung kann im Rahmen eines Vortrags nur entwurfartig, also unter Beschränkung auf einfache Tatsachen und wenige Beispiele, geführt werden. 1. Es ist ein theologisches Problem, daß der Kanon uns vier Evangelien statt eines einzigen bietet und selbst die ersten drei in ihrer Ordnung, Auswahl und Darstellung erheblich divergieren. Natürlich spielen die Verschiedenheit der jeweils benutzten Tradition und die Eigenart der Evangelisten dabei eine Rolle. Doch kann nur allzu vordergründige Betrachtungsweise, welche die Evangelien primär als Tatsachenberichte versteht und ihren Verkündigungscharakter letzt-
lich ausschaltet, sich mit dieser Erklärung begnügen. Läßt sich doch mit Sicherheit feststellen, daß kein Evangelist den historischen Jesus selber gekannt hat. Für jeden von ihnen stand paradox ausgedrückt der erhöhte und geglaubte Kyrios vor dem incarnatus auf dem Plan und bestimmte den Aspekt, unter dem sie je auf ihre Weise den incamatus sahen. Dabei gehören alle der hellenistischen Gemeinde an. Matthäus und Lukas setzen gemeinsam Markus und eine von uns gewöhnlich als Logienquelle bezeichnete Vorlage, alle drei eine schon vorhandene Passions-und Ostergeschichte voraus. Johannes benutzt I zum mindesten eine verwilderte synoptische Überlieferung. Zeitlich stehen sie alle nicht in solchem Abstand, daß erhebliche Differenzen von da unvermeidbar würden. Gleichwohl folgen sie sämtlich einer andem Tendenz. Schematisch formuliert: Zeigt Markus mit seinen vielen Wundergeschichten die geheime Epiphanie dessen, der zu Ostern seine volle Glorie erhält, so Matthäus den Bringer der messianischen Thora, Johannes den Christus praesens, während Lukas historisierend und die Heilsgeschichte als Entwicklungsprozeß schil• Vortrag, gehalten am 20. Juni 1951 in der ökumenischen Vorlesungsreihe der Theologischen Fakultät zu Göttingen, in: E. Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen I, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1960, S. 214-223 (Erstyeröffentlichung in: EvTheol11, 1951/52, S. 13--21).
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demd zum ersten Male ein sogenanntes Leben Jesu schreibt. Ein anderes Beispiel: Kein hellenistischer Christ hat je daran gezweifelt, daß Jesus das Gottessohnprädikat in metaphysischem Sinn gebühre. Markus läßt in seiner Taufgeschichte zwar noch erkennen, daß eine ältere Gemeindeanschauung wie in Röm. 1, 4; Apg. 2, 56; Hehr. 1, 5 eine adoptianische Christologie vertrat und die Taufe als Messiasweihe verstand. Doch hat er selbst diese Anschauung bereits verwischt und Jesus durchgängig in den Farben des hellenistischen theios anthropos gezeichnet. Die beiden andem Synoptiker sprechen schon von der göttlichen Erzeugung Jesu, wobei Matthäus den Messias als zweiten Moses und Retter des eschatologischen Gottesvolkes, Lukas das göttliche Kind im Rückgriff auf den hellenistischen Mythos wie die 4. Ekloge Vergils als Weltheiland darstellt. Im 4. Evangelium erscheint endlich auch das Motiv der Jungfrauengeburt für den unangemessen, der als Logos vom Anfang an bei dem Vater und mit diesem eins ist, darum allein Offenbarer sein kann. Das allen gemeinsame Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu wird also mit Hilfe einer jeweils der Umwelt entnommenen Anschauung verschieden expliziert. Ein theologischer Aspekt läßt in unsem Evangelien den incamatus modifiziert verkündigen. Weil es sich so verhält, können die Evangelisten einander auch recht unbefangen kritisieren. Markus tat es schon der Quelle seiner Taufgeschichte gegenüber, deren Christologie er nicht mehr tragbar fand. Seine Nachfolger haben es nicht anders gehalten. Matthäus nimmt z. B. Anstoß an der drastischen Weise, mit welcher Mk. 5, 27 ff. die Heilung der Blutflüssigen erzählte. Daß die Gewandung des Wundermannes göttliche Kraft mitteilt, die bei Berührung überspringt und zu heilen vermag, ist eine vulgär hellenistische Vorstellung, die genauso im Bericht vom heilenden Petrussehatten und den wunderwirkenden Schweißtüchlein des Paulus Apg. 5, 15; 19, 12 erscheint und später den Reliquenkult bestimmt. Matthäus korrigiert diese grob magische Anschauung, indem er die Heilung nicht mehr durch die Berührung des Gewandes als solche, sondern durch Jesu Machtwort erfolgen läßt. Er reduziert überhaupt die breite Ausmalung der Wundergeschichten bei Markus, in der sich novellistische Erzählerfreude bekundet und selbst Motive profaner Erzählungstechnik angeschlagen I werden, aufs äußerste, um die geheimnisvolle Hoheit Jesu stärker herauszustellen. Zweifellos bewußt läßt Lukas die Verwünschung des Petrus durch Jesus in Mk. 8, 33 aus, weil sie ihm unerträglich ist. Er hat ja anders als die übrigen Evangelien die Berufung des Petrus zum Gegenstand einer eigenen Wundergeschichte gemacht und dabei wie anderswo die weiteren Apostel in den Schatten des Apostelfürsten gerückt, der für ihn der Repräsentant des kirch-
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liehen Amtes ist. Ganz klar gestaltet Dogmatik den Aufriß des 4. Evangeliums. Deshalb geht den beiden ersten Teilen in Kap. 2 und 15 eine symbolische Einleitung voraus. Die Hochzeit zu Kana und die höchst eigenwillig an den Anfang gezogene Tempelreinigung charakterisieren Jesus als der Welt Heil und Krisis, die Fußwaschung illustriert, daß die vom Kosmos gehaßten Jünger in göttlicher Agape stehen. So hat der Evangelist auch den aus den Synoptikern bekannten Traditionsstoff durchweg als Anschauungsmaterial für die eigene Verkündigung verwertet und ihm damit die Selbständigkeit genommen. Zeigt sich das bei den Wundergeschichten besonders deutlich, so meldet sich dort zugleich am schärfsten johanneische Kritik gegenüber traditionell kirchlicher Betrachtungsweise: Ihr gelten die Wunder Jesu als Symbole, die in 4, 48; 6, 26; 20, 29 ausdrücklich einer christlich geläufigen Deutung als Glaubenslegitimation entzogen werden. Solcher Nachweis läßt sich unabsehbar weiterführen und selbst auf Stellen ausdehnen, in denen ein gleiches Wort durch einen andem Zusammenhang eine andere Interpretation erfährt. Wir können aus dem Gesagten bereits jetzt die Folgerung ziehen, daß die Differenzen in unsem Evangelien und sogar die abweichende Auswahl des überlieferungsstoffessich weithin aus der verschiedenen theologisch-dogmatischen Haltung der Evangelisten erklären. 2. Der Kanon erzeugt die gängige kirchliche und von theologischer Systematik oft geförderte Meinung, daß das NT uns ein einigermaßen ausreichendes Bild von Geschichte und Verkündigung der Urchristenheit gewähre. Tatsächlich wissen wir davon unverhältnismäßig mehr als von den meisten andem Dingen der Antike, weil die Kirche ihre Tradition sorgfältig erhalten und weitergegeben hat. Doch sollte uns das den fragmentarischen Charakter auch dieses Wissens nicht vergessen lassen. Wir stoßen darauf besonders eindrücklich bei dem Versuch, die authentische Jesusüberlieferung aus dem NT zu eruieren. So gewiß man sagen darf, daß die große Masse dieser Oberlieferung uns nicht den historischen Jesus gewahren läßt, so erlauben uns alle noch so vervollkommneten Methoden historischer Wissenschaft an diesem Punkte nur ein mehr oder minder zutreffendes Wahrscheinlichkeitsurteil, wie man aus den vielen höchst disparaten Darstellungen des Lebens und der Botschaft Jesu und der großartigen Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von A. Schweitzer erkennen kann. Die notJwendige Rekonstruktion wird uns paradoxerweise gerade nicht dadurch erschwert, muß aber dadurch zuweilen fast aussichtslos erscheinen, daß uns nicht zu wenig, sondern daß uns zu viel überliefert wurde. Die urchristliche Gemeinde hat ja nicht wie wir zwischen dem historischen und dem erhöhten Herrn unterschieden. Palästinische wie hellenistische Prophetie sprachen im Namen des Erhöhten, was
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die Jobarmesapokalypse uns noch zeigt. Diese zum großen Teil im Ich-Stil gehaltenen Sprüche sind im Laufe der Tradition mit den Worten des historischen Jesus vermengt und diesem zugeschrieben worden, eben weil es der Urchristenheit nicht wie uns auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern auf den sich hier wie dort offenbarenden Geist des Kyrios ankam. Wir können solchem Faktum nicht gleich unbefangen gegenüberstehen, sondern müssen kritisch scheiden. Denn die Inspiration des Propheten hebt ja nicht auf, daß er jeweils in den Ausdrucksmöglichkeiten seiner Zeit und also auch in ihren theologischen Vorstellungen sprach. Die uns erhaltene JesusUberlieferung läßt sich deshalb nicht auf einen einzigen Nenner bringen. Die formgeschichtliche Arbeit hat gezeigt, daß es um den Erzählungsstoff nicht anders steht als um die Sprüche, und daß die Rahmenstücke der Perikopen fast durchweg der Komposition der Evangelisten angehören und der Einzeltradition gleichsam als Gerippe Halt bieten. Nivellierung wird den historischen Sachverhalten also nicht gerecht, so sehr der Kanon als solcher dazu verlockt. Exegese vollzieht sich immer in der Nuancierung. Mit dieser Erkenntnis verbindet sich sehr eng eine andere. Wir meinen gewöhnlich und werden darin wieder durch die Kanonisierung der nt.lichen Schriften, die gängige kirchliche Anschauung und nicht selten durch die systematische Theologie bestärkt, daß wir im NT in sich ruhende Aussagen vor uns hätten, so daß es als Summe von dicta probantia verstanden werden könne. Damit wird dann der Gesprächscharakter der meisten nt.lichen Aussagen verkannt. In ihnen geht es ja um Antworten auf konkrete Fragen, Abwehr bestimmter Irrtümer, Mahnung und Tröstung konkreter Menschen, sie setzen bestimmte Prämissen voraus und lassen mancherlei Konsequenzen zu. Die Exegese leidet nun darunter, daß wir im allgemeinen den Gesprächspartner oder Gegner nur durch die Brille des Sprechenden zu Gesicht bekommen und dadurch zu einseitigen Urteilen und voreiligen Schlüssen verführt werden. Einige Beispiele mögen das wieder veranschaulichen: Hat Petrus auf die paulinischen Anklagen in Antiochien nicht zu erwidern vermocht und ihnen recht gegeben oder sind die Kontrahenten in offenem Konflikt geschieden? Welche Folgerungen hat der mitangeklagte Bamabas aus dem Streit gezogen? Lukas weiß noch um das Problem, begründet und verdeckt aber hier wie sonst sachliche Gegensätze mit persönJichen Meinungslverschiedenheiten. Warum scheint Antiochien seit diesem Konflikt für Paulus nicht mehr vorhanden zu sein? Was läßt die meisten paulinischen Gemeinden schon ein Menschenalter später in andere Führungsgewalt geraten? Was mag es um Apollos gewesen sein, auf den die korinthischen Enthusiasten sich doch wohl berufen? Mit welchem
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Recht konnten sie es tun? Wer sind die Neider, welche zur Abfassungszeit des Philipperbriefes die Gefangenschaft des Paulus gegen den Apostel ausnützen? Wie fragwürdig muß seine Autorität zu seinen Lebzeiten gewesen sein, wenn man das wagen konnte! Wie kam es zur Ablösung des Petrus durch Jakobus in der Urgemeinde, mit der sich gleichzeitig das Ende des palästinischen Enthusiasmus und das Aufkommen eines christlichen Rabbinates ereignet zu haben scheint? Welche Lehrunterschiede trennten die Palästiner und Hellenisten, von denen Apg. 6 berichtet? Nur Lehrunterschiede begründen doch, daß die letzten sich in Jerusalem nicht halten konnten, während die gesetzesstrenge Richtung zum mindesten 15 Jahre lang relativ unangefochten blieb. Aus welchem Milieu erwächst die rätselhafte Erscheinung des 4. Evangeliums oder auch des Jakobusbriefes? Diese beliebig zu vermehrende Fragenkette zeigt, daß das NT eine unabsehbare Fülle von ungelösten und teilweise wohl unlösbaren historischen und theologischen Problemen enthält. Aus ihm sprechen eben nur diejenigen zu uns, die zu schreiben vermochten und genötigt waren, und deren Schreiben aus irgendwelchen Gründen die spätere Kirche zu bewahren für gut befand. Aber sie bilden eine verschwindende Minorität den vielen gegenüber, welche die Botschaft weitertrugen, ohne einen schriftlichen Niederschlag und damit ein bleibendes Gedächtnis zu hinterlassen. Was berechtigt uns zu der Annahme, daß diese vielen nichts anderes zu sagen wußten und gesagt haben als die Schriftsteller des NT? Gelegentlich gewahren wir aus einem Echo auf ihre Stimme das Gegenteil, das doch schon aus der Mannigfaltigkeit des NT selber wahrscheinlich wird. Das heißt jedoch, daß uns im Kanon nur Fetzen des in der Urchristenheit geführten Gesprächs erhalten geblieben sind und daß die Variabilität des urchristlichen Kerygmas noch sehr viel größer gewesen sein muß, als die Beobachtung des im Kanon erhaltenen Tatbestandes wahn1ehmen läßt. 3. SolcheVariabilität ist jedoch bereits im NT so groß, daß wir nicht nur erhebliche Spannungen, sondern nicht selten auch unvereinbare theologische Gegensätze zu konstatieren haben. Ein im allgemeinen nicht recht ernst genommenes Faktum mag den Weg zu dieser Einsicht öffnen. Der 4. Evangelist bedient sich bekanntlich des literarischen Mittels, ein ihm wichtiges Thema durch ein Mißverständnis der Jünger zu unterstreichen. Wirft er damit nicht ein höchst überlegenswertes theologisches Problem auf? Unsere Überjzeugung, daß die älteste Christenheit ihren Herrn bzw. die Überlieferung von ihm durchgängig richtig verstanden und weitergegeben habe, ist keineswegs von vornherein stichhaltig und in nicht wenigen Fällen nachweislich falsch. Wenn Jesus in Mk. 7, 15 ablehnt, daß der Mensch von außen her verunreinigt werde, so verläßt er damit grundsätzlich den
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Boden der gesamten jüdischen Kultgesetzgebung. Führt er seinerseits alle Unreinheit auf des Menschen eigenes Herz zurück, so besagt das zweifellos, daß der Mensch als solcher verdorben ist und Heil nur in Vergebung erlangt. Kritische Analyse ergibt, daß die palästinische wie die hellenistische Christenheit das Jesuswort im übrigen Kapitel mit kommentierenden Zusätzen umgeben hat. Und zwar wird dem Spruch einerseits nur die polemische Antithese gegen das Rabbinat entnommen, welches den eigentlichen Gotteswillen mit seinen Sonderauflagen und seiner Kasuistik verdeckt. Auf der andem Seite biegt man den Spruch moralisierend um: Die wirkliche Unreinheit besteht in der Lasterhaftigkeit. Beide Kommentare sind nicht in sich unrichtig, aber beide brechen der Radikalität Jesu die Spitze ab. Die Pointe seines Wortes liegt gerade darin, daß es nicht zwischen göttlichem Gebot und menschlicher Auflage unterscheidet. Eine solche Unterscheidung wäre vom Judentum auch nicht anerkannt worden, da man dort die rabbinische Entscheidung als Entfaltung des göttlichen Gebotes versteht und ihr deshalb abgeleitete Offenbarungsautorität beimißt. So wird weiter durch Jesu Wort nicht bloß die rabbinische Auslegung und Praxis, sondern das Kult- und Reinigkeitsgesetz selbst getroffen: Jesus hat sich nicht gescheut, anzugreifen und außer Kraft zu setzen, was dem Judentum als göttliches Gebot galt und es nach dem Wortlaut des AT war. Dieser Einsicht entzieht sich jedoch die palästinische Gemeinde durch ihre Unterscheidung zwischen göttlichem Gebot und menschlicher Auflage. Die hellenistische Christenheit schwächt Jesu Wort ebenfalls ab: Sie zählt böse Taten auf, vor denen man sich zu hüten hat und hüten kann, während Jesus unser Herz schuldig spricht und für die Entstehung der Bosheit verantwortlich macht. Die Aufdeckung unserer Verlorenheit wird also zur moralischen Warnung, der Richter zum Lehrer einer besseren Ethik. Ähnlich steht es, wenn das Jesuswort Mk. 2, 27, der Sabbat sei um des Menschenwillen geschaffen, in V. 28 durch den Zusatz eingeschränkt wird, der Menschensohn sei des Sabbats Herr. Ihrem Meister konnte die Gemeinde zubilligen, was sie für sich selbst nicht in Anspruch zu nehmen wagte. Ihr einschränkender Zusatz beweist, daß sie vor der durch ihn gegebenen Freiheit erschrak und in ein christianisiertes Judentum zurückflüchtete. Mit ihrer Polemik gegen den Pharisäismus als eine Heuchelei- man denke nur an Mt. 23!- hat sie umgekehrt Jesu Angriff auf den Pharisäismus verflacht, der in Wahrheit ja das I Trachten nach der eigenen Gerechtigkeit und deshalb jede Leistungsfrömmigkeit und faktisch jeden Menschen trifft. Wo man den Pharisäer durchgängig zum Heuchler macht, gilt Jesu Kritik bloß noch der Unmoral, ist die Bahn zur christlichen Leistungsfrömmigkeit freigegeben, welche Jesu Angriff auf den wirklichen Pharisäismus ver9 Käscmann, Kanon
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sperrt hatte. Das Zerrbild des Pharisäers als eines Heud:llers ist der Kirche selbst teuer zu stehen gekommen. Auch diese Beispiele sind aus einer Fülle von andern herausgegriffen. Sie sollen beweisen, daß die Geschichte der Christenheit und ihrer Lehrtradition nicht bloß in der Kontinuität zu Jesus gesehen und besmrieben werden darf. Sie ist genauso eine Geschichte der Diastase von Herrn und Jüngern. Bereits die älteste Gemeinde ist teils verstehende, teils mißverstehende Gemeinde. Die Hoheit ihres Herrn wird von ihr zugleich bezeugt und verdunkelt. Auch ihr Glaube barg sich im tönernen Gefäß ihrer Menschlichkeit, und ihre Rechtgläubigkeit war genauso zweifelhaft, wie Orthodoxie es stets ist. Wird das jedoch zugestanden, so kann man sich nicht mehr darüber wundern,daß auch im übrigen NT Lehrgegensätze hart aufeinanderprallen. Mir scheint Luther die theologische Unvereinbarkeit von paulinischer Rechtfertigungslehre und derjenigen des Jakobusbriefes zutreffend beurteilt zu haben. Die Aussagen der Apostelgeschichte über das paulinische Apostolat setzen keineswegs polemisch, sondern ganz selbstverständlich das voraus, was Gal. 1 mit höchster Leidenschaft bestreitet. Es ist mir unbegreiflich, wie man die Eschatologie des 4. Evangeliums und der Offenbarung ausgleichen will. Daß die "ein für alle Male überlieferte Glaubenslehre" von Jud. 3 und die "vorhandene Wahrheit" von 2. Petr. 1, 12 die Vorfindliehkeil der kirchlichen Tradition gegen die vom Geist immer neu geoffenbarte Wahrheit der Gnostiker ausspielen will und vielleicht ausspielen muß, liegt auf der Hand. Es fragt sich jedoch, was es um eine kirchliche Tradition ist, welche wie in Jud. 9 ff. unbefangen jüdischer Legende vom Kampf um den Mosesleichnam zwischen Michael und Satan kanonische Autorität einräumt und ebenso unbefangen den Christen nach 2. Petr. 1, 4 durch die Taufe Anteil an der göttlichen Physis gewinnen läßt. Es fragt sich weiter, ob mit solcher Polemik nicht auch die urchristliche, von Paulus und Jobarmes bezeugte und faktisch durch Jesus selbst vertretene Geistlehre verurteilt wird. Hier wirkt der Geist ja nicht mehr auch durch die Überlieferung, sondern hier geht er in der Tradition auf, ist deshalb wie bereits in den Pastoralen und der Apostelgeschichte das kirchliche Lehramt Besitzer des "Amtsgeistes", kann wie geradezu klassisch in 2. Petr. 1, 20 jede nicht autorisierte Exegese und Interpretation der Schrift verboten werden. Hier gilt die Ordination als Index eines Legitimitäts- und Sukzessionsprinzips, kurz: ist die Grenze des Urchristentums überschritten und der Frühkatholizismus Ietabliert. Die Zeit, in der man die Schrift als ganze dem Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaub-
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würdig zu machen. Der nt.liche Kanon steht nicht zwischen Judentum und Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Judentum so auch dem Frühkatholizismus Raum und Basis. 4. Aus den drei aufgewiesenen Sachverhalten der Variabilität des nt.lichen Kerygmas, der außerordentlichen und das NT übergreifenden Fülle theologischer Positionen in der Drehristenheil und ihrer wenigstens teilweise zutage tretenden Unvereinbarkeit ist nun die Folgerung für unser Thema zu ziehen. Sie kann nur lauten: Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Erbegründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen. Die Variabilität des Kerygmas im NT ist Ausdruck des Tatbestandes, daß bereits in der Urchristenheit eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander vorhanden war, aufeinander folgte, sich miteinander verband und gegeneinander abgrenzte. Daß die gegenwärtigen Konfessionen sich sämtlich auf den nt.lichen Kanon berufen, ist von da aus durchaus begreiflich. Der Exeget kann ihnen grundsätzlich weder das methodische noch das sachlich fundierte Recht dazu bestreiten. Er muß es ihnen im Gegenteil grundsätzlich bestätigen. Ist der Kanon als solcher und im ganzen verbindlich, mögen die verschiedenen Konfessionen größere oder kleinere Partien, bekanntere oder unbekanntere Autoren des NT mit mehr oder weniger historischem Recht für sich in Anspruch nehmen. Ihr Rechtsanspruch ist grundsätzlich unbestreitbar und im einzelnen beweisbar, die Einheit der Kirche umgekehrt von solchem Ausgangspunkt her grundsätzlich unbeweisbar und jeder konfessionelle Absolutheitsanspruch bestreitbar. Ist also Lessings Fabel von den drei Ringen in Nathan dem Weisen auch unser letztes Wort? Ich würde es allerdings meinen, wenn die exegetische Aufgabe mit der historischen Feststellung endete. Wo man sich einzig auf das "Es steht geschrieben" zu stützen versucht, muß nach meiner überzeugungund Einsicht kritische nt.liche Wissenschaft tatsächlich in der Anerkennung von Lessings Fabel enden. Damit wäre jedoch überhört, daß das NT selbst neben die theologische Aussage, also auch neben die Aussagen des Kanons, die theologische Aufgabe der diakrisis pneumatoon treten läßt. Anders gewandt: Man wird die Zusammengehörigkeit und den Unterschied von Buchstaben und Geist zu beachten haben. Was Paulus in 2. Kor. 3 dem AT gegenüber geltend macht, darf nicht auf das AT beschränkt werden, sondern gilt genauso auch für den nt.lichen Kanon. Im I Idealismus hat man die Antithese von Buchstaben und Geist griechisch, nämlich in Analogie zu der von lnwendigem und Äußerem, Inhalt und Form verstanden. Das ist sicher falsch. Paulus, der immer wieder die Leiblichkeit zum Herrschaftsgebiet des Geistes macht, ist kein Kronzeuge für ein Drängen nam
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Innerlichkeit. So darf man Buchstaben und Geist auch nicht derart voneinander trennen, daß man ihnen verschiedene Bezirke des Daseins zuordnete. Da beide für Paulus offensichtlich weltweite und weltbewegende Mächte sind, ergäbe sich sonst die Anschauung eines kosmologischen Dualismus, die dem Apostel fremd ist. Weiter hilft hier die Erinnerung, daß nach Paulus Geist und Fleisch nicht etwas an und für sich, sondern Existenzweisen des Gott gehorsamen oder ungehorsamen Menschen sind. Die paulinische Lehre vom Gesetz beweist, daß es sich mit Geist und Buchstaben nicht anders verhält. Sie ist ja dialektisch. Paulus hat sich nicht zum Antinomisten machen lassen, sondern daran festgehalten, daß das Gesetz als Gotteswille gerecht, heilig und gut sei. Von dem Gesetz als Gotteswillen unterscheidet er jedoch jenes Gesetz, das vom frommen Menschen in die Forderung nach der eigenen Gerechtigkeit verkehrt wird. Eben dieses zum Mittel unserer Selbstgerechtigkeit verkehrte Gesetz nennt er in 2. Kor. 5 Buchstaben. Auf die Frage, worin der Mißbrauch des Gotteswillens hier eigentlich bestehe, wird man antworten müssen: Darin, daß Menschen Gottes Anspruch nicht mehr den Anspruch Gottes bleiben lassen, sondern Gott in seinem Anspruch gefangen wähnen, darum das Gesetz nicht mehr als Bekundung des göttlichen Willens, sondern nur noch nach seiner Vorfindlichkeit beachten, es faktisch also an Gottes Stelle treten lassen. Genauso wird aus der Schöpfung der Kosmos und aus dem Geschöpf das Fleisch, wenn man die Relation des Vorfindlichen zum Schöpfer übersieht und damit die Gabe vom Geber isoliert, um sie zum Mittel menschlicher Willkür werden zu lassen. Daß sich alle Gaben Gottes mißbrauchen lassen, zeigt sich in Korinth, wenn die Enthusiasten das Herrenmahl zum Mahl der Seligen und zum pharmakon athanasias machen. Auch sie gründen ihre Sicherheit und Selbstbehauptung auf die göttliche Gabe wie der Nomist auf das Gesetz. Paulus hat gegen beide angekämpft, indem er die Gabe als Vergegenwärtigung des Gebers, nicht als seinen Ersatz verstehen lehrte. Man hat Gott eben nie dingfest in seiner Hand, weil er dann aufhört, Gott und unser Herr zu sein. Man hat ihn nur, wenn und solange er uns hat. Das bedeutet auf unser Problem übertragen: Man hat Gott auch nicht im nt.lichen Kanon dingfest. Weil die Juden das dem Gesetz gegenüber meinen, spricht Paulus vom alttestamentlichen Kanon als dem Buchstaben, der tötet. Sofern wir das NT nicht anders verstehen, verhält es sich bei ihm nicht anders. In seiner bloßen Vorlfindlichkeit ist der Kanon eben nicht mehr Gotteswort. Das kann er nur werden und sein, wo man nicht Gott in ihm dingfest zu haben meint und damit den Kanon zum Ersatz des sprechenden und uns ansprechenden Gottes macht. Daß die Kirche stets die Neigung gehabt hat, Gott im
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Kanon dingfest zu machen, beweist bereits die Redewendung von der "vorhandenen Wahrheit" in 2. Petr. 1, 12. Wird die kirchliche Tradition mit der Wahrheit identifiziert, so wird von dem Geist abstrahiert, der nach Job. 16, 13 immer neu und gegenwärtig in alle Wahrheit führt, wird vom anredenden und sich gegenwärtig manifestierenden Gott abstrahiert. Das heißt nun freilich nicht, daß man um des Geistes willen von der Tradition absehen könnte und dürfte. Dann würde ja geleugnet, daß Gott schon stets vor uns auf dem Plan stand und sich offenbart hat, der Geist nach dem gleichen Johanneswort eben nicht von sich selbst reden wird, sondern, an Jesu Wort erinnernd, das, was er gehört hat. Der Glaube steht nach Hehr. 11 immer in der Kontinuität göttlichen Handelns, aus weldler Geschichte sich nur Schwärmerturn zu lösen versucht. Aber zwischen dieser Kontinuität göttlichen Handeins und menschlicher, also auch kirchlicher Uberlieferung, gilt es zu unterscheiden. Beides ist nicht identisch. So dürfen die Väter, auf welche sich im 4. Evangelium die Juden berufen, eben nicht dem Christus praesens gegenüber ausgespielt werden. Sie sind nur dessen Zeugen und sind es wie die Wolke von Zeugen in Hehr. 11, sofern sie von Gott bzw. dem Christus Zeugnis empfangen, also in der Kontinuität der praesentia dei stehen. Wir enden in einer unaufhebbaren Dialektik: Der Geist widerstreitet nicht dem "Es steht geschrieben", sondern manifestiert sich in der Schrift. Aber die Schrift kann jederzeit zum Buchstaben werden und wird es, wenn sie nicht mehr vom Geist autorisiert wird, sondern in ihrer Vorfmdlichkeit Autorität sein und den Geist ersetzen soll. Die Spannung von Geist und Schrift ist konstitutiv. Das heißt, daß der Kanon nicht einfach mit dem Evangelium identisch und Gottes Wort nur insofern ist, als er Evangelium ist und wird. Insofern begründet dann auch er Einheit der Kirche. Denn allein das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und an allen Orten. Die Frage jedoch, was das Evangelium sei, kann nicht mehr der Historiker durch eine Feststellung beantworten, sondern nur der Glaubende, vom Geist überführt und auf die Schrift hörend, entscheiden, so daß es auch die Einheit der Kirche nie vorfmdlidl und immer nur für den Glauben gibt. Die Einheit der Kirche wird wie das Evangelium nicht von den beati possidentes, sondern von den Ungesimerten und Angefochtenen in und trotz den Konfessionen, mit und gegenüber auch dem nt.lichen Kanon bekannt, sofern sie die das Evangelium Hörenden und Glaubenden sind.
KuRT ALAND
Das Problem des neutestamentlichen Kanons* Das Problem des neutestamentlichen Kanons ist so alt wie die kritische Erforschung des Neuen Testaments. Ja man kann sagen, daß es so alt ist wie das Neue Testament selbst, oder wenigstens so alt wie die jüngsten Bestandteile in ihm. Dennoch gibt es immer wieder Zeiten, denen die Frage des Kanons, speziell die des neutestamentlichen Kanons, auf besondere Weise zum Problem geworden ist. Das war im 19. Jahrhundert so und dasistheute wiederder Fall. Vor25 Jahren erscholl der erste Alarmruf: "Die Krisis des Kanons der Kirche" (H. Strathmann). Hier wurde von der "schleichenden Krankheit" gesprochen, welche die Kanonsfrage bedeute. Zahlreich sind seitdem die Untersuchungen geworden, die sich mit ihr befassen. Es genügt vielleicht, einige ihrer Titel zu nennen, damit die Reichweite, aber auch die mögliche Sprengkraft dieser Diskussion wenigstens in ersten Umrissen sichtbar wird: "Hebt die heutige neutestamentliche Forschung den Kanon auf?" (H. Braun), "Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" (E. Käsemann). "Das Problem des Schriftkanons" (H. Diem). "Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons" (W. Kümmel) ist heute nicht nur durch die Frage bezeichnet:" Which Books belong in the Bible?" (F. V. Filson), es enthält mehr. Es bringt nicht nur die "Kontingenz der Offenbarung oder {und?) Kontingenz des Kanons" (W. Marxen) ins Spiel, sondern auch "die Tradition als exegetisches, historisches und theologisches Problem" (0. Cullmann), "Grundfragen der biblischen Hermeneutik" (H. Diem) also ebenso wie die entscheidende Frage nach der "Autorität der Bibel heute" (A. Richardson/W. Schweitzer). Mit einer solchen Zusammenstellung von Buch- und Aufsatztiteln könnte man fortfahren und mit ihr die heutige Problemlage beleuchten. Aber das ist wohl nicht erforderlich. Eine Bemerkung jedoch ist • Deutsche, überarbeitete Fassung eines Vortrages auf dem Second International Congress on New Testament Studies zu Oxford im September 1961, in der Neuen Zeitschrift für Systematische Theologie 4, 1962, 220-242, mit Genehmigung des Verlages A. R. Mobray/London veröffentlicht (hier ist 1962 die englische Fassung des Vortrags: The Problem of the NewTestamentCanon, als selbständige Publikation erschienen). Wieder abgedruckt in: K. Aland, Studien zur Oberlieferung des Neuen Testaments und seines Textes (Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 2), de Gruyter, Berlin 1967, 1-23.
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nötig. Das Problem des Kanons ist nicht nur, wie mancher vielleicht zu meinen geneigt sein könnte, ein Problem der protestantischen Theologie oder der Kirchen außerhalb des römisch-katholischen und orthodoxen Bereichs. Jener vorhin zitierte Aufsatz von vor 25 Jahren, welcher von der Krisis des Kanons sprach, meinte, es handle sich hier um "eine schleichende Krankheit der evangelischen Theologie und damit der evangelischen IKirche". Das ist zwar richtig, aber eben nicht nur sie, sondern alle Theologien aller Kirchen sind von dieser "Krankheit", wenn man so reden will, betroffen; sie alle geht, um es neutraler auszudrücken, die mit dem Kanon gegebene Problematik an, wie sich im einzelnen noch ergeben wird. Es ist, der gebotenen Kürze und Ubersichtlichkeit halber, vielleicht zweckmäßig, unser Thema an Hand von Leitsätzen zu behandeln. Einige (wenige) können ohne Kommentar stehen, die meisten benötigen einer mehr oder weniger ausführlichen Erläuterung -, alle Leitsätze zusammen mit dem Kommentar zu ihnen bedürfen der Nachsicht, es handelt sich bei dem, was hier ausgeführt werden soll, nur um einen V ersuch, das große Thema zu behandeln. Eine Polemik gegen andere Auffassungen soll dabei nach Möglichkeit unterbleiben.
1. Wenn wir dem Problem des Kanons gerecht werden wollen, dürfen zwei methodische Gesichtspunkte nidlt außer acht gelassen werden: a) Der neutestamentliche Kanon existiert nicht für sich allein, sondern nur als Bestandteil des Kanons der ganzen Schrift. Dieser ist ebenso eine unteilbare Einheit, wie die Schrift selbst. Deshalb darf der neutestamentliche Kanon nicht isoliert betrachtet und diskutiert werden, sondern nur unter steter Berücksichtigung des alttestamentlichen Kanons. Gewiß bietet das Alte Testament ebenso wie sein Kanon besondere Probleme. Es geht aber nicht an, wie bisher meist geschehen, den Kanon zu teilen. Erst in seiner Ganz/zeit bekommt man seine Problematik voll ins Blickfeld. b) Der Kanon ist eine geschichtlidl gewordene Größe. So ist zu erwarten, daß eine Betrachtung seines Werdens uns die Gesetze zeigt, nach denen er entstanden ist, und daß diese uns wieder Maßstäbe für seine Beurteilung geben. Ohne eine Berücksichtigung der Kanonsgeschichte schwebt eine rein grundsätzlich, dogmatisdl orientierte Betrachtung des Kanons in der Luft. Für das Neue Testament selbst wie für die Kirche der Frühzeit bis zur Ausbildung der Anfänge des neutestamentlichen Kanons ist yQa
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durch den Herrn, wobei die Bezugnahme auf das Alte Testament etwa bei den Schriften der Apostolischen Väter unvergleichlich viel häufiger und umfangreicher ist als die auf Herrenworte. Daß das Alte Testament von den Anfängen der Kirche, von Jesus selbst an, heilige Schrift ist, bedarf keines Beweises. Man kann sogar zugespitzt sagen, daß für die Frühzeit das Alte Testament an derselben Stelle stand wie für uns heute das Neue Testament. Das Alte Testament ist für die junge Christenheit Bericht und Zeugnis vom KUQLO~ 'll)ooü~ XQLOTO~. Daß diese heilige Schrift aber keine festumrissene und absolut festjstehende Größe war, d. h. daß es für die Urkirche keinen feststehenden alttestamentlichen Kanon gab, scheint ebenso simer. Anderslautende Behauptungen hätten nicht aufgestellt werden dürfen. Die in den Evangelien von Jesus selbst gebrauchten bzw. ihm in den Mund gelegten Zitate aus dem Alten Testament halten sich zwar im Rahmen des jüdischen Kanons, erlauben aber keinen Rückschluß auf dessen damalige Existenz oder gar seine Gestalt im einzelnen. Wenn im Judasbrief alttestamentliche Pseudepigraphen zitiert werden, wenn Paulus nach dem glaubwürdigen Zeugnis des Origenes dasselbe tut, wenn sich die Apostolischen Väter ebenfalls auf Pseudepigraphen berufen, so ist das bereits der deutlichste Hinweis darauf, daß die heilige Schrift des Alten Testaments für die Urzeit noch nicht in einem festen Kanon existierte. Dazu kommt das reime Material an Zitaten aus den Schriften des Alten Testaments, die nach jüdischer Anschauung zu den Apokryphen zu rechnen sind. Die Urzeit kannte ebensowenig einen festen Kanon des Alten Testaments wie es einen festen Kanon für die Schriften gab, die sich diesem Alten Testament in einem allmählichen Prozeß an die Seite zu stellen begannen.
2. Sobald der Kanon als Ganzes gesehen wird, zeigt sich seine materiale Verschiedenheit. Die Bestimmung dessen, was im Alten Testament zum Kanon zu rechnen ist und was nicht, ist in den Kirchen von heute durchaus unterschiedlich. Diese modernen Differenzen dürfen uns jedoch nicht erschrecken; in ihnen spiegelt sich nur die Unterschiedlichkeit, welche in den frühen Jahrhunderten bis zum Ausgang der alten Kirche in der Festlegung des alttestamentlichen Kanons bestand. Fragen wir nach dem Bestand des alttestamentlüften Kanons in den wichtigsten Kirchen von heute, so ist die Antwort für eine Reihe von ihnen leicht zu ermitteln. Für die katholische Kirche hat das Konzil von Trient in seiner 4. Sitzung vom 8. April 1546 ein Kanonsverzeichnis festgelegt, welches über den jüdischen Kanon hinaus Tobias, Judith, die Weisheit Salomos, Jesus Sirach sowie zwei Makkabäer-
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bücherzum vollgültigen Bestandteil des Alten Testaments erklärte. Die reformierten Kirchen haben mit eben derselben Eindeutigkeit in der Confessio Gallicana von 1559 wie in der Confessio Belgica von 1561 (so eindeutig nach Artikel IV/V; Artikel VI gibt den Apokryphen zwar eine begrenzte Verwendungsmöglichkeit, hält sie aber dennoch außerhalb des eigentlichen Kanons) übereinstimmend einen Kanon des Alten Testaments festgelegt, welcher eben diese Apokryphen aus ihm ausschließt. Die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirchen, und zwar bis hin zur Formula Concordiae, enthalten ein solches Kanonsverzeichnis nicht; praktisch sind die lutherischen Kirchen einen Mittelweg gegangen. Sie trennten die alttestamentlichen Apokryphen zwar deutlich von den übrigen Schriften des Alten Testaments ab, ließen ihnen aber einen Ort im Anhang der Bibel! ausgaben. Die Church of England geht ebenfalls einen Mittelweg, wenn auch auf andere Weise. In Artikel6 der 39 Artikel von 1571 heißt es in bezugauf die alttestamentlichen Apokryphen: "The Church doth read (these other books) for example of life and instruction of manners; but yet doth it not apply them to establish any doctrine." Die orthodoxe Kirche schließlich bietet eine noch andere Lösung. Die vom hl. Synod der griechischen Kirche autorisierte Ausgabe des Alten Testaments von 1950 enthält sämtliche Apokryphen, außerdem aber 2. Esra und 3. Makkabäer; das 4. Buch der Makkabäer ist in einen Anhang gestellt. Die 1956 in Moskau erschienene russische Bibel hat denselben Bestand wie die Bibel der griechischen Kirche, fügt ihm jedoch 3. Esra hinzu und streicht das 4. Makkabäerbuch. Bereits aus dieser ganz kurzen übersieht wird deutlich, daß und wie der alttestamentliche Kanon heute eine sehr variable Größe ist. Demgegenüber scheinen manche Aussagen mancher Alttestamentler über den alttestamentlichen Kanon von vornherein fragwürdig. Welchen Kanon meinen sie, wenn sie Ausführungen über seine Gültigkeit machen? Sie werden - wahrscheinlich - antworten, daß ihre Reflexionen und theologischen Uberlegungen sich auf den jüdischen Kanon bezögen, daß sie sich also auf einem Gebiet aufhielten, das von den Unterschieden der Auffassung des Kanons in den verschiedenen Kirchen nicht berührt werde. Dem wäre zu antworten, daß dieser jüdische Kanon in der christlichen Kirche der Frühzeit zwar erhebliches Ansehen, aber faktisch keine Gültigkeit besessen hat. Er kommt erst in der Reformationszeit zur Geltung und auch da nur im reformierten Gebiet unverändert, wenigstens in der Theorie. Die Praxis sieht selbst hier anders aus, wovon noch zu sprechen sein wird. Versuche, ihn in der alten Kirche durchzusetzen, wie etwa der des Hieronymus, blieben Episode und ohne Aussicht auf dauernden Erfolg. Die christliche Kirche hat (von ihren allerersten Anfängen abge-
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sehen) in ihrer Frühzeit stets die LXX benutzt. Die Tatsache des Gebrauchs der LXX durch die Christen ist sogar offensichtlich einer der Gründe für die Juden gewesen, sich von der griechischen Bibel auf den normierten Text der hebräischen Bibel zurückzuziehen. Diese von der alten Kirche gebrauchte LXX ist von der hebräischen Bibel nicht nur im Gesamtumfang und im Aufbau ihrer Schriftengruppen unterschieden, sondern in einigen Büchern aum in bezug auf den Te:rtbestand, ganz abgesehen von der Fülle der Differenzen zwischen dem griechismen und dem hebräischen Text im einzelnen, die sich über das ganze Alte Testament hin finden. Vor allen Dingen aber ist der Kanon des griedtischen Alten Testaments im 2. Jahrhundert offensichtlich noch eine variable Größe. Daß er nicht dem hebräischen Kanon entspricht, beweisen bereits die Zitate aus den alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen, die wir vom Neuen Testament an bei den Kirchenvätern des zweiten und der folgenden Jahrhunderte in reicher Fülle fmden. Dabei wechselt der anerkannte Bestand I von Apokryphen bzw. Pseudepigraphen offensichtlich von Fall zu Fall, soweit wir aus den überlieferten Zitaten Schlüsse zu ziehen in der Lage sind. Denn eine gewisse Zufälligkeit hat offensichtlich bei diesen Zitaten stets gewaltet, keiner der Väter beabsichtigt, dem Leser alle für ihn als heilig, als yQa«pi} geltenden Schriften des Alten Testaments vorzuführen. Aber auch die uns erhaltenen Kanonsverzeidtnisse bieten dasselbe wechselvolle Bild. Selbst wenn wir den Bogen ganz weit spannen: von Melito und Origenes über die großen Bibelhandschriften auf der griechischen Seite bis hin zu Nikephorus, von Hilarius bis zum Codex Claromontanus auf der lateinischen Seite, und die hier gebotenen Listen des alttestamentlichen Kanons miteinander vergleimen, so ergibt sich, daß eigentlich keines dieser Kanonsverzeimnisse des Alten Testaments dem anderen genau gleich ist. Das gilt nicht nur für die Reihenfolge der Aufzählung, sondern auch für den Bestand. Und keines der Kanonsverzeidtnisse ist mit dem hebräischen Kanon identisch! Selbst wenn man einmal glaubt, den hebräischen Kanon wiedergefunden zu haben, dann fehlt das BuchEsther oder ist doch ein Apokryphon (meist Baruch oder die 'EmatoÄ~ des Jeremia) eingeschoben. Das beginnt gleich beim ältesten Kanonsverzeichnis, dem des Melito aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts (Euseb, h. e. IV, 26). Was Melito - und zwar als Resultat von sorgfältigen Forschungen anläßlich einer Reise in den Orient- aufzählt, entspricht zwar dem jüdismen Kanon - aber es fehlt Esther, 1md zwar ganz offensichtlich nicht aus Versehen. Denn oft genug, bis hin zu Grcgor von Nazianz und Leontius (die beide sonst ebenfalls den hebräischen Kanon haben), wiederholt sim dieses Fehlen des Estherbuches. Das Kanonsver-
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zeichnis des Origenes, das uns ebenfalls Euseb überliefert (h. e. VI, 25), ist oft mißverstanden worden. Es handelt sich hier gar nicht um den von Origenes selbst vertretenen Kanon; was er uns hier bei der Auslegung von Psalm 1 bietet, soll vielmehr ein Bericht über den hebräischen Kanon sein (25, 2 vgl. 25, 1). Aber wie sieht diese Aufzählung des jüdischen Kanons aus? Bei Jeremia erscheint mit offensichtlicher Selbstverständlichkeit die ·EmaToA.~, und am Schluß wird hinzugefügt: [~oo bE Toimov laTi. Ta MaxxaßaiY.a (25, 2). Daß der jüdische Kanon, insbesondere bei gelehrten Theologen, eine starke Beachtung fand und erheblichen Einfluß auf die Kanonsverzeichnisse geübt hat, soll nicht geleugnet werden. Aber er war nie stark genug, um die kirchliche Praxis, die ebenso wie die kirchliche Tradition in andere Richtung ging, zu durchbrechen, auch bei Hieronymus nicht. Die sog. Synode von Laodicea in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts lehnte sich streng an den jüdischen Kanon an (auch das BuchEsther ist hier aufgenommen). Aber bei Jeremia heißt es: xat Bapoux, ßpfjvoL Y.at bnaToA.al (!). Der 39. Festbrief des Athanasius, dem eine besondere Bedeutung zukommt, steht ebenfalls stark unter dem Einfluß des jüdischen Kanons. Er führt die Sapientia Salomonis, Jesus Sirach, Judith und Tobit zusammen I mit der Didache und dem Hirten des Hermas als vom Kanon zu trennende Lesebücher für Katechumenen an (die Makkabäerbücher u. a. m. werden überhaupt nicht genannt). Aber auch das BuchEsther erscheint unter dieser Gruppe, und unter den kanonischen Schriften werden bei Jeremia ebenso Baruch wie die 'EmaToA.~ aufgeführt. Wie die Praxis des 4. Jahrhunderts aussah, zeigen uns die großen Bibelhandschriften: Der Codex Vaticanus enthält außer Baruch und der ·EmaToA.~ sowohl die Sapientia Salomonis wie Sirach, Judith und Tobit (nicht dagegen die Makkabäerbücher), der Codex Sinaiticus alle vier, zusätzlich aber noch das 1. und 4. Makkabäerbuch (über Baruch und die •ExuJToA.~ ist keine Aussage möglich; nach den Klageliedern beginnt eine Lücke). Und diese Schriften stehen nicht etwa in einem Anhang, sondern mitten unter den anderen Büchern des Alten Testaments. Auf dieser Linie ist die Entwicklung weitergegangen. J. Der Kanon des Neuen Testaments hat dagegen heute in allen Kirchen dieselbe Gestalt. Diese heutige Gemeinsamkeit unter den Konfessionen darf jedoch nicht vergessen lassen, daß eine solche Einheitlichkeit in der alten Kirche nicht bestand. Sie ist erst am Ausgang des 4. Jahrhunderts als Resultat eines langwierigen und komplizierten Prozesses in einer Reihe von Kirchenprovinzen erreicht worden, hat aber danach noch Jahrhunderte gebraucht, bis sie sich überall durchgesetzt hat.
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Es ist hier verständlicherweise nimt möglich, aum nur einen Abriß der Geschichte des neutestamentlimen Kanons zu geben. Nur die Hauptpunkte der Entwicklung können berührt werden, deren Kenntnis für eine Beurteilung des Kanonproblems unumgänglich erforderlich ist. Nicht weniger als sieben Stufen hat der neutestamentliche Kanon durchgemacht, bis die heutige Einheitlichkeit erreicht war. über die erste Stufe der Entwicklung haben wir schon gesprochen, sie reicht von Paulus über Johannes bis zur älteren Schicht der Apostolischen Väter. Hier steht neben dem Alten Testament das Herrenwort. Es läuft mündlich um, ist aber auch schon in geschriebenen Spruchsammlungen zusammengefaßt, aus denen zitiert wird. Gegen Abschluß dieser Epoche existieren auch die Paulusbriefe bereits als geschlossene Sammlung, ebenso wie die Evangelien. Aus ihnen wird ebenfalls bereits zitiert, sie werden auch in den Gottesdiensten verlesen, ohne daß sie jedoch dem Alten Testament gleichgestellt werden. Die zweite Etappe der Entwicklung wird durch die Spätschicht der Apostolischen Väter und Justin bezeichnet. Neben die bisherigen Autoritäten des Alten Testaments und der Herrenworte ist jetzt die Gruppe der 12 Apostel getreten (in die Paulus automatisch miteingeschlossen wird); man beruft sich auf die Apostel und deren Weisungen. Allmählich bekommen die ersten neutestamentlichen Schriften eine dem Alten Testament angenäherte Autoritätsstellung; voran gehen dabei die Evangelien, die Paulusbriefe folgen. Um 150 beginnt dann die dritte Entwicklungsstufe, mit I welcher die Kanonsbildung im eigentlichen Sinne einsetzt. Alles, was sich bisher abspielte, bedeutet lediglich eine Vorstufe dazu. Der Vierevangelienkanon bildet sich jetzt aus, die Briefe erlangen eine grundsätzliche (nicht praktische) Gleichstellung. Um 200 ist mit lrenaeus, Tertullian und Klemens von Alexandrien die vierte Etappe erreicht: der Vierevangelienkanon ist voll anerkannt; neben ihm steht als zweite Gruppe die der Apostelschriften. Den Kern dieser Apostelschriften geben die paulinischen Briefe ab; ihnen haben sich die ersten anderen apostolischen Briefe (und im Westen die Apokalypse) angegliedert. Die Lesung einer Schrift im Gottesdienst wird jetzt zur Anerkennung ihrer kanonischen Gültigkeit. Das führt automatisch zu der Forderung: alles, was diese kanonische Gültigkeit nicht besitzt, ist von der Lesung im Gottesdienst auszuschließen. Damit beginnt etwas Neues. Bisher galt diese Grenzziehung nicht, vielmehr konnten Scluiften im Gottesdienst verlesen werden, auch wenn ihnen allgemeine Verbindlichkeit nicht zuerkannt wurde. Das ganze dritte Jahrhundert hindurch bis in den Anfang des vierten hinein dauert dann die fünfte Entwicklungsstufe. Eine feste, all-
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gemein anerkannte Stellung neben den vier Evangelien und den Paulusbriefen haben sich jetzt der 1. Petr. und 1. Joh. erworben; der 2. Petr., 2. und 3. Joh., Jak. und Judas ringen um diese Anerkennung mit verschiedenem Erfolg. Bei ihnen sind Ost und West auf gleiche Weise gespalten, was Anerkennung und Verwerfung angeht. In bezug auf Hehr. und Apok. gehen die beiden Kirchengebiete jedoch auseinander: der Osten rezipiert den Hehr. und verwirft die Apok., der Westen macht es genau umgekehrt, und zwar beide jeweils mit erstaunlicher Einhelligkeit. Erst gegen Mitte des 4. Jahrhunderts bahnt sich ein Ausgleich an. Die sechste Etappe der Entwicklung des neutestamentlichen Kanons, die bedeutungsvollste, setzt ein. Sie bringt die ersten offiziellen Bischofsentscheidungen mit autoritärem Anspruch für ganze Kirchenprovinzen, die ersten Synodaldekrete mit amtlicher Festsetzung des neutestamentlichen Kanons. Etwa 350 beginnt diese sechste Etappe und dauert bis in den Anfang des 5. Jahrhunderts. Im sog. 60. Kanon der Synode von Laodicea (2. Hälfte des 4. Jahrhunderts) heißt es: .,Oaa ÖEL ßtßÄlat civaytvroaxEa-Dat. Zunächst werden die alttestamentlichen Schriften aufgeführt (TIW.aLCi~ öwaiJxll~), dann folgen die neutestamentlichen (tci ÖE 'rii~ xatvi)~ ÖtaaiJxll~ taüta): die 4 Evangelien, die Apostelgeschichte, 7 katholische Briefe (also Jak., 2 Petrusbriefe, 3 Johannesbriefe, Judas) und 14 Paulusbriefe (einschließlich Hehr.). Die Apokalypse wird nicht genannt. Genau dieselbe Aufzählung findet sich bei Cyrill von Jerusalem (Cat. IV, 36) und Gregor von Nazianz (vgl. Zahn II, 1, 216 f.). In seinem 39. Festbrief von 367 dagegen führt Athanasius neben den genannten 26 Büchern auch die Apokalypse als kanonisch auf. Auch die Apokalypse ist jetzt im Osten also rezipiert; der Kanon des Neuen Testaments, wie wir ihn kennen, ist fertig, oder scheint wenigstens fertig zu sein. I Daß Athanasius zu dieser Anerkennung der Apokalypse durch seinen Zwangsaufenthalt im Westen während der arianischen Streitigkeiten veranlaßt worden ist, scheint sicher. Hier hatte er die Wertschätzung dieses Buches in der westlichen Kirche kennengelernt und war vielleicht auch zu einer Art von Verständnis und innerer Bejahung der Apokalypse gelangt; daß sie von seinen theologischen Gegnern bekämpft und verworfen wurde, erleichterte ihm wahrscheinlich den Entschluß zu ihrer Aufnahme in den Kanon. Der Westen folgt in der Abgrenzung des Kanons dem Beispiel des Athanasius, der ihm in den arianischen Auseinandersetzungen zum Wortführer der Rechtgläubigkeit geworden ist. Auch hier vollzieht sich - diesmal durch Aufnahme des Hebräerbriefs-inder zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die Entwicklung zum 27 Schriften-Kanon. Hieronymus und vor allen Dingen Augustin kommt dafür eine maßgebende Bedeutung
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zu. Eine Synode zu Hippo Regius von 593 wie Synoden zu Karthago 597 und 419 defmieren den Kanon des Neuen Testaments ebenso wie Athanasius; lnnocenz I. erklärt dasselbe 405 in einer Verlautbarung an den Bischof von Toulouse (ep. VI, 7), Pelagius kann schon 417 von diesem Kanon als für die Gesamtkirche feststehende Tatsache reden (libellus fidei 8). Nach langem Schwanken scheinen die Kirche des Ostens wie des Westens in raschem Anlauf eine einheitliche Form des neutestamentlichen Kanons erreicht zu haben, der nun durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag Bestand hat. Doch dieses schöne Bild täuscht. Vielmehr dauert es noch lange, bis dieser feste Bestand überall erreicht ist, selbst in der lateinischen Kirche, die ihrer ganzen Anlage nach zu festen Ordnungen strebt. Daß Augustin sich mit einem Presbyter auseinandersetzen muß, der in seinen Gottesdiensten nicht in den Kanon aufgenommene Schriften verlesen läßt (ep. 64, 5), mag noch angehen. Aber daß bei Augustin selbst in seiner späteren schriftstellerischen Wirksamkeit eine deutliche Zurückhaltung gegenüber dem Hebräerbrief spürbar ist, gibt schon mehr zu denken. Jene Beschlüsse um 400 hatten den Hehr. zwar in den Kanon hineinbringen können, aber damit war er noch lange nicht in der abendländischen Kirche wirklich angenommen. Daß Gassiodor noch um 550 keinen westlichen Kommentar zu Hehr. ausfindig machen kann und deshalb den des Chrysostomus übersetzen läßt, beleuchtet die tatsächliche Situation. Daneben darf nicht übersehen werden: daß man in manchen Teilen der Kirche bis ins 7. Jahrhundert hinein entweder einen verkürzten Kanon hatte (spanische Synoden bekämpfen nach 600 noch Gegner der Apokalypse) oder aber einen durch Aufnahme apokrypher Schriften erweiterten Kanon anerkannte (selbst Gregor d. Gr. duldet den Laodicenerbrief), beweist, daß selbst im Westen auf die entscheidende sechste Etappe der Rezeption des 27 Schriften-Kanons noch eine siebente folgte, in welcher dieser Kanon erst Allgemeingut wird. Noch deutlicher tritt diese siebente, abschließende Epoche in Erscheinung, wenn wir uns der griechischen Kirche zuwenden. Hier kommt der I Autorität des Athanasius zwar eine ähnliche Bedeutung zu wie der Augustins im Westen. Trotzdem aber ist viel Mühe und Zeit erforderlich, bis der 27 Schriften-Kanon allgemein anerkannt ist. Die antiochenische Theologenschule kennt damals überhaupt nur zwei katholische Briefe und verwirft die Apokalypse nach wie vor. Langsam setzt sich neben dem 1.Petr. und 1.Joh. dann der Jakobusbrief durch, aber erst von 451 ab nimmt der Widerstand gegen die Kanonizität von 2. Petr., 2. und 5. Joh. und Judas langsam ab. Die Apokalypse braucht noch länger, um sich durchzusetzen. Erst um 500 beginnt das; aber noch das dem Patriarchen Nikephorus zuge-
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schriebene Kanonsverzeichnis aus dem 9. Jahrhundert nennt die Apokalypse in einem Atemzug mit der Apokalypse des Petrus, dem Barnabasbrief und dem Hebräerevangelium unter den Antilegomena. Und noch negativer ist das Bild in der syrischen Kirche. Hier enthält der Kanon bis 400 das Diatessaron, nicht die vier Evangelien; es fehlen außerdem sämtliche katholischen Briefe, es fehlt die Apokalypse. Ja selbst die Paulusbriefe bieten ein anderes als das gewohnte Bild: der Philemonbrief fehlt, dafür ist ein Schreiben der korinthischen Gemeinde mit dem sog. 3. Korintherbrief als Antwort eingefügt. Dazu kommen schließlich Apokryphen verschiedenster Gattung. Erst nach und nach wandelt sich die Situation in dieser Kirche, die ja nicht gleichgültig ist, sondern von den ersten Anfängen an bis ins 5. Jahrhundert zu den Kerngebieten des Christentums gehört hat. Allmählich muß das Diatessaron weichen. Der J akobusbrief, 1. Petr. und 1. Joh. werden rezipiert. Aber noch fehlen die 4 kleineren katholischen Briefe, noch fehlt die Apokalypse. In der westsyrischen Kirche setzen sie sich vom 6. Jahrhundert ab langsam durch, aber viele Generationen sind dafür nötig; die ostsyrische, nestorianische Kirche bleibt überhaupt bei einem Kanon ohne Judasbrief und Apokalypse. So sieht in großen Zügen der Werdegang des neutestamentlichen Kanons aus. Und diesen Werdegang muß man in Erinnerung haben, wenn man grundsätzliche Aussagen über den neutestamentlichen Kanon machen will.
4. Weiterhin darf nicht übersehen werden, daß neben den sich in der allgemeinen Schätzung als kanonisch durchsetzenden neutestamentlichen Schriften lange Zeit hindurch, wenn auch in den verschiedenen Kirchengebieten und Gemeinden in verschiedenartiger Zusammensetzung, eine ganze Reihe von schließlich verworfenen Schriften volles oder teilweise kanonisches Ansehen besaß. Darauf brauchen wir hier im einzelnen nicht einzugehen. Es genügt wohl, um die Situation zu beleuchten, auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, daß der Codex Sinaiticus den Barnabasbrief und den Hirten des Hermas enthält, der Codex Alexandrinus den 1. und den 2. Clemensbrief. Der Codex Sinaiticus stammt aus dem 4., der Codex Alexandrinus sogar I aus dem 5. Jahrhundert. Damals werden diese Schriften in bestimmten Gebieten noch im Gottesdienst verlesen, erfreuten sich also dort kanonischen Ansehens. Einige grundsätzliche Bemerkungen sind jedoch erforderlich:
5. Der neutestamentliche Kanon nimmt seinen Anfang in einer Zeit und als Zeichen einer Zeit, welche jene Unmittelbarkeit zum Herrn zu verlieren sich bewußt war, die sich in steter neuer Geistoffenba-
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rung und der durch sie geübten direkten Leitung der Kirche durch den Herrn kundtat. Daß man im Kanon eine Schranke zwischen echter und unechter Offenbarung aufrichtet, wird außerdem befördert durch die Erscheinungen des Montanismus und der Gnosis mit ihrem Anspruch auf ein Mehr an göttlicher Offenbarung und Offenbarungsschriften auf der einen Seite und durch Mareion mit seinen Schülern auf der anderen Seite mit ihrem V erlangen nach einem Weniger, als die Kirche des zweiten Jahrhunderts ihrem Glaubensbesitz entsprechen sah. Dieses Gesetz, nach dem der neutestamentliche Kanon entstanden ist, darf nicht übersehen werden. Und weiter: 6. Es kann nidzt bestritten werden, daß die von der alten Kirche angewandten äußeren Maßstäbe für die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften, von den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus betrachtet, unzureichend, nicht selten sogar falsch waren. Die heutige Einleitungswissenschaft urteilt in vielen Fällen über Verfasser und Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften anders als die alte Kirche. Ich brauche das hier im einzelnen nicht darzulegen. Wenn man die äußeren Prinzipien, welche bei der Auswahl der kanonischen Schriften eine Rolle gespielt haben, in eine Formel zusammenfassen will, kann man eigentlich nur vom "Prinzip der Prinzipienlosigkeit" sprechen. Man kann es etwa am Canon Muratori schön studieren, wie jedes sichtbar werdende Prinzip für die hier getroffene Auswahl sogleich mit ausdrücklichen Worten wieder aufgehoben wird. Apostel sollen die Verfasser der kanonischen Schriften sein: Lukas und Markus aber sind keine Apostel, Lukas nicht einmal Augenzeuge (6 ff.). Es gibt Fälschungen von Apostelschriften (64 ff.), sie werden selbstverständlich verworfen; aber auch Schriften, an deren apostolischer Abfassung nicht gezweifelt wird (wie die Apokalypse des Petrus), werden von einigen nicht angenommen (72 f.). Die Sapientia Salomonis schließlich, die im neutestamentlichen Zusammenhang auftaucht, durchbricht den Zusammenhang völlig, ist sie doch nicht einmal von Salomo selbst, sondern "von Freunden zu seiner Ehre" geschrieben (69 ff.). An die ganze Kirche müssen die Schriften gerichtet sein: aber Paulus schreibt doch nicht nur an einzelne Gemeinden (was sich noch in das j Schema einfügen läßt, 55ff.), sondern sogar an einzelne Personen (59 ff.). Einheitlich muß die Botschaft sein: aber die principia ( = Anfänge oder = Grundsätze?) der Evangelien sind doch verschieden (16 ff.). Alt müssen kanonische Bücher sein (73 ff.) - das ist schließlich der einzige Grundsatz, der durchgehalten wird - er wieder ist durch Irrtümer in der zeitlichen Ansetzung durch-
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löchert. Bei allen andem Kanonsverzeichnissen würde ohne Zweifel derselbe Tatbestand sichtbar werden, wären sie nicht so kurz gehalten. Immerhin wird, sobald die Väter- und das gilt bis hin ins 4. Jahrhundert zu Euseb - sich ausführlicher über neutestamentliche Schriften äußern, ein Tatbestand deutlich, der wenigstens am Rande festgestellt werden soll:
7. Es ist nicht zu übersehen, daß den verfaßten Kirdz.en von heute weithin die Freiheit verlorengegangen ist, mit welcher die Väter der alten Zeit (aber auch die Reformatoren) über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit einer Sdzrift zum Kanon urteilten. Man muß nur einmal lesen, wie Dionys von Alexandrien sich über die Apokalypse äußert (Euseb, h. e. VII, 25), um den Abstand zu ermessen, in dem die offiziellen kirchlichen Verlautbarungen, aber auch die Äußerungen nicht weniger Theologen (Neutestamentler eingeschlossen) von heute sich zu jener Zeit vor 1700 Jahren befinden. Hier werden die johanneischen Schriften, vom Evangelium bis hin zu den Briefen, miteinander verglichen: in ihrem Sprachschatz usw. wie in ihren theologischen Aussagen, unter Heranziehung aller sonstigen Nachrichten und Hilfsmittel und vor allem mit einer Objektivität und voraussetzungslosen Freiheit, daß nicht nur die Resultate ganz modern klingen, sondern die Gesamthaltung in unsere Tage zu gehören scheint- nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollten. Aber kehren wir nach dieser Abschweifung zum 2. Jahrhundert zurück. Man kann sich angesichts des Tatbestandes, den man hier vorfmdet, des Eindrucks beinahe nicht erwehren, daß die hier ihr erstes entscheidendes Stadium erreichende Kanonbildung ein superadditum darstellt, dessen das ausgehende 2. Jahrhundert eigentlich nicht bedurft hätte. Denn fragen wir nach der letzten theologischen und kirchlichen Instanz dieser Zeit, so ist das nicht die Schrift, sondern die regula fidei, die regula veritatis, der Kavoov tli~ tiÄT}'6Ela~. Diese regula veritatis, dieser Kavrov stellt die Norm dar, an der alles gemessen wird - auch die Bücher des sich bildenden Neuen Testaments, sofern noch irgendwelche Zweifel an ihrer Allgemeingültigkeit bestehen. Ob eine Schrift unter dem Namen eines Apostels wirklich von der Kirche angenommen werden kann, entscheidet sich letztlich daran, ob ihr Inhalt mit diesem Kanon übereinstimmt. Abfassung durch einen Apostel, Alter und was dergleichen Gesichtspunkte mehr sind, bedeuten demgegenüber nur Vorläufigkeiten. Die Geschichte, die uns vom IBischof Serapion von Antiochien (ca. 190-211) erzählt wird (Euseb, h. e. VI, 12), ist ganz charakteristisch. In Rhossus, 10 Käscmann, Kanon
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einer Gemeinde nahe bei Antiochien, pflegte man das Petrusevangelium (im Gottesdienst) zu lesen. Bei einem Aufenthalt dort wird Serapion deswegen befragt; er stimmt der Lesung zu. Nach Haus zurückgekehrt, beschafft er sich das Petrusevangelium (das er offensiebtlieh bisher nicht kennt!), liestes-und schreibt sofort einen Brief nach Rhossus. Denn er hat jetzt festgestellt, daß im Petrusevangelium 'ta IJ.EV 1CÄElova 'toii bQ-Doii A.Oyou 'toü ac.oti}Qo;, 'tLva öt nQOOÖLEa'taAj.l!va (VI, 12, 6). Eine Liste der Irrtümer fügt er seinem Schreiben bei, um die Gemeinde davon zu überzeugen. Damit ist die Frage nach der Lesung des Petrusevangeliums (im Gottesdienst), d. h. seiner Kanonizität, negativ beantwortet. Zusätzlich kündigt Serapion seinen baldigen Besuch in Rhossus an, offensichtlich um den Irrtum mit der Wurzel auszurotten. Dieser Kanon, die regula fidei, steht nun selbstverständlich in enger Beziehung zur Schrift. Die regula ist aus ihr - soweit sie damals rezipiert ist- herausgewachsen als Zusammenfassung des Glaubensbesitzes der Kirche. Aber es ist doch nun nicht so, daß die regula nur ein Kompendium, eine kurze Zusammenfassung des Schriftinhaltes darstellte. Das hat das ausgehende zweite Jahrhundert zwar gemeint; dennoch aber ist unverkennbar, daß diese regula bis in die Zeiten mündlieber Tradition zurückgeht, daß sie zwar durch die Schrift etwa die Briefe des Paulus- beeinflußt ist, ihrerseits umgekehrt aber wieder auf die Schrift und ihren Lehrinhalt- etwa die späteren katholischen Briefe - eingewirkt hat. Sie stellt den Niederschlag des sieb fortbildenden Glaubensbesitzes der Gemeinde dar. Auch wenn ihr Wortlaut (im Bekenntnis) für längere Zeit oder überhaupt konstant bleibt, verändert sich dennoch ihr Inhalt. Denn die Formel gewinnt Leben, ja Existenz überhaupt, nur bei der Interpretation, sie setzt ein Vorverständnis voraus. Und beide entwickeln sich ständig fort, parallel zur allgemeinen theologischen und kirchlichen Entwicklung mit ihren wachsenden und wechselnden Anforderungen. Die regula ist außerdem nur eine der Normienmgsinstanzen, in welchen die Kirche des 2. Jahrhunderts die Garantie für die reine Lehre sieht: neben ihr steht die vielfache, ununterbrochene Kette der bischöflichen Amtsträger, welche theoretisch bis auf die Zeiten der Apostel zurückgeht und so die- wieder theoretisch- unveränderte Weitergabe des ererbten Glaubens und der ererbten Lehre von der einen Generation auf die nächste sichert. Man kann, wenn man will, die Reihenfolge als symptomatisch bezeichnen, in welcher das Wort "Kanon" gebraucht wird: Zuerst bedeutet es die regula fidei, dann die Entscheidungen der Synoden und zuletzt erst, vom 4. Jahrhundert ab, die Liste der Bücher der heiligen Schrift, welche für den kirchlichen Gebrauch zugelassen sind.
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Welche Rolle hat nun die Kirche bei der Entstehung des Kanons gespielt? Wir brauchen nur das Fazit aus unserem Überblick über die neutestamentliche Kanonsgeschichte zu ziehen: I
8. Die kirchlichen Instanzen des 2. und der folgenden Jahrhunderte vollzogen mit ihrer Festsetzung des Kanons die Entscheidungen nach, welche bei den Gemeinden, genauer gesagt bei den einzelnen Gläubigen, vorher vollzogen worden waren. Die verfaßte Kirche als solche hat den Kanon nicht geschaffen, sie hat den geschaffenen Kanon anerkannt. Erst von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ab setzt anläßlich des Abschlusses der Kanonsbildung eine Einwirkung kirchlicher Instanzen ein. Bei diesem Satz ist zu beachten, daß er von "kirchlichen Instanzen", von "verfaßter Kirche" spricht, nicht von "Kirche". Natürlich hätte auch dieses Wort gebraucht werden können; aber es hätte dann von vornherein sichergestellt werden müssen, daß es hier in einem verengten Sinne gemeint ist. Denn daß die Kirche= die Gesamtheit der Gläubigen den Kanon geschaffen hat, versteht sich von selbst. Aber dieser Kanon ist eben von unten her gewachsen, in den Gemeinden, bei den Gläubigen, und dann erst von oben her amtlich legitimiert worden, nicht umgekehrt, daß er von oben her, sei es von Bischöfen oder von Synoden dekretiert und dann von den Gemeinden angenommen worden sei. Denken wir an die Anfänge der Kanonsbildung: Weder die Herrenworte noch die Paulusbriefe noch die vier Evangelien erhalten ihre Stellung durch den Spruch irgendeiner kirchlichen Instanz. Die Herrenworte sind Autoritätkraft ihrer Herkunft, kraftihres vollmächtigen Inhalts. Die Paulusbriefe werden von den Gemeinden angenommen und anerkannt, an die sie gerichtet sind, im Normalfall ohne weiteres, manchmal erst nach Schwierigkeiten (z. B. die Korintherbriefe). Wenn man sie ablehnt (mindestens bei einem Teil der Empfänger des Galaterbriefes ist das der Fall gewesen), schließt man sich damit aus dem Kreis der paulinischen Gemeinden aus und wird zu einer Sondergemeinschaft, die anderen Autoritäten folgt. Man hält die Briefe auch nach dem Tod des Paulus in Ehren und ist bemüht, möglichst alle zu besitzen, um die Stimme des Paulus weiter hören zu können. So entsteht das Corpus der Paulusbriefe. Die vier Evangelien erwerben sich, jedes für sich allein, einen Kreis von Lesern und Anhängern. Sie setzen sich gegenüber der erheblichen Konkurrenz anderer Evangelien durch, weil sie sich den Gläubigen als "wahr" erweisen, und zwar einer weit größeren Zahl von Gläubigen und Gemeinden als die "Konkurrenzevangelien". Gnostische Evangelien und Briefe werden von denen, die in ihnen die to•
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Wahrheit zu hören meinen, in die christlichen Gemeinden einzuführen versucht. Lehnen diese Gemeinden sie ab, verzichten die Anhänger der gnostischen Schriften entweder auf sie oder sie scheiden aus ihnen aus. Fällt die ganze Gemeinde den gnostischen Schriften zu, tritt sie damit zur gnostischen "Gegenkirche" über. Ist das nur zum Teil der Fall, kommt es zu Spaltungen. Natürlich kann es auch zu Mischungen kommen - in vielen Gemeinden sind neben einem oder mehreren der vier Evangelien sicher auch apokryphe Evangelien in Benutzung, I vielleicht sogar in offizieller Benutzung, gewesen. Der Ausgangspunkt dürfte jedenfalls im allgemeinen bei einem Evangelium gelegen haben, welches das Evangelium war; der Gebrauch mehrerer Evangelien nebeneinander (erst jetzt werden sie durch Verfassernamen usw. voneinander geschieden) stellt eine spätere Stufe dar. Bereits in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts haben die vier Evangelien aber alle anderen weit hinter sich gelassennicht weil eine kirchliche Instanz, oder gar eine kirchliche Zentralinstanz (die es ja noch gar nicht gab}, so verfügt hätte, sondern weil diese Evangelien den Gemeinden den "Beweis des Geistes und der Kraft" (1. Kor. 2, 4) erbracht hatten. Natürlich haben in den einzelnen Gemeinden deren Sprecher und Führer, zunächst das Presbyterium, dann die Bischöfe, eine maßgebende Rolle bei der Annahme und Einführung der Schriften gespielt, aber doch nur als Vollstrecker des Gemeindewillens. Die sog. katholischen Briefe und die Apokalypse sind auf dieselbe Weise von den Gemeinden angenommen worden. Jeder Brief und auch die Apokalypse wird zunächst in einer oder in wenigen Gemeinden gelesen. Er breitet sich von ihnen aus; von Fall zu Fall ist die Schnelligkeit wie die Reichweite dieser Verbreitung verschieden. Die einen Gemeinden nehmen ihn auf, die anderen nicht. So kommt es zu der bunten Mischung von "Kanonstypen", die wir bis tief ins 4. Jahrhundert in der ganzen Christenheit fmden. Dabei kann es zu der Ausbildung von "Kanonstypen" für ganze Bezirke, Kirchenprovinzen, ja einer Trennung nach Sprachgebieten (griechisch, lateinisch, syrisch) kommen. Im Normalfall wird es so sein, daß die Schriften in ihrem Entstehungsgebiet besondere Anerkennung und Verbreitung finden. Es kann aber auch ganz anders zugehen: die Apokalypse ist bestimmt nicht im lateinischen Westen entstanden und hat dennoch hier ihre besondere Geltung. Hier spielt die besondere Geschichte und die besondere Erfahrung der Kirchengebiete eine Rolle, nicht der Spruch kirchlicher Instanzen. Wesentliche Bedeutung kommt dabei der Stellungnahme der Theologen zu, die ja keineswegs immer Träger kirchlicher Ämter sind. Auch wo das der Fall ist, wirken ihre Entscheidungen nichtkraftdes Amtes, sondern kraftder Persönlichkeit
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derer, die sie treffen, und kraft ihres Sachgehaltes. Im Fall der Apokalypse ist die Ablehnung durch den Osten wohl nur so zu erklären: am Anfang steht ihre Ablehnung infolge des Kampfes gegen die Montanisten, deren Anschauungen durch die Apokalypse gestützt zu werden scheinen. Der Montanismus hat seine hauptsächlichen Wirkungen im Osten entfaltet, der eigentliche Westen wird von ihm kaum berührt (Tertullian und Afrika sind die Ausnahme). So bleibt die Bestreitung der Apokalypse auf den Osten beschränkt. Als hier der Kampf gegen die Montanisten ausgestanden ist (Anfang des 3. Jahrhunderts), setzt der Einfluß der Theologie des Origenes ein, dessen eschatologische Anschauungen denen einer wörtlich verstandenen Apokalypse absolut entgegengesetzt sind. So wird die ursprüngliche Zurückhaltung des Ostens gegenüber der Apokalypse zur endgültigen Ablehnung. Die Theo!logie des Origenes bleibt für lange Zeit ohne Wirkung auf den Westen, so kann sich die Apokalypse hier ungehindert ausbreiten und ihren festen Platz im Kanon einnehmen. Gleich, ob wir den Bericht des Origenes aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts oder den des Euseb aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts über den Kanon ihrer Zeit nehmen: in beiden Fällen finden wir mehrfach einen Hinweis auf den Schwebezustand, in dem sich die Anerkennung einer ganzen Reihe von neutestamentlichen Schriften befmdet. Hier wird nicht eine Statistik der Entscheidungen der einzelnen Kirchenregimente, sondern ein Bericht über die Meinung der ganzen Kirche gegeben. Sicher dürfte der Bischof oder die Synode spätestens im 4. Jahrhundert maßgeblich die Meinung einer Ephorie oder einer ganzen Kirchenprovinz bestimmt haben, aber sie darf nicht vorschnell mit der Meinung der Kirche als solcher identifiziert werden. Entscheidungen kirchlicher Instanzen mit verbindlichem Geltungsanspruch fmden wir erst von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ab. Was Athanasius in seinem 39. Festbrief verkündet, faßt er als für .Ägypten verbindlich auf. Genauso ist die Entscheidung der afrikanischen Synoden am Ende des 4. und am Anfang des 5. Jahrhunderts für Afrika zu verstehen. Der Westen folgt in seiner Haltung dem Theologen Augustin, nicht dem Bischof von Hippo Regius, der Osten dem Bischof Athanasius, soweit es sich um .Ägypten handelt, sonst jedoch ebenfalls dem Theologen Athanasius, dem gefeierten Vorkämpfer der trinitarischen Rechtgläubigkeit. Aber ganze Gruppen und Gebiete halten sich vom Urteil des Athanasius fern. Wo die antiochenische Theologie dominiert, bleibt man ohnehin bei einer anderen Abgrenzung des Kanons, wohin der Einfluß der drei großen Kappadozier Basilius und der beiden Gregore reicht, da hält man sich wenigstens von der Anerkennung der Apokalypse fern. Wie groß diese Einflüsse der Theologenschulen sind (die ja durchaus über
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die Grenzen der damaligen kirchlichen Jurisdiktionsbezirke hinausgehen), sehen wir daran, wie lange es dauert, bis der 27 Schriften-Kanon wirkliche Allgemeingültigkeit erlangt. Ein Einfluß kirchlicher Instanzen auf die Bildung des neutestamentlichen Kanons ist also erst in der sechsten Stufe der langdauernden Entwicklung, bei ihrem grundsätzlichen (nicht praktischen) Abschluß, festzustellen. Hier wird in der Tat den Gemeinden und den Theologen "von oben her" etwas anzunehmen zugemutet, was nicht in freier Entwicklung "von unten her" entstanden ist. Das gilt vor allem für den Westen. Allerdings ist der Umfang des Neuen nicht so groß, wie man gelegentlich gemeint hat. Denn die Ausdehnung der katholischen Briefe auf die Siebenzahl ist im Osten wie im Westen damals schon weitgehend erfolgt; in bezugauf sie handelt es sich bei den kirchlichen Entscheidungen nur um eine offizielle Feststellung dessen, was sich praktisch schon im wesentlichen durchgesetzt hat. Anders ist es dagegen mit der Feststellung der Kanoniziltät des Hebräerbriefes im Westen und der Kanonizität der Apokalypse im Osten. Auch bei der Ausscheidung der Apokryphen wird offensichtlich manches von oben her abgeschnitten, was in den verschiedenen Kirchengebieten (wenn auch in verschiedener Zusammensetzung) damals noch Gültigkeit hat. Aber auch hier hat man sich offensichtlich keineswegs überall an die offiziellen Entscheidungen gehalten und nach wie vor die Grenze zwischen kanonischen und apokryphen Schriften nach eigenem Ermessen gezogen, bis dann schließlich im Laufe der Entwicklung die Mehrheit, welche diese Apokryphen sämtlich verwarf, über die Minderheit siegte, welche - in sich vielfach gespalten und uneinig - an dieser oder jener apokryphen Schrift festgehalten hatte. Für die Beurteilung dieser Vorgänge ist weiterhin die Feststellung wichtig, daß es sich bei ihnen nur um die Entscheidung über einen Restbestand handelte. Über die Kanonizität des Hauptteiles des Neuen Testaments (Hauptteil vor allem sachlich, aber auch umfangsmäßig: 566 von 657 Nestle-Seiten) gab es schon seit Generationen keinen Streit mehr, weder in der griechischen noch in der lateinischen Kirche, geschweige denn zwischen den beiden Kirchen. Der verbleibende Rest (91 Nestle-Seiten) war praktisch auch schon (mit Ausnahme von Apk. bzw. Hehr.) in seiner Kanonizität fast allgemein anerkannt. Für die griechische Kirche ist das nach dem Zeugnis des Euseb bereits in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts der Fall. Euseb schreibt über die strittigen katholischen Briefe (h. e. II, 23, 25): Jakobus solle den ersten von ihnen verfaßt haben. Er werde jedoch für unecht gehalten, weil seiner wie des sog. Judasbriefes nur von wenigen der Alten gedacht werde. "Wir wissen aber, daß auch diese beiden Briefe zusammen mit den übrigen (katholischen Briefen) in den meisten Kirchen öffentlich
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verlesen werden" (d. h. als kanonisch gelten). In diese Aussage sind auch 2. Petr. (vgl. h. e. 111, 3, 1 und 111, 25, 3) sowie 2. und 3. Johannes {vgl. h. e. 111, 25, 3) einzubeziehen. Für den Westen fehlt uns eine ähnliche eindeutige Aussage (weil es dort bis zu Hieronymus eine vergleichbare Parallele zu Euseb nicht gibt), aber viel anders als im Osten dürfte die Situation dort auch nicht gewesen sein. Athanasius, um mit ihm zu beginnen, zieht 367 nur die Schlußfolgerung aus dieser Situation; wesentlich Neues verordnet er für die ersten 26 Bücher des Neuen Testaments mit seinem 39. Festbrief nicht. In bezugauf die Apokalypse liegen die Dinge etwas anders; es war davon, aber auch von den Erfahrungen des Athanasius bei seinem Aufenthalt im Westen, schon die Rede. Die Rezeption der Apokalypse - die damals auch im Osten in ihrer Geltung wenigstens Fortschritte gemacht haben dürfte- ist bei Athanasius wie in der Zeit danach aus dem Bedürfnis nach dem Ausgleich mit dem Westen zu erklären. Wir leben in der Zeit des ausgehenden arianischen Streites mit seinen (nicht nur durch die Verbannungen von Theologen des Ostens nach dem Westen und umgekehrt, sondern auch aus sachlichen Gründen) sehr viel engeren Wechselbeziehungen zwischen griechilscher und lateinischer Kirche als in vergangenen Zeiten. Hier ist ein solcher Ausgleich das Gewiesene. Auch der Westen, der durch Hieronymus (mit ihm haben wir eine Parallele zu Euseb im Westen) und Rufm einen neuen Zugang zur Theologie des Ostens gewinnt, ist an einem solchen Ausgleich interessiert. Unter dem besonderen Einfluß des Hieronymus in Italien und Augustins in Mrika zieht der Westen mit dem Osten in der abschließenden Feststellung des Kanons gleich. Das einzige wesentliche Problem bedeutet für ihn der Hebräerbrief, es kannangesichtsdes Inhaltes des Briefes verhältnismäßig leicht gelöst werden. Mehr ist damals in Ost und West nicht geschehen. Um es zu wiederholen: Die Tatsache, daß im ausgehenden 4. Jahrhundert der Kanon (im Grundsatz) endgültig abgeschlossen wurde, soll in ihrer Bedeutung nicht verkleinert werden. Sie darf aber in ihrer Bedeutung auch nicht überschätzt werden. Denn der Kanon des Neuen Testaments, so wie ihn die Kirche am Ausgang des 4. Jahrhunderts feststellt, ist um 200 bereits zu 6/e fertig und in der ganzen griechischen und lateinischen Kirche bereits unbestritten angenommen. Und diese 6/e umfassen alle entscheidenden Schriften des Neuen Testaments.
9. Trotz aller Unvollkommenheiten und Fragwürdigkeiten, die wir bei der Kanonsbildung beobachten, werden wir urteilen müssen, daß die Entscheidung der alten Kirche über den neutestamentlichen Kanon nicht zu übertreffen ist, was seine Ausdehnung angeht. Von
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keiner der wz.s aus der Frühzeit der Kirche außerhalb des Neuen Testaments erhaltenen Schriften wird man urteilen können, daß sie heute legitim dem Kanon hinzugefügt werden könnte; eine Revision des neutestamentlichen Kanons wäre nur durch Abstriche an dem damals für kanonisch Erklärten möglich, nicht durch Erweiterung, sei es in welcher Richtung auch immer. Der (formale) Abschluß der Kanonsbildung im ausgehenden 4. Jahrhundert bringt- wenn auch in engeren Grenzen, als oft angenommen - die unmittelbare Einflußnahme der verfaßten Kirche auf die Gestaltung des neutestamentlichen Kanons, und zwar offensichtlich nicht ohne taktische kirchenregimentliehe Überlegungen, welche der Zeit vorher - zumindest doch in diesem Umfang und dieser Direktheit- fremd sind. Dieser Vorgang ist dem parallel, was wir auf anderen Gebieten auch beobachten; die Kirche, welche eine Macht in der Welt geworden ist, erliegt Versuchungen und Einflüssen, vor denen sie bewahrt blieb, solange sie Kirche unter der Verfolgung war. Aber auch in der Zeit vorher ist mit Händen zu greifen, daß die Kirche mit unzulänglichen äußeren Maßstäben arbeitet. Demgegenüber kann das tatsächliche Resultat des Kanons den Betrachter nur immer wieder aufs höchste erstaunen. Es bleibt unerklärbar, wenn man nicht hinter dem Handeln der Menschen und ihren fragwürdigen Maßstäben das Walten der providentia Dei voraussetzt, das Wirken des heiligen Geistes. I Gewiß ist uns nicht alles erhalten, was die alte Kirche an Schriften besaß, die in Konkurrenz zu dem sich bildenden Neuen Testament standen. Aber wir haben über das Verlorengegangene soviel Nachrichten, meist besitzen wir sogar größere und kleinere Fragmente von ihm, daß ein Urteil darüber möglich ist. Das Wesentliche von dem, was in ernsthafter Konkurrenz mit dem Neuen Testament gestanden hat, ist uns sogar vollständig erhalten. Beginnen wir mit den Evangelien: gewiß finden wir unter den Logia Jesu hin und wieder Worte, von denen wir wünschen möchten, daß sie im Neuen Testament stünden, weil sie in Vollmacht gesprochen und denen in den Evangelien an Würde gleich scheinen. Aber ihre Zahl ist doch sehr gering, sehr viel geringer jedenfalls, als es dem Außenstehenden oft scheint. Daran vermag auch das Thomasevangelium nichts zu ändern. Das meiste in den Logia Jesu trägt den Stempel späterer Empfindung, mindestens aber ist es so "zersagt", daß es absolut sekundär erscheint. Es ist charakteristisch, daß Papias, der sich in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts bei seiner "Auslegung von Herrenworten" besonders um die Ausschöpfung der mündlichen Oberlieferung bemühte, offensichtlich nicht sehr viel an wesentlichem Stoff, über die vier Evange-
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lien hinaus, zutage förderte - wenn wir dem Bericht des Euseb (h. e. 111, 39) vertrauen können. Die Evangelienproduktion der Gnosis ist absolut unter dem Niveau der kanonischen Evangelien. Das gleiche gilt von den Kindheitsevangelien. Wohin wir blicken, nirgendwo finden wir eine Evangelienschrift, die wir einem der vier kanonischen Evangelien an die Seite stellen möchten, geschweige denn, daß wir das Bedürfnis empfänden, sie an die Stelle eines der vier zu setzen. Was an Apostelakten und Apostelbriefen umläuft, ist im Normalfall auf den ersten Blick als reine Erfmdung gekennzeichnet, es war als "christlicher Roman" dem Unterhaltungs- und Erbauungsbedürfnis des 2. Jahrhunderts interessant, mehr bedeutet es aber auch nicht. Selbst die Apokalypse des Petrus steht weit hinter der kanonischen Offenbarung zurück. Nehmen wir die Apostolischen Väter, von denen der Barnabasbrief, die Klemensbriefe, die Didache, der Hirte des Hermas lange Zeit als kanonisch galten, so wird das Urteil ausnahmslos dasselbe sein - und zwar ohne Rücksicht auf den theologischen Standpunkt-, daß ihre Verwerfung zu Recht erfolgte. Die Didache hat nach ihrer Wiederauffmdung im 19. Jahrhundert berechtigte Sensation gemacht- aber lediglich als Dokument aus der Frühgeschichte des Christentums; auf den Gedanken, daß sie dem Kanon hinzugefügt werden müßte, ist selbst damals niemand gekommen, genauso wie niemand ein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, daß diese Schrift seinerzeit aus dem Kanon gestrichen worden ist. Die einzige Gruppe in den Apostolischen Vätern, die nach Inhalt und geistlicher Vollmacht weit über den Durchschnitt hinausragt, ist die der lgnatiusbriefe. Gewiß -einen Vergleich mit den Paulusbriefen können sie nicht aushalten, wohl auch nicht mit 1. Petr. und 1. Joh. - aber Judas, I 2. 3. Joh. beispielsweise, auch 2. Petr. überragen sie dodl offensichtlich. Weshalb die lgnatiusbriefe nicht in den Kanon kamen, ist klar: die Angaben der Briefe ließen auch dem Leser, der ihnen zum ersten Mal begegnete, keinen Zweifel darüber, daß es sich bei ihrem Verfasser nicht um einen Apostel, sondern um einen Mann späterer Zeit handelte. Zwar bestanden keine sachlichen Bedenken gegen den Inhalt der Briefe, ihre nachdrückliche Empfehlung des Bischofsamtes mußte sie etwa dem 2. Jahrhundert sogar besonders empfehlen. Aber man kam eben wegen des offensichtlichen Mangels der Apostolizität gar nicht erst auf den Gedanken, die lgnatiusbriefe in den Kanon zu nehmen, während man beim Judasbrief (und anderen) infolge der die tatsächliche Situation verhüllenden Verfasserangabe einen Apostel als Verfasser voraussetzte, so daß man den Brief, da er inhaltlich keine Bedenken hervorrief, in den Bereich des kanonischen Schrifttums aufrücken ließ. Ernsthaft wird jedoch auch
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heute niemand für die lgnatiusbriefe die Aufnahme in den Kanon beanspruchen wollen. Es ist ganz charakteristisch: wenn heute Forderungen nach einer Revision des Kanons auftauchen, so stets nur in Richtung seiner Verminderung, nicht seiner Vermehrung. In einem Bezirk wird diese Verminderung des Kanons ja auch schon längst nicht nur stillschweigend, sondern mit unübersehbarer Deutlichkeit überall geübt, und zwar ohne Unterschied der Konfession und der theologischen Haltung:
10. In allen Konfessionen, gleich wie sie den formalen Bestand des Kanons fassen, ergibt sich in bezugauf das Alte Testament eine solche faktische Verengung des Kanons durch das in Jesus Christus und mit seiner Botschaft gesetzte Neue. Von hier aus wird eine vollständige und wörtliche Obernahme aller Schriften des Alten Testaments unmöglich, der alttestamentliche Kanon als solcher also zwar nicht aufgehoben, aber doch entscheidend reduziert. Für alle Kirchen geht im Alten Testament der tatsächliche Kanon mitten durch den formalen Kanon, ja mitten durch einzelne Schriften dieses Kanons hindurch. Diese Praxis datiert nicht erst seit der Neuzeit, sondern ist so alt wie die christliche Kirche. Sie beginnt faktisch bei Jesus selbst, setzt
sich bei Paulus fort und dauert bis auf den heutigen Tag ununterbrochen an. Damals wie in der gesamten Geschichte der Kirche und noch heutzutage gilt, daß eine vollständige und wörtliche Übernahme des Alten Testaments aus dem Christentum herausführt. In der Urchristenheit können wir das an den galatischen Gemeinden studieren, in der Reformationszeit an den Schwärmen, in der Gegenwart an den Adventisten. Und von diesem Grundsatz ist keine einzige Schrift des Alten Testaments auszunehmen. Hier hilft keine Umdeutung, keine Allegorese und keine sonstige theologische Kunst, mag auch der Versuch immer wieder locken. Man muß sogar noch weiter gehen: I
11. Es läßt sich nicht leugnen, daß der neutestamentliche Kanon, und zwar in der V ergangenheil wie in der Gegenwart, auch in den Kirchen mit absolut feststehendem Kanon, auch bei den Theologen aller Schulen und Richtungen, praktisch eine Verengung und V erkürzung erfährt. Es ist nur eine Teilwahrheit, wenn als Beleg dafür auf die die Schriftaussage begrenzende und erläuternde, d. h. praktisch verändernde, Funktion des kirchlichen Lehramtes in der katholischen Kirche hingewiesen wird; denn in allen anderen Kirchen geschieht - wenn auch auf andere Weise - dasselbe. Die Existenz der verschiedenen Kirchen bereits ist Beweis für eine allseits geübte Verkürzung des neutestamentlichen Kanons, welche die gleichmäßig als kanonisch
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anerkannten Schriften des Neuen Testaments und ihre Aussagen in der eigentlichen Exegese sowohl wie in Lehre, Predigt und allem kirchlichen Tun, das direkt oder indirekt auf die Schrift zurückgeht, verschieden wertet, verschieden benutzt und selbst bei gleicher Auswahl ihre Aussagen verschieden akzentuiert und interpretiert. Gäbe es diese - auf verschiedene Weise geübte - Verengung und V erkürzung des Kanons nicht, sondern einen wirklich allen gemeinsamen und auf gleiche Weise verstandenen Kanon, gäbe es auch nicht verschiedene Konfession_!n. Offensichtlich existiert auch im Neuen Testament ein "Kanon im Kanon", wird- ähnlich wie beim Alten Testament- nicht nur eine Rangordnung innerhalb der Schriften dieses Kanons hergestellt, sondern geht der faktische Kanon mitten durch den formalen Kanon, ja mitten durch einzelne Schriften des Kanons hindurch. Man vollzieht aus ihm eine von Fall zu Fall wechselnde Auswahl und erhebt diese Auswahl zum eigentlichen Kanon. Das Selbstverständnis der Kirchen und theologischen Schulen bildet sich nicht am vollen, offiziell anerkannten Kanon, sondern dieser Kanon hat nur eine formale Bedeutung, während der faktisch existente, wirksame Kanon - aus ganzen Schriften sowohl wie aus ausgewählten Stücken anderer Schriften des Neuen Testaments bestehend- nach dem eigenen Selbstverständnis gebildet wird. Das geschieht nicht auf einmal, so daß das Selbstverständnis den faktischen Kanon auf einen Schlag produzierte, sondern so, daß das Selbstverständnis den vorgefundenen formalen Kanon etappenweise wandelt und solange umformt, bis beides zur Deckung gelangt ist. Was ist nun in dieser Situation zu tun? Drei Möglichkeiten scheint es für uns zu geben: 1. Wir nehmen die gegenwärtige Lage stillschweigend hin, so wie sie ist. 2. Wir versuchen aus ihr dadurch herauszukommen, daß wir eine Diskussion über die richtigen Auswahlprinzipien aus dem formalen Kanon und über die Prinzipien der Auslegung seines Inhalts führen, mit dem Ziel, zu einem gemeinsamen faktischen Kanon zu gelangen. I 3. Wir nehmen den offiziellen Kanon des Neuen Testaments nicht als formale, sondern als faktische Größe. Es gibt natürlich noch eine vierte Möglichkeit, nämlich die vorgetragene Sicht der Dinge für falsch zu erklären. Aber dieser Ausweg existiert m. E. nur für den, der die Augen vor der Wirklichkeit verschließt. Auch die dritte angeführte Möglichkeit, den offiziellen Kanon nicht nur als formal, sondern als praktisch gültig anzusehen, scheint bei einigermaßen ausreichender Kenntnis der verschiedenen Kirchen und theologischen Richtungen Illusion zu sein. Man kann
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nicht den formalen Kanon als tatsächlich existent nehmen, wenn man sieht, wie unterschiedlich er faktisch behandelt wird, mag man ihn auch nirgendwo mit ausdrücklichen Worten außer Kraft setzen. Luther hat das zwar bis zu einem gewissen Grade getan. Er dokumentierte seine Haltung dadurch, daß er in seiner Ubersetzung des Neuen Testaments den Hebräerbrief, den Jakobusbrief, den Judasbrief und die Apokalypse in den Anhang stellte, mit der ausdrücklichen Erklärung, daß sie nicht zu den "rechten, gewissen Hauptbüchern des Neuen Testaments" gehörten (WADB 7, 344). Aber die Generationen nach ihm haben diesen Schritt erst halb, dann ganz zurück getan, wenn die Erinnerung an Luthers Haltung bei ihnen auch nie ganz in Vergessenheit geraten ist; daß die lutherischen Bekenntnisschriften bis hin zur Konkordienformel kein verpflichtendes Kanonsverzeichnis bringen, ist von hier aus zu erklären. Man könnte für Luthers Haltung sogar anführen, daß sie praktisch derjenigen der alten Kirche um das Jahr 200 entspricht, und von da her ihre Wiederaufnahme als Ausweg zur Lösung unserer Schwierigkeiten empfehlen. Aber erstens deckt sich der Kanon Luthers eben nicht genau mit dem um 200: damals sind die von Luther rezipierten 2. Petr., 2. und 3. Joh. nom außerhalb des gemeinkirchlichen Kanons. Und zweitens bleibt auch bei einem so gefaßten Kanon das Hauptproblem ungelöst. Selbst die verbleibenden Teile des Neuen Testaments: Evangelien, Apostelgeschimte, Paulus-, Petrus- und Johannesbriefe werden in den in Betracht kommenden Kirchen und theologischen Schulen keineswegs einheitlich interpretiert; auch bei ihrer ausschließlichen Berücksichtigung fallen formaler und faktischer Kanon in ihnen nach wie vor auseinander. Auch die erste Möglichkeit: wir nehmen die gegenwärtige Situation stillschweigend so hin, wie sie ist, scheint nicht annehmbar. Sie würde den gegenwärtigen Zustand verlängern, der doch untragbar ist. Dieser gegenwärtige Zustand der Zerspaltung der Christenheit in verschiedene Kirchen und theologische Schulen ist die Wunde an ihrem Leibe- die Verschiedenheit des faktischen Kanons in ihren verschiedenen Ausprägungen ist nicht nur das maßgebliche Symptom, sondern gleichzeitig auch die eigentliche Ursache ihrer Krankheit. Diese Krankheit - die in schreiendem Widerspruch zu der in ihrer Existenz angelegten Einheit steht- kann nimt hingenommen werden. I So bleibt als einzige Möglichkeit die vorhin als zweite genannte übrig:
12. Unsere Aufgabe ist die Diskussion der richtigen Prinzipien für die Auswahl aus dem fonnalen Kanon und die Auslegung des so Ent-
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standenen mit dem Ziel der Erlangung eines gemeinsamen faktischen Kanons und einer in den Grundsätzen gemeinsamen Auslegung seines Inhalts. Diese Diskussion wird nicht nur den gegenwärtigen Zustand zu umfassen haben, sondern auch seine Vorgeschichte, nicht nur die heute gültigen Grundsätze für die Auswahl und Auslegung, sondern auch ihr Werden. Denn nur eine Durchleuchtung der geschichtlidzen Entwicklung kann zum Erkennen der Motive führen, welche die verschiedenen faktischen Kanonsbildungen und Grundsätze der Schriftauslegung verursacht haben, und damit zu den Voraussetzungen für ihre Uberwindung. Auf diese Weise rückt die Kanonsfrage allerdings in das Zentrum der theologischen und kirchlichen Auseinandersetzung: sie ist nicht nur den Neutestamentlern, sondern allen Theologen gestellt. Dreierlei ist erforderlich, wenn sie im Hinblick auf eine mögliche Lösung behandelt werden soll: Infragestellung des eigenen faktischen Kanons, Ernstnehmen des faktischen Kanons der anderen, Ernstnehmen des formalen Kanons. Beginnen wir mit dem letzten: alle faktischen Kanonsbildungen gehen vom formalen Kanon aus, sie entstehen aus ihm durch Reduktion. Daß Zufügungen zu ihm nicht möglich sind, kann als von allen Seiten zugestanden vorausgesetzt werden. Wenn man vom allgemein offiziell als gültig anerkannten formalen Kanon zu einem vielfach verschiedenen faktischen Kanon mit all seinen theologischen und kirchlichen Konsequenzen gelangt, wie er uns allerorten entgegentritt, so geschieht das auf dem Wege der versdliedenen Auswahl. Ja, selbst da, wo Gemeinsames ausgewählt wird, akzentuiert und interpretiert man es verschieden. Jeder von uns wird die Weise, wie er das tut, wie seine Kirche und die theologische Schule, der er sich zugehörig weiß, das tun, für die richtige halten und bereit sein, sie zu verteidigen. Wenn wir aber dabei stehenbleiben, werden wir höchstens zu einer Verschärfung der Polemik, aber nie aus der Sackgasse, in der wir uns befmden, herauskommen. Nur wer bereit ist, sich selbst in Frage zu stellen und den anderen ganz ernst zu nehmen, kann aus dem circulus vitiosus herausfmden, in dem sich die Kanonsfrage heute - und seit langer Zeit- bewegt. Als erstes wäre also die eigene Auswahl aus dem formalen Kanon wie die Prinzipien der Auslegung dieser Auswahl kritisch zu überprüfen unter gleichzeitiger voller Offenheit für die Auswahl und die Prinzipien der anderen, mit der immer erneut gestellten Frage, ob und wie weit diese andere Auswahl und diese anderen Prinzipien ihr Recht und ihre Gültigkeit haben, welches Gewicht die Motive dafür im Vergleich zu den eigenen besitzen, welche Legitimität der Vorgeschichte dieser Motive zu!kommt. Wenn der gemeinsame offizielle Ka-
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non den Ausgang für alles bildet, muß sich jeder schließlich die unausweichliche Frage stellen, ob nicht dieser offizielle Kanon doch Bestandteile enthält, die in der eigenen Kirche und Theologie zu Unrecht vernachlässigt, übersehen, verworfen wurden, und die neu in Kraft gesetzt werden müssen mit allen grundsätzlichen und praktischen Konsequenzen, die sich daraus für diese Kirche und Theologie ergeben. Dieser Weg wird lang, mühsam und schmerzhaft sein. Aber er muß gegangen werden, wenn die gegenwärtige Situation überwunden werden soll. Das Ziel rechtfertigt alle Anstrengungen, alle Mühen und alle Schmerzen. Denn wenn es uns gelingt, zu einem gemeinsamen faktischen Kanon zu kommen, bedeutet das die Erlangung der Einheit des Glaubens, der Einheit der Kirche. Gewiß ist das ein fernes Ziel, vielleicht ist es sogar utopisch, überhaupt davon zu sprechen. Denn die Spaltung, in der wir leben, und die letztlich nichts anderes als das Resultat des zwischen uns verschiedenen faktischen Kanons bedeutet, dauert ja nicht seit gestern. Sie dauert auch nicht erst seit der Reformation oder seit dem Schisma zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens von 1054, sie ist viel älter und geht in ihren Anfängen bis in die alte Kirche, ja bis in die Tage zurück, als Urgemeinde, paulinische Gemeinden und hellenistische Gemeinden auseinandertraten. So werden wir uns mit Geduld wappnen und als erstes Verständnis und Duldung für den faktischen Kanon der anderen aufbringen müssen. Aber das ist nicht genug, sondern schafft nur die ersten Voraussetzungen für Weiteres. Dafür allerdings brauchen wir nicht nur alle Kraft, die uns zur Verfügung steht, sondern mehr. Der Apostel Paulus hat davon gesprochen, daß wir den "Schatz in irdenen Gefäßen" haben (2. Kor. 4, 7). Dieses Wort steht nicht nur über den Schriften des Kanons, sondern auch über dem Kanon selbst, der diese Schriften zusammenfaßt. Am Werden dieses Kanons hat ohne Zweifel die confusio hominum mitgewirkt; seine Entstehungsgeschichte zeigt uns das ebenso deutlich wie die Schicksale, die er nach seinem Abschluß erlitten hat. Aber der Kanon ist eben nicht nur das Produkt der confusio hominum, sondern zumindest in seinen entscheidenden Bestandteilen ebenso Resultat des Wirkens der providentia Dei. Angesichts der Größe und Bedeutung wie der langen Dauer des von der confusio hominum angerichteten Schadens werden wir der Hilfe der providentia Dei beim Versuch seiner Beseitigung unmöglich entraten können. Deshalb muß die Anspannung aller unserer Kräfte begleitet sein von dem Vertrauen auf die providentia Dei, von ihrer Unterstützung. Neben, ja vor unserem Bemühen muß das Gebet stehen: Veni, creator spiritus. Nur der creator spiritus kann die Bewältigung unserer Aufgabe gelingen lassen.
Das Problem des Schriftk.anons* Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß uns der Kanon der Heiligen Schrift immer nur im Zusammenhang mit dem Dasein und der Verkündigung der Kirche gegeben ist. Man hat zwar gelegentlich für den Gebrauch bei akademischen Diskussionen die Konstruktion eines Bibellesers erfunden, dem die Bibel ohne die Verkündigung der Kirche begegnet, etwa einen Neger, der an einer abgelegenen Stelle der afrikanischen Küste ein dort angeschwemmtes Exemplar der Bibel in die Hand bekommt und es zufällig auch lesen kann, ohne von Kirche und Mission je etwas gehört zu haben. Ob ein solcher Fall eintreten kann und was dann geschehen würde, braucht uns nicht zu kümmern, da wir jedenfalls nicht in dieser Lage sind. Außerdem werden wir sehen, daß ein solcher Bibelleser im Neuen Testament gar nicht vorgesehen ist und er darum nicht nur eine unnötige, sondern auch eine unsachgemäße Konstruktion ist. Der Anspruch, der dem Bibelleser durch die Verkündigung der Kirche in der Bibel begegnet, verlangt von ihm die Stellungnahme zu einem historischen Geschehen, von dem behauptet wird, daß es ein exklusives göttliches Offenbarungshandeln bedeute. Man wird ihm nicht verbieten können, daß er von diesem Anspruch zunächst einmal abzusehen versucht und die Bibel einfach als Historiker liest, für den sie nichts anderes ist als eine Quellensammlung, aus der er jenes Geschehen in seiner Tatsächlichkeil und in seiner Bedeutsamkeil zu rekonstruieren versucht. Er wird dann seine erste Aufgabe darin sehen müssen, die Entstehung jener Quellensammlung zu untersuchen und dabei auch die Entstehung jenes Anspruchs historisch-genetisch aufzuklären. Ob und wie er auf diesem Weg dazu kommen kann, auch zu dem Anspruch Stellung zu nehmen, den die Kirche mit der I Kanonisierung der Schrift erhebt, wird sich zeigen müssen. Jedenfalls kann ihm die Kirche diese Untersuchung nicht verbieten wollen. Wenn sie nicht behaupten will, daß der Kanon der Schrift als fertiges Buch vom Himmel gefallen und damit jeder Diskussion über die Geschichte seiner Entstehung entzogen sei, so ist diese auf der ganzen Linie und ohne jeden Vorbehalt der historischen Untersuchung freizugeben. • Vortrag, gehalten in Göttingen und Tübingen im Januar 1952, erstmals veröffentlicht in: ThSt Heft 32, Evangelischer Verlag, Zollikon-Zürich 1952.
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Das Ergebnis dieser historischen Untersuchung kann man nach dem heutigen Stand der Forschung kurz dahin zusammenfassen: Das Kerygma der Apostel hat sich sehr früh in festformulierten Sätzen niedergeschlagen, wobei wegen des Einflusses der religiösen Umwelt die Nötigung entstand, die Einheit des Kerygma zu sichern. Diese Aufgabe fiel der Theologie zu, welche die Legitimität jener, das Kerygma fortbildenden Formeln prüft, indem sie dieselben am A. T. mißt. Das A. T. wird in Gestalt der LXX als al yQaq>al vorausgesetzt. Diese theologische Arbeit der Prüfung des Kerygma auf seine Einheit in der Schriftengemäßheit führt zur schriftlichen Kommentierung und Erweiterung jener fixierten Stücke des Kerygma. All das dient zunächst nur dem gottesdienstlichen Gebrauch, denn die Sammlung der Gemeinde durch das apostolische Kerygma geschieht in dessen mündlichem Vollzug. Das wird auch dadurch nicht grundsätzlich anders, daß das Evangelium, in Fortsetzung jener theologischen Kommentierung des Kerygma immer mehr auch literarisch ausgebildet wird. Auch die Briefe des Paulus und die übrigen Schriften gehen in die Schriftlesungspraxis ein, wie sie in der Fortsetzung des synagogalen Gottesdienstes in der Kirche geübt wird, und die Rezeption von Evangelien nnd Briefen besteht letztlich eben in der Aufnahme in den gottesdienstlichen Gebrauch. Dieser Sammhmgs- und Ausscheidungsprozeß begann lange, bevor eine zentrale kirchliche Autorität da war, die ihn hätte lenken können. Trotzdem stand der Kanon in seinen Hauptschriften schon um die Mitte des 2. Jahrhunderts ziemlich fest, während die Rezeption einzelner Schriften an seinem Rande noch bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts un1stritten blieb. Erst als der Streit auch um diese Sclniften so ziemlich ausgetragen war und I Athanasius in seinem Osterbrief 367 zum ersten Mal die 27 Bücher des jetzigen N. T. als normative Sammlnng aufgestellt hatte, wurde dieser Kanon von einigen Provinzialsynoden für ihr Gebiet bestätigt. Ein entsprechender Beschluß eines allgemeinen Konzils liegt nicht vor. Die römisch-katholische Kirche hat den Kanon dann später im Florentinum und Tridentinum aus der Tradition in ihre Lehrentscheidungen aufgenommen. Das Subjekt in diesem Rezcptionsprozeß ist also die Kirche. Handelnd in Erscheinung tritt sie dabei zunächst in einzelnen Gemeinden und Gemeindeverbänden, und schließlich in ihrer Gesamtheit durch dazu autorisierte Vertreter, welche den vorhandenen Consensus fixieren und vollends durchsetzen. Fragt man hinterher, nach was für Maßstäben die Kirche in diesem Ausscheidnngsprozeß handelte, so lassen sich keine bestimmten Prinzipien feststellen, nach welchen die eine Schrift hätte rezipiert und die andere ausgeschieden werden mii.ssen. Eine ganze Menge der umlau-
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fenden Literatur sind Christuslegenden der frommen Dimtung oder gnostisme Traktate. Andere sind im Verhältnis zu den kanonism gewordenen Schriften sekundäre Sammlungen, die zwar auch solmen Oberlieferungsstoff enthalten, der in diesen nicht aufgenommen ist. Dabei kann man aber auch nicht sagen, daß die Rezeption unter dem Gesimtspunkt des historischen Quellenwertes zur Rekonstruktion der Geschichte Jesu erfolgt wäre. Sonst hätte mindestens eine Harmonisierung der vier Evangelien erfolgen müssen, zu der sim zwar immer wieder Ansätze fmden und die zum Beispiel Tatian mit seinem Diatessaron durchführte, das aber schließlich gerade nicht im Kanon verblieb, obwohl es die syrische Kirche noch bis ins 5. Jahrhundert im gottesdienstlichen Gebrauch behielt. Auch eine Harmonisierung der theologischen Aussagen wurde wohl versucht, aber ebenfalls nimt durchgehalten, wie zum Beispiel der Gegensatz von Lukas und Paulus oder von Paulus und Jakobus und manche andere sehr tiefgehende Gegensätze zeigen, welche die kanonisierende Kirche bestehen ließ. Die Kanonsgeschichte zeigt jedenfalls nirgends den Sieg eines theologischen Purismus irgendwelcher Art, sondern verrät im Gegenteil eine I mitunter erstaunliche Weitherzigkeit, so daß sich innerhalb des Kanons manche Stellen finden, die man heute vielleicht lieber in die Apokryphen verwiesen sehen würde, während es umgekehrt manche apokryphen Jesusworte gibt, die man sich ganz gut im Kanon denken könnte. Ein bestimmtes theologisches Ausscheidungsprinzip läßt sich also aus der Entstehungsgeschichte des Kanons nicht entnehmen. Wir erfahren auch nicht, daß in den damaligen Auseinandersetzungen um die Rezeption bestimmter Schriften mit einem solchen Prinzip argumentiert worden wäre. Dagegen wurde sehr früh mit einem historischen Gesichtspunkt, nämlich mit der apostolischen Verfasserschaft als Norm, gearbeitet. Aber auch dieser Gesichtspunkt ließ sich nicht rein durchführen, weil die Verfasser der kanonisch gewordenen Schriften zum Teil überhaupt nicht bekannt, zum Teil jedenfalls nicht als solche bekannt waren, die sonst im N. T. Apostel genannt werden. Man mußte sich mit den Bemühungen begnügen, möglichst die früheste Uberlieferung zu sammeln; und die historische Forschung kann hinterher mit einiger Wahrscheinlichkeit feststellen, daß die in den Kanon aufgenommenen Schriften tatsächlich auch die ältesten der noch vorhandenen Schriften sind. Wenn man trotzdem nach dem Abschluß des Kanons die apostolische Verfasserschaft seiner Schriften betonte, so ist das historisch nicht zu rechtfertigen. "Apostel" kann dabei nicht mehr im Sinn von Acta 1, 21 ff. der Augenzeuge der Auferstehung des Herrn sein, obwohl doch gerade an dieser Historizität alles gelegen sein müßte: sondern über die apostolische Autorität des Verfassers entscheidet nun 11 Käsemann, Kanon
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umgekehrt die Aufnahme in den Kanon: Um die Autorität des Kanons zu sichern, wird dieser durch die angebliche apostolische Verfasserschaft historisch begründet. Das wären in Kürze die wichtigsten Ergebnisse, welche uns die historische Forschung über die Entstehungsgeschichte des Kanons liefert. Besonders erstaunlich oder gar anstößig ist für den Historiker an diesem Ergebnis eigentlich nichts. Was er feststellen kann, ist eine Art von Wechselwirkung zwischen dem sich selbst durchsetzenden Schriftkanon und der durch die Verlkündigung dieses Kanons konstituierten und diesen umgekehrt wieder autorisierenden Kirche. Das Ganze ließe sich religionspsychologisch und -soziologisch sehr wohl erklären als ein Erstarrungsprozeß, bei welchem der ursprüngliche Enthusiasmus durch schriftlich festgelegte Normen für die Verkündigung abgelöst wurde, mit welchen die entstehende und immer mehr anwachsende religiöse Gemeinschaft der christlichen Kirche ihren Bestand gegen alle Bedrohungen von innen und außen sicherte. Problematisch wird die Sache erst dort, wo die Kirche für den Kanon den offenkundig nicht gelingenden historischen Beweis der apostolischen Verfasserschaft führen will. Jener historische Beweis für die Gültigkeit des Kanons hat freilich schon in der frühkatholischen Kirche und dann vollends im späteren Katholizismus keine eigentlich tragende Bedeutung, sondern wir haben es hier mit einer eigenartigen Kombination von historischem und dogmatischem Urteil zu tun. Machen wir uns das klar an dem bekannten Wort von Augustin: Ego vere Evangelio non crederem, nisi me ecclesiae catholicae commoveret auctoritas. Das Wort könnte seinen guten Sinn haben, wenn es nur auf jenen Zirkel zwischen Kirche und Kanon hinweisen wollte, in welchem die im Ereignis ihrer Verkündigung sich selbst durchsetzende Schrift sich selbst als kanonisch erwiesen hat und darum von der Kirche als kanonisch proklamiert wurde. Dann würde es nichts anderes sagen, als daß man dem Zeugnis des Evangeliums nur glauben kann, indem man zugleich die Kirche glaubt, welche von der Verkündigung dieses Wortes lebt und durch ihr Dasein für dessen Gültigkeit zeugt. Das würde also heißen, daß die Frage nach der Gültigkeit des Kanons außerhalb des Ereignisses von Verkündigung und Glaube sachgemäß weder gestellt noch beantwortet werden kann, daß also der nach dieser Gültigkeit Fragende an die Verkündigung der Kirche in deren konkretem Vollzug verwiesen werden muß, in der die Schrift sich selbst legitimiert. So könnte Augustin selbst das Wort noch verstanden haben, denn ihm war dabei noch nicht das Lehramt widttig, sondern die Verlängerung der Stimme Christi in die Reihe der Zeugen hinein. In der katholischen Kirche I bekommt das Wort dann aber den Sinn, daß man die
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unsichere Autorität der Schrift durch die sichere Autorität der Kirche ersetzt und stärkt und die Auslegung der Schrift durch die Kirche garantiert. Damit hat sich ein scheinbar kleiner, aber äußerst folgenschwerer Bedeutungswandel vollzogen: Die Frage nach der Gültigkeit der Schrift kann jetzt auch gestellt und beantwortet werden außerhalb jenes Ereignisses von Verkündigung und Glaube. Der nach jener Gültigkeit Fragende wird darum statt an den konkreten Ort der Predigt jetzt an die Kirche als eine geschichtlich gewordene Institution verwiesen, die durch ihr Lehramt verbindlich redet. Für den Ausweis der Gültigkeit dieses Redens verläßt sich diese Kirche nicht mehr darauf, daß ihr Wort sich durch den Heiligen Geist im Glauben des Hörers selbst als wahr bekundet. Sie garantiert vielmehr vor und außerhalb dieses Ereignisses die Wahrheit ihres Redens durch die Vollmacht ihrer kirchenamtlichen Organe. Diese Vollmacht aber begründet sie eben mit jener eigenartigen Vermischung von historischer und dogmatischer Beweisführung: Die Heilige Schrift ist als die summa veritatis ein Kompendium der Offenbarungswahrheit, in welchem virtuell und implizit schon alles deponiert ist, was die Kirche dann im Verlauf ihrer Geschichte aus der Schrift wie aus einem juristischen Grundgesetz oder einer philosophischen Prinzipienlehre an einzelnen Wahrheiten deduzieren wird. Da diese Wahrheit auf einer übernatürlichen Offenbarung beruht, ist ihre Gültigkeit der Nachprüfung durch die Wahrheitskriterien der natürlichen Vernunft grundsätzlich entzogen. Insofern ist sie eine dogmatische Wahrheit. Da die Quelle der Schrift aber zugleich das historische Zeugnis der Apostel ist, in welchem diese offenbarte Wahrheit ihre geschichtliche Trägeringefunden hat, ist sie zugleich historisch legitimiert. Und die Kirche, die selbst eine dogmatische und eine historische Größe zugleich ist, verbindet diese doppelte Legitimierung der Schrift dadurch, daß sie durch die dogmatischen Entscheidungen ihres Lehramtes je und je die in diesem geschichtlichen Ausscheidungsprozeß rezipierten Wahrheiten und ausgeschiedenen Irrtümer dogmatisiert oder anathematisiert. Das gilt ebenso I für das Dogma des Schriftkanons als ganzem wie für die daraus gefolgerten Einzeldogmen. Dabei kann es gar nicht störend wirken, daß dieser Dogmatisierungsakt in bezugauf den Kanon erst tausend Jahre nach dessen tatsächlichem Absd:lluß durch das ökumenische Konzil von Florenz (1458-1445) erfolgte. Der Schriftkanon kann ja faktisch längst die Norm für die Dogmen der Kirche gebildet haben, und die eines in gewissem Sinn zufälligen Tages erfolgte Dogmatisienmg des Kanons ist nur die nachträgliche Bestätigung dafür, daß das in der Tat geschehen ist und weiterhin geschehen soll. Wie für jedes einzelne aus dem Kanon abgeleitete Dogma gilt ja auch für den Kanon selbst, daß die Kirche ihn
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nicht selbst geschaffen haben will, sondern nur eines Tages mit seiner Feststellung das proklamierte, was die Kirdte von jeher virtuell und implizit geglaubt hat. Diese Kombination von historischer und dogmatischer Beweisführung kann die Entstehungsgeschichte des Kanons ruhig der historischen Forschung freigeben, ohne fürchten zu müssen, daß durch deren Ergebnisse die Wahrheit des Kanons je in Frage gestellt werden könnte. Dogmatisch "wahr" ist ja das in diesem geschichtlichen Ausscheidungsprozeß Gewordene. Aber daß es so werden und gerade diese Wahrheit sich eines Tages herauskristallisieren mußte und etwas anderes gar nicht herauskommen konnte, das kann nidtt der Historiker feststellen, sondern nur die das Ergebnis dogmatisierende K.irdte, die sich mitallihren Organen und Institutionen selbst als das dogmatisdte Ergebnis dieses geschichtlichen Prozesses versteht und ihn damit in seiner Gesamtheit als notwendig legitimiert. Daß dieser Prozeß, der im Grunde einfach eine Fortsetzung und Verlängerung der Offenbarung in die Gesdtichte der Kirche hinein bedeutet, so zu verstehen ist, das kann durch keine einzelnen historischen Tatbestände begründet oder in Frage gestellt werden, sondern das ist eine Glaubensaussage über das Selbstverständnis der Kirche, die wiederum nur geglaubt werden kann. Diesem Glauben ist aber zugleich ein erkennbares historisches Merkmal gegeben in der apostolischen Sukzession, welche die Identität der Kirche aller Zeiten mit der apostolischen Kirche I verbürgt und als historisch aufweisbares Kriterium die Wahrheit und Unverfälschtheit der kirchlichen Lehren sichert. Steht diese apostolische Sukzession als Ganzes fest, dann kann die historische Frage nach der apostolisd:ten Verfasserschaft der kanonischen Schriften im Einzelnen dogmatisch irrelevant werden. Der Kanon ist im ganzen und in allen seinen Teilen auf alle Fälle ein Moment in jenem Prozeß der Lehroffenbarung, die von Christus über die Apostel und ihre Schüler quasi per manus tradiert und continua successione in der katholischen Kirche konserviert wurde, wie das Tridentinum sagt (Denz. 783). Dabei kann die Schrift für die Lehrverkündigung der Kirche wohl eine relativ große, aber in keinem Sinn eine exklusive Bedeutung bekommen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Tradition, aber es besteht unter den katholischen Voraussetzungen schlechterdings keine Möglichkeit, sie zur Norm für die dogmatische Rezeption dieser Tradition zu machen. Darum nimmt auch das Tridentinum die Rezeption der Heiligen Schrift und der apostolischen Tradition ausdrücklich zusammen, wenn es lehrt, daß die von Christus und den Aposteln verkündigte Wahrheit enthalten sei in libris scriptis et sine scripto traditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab Apostolis acceptae, aut ab
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ipsis Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus traditae ad nos usque pervenerunt (Denz. 783). Man sollte deshalb auf evangelischer Seite nicht so erstaunt sein, daß die römische Kirche die Begründung für ein Dogma, wie zum Beispiel bei der leiblichen HimmeHahrt Mariae, auch einmal nur der kirchlichen Tradition entnehmen und auf den Schriftbeweis verzichten bzw. diesen nur in Form eines für uns nichtssagenden Konnivenzbeweises führen kann. Wo setzt nun der reformatorische Protest gegenüber diesem geschlossenen katholischen System ein, das keine qualitative Unterscheidung von Schriftkanon und kirchlicher Tradition zuläßt? Das geschieht überraschenderweise nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, mit einerneuen Schriftlehre, um jene dort unmöglich gewordene Unterscheidung von Schrift und Tradition durchzuführen. Der entscheidende Einwand gegen die römische I Kirche ist vielmehr der, daß sie nicht mehr predigen kann. Die Stimme Christi ist durch die Schrift und ununterscheidbar von dieser in die Tradition der Kirche eingegangen, und sie kann jetzt bloß noch durch den Mund der Kirche, aber nicht zu der Kirche reden. Die Verkündigung durch das kirchliche Lehramt, das Christus und den Heiligen Geist sich selbst einverleibt hat, kann nur noch von einem Selbstgespräch der Kirche mit ihrer Tradition Zeugnis geben, aber dieses nicht durchbrechen. Darum muß sich das ganze Interesse der Reformation darauf konzentrieren, durch die Predigt den echten Vorgang der Verkündigung wieder herzustellen. Die viva vox evangelii, welche die Stimme Christi selbst ist, muß wieder in der Kirche gehört und von deren eigenem Reden unterschieden werden können. Das geschieht aber nur im Ereignis der Predigt. Es ist vielleicht doch nicht zufällig, daß die Conf. Aug., mit welcher auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung der reformatorische Glaube bekannt wird, überhaupt keine Lehre von der Schrift hat und nur in Art. V davon redet, daß das vom Predigtamt verkündigte Wort des Evangeliums den Glauben schaffe. Es ging dabei primär um die Verkündigung als ein Ereignis, bei welchem das Wort des Evangeliums als ein ZU hörendes verbum extemum dem Menschen begegnet, der immer in der Versuchung des Schwärmers ist, daß er "ohne das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist durch eigene Bereitung, Gedanken und Werk erlangen" will. Die Front gegen die Schwärmer ist aber dieselbe wie gegen Rom. Es gilt, jenes sachliche Gefälle wiederherzustellen, in welchem das der Kirche vorgegebene Wort von deren eigenem Reden unverwischbar unterschieden bleibt. Ganz klar zeigt das wiederum der Art. VII De ecclesia, wobei man nicht oft genug darauf hinweisen kann, daß dieser Artikel von dem deutschen Text her verstanden werden muß, in dem es heißt, die Kirche sei "die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das
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Evangelium rein gepredigt" wird usw., während der lateinische Text mit seinem pure docetur und consentire de doctrina evangelii nicht nur dem späteren Mißverständnis der Kirche als einer Schule der reinen Lehre ganz bedenklich Vorschub geleistet hat, sondern im Zusam.lmenhang damit auch allerlei falschen Ansätzen in der Lehre von der Schrift. An diesem Ereignis des gepredigten Wortes der Schrift hängt für die Conf. Aug. schlechterdings alles, nicht nur der wahre rechtfertigende Glaube, sondern auch das Stehen in der Einheit und Kontinuität der Kirche Christi auf Erden. Erst wo das verstanden ist, daß das Ereignis der Predigt die Kirche schafft und erhält und wo weiterhin darüber Klarheit herrscht, daß es sich dabei darum handelt, das Wort Gottes im Reden und zugleich gegen das Reden der Kirche zu Gehör zu bringen, kann die theologische Aufgabe, vor welche die reformatorische Theologie in bezug auf den Schriftkanon legitimerweise gestellt ist, richtig gesehen werden. Die Predigt verkündigt die für uns geschehenen "großen Taten" Gottes sowohl in ihrem Geschehensein als in ihrer Bedeutsamkeit. Der Prediger ist dabei aber nicht mehr in derselben Lage wie der Apostel, der als unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge dieser Taten Gottes redet. Er braucht darum für seine Predigt einen Text. Ein solcher Text kann eine bloße historische Quellenschrift nicht sein, denn sie kann ihm für die Wahrheit des Bezeugten in dem doppelten Sinn des Geschehenseins und der Bedeutsamkeil nicht einstehen. Das kann der Text nur tun als ein Dokument, in welchem die Kirche aufgrund dessen, daß sie der Verkündigung dieses Zeugnisses glaubte, es zu weiterem Verkündigtwerden autorisierte. Nicht als historische Quelle, sondern als dogmatisches Dokument der Kirche steht die Schrift als Text dem Prediger für die Wahrheit seiner Verkündigung ein, und so hat auch die kanonisierende Kirche die Schrift ursprünglid::t verstanden. Die Reformatoren haben sich deshalb auch nur sehr a.m Rande, verleitet durch die humanistische Nachbarschaft und deren Parole "ad fontes", gelegentlich auf das Argument der historischen Priorität des Schriftkanons gegenüber der späteren Tradition der Kirche berufen. Daß man mit dem bloßen Rückgang auf die Quellen in der römismen Kirche immer noch besser bedient war, hat nicht bloß ein Mann wie Erasmus sehr bald eingesehen. Als Text für die Verkündigung mußte der Kanon etwas anderes sein und eine andere Autorität haben als die bloße historische Priorität. I Das zeigt sich aum in der auffallenden Tatsame, daß gerade auf reformatorischer Seite die Grenzen des Kanons zunächst einmal ins Smwimmen gerieten, indem man einen Teil der alttestamentlimen Schriften als Apokryphen ausschied und auch innerhalb des N. T. bestimmte Schriften an den Rand des Kanons verwies. Dagegen war es
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gerade die römische Kirche, welche daraufhin im Tridentinum die traditionellen Grenzen des Kanons wieder neu einschärfte. Diese Freiheit gegenüber dem Kanon auf evangelischer Seite wäre unmöglich gewesen, wenn man ihn bloß als historische Quelle bzw. als ein durch ein dogmatisches Urteil ausgegliedertes und bevorzugtes Stück der kirchlichen Tradition angesehen hätte. Diese Freiheit, die ja dann schließlich doch nicht zur Ausscheidung jener umstrittenen Stücke aus dem Kanon führte, läßt sich vielmehr gerade nur aus jener dokumentarischen Bedeutung des Kanons als Predigttext begründen, so widerspruchsvoll das auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn wir sagten, daß der Text dem Prediger für dieWahrheitseiner Verkündigung einstehen muß, so kann das nicht heißen, daß die kanonisierende Kirche mit ihrer Autorität, etwa im Sinne jenes Augustinwortes, diese Wahrheit garantiert. Die Kirche hat ja den Kanon nicht eigentlich geschaffen, sondern sie hat nur das, was sich selbst als kanonisch durchgesetzt hatte, nachträglich als kanonisch verkündigt. Deshalb muß der Kanon auch weiterhin den Beweis für seine Kanonizität selber führen, einfach indem er sich weiterhin predigen läßt und weiterhin die Zustimmung des Glaubens in der Antwort der Kirche findet. Nun kann offenbar der Fall eintreten, daß jemand einen bestimmten Bibeltext nicht zum Reden bringen kann, wie es etwa Luther mit dem Jakobusbrief oder Calvin mit der Jobarmesapokalypse ergangen ist, und er deshalb diesen Text nicht auslegen und über ihn nicht predigen kann. In dieser Lage wird dem Ausleger keine Theorie von der Verbalinspiriertheit der ganzen Schrift etwas helfen, weil der Glaube an sie den für ihn stummen Text nicht zum Reden bringen kann. Und wenn der letzte Grund für die Kanonizität der Schrift nur darin liegt, I daß sie sich predigen läßt, dann muß der die Schrift auslegende Theologe die Freiheit haben, zu sagen, wo das jedenfalls für ihn nicht der Fall ist. Die Frage wird nur sein, welche Konsequenzen er daraus in bezug auf die Schrift ziehen soll und darf. Der nächstliegende Weg wird in diesem Fall sein, daß der Ausleger die für ihn dunklen Stellen der Schrift durch die hellen zu interpretieren versucht und, um seiner Zurückstellung bestimmter Stellen oder Bücher das subjektiv Willkürliche zu nehmen, sich um einen objektiven Maßstab zur Feststellung eines "Kanons innerhalb des Kanons" bemüht, so wie es etwa Luther getan hat, wenn er die Schrift an dem zu messen versuchte, was in ihr "Christum treibt". Das würde also heißen, wenn wir von dem Begriff des "Kanons" als Regel, Maßstab und Richtschnur ausgehen, daß man eine bestimmte Regel zur richtigen Handhabung dieses Maßstabes zu gewinnen sucht. Luther hat daraus aber aus guten Gründen nicht etwa ein Ausscheidungsprinzip zur Feststellung eines neuen Kanons des N. T. gemacht, son-
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dem hat scliließlich doch den alten stehen lassen. Er hat aber auch nicht aus dem solus Christus oder dem sola gratia als "Materialprinzip", so wie man das heute da und dort mit Berufung auf ihn versucht, ein "hermeneutisches Prinzip" gemacht, um mit Hilfe dessen den Kanon oder vielmehr einen Kanon im Kanon zu begründen und damit das "Formalprinzip" des sola scriptura zu ersetzen. Wir können die überaus verwickelte Geschichte des Kanonsverständnisses und die damit aufs engste zusammenhängende Geschichte der Hermeneutik in der evangelischen Kirche seit der Reformation nicht in extenso behandeln, sondern beschränken uns auf die Frage, was es zu bedeuten hat, daß die evangelische Theologie sowohl das Formalprinzip des sola scriptura als auch das Materialprinzip des solus Christus und sola gratia in ihrer Lehre von der Schrift festgehalten hat. Dabei wollen wir nicht vergessen, daß sowohl das Formal- wie das Materialprinzip nur in strenger Bezogenheil auf das Ereignis der Verkündigung der Schrift durch die Kirche verstanden werden kann. Für das sola scriptura ist damit jede Auffassung ausgeschlossen, I welche die Schrift dogmatisch als ein Kompendium von Offenbarungswahrheiten betrachtet, als das Grunddogma, aus welchem die einzelnen dogmatischen Wahrheiten analog deduziert werden können wie philosophische Sätze aus einer Prinzipienlehre. Dabei ist es gleichgültig, ob das in der Weise der römischen Theologie oder derjenigen der altprotestantischen Scholastik geschieht, da auf beiden Seiten der notwendige Weg über das Ereignis der Verkündigung ausfällt, und Christus und der Heilige Geist in ein System von Wahrheiten eingegangen und darin gefangengencmmen worden ist. Ausgeschlossen ist aber auch jene Auffassung des sola scriptura, welche die Schrift historisch als die authentische Quellensammlung betrachtet, welche wegen ihrer Ursprünglichkeit die Norm für die spätere Verkündigung zu bilden hat. Auch das gilt gleicherweise gegenüber den entsprechenden Versuchen der römischen Theologie wie denjenigen des neueren Protestantismus. Auch hier fällt der Umweg über die Verkündigung aus und wird, so wie im ersten Fall, durch ein dogmatisches, hier durch ein historisches Urteil ersetzt. Ausgeschlossen ist aber auch die Kombination dieser beiden Möglichkeiten, wie sie in klassischer Form in der römisch-katholischen Theologie, in manmerlei Spielarten aber auch auf protestantischer Seite versucht wird. Demgegenüber bedeutet das sola scriptura zunächst einmal das: Nur diejenige Verkündigung der Kirche hat die Verheißung, daß durch sie Christus selbst reden und durch den Heiligen Geist den Glauben wirken will, welche das in dem Kanon der Schrift enthaltene Zeugnis weiterverkündigt. Positiv gewendet heißt diese Abgrenzung, daß der Kanon der Schrift die ganze Wahrheit von Christus enthält, wie das mit
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der Lehre von der sufficientia der Schrift zum Ausdruck gebracht wird. Dafür gibt es keinen aus Prinzipien und keinen aus historischen Gründen zu führenden Beweis. Vielmehr ist die einzige Begründung dafür das dogmatische Urteil der Kirche, das dafür einsteht, daß die Kirdle exklusiv in diesen Zeugnissen das Wort Gottes gehört hat und daß es durch diese Verkündigung weiter gehört werden kann, oder anders ausgedrückt, daß die Kirche glaubt, daß diese I Schriften sich deshalb als kanonisch durchgesetzt haben, weil sie kanonisch waren und sind. Mehr kann dieses Formalprinzip des sola scriptura nicht sagen wollen, denn jedes Mehr an prinzipieller oder historischer Begründung wäre hier dogmatisch ein Weniger. Man wird also mit dem sola scriptura nie eine prinzipielle, sondern immer nur eine faktische Geschlossenheit des Kanons behaupten dürfen. Prinzipiell bestünde darum immer die freilich wenig wahrscheinliche Möglichkeit, daß die Kirche sich durch neue Schriftfunde veranlaßt sehen würde, ihren Kanon zu erweitern. Dabei müßte diese Erweiterung auf genau dieselbe Weise legitimiert werden wie der bisherige Kanon, und sie dürfte ferner die sufficientia der Schrift in ihrem bisherigen Umfang in keiner Weise in Frage stellen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, die seit Luthers Minderbewertung einzelner biblischer Schriften gestellt ist, ob die Kirche dann nichtgenauso eines Tages auch die Grenzen des Kanons verengem könnte und bestimmte kanonische Schriften oder Teile von diesen ausscheiden. Diese Frage ist durch die neuesten Ergebnisse der neutestamentlichen Forschung, welche die großen theologischen Gegensätze innerhalb des Kanons aufgezeigt haben, noch sehr viel dringender geworden. Jene Zumutung ist zwar von diesen neutestamentlichen Forschern noch kaum explizit gestellt worden; aber das könnte ja auch nur darum unterlassen worden sein, weil sie jenes Formalprinzip des sola scriptura ohnehin für theologisch erledigt halten und darum ihr ganzes Interesse nur noch auf das Materialprinzip des sola gratia oder solus Christus konzentrieren. Auf diesem Punkt liegt ohne Zweifel heute das Schwergewicht der theologischen Diskussion. Fragen wir daher, was in jener von uns festzuhaltenden Bezogenheit auf das Ereignis der Verkündigung unter jenem Materialprinzip verstanden werden soll. Es kann dabei jedenfalls nicht primär darum gehen, einen Maßstab für die Ausscheidung des Kanons innerhalb des Kanons oder weiterhin eine hermeneutische Regel für seine Auslegung zu gewinnen. Auch das mögen sekundär wichtige theologische Fragen sein. Wo ihnen aber das primäre theologische Interesse I gilt, besteht die Gefahr, daß das Materialprinzip an die Stelle des vermeintlich unhaltbar gewordenen Formalprinzips tritt, und damit praktisch der
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Kanon selbst in seiner, wenn auch nur faktischen Geschlossenheit als dogmatische Größe für die theologische Besinnung einfach ausfällt. Demgegenüber ist zu beachten, daß es bei dem Formalprinzip wie bei dem Materialprinzip um ein und dasselbe Interesse geht und beide deshalb nicht getrennt oder gar gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Das sola gratia bedeutet nicht primär eine bestimmte Lehre von der Rechtfertigung, die als theologisch gereinigte etwa von der Lehre des Tridentinums zu unterscheiden und als solche zu glauben wäre, sondern es will, genau so wie das Formalprinzip des sola scriptura, den Verkündigungsvorgang dogmatisch defmieren. Die justi.ficatio impü perfidem sola gratia geschieht dadurch, daß dem Hörer die Gerechtigkeit zugesagt wird, die nicht in seiner eigenen Gläubigkeit, sondern in dem Christus extra nos liegt. Und die in dem Verkündigungsvorgang durch das Predigtamt gesicherte Externität des Wortes schützt diese in dem Christus extra nos liegende Gerechtigkeit davor, zu einem dem Menschen verfügbaren Habitus zu werden. Fiele aber das sola scriptura als die der Verkündigung vorgegebene und darum von dieser selbst zu unterscheidende Norm aus, oder kurz gesagt: fiele damit der Text der Predigt aus, wie in der römischen Kirche, so müßte auch das sola gratia in dem Verkündigungsvorgang ausfallen. Damit könnte dann auch das solus Christus nicht mehr die der Regie der Kirche entzogene Stimme Christi im Ereignis der Verkündigung sein. Insofern gehören das Formal- und das Materialprinzip unlösbar zusammen. Erst wenn dies alles als die primäre theologische Aufgabe in der Besinnung auf den Schriftkanon anerkannt ist, kann dann auch als sekundäre Aufgabe die theologische Besinnung auf das Materialprinzip, also die Bemühung um einen Kanon innerhalb des Kanons im Blick auf die hermeneutische Frage in Angriff genommen werden. Diese unumkehrbare Reihenfolge der Probleme ist sachlich, wie wir sahen, darin begründet, daß das historische Gefälle von dem im Kanon vorliegenden Schriftjzeugnis über das verbum externum des Predigtamtes der Kirche zu der von dem Hörer zu vernehmenden Stimme Christi und damit dem Wort Gottes selbst nur so und nicht anders theologisch zu entfalten ist. Die theologische Entfaltung dieses historischen Gefälles wäre verhältnismäßig einfach, wenn in dem Schriftkanon selbst jenes Formalund Materialprinzip in dem von uns gebrauchten Sinn explizit enthalten wäre. Das ist aber in dieser Eindeutigkeit kaum der Fall. Die für uns so wünschenswerte exklusive Unterscheidung der Stimme Christi von derjenigen der kirchlichen Tradition ist innerhalb des N. T. keineswegs rein durchgeführt. Wir haben es vielmehr schon innerhalb des N. T. weithin mit einem beginnenden Kirchenturn zu tun, das geneigt
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ist, sich gegenüber den Imponderabilien der stets neuen Verkündigung an die kirchliche Tradition als einen festen Halt zu klammem. Und in bezug auf das Materialprinzip wird man sagen müssen, daß es im N. T. genug Stellen gibt, aus denen man ohne weiteres jene Habituslehre herauslesen könnte, welche zu dem Glauben an die eigene Gläubigkeit verführt und jener in Conf. Aug. V abgelehnten Rechtfertigung "durch eigene Bereitung, Gedanken und Werke" Vorschub leistet. Die Entwicklung zum Frühkatholizismus beginnt keineswegs erst nach Abschluß des Kanons, wie man immer wieder gemeint hat. Man könnte bereits aufgrunddes kanonischen Befundes feststellen, daß die anima christiana offenbar schon naturaliter catholica ist. Diesen historischen Tatbestand wird man vor allem einmal unvoreingenommen sehen und jeden Versuch vermeiden müssen, ihm auszuweichen. Ein solcher Versuch wäre jenes Harmonisierungsstreben, welches durch die Auslegung der Schrift nach der Konkordanzmethode die Konturen der einzelnen biblischen Zeugnisse und Zeugen in ihrer Konkretheit verwischt und nivelliert. Wo man das versucht, verkennt man den historischen Charakter der Schrift als eines kirchlichen Dokumentes, macht aus der faktischen Abgeschlossenheit des Kanons eine prinzipielle und ersetzt die Stimme Christi, welche durch diese historischen Zeugen in ihrer Mannigfaltigkeit zu uns reden will, durch ein I Wahrheitskompendium. Damit hätten wir die Schrift gerade nicht sich selbst interpretieren lassen, wie wir es doch nach unserem Begriff des Schriftkanons unbedingt tun müssen. Die Fähigkeit der Schrift, sich selbst zu interpretieren, liegt nicht in einem verborgenen und durch eine Synopse der einzelnen Stellen zu erhebenden Einheitsprinzip, auf das alle ihre Aussagen als ihren Generalnenner zurückgeführt werden könnten und müßten. Sie liegt vielmehr in der Lebendigkeit des im Wort der Verkündigung gegenwärtigen Christus, den alle diese Zeugnisse bezeugen und dessen Stimme die Kirche in diesen Zeugnissen zu hören glaubt. Dann ist aber das erste Erfordernis der rechten Auslegung nicht die Gewinnung eines allgemein gültigen hermeneutischen Prinzips, sondern die erste Aufgabe ist, daß wir uns um eine möglichst profilierte Kenntnis dieser Zeugen und dessen, was jeder von ihnen in seiner Besonderheit uns sagen will, bemühen. Wir können dann vielleicht mitunter erstaunt sein, daß die kanonisierende Kirche eine solche Mannigfaltigkeit und auch theologische Gegensätzlichkeit der Zeugen ertrug. Aber wir haben mit der Tatsache zu rechnen, daß sie das tat, ohne die Zeugnisse zu harmonisieren, und also auch uns dasselbe zumuten zu können glaubte. Das hat eine mitunter polemische Auseinandersetzung der einzelnen Zeugen untereinander schon innerhalb des N. T. nicht ausgeschlossen. Dieser Polemik ist durch das "Formalprinzip" des Kanons insofern
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eine Grenze gesetzt, als jeder dieser Zeugen von dem andem anerkennt, daß sich diesem das Geheimnis der Offenbarung Gottes durch den Heiligen Geist so erschlossen hat, daß er davon reden kann, was im neutestamentlichen Sinn bedeutet, daß er als ein "Inspirierter" geredet hat, und darum sein Zeugnis in seiner konkreten Einmaligkeit und Besonderheit als ein die Verkündigung der Kirche mitkonstituierendes Zeugnis zu respektieren ist. Die Auseinandersetzung zwisd:ten den Zeugen und dann weiterhin zwischen den ihr Zeugnis auslegenden Theologen wird dann darin bestehen müssen, die einzelnen Zeugnisse, die jeweils durch die historische Situation, die Begriffswelt und die Individualität des Zeugen bestimmt sind, zu vergleichen, sie auf ihre Ubertragungsfähigkeit I in andere Konkretionen kritisch zu prüfen und auf diese Weise einen Maßstab für das Allgemeingültige im Konkret-Einmaligen zu gewinnen. Aber ebenso wie dieses Bemühen um den Kanon im Kanon nicht durch harmonisierende Nivellierung der konkreten einzelnen Zeugnisse, sondern gerade umgekehrt nur durch deren möglichst scharfe Erfassung in ihrer profilierten Konkretheil geschehen kann, so darf aud:t der Ausleger nicht von seiner eigenen historischen Situation absehen wollen. Diese wird ihn ganz von selbst veranlassen, bestimmte Zeugnisse in deren besonderer Gezieltheil zu bevorzugen und andere zurückzustellen. Das kann in einer besonders polemisd:ten Situation, wie etwa in der Reformationszeit, so weit gehen, daß er versucht ist, gewisse Zeugnisse wegen ihrer aktuellen Gefährlichkeit sogar auszuscheiden bzw. seine Kirche zu veranlassen, das zu tun. Wenn diese recht beraten ist, wird sie das aber unterlassen, denn mit dem Bemühen um die rechte Auslegung und Verkündigung des Kanons der Schrift bemüht sie sich zugleich in aller Freiheit um das Stehen in der Einheit und Kontinuität mit der Kirche Christi auf Erden an allen Orten und zu allen Zeiten. Diese Einheit, die ihr vorgegeben ist in dem einen Christus, kann freilich nicht durch den Schriftkanon begründet und in dem Sinne garantiert werden, daß sich durch den Rückgang auf die Schrift die Einheit der Kirche von selbst realisieren müßte. Aber umgekehrt wird man jedenfalls sagen müssen, daß eine Kirche, welche die ganze Mannigfaltigkeit des biblischen Kanons nicht mehr ertragen könnte und ihn, vielleicht durchaus im Wissen um die Mitte der Schrift und aus der Sorge um deren rechte Bezeugung, vielleicht aber auch nur aus einem gewissen theologischen Purismus heraus verengern würde, damit die rechteFreiheil zu demRingen um die Einheit der Kirche verloren hätte und so, möglicherweise aus den theologisch respektabelsten Gründen, bereits auf dem Weg zur Sekte wäre. Man wird darum auf alle Fälle den Kanon selbst stehen lassen müssen und sich damit begnügen, daß bei unserer Aufgabe, in seiner
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Auslegung die Stimme Christi gegenüber der kirchlichen I Tradition zu Gehör zu bringen, je nach unserer kirchlichen Situation und unserer theologischen Erkenntnis die Akzente anders gesetzt werden müssen. Es gibt keinen für alle Zeiten gültigen Maßstab für die Feststellung des Kanons im Kanon, und wenn es der Gesichtspunkt wäre, "was Christum treibt". Denn die Frage, wo in der Schrift Christus getrieben wird oder wo der fromme Mensch sein eigenes Wesen treibt, ist für die Auslegung nicht nur immer wieder neu, sondern aud:l immer wieder ganz anders gestellt und erfordert darum eine immer neue Antwort durch die immer bessere Erkenntnis der Zeugnisse in ihrer konkreten Textgestalt, durch die sie zu uns reden, und gewiß auch ein immer neues Bemühen um das Verständnis des Hörers in seiner jeweiligen kirchlichen und menschlichen Situation. Damit ist bereits auch das Wesentliche zu dem heute so vielverhandelten hermeneutischen Problem gesagt. Wir sahen, daß es keinen bestimmten und für alle Zeiten gültigen Maßstab zur Feststellung des Kanons im Kanon gibt, sondern daß sich aus unsem Bemühungen um das rechte Hören der Stimme Christi in der Schrift immer wieder neu ein Maßstab für die rechte Auslegung des Kanons ergeben wird. Darum mußten wir uns auch eine Verengerung des Schriftkanons nach den Maßstäben einer bestimmten Erkenntnis von dem ihm immanenten Kanon verboten sein lassen. Nur so konnten wir die Freiheit der Schrift, sich selbst zu interpretieren, respektieren. Hätten wir dagegen versucht, durch einen solchen Kanon im Kanon das rechte Verständnis sicherzustellen, so hätten wir damit gerade die Freiheit des Redens Christi durch die Schrift und damit deren Freiheit, sich selbst zu interpretieren, durchkreuzt und unterbunden. Und wir hätten damit zugleich uns selbst der Freiheit begeben, die ganze Schrift, auch in deren uns vielleicht jetzt noch dunklen Teilen zu hören. Das schließt nicht aus, daß wir uns immer wieder um die bestmögliche hermeneutische Methode bemühen müssen. Im Gegenteil: diese Aufgabe wird für jede Zeit immer wieder neu gestellt sein. Aber auch hier wird immer wieder die Gefahr bestehen, daß man sich mit Hilfe eines unfehlbaren hermeneutischen Prinzips der Stimme Christi zu I bemächtigen und die rechte Auslegung sicherzustellen sucht. Weil es schon wegen der Mannigfaltigkeit der biblischen Zeugnisse einen solchen "Hauptschlüssel", der das Verständnis aller Stellen gleicherweise ausschließt, nicht gibt, ist man gezwungen, ihn zunächst dort anzuwenden, wo er zu passen scheint, und erhält so einen kritischen Maßstab zur Auslegung der übrigen Zeugnisse. In gewisser Weise wird das jeder Ausleger tun, da der Zugang zur Schrift für ihn immer über die schon hellen zu den noch dunklen Stellen geht. Aber er wird sehen müssen, daß er dabei stets in Gefahr ist, die einzelnen bib-
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lischen Zeugnisse gerade nicht mehr in ihrer historischen Mannigfaltigkeit reden zu lassen, sondern sie durch ein bestimmtes Auslegungsprinzip zu vergewaltigen. Vor eben dieser Gefahr aber will ihn die Kirche durch die Kanoni.. sierung der Schrift schützen. Es ist für den Ausleger bei seinen Bemühungen um das rechte hermeneutische Verfahren geradezu der entscheidende Prüfstein, ob er sich in dieser Weise durch den Kanon vor der Gefahr der eigenmächtigen Sicherung mit Hilfe eines hermeneutitischen Prinzips geschützt weiß und sich sichern lassen will. Wenn auch die Konkordanzmethode für die Auslegung der Schrift nichts taugt, so gibt es doch eine Art von notwendigem Konkordanzhören, das heißt ein Mithören der ganzen Schrift bei der Auslegung der einzelnen Bücher und Zeugnisse. Lehnt der Ausleger diese ihm im Kanon gegebene Hilfe und diesen Schutz gegen seine Eigenmächtigkeit ab und sieht er dagegen im Kanon nur eine mehr oder weniger fatale Hemmung für die Freiheit seiner Auslegung, mit der er nur dadurch fertig werden kann, daß er sie ignoriert, dann ist er mit dieser Auslegung sicher auf einem falschen Weg. Er wird dann, auch wenn sein Auslegungsprinzip das sola gratia selbst wäre, das wirkliche Geschehen des sola gratia an uns handelnden Christus in doktrinärer und darum unmenschlicher und humorloser Weise einengen und verkürzen müssen. Denn nach dem Zeugnis der Kirche, das sie uns mit dem Kanon der Schrift gegeben hat, will dieses Handeln Christi in der ganzen Weite und Fülle, aber auch in der ganzen Menschlichkeit der Verkündigung aufgrund der ganzen Schrift an uns geschehen. I Mit all dem wird deutlich geworden sein, daß ich eine prinzipielle Begründung für den Schriftkanon nicht gegeben habe und nicht geben konnte. Ich habe vielmehr nur jenes historische Gefälle der Verkündigung theologisch zu entfalten versucht. Dabei sind wir aber doch auf eine Begründung des Schriftkanons gestoßen, nämlich auf die Selbstevidenz der Heiligen Schrift im Ereignis ihres Verkündigtwerdens. Diese letzte Begründung, mit der die Heilige Schrift selbst ihre Autorität begründet, dadurch, daß sie sich predigen läßt, hat die Kirche mit dem Dogma von dem Kanon der Heiligen Schrift zum Ausdruck bringen wollen. Sie muß dabei wissen, daß sie mit jedem Versuch, diese Autorität auch ihrerseits noch zusätzlich zu begründen, dieselbe nur in Frage stellen kann. Hat der Theologe dies, in Erfüllung seiner wissenschaftlichen Aufgabe klargestellt, dann kann er darüber hinaus nur noch bezeugen, daß ein stetes Überschießen der Helligkeit der Schrift über ihre dunklen Stellen die Kirche bisher am Leben und beim Glauben erhalten hat. Aber das kann er dann nicht mehr theologisch begründen, sondern nur noch als Prediger des Evangeliums und als Glied der Kirche bezeugen.
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Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontroverstheologisches Problem• Es gab eine Zeit, da die katholische Theologie- durch eine radikal von der Schrift her denkende evangelische Theologie vielfach in die Enge getrieben - sich in entscheidenden Punkten hinter die Schutzwälle kirchlicher Tradition meinte zurückziehen zu müssen. Diese Zeit ist vorbei. Nicht nur, weil die heutige katholische Theologie - die Dogmatik etwas langsam und zaghaft, aber bei allem vorsichtigen Abstandhalten doch entschlossen ihrer (in allen äußeren und inneren Schwierigkeiten) mutigeren Schwester, der Exegese, folgend - wieder neu in der Heiligen Schrift heimisch wird und manche evangelischen Forderungen heute ebenso entschieden vertritt wie die evangelische Theologie1• Nicht nur weil die heutige evangelische Theologie -und keineswegs nur die Dogmatik, sondern auch und gerade die durch die Formgeschichte gegangene Exegese- sich der Bedeutung der Uberlieferung in neuer und ungeahnter Weise bewußt geworden ist2 und auch die kirchengeschichtliche Forschung die Vorzeit der reforma torisehen Kirche und Theologie wieder mehr als deren eigene Zeit ernstzunehmen gewillt ist3 • Sondern auch und vor allem, weil ge• Aus: H. Küng, Kirche im Konzil (Herder-Bücherei 140), ~.• erw. Aufl., Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1964, S. 125-155 (Erstveröffentlichung in: ThQ 142, 1962, 5.~24).
Man vergleiche - um nur ein Symptom zu nennen - die Artikel zu zentralen theologischen Begriffen in der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche (Freiburg i. Br. 1957 ff.) mit denen der ersten Auflage (1930 ff.). 1 Vgl. P. Lengsfeld, Oberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart (Paderbom 1960). • Bei der nicht so ganz selbstverständlichen Gedenkfeier, die das Evangelische Stift zur Gründung des Tübinger Augustiner-Eremiten-Klosters vor 700 Jahren veranstaltete, hat der Tübinger Reformationshistoriker H. Rückert in seinem Festvortrag: Das evangelische Geschichtsbewußtsein und das Mittelalter, in: Mittelalterliches Erbe - Evangelische Verantwortung (Tübingen 1962) 13-23, eindringlich von der "historischen Kontinuität" zwischen Reformation und mittelalterlicher Kirche (den "Vätern", 13) gesprochen: Das evangelische Bekenntnis zum Mittelalter könne gewiß nicht unkritisch, "vorbehaltlos", "ungebrochen" katholisch (17) sein, müsse aber mit den Reformatoren davon ausgehen, "daß es niemals eine Zeit gegeben hat, in der die Kirche Christi nicht in der Welt war" (20). Auch mit der mittelalterlichen Kirche stehe die Reformation "in einem ununterbrochenen Traditionszusammenhang" (21). Daraus ergibt sich die Aufgabe evangelischer Theologie: "Daß sich der Protestantismus des 16. und der folgenden Jahrhunderte vom 1
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rade die heutige I evangelische Theologie - jedenfalls die Exegese, auf deren oft unbequeme Befunde die evangelische Dogmatik wird eingehen müssen - die katholische Theologie in überraschender Weise unterstützt, insofern sie- wie die katholische Theologie schon immer - den "Katholizismus" im Neuen Testament selbst entdeckt hat. Die kontroverstheologische Diskussion ist gerade dadurch nicht leichter, sondern schwieriger und gerade so erregender geworden. Es ist auffällig, wie die evangelische Theologie unter dem Druck der Ergebnisse der historischen Forschung gezwungen war, den Beginn des "Katholizismus" (verstanden als "katholische Dekadenz", als Abfall vom ursprünglichen evangelischen Christentum) immer weiter zurückzuverschieben. Die Reformatoren fühlten sich noch eins mit der alten Kirche des ersten Jahrtausends, der "Katholizismus" in der Kirche beginnt für sie- entscheidend wenigstens - mit dem Mittelalter. Der spätere Protestantismus fühlt sich nur noch eins mit der Kirche der ersten Jahrhunderte, der "Katholizismus" fängt für ihn schon nach dem "consensus quinquesaecularis" oder, noch früher, nach der konstantinischen Wende an. Zu Beginn unseres Jahrhunderts läßt A. von Harnack die apostolische Kirche mit dem ersten Jahrhundert enden, der "Katholizismus" ist im zweiten Jahrhundert mit dem Einströmen des griechischen Geistes in das ursprüngliche apostolische Christentum gegeben: "Das Einströmen des Griechentums, des griechischen Geistes, und die Verbindung des Evangeliums mit ihm ist die größte Tatsache in der Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts, und sie setzte sich, grundlegend vollzogen, I in den folHumanismus - nicht von der Reformation - dasjenige Geschichtsbild hat aufdrängen lassen, das im Schema der Wiederankniipfung an die Antike eine mittelalterliche Zwischenzeit entgottet und als ein kirchliches Vakuum wertet, das ist ein schon längst bei uns passierter Verlust an evangelischer Substanz, genauso schlimm wie jener andere, den wir vorhin als die drohende Gefahr für die evangelische Kirche bezeichneten und der eintreten würde, ·wenn wir die Kritik der Reformation am Mittelalter entschärften. Hier gilt es, verlorenes Terrain wiederzugewinnen, die Verbundenheit mit der Kirche des Mittelalters wiederherzustellen, unser Geschichtsbewußtsein davon durchdringen zu lassen, daß wir ebensosehr Söhne und Brüder der mittelalterlichen Christen sind wie die Glieder der heutigen katholischen Kirche. Ob das gelingen wird, davon wird viel abhängen. Es gibt eine positive reformatorische, eine evangelische Deutung der mittelalterlichen Epoche der Kirchengeschichte, die ebensoviel Berechtigung hat wie die katholische; denn in dieser mittelalterlichen Epoche ist als eine ungeschiedene Einheit von Möglichkeiten noch beides drin, was nachher in den beiden Konfessionskirchen auseinandergetreten ist. Eine solche Betrachtung des Mittelalters ist eine Aufgabe für die evangelische Theologie, die noch kaum in Angriff genommen ist und von der noch niemand sagen kann, wie ihre Lösung im ganzen und im einzelnen wird aussehen müssen. Sie wird, wie gesagt, kritisch-reformatorische Schärfe und katholiache Weite in sich vereinigen müssen" (22 f.). - Von katholischer Seite her wäre anzumerken, daß auch das katholische Verhältnis zur mittelalterlichen Kirche keineswegs "unkritisch", "vorbehaltlos", "ungebrochen" sein kann.
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genden Jahrhunderten fort."' Im zweiten Jahrhundert also schon stellen wir fest: "Die christliche Religion in ihrer Entwicklung zum Katholizismus. " 5 Von daher wird denn jetzt und in den folgenden Jahrzehnten viel geredet von diesem hellenistisch-katholischen Sündenfall, der nach der apostolischen Periode den "Frühkatholizismus" einleitet. In diese frühkatholische Periode fällt auch die Entstehung des typisch katholischen Amtsverständnisses: "Der Kampf mit dem Gnostizismus hat die Kirche genötigt, ihre Lehre, ihren Kultus und ihre Disziplin in feste Formen und Gesetze zu fassen und jeden auszuschließen, der ihnen nicht Gehorsam leistete ... Bezeichnet man unter ,katholisch' die Lehr- und Gesetzeskirche, so ist sie damals, im Kampf mit dem Gnostizismus, entstanden. " 8 War man aber mit dieser weiteren Vorverschiebung des "Katholizismus" nicht faktisch bereits beim Neuen Testament angelangt? Waren nicht schon für Hamack die Grenzen zwischen den neutestamentlichen und den nach-neutestamentlichen Schriften fließend geworden? Es ist das Verdienst insbesondere der Bultmannschul~, das hier vorliegende Problem - unter Bestätigung mancher Ergebnisse der liberalen Exegese- in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen zu haben: der "Katholizismus" beginnt schon früher: der "Frühkatholizismus" findet sich schon im Neuen Testament selbst. Um den Fortschritt zu ermessen, vergleiche man nur die Beurteilung der Kirchenordnung der Pastoralbriefe in der "Theologie des Neuen Testaments" von Paul Feine7 und in der "Theologie des Neuen Testaments" von Rudolf Bultmann8 • Der "Frühkatholizismus" im Neuen Testament stellt die evangelische Theologie vor schwere Entscheidungen. Die katholische Theologie muß diese neue Problemlage, die ja zugleich ihre eigene ist, genau sichten. Wir haben dies bereits bei anderer Gelegenheit versucht9 • Dieselbe Problematik soll hier aufgerollt werden in einer etwas anderen Perspektive. Man möge mir während dieses ökumenisch ausgerichteten zweiten Vatikanischen Konzils gestatten, in besonderer Weise aus dem Blickwinkel jener theologischen Fakultät zu sprechen, in der mit Johann Adam Möhler und seinen Kollegen zum ersten Mal von katholischer Seite her konstruktive ökumenische Theologie I getrieben wurde. Die Problematik möge in Auseinandersetzung mit • A. von Hamack, Das Wesen des Christentums (Leipzig 1920) 125. A. von Hamack, aaO 119. • A. von Hamack, aaO 129. 7 P. Feine, Theologie des Neuen Testaments (Leipzig 7 1936) 319-325. 1 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 11958) ..02-463; vgl. W. Schmitluili, Art. Pastoralbriefe, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (Tübingen 11961) V, 144-148. 1 Vgl. H. Küng, Strukturen der Kirche. Quaestiones disputatae 17 (Freiburg- Basel-Wien 1962) Kap. VI, 3b. 1
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zwei repräsentativen evangelischen Tübinger Kollegen geschehen, von denen der erste aus der Schule Rudolf Bultmanns und der zweite aus der Schule Karl Barths kommt. Doch sei nicht verschwiegen, daß dabei nicht wenig zur Sprache gebracht wird, was zum Verständnis der glücklich unterbrochenen Konzilsdebatte über die Offenbarung wie erst recht zum Verständnis der Debatte "de Ecclesia" von höchster Bedeutung ist. Es wäre schon viel erreicht, wenn man sich in der katholisd::ten Theologie und auf dem Konzil der ungeheuren Smwierigkeiten gerade der neutestamentlichen Problematik voll bewußt würde und von dort her den Mut aufbrächte zu Zurückhaltung und Bescheidenheit in allen lehramtliehen theologischen Äußerungen. Wir möchten in einem ersten Abschnitt einsetzen mit der Frage:
Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? Mit Schärfe hat diese Frage ausdrücklich gestellt der evangelische Tübinger Neutestamentler Ernst Käsemann; mit gleicher Sd::tärfe hat er sie verneint10 . Welches sind seine Gründe? Käsemann führt drei an, die er mit zahlreichen Beispielen, die wir nur andeuten können, belegt: 1. Die Variabilität des neutestamentlichen Kerygmas selbst: Das offensichtlid::tste Zeichen dieser Variabilität ist nach Käsemann die Tatsache, daß der neutestamentliche Kanon nicht ein Evangelium, sondern vier Evangelien bietet, die alle "in ihrer Ordnung, Auswahl und Darstellung erheblich divergieren" 11 • Und zwar nicht nur wegen der versd::tiedenen Eigenart der Evangelisten, nicht nur wegen der versd::tiedenen jeweils benützten Tradition, sondern insbesondere wegen der "verschiedenen theologisd::t-dogmatischen Haltung der Evangelisten"12. So wird Jesus vom erhöhten und geglaubten Kyrios her verschieden gesehen13 ; ebenso wird auch das gemeinsame Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu je nach theologischer Tendenz verlschieden interpretiert14 . Auf Grund dieses Tatbestandes können die Evangelisten einander auch unbefangen kritisieren 15• 10 E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1960, S. 214-223. 11 AaO 214. 11 AaO 216. 11 AaO 215: "Schematisch formuliert: Zeigt Markus mit seinen vielen Wundergeschichten die geheime Epiphanie dessen, der zu Ostern seine volle Glorie erhält, so Matthäus den Bringer der messianischen Thora, Johannes den Christus praesens, während Lukas historisierend und die Heilsgeschichte als Entwicklungsprozeß schildernd zum ersten Male ein sogenanntes Leben Jesu schreibt." 1• AaO 215.
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2. Die außerordentliche und das Neue Testament übergreifende Fülle theologischer Positionen in der Urchristenheit: Die Schriften des neutestamentlichen Kanons geben uns "eine unabsehbare Fülle von ungelösten und teilweise wohl unlösbaren historischen und theologischen Problemen" 18 auf. Das liegt einerseits am "fragmentarischen Charakter" 17 unseres Wissens von der Geschichte und Verkündigung der Urchristenheit: Gerade durch die große Masse der verschiedenen Überlieferungen wird es uns z. B. außerordentlich erschwert, die authentische Jesusüberlieferung aus dem Neuen Testament zu eruieren 18 • Das liegt andererseits am "Gesprächscharakter" 11 der meisten neutestamentlichen Aussagen: Sie konstituieren keine Summe von dicta probantia, sondern wollen Antwort auf konkrete Fragen, wollen Mahnungen und Tröstungen konkreter Menschen, wollen Abwehr konkreter Irrtümer sein; sie setzen so bestimmte Prämissen voraus und lassen mancherlei Konsequenzen offen. Die Stimmen, die im neutestamentlichen Kanon zu Worte kommen, bilden "eine verschwindende Minorität den vielen gegenüber, welche die Botschaft weitertrugen, ohne einen schriftlichen Niederschlag und damit ein bleibendes Gedächtnis zu hinterlassen. Was berechtigt uns zur Annahme, daß die vielen nichts anderes zu sagen wußten und gesagt haben als die Schriftsteller des NT?" 20 Der neutestamentliche Kanon gibt uns "nur Fetzen des in der Urchristenheit geführten Gespräches" wieder 1.l J. Die teilweise zutage tretende Unvereinbarkeit der theologischen Positionen im Neuen Testament: Die Variabilität ist im Neuen Testament so groß, "daß wir nicht nur erhebliche Spannungen, sondern AaO 215 f.: "Matthäus nimmt z. B. Anstoß an der drastischen Weise, mit welcher Mk. 5,27 ff. die Heilung der Blutflüssigen erzählte. Daß die Gewandung des Wundermannes göttliche Kraft mitteilt, die bei Berührung überspringt und zu heilen vermag, ist eine vulgär hellenistische Vorstellung, die genauso im Bericht vom heilenden Petrussehatten und den wunderwirkenden Schweißtüchlein des Paulus Apg 5,15; 19,12 erscheint und später den Reliquienkult bestimmt. Matthäus korrigiert diese grob magische Anschauung, indem er die Heilung nicht mehr durch die Berührung des Gewandes als solche, sondern durch Jesu Machtwort erfolgen läßt. Er reduziert überhaupt die breite Ausmalung der Wundergeschichten bei Markus, in der sich novellistische Erzählerfreude bekundet und selbst Motive profaner Erzählungstechnik angeschlagen werden, aufs äußerste, um die geheimnisvolle Hoheit J esu stärker herauszustellen." 11 AaO 218. 17 AaO 216. 11 AaO 216: "So gewiß man sagen darf, daß die große Masse dieser Oberlieferung uns nicht den historischen Jesus gewahren läßt, so erlauben uns alle noch so vervollkommneten Methoden historischer Wissenschaft an diesem Punkt nur ein mehr oder minder zutreffendes Wahrscheinlichkeitsurteil, wie man aus den vielen höchst disparaten Darstellungen des Lebens und der Botschaft Jesu und der großartigen Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von A. Schweitzer erkennen kann." 1• AaO 217. 18 AaO 218. 11 AaO 218. 11
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nimt selten aum unvereinbare theologische Gegensätze zu konstatieren haben" 22 • Dies gilt smon für die Evangelien23 und erst recht für die übrigen neutestamentlichen Schriften24 • Schon die Evangelien zeigen nicht nur eine Kontinuität, sondern ebenso eine Diastase von Jesus und Jüngern: "Bereits die älteste Gemeinde ist teils verstehende, teils mißverstehende Gemeinde. Die Hoheit ihres Herrn wird von ihr zugleich bezeugt und verdunkelt. Auch ihr Glaube barg sich im tönernen Gefäß ihrer Menschlichkeit, und ihre Rechtgläubigkeit war genau so zweifelhaft, wie Orthodoxie es stets ist. " 25 Was folgt für Käsemann aus den drei aufgewiesenen Sachverhalten? Unmißverständlich zieht Käsemann die Konsequenzen: "Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfmdlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen." 28 Die gegenwärtigen verschiedenen Konfessionen berufen sich alle auf den neutestamentlichen Kanon- mit Recht; denn schon in der Urchristenheit gab es eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander, miteinander, gegeneinander. Vertritt also Käsemann einen aufklärerischen Indifferentismus? Das Gegenteil: die Unterscheidung der Geister! "Man wird die Zusammengehörigkeit und den Unterschied von Buchstaben und Geist zu beachten haben. Was Paulus in 2Kor 3 dem AT gegenüber geltend macht, darf nicht auf das AT beschränkt werden, sondern gilt genauso für den neutestamentllichen Kanon. " 27 Denn auch im neutestamentlichen Kanon hat man Gott nicht dingfest; in seiner bloßen Vorfindlichkeit, als tötender Bumstabe genommen, ist der neutestamentliche Kanon nicht mehr Gotteswort. Dies wird und ist er nur, wenn durch den Bumstaben hindurch (den man ebensowenig schwärme~~
11 AaO 219 f. AaO 218. AaO 220 f.: z. B. Gegensatz zwischen paulinischer und jakobeischer Rechtfergungslehre, Urteil über das paulinische Apostolat in Apg und in Gal, Eschatologie von Joh und Apk usw. II AaO 219 f. Als Beispiel führt Käsemann u. a. an, daß ndas Jesuswort Mk 2,27, der Sabbat sei um des Menschen willen geschaffen, in V. 28 durch den Zusatz eingeschränkt wird, der Menschensohn sei des Sabbats Herr. Ihrem Meister konnte die Gemeinde zubilligen, was sie für sich selbst nicht in Anspruch zu nehmen wagte. Ihr einschränkender Zusatz beweist, daß sie vor der durch ihn gegebenen Freiheit erschrak und in ein christianisiertes Judentum zurückflüchtete. Mit ihrer Polemik gegen den Pharisäismus als eine Heuchelei- man denke nur an Mt 231hat sie umgekehrt Jesu Angriff auf den Pharisäismus verflacht, der in Wahrheit ja das Trachten nach der eigenen Gerechtigkeit und deshalb jede Leistungsfrömmigkeit und faktisch jeden Menschen trifft. Wo man den Pharisäer durchgängig zum Heuchler macht, gilt Jesu Kritik noch der Unmoral, ist die Bahn zur christlichen Leistungsfrömmigkeit freigegeben, welche Jesu Angriff auf den wirklichen Pharisäismus versperrt hatte." (AaO 219 f.) 11 AaO 221. 11 AaO 221. 1'
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risch auflösen darf) der Geist sich manifestiert und immer neu und gegenwärtig in alle Wahrheit führt. Nur in dem nach dem Geist verstandenen Kanon redet Gott an und manifestiert er sich gegenwärtig. Das bedeutet, "daß der Kanon nicltt einfaclt mit dem Evangelium identisch und Gottes Wort nur insofern ist, als er Evangelium ist und wird. Insofern begründet dann auch er Einheit der Kirclte. Denn allein das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und an allen Orten" 28 • Dies also bedeutet die Unterscheidung der Geister: Verstehen der Schrift von ihrer sachlichen Mitte her, von der Botscltaft her, deren Niederschlag sie ist29 • Also kritisches Verstehen der Schrift vom "Evangelium" her, das weder von der Schrift getrennt noclt mit ihr einfach identifiziert werden darf. Es gilt, von dieser Mitte her den reformatorischen Weg der Mitte zu gehen zwischen dem schwärmerischen Enthusiasmus links (zu dem auch die protestantische Aufklärung gerechnet werden muß), der sich des Evangeliums über die Schrift hinweg zu bemächtigen versucht, und dem katholischen Traditionalismus rechts (zu dem auch weithin die protestantische Orthodoxie gehört), der das Evangelium einfach in der Schrift vorfmdbar und verfügbar wähnt, ohne die Schrift immer wieder an der kritisclten Instanz des Evangeliums zu messen. Schrift und Evangelium, Kanon und Evangelium stehen in einer dialektischen Spannung, die für die evangelisclte Theologie eine dauernde Aufgabe bedeutet: als stete Neubesinnung auf das Evangelium in der Schrift, das dieser Schrift, die an skh nur eine ehrwürdige historische Urkunde ist, die Autorität für den Glaubenden verleiht30 .1 Was ist nach Käsemann das "Evangelium"? Diese Frage kann nach ihm nicht der Historiker allein beantworten, sondern nur der Aa0223. Vgl E. Käsemann, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: E:~:egetisc:he Versuche und Besinnungen I (Göttingen 1960) 224-236, bes. 229-232. • Vgl. auch W. G. Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 47 (1950), S. 311 f. [ = o. S. 96): "Die eigentliche Grenze des Kanons läuft also durch den Kanon mitten hindurch, und nur wo dieser Sachverhalt wirklidl erkannt und anerkannt wird, kann die Berufung katholischer oder sektiererischer Lehren auf bestimmte Einzelstellen des Kanons mit wirklich begründeten Argrunenten abgewehrt werden." H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlichcJ:egetische Forsdlung den Kanon auf?, Fuldaer Hefte 12 (1960), S. 23 [ = u. S. 231]: "Die E:~:egese, die auf die Botschaft merkt, paralysiert die Sdllakken im Kanon und macht die Begrenzung des Kanons, was das Einzelne anlangt, fraglich. Sie sagt also nicht Ja zum Kanon als ganzen, nicht Ja, weil es der Kanon ist. Sie nimmt ihn kritisch, aber unter Verwendung jenes Sadlkriteriums, das dem Neuen Testament selber entstammt. Und darum hängt sie am Kanon, was seine Mitte, was das neutestamentliche Grundphänomen betrifft. Sie hat dies ja nur im Kanon, später doch schon gar nimt; wenn auch im Kanon nicht rein und unvermischt." 18 11
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Glaubende, sofern er vom Geist überführt auf die Schrift hört. Der Glaubende vernimmt das Evangelium, das sich ihm kundtut, ihn trifft als Rechtfertigung des Sünders. Die Rechtfertigung des Sünders ist die Mitte der Schrift: "Die Bibel ist weder Gottes Wort im objektiven Sinn noch das System einer Glaubenslehre, sondern Niederschlag der Geschichte und Verkündigung der Urchristenheit. Die Kirche, welche sie kanonisierte, behauptet jedoch, daß sie eben auf diese Weise Trägerin des Evangeliums sei. Sie behauptet das, weil sie die hier festgehaltene und sich bekundende Geschichte unter den Aspekt der Rechtfertigung des Sünders gestellt sieht, und kann es nur insofern behaupten. Da ihre Behauptung jedoch Zeugnis und Bekenntnis ist, ruft sie zugleich damit auf, uns selber mit unserer eigenen Gesdlichte ebenfalls unter das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders zu stellen. Damit werden wir in eine Entscheidung nicht nur darüber geführt, ob wir dies letzte annehmen wollen oder nicht, sondern ebenso darüber, ob mit solchem Bekenntnis die Mitte der Schrift richtig erfaßt sei. " 31 Das also ist Käsemanns Antwort auf die Frage "Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" Eine Antwort, die für den tiefen Ernst und die radikale Ehrlichkeit dieses Exegeten zeugt. Es wäre falsch und ungerecht, wenn man bei ihm das in die Augen springende Kritisch-Destruktive als das eigentliche Anliegen ansähe, wie dies inquisitorische Glaubensbrüder (es gibt auch eine Inquisition von unten!) getan haben. Sich-betroffen-sein-Lassen vom Evangelium ist das zentrale Anliegen dieses Theologen, der seinen evangelischen Glauben nicht nur im vieljährigen Pfarrdienst, sondern auch in der Verfolgung bewährt hat. Von seinen Erfahrungen in der Bekennenden Kirche her dürfte es kommen, daß Käsemann in der Bultmannschule sich durch ein besonderes Interesse an der Ek.klesiologie auszeichnet31 • Dabei ist sein I theologisches Anliegen nimt etwa die II AaO 232; vgl. die beiden AufsätzeE. Käsemanns: Zum Verständnis von Römer 3,2+-26, ebd. I, ~100; und: Gottes Geredttigkeit bei Paulus, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 58 (1961) 367-378. Gerade dieser letzte Aufsatz, ein Kurzvortrag auf dem Oxforder Kongreß über "The New Testament to-day" am 14. 9. 1961, kommt einem vertieften katholischen Verständnis der Rechtfertigung des Sünders außerordentlich nahe. 11 Daß Käsemann die Leistungen der neueren katholischen Exegese zur Kenntnis genommen hat, sei hier nur am Rande vermerkt. Vgl. E. Käsemann, Neutestamentliche Fragen von heute, in: Zeitsdtrift für Theologie und Kirche 54 (1957) 2: .,Gerechtigkeit verpflichtet uns zuzugeben, daß die moderne katholische Exegese zum mindesten in Deutsdtland und seiner näheren Umgebung ebenfalls ein Niveau erreicht hat, das dem der protestantischen Arbeit im allgemeinen nicht mehr nachsteht, sie an Sorgfalt sogar nicht selten übertrifft. Dieser Vorgang beweist, daß die historisch-kritische Methode grundsätzlich Allgemeingut geworden isL Sie kennzeichnet nicht mehr ein theologisches Lager der Exegese, sondern sdteidet fak-
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Vielheit der Konfessionen, sondern die Einheit der Kirche. Allerdings die Einheit der Kirche, die auf dem Evangelium ruht und die es als solche nie vorfmdlich, sondern immer nur für den Glauben gibt: "Die Einheit der Kirche wird wie das Evangelium nicht von den beati possidentes, sondern von den Ungesicherten und Angefochtenen in und trotz den Konfessionen, mit und gegenüber auch dem neutestamentlichen Kanon bekannt, sofern sie die das Evangelium Hörenden und Glaubenden sind. " 33 Doch kann uns Käsemanns Antwort befriedigen? Auch von ernst· zunehmender evangelischer Seite wird Widerspruch angemeldet. "Die Einheit der Schrift": unter diesem Titel hat der evangelische Tübinger Dogmatiker Hennann Diem nicht nur einen wichtigen Pa· ragraphen seiner Dogmatik zusammengefaßt, sondern auch eine Aus· einandersetzung mit Käsemann angestrebt34 •
Die Einheit der Schrift H. Diem hat Verständnis für die Fragestellung seines Kollegen im Neuen Testament. Er bejaht auch zu einem großen Teil Käsemanns Antwort. Denn dies ist für Diem sicher: Die im neutestamentlichen Kanon zusammengefaßten Schriften bilden keine "Lehreinheit" 35 • Nicht die Reformatoren, erst die lutherischen und reformierten Konfessionskirchen haben eine Lehreinheit der Schrift, ein aus der ganzen Schrift- sei es auf mehr biblizistische, sei es auf mehr dogmatische Weise - abgelesenes Lehrsystem der Schriftaussagen gelehrt, die Schrift statt als Predigttext als "Prinzip" und "Summe" der Theologie verstanden und konsequenterweise die Verbalinspiration und Göttlichkeit der Schrift behauptet. Erst sie haben sich so nicht mehr mit dem faktischen Gegebensein des Schriftkanons begnügt, sondern seine prinzipielle Geschlossenheit gelehrt. Predigt und Glauben haben darunter Schaden gelitten38 .j tisch nur noch Wissensmaft von Spekulation oder PrimitivitäL Die Angleichung der verschiedenen Fronten ist vielleicht das charakteristische Merkmal unserer Epoche." aa E. Kiisemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, aaO 223. 14 H. Diem, Theologie als kirchliche Wissenschaft. Bd. li: Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus (München 1955, 1 1957) 196-208. 11 AaO 197 f. • AaO 198 f: "Mit dieser Schriftlehre bat sich die evangelische Kirche aber vor allem ihr eigentliches Fundament, nämlich die Predigt verdorben: Aus der Verkündigung der Schrift als einem bezeugenden Weitergeben ihrer Zeugnisse im konkreten Vorgang der Predigt wurde ein dozierendes Explizieren und Andemonstrieren ihrer Aussagen als Wahrheiten und Tatsachen. Darüber mußte sich auch
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Es ist von daher nach Diem durchaus zu begrüßen, daß die historisch-kritische Wissenschaft Kirche und Theologie gezwungen hat, ihre Schriftlehre zu überprüfen. Für das heutige Stadium der Diskussion "ist bedeutsam, daß die in dieser Sache heute besonders aktiv gewordenen neutestamentlichen Historiker nicht so leicht als von außen kommende Eindringlinge in die Theologie angesehen werden können, wie das früher vielleicht gelegentlich nahelag. Das liegt einmal daran, daß die neutestamentliche Wissenschaft heute auf Grund ihrer Forschungsergebnisse allgemein den Verkündigungscharakter der neutestamentlichen Schriften betont und damit bei den Reformatoren steht und deren Schriftgebrauch bestätigt. Dazu kommt, daß ihr Haupteinwand gegen den herrschenden Schriftgebrauch die dogmatische Bevormundung der Schriftauslegung ist, also gerade an dem Punkt einsetzt, wo wir den Abfall der Reformation zur altprotestantischen Dogmatik feststellten. Man wird daher jedenfalls prüfen müssen, ob hier der reformatorische Schriftgebrauch nicht besser gewahrt wird als von den nachreformatorischen Dogmatikem" 37 • Aber so entschieden Diem die These vertritt: "Kein einheitliches neutestamentliches Lehrsystem!", so entschieden die andere: "Kein Kanon im Kanon!" Hier bricht der Konflikt Diems mit Käsemann auf, bzw. hier wird der Konflikt von neuem sichtbar, der den Kirchen der Reformation immanent ist und in jeder Phase ihrer Geschichte beobachtet werden kann. "Käsemann hat hier in prägnanter Weise auf den Begriff gebracht, was heute vielen Neutestamentlern in der Abwehr jener nachreformatorischen Dogmatiker als die neue Lösung der Kanonsfrage vorschwebt: die Gewinnung eines Kanons im Kanon mit Hilfe der Rechtfertigung als hermeneutischem Maßstab. Damit will man aber im Grunde nichts Neues bringen, sondern beruft sich auf Luther, der die Schrift daran gemessen haben wollte, was in ihr ,Christum treibt', womit er letztlich ja auch das sola gratia und sola fide verstanden hat. Man meint also, zu dem reformatorischen Schriftgebrauch vor dessen Entartung durch die altprotestantische Dogmatik zurückgekehrt zu sein. Ist das richtig?" 38 NachDiemist das nicht richtig. Gewiß ist I die Rechtfertigung des Sünders keine Lehre, sondern ein Geschehen, in welchem der Hörer durch die Verkündigung des Evangeliums die Gerechtigkeit in Christus zugesprochen wird. Wenn Käsemann aber forder Glaube im Verhältnis zur Schrift wandeln: Es wurde nicht mehr auf Grwul der verkündigten Schrift dem von ihr bezeugten Geschehen in seiner Heilsbedeutung geglaubt, sondern es mußte primär in einem Akt des Glaubens als fides quae creditur an die Göttlichkeit der Schrift und alle daraus sich ergebenden oder dazu für notwendig gehaltenen Prädikate der Schrift geglaubt werden." 18 AaO 202. n AaO 199.
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dert, daß wir uns selber mit unserer eigenen Geschichte unter das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders stellen, so ist Diems Frage, "ob er (Käsemann) sich denn eigentlich dieser Verkündigungsgeschichte tatsächlich noch stellt und stellen kann, oder ob er dieses in der Verkündigung der Schrüt auf ihn zukommende Geschehen nicht in seinem ihn verpflichtenden Geschehensein dadurch paralysiert und paralysieren muß, daß er es erst durch seine Zustimmung in kritischer Sichtung zu einer für ihn verbindlichen Geschichte macht" 39 • Die Verkündigungsgeschichte muß als verpflichtendes Geschehen ernstgenommen werden, gerade dadurch, daß die von der Kirche anerkannte faktische Grenze des Kanons beachtet wird: "Dieses uns verpflichtende Geschehen der Verkündigungsgeschichte besteht darin, daß die Kirche exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das Wort Gottes gehört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch diese Zeugnisse weiterverkündigen und hören sollen. Dieses Faktum kann man nur anerkennen, aber auf keine Weise prinzipiell rechtfertigen. Die einzige hier mögliche theologische Rechtfertigung besteht darin, daß man von dem Schriftkanon sachgemäßen Gebrauch macht, indem man ihn im Vertrauen auf seine Selbstevidenz predigt. In diesem faktischen Gebrauch der Schrift liegt auch ihre theologisch einzig mögliche Abgrenzung gegen die kirchliche Tradition. Damit stehen wir wieder bei der Reformation. uco Nur auf diesem Hintergrund läßt sich nach Diem die Einheit der Schrift richtig sehen. Diese liegt nicht in einer einheitlichen Lehrgestalt, sondern in der Selbstevidenz der verkündigten Schrift, in deren Zeugnissen Jesus Christus sich selbst verkündigt und als solcher von der Kirche gehört wirdu. Gewiß sind die Unterschiede der einzelnen Zeugnisse innerhalb der Einheit der neutestamentlichen Verkündigung beträchtlich. Diese Unterschiede ergeben sich aus der je verschiedenen Verkündigungssituation: die neutestamentlichen Zeugnisse sind Zeugnisse bestimmter Menschen in bestimmten Situationen mit bestimmten Zielrichtungen42 • Eine Um-, Weiter- und Neubildung der Botlschaft drängte sich damals ebenso auf, wie sich heute eine je neu vollzogene Ubersetzung dieser Zeugnisse in die heutige Verkündigungssituation hinein aufdrängt. Die konkrete Verkündigungssituation kann erfordern, daß in einer bestimmten Situation bestimmte Zeugnisse bevorzugt und andere zurückgestellt werden, wobei jedoch • AaO 205 f.; zu Diems Begriff der "Verkündigungsgeschichte", nach welchem in der Verkündigung der Gemeinde die Geschichte des sich selbst verkündigenden
Juus Christus als eine geschehene und immer neu geschehende Geschichte verkündigt wird und gerade so die verkündigte iustificatio impii per fidem sola gratia gesdlleht, vgl. bes. aaO 102-151. •• AaO 204. •• AaO 204 f. •• Vgl. aaO 128 f.
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die Grenze des Kanons zu beachten ist, die auch den von uns zurückgestellten Zeugen als echten Zeugen der Botschaft Christi anerkennen läßt: "Es wird hier eben alles darauf ankommen, daß jene situationsbedingte Wertung nicht zu einer prinzipiellen wird, daß also der Kanon der Schrift der Text ist, der auf alle Fälle stehen bleiben muß, und alle unsere Auslegungsversuche dagegen nur Kommentare sind, die sich mit ihren stets wechselnden Ergebnissen nicht an die Stelle des Textes setzen können."" Gerade so hat der Kanon nicht nur eine prohibitive, sondern zuerst eine positive Bedeutung: er schützt den Ausleger vor dessen eigener subjektiver Willkür". Diem wendet sich also mit Käsemann gegen die Schrift als einheitliches Lehrsystem, hält a her gegen Käsemann an der Einheit der verkündigten Schrift fest, um von daher - gegen alle Willkür des einzelnen Auslegers - die Einheit der Kirche zu verstehen. Es muß anerkannt werden, daß sich Diem durch sein ganzes dogmatisches Werk hindurch eine für einen Systematiker keineswegs gewöhnliche Mühe gibt, sich mit den Problemstellungen der heutigen Exegese auseinanderzusetzen. Er tut dies nicht vorwiegend apologetisch, sondern unter Verwertung mancher Ergebnisse der Exegese durchaus konstruktiv. Die Uberbrückung der gegenwärtigen Kluft zwischen Exegese und Dogmatik ist eines seiner zentralen theologischen Anliegen. Doch Diems und Käsemanns theologische Grundansätze stehen sich -oder täuschen wir uns?- unversöhnlich gegenüber: Wie für Käsemann Diems "Kanon" nie zum "Evangelium" werden wird, so für Diem Käsemanns "Evangelium" nie zum "Kanon". Auch der katholische Kollege vermag kaum zu ihrer Versöhnung beizutragen, vielleicht aber zur Klärung der Standpunkte. Dies, und nur dies, soll jetzt - auf knappem Raum - versucht werden.
Die Katholizität in der Interpretation des Neuen Testaments 1. Eingrenzung des Diskussionsfeldes: Worin kann der katholische Theologe, wenn er am exegetischen Befund nicht einfach I vorbeigeht, mit E. Käsemann übereinstimmen? Er kann zustimmen: a) bezüglich des Faktums der Uneinheitlichkeit des neutestamentlichen Kanons; b) bezüglich der Faktoren, die diese Uneinheitlichkeit bestimmen: eine Variabilität des neutestamentlichen Kerygmas selbst, die nicht nur in der Eigenart der Evangelisten und der benutzten Traditionen, sondern in der verschiedenen theologischen Haltung der Evangelisten begründet ist; eine über das Neue Testament hinausgreifende Fülle theologischer Positionen in der Urchristenheit, die unser dicsbezüg43
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liebes Wissen (gerade auch im Hinblick auf den Gesprächscharakter der meisten neutestamentlichen Zeugnisse) höchst fragmentarisch erscheinen läßt; eine teilweise zutage tretende Unterschiedenheil der verschiedenen theologischen Positionen sowohl in den Evangelien wie im übrigen Neuen Testament, die nicht einfach harmonisiert werden kann; c) bezüglich des glaubenden Hörens des den Sünder rechtfertigenden "Evangeliums" (nach dem Geist, nicht nach dem Buchstaben, auf die Mitte hin, verstanden) innerhalb des uneinheitlichen neutestamentlichen Kanons. Worin kann der katholische Theologe, wenn er gerade das eben Käsemann Zugegebene berücksichtigt, mit H. Diem übereinstimmen? Er kann zustimmen: a) bezüglich der Ablehnung eines neutestamentlichen Lehrsystems: Das Neue Testament ist keine intendierte summa theologiae; deshalb ist eine Harmonisierung der Texte, welche die Verschiedenheiten auf gewaltsame Weise auflöst, als dem Neuen Testament unangemessen ebenso abzulehnen, wie das dozierende Andemonstierenvon dicta probantia statt des bezeugenden Weitergehens der neutestamentlichen Zeugnisse in der Verkündigung; deshalb ist der Glaube nicht einfach auf eine göttliche Schrift gerichtet, sondern auf Grund der verkündigten Schrift auf den von ihr bezeugten Herrn Jesus Christus und seinen Gott und Vater; b) bezüglich der Bedeutung der Verkündigungssituation, und dies in zweifacher Hinsicht: Die neutestamentlichen Zeugnisse stammen von verschiedenen Menschen in verschiedenen Situationen mit verschiedener theologisch-dogmatischer Zielrichtung, und die neutestamentlichen Zeugnisse müssen wieder für verschiedene Menschen mit verschiedenen Zielrichtungen in verschiedene Situationen hineingesprochen und aus der damaligen Verkündigungssituation in die neue Verkündigungssituation übertragen werden: eine Ubersetzung des neutestamentlichen Kerygmas, bei der je verschiedene Zeugnisse und Aspekte im Vordergrund und andere im Hintergrund stehen können; c) bezüglich der Faktizität des neutestamentlichen Kanons und seiner Einheit: Die Einheit der Schrift kann nicht aus einer prinzipiellen, systematischen Geschlossenheit abigeleitet werden, sondern sie ist eine faktische Gegebenheit; die Kirche hat in der Verkündigung gerade dieser Zeugnisse des neutestamentlichen Kanons das Wort Gottes gehört, und exklusiv gehört, und sie gibt diese Zeugnisse in ihrer Verkündigung auch exklusiv als Wort Gottes weiter. Erst wenn man im kontroverstheologischen Gespräch wagt, ohne Angst verständnisvoll die Obereinstimmung mit dem Partner zu sehen und nicht zu verleugnen (die Angst vor dem Konsensus ist bei Theologen, wie bei Politikern, oft größer als die vor dem Dissensusl}, wird man fähig, die Diskussion auf die eigentlichen Kontroverspunkte
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zu konzentrieren. Und diese liegen nicht in der Rechtfertigungslehre, auch nicht- wie man künstlich zu konstruieren sucht - in Christologie oder Pneumatologie, sondern in der Ekklesiologie. In der Lehre von der Kirche und in ihr allein gehtes-vorläufig wenigstens- nom hart auf hart. Und so ist es gerade hier Aufgabe ökumenisch denkender Theologie, nach neuen konstruktiven Lösungen zu suchen - auch wenn es zunächst durch scharfe Konfrontation geschieht. 2. Der Grund der Vielzahlder Konfessionen: Derneutestamentliche Kanon bildet die Voraussetzung für die Vielzahl der Konfessionen. Dies muß Käsemann zugegeben werden; denn a) es gibt eine Verschiedenheit christlicher Konfessionen; b) die verschiedenen christlichen Konfessionen berufen sim auf den neutestamentlichen Kanon und führen sich auf den neutestamentlichen Kanon zurück; c) diese verschiedenen Berufungen auf den neutestamentlichen Kanon haben ein fundamenturn in re, haben ein Fundament in der beschriebenen Komplexität, Vielfalt und Gegensätzlichkeit theologischer Positionen im neutestamentlich.en Kanon selbst. Insofern bildet also der neutestamentliche Kanon die Voraussetzung für die Verschiedenheit der Konfessionen. Wie aber entsteht unter der Voraussetzung der Uneinheitlichkeit des Kanons die Vielzahl der Konfessionen? Diese Frage ist mit dem Hinweis auf die Uneinheitlichkeit des Kanons noch nicht beantwortet. Denn bei aller Uneinheitlichkeit ist der neutestamentlich.e Kanon doch einer und von der Kirche- in einer gewiß außerordentlich wechselhaften Geschich.te - offenkundig als einer rezipiert worden, wobei man die verschiedenen Zeugnisse nicht nur etwa als lehrreiches negatives Kontrastprogramm zum Evangelium, sondern als positiv angemessenen Ausdruck und Niederschlag des Evangeliums verstanden hat. Die Frage also: Wie kommt es bei diesemtrotzaller Uneinheitlichkeit einen neutestamentlimen Kanon zur Vielzahl der Konfessionen? I Die Antwort ist nicht zu umgehen: durch Auswahl. Indem man nämlim nimt den bei aller Uneinheitlichkeit einen Kanon des Neuen Testament ernstnimmt und -bei allen entgegenstehenden Smwierigkeiten - ein umfassendes Verständnis anstrebt. Sondern indem man die Uneinheitlichkeit des einen Kanons benützt, um aus dem einen Kanon eine Auswahl zu treffen. Dadurch erreimt man unter Umständen eine imponierende Konzentration des Kerygmas, aber zugleim eine Reduktion dieses Kerygmas, die auf Kosten des Neuen Testaments und der Einheit der Kirche, die hinter diesem Kanon steht, geht. Was bedeutet dieser grundsätzlich.e Verzicht auf ein umfassendes Verständnis und Ernstnehmen des ganzen Neuen Testaments zu
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Gunsten einer konzentrierenden Auswahl? Nichts anderes als der grundsätzliche Verzicht auf "Katholizität" im Schriftverständnis zu Gunsten der "Hairesis". Genau gesehen muß man also sagen: Der neutestamentliche Kanon ist in seiner Uneinheitlichkeit zwar eine Voraussetzung, ein Anlaß der Vielzahl der Konfessionen, nicht aber im strengen Sinn der Grund, die Ursache. Das brennbare Material, das Gebälk des Hauses, das ein Haus trägt, kann zwar Voraussetzung, Anlaß sein für den Brand des Hauses; Grund, Ursache des Brandes ist aber der an das Holz Feuer legende Brandstifter. Die eigentliche Ursache der Vielzahl der Konfessionen ist nicht der neutestamentliche Kanon, der in seiner Einheit "katholisch" (kath·olou) verstanden, Voraussetzung für die Einheit der Ekklesia ist, sondern die Hairesis, die die Einheit der Ekklesia auflöst45 • Auswahl in der Interpretation des Neuen Testaments ist auf zwei Weisen möglich: als prinzipielle oder als faktische. I J. Prinzipielle Auswahl: Das ist die Auswahl, die in der Interpretation des Neuen Testaments ein formales Deutungsprinzip anwendet, das sich zugleich als materiales Selektionsprinzip erweist. Beispiel für diese Art der Auswahl ist E. Käsemann. Selbstverständlich will Käsemann nicht gewisse Texte oder gar Bücher aus dem neutestamentlichen Kanon einfach eliminieren; sie sollen vielmehr im Kanon bleiben und auf ihre Weise ernst genommen werden. In diesem Sinne vertritt Käsemann keine Auswahl. Aber Käsemann will die Geister " Vgl. H. Schlier, Art. utQtaL; im Theologischen Wörterbuch zum NT (Stuttgart 1955, 11957), I, 182: Der im Christentum von vomherein suspekte Begriff "verdankt sein Dasein also nicht erst der Entwicklung einer Orthodoxie, sondern der Grund für die Bildung des duistlichen Begriffes utQtOL!i liegt in der neuen Situation, die durch das Auftreten der christlichen bxl.'lalu geschaffen wurde. ~XxA'lalu und utQtaL; sind sachliche Gegensätze. Jene verträgt diese nicht, und diese schließt jene aus. Das deutet sich schon in Gal 5,20 an, wo die utQtaL; zu den IQya 'rilli au{)X6; neben IQL;, lxt(l(ll, t;.ijl.o;, hJ,Lol, IQLteiuL, lhxoatualuL gerechnet werden. u'tQeaL; bat dabei, wie übrigens überhaupt im NT, noch nicht technischen Sinn. In t.Kor 11,18 f. tritt die Unmöglichkeit der ut(IEOL!i innerhalb des Christentums noch offener heraus. Paulus greift bei der Erwähnung der kultischen Versammlung, in der die Gemeinde als bxl.'lalu zusammenkommt, zurück auf die axlaJ.UltU von t.Kor 1,10 ff. axlaJ.Latu sind die durch persönlich motivierte Streitigkeiten verursachten Risse in der Gemeinde. Paulus glaubt einen Teil der Naduichten, die ihm von den Spaltungen der Gemeinde bekannt wurden. Und zwar deshalb, weil ja sogar (xul) u[QtaEL!i tv uJ.Liv sein müssen, damit die Erprobten offenbar werden (können). Gleichgültig, ob Paulus hier ein apokryphes Herrenwort benützt (vgl. JusDial55,5; Didask 118,35) oder nicht, es ist für ihn ein eschatologisch-dogmatischer Satz (vgl. Mk 15,5 f. par; Apg 20,29 f.; 2.Petr2,1; t.Joh2,19), und ul(lem; ist, als eschatologische Größe verstanden. Dabei ist utQem; gegen axlaJ.Ul deutlich abgehoben und bedeutet diesem gegenüber eine Steigerung. Die Steigerung besteht aber darin, daß die alQtau; das Fundament der Kirche berühren, die Lehre (2.Petr. 2,1) und zwar in so fundamentaler Weise, daß daraus eine neue Gemeinschaftsbildung neben der bxl.'lata entsteht."
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des Neuen Testamentes "unterscheiden". Er wendet die paulinische "Unterscheidung der Geister" - die Paulus selbst nie auf den (alttestamentlichen) Kanon angewendet hat - auf den (neutestamentlichen) Kanon an, um hier nicht zwischen den verschiedenen guten Geistern, bzw. den (von der Kirche durch den Kanon anerkannten) guten Zeugen, zu unterscheiden, sondern um auch im Neuen Testament - mit antidoketischer Berufung auf die Ungesichertheit und Anfechtbarkeil alles Menschlichen- zwischen guten und bösen Geistern zu unterscheiden. Von diesen als böse erklärten Geistern des Neuen Testamentes her will Käsemann das "Evangelium" nicht hören. Nur in den von ihm als "gute Geister" anerkannten Zeugnissen hört er das "Evangelium". In diesem Sinne vertritt Käsemann eine Auswahl. So kommt es bei ihm zu einem mittleren Weg zwischen Enthusiasmus und Frühkatholizismus. Er nimmt im Neuen Testament grundsätzlich nur die Zeugnisse positiv ernst, die "Evangelium" werden können und sind, die "Rechtfertigung des Sünders" ankünden. Das bedeutet einen prinzipiellen - auch wenn man nicht von "Prinzip" sprechen will- und von Käsemann bewußt als "evangelisch" akzeptierten Verzicht auf Katholizität im Schriftverständnis. Doch hier wird der evangelische Exeget vom evangelischen Dogmatiker desavouiert: H. Diem macht Käsemann den Vorwurf, daß er das neutestamentliche Verkündigungsgeschehen "dadurch paralysiert und paralysieren muß, daß er es erst durch seine Zustimmung in kritischer Sichtung zu einer für ihn verbindlichen Geschichte macht" 46 • Gewiß geht es Käsemann nicht um die Rechtfertigungslehre (nicht um einen "Glaubensgegenstand", ein "Grunddogma", ein theologisches "Prinzip"), sondern um das Rechtfertigungsgeschehen; und dieses kann nicht nur in Röm oder Gal, sondern auch z. B. in einem Logion Jesu, in einer Seligpreisung usw. angekündigt werden; in jedem neutestamentlichen Zeugnis, auf Grund dessen Rechtfertigung des I Sünders geschieht, geht es um "Evangelium". Aber sicher ist, daß es für Käsemann nicht im ganzen Neuen Testament um "Evangelium" geht und daß er selberwissen kann, wo es nicht um Evangelium geht. Demgegenüber gibt Diem zu bedenken, daß hinter dem neutestamentlichen Kanon damals und heute die Kirche steht, "daß die Kirche exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das Wort Gottes gehört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch diese Zeugnisse weiterverkünden und hören sollen" 47 : " ••• das Faktum des Kanons bezeugt, daß die Kirche tatsächlich in diesen Zeugnissen einhellig die Verkündigung von Jesus Christus gehört hat und wir sie darum hier ebenfalls hören können und hören sollen " 48 • Gewiß dürfen und sollen "AaO 203 f.
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bestimmte Zeugnisse des Neuen Testaments situationsbedingt gewertet, die einen bevorzugt und andere zurückgestellt werden49 • "Aber bei jeder solchen situationsbedingten Wertung der einzelnen Zeugen ist die durch das Faktum des Kanons gesetzte Grenze zu beachten. Diese verlangt die Anerkennung, daß auch jener von uns zurückgestellte Zeuge - in seiner historischen Bedingtheit, denn wie sollte er es anders tun? - das Zeugnis von Christus ausgerichtet und darum bei der Kirche Gehör gefunden hat, und d. h. daß er als ein vom Heiligen Geist Inspirierter geredet hat. " 60 Ohne die Bindung an den Kanon verfällt der Exeget "seiner eigenen subjektiven Willkür, die ihn stets in Gefahr bringt, daß er, anstatt die Texte in ihrer jeweiligen konkreten Profiliertheitreden zu lassen, sie in ihrer historischen Einmaligkeit durch ein vorgefaßtes Auslegungsprinzip vergewaltigt und eben dadurch auch in ihrem Zeugnischarakter als Predigttext verfehlt"51. Käsemann würde sich selbstverständlich gegen den Vorwurf der subjektiven Willkür zur Wehr setzen. Er wählt ja nicht in eigener Wahl, sondern betroffen vom "Evangelium" aus. Gegen die Bestimmung einer "Mitte" des Evangeliums ist nichts einzuwenden. Aber gefragt werden darf: Woher begründet Käsemann, daß er nur von diesen Texten und von anderen nicht betroffen ist, daß er nur diese und andere Texte nicht als "Evangelium" zu hören vermag? Dies läßt sich zweifellos nicht vom Neuen Testament her begründen; denn das Neue Testament besagt auch nach Käsemann mehr als nur sein "Evangelium". Auch nicl:J.t einfach vom "exegetisd:J.en Befund" her, nad:J. welchem sich die "paulinistische Mitteljlinie" als "Evangelium" aufdrängte. Das Problem wäre nur verschoben, wenn es eine anders bestimmte "Mittellinie" wäre. Denn die Frage ist ja gerade die, warum Käsemann nur diese "Mittellinie" als "Evangelium" zu sehen vermag. Kann sicl:J. da Käsemann auf mehr berufen als auf irgendein (vielleicht durch philosophische Prämissen oder durch wenig glaubwürdige Darstellung des Katholischen in Geschichte und Gegenwart unbewußt verursachtes) protestantisches Vorverständnis? Oder, tiefer, auf irgendeine letzte Option, in der man sich vielleicht mehr vorfindet {lutherische Tradition?), als in die man sich selber gestellt hat? Also jedenfalls eine Entscl:J.eidung vor aller Exegese? Ist das nicl:J.t eine Position, in der man auch kaum mehr Gründe angeben kann, die einen anderen abhalten könnten, eine andere Option zu treffen und auf Grund eines anderen traditionellen Vorverständnisses eine andere Mitte und ein anderes Evangelium exegetisd:J. zu entdecken? Auf das " Diem erläutert dies im Anschluß an G. Eichholz am Beispiel der Rechtfertigungslehre des Paulus und der des Jakobus: aaO 206-208. 11 AaO 205. 11 AaO 206.
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Neue Testament als Ganzes kann man sich ja, nachdem man seine Katholizität preisgegeben hat, nicht mehr berufen. Was übrig bleibt, ist - gegen den Willen derer, die sie übendodt die mehr oder weniger große subjektivistische Willkür: "Für Luther war diese Mitte, von der her er alles beurteilte, wohl Paulus oder, noch enger, dessen Rechtfertigungslehre. Andererseits war für Luther das Johannesevangelium das einzige ,zarte rechte Hauptevangelium'. Ebenso beurteilte und verteidigte F. Schleiermacher dieses gleiche Evangelium ob seines geistigen Gehaltes als das wesentliche Evangelium. In der historisch-kritischen Theologie zu Beginn unseres Jahrhunderts waren die Herrenworte in der Synopse das Maß des Echten. Für R. Bultmann ist wohl das Jobarmesevangelium das Zeugnis des gültigen Evangeliums als Evangelium des Wortes allein und jetziger existentieller Entscheidung, wenn angebliche spätere kirchliche Zusätze über die Sakramente und die künftige Eschatologie ausgeschieden werden. Müßte man nicht vielmehr, als das NT von einer solchen Norm her zu messen, die kritische Norm am Reichtum des NT messen und ihr darnach allenfalls ein relatives Recht zuerkennen ?" 52 Das kühne Programm "Kanon im Kanon" fordert nichts anderes als: biblischer zu sein als die Bibel, neutestamentlicher als das Neue Testament, evangelischer als das Evangelium und sogar paulinischer als Paulus. Radikales Ernstmachen ist die Absicht, radikale Auflösung die Folge. Im Gegensatz zu aller Hairesis, die in ihrer Selbstverabsolutierung, ohne es zu wollen, zur Hybris wird, versucht katholische Haltung, sich die volle Offenheit und Freiheit für das Ganze des Neuen Testaments zu I bewahren. Das scheint oft weniger konsequent und imponierend zu sein als das kraftvoll-einseitige Herausstellen einer Linie; Paulus allein kann ja unter Umständen konsequenter und imponierender wirken als das ganze recht vielfältige Neue Testament, und der (von "Sakramentalismus" und "Mystizis· mus" purifizierte) paulinistische Paulus unter Umständen wiederum konsequenter und imponierender als der ganze Paulus. Aber der wahre Paulus ist der ganze Paulus, und das wahre Neue Testament das ganze Neue Testament. 4. Faktische Auswahl: Das ist die Auswahl, die in der Interpretation des neutestamentlichen Kanons ein formales Deutungsprinzip, das sich als materiales Selektionsprinzip erweist, grundsätzlich ablehnt, faktisch jedoch einzelne Zeugnisse des neutestamentlichen Kanons (durch. übersehen oder Unterinterpretieren) nicht emstnimmt. Beispiel für diese Art der Auswahl ist H. Diem. Diem geht durch seine ganze Dogmatik hindurch zur Abgrenzung gegenüber der katholi61 K. H. Schelkle, Die Petrushriefe (Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament XIII, 2. Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
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sehen Kirche von der Voraussetzung aus, daß der Frühkatholizismus mit seiner spezifischen Auffassung von kirchlichem Amt, insbesondere Lehramt, und apostolischer Sukzession erst sehr viel nach dem Neuen Testament seinen Ursprung habe: an jenem "Einschnitt in der Kirchengeschichte ... , welcher das nachapostolische Zeitalter absmließt und allgemein als der Beginn der altkatholischen Kirche bezeichnet wird" 53 • Hier erst fmden sich der spezifisch katholische "Episkopat" und die "mit rechtlicher Vollmacht begabten Ämter" 54 ; hier erst versucht man, "die Autorität durch eine historische Kontinuität mit den Aposteln und dadurch mit dem menschgewordenen Herrn zu sichern durch die Einführung der mit der Bischofsweihe übertragenen ,apostolischen Sukzession' als dem historisch äußeren Kennzeichen des rechten Bischofs" 55 • Von daher kann Diem die "Entwicklung zum Frühkatholizismus" ohne weiteres "als Abweg vom Neuen Testament" verstehen58 • Er setzt überall voraus, daß das Neue Testament mit dem Frühkatholizismus nichts zu tun habe. Doch hier wird der evangelische Dogmatiker vom evangelischen Exegeten desavouiert: E. Käsemann stellt mit aller Nüchternheit fest: "Die Zeit, in der man die Schrift als ganze I dem Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaubwürdig zu machen. Der neutestamentliche Kanon steht nicht zwischen Judentum und Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Judentum so auch dem Frühkatholizismus Raum und eine Basis." 57 Was dies nach Käsemann bedeutet, wird besonders klar aus seiner Abhandlung über Amt und Gemeinde im Neuen Testament58 • Dort arbeitet er scharf antithetisch die unterschiedliche Kirchenordnung in den paulinischen Briefen einerseits und in den Pastoralen und bei Lukas (Apostelgeschichte) andererseits heraus. Die Gemeindeordnung sowohl in den Pastoralen ·wie bei Lukas ist im Gegensatz zu den charismatisch bestimmten paulinischen Gemeinden frühkatholisch bestimmt. II H. Diem, Theologie als kirchliche Wissenschaft (München 1951) I 154; vgl. den ganzen§ 15 über die Entstehung der altkatholischen Kirche. "AaO 137. 11 AaO 138. 11 AaO 163; in Band II ist Diem auf das Problem des Frühkatholizismus im NT an bestimmten Punkten aufmerksam geworden (vgl. 152-157), ohne es aber als grundsätzliches Problem emstzuneh.men; der Beginn des Frühkatholizismus wird bei Tertullian bzw. den Apologeten angesetzt (vgl. 296-314). 67 E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, aaO 221. 68 E. Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: Exegetische Versuche und Besinnungen (Göttingen 1960) I, 109-154.
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In den Pastoralen ist nach Käsemann die Gemeinde besonders durch die gnostischen Häresien schwer in die Defensive gedrängt. Der Widerstand wird geleitet von einem einzigen Zentrum aus: vom apostolischen Delegaten und dem ihm verbundenen Presbyterium. Ein Presbyterium wird in den paulinischen Briefen nie angeredet, obwohl es zur Bekämpfung der Häresien das einzig Richtige gewesen wäre. Es gab eben in den paulinischen Gemeinden ein solches Presbyterium, wie es wahrscheinlich auch in den Gemeinden der Pastoralen eingerichtet worden war, gar nicht. Aus juden-christlicher Tradition ist vermutlich auch die Ordination (1 Tim 4, 14; 5, 22; 2 Tim 1, 6) in die paulinischen Gemeinden gekommen. "Sie hat denn auch den gleichen Sinn wie im Judentum, ist nämlich Geistmitteilung und bevollmächtigt zur Verwaltung des depositum fidei von 1 Tim 6, 20, worunter genauer die paulinische Lehrtradition verstanden werden darf. Das besagt jedoch, daß ein der übrigen Gemeinde gegenüberstehendes Amt zum eigentlichen Geistträger geworden ist und die urchristliche Anschauung, wonach jeder Christ in der Taufe den Geist empfängt, zurücktritt, ja faktisch verschwindet. Ebenso deutlich ist, daß sich das nicht mehr mit der paulinischen Charismenlehre verträgt. Jüdisches Erbe verdrängt das paulinische zum mindesten an einer zentralen Stelle der Verkündigung. So erscheint das Wort Charisma denn auch nur noch 1 Tim 4, 14 und 2 Tim 1, 16, also höchst aufschlußreich im Zusammenhang von Aussagen über die Ordination. Bezeichnet wird damit der Ordinationsauftrag und die Bevollmächtigung zur Verwaltung des I depositum fidei. Unschön, aber völlig sachgemäß mag man vom Amtsgeist sprechen. "69 Im apostolischen Legaten (Titus, Timotheus) ist somit nach Käsemann faktisch niemand anders als der monarchische Bischof angeredet. "Seine Aufgabe ist die Fortführung des apostolischen Amtes in nachapostolischer Zeit. Er steht mit andem Worten in der apostolischen Sukzession, genauso wie der Rabbi in der Sukzession des Moses und Josua die Lehrtradition und Rechtsprechung erhält und jure divino, nämlich durch die Geistmitteilung bei der Ordination bevollmächtigt, handhabt. Damit ist jener Amtsbegriff gebildet, der die Folgezeit bestimmen wird. Zum mindesten faktisch gibt es nun die Unterscheidung von Klerikern und Laien. Ein Traditions- und Legitimationsprinzip sichert unausgesprochen, aber als unverkennbare Grundlage der gesamten Gemeindeordnung die Autorität des institutionellen Amtes, das sich in Presbyterium, Diakonat und WitwenInstitut mit ausführenden Organen umgibt. " 80 Diese ganze Um" AaO I, 128 f. • AaO I, 129; vgl. auch zu 1 Tim 6,11-16 Käsemanns Aufsatz: Das Formular einer neutestamentlichen Ordinationsparänese, aaO I, 101-108.
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wandlung war notwendig, weil nur so der ungeheuren Gefahr des gnostischen Schwärmerturns die Stirne geboten werden konnte. Ganz Ähnliches wie von den Pastoralen läßt sich von der Kirche der Apostelgeschichte sagen. Auch hier überall Bischöfe, Presbyterien, Ordination sowie das Traditions- und Legitimationsprinzip. "Lukas hat zum ersten Male, soweit wir zu sehen vermögen, die frühkatholische Traditions- und Legitimitätstheorie propagiert. Auch er hat es zweifellos nicht mutwillig, sondern in Abwehr der Kirclle drohender Gefahren getan. Der Historiker kann nicht anders als zugeben, daß sich die hier vorgetragene Theorie dem Enthusiasmus gegenüber als wirksamstes Kampfmittel erwiesen und das junge Christentum davor beschützt hat, im Schwärmerturn unterzugehen. Die Kanonisierung der Apostelgeschichte ist insofern als Dank der Kirche verständlich und verdient. " 81 Von daher verwundert es denn nicht mehr, daß auch die vermutlich späteste Schrift des neutestamentlichen Kanons, der zweite Petrusbrief, wie Käsemann in einem anderen Artikel ausführt, frühkatholisch geprägt ist: "Der zweite Petrushrief ist vom Anfang bis zum Ende ein Dokument frühkatholischer Anschauung und wohl die fragwürdigste Schrift des Kanons. " 82 Als bezeichnendste Aussage des ganzen Briefes darf 1, 20 angesehen werden, die bedeutet: "Persönlicll, vom einzelnen vorlgenommene, vom kirchlichen Lehramt nicht autorisierte und vorgezeichnete Exegese ist nicht gestattet."" Oder wie Käsemann schließlich in der Abhandlung: "Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" ausführt: "Hier (in 2 Pet) wirkt der Geist ja nicht mehr auch durch die Uberlieferung, sondern hier geht er in der Tradition auf, ist deshalb wie bereits in den Pastoralen und der Apostelgeschichte das kirchliche Lehramt Besitzer des ,Amtsgeistes', kann, wie geradezu klassisch in 2 Pet 1, 20, jede nicht autorisierte Exegese und Interpretation der Schrift verboten werden. Hier gilt die Ordination als Index eines Legitimitäts- und Sukzessionsprinzips, kurz: ist die Grenze des Urchristentums überschritten und der Frühkatholizismus etabliert. " 84 Diem würde sich gegen manche Interpretationen Käsemanns zur Wehr setzen85 • Andererseits wird sich der katholische Theologe keineswegs mit jeder, oft recht überspitzt "frühkatholischen" Interpretation Käsemanns identifizieren wollen86 • Aber was unbestreitbar sein " AaO I, 152. a E. Käsemann, Eine Apologie der un:hristlimen Eschatologie, aaO I, 155. 11 AaO I, 155 f. N E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, aaO I, 220 f. 11 So in seiner Dogmatik 155-155 bezüglich 2 Pet 1, 20 f. M So in: Amt und Gemeinde im Neuen Testament, aaO I, 109-127, bezüglich lJ•
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dürfte: Das Katholische (im Verständnis des Amtes, der apostolischen Sukzession, der Ordination, der Lehre usw. 87 ) findet sich bereits im Neuen Testament88. Daß wegen des Katholischen des Neuen Testaments die Position eines evangelischen Theologen, der grundsätzlich das ganze Neue Testament ernstnehmen und doch nicht katholisch werden möchte, recht schwierig geworden ist, kann nicht verheimlicht werden. Im Vergleich mit Diems Position erscheint diejenige Käsemanns klarer, konsequenter, überzeugender. I Gegenüber dem Katholischen des Neuen Testaments sind im Grunde nur zwei Haltungen letztlich überzeugend: diejenige Käsemanns (mit seinen Freunden), der das Katholische des Neuen Testaments konsequent durch "Unterscheidung der Geister" für unevangelisch erklärt, oder dann die katholische, die das Katholische des Neuen Testaments als evangelisch, als Ausdruck des Evangeliums ernst zu nehmen versucht. Bei Diem spielt weder im ersten noch im zweiten Band seiner "Theologie" das Katholische {Episkopenamt, Lehramt, Petrusamt, Ordination, Sakramente usw.) die Rolle, die es nach dem Neuen Testament spielen sollte. Vor der Schrift, die für das Katholische zeugt, bleibt auch Diem89 nur das zu der rein charismatischen Gemeindeordnung der großen Paulinen sowie allgemein bezüglich der scharfen Entgegensetzung Paulus-Lukas. Käsemanns forciert frühkatholische Auslegung von !2 Pet vgl. mit der ausgeglichenen katholischen Auslegung von K. H. Schellde, Die Petrushriefe (Freiburg-Basel-Wien 1961). n Dies wäre auch bezüglich anderer Fragen zu überlegen, etwa bezüglich der Gotteserkenntnis auf Grund der Schöpfung, die sehr wohl auch nicht im Sinne autonomer, evidenter, unabhängig von Gottes Gnade gegebener "natürlicher Theologie" verstanden werden kann. Auch bezüglich der Gotteserkenntnis auf Grund der Schöpfung wäre die Frage nach dem "Frühkatholizismus" im Neuen Testament nicht nur in Apg, sondern auch in Röm- ohne falsche Voreingenommenheit - zu stellen. 18 Vgl. zur Problematik des Frühkatholizismus im Neuen Testament neben den Aufsätzen von Käsemann: Ph. Vielhauer, Der Paulinismus der Apostelgeschichte, in: Evangelische Theologie 10 (1950/51) 1-15; G. Harbsmeier, Unsere Predigt im Spiegel der Apostelgeschichte, in: Evangelische Theologie 10 (1950/51) 35!2--368; H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (Tübingen 1954, 1 1960); W. Mansen, Der ,.Frühkatholizismus" im Neuen Testament (Neukirchen 1958); F. Mußner, "Frühkatholizismus", in: Trierer Theologische Zeitschrift 68 (1959) 237-!245; H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf? 18 Vgl. z. B. Theologie als kirchliche Wissenschaft I (München 1951) 11!2-116, 134-139. Zur Deutung des Petrusbekenntnisses vgl. von katholischer Seite: F. Obrist, Echtheitsfragen und Deutung der Primatstelle Mt 16, 18 f. in der deutschen protestantischen Theologie der letzten dreißig Jahre. Ntl. Abh. XXI, 3-4 (Münster/W. 1961). - Für Diems Vernachlässigung des kirchlichen Amtes ist seine Stellung zur Entstehung des Kanons besonders aufschlußreich. V gl. Dogmatik (München 1955, 1 1957) 171-195, bes. 179. Gegen Diem macht f/. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf? (Fuldaer Hefte 1!2, Berlin 1960, 11 [ = u. S. 221 ]) geltend, daß sich die Kanonabgrenzung nicht ein-
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tun übrig, was in der evangelischen Theologie oft getan wird: neutestamentlichen Sätzen die Spitze abzubrechen und das Katholische des Neuen Testaments entweder zu übersehen70 oder unterzuinterpretieren71. Das Katholische des Neuen Testaments kann nur der Katholik ernst nehmen. f. Das Protestantische und das Katholische: Käsemann und Diem nehmen, so sahen wir, in der entscheidenden Frage des Katholischen im Neuen Testament diametral entgegengesetzte Standpunkte ein. Sie sind in einer gewissen, wenn auch verschiedenen Hinsicht- Käsemannbezüglich des "Frühkatholizismus" im Neuen Testament, Diem bezüglich des verpflichtenden neutestamentlichen Kanons- dem Katholiken näher, als sie sich gegenseitig sind. Aber dieser Gegensatz ist nicht zu dramatisieren. Wir machen uns keine Illusionen: Worin stimmen Diem und Käsemann nun doch zutiefst überlein? Sie stimmen darin überein, daß sie nicht gewillt sind, das Neue Testament kath·olou zu verstehen. Es fehlt ihnen die volle Freiheit und Offenheit für das Ganze der neutestamentlichen Botschaft. Ihr stillschweigendes, aber selbstverständliches Apriori ist - bei allem ernsten und intensiven Bemühen um das Neue Testament - das Protestantische. Und das heißt: Es gibt in ihrer Exegese und Theologie von vomeherein keinen Weg nach "Rom". Viele und recht gegensätzliche Wege sind einem Protestanten offen; eine Freiheit und Offenheit für einen Weg nach "Rom" aber gibt es nicht. Was bleibt also zu tun übrig, wenn man - was für einen Katholiken keine überraschung bedeutet fach selbst in der Kirche durchgesetzt habe, sondern in den letzten Abgrenzungen (Heb, ein Teil der katholischen Briefe und Apk) von der Kirche dekretiert wurde: "Der definitive Charakter dieser Abgrenzung ist kirchliches Dekret." " Ein bezeichnendes Beispiel liefert P. Feine, der die obengenannten drei klassischen Stellen für die Ordination in den Pastoralbriefen durch seine ganze Theologie des Neuen Testaments hindurch nicht nur nicht erklärt, sondern nicht einmal erwähnt. Und bezüglich 2 Pet sagt E. Käseman.n: "So möchte man es fast symptomatisch nennen, daß, von der pflichtgemäßen Behandlung in den Kommentaren abgesehen, über unsern Brief zumeist geschwiegen wird" (Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, aaO I, 135). 71 So bedeutet das Verbot der "eigenen Interpretation" in 1 Pet 1,20 für R. Krwpf nur:"Mit Ehrfurcht, mit Zurückhaltung und Bescheidenheit sollen also die Christen an die Prophetien des AT gehen", und für G. Wahlenberg und A. Sc:hlatter: die Weissagung erfährt ihre Auslegung und Erfüllung aus der Geschichte heraus (nach E. Käsemann aaO I, 152). Ein Beispielliefert auch W. Fürst, Kirche oder Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961) 36: "So wird man etwa die Pastoralen nicht behaften bei ihrem zweifellos ,katholischen' Amts- und Traditionsbegriff, sondern wird in ihnen hören auf den Anspruch des Wortes, unter den eine in solchen Entwicklungen stehende und ruhende Christenheit gerufen wird." Zu W. Mar:rsens Unterinterpretation katholischer Texte im Neuen Testament vgl. F. Mußner, "Frühkatholizismus", in: Trierer Theologische Zeitschrift 68 (1959) 237-245.
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- feststellen muß, daß sogar im Neuen Testament alle Wege schließlich und endlich- nach "Rom" führen? Diem, Käsemann und der katholische Theologe gehen vom seihen Neuen Testament aus. Aber bei Käsemann sind für die Interpretation die Weichen- durch grundsätzlime Auswahl- von vomeherein so gestellt, daß wichtigste neutestamentliche Linien nicht ernsthaft in Betracht kommen, daß insbesondere der Weg des "Frühkatholizismus", der unweigerlich zum "Spätkatholizismus" führen muß, von vomeherein gesperrt ist und im Grunde nur noch in der einen (paulinistischen) Richtung gefahren werden kann. Bei Diem umgekehrt sind die Weichen der Interpretation nicht von vomeherein gestellt. Es besteht grundsätzlich die Freiheit, allen Linien des Neuen Testaments nachzugehen. Doch dann, wenn beim "Frühkatholizismus", von ferne wenigstens, "Rom" in Sicht kommt, dann leuchtet das rote Licht auf (das bei Käsemann schon am Anfang des Weges warnte): die Interpretation stockt, man weigert sich weiterzuinterpretieren. Man bleibt- unter faktischer Auswahl- mit Protest auf der Strecke: bis hierher und nicht weiter72 .1 Katholische Haltung ist es, grundsätzlich nach allen Richtungen offen zu sein, die das Neue Testament freigibt, keine neutestamentliche Linie grundsätzlich oder faktisch auszuschließen. Katholische Haltung versucht, unvoreingenommen das Neue Testament nach allen Seiten hin ernstzunehmen: katholisch zu sein, offen und frei zu sein für die ganze, umfassende Wahrheit des Neuen Testaments. Man hat die katholische Kirche oft eine complexio oppositorum genannt, in keinem guten Sinn, insofern man der Kirche Unwesen (als der Kirche aus Menschen, und sündigen Menschen) mit ihrem Wesen (als der im Heiligen Geiste heiligen Kirche) verwechselte. Was aber oft als Vorwurf gedacht war, kann auch einen guten Sinn haben: Käsemann hat aufgezeigt, daß das Neue Testament selbst eine complexio oppositorum ist; die katholische Kirche ist also neutestamentlich ausgerichtet, wenn sie versucht, die opposita (nicht alle, sondern diejenigen, die auch die des Neuen Testaments sind!) in einem guten Sinn zu umfassen und das ganze Neue Testament als Evangelium zu verstehen. 71 ., Wo bei der Auslegung der Schrift auch nur etwas übersehen wird, was eben auch geschrieben steht, wo man genötigt ist, zur Durchführung seiner Auslegung auch nur etwas, was auch geschrieben steht, abzusmwächen oder gar fallen zu lassen, da droht die Möglichkeit, daß die Auslegung das Eine, von dem die Schrift in ihrer Ganzheit zeugt, auch da, wo sie es gefunden zu haben meint, in Wirklichkeit verfehlt hat. Eine Auslegung ist in dem Maß vertrauenswürdig, als sie nicht nur den gerade vorliegenden Text, sondern mindestens implizit auch alle anderen Texte auslegt, in dem Maß als sie mindestens den Ausblick auf die Auslegung auch aller anderen Texte eröffnet" (K. Barth, Kirchliche Dogmatik (Zürich 1 1948] 1/2, 537).
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Nimt das ist das Verhängnisvolle an der Theologie Käsemanns, daß sie eine (wie immer des näheren zu bestimmende) "Mitte der Schrift" annimmt, sondern daß sie die "Mitte" in protestantischer Exklusivität das "Ganze" sein läßt und alles übrige durch "Untersmeidung der Geister" aussmeidet. Nimt das ist das Verhängnisvolle an der Theologie Diems, daß sie je nam der konkreten Verkündigungssituation den einen oder anderen Zeugen zurücktreten läßt, sondern daß sie gewisse Zeugen in protestantismer Exklusivität gar nimt ausreden läßt und sie in ihren Anliegen nicht genügend ernst nimmt. Der Protest gegen den Frühkatholizismus ist Protest gegen das Katholisme überhaupt. Käsemann und Diem wären die letzten, die dies bestritten. Dieser Protest- wahrhaftig nimt einfach unbegründetrichtet sich gegen die katholische Kirche. Aber nicht nur gegen das Unkatholische der katholischen Kirme; das wäre katholisch. Sondern auch gegen das Katholische der katholischen Kirche; das ist protestantism. Der Protest gegen die Katholizität der Kirche wird jedoch als protestantischer Protest zwangsläufig zum Protest gegen die Katholizität der Schrift, auf die er sich in seinem Protest gegen die Katholizität der Kirche ausschließlich stützen wollte. Der Protest wird aus dem Korrektiv (so meinte es Luther ursprünglich) zum Konstitutiv (so meint es der Protestantismus in seinen verschiedenen Ausprägungen). Der Protest erstarrt in sim und hebt sim selber auf, indem er das Fundament, auf das er sim stellte, selbst auflöst. Jede protestierende Auswahl aus dem Neuen Testament widerlegt die je anderen und wird von ihnen widerlegt. Das falsch verstandene sola scriptura führt zu einem I sola pars scriptura und dies wiederum zu einem sola pars Ecclesiae, kurz: zu einem verheerenden Chaos in Verkündigung und Lehre und einer progressiven Aufsplitterung des Protestantismus73. 73 Auch W. Fürst gesteht in seinem Versuch einer protestantischen Antwort an Heinrich Schlier freimütig zu: "Unsere eigene Gespaltenheil dürfte der wunde Punkt sein, an dem uns Schliers Anfrage als Infragestellung am empfindlichsten trifft. Sind wir uns untereinander, wie wir es nach reformatorischem ,Prinzip' doch sein müßten, wenigstens darin einig, worin wir mit Schlier, dem Anschein nach, einig sein können: daß das Neue Testament für die Entscheidungen maßgebend ist? Schlier glaubt uns nicht, daß das Hören auf die eine Schrift hinter den so versd:tiedenen Auskünften steht, die wir geben, und man kann ihm das kaum verübeln. Hätte uns seine Konversion, die so bedrohlich an allen Grundlagen unserer Tradition rüttelt, nicht längst nötigen müssen, die unter uns immer wieder aufgesdlobenen Bereinigungen schleunigst nachzuholen? Solange wir sie nicht angehen, werden wir kaum in der Lage sein, Schliers Herausforderung erfolgreich zu parieren. Der hier zu unternehmende Versuch steht unter der Last des Unerledigten und muß sich seiner Vorläufigkeit auch in dieser Hinsicht bewußt sein" (Kirche oder Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961] 7).
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6. Katholizität als Aufgabe: Bevor aber ein Katholik bei dieser Lage der Dinge selbstbewußt und überheblich frohlockt, möge er bedenken: Gewiß, nur katholische Haltung vermag die protestantische Auflösung vom Evangelium her zu überwinden. Gewiß, die Katholizität in der Interpretation des Neuen Testaments ist ein großartiges Programm. Aber ist sie mehr als ein Programm? Die Aussage: "Das Katholische ist das Evangelische", kann im Formelhaften stecken bleiben, kann in der kritischen Situation der gegenwärtigen Exegese und Dogmatik als träge beschwichtigender Indikativ statt als die Ausführung des Programms fordernder Imperativ verstanden werden. Unsere Darlegungen haben nicht den Zweck, die katholischen Theologen vor der aufgebrochenen neutestamentlichen Problematik zu beruhigen, sondern sie zur entschiedenen Inangriffnahme der katholischen Aufgabe aufzurufen. Dadurch, daß man nur behauptet, das Katholische sei das Evangelische, hat man die außerordentlich schwierigen exegetischen und dogmatischen Probleme noch nicht gelöst, die uns die gegenwärtige neutestamentliche Forschungslage aufgibt. Das katholische Programm hat sich in der gründlichen, ernsthaften, ehrlichen exegetischen wie dogmatischen Durchführung bis in die ungezählten Einzelprobleme hinein zu bewähren. Man wird nicht behaupten können, daß wir Katholiken die Katholizität in der Interpretation des Neuen Testaments genügend vorgelebt hätten. Wer von uns wagte zu behaupten, daß bei uns jene katholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue Testament den anderen Christen glaubwürdig ad I oculos demonstriert worden sei? Wäre es sonst möglich gewesen, daß sich die katholische Exegese der letzten Jahrhunderte dauernd im Schlepptau der evangelischen Exegese befunden hätte, daß sie sich im Grunde dauernd ihre Probleme, Methoden und Lösungen von der evangelischen Exegese geben ließ, daß grundlegende exegetische Werke wie das "Wörterbuch zum Neuen Testament" meist Werke evangelischer Exegese sind? Man wird sich hüten, den einzelnen katholischen Exegeten deswegen Vorwürfe zu machen; wer käme auf die Idee, katholische Exegeten seien weniger intelligent oder arbeitsfreudig. Sicher ist, daß unseren Exegeten die volle katholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue Testament oft nicht gelassen wurde74 • Nicht in einer Atmosphäre der 7• Was viele leise sagen, spricht der Tübinger Alttestamentler H. Haag offen aus: "Mit größter Besorgnis wird in Kreisen der Exegeten beobachtet, daß die Freiheit, die das Rundschreiben ,Divino afflante Spiritu' der katholischen Bibelwissenschaft einräumte, von neuem bedroht zu sein scheint. Wieder kommt es vor, wie es in den letzten fünfzig Jahren nur zu oft vorgekommen ist, daß ein Exeget wegen Äußerung einer Auffassung, die in Rom als irrig oder sehr oft auch nur als inopportun angesehen wird, seines Amtes enthoben und mit Rede- und Schreibverbot belegt wird, und dies ohne daß er in der Sache gehört worden wäre und auch ohne daß
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Angst, der totalitaristischen Uberwachung und der daraus folgenden Heudtelei und Feigheit, nur in einer Atmosphäre der Freiheit, der nüdttemen theologisdten Redlichkeit und der unerschrockenen Sachlichkeit und gerade so der loyalen Kirchlichkeit können Exegese und Dogmatik ihre große katholische Aufgabe erfüllen. Man wird audt nicht behaupten können, daß wir Katholiken die Katholizität in der Interpretation gerade der neutestamentlichen Ekklesiologie genügend glaubwürdig dargestellt hätten. Man kann nicht bestreiten, daß die katholische Ekklesiologie schon des Mittelalters und besonders der gegenreformatorischen Zeit die Pastoralbriefe (und die Apostelgeschichte) gerade gegenüber der mehr charismatisch strukturierten Gemeindeordnung der großen Paulinen stark überbewertet hat und so faktisch aus der Ekklesiologie weitgehend eine Hierarchologie gemacht hat. Noch heute tragen wir schwer an diesem Erbe, und die zu lösenden Aufgaben sind zahlreich75 • Es ist allerdings sehr viel schwieriger, das Ganze statt nur einen Teil exegetisch emstzunehmen. Nicht nur weil jeder Theologe als Mensch in Gefahr ist, im Neuen Testament gerade das nicht zu vernehmen, was er vernehmen sollte, sondern weil auf diesem katholischen Weg die hohe exegetische Kunst der Differenzierung und Nuancierung in besonderem Maße erforldert ist. Also einerseits keine Harmonisierung und Nivellierung der gegensätzlichen ekklesiologischen Aussagen des Neuen Testaments aus systematischer Bequemlichkeit heraus, die zu träge ist, den verschiedenen Gegensätzen auf den Grund zu gehen. Andererseits keine Dissozüerung und Reduzierung dieser Aussagen aus einer rein statistisch sammelnden und entgegensetzenden Hyperkritik heraus, die am Aufstöbern von Gegensätzlichkeilen mehr Gefallen hat als am Aufspüren einer tieferen Einheit im Gesamtkontext der Schriften, die doch schließlich alle in irgendeiner Form von Jesus Christus und seinem Evangelium reden wollen. Jedes Zeugnis des Neuen Testaments ist ein Niederschlag der Verkündigungsgeschichte, in der Verkündigung und Taten Jesu auf mannigfache Weise überliefert werden, damit Jesus als der Herr geglaubt werde. Jedes ekklesiologische Zeugnis des Neuen Testaments muß deshalb auf dem Hintergrund der gesamten Verkündigungsgeschichte, muß aus seiner bestimmten Verkündigungssituation heraus verstanden werden, in die es hineinsprechen will. Besteht dann aber die Befürchtung Käsemanns nicht zu Recht, daß die letzte Schrift dieser Verkündigungsgeschichte die gesamte vorausihm mitgeteilt würde, worin er geirrt habe." (Was erwarten Sie vom Konzil? in: Wort und Wahrheit 10 [1961] 600.) 76 Vgl. die Diskussion der Probleme bei H. Küng, Strukturen der Illidle (Freiburg-Basel-Wien 1962) 161-195.
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gegangene Geschichte als letztes Zeugnis interpretiert und somit entscheidend bestimmt? Wohl muß in katholischer Sicht auch dieses neutestamentliche Zeugnis ernstgenommen werden. Als frühkatholisches vermittelt es gerade die für die spätere Kirche notwendige Kontinuität zwischen der apostolischen Kirche des Neuen Testaments und der Kirche der "apostolischen Väter" und der alten Kirche überhaupt. Trotzdem kann dies nicht heißen, daß 2 Petdie Interpretation des gesamten Neuen Testaments als die entscheidende Schrift zu bestimmen hat. Ist doch sehr wohl zu beachten, daß es bei 2 Petnicht einfach um ein ursprüngliches, sondern um ein abgeleitetes Zeugnis innerhalb des Neuen Testaments geht. Wie etwa Jud und Jak setzt auch 2 Pet andere neutestamentliche Schriften voraus, und diese setzen unter Umständen wieder andere, so dieses oder jenes Logion Jesu, voraus. Die je neue Verkündigungssituation zwang zu steter Umbildung und Neubildung der ursprünglichen Botschaft, in der auch die menschliche und theologische Eigenart des je neuen Verkünders ihre große Rolle spielte. Eine gegensätzliche Verschiedenheit war von daher innerhalb des Neuen Testaments selbstverständlich gegeben, wie uns ja auch bezeichnenderweise nicht nur ein Evangelium oder eine Evangelienharmonie oder gar ein Leben-Jesu, sondern verschiedene, oft recht gegensätzliche Evangelien überliefert wurden. Aber in dieser ganzen komplexen (und nicht nur einlinigen) Entwicklung versteht es sich, daß den ursprünglichen Zeugnissen vor den abgeleiteten ein Vorrang I zukommt. Geht es doch beim Neuen Testament nicht um einen festschriftartigen Sammelband gleichberechtigter (wenn auch nicht immer gleich wertvoller) Beiträge, geht es doch bei der Botschaft des Neuen Testaments nicht um die Botschaft eines Schriftstellerkollegiums, zu der ein jeder seinen selbständigen Forschungsbeitrag liefert, sondern um die Botschaft Jesu Christi, von der alle späteren Zeugnisse nur Interpretationen sein können und wollen. So sehr also auch die abgeleiteten Zeugnisse des Neuen Testaments ernstzunehmen sind, so sehr sind sie zugleich als abgeleitete und nicht als ursprüngliche ernstzunehmen. Dabei hat nicht nur die äußere zeitliche Nähe zur Botschaft J esu eine Bedeutung, sondern auch die innere sachliche Nähe zur Mitte des Evangeliums. Über die zeitliche Nähe hinaus darf Röm im Vergleich zu Jak auch eine größere sachliche Nähe zugeschrieben werden. Je abgeleiteter ein Zeugnis ist, um so mehr werden Exegeten wie Dogmatiker darauf zu achten haben, auf welche Weise dieses Zeugnis vom Heilsgeschehen in Jesus Christus handelt: welche Faktoren bei je verschiedenen Verkündern in der je verschiedenen Verkündigungssituation mitspielen, fördernd oder hemmend, bekräftigend oder abschwächend, verschärfend oder verharmlosend. So muß jedes Zeugnis im Gesamt des Neuen Testaments
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von der Botschaft J esu und den ursprünglichen Schwerpunkten her verstanden werden. Es darf also nicht so sein, daß die späteren Zeugnisse die früheren, die Pastoralbriefe etwa die Bergpredigt oder die Korintherbriefe überspielen. Die Kirche als das neutestamentliche Gottesvolk ist es, die uns das Neue Testament in einer gewiß wechselvollen Kanongeschichte, aber eben doch das Neue Testament als Ganzes überliefert hat. Ohne die Kirche gäbe es kein Neues Testament. Dabei war die Kirche durchaus der Meinung, daß alle Teile des Neuen Testaments durchaus als positive Zeugnisse vom Christusgeschehen (und nicht nur als z. T. negative Kontrastprogramme) in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden. Gewiß, es war die frühkatholische Kirche, die uns den Kanon überliefert hat. Aber ihre Katholizität bekundete diese frühkatholische Kirche gerade dadurch, daß sie Paulus nicht ausschloß, wie es eine im Sinne evangelischer Exegeten konsequent frühkatholische Kirche an sich hätte tun müssen. Sondern darin, daß sie Paulus mit der Apostelgeschichte, Paulus mit dem Jakobusbrief, kurz, daß sie das ganze Neue Testament zwn Kanon erhob. Dadurch hat sie die Unterscheidung der Geister vollzogen. Katholische Theologie ist der Meinung, daß sie sie gut vollzogen hat und wir sie heute nicht besser vollziehen können. Der einzelne Exeget kann seine eigene Unterscheidung der Geister nicht besser treffen als im Vertrauen auf Idie von der alten Kirche vollzogene und von der späteren Kirche weitergetragene Unterscheidung der Geister, die uns das Neue Testament als solches überlieferte. Das konkrete Verhältnis zur Kirche wird auch heute vielfach den Ausschlag geben, ob ein Theologe das von der Kirche überlieferte und verbürgte ganze Neue Testament vertrauensvoll und kritisch zugleich anzunehmen vermag oder nicht. Wir Katholiken sind der Uberzeugung, mit der alten Kirche gut daran zu tun, das Ganze des Neuen Testaments als ein zutreffendes Zeugnis des Offenbarungsgeschehens in Jesus Christus anzusehen und dabei jedes einzelne Zeugnis wahrhaft, aber differenziert in seiner Ausrichtung auf dieses Heilsgeschehen in Christus gelten zu lassen und theologisch wie praktisch ernstzunehmen. Ist es so ganz ein Zufall, daß in Tübingens katholischer Fakultät das Wort des Systematikers vom Exegeten nicht desavouiert, sondern bestätigt wird? "Katholische Theologie wird naturgemäß Zeugnisse des Frühkatholizismus im NT grundsätzlich anders werten als protestantische Theologie. Ist es möglich, die wahre ntl. Botschaft auf die eine Stunde, ja den mathematischen Punkt etwa des Römerbriefes oder des (entmythologisierten) Johannesevangeliums zu begrenzen? In seiner Ganzheit ist das NT Zeugnis der umfassenden, d. h. katho-
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lischen, Wahrheit in der Fülle. Nur einen Teil gelten zu lassen, ist Wahl, d. h. Häresie. Und wenn dieses NT in seinen späteren Teilen zum Frühkatholizismus überleitet, dann wird katholische Exegese sich bemühen, zu zeigen, bei wahrhaft geschichtlichem Verstehen geschehe hier nicht Verkehrung des Ursprünglichen und Wahren, sondern echte und gültige Entwicklung. Das wird nicht hindern, das Spätere mit dem Früheren zu vergleichen und jenes an diesem zu messen, so wie dies alle echt kritische Theologie- auch katholische- unternimmt. " 78 Gibt es auch in der Ekklesiologie, wo alle Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Evangelischen sich scharf zuspitzen und zuspitzen müssen, einen Weg zur Wiedervereinigung? Es gibt ihn. Er besteht darin, daß die katholische Theologie das Neue Testament in evangelischer Konzentration, die evangelische Theologie das Neue Testament in katholischer Weite immer mehr ernstzunehmen versuchen. In diesem Sinne können Katholiken, die oft von einem Zuviel belastet sind, und Evangelische, die oft unter einem Zuwenig leiden, voneinander lernen und einander helfen. Ist es nicht das, was im Grunde bei aller Kontroverse heute immer wieder geschieht I und immer deutlicher geschieht? Ziel unserer Ausführungen und ihrer deutlichen Konfrontation war nicht, eine Diskussion abzuschließen, sondern auf die dahinterliegende große gemeinsame, ökumenische Aufgabe so eindringlich als möglich aufmerksam zu machen. Und ist es nicht ein hoffnungsvolles Zeichen, daß man in Tübingen, hat man sich gründlich auseinandergesetzt, sich immer wieder friedfertig, einträchtig und gut gelaunt zusammensetzt? Postskriptum 1970 Seit 1962- vor dem Vatikanum II- ist viel Wasser nicht nur den Tiber, sondern auch den Neckar hinuntergeflossen. Die katholische Polemik von damals gegen - ebenfalls polemisch bestimmte - protestantische Einseitigkeiten, Engführungen, Exklusivitäten war notwendig. Vieles wäre heute anders zu sagen, einiges hat sich, von beiden Seiten her, erledigt. Wie indessen die damals anvisierten Probleme nicht nur kritisch verschärft, sondern positiv und konstruktiv gelöst werden können, versuchte ich nicht nur durch ein erneutes Bedenken der hermeneutischen Grundfragen, sondern durch eine vom Neuen Testament und seiner christologischen Mitte (!) her begründete und durchgeführte ökumenische Ekklesiologie - gewiß "nur" programmatisch- zu begründen; dabei wird die katholische Tradition nur als nonna nonnata zur Geltung gebracht (vgl. Die Kirche 1967). Zum Primat der Christologie vgl. neuerdings: Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie (1970). 71
K. H. Schelhle, Die Petrushriefe (Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
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Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition• Ohne auch nur den Versuch einer nach allen Seiten abgerundeten katholischen Darstellung zu machen, sollen nur die Gesichtspunkte herausgestellt werden, die uns in der gegenwärtigen Kontroverse besonders wichtig erscheinen. Zunächst soll die theologische Bedeutung jenes Ereignisses erörtert werden, das wir unter dem Titel "Die Schriftwerdung der neutestamentlichen Paradosis" (Kap. 111 § 1) beschrieben haben. Daraus I ergibt sich dann die Frage nach einer dogmatischen Beurteilung der Entwicklung zum Kanon und nach den Kriterien der Kanonizität und schließlich das Problem des formalen und inhaltlichen Verhältnisses von kanonischer Schrift und Tradition.
1. Die theologische Bedeutung der Schriftlichkeil der Schrift Obgleich katholischerseits immer wieder mit einem gewissen Recht darauf hingewiesen wird, daß Christus seine Jünger ja nicht zum Schreiben, sondern zur mündlichen Verkündigung ausgesandt hat und daß viele Schriften des Neuen Testaments den Charakter von Gelegenheitsschriften haben1, daß also nur eine mündliche Weitergabe der göttlich-apostolischen Paradosis für alle Zeiten durchaus hätte möglich sein können, so muß doch der katholische Theologe mit Schee• Aus: P. Lengsfeld, Uberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 3), Bonifacius-Druckerei, Paderbom 1960, S. 104-118. 1 Vgl. M. J. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik I. Theologische Erkenntnislehre (Gesammelte Schrüten 111), hg. von M. Grabmann, Freiburg 19481, n. 290, 291; L. Lercher SJ, Institutiones Theologiae Dogmnticae I (ed. Schlagenhaufen), Barcelona 19454 , 314; J. Franz.elin SJ, Tractatus de divina traditione et scriptura, Romae 1896', 22; H. Schmidt, Brückenschlag zwischen den Konfessionen, Paderbom 1951, 47-49; M. Schmaus, Katholische Dogmatik (5 Bde., 5. Aufl. München 1953 ff.) I, 107-109, der allerdings an der Beweiskraft dieses Arguments für das kath. Traditionsprinzip Zweifel anmeldet, und zwar mit Recht; denn an der Notwendigkeit und dem Vorrang mündlicher Weitergabe zweifelt protestantischerseits niemand: vgl. Georg Prater in ELKZ 11 (1957), 389, oder P. Althaus, Grundriß der Dogmatik, Gütersloh-Berlin 1952, 234--242, sowie H. Diem, Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus, München 19571, 190 bis 192, und K. Barth, KD I, 1, 57 ff. u. a.
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ben2 von einer "relativen Notwendigkeit" der scbriftlichen Fixierung der Paradosis sprechen. Das läßt sich a priori feststellen und hat mit dem nicht hoch genug zu schätzenden Wort-Gottes-Charakter der Schrift noch nichts zu tun. Seheeben sieht die "relative Notwendigkeit" der Schriftwerdung der Paradosis darin, daß "die Urkunde ... überhaupt Vorteile bietet, welche die mündliche Überlieferung nicht bieten kann, und die letztere selbst ohne urkundliche Basis und Anhalt nicht so natürlich, leicht und vollkommen sich forterhalten und geltend machen könnte wie mit derselben". Abgesehen von der lnspiration, besteht "der eigentümliche Wert" der Schrift darin, "daß sie als urkundlicher Bericht über die ganze Geschichte der Offenbarung durch die Details der diese selbst und ihren Inhalt berührenden Tatsachen und die reiche Entwicklung und mannigfache erhabene Darstellung vieler Wahrheiten uns die Offenbarung konkreter und lebendiger vor Augen führt und uns inniger mit derselben vertraut macht, als die mündliche Überlieferung es vermöchte" 3 • Man könnte also sagen, daß die Schriftwerdung der Paradosis gerade um ihrer selbst, um der reinen, konkreten und innig-lebendigen Überlieferung willen notwendig ist, und zwar deshalb, weil es sich hier um eine Oberlieferung handelt, I die nicht einfach im (gewiß defektiblen) Glaubensbewußtsein der einzelnen Gläubigen aufgehen darf. Freilich muß die göttlich-apostolische Paradosis in das Glaubensbewußtsein der Kirche eingehen, aber sie geht nicht ununterscheidbar darin auf. Sonst könnte die Kirche immer nur auf sich selbst reflektieren und nicht mehr auf die ihr gegebene, von einem anderen gegebene Offenbarung. Söhngen unterscheidet mit Recht zwischen Inhalt und Gegenstand der Überlieferung'. Dem Inhalt ( = Bild, Begriff und Erzeugnis) eines intentionalen Aktes entspricht das kirchliche Glaubensbewußtsein, durch das etwas überliefert wird- die traditio activa. Dem Gegenstand des intentionalen Aktes ( = der an sich seiende Gegenstand, der dem Akte vorgegeben ist) entsprächen die gegenständlichen Aussagen der göttlich-apostolischen Glaubenshinterlage, des depositum fidei: das, was überliefert wird - die traditio passiva. Jene Paradosis-Aussagen sind Gegenstand der Überlieferung und löM. 1. Sc:heeben, Dogmatik I, n. 291, 292. M. 1. Sc:heeben, Dogmatik I, n. 292 (Hervorhebung von uns). • G. Söhngen, Oberlieferung und apostolische Verkündigung, in: ders., Einheit in der Theologie, München 1952, 305 ff. (321). Weder Söhngen noch uns ist hier daran gelegen, eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Überlieferung und Glaubensbewußtsein sowie Inhalt und Gegenstand beider zu bieten. Uns genügt die Feststellung der Möglichkeit, daß in jenem (im Raum des menschlichen - und nicht ohne den göttlichen Geist- sich ereignenden) Geschehen der Oberlieferung das aus göttlichem Ursprung Oberlieferte grundsätzlich unterscheidbar ist von dem Menschlichen, wodurch und womit es überliefert wird. 1
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sen sim "nicht einfach in das kirchlid:te Glaubensbewußtsein auf", sondern bleiben der "an sid:t seiende Gegenstand, der als sold:ter (!) den Inhalt des gläubigen Bewußtseins bildet (I) und mithin dem Bewußtsein gegenübersteht" (ebd.). Gerade die Gegenständlichkeit der göttiim-apostolischen (Verbal-)Tradition im Raum der Kird:te, weld:te ein formuliertes Aussprechen und Niederschreiben (sei es in der Heiligen Schrift, sei es in den Schriften der Väter und der "Tradition") möglich macht, gerade diese Gegenständlichkeit bewahrt die Kirdie davor, im Blick auf ihre Schätze immer nur sich selbst zu sehen und nicht ihren Ursprung aus Gott; diese Gegenüber-Ständlichkeit5 bewahrt sie davor (menschlid:t gesprochen), daß die Rück-Besinnung auf ihren Ursprung nicht bloß (sie ist es auch) eine Innenschau in sich selbst, sondern eine wirkliche Rück-Besinnung auf den nicht von I ihr selbst hervorgebrachten Grund ihres Daseins und auf ihre nicht aus Eigenem erzeugte Mitgift ist. Die göttlich-apostolische Tradition ist zwar in das Leben der Kirche eingegangen - insofern umschließt die kirchlid:te Tradition die Paradosis Christi, und die Kirche als solche lebt ja ganz davon-, aber sie bleibt unterscheidbar von ihrem Eigenleben und muß möglichst sorgfältig gerade von jenen Mißbildungen und Verkehrtheiten ihres Eigenlebens (die Schwäd:ten ihrer Glieder sd:tmerzen niemanden mehr als die Kirche selbst) unterschieden werden, die den zum Glauben Berufenen den Zugang zur göttlich-apostolischen Paradosis ersd:tweren oder versperren könnten. Die göttiimapostolische Paradosis (und damit die göttlid:te Wesensbegründung der Kirche) ist unterscheidbar und unterschieden Yon dem sich gewiß auch sehr menschlich gestaltenden Eigenleben der Kird:te, genauer von der menschlichen Seite des kirchlichen Eigenlebens mit all seinen geschid:ttlichen oder anachronistischen, vernünftigen oder auch unvernünftigen Darstellungen. Für den einzelnen und im konkreten Fall mag die Unterscheidung schwierig vorzunehmen sein, grundsätzlich 1 Vgl. H. Schüssler, Wahrheit und Oberlieferung zwischen den Konfessionen: Festgabe Joseph Lortz I, hrsg. von E. lserloh und P. Manns, Baden-Baden 1958, 109-134 (111). -Darum wird auch eine Identifikation von Tradition und kirchlichem Lehramt, wie sie H. Dieckrnt~n.n SJ (De ecclesia Il, Freiburg 1925, n. 669 ff.) und A. Deneffe SJ (Der Traditionsbegriff [Münstersche Beiträge zur Theologie 18], Münster 1931, 160 f.) vertreten, von den meisten Theologen abgelehnt. Vgl T. Zapelena SJ, Oe ecclesia Christi II, Romae 19541, 275-283; ders., Problema theologicu.m 111: Gregorianum 25 (1944), 38-73; J. Salaverri, De ecclesia Christi, Matriti 1950, n. 805; J. Filograssi SJ, De Sanctissima Eucharistia, Romae 19531, 19ff.; ders., Traditio divino-apostolica et Assumptio B. Mariae Virginis: Gregorianum :30 (1949), 443-489 (453); ders., Tradizione divino-apostolica e magisterio della Chiesa: Gregorianum 32 (1952), 135-167 (144-147); J. Temus SJ, Beiträge zum Problem der Tradition: Divus Thomas 16 (1938), 31-56; 197-229; 0. Müller, Zum Begriff der Tradition in der Theologie der letzten hundert Jahre: MThZ 4 (1953), 164 bis 186 (167 f.).
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aber ist sie allein schon auf Grund dessen gegeben, daß die göttiimapostolische Oberlieferung nicht erzeugter Inhalt (im Sinne Söhngens), sondern Gegenstand des kirchlichen Glaubensbewußtseins ist. Von daher muß die bei Möhler anscheinend ungebrochene Identifikation von Kirche-Leib Christi und Offenbarung, wie sie sich im folgenden Satz findet, kritisiert werden: "Die Kirche ist (!) der Leib des Herrn, sie ist ( !) in ihrer Gesamtheit seine sichtbare Gestalt, seine bleibende, ewig sich verjüngende Menschheit, seine ewige Offenbarung" (Symbolik S. 356). Gerade im Hinblick auf die "Tradition im subjektiven Sinn des Wortes" wird man so nicht gut reden können, da ja der "eigentümliche, in der Kirche vorhandene und durch die kirchliche Erziehung sich fortpflanzende christliche Sinn" (357) nidtt unbedingt immer den ganzen Gehalt der göttlich-apostolischen Paradosis zum Bewußtseinsinhalt hat. Wenn Möhler gerade hier von dem "kirchlichen Bewußtsein" (356) spricht und in diesem Zusammenhang die Kirche als "sichtbare Gestalt" des Herrn und als "seine ewige Offenbarung" bezeichnet, so kann das leicht zu dem Mißverständnis führen, das Karl Barth zu seiner so ungeduldig und scharf klingenden Kritik in KD I, 2, 624-628 herausgefordert hat8 • In der seit Irenäus verfolgbaren Entwicklung des katholischen Traditionsprinzips (bis hin zu Möhler) sieht Karl Barth einen Prozeß, der in I zunehmendem Maße alle ursprünglich der Kirche gegenüberstehende Autorität in Kirchenautorität verwandelt (KD I, 2, 629/630). Im Blick auf Möhler glaubt er die katholische Theologie der "Gleichsetzung der Kirche, ihres Glaubens und ihres Wortes mit der siebegründenden Offenbarung" (627) anklagen zu können, wobei sich in dieses kircheneigene Wort nicht nur menschliche Instanzen wie Vernunft, Philosophie und Geschichte hinterrücks einschleichen, sondern durch Möhler und das Vatikanum sogar noch auf den Thron gehoben werden. Bereits im Tridentinum stand hinter der Definition der Tradition jene verhängnisvolle "Identifikation von Schrift, überlieferung, Kirche und Offenbarung" (KD I, 2, 613), welche die Gehorsamshaltung der Kirche unter Gottes Wort aufhebt und die Kirche in einem unkontrollierbaren, unfruchtbaren Selbstgespräch (KD I, 1, 107; I, 2, 651 u. öfter) befangen sein läßt. Nicht so sehr die Mündlichkeil der Tradition bildet das Ziel der Barthschen Kritik, sondern dies, daß eine derart mündlich-geistige Größe, die schließlich "das Ganze 1 Zum Verständnis Möhlcrs vgl. J. R. Geiselmann, Lebendiger Glaube aus geheiligter überlieferung, Mainz 1942, 449-479, besonders 450, und ders., Der Einfluß der Christologie des Konzils von Chalkedon auf die Theologie J. A. Möhlers: Chalkedon 111, 341-420, vor allem 404 ff. -Mähler selbst schränkt bereits in seiner Symbolik (Regensburg 1882 [dritter Abdruck], S. 300) die scheinbare Identifikation ein, indem er sagt, daß die Kirche nur "von einer Seite betrad1tet, auf eine abbildlim-lebendige Weise" Christus sei.
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des kirchlichen Lebens ... für mit Gottes Offenbarung identism erklärt" (KD I, 2, 607), nun nodl Kanon, Regel, Richtschnur und Maßstab des Glaubens eben dieserKirmesein könnte. "Man wird nicht bestreiten können, daß es etwas Derartiges (sei. ungeschriebene prophetisch-apostolische Tradition) in der Kirche außer dem wirklichen Kanon gibt. Man wird aber sagen müssen: Sofern es Gott gefallen hätte, diese ungesdlriebene geistig-mündliche Oberlieferung zum Kanon seiner Kirche zu machen, dann wäre der Kanon vom Leben der Kirche selbst so wenig zu unterscheiden, wie wir etwa das in unseren Adern rollende Blut unserer Väter von unserem eigenen Blut zu unterscheiden vermögen, d. h. aber, die Kirche wäre dann doch wieder mit sich selbst allein und auf sich selber, auf ihre eigene Lebendigkeit angewiesen" (KD I, 1, 107). Dazu ist zunächst zu sagen, daß Barth den Einfluß Möhlers auf die Theologie der Gesamtkirche und auf die Vorbereitung des Vatikanums und damit die repräsentative Bedeutung Möhlers wohl sehr überschätzt (die Konzeption Scheebens als Schüler von Franzelin und beider Einfluß auf die Gesamtkirche war sicherlich größer und repräsentativer und würde überdies dieses Mißverständnis bei Barth nicht geweckt haben). Zweitens hat die Kirche sich niemals in dieser Weise mit der Offenbarung identisch erklärt, deren Hüterio und Verkündigerio, Bewahrerio und Auslegerio sie ja ist; das zeigt jede Dogmatik in der Erklärung von "depositum fidei", Lehramt, Kirche und Offenbarung sowie die Definition des Vatikanums (D 1836 "traditam per Apostolos revelationem ... sancte custodire et fideliter exponere" nicht "novam doctrinam patefacere" ist Aufgabe der Kirche). M. Schmaus: "Die göttliche Seihstierschließung wird über Christus hinaus nicht verlängert; sie wird weder wiederholt noch fortgesetzt. " 7 Drittens bleibt die Kirche immer Werkzeug in der Hand Christi: "Nur im Hinblick auf die lebendige Wahrheit zwischen Christus und der Kirche, nicht aber im Sinne einer formalen Einheit, wie sie zwischen Seele und Leib besteht, kann Christus als Seele der Kirche bezeichnet werden. Sonst würde man die Kirche direkt vergöttlichen. Sie würde statt Werkzeug in der Hand Christi geradezu die Verkörperung Christi sein, so daß auch all ihr Tun unabhängig von einer positiven Anordnung des Herrn göttlichen Charakter haben müßte. " 8 Pius XII. drückt diesen Gedanken so aus, daß er vor einem falschen Mystizismus warnt und das Bild der Kirche als mystischen ( = "translata tantummodo significatione") Leib Christi ergänzt wissen will M. Schmaus, Geschichtliches Ereignis und übergeschichtliche Wahrheit im Christentum: Stud. Gen. 4 (1951), 558-364 (360). 8 So B. Paschmann in dem die dogmatischen Grundlagen darstellenden 1. Teil seines Werkes "Die katholische Frömmigkeit", Wünburg 1949, 61. 7
14 Käsemann, Kanon
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durm jenes andere von der Kirme als Braut Christi: Hier ist das Gegenüber von Kirche und Christus deutlim ausgespromen. Paulus "alterum tarnen alteri, ut Sponsum Sponsae, opponit", cf. Eph 5,22-231. Viertens: Wenn schon ein anthropologismer Vergleim herangezogen werden soll, dann nimt der von der Ununtersmeidbarkeit des überkommenen zum eigenen in den Adern kreisenden Blut. Man könnte sagen: Die göttlim-apostolisme Paradosis steht der Kirche "gegenüber" ähnlim wie der Mensm, einmal als Mensch geboren, seinem menschlimen Wesen gegenübersteht und darin die Norm für sein Handeln vorgezeichnet findet; er kann sein Wesen verwirklichen10 oder aum nimt, während die Kirmeder ihr vorgegebenen Wesenskonstitution stets entsprimt. Sie verwirklicht ihr Wesen "im wesentlichen" immer, kann gar nicht "unkirchlich" handeln (wie der Mensch ja unmenschlim handeln kann, aber sein Wesen verleugnet dabei), da eben gerade dazu ihr der göttliche Beistand gegeben ist, daß sie ihrem- vorgegebenen!- Wesentreu bleibe. Der Vergleich gilt also nur soweit, wie wir sagen, der einzelne Mensch "ist" nicht sein Wesen, nimt seine Natur, sondern hat sie zu verwirklichen11 .1n diesem I Sinne ist die Kirche nicht Offenbarung, Paradosis etc., sondern hat sie in sich, trägt sie durch die Zeit, schützt sie, bewahrt sie und verkündet
sie. - Damit haben wir im Grunde nur einen anderen Vergleim herangezogen, der die gleime Konsequenz wie Söhngens Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand eröffnet: Die Kirche kann der ihr übergebenen Paradosis wirklich gehorsam sein, da diese ihr gegenübersteht und nimt unterschiedslos und ununterscheidbar in ihrem Eigenleben aufgegangen ist. In der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit des kirchlich-menschlichen Eigenbewußtseins (und Eigenlebens als soziologischem Gebilde) von der ihr anvertrauten Paradosis zeigt sich bereits die Bedeutung der Tatsache, daß die göttiim-apostolische Oberlieferung • Enzyklika "Mystici corporis", n. 85. Vgl. art. "Anfang" (A. Darlapp): LThK 11, 5~ ff., und art. "Anthropologie" (1. ScJunid, A. Halder, K. Rahner), ebd., 604 ff. 11 Man könnte wohl auc:h sagen, daß Gott allein im strengen Sinne "ist". Der Mensch "wird", indem er ständig darauf aus ist, sein Wesen zu verwirklic:hen. Erst im Endzustand des Seins in Gott kann man sagen: Auc:h der Mensc:h "ist". Ahnlimes kann man von der Kirc:he sagen: Sie "ist" eigentlic:h noc:h nid:lt, sondern sie streckt sic:h ständig darauf aus, einmal in Vollgestalt die zu "sein", die Christus will als Braut ohne Fehl und Makel. Mensch und Kirche stehen unter dem Gesetz des Werdens, da sie ihr vorgegebenes Wesen noc:h zu verwirklimen haben und es noc:h nic:ht ohne Rest "sind". Damit ist nichts gegen die Göttlic:hkeit der Institution oder gegen das schon jetzt (analog, aber wirklim) realisierte "Sein" der Kirc:he gesagt: ein in der Zeit noc:h werdendes, aber auch sc:hon wirklimes Sein. Sie "ist" Leib Christi, indem sie stets neu und immer mehr Leib Christi "wird", um (im Telos) dann nur noc:h Leib Christi zu sein. 11
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nicht als ständig neu erzeugter Inhalt (im Sinne Söhngens) des in der Kirche waltenden Glaubensbewußtseins weitergetragen wird, sondern als vorgegebener, stets anzueignender und bis zum Zeitenende nie allseitig und völlig (bewußtseinsmäßig) angeeigneter Gegenstand überliefert wird. Daraus ergibt sim als weitere Folge jene Funktion der schriftgewordenen Paradosis gegenüber der mündlichen Tradition, die Söhngen so beschreibt: "Das apostolische Lehrwort (hier gleich: die apostolische Verkündigung) als bewußtseinsunabhängiger Gegenstand der kirchlichen Oberlieferung macht uns den tiefsten Grund sichtbar, warum wir außer der mündlichen Oberlieferung noch eine zweite und ebenfalls selbständige Quelle für unsere Erkenntnis der Offenbarung besitzen in der Heiligen Schrift. Ohne das Schriftwort würde das Gegenübersein des apostolisd:ten Lehrwortes in die reine Bewußtseinsgegebenheit der Oberlieferung aufgehen ... Das Schriftwort ist vergegenständlid:ttes Apostelwort, objektiviertes, nicht nur objektives wie das mündlid:t überlieferte ... Oberlieferung bedarf der Vergegenständlid:tung durd:t Geschriebenes, damit die Gegenständlichkeit des überlieferten klar und deutlich werde. Was wäre auch Oberlieferung ohne klare und deutliche Gegenständlid:tkeit?" 12 Was hier ein Bedürfnis der Oberlieferung genannt wird, meint denselben Sachverhalt wie Scheebens Rede von der relativen Notwendigkeit der Schrift. Gerade um der Reinerhaltung der mündlichen Oberlieferung willen ist die Schrift nötig13 - I immer noch abgesehen von 11 G. Söhngen, Oberlieferung und apostolische Verkündigung: Einheit in der Theologie, 322. 11 Eine aufschlußreiche Ansicht finden wir bei Job. Chrysostomus vertreten: Einerseits legt er den Hörern seiner Predigten dringend ans Herz, doch die Heilige Schrift zu lesen, nicht nur oberflächlich, sondern mit Eifer, ja als "Heilmittel für eure Seele"; wenigstens das NT sollen sie sich anschaffen oder den Apostel, denn die Schrift sei wie eine gute Hausapotheke, in der für die Seele Trost, Mut, Kraft, Heilung und das wichtigste Hilfsmittel zum Oberstehen der Drangsal zu finden ist (Kolosserkommentar, 9. Homilie; MG 62 [Chrys. XI], Sp. 359-361); "Die Heilige Schrift macht den Sünder gerecht ... " (Zu Ps. 49; MG 55 [Chrys. V], Sp. 251, zit. bei Soiron, Das hl. Buch, Freiburg 1928, S. 7), verscheucht seine Bosheit und bringt die Tugend zur Reife etc. Andererseits sieht er die lD. Schrift nur als einen Notbehelf an: Eigentlich müßte das von Gottes lD. Geist in unsere Herzen geschriebene Gesetz genügen zu einem christlichen Leben. Ent als die Juden in den Abgrund der Sünde gestürzt waren, "da gab Gott ihnen Schriften und Gesetztafeln zur mahnenden Erinnerung". Auch die Apostel erhielten nichts Geschriebenes, sondern die Gnade des lD. Geistes. "Nachdem aber die Christen im Laufe der Zeit auf Abwege geraten waren, die einen in Glaubenssachen, die anderen in ihrem Lebenswandel, da bedurfte es wiederum der Ermahnung durch das geschriebene Wort" (Matth. Komm., 1. Homilie; MG 57 [Chrys. 7, 1], Sp. 1~14). So sieht also ein Kirchenvater die "relative Notwendigkeit" der Schrift als Schrift begründet in dem Faktum der Bosheit des menschlichen Herzens, das nicht, de facto nicht imstande ist, die göttliche Paradosis unverfälscht zu bewahren und rein und lauter weiterzugeben: eine Mahnung für uns Katholiken, die Bedeutung der Trad. als
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ihrem inspirierten Charakter. Auf keine Weise kann besservor Augen geführt werden, daß die Kirche im Gesamt ihrer Lebensvollzüge, Verwirklichungen und (der in ihr webenden) Bewußtseinsinhalte nicht einfach identisch ist mit der ihr vertrauten Paradosis als eben durch die Tatsame, daß diese Paradosis in eine schriftliche Gestalt eingegangen ist, die wegen ihrer Schriftlichkeit besonders deutlich das Gegenübersein von Kirche und Paradosis manifestiert1'. Wir sehen, wie unlösbar die schrift.lime Paradosis mit der mündlichen verbunden ist, wie sehr einerseits die Selbständigkeit beider betont werden mußU und wie sehr andererseits auch ihre Zusammengehörigkeit zu berücksichtigen ist. Wie die Oberlieferung der Vergegenständlimung durm Geschriebenes bedarf, so bedarf auch die Schrift "der Verlebendigung durm das gesprochene Wort der Uberlieferung, damit der vergegenständlichte Geist des Schriftwortes gleid:l.sam. aus seiner Vergegenständlichung heraustrete und wieder gegenwärtig redender Geist werde. Denn was wäre die Schrift, wenn der ursprüngliche Geist ihrer Worte nicht mehr lebendig gemacht würde?" 1' Dies alles gilt unter vorläufigem Absehen von der Inspilration der Schrift, allein auf Grund der inneren Zusammengehörigkeit von Mündlichem und Schriftlichem, wenn es sich um Oberlieferung han-
delt. Was aber hat es nun zu bedeuten, daß jenes "Schriftliche" die Gestalt eines Kanons angenommen hat? selbständiger Glaubensquelle nicht so weit zu übertreiben, daß die Schrift dann für uns keinerlei "Beweiskraft" zu tragen scheint, wie uns von H. Diem vorgeworfen wird (Dogm. 41, 187; Grundfragen der biblischen Hermeneutik [ThEx-NF 24], München 1950, 5 ff.; Der irdische Jesus und der Christus des Glaubens, Tübingen 1957, 4). Die Paradosis wird in der Kirche weder bewahrt noch weitergeleitet ohne die Schrift. Sie wird auch nicht ohne die Schrift erkannt als göttliche Paradosis. Vgl art. Biblische Theologie: LThK 111, Abschn. m Biblische Theologie und Dogmatik in ihrem wechselseitigen Verhältnis (K. Rahner). lt Daß die Kirchetrotz allem mit Recht "Fortsetzung der Inkarnation" und sichtbare Darstellerin der Offenbarung, Leib Christi und Hort der Offenbarung genannt werden kann, ist damit nicht geleugnet, sondern gerade behauptet und dogmatisch ermöglicht: Weil ihre eigenen Lebensvollzüge, die gewiß auch menschlicher Art sind, nicht mit der ihr anvertrauten Offenbarung identisch sind, ihre eigene Tradition nicht schlechthin die göttlich-apostolische Paradosis ist, kann die Kirche die Oberlieferung darstellen, verkörpern, Aussagen über sie machen, sie predigen und Menschen durch sich selbst zu ihr hinführen. Sonst wäre die in ihr lebendige Paradosis nur ihre Tradition, die Tradition der Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt. So aber repräsentiert kirchliche Tradition die göttliche Paradosis und kann mit ihr in gewissem Sinn (indirekt) "identisch" genannt werden: insofern sie jene repräsentiert und wirklich ausdrückt, "ist" sie die göttlich-apostolische Tradition im dargestellten Sinn. 11 Das berühmte "et" des Tridentinums D 783, Zeile 12, findet hier eine dogmatische Begründung: Es driickt das notwendige Gegenüber aus. 1• G. Söhngen, Oberlieferung und apost. Verkündigung: Einheit in der Theologie, 323.
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2. Der Kanon der Schrift und der Kirche Die relative Notwendigkeit der schriftlichen Darstellung der göttlich-apostolischen Paradosis, zu deren Ausbreitung die Kirche sich gegründet weiß, läßt - angesichts der Tatsache, daß ja auch Schriften verfaßt werden konnten und wurden, die nicht jene Paradosis zum Ausdruck bringen- die auf Leben und Tod zielende Frage entstehen, ob und wie sich denn die Kirche gegen eine Verfälschung ihres vorgegebenen Wesens abzugrenzen vermag. Wie kann sie jene Schriften, welche die ihr mit auf den Weg gegebene Paradosis rein darstellen, eindeutig scheiden von anderen, welche pseudo-kirchliche und pseudochristliche Phänomene (wie sie bereits zu apostolischer Zeit etwa in Karinth, Thessalonich, Kleinasien und Jerusalem auftauchen) propagieren wollen? Und vor allem: Wie kann die Kirche zur Erkenntnis der in ihrem Raum maßgeblichen, ihre Paradosis rein darstellenden und ihre Verkündigung für alle Zukunft bindenden Schriften überhaupt kommen? Und wenn jenen Schriften der Charakter eines verbindlichen Kanons, diesem Kanon folglich der Rang eines Dogmas zukommen soll, auf welche Weise mag dann die Kirche erkennen, daß auch dieses Dogma ihr von Gott geoffenbart worden ist? Was sich historisch ausmachen läßt, haben wir kurz zusammengefaßt (§ 2). H. Diem drückt das so aus: "Man kann hier historisch nichts anderes feststellen als eine Wechselwirkung zwischen dem sich selbst durchsetzenden Schriftkanon und der durch die Verkündigung dieses Kanons konstituierten und diese umgekehrt wieder autorisierenden Kirche. " 17 Dogmatisch müssen wir etwas weiter ausholen: Gott offenbart sich den Menschen innerhalb einer bestimmten raumzeitlichen Spanne und stiftet eine ebenso raumzeitlich greifbare Kirche zu dem Zweck, diese einmalige Offenbarung allen Zeiten und allen Landstrichen unverfälscht, rein, ohne Zutaten und Abstriche weiterzugeben. Dieses Handeln Gottes ist (heils-)geschichtlicher Art und bringt bestimmte die Kirche konstituierende Verwirklichungen hervor, deren letzter und eigentlicher Urheber er selbst ist, obgleich er dabei auch Menschen in Dienst nimmt, die in jener Stiftungszeit leben. Dieses Stiftungshandeln Gottes begründet "ein einmaliges, I qualitativ nicht weitergehendes Verhältnis zur ersten Generation der Kirche, das er (Gott) nicht im selben Sinn zu anderen Perioden hat (oder besser: nur durch jene zu diesen)" 18 • "Der Akt derStiftungder Kirche ist also (terminativ) qualitativ anders als der der Erhaltung" (ebd.). Späterhin 17
18
H. Di.em., Dogmatik, 180-181. So Karl Rohner in: Ober die Sc:hriftinspiration: ZKTh 78 (1956), 153, siehe
dort auch die ausführlichere Begründung. Der Artikel erschien in erweiterter Form als Heft 1 der Reihe "Quaestiones disputatae" (Freiburg 1958) und wird nun nach dieser Ausgabe zitiert (obiges ZitatS. 51).
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erhält Gott das, was er einmal gestiftet hat, und er erhält es darum, weil er es einmal so und nicht anders stiften wollte. Von uns aus gesehen: Die Urkirche (deren Stiftung selbstverständlim innerweltlim nicht auf einmal, an einem Datum, geschah, sondern eine gewisse "Zeit" beanspruchte; daher: Urkirche = Kirche im Werden, im Entstehen ihrer konstitutiven Elemente) ist nicht nur die zeitlich erste Periode der Kirchengeschichte, sondern jener allmählich (auctore Deo) alle wesentlichen Elemente herausbildende Grund, jenes maßgebende Fundament, jener Maßstab ("Kanon"), auf dem alles Spätere gründet und an dem es gemessen werden muß. "Zu den Konstitutiven dieser Urkirche als des qualitativ einmaligen Werkes Gottes und als des bleibenden ,kanonischen' Ursprungs für die spätere Kirclle gehört nun auch die Scllrift. " 111 Diese Schrift, in der die göttlich-apostolische Paradosis bleibend fixiert ist, gehört einerseits mit zu den durch Gottes Urheberschaft gesetzten (Deus auctor!) VerwirklichUDgen seines Stiftungswillens (darin gründet die Tatsache der Inspiration), und ist doch andererseits ein Lebensvorgang der Urkirche selbst, die ihren Glauben, ihre Predigt, ihre mitgegebene Paradosis, ihre (wenn auch noch so "zufälligen") Lebensäußerungen dorthinein ausdrückt - und darum vermag die spätere Kirche jene Schriften der Urkirche auch als ihren Kanon zu erkennen. "Indem die Kirche (gemeint ist die Urkirche) ihre Paradosis, ihren Glauben und ihren Selbstvollzug schriftlich konkretisiert, also Schrift in sich bildet, wendet sie sich als die maßgebende Urkirche an ihre eigene Zukunft, und umgekehrt: indem sie sich als das maßgebende Gesetz, nach dem alle Zukunft der Kirche angetreten ist, für diese Zukunft konstituiert, bildet sie Scllrift" (Rahner, ebd. 56-57). Da die Urkirche als solche Maß, Richtsmnur und eben "Kanon" für alle künftige Kirche istweil ja Gottes Handeln hier heilsgeschimtliche Konktretheiten ein für allemal neu hervorbringt -,können überhaupt die sich damals herauskristallisierenden konstitutiven Elemente der Kirche jenen für alle Zukunft maßgebenden, also kanonischen Charakter haben. Neben anderen Elementen (Sakramente, Prielstertum, Sukzession, Paradosis, Geistempfang, göttliches Recht, gesellschaftliche Struktur der Kirche und Primat z. B.) gehört nun dazu "unbeschadet des Vorrangs der mündlichen Paradosis in der noch werdenden Urkirche, welche mündliche und doch autoritative, also unfehlbare Paradosis der Scluift vorausgeht, nach dem freien, aber sachlim verstehbaren Willen Gottes auch die Schrift" (Rahner, ebd. 55). Weil es die Schrift der Urkirche ist, diese Urkirche aber in besonderem Maß die Garantie der reinen Selbstdarstellung und der reinen Darstellung ihrer Paradosis hatte, darum ist diese Scluift Kanon schlechthin. 11
K. Ralmcr, über die Sduiftinspiration, 55.
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Uns bleibt die Frage, wie die spätere Kirche diesen Kanon erkennen konnte. Denn die apostolischen Schriften, die um ihrer Verfasser willen Geltung in der Kirche hatten, und die Schriften ihrer Schüler, die um der inhaltlidlen Obereinstimmung mit der überlieferten Glaubenspredigt in der Kirche Ansehen genossen, waren ja nicht von vomherein zum Kanon zusammengefaßt, noch war die Kanonizität der einzelnen Schriften jederzeit unbestritten. Die Kirche konnte zur Erkenntnis der Kanonizität (und lnspiriertheit) dieser Schriften nur durdl Offenbarung!O gelangen. Eine explizite, satzhafte Mitteilung ist uns nicht bekannt21 , bleibt also nur eine implizite Offenbarung. Daß diese vorliegen muß, dafür bürgt dem Katholiken das Lehramt, das ja sonst den Kanon nicht hätte definieren könnenn. Aber wie ist sie (historisch und dogmatisch) einsichtig zu machen? Nach Rahnen These, der wir auch hier folgen wollen, können wir so sagen: "Diese (ursprüngliche, noch nicht reflex satzhaft gewordene) Offenbarung geschieht einfach dadurch, daß die betreffende Schrift als echter Wesensvollzug der Urkirche entsteht ( ... ). Die sich selbst darlbietende Tatsache (die durch ein übernatürliches heilsgeschichtliches Wirken Gottes gesetzt ist) kann dann auch in nadlapostolischer Zeit noch reflex erfaßt und ausgesprochen werden, ohne daß dadurch eine neue Offenbarung geschieht ( ... ). Die vom Geist erfüllte Kirche erlaßt in "Konnaturalität" etwas unter den Schriften als das ihr Wesensgemäße. Ist es dann noch gleichzeitig "apostolisch", d. h. ein Stück des Lebensvollzugs der Urkirche als solcher und als solches erlaßt, dann ist es unter den in unserer Theorie gemachten Voraussetzungen eo ipso inspiriert" und kanonisch (174 f.). M Alle historisdlen Urteile und Kriterien, die protestantisdlerseits vorgetragen werden- sei es ein Rechnen mit Generationen, sei es Rede von Ursprünglichkeit, Originalität, zeitlicher Frühe etc. -, können ja doch nur eine hütorüche Vorordnung dieser Sduiften gegenüber später entstandenen herausbringen, nie aber eine dogmo.tische, mit Absolutheitsanspruch Glauben fordernde und das Künftige resolut beurteilende Kanonizität. 11 Zumal es "historisdl wahrscheinlich" ist, daß ein Apostel von seiner eigenen Inspiriertheit, beim Philemonbrief etwa, nichts wußte; wie wäre eine Mitteilung über einzelne Schriften und ihre Kanonizität zu denken, geschweige denn für den ganzen Kanon? Vgl. Rahner, ebd. 55. 11 B. Brinkmann SJ meint, daß die kirchliche Kanonfeststellung nur die Konstatienmg einer dogmatisdlen Tatsache (wie es etwa die Rechtmäßigkeit eines Konzils aum ist) und kein Dogma sei, also gar nicht (auch nicht einsdllußweise) auf Offenbarung zurückgeführt werden muß. Er unterscheidet die Zugehörigkeit einer Sdlrift zum Kanon (darüber entsdleidet die Kirche kraft ihrer Unfehlbarkeit als über eine dogmatische Tatsame = Kanonizität in actu secundo) und der Inspiration und der (mit ihr) gegebenen Kanonizität (in actu primo): die Erkenntnis der letzten Eigenschaften einer Sduift führt auch er auf Offenbarung zurück. Vgl. B. Brinkmann SI, Inspiration und Kanonizität der ID. Schrift in ihrem Verhältnis zur Kin:he: Scholastik 33 (1958), 208--233, bes. 214 f., 230 ff.
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In unserer (in Kap. li § 6 dargestellten) Terminologie können wir noch genauer bestimmen: Die Kirche hat zu der ihr mitgegebenen und in ihr durch göttliche Setzung stets weitergetragenen Realtradition, zum Gegenstand des in ihr dadurch lebendigen Glaubens, einen unrefle:x:en oder bewußten, jedenfalls aber wirklichen Sachbezug23. Sie "hat" also in gewissem Sinn die Sache selbst, ihr Wesen und ihre Paradosis. Sie hat dies alles gewiß auch durch die in ihr gebrauchten, gültigen Formulierungen der Verbaltradition (Glaubensformeln, regula fidei etc.), aber dadurch hat sie einen wirklichen Bezug zu dem, was wir Realtradition nannten. Und daraus vermag sie zu erkennen, was diesem ihrem Wesen gemäß ist, was dieses ihr Sein wahr, rein, lauter, ungetrübt und eben "sachgemäß" ausdrückt, was ihrer "Natur" gleidtsam "konnatural" ist. Darum kann sie den Kanon als die ihrem gottgesetzten Wesen gemäße, ihre empfangene und weiterzugebende Paradosis richtig darstellende Ausdrucksweise erkennen, so wie sie sich selbst eben durch die in diesem Kanon dargestellte göttlich-apostolische Paradosis von Gott gegründet weiß. Endigt damit die von Diem historisch und von uns nun audt dogmatisch konstatierte Wechselwirkung zwischen Kirche und Kanon in einem circulus vitiosus? Sind wir damit in einen ähnlichen Zirkel geraten,
den Karl Barth für seine Konzeption "die Bibel ist das Wort Gottes" als eines analytischen Satzes zugegeben hat (KD I, 2 S. 595)? Nein; denn es handelt sich ja nicht nur um eine Wechselwirkung zwischen Kirche und Kanon allein, sondern zwischen Kirche, Kanon und dem beide, eins durch und in dem anderen setzenden Gott. J. Görres hat eine gute Formulierung dieses Problems gegeben: "So wäre daher auch die katholische Kirche in einem falschen, logischen Schluß der Art wirklich verstrickt, wenn sie sagte: Ich habe mich I gesetzt, um durch mich die Schrift zu bewähren, und mich setzend, habe ich die Schrift gesetzt, um an ihr meine Gewähr zu finden. Da sie nun aber sagt: Gott hat mich gesetzt, und durch mich äußerlich die Schrift, in der Schrift aber innerlich mich; so schwebt dies Wechselzeugnis keineswegs grundlos im Leeren, in einem nichtigen Hin und Her Fristung suchend, sondern es ist auf dem höchsten und obersten Erkenntnisgrundfest begründet, und die Kirche drückt damit die prinzipienhafte Natur ihres Wesens in treffendster Weise aus. " 2' Auf den Kanon bezogen: Gott ist es, der die Kirche gesetzt, und durch die Kirche 11 Vgl. K. Rahner, Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 195+, 61. 64. - Der recht gegenständlich-objekthafte Ausdruck sollte nicht vergessen lassen, daß es sich im Gnmde um die Beziehung zu einer Person (Logos, Pneuma) handelt. Es ist aber weniger die psychologische und reflexe Seite dieses Bezuges, sondern zuerst die reale, ontische und - insofern "sachliche" - Seite anvisiert. 14 J. von Görres, Die Triarier, Regensburg 1838,69-70 (Hervorhebung von mir).
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setzt er äußerlich den Kanon25 , und in dem Kanon ist wieder das Zeugnis der Urkirche über die Kirche enthalten, im Kanon setzt Gott die Kirche. -Sobald diese Dreiheit (Gott-Kirche-Kanon) um ein Glied verringert wird, muß ein logisch und dogmatisch verfänglicher Zirkelschluß herauskommen: Wird die Kirche (Urkirche und spätere Kirche) ausgeschieden, dann erscheint die Schrift (dogmatisch- trotz der historischen Mitwirkung von Menschen) als ein schier unverstehbar vom Himmel gefallenes und nun rein menschlicher Nutzung (und Willkür) preisgegebenes "bonum derelictum." 28 Wird dagegen Gottes Kirche und Kanon durch- und ineinander setzende Funktion übersehen, dann müßte das "Wechselverhältnis" so gesehen werden, daß die Kirche erst den Kanon hervorbringt und dann anerkennt, sich selbst aber nur durch den von ihr erzeugten und mit Autorität versehenen Kanon beglaubigen und ausweisen kann27 • Nur die ungekürzte und (wie oben) differenzierte Dreiheit von Gott-Kanon-Kirche (und Gott-Kirche-Kanon, gemäß der Görres'schen Unterscheidung innerlicher und äußerlicher Setzung) scheint eine dogmatisch befriedigende Bestimmung der "Wechselwirkung" zu ermöglichen. - Gerade daraus ist nun auch erklärlich, daß es sich bei der Aufstellung des Kanons durch die I Kirche und ihrer Erkenntnis des Kanons vermittels der ihr eingebildeten göttlich-apostolischen Tradition (Verbal- und Realtradition) nicht um eine für den Kanon lebensgefährliche Umklammerung durch kirchliche Tradition handeln kann. Was tut die Kirche, wenn sie den Kanon aufstellt? Sie erlaßtreflexund ausdrücklich, promulgiert und bekennt sich zu den unter Gottes Autorschaft in ihr entstandenen Schriften als zu dem ihre Paradosis gültig aussprechenden Kanon. Sie registriert den von Gott (implizit dmch die de-facto-Entstehung dieser Schriften in derbereits "Kanon" seienden Urkirche) offenbarungsmäßig gegebenen Kanon als das von 11 Indem er Vertreter der Urkirche zu den menschlichen Verfassern seiner Schrift mamt, die Kirche aber diese Schriften als ihre Wesensäußerungen und damit als Kanon erkennen läßL " Scheeben, Dogmatik I, n. 257; man kommt auch bei Barth nicht ganz um diesenEindruck herum: Er übertreibt das Gegenüber so sehr, daß die Schrift nach ihm zwar die Kirche "begründet", "begrenzt" und "konstituiert" (KD I, 2, 600), aber gleichsam als ein der Kirche nur gegenüberstehendes, immer außerhalb ihrer bleibendes Prinzip. Mit Bultmanns Worten müssen wir ihn fragen, wie er denn den historischen Befund, daß die Bibel auch eine "original christliche Schöpfung" (Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 19571, 398) ist, dogmatisch zu verwerten vermag. 17 Dann bestünde auch das von protestantischen Augen gesehene Zerrbild der katholischen Position zu Recht, wonach die Kirche (mit ihrer Tradition) erst die Schrift garantiert, um sich dann von der Schrift beglaubigen zu lassen - und umgekehrt; vgl. Barth, KD I, 2, 595 (Kleindruck); H. Rückert, Schrift, Tradition und Kirche, Lüneburg 1951, 8; vgl. dagegen Scheeben, Dogm. I, n. 414, u. a.
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nun an auch explizit gültige Gesetz, nach dem sie für alle Zukunft angetreten ist18• Und nochmals: Woher weiß die Kirche das? Wie vermag sie das zu erkennen? Sie bezeugt und erkennt den Kanon als ihren Kanon a) aus dem lebendigen Sachbezug, den sie zu der in ihrem Schoß und mit ihr selbst geschehenen "Sache" der göttlichapostolischen Paradosis, der Realtradition, hat, und b) aus der in ihr bis dahin bereits gültigen, normativen göttlich-apostolischen Verbaltradition (Glaubensformeln, regula fidei, Credo). In diesem Sinne ist richtig, daß die Kanonfeststellung der Kirrhe ein (authentisches) Registrieren des sich aufdrängenden, sich imponierenden Kanons ist und daß es sich dabei um ein "Glauhenszeugnis" der Kirche im "Glaubensgehorsam" gegenüber Gottes Wort handelt". So verstanden, können wir auch E. Kinders Satz bejahen: "Die Umgrenzung des Kanons ist eine Glaubensentscheidung der Kirche, ein Bekenntnisakt der Kirche aus innerer Verbundenheit mit dem Sachgehalt der Schrift. " 30 Auf unserem Hintergrund läßt sich auch Otto Weber akzeptieren: Die Kirche "hat für das, was in der Fülle der überlieferten Schriften ,original' war (wir: ihre ,origo' wesensgetreu wiedergibt), ein eigentümlich sicheres Gemerk besessen31 ". Aber wohlgemerkt: Jenes "eigentümlich sichere Gemerk" und jene "innere Verbunden-
heit mit dem Sachgehalt der Schrift", welche der den Kanon festlegenden Kirche eigen ist, wird man auf protestantischer Seite wohl nicht hinreichend erklären können ohne die Anerkennung einer normativen Glaubenstradition, auf welche die Kirche gleidlsam reflektierend zurückgreifen kann, wenn sie sichangesichtsder (durm Jahrhunderte hindurch um Ansehen ringenden) Kanonizität begehrenden Schriften vor die Frage nach ihrem Kanon, nach I ihrem Grundgesetz gestellt sieht31• Wer die historische Entwicklung im Auge hat und nicht von vornherein auf eine dogmatische Verbindlichkeit des Kanons verzichten will, muß das wohl zugestehen.
K. Rahner, Ober die Schriftinspiration, 57. K. Barth, KD I, 2, 532 sowie 525; vgl. auch I, 1, 110. 11 E. Kinder, Ein Wort lutherischer Theologie zur Entmythologisierung, München 1952,42. 11 0. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen 1955, 285. 11 Unserer Auffassung sehr nah scheint Peter Brunner zu stehen: Das NT "repräsentiert" die apostolische Quellgestalt des Evangeliums. Die Bildung der Schriften gesdlieht nicht "in einem verkündigungsleeren Raum". "Nur die Kirche, in der das mündliche Zeugnis der Apostel tatsächlich weitergegeben wurde, konnte ein Urteil über den kanonischen Charakter einer der in Frage stehenden Schriften fällen." Kanon- und Dogmenbildung sind analoge Vorgänge: beide Male "wirkt der Geist durch das Mittel des apostolischen Evangeliums"; Umrisse einer Lehre v. d. Autorität der Hl. Schrift: ELKZ 9 (1955), 136. II
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Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf?• I
Die Relativierung des Kanons zu Beginn unseres Jahrhunderts ging nicht von der Exegese des Neuen Testaments, sondern von der Kanonsgeschichte und von der Einleitungswissenschaft aus. Die damals erarbeiteten und seither nicht wesentlich modifizierten Erkenntnisse müssen mitbedacht werden und daher eingangs hier wenigstens lrun zur Sprache kommen, wenn der heutige, speziell exegetische Aspekt der Kanonsfrage nachher ausführlich behandelt werden soll. Die Ergebnisse der Kanonsgeschichte sind folgende 1• Der Kanon des Neuen Testamentes ist allmählich entstanden. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts gelten unsere 4 Evangelien als Schrift; aber noch Clemens Alexandrinus, behutsamer Origenes, benutzen auch apokryphe Evangelientexte. Neben den 4 Evangelien steht um 200 p. mit gleicher Autorität ein Corpus von Briefen, die hauptsächlich dem Paulus zugeschrieben werden und die als apostolisch gelten. Aber diese Autorität ist jüngeren Datums als die der Evangelien, sie ist dem Briefcorpus erst in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts zugewachsen. Das zeigt sich aum darin an, daß bei dieser zweiten Autorität die Zahl der Schriften noch umstritten ist: der zweite Petrusbrief, der zweite und dritte Johannesbrief kommen erst allmählich, zwischen Clemens Alexandrinus und Origenes, bei den Antiochenern noch viel später, als Schrift hinzu, und der syrische Kanon nimmt die katholischen Briefe zögernd erst nach 400 p. auf. Die Apokalypse des Johannes verliert nach Origenes, also seit der Mitte des 3. Jahrhunderts, im Osten ihr Ansehen I und gewinnt es erst seit dem Ende des 4. Jahrhunderts schrittweise zurück. Dem kirchlichen Westen dagegen gilt der Hebräerbrief, auch • Aus: H. Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1962, S. 310-324 (Erstveröffentlichung in: Fuldaer Hefte 12, 1960, 9-24). 1 Für die Kanonsgeschichte s. die diesbez. Arbeiten von Zahn, Harnack, Leipoldt und Lietzm.ann sowie die kanonsgeschichtlichen Abschnitte in den Einleitungen; instruktiv auch die historisdlen Rmunes in dem Aufsatz von W. G. K.üm.mel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 47 (1950), S. '1:17 bis 313.
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wenn er gelegentlich bekannt ist, bis zum Ende des 4. Jahrhunderts nicht als Schrift, weil man nicht Paulus als Verfasser annimmt; erst Hieronymus und Augustin erklären den Hebräerbrief als paulinisch und damit als Schrift. Der 39. Osterbrief des Athanasius aus dem Jahre 367 p., der als erstes Kanonsverzeichnis alle unsere 27 neutestamentlichen Bücher nennt, beschreibt also nicht den allgemeinen damaligen Status, sondern weist einen Weg, der in den nächsten Jahrzehnten erst allmählich begangen wird. Die Kräfte, welche hinter diesem allmählichen Werden des Kanons stehen, sind bekannt. Das Neue Testament selber kennt die Apostel und Prediger als geistbegabt. Aber ihren schriftlichen Äußerungen wird im Neuen Testament keine besondere Dignität zugeschrieben; sie werden gesammelt und immer wieder verlesen, wie es auch mit den Herrenworten geschieht, deren Form bis tief ins 2. Jahrhundert sehr frei behandelt wird. Ehe Evangelien und apostolische Schriften kanonisch werden, sind sie also regelmäßig gebrauchte und beliebte Vorlesungstexte; natürlich nicht alle in allen Teilen der Kirche. Das gilt auch von den apostolischen Briefen, die ihre Autorität neben den Evangelien zwar zögernder, aber eben auch auf Grund des praktischen Gebrauchs gewinnen. Mareions zweiteiliger Kanon hat die offizielle kirchliche Entwicklung, d. h. die Autorität von Kyrios und Apostolos, zwar beschleunigt, aber nicht überhaupt erst eingeleitet; hier ist Harnachs These zu modifizieren. Der allmähliche Übergang im Gebrauch der neutestamentlichen Schriften von Vorlesungsbüchern zu kanonischen, Schriftdignität besitzenden Büchern bringt eine Ausscheidung mancher Texte mit sich, welche verlesen wurden, welche aber die höhere Dignität nicht erreichten. Dieser Übergang vollzieht sich in den verschiedenen Gebieten in verschiedenem Tempo; noch der Sinaiticus, in Ägypten in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts geschrieben, enthält hinter den 27 Büchern des Neuen Testaments den Barnabasbrief und den Pastor Hermae. Das große Kriterium für jenen Ausscheidungsprozeß ist die apostolische Verfasserschaft einer Schrift; auch wenn man in diese apostolische Verfasserschaft die Apostelschüler einbezog, so war damit eine gewisse zeitliche Nähe zur ersten und zweiten Generation für die Verfasser postuliert. Dieser Ausscheidungsprozeß gewinnt schließlich seine Dringlichkeit in den Auseinandersetzungen mit der häretischen Gnosis. I Man wird also resumieren müssen: der Kanon ist in seinen Hauptblöcken, den Evangelien und dem Corpus Paulinum, altesVorlesungsgut, das schon im 2. Jahrhundert gottesdienstlich verwendet wurde; hier hat die Kanonisierung seitens der Kirche Vorhandenes nur bestätigt. Das gilt aber nicht von den Randstücken, dem Hebräerbrief, einem Teil der katholischen Briefe und der Apokalypse; hier hat die
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Kirche im 4. und 5. Jahrhundert dekretiert, hier hat nicht, wie Diem2 in Anlehnung an Barth meint, die Kanonsabgrenzung sich selber durchgesetzt. Der Kanon ist also allmählich entstanden; seine Abgrenzung in den Randstücken war bis ins 5. Jahrhundert umstritten; der definitive Charakter dieser Abgrenzung ist kirchliches Dekret. Geradeangesichts dieses unbestreitbaren Ergebnisses der Kanongeschichte meinte man, einer Relativierung des Kanons in der Theologie zu Beginn unseres Jahrhunderts nur wehren zu können, wenn man den leitenden Gesichtspunkt, unter dem die Kirche seit dem zweiten Jahrhundert die Schriften gesammelt, ausgeschieden, als Vorlesungsliteratur benutzt und dann kanonisiert hat, um so stärker herausstellte: die apostolische Verfasserschaft. Die Einleitungswissenschaft jenerJahrzehntesteuerte dem Relativierungsprozeß, in den der Kanon hineingezogen war, durch den Versuch des Nachweises, die 27 Bücher seien "echt", d. h. sie stammten von den apostolischen Verfassern, deren Namen sie tragen, und sie gehörten somit in die älteste Zeit. Th. Zahn z. B. hat sein Werk in dieser Sicht getrieben. Man muß sich den Ernst dieser alten Konservativen klarmachen. WaretwaJohannes als derZebedaideund Augenzeuge nicht der Verfasser des vierten Evangeliums, so war, wie Kähler, der diesen Standpunkt nicht teilt, mit Recht sagt, die Glaubensgrundlage beträchtlich getroffen. Von daher erklärt sich die Leidenschaft jener Generation in den Einleitungsfragen um die Echtheit; so müssen in der Sicht jener Grundhaltung viertes Evangelium und Apokalypse vom Zebedaiden, die Pastoralbriefe von Paulus stammen. In der heutigen Beliebtheit der Sekretärshypothese etwa für die Pastoralbriefe und den ersten Petrusbrief, in der Zuschreibung des J akobusbriefes an den Herrenbruder wirkt jene damalige Grundposition immer noch nach. Im Gegensatz zu dieser konservativen Grundhaltung I hat die liberale Forschung alten Stils im wesentlichen die apostolische Verfasserschaft der neutestamentlichen Schriften bestritten. Zwar nicht in allen Punkten hat sie dabei recht behalten. So hat sich z. B. die liberale Ansetzung des vierten Evangeliums in das erste Viertel des 2. Jahrhunderts durch die Auffindung von P 52 (Roberts) und von P Egerton als falsch erwiesen; das vierte Evangelium muß um 100 p. schon vorhanden gewesen sein. Aber im großen und ganzen ist jener konservative Versuch, die apostolische Herkunft aller Schriften des Neuen Testamentes nachzuweisen, durchaus gescheitert. Niemand mehr unternimmt ihn heute ernsthaft. Zwar ist damitnicht gesagt, daß deswegen heute der Kanon grundsätzlich als bedeutungslos gilt; aber H. Diem, Theologie als kirdiliche Wissenschaft, n. Dogmatik, 1955,8.179. M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblisc::he Christus', 1896, S. 8. I 1
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auf die apostolische Herkunft der Schriften wird man sich heute bei der Verteidigung des Kanons nidtt einmal mehr für die Evangelien, gesdtweige denn für die katholische Briefliteratur ernsthaft beziehen können. So nimmt denn audt ein so grundsätzlicher Befürworter des streng abgegrenzten Kanons wie H. Diem die Kanonsgesdlichte ruhig zur Kenntnis; nur läßt er im letzten Abschnitt mit dieser Gesdtichte, im 4. und 5. Jahrhundert, die dekretierende Willkür der Kirdte in den Hintergrund treten". Er kämpft auch nicht mehr- auf dem Boden der Einleitungswissensdtaft - streng für die apostolische Herkunft der einzelnen Schriften, sondern er betont- für historisch-kritische Argumente offen - bei der apostolischen Herkunft besonders die Einbeziehung der Apostelschüler5; was historisch-kritisch freilidt nur angeht, wenn man "Apostelschüler" sehr weit einfach als Glieder der 2.-4. Generation der Kirche faßt. Er gibt schließlich - historisdtkritisch gesehen mit Recht - jenen Gesichtspunkt der Alten Kird:J.e von der apostolischen Verfasserschaft grundsätzlich ganz auf, wenn er - sachlich ridttig - erwägt, die Abfassungszeit einer Schrift lasse sich als Kriterium für die Kanonizität überhaupt nicht verwenden, weil ältere Schriften unkanonisch geblieben, jüngere kanonisch geworden seien8 • Gerade die Argumentation dieses jüngsten Befürworters eines streng abgegrenzten Kanons macht deutlich: die Frage nadt dem Kanon ist eine Frage nach dem Inhalt des Kanons und nadt der Einheit dieses Inhalts geworden. Nicht mehr die Einleitungswissensdtaft, die Exegese hat nun in Fragen des Kanons das erste Wort. Hier stehen wir heute. I
II War für jene eben behandelte liberale Generation der Kanon letztlich deswegen unwesentlidt geworden, weil man den Gegensatz von Geist und Buchstaben fälschlicherweise als den Gegensatz der Innerlichkeit, des Herzensglaubens und der Äußerlichkeit der religiösen Autorität verstand und mit der ersten Seite das Rechte zu wählen meinte, so brachte das Inführunggehen der Exegese ein erneutes Hören auf die Inhalte des Neuen Testaments und zerstörte die lllusion, als lebte der Glaube vom Enthusiasmus des Herzens und nidtt von der Botsdtaft. Dies erneute Wichtigwerden neutestamentlicher lnhalte rückte für Jahrzehnte die formalen Fragen der Einleitung und der Kanonsgeschichte an den Rand des allgemeinen Interesses. Und doch ist das nur der täusdtende Außenaspekt der Lage. Das "Merken auf das Wort" triebes-in der religionsgesdtichtlichen Vergleichung und in der formgesdtichtlichen Analyse- im "Merken" nämlich so • H. Diem, aaO, S. 179.
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H. Diem, aaO, S. 175.
• H. Diem, aaO, S. 175.
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weit, daß das Neue Testament aus seiner Einheit sich in eine Vielheit von Schichten und Aspekten zerlegte. Diese Schichten und Verschiedenheiten betreffen gleichzeitig Schilderungen von Tatsächlichem wie auch theologische Aussagen. Die einzelnen Dinge fügen sich allermeist nicht, wie Mosaiksteine, zu einem bereicherten Ganzen zusammen, sondern bergen Gegenstände untereinander, welche, wird jede Seite für sich betrachtet, sich ausschließen. Das Neue Testament- so stellt es sich heraus - hat in zentralsten Stücken weder eine AussageEinheit hinsichtlich der tatsächlichen Vorgänge nom eine Lehr-Einheit hinsichtlich der Artikel des Glaubens. Die Frage des Kanons ist somit erneut aufgebrochen; diesmal nicht wie in der früheren Etappe von außen her in den formalen Fragen nam Verfasser und Abfassungszeit; sondern gefährlicher, von innen her, unter dem Gesimtspunkt der nicht vorhandenen Einheit, der unvereinbaren Gegensätze. Besteht die Behauptung der Uneinheitlichkeit des Neuen Testamentes zu Recht? 7 Der Sinn dieser meiner Ausführungen kann hier nicht der sein, daß ich nur eine Synopse über die Meinungen der heutigen Neutestamentler liefere. Hier kann nur jeder, den andern mithörend, in seinem Verstehen des Neuen Testamentes den eigenen Weg zu gehen versumen.l In den Ausführungen über das Gesetz, über die letzten Dinge, über Kirme und Amt, über die Christologie und über die Sakramente scheint es mir ausgeschlossen, eine wirkliche Einheit des Neuen Testamentes zu behaupten. Die folgenden Zusammenfassungen können in diesem Rahmen natürlich nur skizzieren, nicht detailliert beweisen. Die Lehre vom Gesetz. Jesus von Nazareth hat die üblichen Taraforderungen verschärft. Einige dieser seiner Verschärfungen sprengen den Rahmen des in der Tora Gebotenen: die Ablehnung jedes Schwurs und der Wiedervergeltung, das Gebot der Feindesliebe, das Verbot der Ehescheidung und der Besitzverzimt. Er hat die rituelle Reinheit vergleichgültigt. Er hat herausfordernd den Mitmenschen über den Kulttag gestellt; auch damit wird die Tora in ihren rituellen Teilen von Grund auf getroffen. Das alles wird bei ihm freilich nicht grundsätzlich als neues Lehrsystem proklamiert: die jüdische Konzeption vom Taragehorsam als dem Wege zum Lebensmeint bei ihm erhalten geblieben zu sein. Von innen her ist diese Konzeptiondom entscheidend angetastet: wenn gerade die Tarakorrektheit dazu führen kann, Gottes nicht mehr zu bedürfen, wenn J esus als Freund von Zöllnern und Sündern den religiös Deklassierten die Aufnahme ins Hier ist vor allem zu verweisen auf die Arbeiten von E. Käsemann, Begründet der neutestamentlühe Kanon die Einheit der Kirche?, EvTh 11, 1951/52, S. 13 bis 21; Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, ZThK 49, 1952, S. 272--296; Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, EvTh 12, 1952/53, S. 455--466. 7
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Reich verspricht und den korrekten Pharisäern das Gericht ansagt, so ist de facto die Toraals Heilsweg im innersten getroffen8 • Paulus ist in seiner Rechtfertigungslehre vom historismen Jesus nicht abhängig; denn er benutzt eine völlig andere theologisme Nomenklatur. Seine Re
S. H. Braun, Spätjüdisdl-häretisdler und frühchristlicher Radikalismus, 1957,
n, s. 5-61.
1 Zur Frage Paulus-Acta s. Ph. Vielhauer, Zum Paulinismus der Apostelgesdüchte, EvTh 10, 1950/51, S. 1-15.
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das Nichteintreffen der Parusie nur erst anfängliche Sd:J.wierigkeiten; später wird die erkannte Fehlrechnung Anlaß zu erheblichen Modi.fizierungen. Diese erfolgen in zwei Richtungen. Der Termin wird in ein ferneres Ende prolongiert: so in einzelnen synoptisd:J.en Worten, besonders im Lukasevangelium, in der Apostelgesd:J.id:J.te und dann, grundsätzlich formuliert, im zweiten Petrusbrief. Diese Linie ist in der weiteren Entwicklung die offizielle geworden. Oder der Charakter des zeitlich bevorstehenden wird ganz aufgegeben: jetzt, im Hören des Wortes, geschieht Gerid:J.t und Auferstehung. So das vierte Evangelium, in welchem aber ebenso wie im ersten Johannesbrief die zeitliche Linie in einigen Glossen nachgetragen und so das johanneisd:J.e Corpus der offiziellen Esd:J.atologie notdürftig amalgamiert wird. Das Neue Testament lehrt über die Eschatologie uneinheitlicb. Kirche und Amt. J esus von N azareth hat weder die Gründung einer Kirche und Gemeinde nod:J. deren Leitung durch Amtsträger im Auge gehabt. In der ersten Gemeinde wie noch in den paulinischen Gemeinlden gab es natürlid:J. Mensd:J.en, die für die Ordnung sorgten. Aber wenn aud:J. die zur Zwölferzahl dogmatisierten Begleiter Jesu in Jerusalem eine persönliche Autorität genossen, so lag anfangs die Zahl der Apostel nicht fest und war nicht gering, und ihre Funktion stellte keine institutionelle Beamtung dar. Die Einheit des Paulus mit dieser Jerusalemer Führung war spannungsgeladen. Das jüdisd:J.e Verfassungsdenken führt, zumal seit der Herrenbruder Jakobus die Leitung in Jerusalem übernommen hat, zur Institutionalisierung der Kird:J.e. Diese lnstitutionalisierung wird nun in die ersten Jahrzehnte und in die Zeit des Paulus- entgegen dem tatsächlichen Verlauf der Dinge - zurückgeblendet: nun haben die Zwölf die Oberaufsid:J.t (Apostelgesd:J.icbte), nun setzt Paulus Presbyter und Diakonen ein (Apostelgesd:J.id:J.te; Pastoralbriefe), nun kommt die Rede von den "heiligen Aposteln" als dem Grunde der Kird:J.e auf (Epheserbrief), nun gleicl:lt die spätere Betrachtungsweise (Apostelgeschichte) die ursprünglid:J.en Spannungen von Paulus und Drapostein aus. Die Lehre des Neuen Testamentes von Kircl:le und Amt ist dadurch bestimmt, daß die Leitung vom regulierenden zum konstituierenden Faktorl 0 wird. Die drei bisher besprochenen Kreise haben gezeigt: der fromme Anspruch erhebt wieder sein Haupt, die Naherwartung wird in die Prolongierung der Eschatologie aufgelöst, die Kirche versteht sieb am Ende des ersten Jahrhunderts institutionell. All diese Linien schießen zusammen in einem Statischwerden von Glaubensinhalt und Lehre: die "gesunde Lehre" der Pastoralbriefe, die "vorhandene 10
S. R. Bultmann, Die Theologie des Neuen Testaments, 1953, S. 443 f., 453.
15 Käscmann, Kanon
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Wahrheit" (II. Petrus 1, 12) und der "einmal überlieferte Glaube" (Judas 3) bestimmen das Bild der frühkatholischen Schriften des Neuen Testaments. Die Christologie. Auch der Bogen, den die christologische Entwicklung bereits innerhalb des Neuen Testamentes durcbmißt, ist denkbar weit gespannt11 • Die kritische Analyse der Synoptiker läßt es mir immer noch als die wahrscheinlichste Annahme erscheinen, daß J esus sich selber nicht als Messias proklamiert hat. Er verschärft die Tora bis zur Aufhebung. Daneben verspricht er dem am ha aarez den Eintritt ins Reich. Der Taraverschärfer-der Freund von Zöllnern und Sündern: diese Paradoxie ist das eigentliche Grundphänomen des Neuen Testaments. Die Bedeutung Jesu liegt also nicht bloß in seinem I Lehren, sondern auch in seinem Tun. Mit dem Osterglauben wird nun aber dies geltende, trotzder Kreuzeskatastrophe geltende Tun Jesu zunehmend ausgedrückt durch das, was er ist. Jesus bekommt Hoheitstitel. Zunächst die üblichen jüdischen: Messias, Menschensohn, vielleicht auch Gottessohn. Dann die hellenistischen: Kyrios, hellenistischer Gottessohn, Soter und ähnliche. Mit dem Obergang der Botschaft in die hellenistische Welt und mit der lngebrauchnahme der hellenistischen Titel für Jesus erfolgt ein handgreiflicher Würdezuwachs. Das Auferstehungskerygma wird bereichert durch das leere Grab und durch die dann zeitlich von der Auferstehung getrennte Himmelfahrt. Die Würde Jesu wird in seine Vita zurückgeblendet, bei Markus noch verdeckt, bei Matthäus und Lukas offener; im vierten Evangelium bildet das "Ich bin" dann das einzige Thema. Die Herkunft Jesu wird seltener mit der hellenistischen Parthenogenese (Lukas, Matthäus), viel häufiger mit dem gnostisch-dualistischen Präexistenzdenken der zeitgenössischen religiösen Strömungen beschrieben. Die Taufe Jesu gilt zunächst als Messiasweihe, dann als Messiasproklamation. Mit alledem soll die alte Frage der Hamackschen Ära, deren Beantwortung in den letzten 50 Jahren ja nur aufgeschoben wurde, von mir hier nicht verneinend beantwortet sein: ob Jesus von Nazareth ins Evangelium gehöre oder nicht. Er gehört hinein. Aber auch dann ist uns die Stellungnahme nicht erlassen zu der Frage: wenn Jesu Bedeutung sich in seinem Lehren gerade nicht erschöpft, liegt der Ton nun auf dem, was er tut, oder auf dem, was er ist? Sind seine Würdetitel nicht doch nur aus der Entwicklung zu verstehen, welche sein Tun zunehmend mit metaphysizierenden Seinskategorien beschrieb? Und dabei ist im Auge zu behalten: schon im Neuen Testament beginnt, wie die moralisierenden Aussagen über das Gesetz dartun, die Christologie als Lehre sich zu verselbständigen; 11 S. H. Brazm, Der Sinn der neutestamentlichen Christologie, ZThK 54, 1957, S. 341-377; wieder abgedruckt in: Gesammelte Studien, aaO, S. 243-282.
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schon im Neuen Testament hört sie auf, bloß Ausdruck für ein Geschehen zu sein. Die Christologie des Neuen Testaments ist in sich selber voller Spannungen. Die Sakramente. Auf jüdischem Boden ist die Taufe wesentlich Reinigungsbad zur Sündenvergebung, das Herrenmahl Tischgemeinschaft im Blick auf den baldigst kommenden Messias. Auf hellenistischem Boden wird die Taufemysterienhaft Anteilgabe an Tod und Auferstehung Christi, das Herrenmahl zum cpQQJ.LaXOV atavaata;. Nur ist Paulus, mit der hellenistisch-mysterienhaften Auffassung grundsätzlich einig, dabei bestrebt, das massiv-naturhafte Verstehen in einen aus dem Rechtfertigungsglauben fließenden rechten Wandel zu überlführen. Dazu kommt, daß das vierte Evangelium es wagt, auf die Begründung des Herrenmahls durch die Kultlegende von einem Stiftung werdenden letzten Mahle Jesu mit seinen Jüngern ganz zu verzichten. Die Spannungen auch in der Sakramentslehre des Neuen Testaments mögen damit wenigstens angedeutet sein. Ich breche hier ab, obwohl hier noch vieles Einzelne zu ergänzen wäre. Lassen sich diese bis in die ganz zentralen Aussagen des Neuen Testaments hineinreichenden Spannungen auflösen? Ehe wir dieser Frage nähertreten, mögen noch einige Antworten durchdacht werden, die sich mit der Frage des disparaten Kanonsinhaltes beschäftigen. Kümmel gelangt in seinem oben genannten Aufsatz letztlich zur Forderung des Kanons im Kanon 12 ; das halte ich grundsätzlich für richtig, zumal ich die Vehemenz der Spannungen innerhalb des Neuen Testaments offenbar kräftiger empfinde als er1 3 • Unbeschadet dieser Forderung meint er aber auch, eine gewisse zeitliche Nähe der neutestamentlichen Schriften zum Leben Jesu und zum Anfang der Kirche sichere diesen Sduiften ihren Glauben begründenden, Garantie gewährenden Charakter'. Das halte ich für abwegig; denn derbeendete Überblick stellte Spannungen heraus, die sich sämtlich in Texten bereits des ersten Jahrhunderts finden, ja die auch in Paulus selber, wohl aum sogar in einer kritisch rekonstruierten Verkündigung Jesu enthalten sind. Aber letztlich kommt Kümmel dann ja dom auf den Kanon im Kanon und sieht von der Abfassungszeit als einem braumbaren Ausgrenzungsprinzip ab. Unverständlich dagegen bleibt mir der Lösungsversum von Diem. Sympathism ist an ihm der kritisme Verzicht darauf, die vorhandenen Gegensätze im Neuen Testament apologetism zu retuschieren15, rimtig simer auch die Betramtung der Kanonsgeschichte als der Geschimte des gepredigten Tex11
W. G. Kümmel, aaO, S. 308-313 [= o. S. 92-97].
sa W. G. Kümmel, aaO, S. 310 f. [= o. S. 95 f.].
u W. G. Kümmel, aaO, S. 296 f., 305 f. [ = o. S. 81 f., 90 f.]. H. Diem, aaO, S. 205; ders., Die Einheit der Schrift, EvTh 13, 1953, S. 395.
11
u•
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tes16, wofern Predigt und Lesung nicht unterschieden wird, was Diem wohl auch konzedieren würde. Aber völlig ratlos stehe ich vor Diems Erklärung, die lnbetrachtziehung der jeweiligen Verkündigungs-Situation gewinne dem Neuen Testament die auf dem Felde der Lehre fehlende Einlheit zurückP. Meint Diem denn im Ernst, der Moralismus, zu dem ich von Paulus kommend Nein sage, könne von mir bejaht werden, wenn ich etwa bestimmte Texte der Acta höre und weitersage? Meint er denn, es würde ein sinnvolles Predigen, wenn der Prediger heute paulinisch, am nächsten Sonntag nach Jak 2 von den Werken und vom Glauben predigt? Muß nicht das von Diem für den Exegeten und Prediger geforderte "Mithören" der andem Seite der Schrift18 notwendigerweise zu jener Charakterlosigkeit der Predigt führen, die Diem selber bestimmt gerade nicht will?! Die Kirche, die im Kanon die heute vorliegende complexio oppositorum zusammenband, war doch die Kirche der Apologeten und des Irenäus, in der die Weichenstellung auf den Moralismus und das Institutionelle hin bereits kräftig vollzogen wurde; jene Weichenstellung, an deren Aufhebung den Reformatoren ebensovielliegt wie auch Diem selber. Und der Entscheidung und dem Hören ;ener Kirche soll ich das von ihr als Kanons-Einheit Benutzte und dann auch Dekretierte abnehmen können? Im zweiten Jahrhundert und später, aber auch schon im ersten legt sich nicht, wie Diem meint, der Kanonsinhalt, damit seine Einheit dartuend, selber aus19, sondern bereits so früh wird ein genuiner Ansatz im Laufe der weiteren Entwicklung von seiner Nivellierung her ausgelegt.
111 Gibt es, inmittenallder dargestellten disparaten Lehren und gegeneinander abzuhebenden Schichten, eine Einheit im Neuen Testament, eine innere Mitte, von welcher her wenn auch nicht das Ganze, so doch wesentliche Teile zu begreifen sind? Ich meine, ja. Bei den drei großen Blöcken, in der Jesusverkündigung, bei Paulus und im vierten Evangelium- hier grenze ich also etwas anderes ab als Kümmef.2° - liegt die Einheit beschlossen in der Art und Weise, wie der Mensch in seiner Lage vor Gott gesehen ist. Der Mensch ist Übertreter und böse gerade auch in seinem frommen 11 H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 191; EvTh 13, 1953, S. 387 bis 391. n H. Diem, Theologie als kinhl. Wissenschaft, II, S. 204-208; EvTh 13, 1953,
s. 394. 18
H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 207 f.; EvTh 13, 1953,
1'
H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 196. W. G. Kümmel, aaO, S. 310 [= o. S. 94 f.].
s. 403 f. :!0
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Tun: dieser Ton geht durch die synoptische Jesuspredigt, er bestimmt I die paulinische Rechtfertigungslehre und ist kennzeichnend für das vierte Evangelium, dem zufolge der Mensch im jüdischen Glauben oder in der Vorfindliehkeil der Welt sein Leben und Gott zu haben wähnt. Dieser böse Mensch ist unbegreiflicherweise der gehaltene Mensch, so meint es Jesus in seiner Predigt und seinem Tun, so meint es Paulus mit der "Gerechtigkeit Gottes", so das vierte Evangelium, demzufolge Gott die Welt liebt, wobei gerade im Ja des Menschen zu Jesus als dem Heilsträger die Maßstäbe des Menschen über Gott, Mensch und Welt zerbrochen werden. Der radikal geforderte und in Frage gestellte als der im Jesusgeschehen radikal gehaltene Mensch, und zwar nicht im Sinne einer Idee oder Lehre, sondern als Ereignis, das ist das neutestamentliche Grundphänomen, der Kanon im Kanon, von dem her rechte Kanonizität zu messen und zu beurteilen ist. Der Test auf die richtige Beobachtung in der Feststellung dieses Grundphänomens läßt sich auch aufreligionsgeschichtlichem Wege machen. Was an der Jesusverkündigung genuin ist, die radikale Taraverschärfung und die radikale Offenheit für den am ha aarez, ist antijüdisch oder wenigstens unjüdisch. Damit ist nicht behauptet, daß Worte typisch jüdischen Niveaus aus der sekundären Schicht einer rejudaisierenden Gemeindebildung stammen müssen; sie können z. T. auch von J esus selbst gesprochen sein. Aber typisch, charakteristisch für ihn ist das bei ihm jüdisch nicht verrechenbare Traditionsgut. Das gleiche gilt für Paulus und den vierten Evangelisten. Beide benutzten z. B. in der Anthropologie die Ausdrucksweise des gleichzeitigen religiösen stoischen Pantheismus und des Dualismus. Wenn sie glei
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ben. Damit ist die Beweglichkeit gewonnen für die heute immer neu zu findende Ausdrucksform, in welcher dies Grundphänomen zu sagen und ins Geschehen zu überführen ist: Eschatologie in ihrer als Fehlrechnung erwiesenen zeitlichen Fassung des Endes wie in ihrer aktualen johanneischen Form drückt die Andringlichkeit der Forderung und die Radikalität der Befreiung in der Freigabe der menschlichen Zukunft aus. Die Christologie wie die Sakramente aber sind die variable Verschlüsselung für das extra nos, für das transpsychologisdte Woher dieses Befreiungsgeschehens. Der Kanon im Kanon, dies aus dem Zentrum des gepredigten Neuen Testamentes fließende Grundgeschehen, ist also gegen das Neue Testament selber im offenen und kritischen Hören zur Geltung zu bringen. Der hierin liegende Zirkel- der Maßstab entspringt dem Neuen Testament und wendet sich gegen das Neue Testament- ist unvermeidbar, weil der Kanon die genannten Gegensätze in sich selber birgt. Diems Insistieren auf der Kontingenz21 ist richtig, sofern die Kontingenz sich auf dies Grundgeschehen bezieht; denn dies ist in der Tat unbegründbar und unableitbar und muß es seinem Wesen nach sein. Für den Kanon ist die von Diem behauptete Kontingenz nur bedingt und partiell richtig, sofern in den großen drei genannten Blöcken des Kanons dies kontingente Grundgeschehen einigermaßen rein zum Ausdruck kommt. Für die moralisierenden Tendenzen im Kanon, vor allem für die Schriften aus der Zeit des Frühkatholizismus ist Diems Betonung der Kontingenz des Kanons falsch; diese Züge und Teile des Kanons entspringen nicht jener Kontingenz, in welcher der Vater dem heimkehrenden Sohne die Arme öffnet. Ich meine also - gegen Diem -, man könne den Kanon des Neuen Testaments nur dann richtig lesen, wenn man- durch das Neue Testament- vom Kanon im Kanon weiß. Hier stimme ich mithin Kümmel wie Käsemann grundsätzlich zu. Nur kann ich ein Bedenken gegen Käsemann nicht ganz unterdrücken. "Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit, dagegen die Vielzahl der Konfessionen. " 22 Das stimmt. Aber nun sieht I es, wenn dann der Leser und Hörer von Käsemann zur Entscheidung für die Rechtfertigung des Sünders gerufen wird 23 , fast so aus, als sei diese Entscheidung ein willkürliches Herausgreifen der einen Seite im Neuen Testament. Ich weiß nicht, ob Käsemann es so meint. Ich jedenfalls könnte solche - wie ich zusammen mit Käsemann denke rechte Entscheidung für das neutestamentliche Grundphänomen nicht 11 11 11
H. Diem, Theologie als kirdll. Wissenschaft, li, S. 190-201. E. K.äsemann, EvTh 11, 1951/52, S. 19 [= o. S. 131]. E. K.äsemann, EvTh 12, 1952/53, S. 463.
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für eine willkürliche, sondern nur für eine begründete Entscheidung halten. Begründet freilich nicht im Ganzen des Kanons; begründet aber in der Grundtendenz, die in jenen drei Blöcken unverkennbar ist, die freilich auch nicht dagegen geschützt ist, von den frühkatholischen Tendenzen innerhalb des Kanons und von der späteren kirchlichen Entwicklung her interpretiert zu werden. Um alle Mißverständnisse auszuschließen, sei noch einmal ausdrücklich folgendes festgestellt. Ich meine, auf exegetischem Wege, vor allem auch durch religionsgeschichtliche Vergleichung läßt sich erheben, inwiefern der historische Jesus, inwiefern Paulus und der vierte Evangelist Größen sui generis sind. Ich meine ferner, dies je Spezifische läuft auf das hinaus, was ich oben als das neutestamentliche Grundphänomen beschrieben habe, in jedem der drei Kreise je sehr verschieden formuliert, aber im Trend und im Effekt gleich: der radikal geforderte und in Frage gestellte als der im Jesusgeschehen gehaltene Mensch. Ich meine nun freilich nicht, der Beweisgang, der dies gleiche Grundphänomen in allen drei Blöcken nachweist, wiese damit die Wahrheit und den Offenbarungscharakter solcher Aussagen nach. Der Beweisgang bleibt vielmehr auf dem Boden menschlicher Meinungen und religiös-antiker Positionen, die in menschliche Worte gefaßt sind, da hat Diem24 ganz recht. Erst wenn diese Meinungen zu mir sprechen, mich mahnen und kritisieren und überwinden, erst wo ich diese Meinungen inhaltlich weitergebe und zum Sprechen bringe, erst wo ich verkündige, erst dann und dort gilt die Kategorie der Wahrheit und der Offenbarung. Und erst von ihr aus wird die in den Synoptikern, bei Paulus und bei Johannes so verschieden ausgedrückte, aber auf das gleiche Fazit hinauskommende Predigt von des Menschen Heil in seiner Verlorenheil mir zum Kanon im Kanon. Hebt die neutestamentliche Exegese den Kanon auf? Die Exegese, die auf die Botschaft merkt, paralysiert die Schlacken im Kanon und macht die Begrenzung des Kanons, was das Einzelne anlangt, frag-1 lieh. Sie sagt also nicht Ja zum Kanon als ganzen, nicht Ja, weil es der Kanon ist. Sie nimmt ihn kritisch, aber unter Verwendung jenes Sachkriteriums, das dem Neuen Testament selber entstammt. Und darum hängt sie am Kanon, was seine Mitte, was das neutestamentliche Grundphänomen betrifft. Sie hat dies ja nur im Kanon, später doch schon gar nicht; wenn auch im Kanon nicht rein und nicht unvermischt. So paradox es klingt: sie respektiert den Kanon dann am gründlichsten, am sachgemäßesten, wenn sie an ihm als Kanon, als einer formalen Größe, als einer genau abgegrenzten Größe nur relativ interessiert ist; wenn sie vielmehr ihre Leidenschaft völlig auf 14
H. Diem, EvTh 13, 1953, S. 393.
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die Mitte richtet, von der die Hauptteile des Kanons regiert werden, auf jene Schriften, bei deren Abfassung an Kanonisierung noch kein Gedanke war. Von jener Mitte, dem neutestamentlieben Grundgesmehen, wird der Prozeß der Sammlung des Kanons ja doch kaum nom bewegt. Bereits die Kirche des zweiten Jahrhunderts, die den Kanon in seinen wesentlichen Stücken gesammelt hat, ahnte kaum nom, welmes Dynamit siede facto in ihr Gepäck aufnahm. Ich glaube an die Botsmaft nicht, weil sie im Kanon steht. leb respektiere den Kanon, weil er- freilim nur: auch- die Botschaft enthält. Und darum reicht mein Respekt so weit, wie ich die Botschaft im Kanon vernehmen kann. Denn ein impliziter Glaube dürfte nimt geraten sein.
WILLI MAP.xsEN
Das Problem des neutestamentlichen Kanons aus der Sicht des Exegeten• In der Formulierung des Themas liegt eine beabsichtigte Begrenzung. Ich frage nicht als Systematiker, sondern als Exeget. Es geht mir also darum, zu prüfen, ob und wo ich als Exeget bei dem Geschäft, das ich als Exeget zu treiben habe, dem Problem des Kanons begegne. Wenn man das Thema indes so versteht, könnte man mit der Frage beginnen, ob für den Exegeten denn überhaupt ein solches Problem vorliege. Man kann das doch mit guten Gründen bezweifeln. Ob ich als Exeget die Bergpredigt, die Didache oder den Jakobusbrief auszulegen habe, ob mir der 1. Korinther- oder der 1. Klemensbrief vorliegt, ist für den Vollzug meiner Exegese gleichgültig. Bei der Exegese "kanonischer" Schriften gelten keine anderen Regeln, noch passiert prinzipiell etwas anderes als bei der Exegese solcher Schriften, die nicht zum neutestamentlichen Kanon gehören. Damit wäre das Thema nun eigentlich schon erledigt, wenn nicht eine Frage zurückbliebe (oder gerade nun erst neu entstünde), auf die ich durch zwei Überlegungen hinführen möchte. Zunächst: Exegese treibt man ja nicht um ihrer selbst willen. Sie hat vielmehr einen bestimmten Platz im Rahmen einer komplexen Arbeit. Diese selbst kann unterschiedlich sein. Ich kann exegesieren etwa im Rahmen homiletischer oder katechetischer Arbeit. Ich kann auch im Zusammenhang historischer Arbeit exegesieren. Ich muß also Exegese als Teil eines Ganzen sehen. Sodann: Wenn ich im Rahmen homiletischer oder katechetischer Arbeit exegesiere, dann begegnet mir das Problem des Kanons mindestens insofern, als eine Auswahl getroffen ist, einige Schriften für diese Arbeit überhaupt nicht in Frage kommen. Wenn also vielleicht auch im Vollzug der Exegese das Problem des Kanons keine Rolle spielt, so begegnet es dem Exegeten doch in einer anderen Weise, nämlich als Voroerständnis. Dann kann es aber dom Gewimt bekommen, und zwar dadurch, daß durch dieses Vorverständ• Vortrag, gehalten auf einer Tagung theologisd:ler Assistenten am 14. 6. 1958 in Berlin, erstmals veröffentlicht in: NZsystTh 2, 1960, S. 137-150. Wieder abgedruckt in: W. Mansen, Der Exeget als Theologe. Vorträge zum Neuen Testament, Gütenloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1968, S. 91-103.
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nis die komplexe Arbeit, in deren Rahmen die Exegese geschieht, mit bestimmten Akzenten versehen wird. Eben darum aber kann der Exeget diesem Vorverständnis nicht gleichgültig gegenüberstehen. Er muß nach seiner Herkunft fragen und bei diesem Fragen im Auge behalten, ob er selbst irgendwie beteiligt ist. I Wir fragen nun also nach der Herkunft des Urteils "kanonisch" bzw. "nichtkanonisch". Zwei Möglichkeiten sind zu unterscheiden. a) Das Urteil ist nicht in den Schriften selbst angelegt, ist vielmehr von außen an die Schriften herangetragen. b) Das Urteil ist aus den Schriften gewonnen. Bedenken wir zunächst die erste Möglichkeit. Ist das Urteil "kanonisch" von außen an die Schriften herangetragen, dann ist das Problem unseres Themas für den Exegeten wieder erledigt. Es existiert für ihn höchstens als Gefahr, als Versuchung. In diesem Falle hätte ja doch irgendeine Instanz (die Kirche, eine Synode, ein Bischof oder wer auch immer) u. U. unter Einbeziehung bestimmter Voraussetzungen oder Sicherungen (etwa: Beteiligung des heiligen Geistes) eine bestimmte Gruppe von Schriften für kanonisch erklärt. Diese Entscheidung wäre (eben weil sie nicht in den Schriften angelegt ist) auch nicht an den Schriften kontrollierbar. Man könnte die anderen Voraussetzungen überprüfen; aber das wäre keine Aufgabe des Exegeten als Exegeten. Immerhin muß man aber sagen, daß in diesem Fall die Kanonizität der Schriften bereits Deuterokanonizität wäre. Wirklich kanonisch wäre ja die Instanz, die die Kanonizität behauptet und festgelegt hat. Es ist nur folgerichtig, daß dann gelegentlich auch auf die Schriften verzichtet werden kann, denn Deuterokanonizität dieser Art ist tatsächlich Pseudokanonizität. Den Exegeten brauchte das nicht zu tangieren - wenn er nun nicht seinerseits in der Gefahr wäre, seine Exegese nicht vom Text, sondern von der Instanz abhängig zu machen, die die Kanonizität festgelegt hat. Diese Instanz hat ja sicherlich nicht willkürlich irgendwelche Schriften kanonisiert, sondern solche, von denen sie bereits ein bestimmtes Wissen oder Verständnis hatte oder zu haben meinte. Sie will dann natürlich auch, daß die Exegese das ergibt, was sie selbst voraussetzt. Das Vorverständnis würde in diesem Fall zum Vorurteil. Das Vorurteil ist aber für die Exegese eine Gefahr. Der Exeget muß sich darum davor hüten, durch das Vorverständnis als Vorurteil in unsachgemäßer Weise die Methode seiner Arbeit beeinflussen oder gar die Ergebnisse bestimmen zu lassen. Das alles gilt, wie gesagt, unter der Voraussetzung, daß die Kanonizität der Schriften nicht aus ihnen selbst abgeleitet ist, sondern als
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Behauptung von außen an sie herangetragen wurde. Es ist möglich, daß niemand diese Voraussetzung teilen will. Das schließt jedod:J. nicht aus, daß diese Voraussetzung "praktiziert" wird. Wir mußten jedenfalls im Rahmen unsererüberlegungendiese Möglichkeit (und sei es wirklich nur als Möglichkeit) ins Auge fassen, weil für den Exegeten hier eine Grenze zu beadlten ist, an der eine Entsdleidung fällt: das Desinteresse an solcher Kanonizität. Im anderen Fall dagegen ist der Exeget betroffen. Hier ist vorausgesetzt oder behauptet, daß die Kanonizität der Schriften in ihnen selbst angelegt ist. Es ist dann mehr oder weniger gleidlgültig, von wem die Kanonizität der Schriften irgendwann einmal ausgesprodlen wurde. Wichtig aber ist, daß nun erst die Belhauptung dieser Kanonizität exegetisch nachprüfbar ist. Im Vollzug der Exegese würde man ja irgendwann und irgendwie einmal darauf stoßen. Das heißt aber (und darüber muß man sich nun ganz klar sein): Die Exegese, die nach den üblichen Regeln durchgeführt wird, setzt das V oroerständnis aufs Spiel! Es kann geschehen, daß der Exeget die behauptete Kanonizität feststellt. Es kann aber auch geschehen, daß er sie nicht entdeckt. Was aber dann? Jetzt entscheidet sich, ob der Exeget ein Vorverständnis oder ein Vorurteil hatte. Ist letzteres der Fall, dann ist damit wieder deutlich, daß der Exeget am Problem des Kanons desinteressiert ist, weil das Ergebnis der Exegese irrelevant bleibt. Wenn wir nun als Exegeten weiterfragen wollen, dann kann das nadl den bisherigen überlegungen sinnvoll nur unter der Voraussetzung geschehen, daß die Kanonizität der Schriften in irgendeiner Weise im Vollzug der Exegese nachprüfbar ist. Wir gehen daher nun mit dem Voroerständnis ("kanonisch" oder nicht), aber ohne Vorurteil an die Exegese und achten dabei darauf, ob, wo und wie uns in der Exegese das Moment des Kanonischen begegnet. Dann muß nun aber endlich geklärt werden, was unter "kanonisch" verstanden werden soll. Der Begriff ist ja nicht völlig eindeutig. Andererseits erscheint es nicht zweckmäßig, ihn durch eine klar abgrenzende Definition jetzt sdlon festzulegen. Es könnte ja sein, daß wir unseren Begriff nicht finden, aber einen ähnlichen sehr wohl hätten finden können, wenn wir ihn nicht durch die Definition ausgeschlossen hätten.- Die Exegese selbst wird also mit beizutragen haben zur Bestimmung des Begriffs. Wir setzen daher sehr allgemein an und fragen zunächst einmal nur nach dem Moment der Autorität. Es reicht sidler nidlt aus, den Begriff des Kanonischen zu bestimmen, aber man darf doch wohl einen Konsensus darüber voraussetzen, daß das Motiv der Autorität auch dazugehört.
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Freilich kommt man damit nun doch nicht sehr weit, denn es gibt ja nahezu überhaupt keine Schriften, die nicht in irgendeiner Weise (wenn auch gelegentlich nur mittelbar) den Anspruch erheben, für die Leser Autorität (auf je ihrem Gebiet) zu besitzen. Das gilt für eine moderne politische Erklärung nicht weniger als für Luthers Schriften, das gilt für die Didache nicht weniger als für den 1. Klemensbrief; ja, man wird sogar sagen müssen, daß der nichtkanonische 1. Klemensbrief seinen Charakter als autoritative Anrede ungleich stärker zum Ausdruck bringt, als es etwa der kanonische PhiJemonbrief tut. Aber es ist ja nun doch sofort klar, daß diese Autorität, die der Exeget hier feststellt, noch nicht das ist, was üblicherweise unter kanonisch verstanden wird. Denn diese Autorität ist ja begrenzt auf den Leserbzw. Empfängerkreis der Dokumente. Die kanonische Autorität will aber gerade über diese Begrenzung hinaus. Wir können zunächst einmal so formulieren: Wenn wir nach der K.anonizität fragen, dann haben wir es zu tun mit dem Problem der Ubertragbarkeit der Autorität. I Dieses Problem kommt bei einer Reihe von "kanonischen" Schriften (bei allen echten Briefen) noch gar nicht in den Blick. Der Galaterbrief, der 1. Thessalonicher- und die Korintherbriefe meinen immer eine ganz bestimmte Gemeinde in einer ganz bestimmten Situation. Man kann also geradezu sagen, daß sie sich der Ubertragung der Autorität und damit der Kanonizität widersetzen. Bei anderen Briefen ist dann der Empfängerkreis nicht mehr so scharf abgegrenzt. Nennt z. B. der 1. Petrushrief (doch recht summarisch) ganze Landsdlaften bzw. Provinzen, dann der 2. Petrus-, der Judas- und der Jakobusbrief in verschiedenen Umschreibungen die ganze Kirche. In anderen Schriften wie etwa der Didache (aber man muß hier wohl aw::h die Evangelien nennen), wo kein besonderer Empfänger angegeben ist (der Lukasprolog meint wohl auch keinen Empfänger im engeren Sinne), wird man auch an die Kirche bzw. eine Kirchen"provinz" oder einen Kirchen"typ" zu denken haben. - Bezeichnend ist also dieses Gefälle: Je mehr wir uns dem Rande des neutestamentlichen Kanons nähern, um so weiter wird der Empfängerkreis gefaßt, für einen um so größeren Kreis wird Autorität beansprucht; anders formuliert: um so näher kommt die Autorität der Kanonizität. Man wird hier eine weitere Uberlegung einbeziehen müssen. Wenn auch Briefe an einen begrenzten Empfängerkreis sich eigentlich der Kanonizität widersetzen, so implizieren sie doch auch eine entgegengesetzte Tendenz. Wenn nämlich ein bestimmtes Problem sehr konkret angesprochen wird, dann liegt (u. U. unausgesprochen)
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die Meinung vor, daß, wenn an anderer Stelle dieselben Bedingungen eintreten sollten, derselbe Brief mit gleicher Autorität auch dort gelesen und benutzt werden könnte, -ja: müßte, da er ja doch die sachgemäße Lösung der betreffenden Probleme bietet. (Beinahe ausgesprod:len ist das in der Bemerkung Kol4,16.) Dann kann man noch auf einen Sonderfall hinweisen. Es kann (vgl. dazu die Pastoralbriefe) geschehen, daß durch die fiktive Voraussetzung einer bestimmten Situation, eines einzelnen bestimmten Empfängers, gerade etwas Typisches herausgestellt werden soll. Solche Briefe sind dann geradezu angelegt auf Obertragung der Autorität. Wir halten also fest: Autorität allein ist noch nicht ausreichend zur Behauptung von Kanonizität, sondern erst da, wo diese Autorität übertragen wird oder übertragbar ist, nähern wir uns der Kanonizität. Aber nun muß sofort einschränkend gesagt werden: Es handelt sich dabei ja wiederum keineswegs um eine Besonderheit der Schriften, die nach unserem Vorverständnis zu den kanonischen gehören. Für die nichtkanonischen gilt das alles nicht weniger. Auch sie tendieren zu einer Ausweitung der Autorität hin in dieser eben skizzierten Richtung. Ob man ihnen diese Autorität abnimmt, ist freilich eine andere Frage. Wir werden darauf noch einzugehen haben, müssen dann allerdings feststellen, daß auch bei den kanonischen Schriften diese Prüfung eine noch offene Frage ist. I Man braucht ja nur hinzuweisen auf den Komplex" Tradition" in der römischen Kirche. Da wird doch die Ausweitung der Autorität auch nichtkanonischer Schriften für den Traditionsbeweis praktiziert. Umgekehrt kann man bei Luther, in der altprotestantischen Orthodoxie, schließlich auch in der Gegenwart so etwas wie eine Reduzierung der Autorität erkennen, denn hier taucht die Frage auf, ob die Ausweitung der Autorität von bestimmten (an sich "kanonischen") Schriften rechtens ist. Man denke an Luthers Bemerkungen zum Jakobus-, zum Hebräer- und Judasbrief, zur Apokalypse, man denke an die altprotestantischen Unterscheidungen von kanonisch und apokryph (Chemnitz), kanonisch erster und zweiter Ordnung (Joh. Gerhard), proto- und deuternkanonisch (Quenstedt), und man denke schließlich an die gegenwärtige Diskussion um Lukasevangelium und Apostelgeschichte, um den 2. Petrusbrief, die Pastoralbriefe, kurz: an das Problem des Frühkatholizismus im Neuen Testament und die Konsequenzen, die man daraus für den Kanon ziehen will. Wir halten eben inne und überlegen uns, wo wir stehen. Wir haben- als Exegeten- nach der Kanonizität im Neuen Testament gefragt. Es ist uns das Moment der Autorität begegnet, bei dem wir dann allerdings feststellten, daß es erst dann zur Kanonizität hinten-
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diert, wenn diese Autorität ausgeweitet werden kann auf einen größeren als den ursprünglich angenommenen Personenkreis. Wir mußten dann aber noch feststellen, daß das ganz allgemein gilt, hier also kein Unterschied besteht zwischen den Schriften, die nach unserem Vorverständnis kanonisch sind, und denen, die das nicht sind. Wir müssen also, um weiterzukommen, über den Gesichtspunkt der Ausweitung der Autorität auf einen größeren Personenkreis hinaus noch einen weiteren Aspekt einbeziehen. Wir finden den, wenn wir von der einfachen Feststellung ausgehen, daß spätere Schriften sich auf ältere zurückbeziehen und sie als Autoritäten ansehen. Das kann man aber nicht nur bei Luther oder bei den nachkanonischen Schriften feststellen, diese Beobachtung kann man schon im Neuen Testament machen. Ich deute kurz an. Matthäus und Lukas schreiben das Markusevangelium um, wobei sie auch andere Quellen ausschreiben. Johannes formuliert zwar sein Evangelium weitgehend neu, benutzt aber doch ältere Traditionen. Der Verfasser des 2. Petrushtiefes benutzt den Judasbrief, der Verfasser des 1. Petrushtiefes wahrscheinlich eine ältere Taufansprache.- Für den Verfasser der Pastoralbriefe ist bezeichnend, daß er außer der Übernahm.e von Material aus der Tra-
dition die Autorität des Paulus mit Beschlag belegt. Eine entsprechende Berufung auf apostolische Autoritäten liegt bei den Petrusbriefen, dem Jakobus- und Judasbrief vor. Ordnet man diese vielfältigen Beobachtungen, kann man sie vielleicht so zusammenfassen, daß man von einem Rückbezug der Autorität spricht. Die späteren Sduiften sind nicht einfach für sich oder aus sich heraus Autorität, sondern verstehen sich implizit oder explizit als abgeleitete Autorität. I Wenn man dann fragt, wo das Phänomen der abgeleiteten Autorität beginnt, dann kann man ungefähr sagen (was gleich noch zu modifizieren sein wird), daß das um die Wende von der ersten zur zweiten Generation der Fall ist. Es liegt hier also ein Problem der Zeit vor; und in der Tat muß man ja sagen, daß es zum Verständnis von Kanonizität gehört, daß nicht nur Autorität für einen erweiterten Personenkreis in der eigenen Generation gemeint ist, sondern darüber hinaus auch für die nachfolgenden Zeiten. So handelt es sich beim Kanon um eine frühe Autorität, auf die sich die nachfolgende Kirche beruft. Nehmen wir darum nun einmal innerhalb des Neuen Testaments vorläufig diese Unterscheidung vor: frühe Autorität - abgeleitete Autorität, und beobachten wir das Verhältnis beider zueinander. Dabei fällt sofort auf, daß die frühe Autorität nicht in dem Sinne als Grundlage benutzt wird, wie man es wohl heute versteht, wenn man
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den Kanon als Grundlage bezeichnet. Die Autorität liegt nicht in der Formulierung der Texte, nicht im Wortlaut (dann wäre ja nur eine einfache Wiederholung des Wortlautes nötig), sondern diese Autorität ist eine gleichsam potentielle. Die Grundlage bleibt erkennbar; sie wird aber umgesprochen, wird neu gerahmt, wird kommentiert, zum Teil auch geändert. In dieser Form begegnet sie dann als neue Aussage mit dem Anspruch auf Autorität. Wir sehen also, daß in der zweiten Generation ältere Dokumente eine bedingte kanonische Bedeutung bekommen, indem sie als Grundlage benutzt werden, von der aus durch Interpretation eine Aussage mit Autorität neu geformt wird. Diese Interpretation aber ist nötig, um die Grundlage für die neue Gegenwart wirksam zu machen. Die Autorität dieserneuen Schriften (die abgeleitete Autorität) besteht also darin, daß eine Grundlage (die frühere Autorität) durch Interpretation in die neue Gegenwart hinein verlängert wird. Da es sich hier um die Herstellung einer Beziehung handelt, nenne ich diese Verlängerung von der früheren Autorität mit Hilfe der Interpretation in die neue Gegenwart hinein kurz den Beziehungs-
bogen. Ich sagte: In der zweiten Generation bekommen einige ältere Schriften eine bedingte kanonische Bedeutung. Das ist eine Feststellung, die wir bei der Exegese der jüngeren Schriften gemacht haben. Zu fragen ist nun aber, ob und wie dieser Charakter bereits in den älteren Schriften selbst angelegt ist. Es wiederholt sich nun also innerhalb des Neuen Testaments das gleiche Problem, das wir vorher am ganzen ("kanonischen") Neuen Testament erörterten: Woher kommt das Vorverständnis, das einige Schriften als kanonisch bezeichnet; ist es in ihnen angelegt oder von außen an sie herangetragen? Wenn wir nun aber Kanonizität so sehen gelernt haben, daß eine Autorität übertragbar war und übertragen wurde sowohl im Blick auf einen erweiterten Personenkreis als auch im Blick auf spätere Zeiten, dann taucht nun die Frage auf, ob diese zweite Perspektive, nämlich die Ubertragung der Autorität in eine weitere Zukunft hinein, überhaupt denkbar ist zu einer Zeit, in der man noch nicht mit einer längeren Dauer der Kirche rechnet.! Nun ist die Frage der Naherwartung der Parusie, ihrer Verzögerung und der Aufgabe der Naherwartung heute ja sehr umstritten. Ich selbst glaube nicht, daß man ihr leicht zuviel Bedeutung zumißt; aber ich will hier dennoch vorsichtig sein. Bei aller Divergenz der Meinungen wird man sich doch wohl darin verständigen können, daß es eine Naherwartung der Parusie in der Urgemeinde gegeben hat, daß Paulus (ich will vorsichtig sein: wenigstens einige Zeit) damit ge-
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rechnet hat und daß einige synoptische Traditionsstücke das noch erkennen lassen. Dann stehen wir aber vor einem eigenartigen Sachverhalt. Die frühen Schriften, die für die spätere Kirche Autorität sein sollen, können das noch gar nicht selbst sein wollen (wenigstens nicht nach der Intention ihrer Verfasser), weil das Problem einer längeren Dauer der Kirche noch nicht expliziert ist, da die Kirche die Zeit für sich noch nicht als Dauer erfahren hat, damit dann auch noch gar nicht die Notwendigkeit einer für spätere Generationen verbindlichen Norm gesehen werden kann. Dann müssen wir aber doch wohl fragen, ob sich jetzt unsere Voraussetzungen nicht aufheben. Wir stehen ja, daran sei noch einmal erinnert, als Exegeten vor dem Problem des Kanons. Wenn die Exegese es damit zu tun hat, die Aussage des Verfassers eines Dokumentes nachzusprechen, dann wird sie gerade bei den Schriften, die potentiell kanonisch benutzt werden, diese Kanonizität nicht erheben können. Die Kanonizität ist ihnen in der Tat erst beigelegt worden, als man sie potentiell kanonisch benutzte. Das geschah aber erst, als es nötig wurde, weil die ältere Aussage in ihrer Formulierung nicht mehr ausreichte in der neuen Situation. Dann wäre die zweite Generation die Instanz, die eigentlich kanonische Bedeutung hat, weil sie Schriften, die das von Haus aus nicht sein wollen, kanonisch benutzte. Wir sahen aber schon, daß man in diesem Fall nicht mehr ernsthaft vPn der Kanonizität der Schriften reden kann, es sich vielmehr um die Kanonizität einer "Institution" handelt.- Wenn wir diesen Weg nicht gehen wollen (also: wenn wir der Schrift keine Institution überordnen wollen), dann gibt es nun m. E. keinen anderen Weg als den, das traditionelle Kanonsverständnis gründliehst zu revidieren. Die exegetische Fragestellung hat uns zwei miteinander zusammenhängende Ergebnisse gebracht: a) Das Problem des Kanons ist (zunächst einmal grob formuliert) ein Problem der ausgebliebenen Parusie, ein Problem also der Zeiterfahrung, ein Problem der zweiten Generation. Etwas präziser (wie ich gleich noch zeigen will) wird man es ein Problem des zweiten Gliedes nennen müssen, ein Problem des Traditionsbeginns. b) Zugleich brachte die exegetische Frage eine Korrektur des Begriffs des Kanonischen. (Wir hatten ja auch damit von Anfang an insofern gerechnet, als wir eine zu frühe Definition des Begriffs vermieden haben.) Die zweite Generation, das zweite Glied usw. benutzen die ältere Autorität nicht in einem normativ-lautoritativen Sinn als kanonisch, sondern (ich umschrieb es:) potentiell kanonisch. Potentiell kanonisch, das heißt hier: die frühe Autorität enthält die Mög-
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lic:hkeit (vorläufig noch genauer: sie ist dazu benutzt worden), mit Hilfe eines Beziehungsbogens für eine spätere Zeit zu einer Aussage mit Autorität zu werden. An einem einfachen Beispiel sei das eben illustriert. Für Lukas ist das Markusevangelium nicht in dem Sinne kanoniscll, daß es in einer späteren Zeit unverändert Autorität besitzt, sondern die Autorität kommt gerade erst dadurch zustande bzw. mit-zustande, daß das Markusevangelium einen Beziehungsbogen bekommt. Autorität hat also für Lukas die Textvorlage zusammen mit dem Beziehungsbogen, also: sein eigenes Werk! - Ganz allgemein ausgedrückt heißt das: Autorität ist nicht der Text, sondern die Predigt mit diesem Text. Eine dauernde Autorität ist gerade nicht vorhanden. Man kann diesen Text, diese Grundlage nur insofern Kanon nennen, als er die Möglichkeit enthält, mit einem Beziehungsbogen zusammen als Verkündigung benutzt zu werden. In solcher Verkündigung ist dann der Text auch noch in späterer Zeit wirksam. Es scheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß es sich hier um die Darlegung eines Befundes handelt, dessen theologisclle Relevanz mit der Konstatierung dieses Befundes aber noch keineswegs gesichert ist. Andererseits scheint es mir von unseren Voraussetzungen aus nur konsequent, daß sich die theologische Relevanz nicht außerhalb, sondern nur innerhalb des Befundes zeigen lassen kann. So ergeben sich - nach den eben dargelegten Ergebnissen - nun zwei Fragen: a) Gibt es Kriterien dafür, zu bestimmen, ob die Grundlage, der Text, die frühe Autorität (wenn auch nicht nach ihrer eigenen Absicht, so doch in der Praxis der späteren) zu Recht als solclle Grundlage benutzt wurde? Es könnte ja doch sein, daß man von einer falschen bzw. nicht tragfähigen Grundlage ausging. b) Gibt es Kriterien dafür, zu prüfen, ob der Beziehungsbogen von dieser Grundlage aus als sachgemäß oder unsachgemäß zu bezeichnen ist? Die erste Frage führt uns schließlich ganz an den Anfang zurück - bis hin zur nicht mehr reduzierbaren Verkündigung. Denken wir hier an die erste Generation, dann könnte man etwa sagen: Es handelt sich um die paulinischen Briefe und das frühe synoptische Traditionsgut. Aber das ist ja nur eine sehr ungenaue Angabe. Paulus kann sicll, wenn er beansprucht, als Autorität gehört zu werden, auf die unmittelbare Offenbarung durch den Kyrios berufen. Zugleich zeigen aber seine Briefe, daß er auch ältere, vor ihm formulierte Traditionen weitergibt. So ist er beides: Als Apostel ist er erstes Glied einer Traditionskette, als Tradent aber zweites Glied. Er ist Zeuge, dessen Zeugnis nicht-reduzierbare Verkündigung ist; und er ist zu16
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gleich Prediger auf Grund solchen ihm selbst überlieferten Zeugnisses. -Das frühe synoptische Traditionsgut andererseits ist ja keine klar abgrenzbare Größe; vor allem muß es durch Literarkritik, Formgeschichte usw. überhaupt erst erhoben werden. Das kann natürlich nur mit relativer Sicherheit gelingen. Bei dieser nicht-reduzierbaren Verkündigung durchdringen sich zwei Momente: I ein stärker personales (man könnte sagen: apostolisches) und ein stärker inhaltliches. Man kann beides nicht säuberlirh trennen. Aber man kann erkennen, daß diese nicht-reduzierbare Verkündigung hinter sich zurückweist auf den Kyrios, der den Apostel ermächtigt zur Verkündigung und zugleich Inhalt dieser Verkündigung ist. Das heißt aber: Auch bei dieser nicht-reduzierbaren Verkündigung haben wir es zu tun mit einer Grundlage und einem Beziehungsbogen. Diese Grundlage ist durrh keine noch so feine Methode losgelöst vom Beziehungsbogen zu fassen. Sie bleibt unerreichbar. Sie ist nur in, mit und unter dem Beziehungsbogen da. Aber sie ist nicht identisch mit dem Beziehungsbogen. M. a. W.: Diese Grundlage begegnet mir immer bereits als Verkündigung in einen bestimmten Kreis hinein. Da der Beziehungsbogen die Grundlage verbindet mit dem Hörer in seiner je eigenen Situation, die Situationen aber dem geschichtlichen Wandel unterliegen, ist diese nicht-reduzierbare Verkündigung nicht ein für allemal zu formulieren. Ich will einige Formulierungen anbieten: Dadurch, daß Jesus die Offenbarung Gottes ist und brachte, hat der neue Äon begonnen, hat Gott einen neuen Anfang gesetzt, hat Gott die Sünde weggenommen, hat Gott den Tod überwunden, hat Gott die Liebe gebracht, hat Gott ein Leben aus der Liebe heraus möglich gemacht, hat Gott die Hingabe als Sieg ausgewiesen usw. Das sind aber nun nicht im alten Sinne "kanonische" Sätze, sondern das sind Verkündigungen an Leute im alten Äon, an Sünder, an Lieblose, an Sterbende usw. Diese Aussagen sind nicht ohne weiteres austauschbar. Ihre Formulierung ist bestimmt durch den Beziehungsbogen zwischen dem Kyrios und den konkreten Hörern. Man wird darum so formulieren müssen: Kanonisch im Sinne einer nicht wandelbaren Norm ist allein der Kyrios, ist die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Aber dieser Kanon begegnet mir immer nur im Beziehungsbogen. Umgekehrt ist der Beziehungsbogen aber keineswegs identisch mit der Offenbarung, mit dem Kyrios. Mit dem Beziehungsbogen tritt die Offenbarung in einen greifbaren, kontrollierbaren Bereich. Kontrollierbar ist jedoch nicht die Offenbarung als Offenbarung, sondern nur die Gestalt der Verkündigung, die sie angenommen hat.
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Kontrollierbar ist dann ferner, daß diese Verkündigung sich als wirksam erwiesen hat. Sie hat sich als wirksam erwiesen, indem sie Gemeinde schuf, Menschen zusammenführte, die sich auf Grund dieser Verkündigung als gerechtfertigte Sünder wußten, die sich auf Grund dieser Verkündigung als zur Liebe befähigt erfuhren. Die Urgemeinde, die durch die Verkündigung des ersten Beziehungsbogens entstand, ist das einzige Kriterium für die Legitimation dieser nicht-reduzierbaren Verkündigung. Die Urgemeinde ist nach ihrem eigenen Selbstverständnis die Wirkung dieser apostolischen Predigt des Kyrios. Als solche wird sie dann potentiell zum Kanon für die Kirche, denn das, was ihr gesagt worden ist, sagt und verkündigt sie weiter zusammen mit dem, was sie erfahren hat. I Hier wird dann aber schon deutlich, warum der erste Beziehungsbogen nicht oder doch nur sehr unsicher zu fassen ist. Die Urgemeinde hat ja nicht einfach das ihr Gesagte we.iterverkündigt, sondern sie hat das ihr Gesagte, verbunden mit dem, was sie durch das Gesagte erfahren hat, hineingesprochen in einen anderen Kreis. Zuerst wurde der Personenkreis ausgeweitet. Der jüdische Raum wurde überschritten. Später kam das Problem der Zeit dazu, das der zweiten Generation. Die Beziehungsbögen mußten nun nicht nur in den erweiterten Kreis, sondern auch in eine neue Gegenwart hinein gerimtet werden. Im Neuen Testament liegt uns (auf eine kurze Formel gebracht) eine Anzahl solcher Beziehungsbögen aus verschiedenen Bereimen und verschiedenen Zeiten vor. Teilweise gelingt es, aus ihnen frühere Beziehungsbögen mit mehr oder weniger Sicherheit zu rekonstruieren. Diese neuen Beziehungsbögen waren nötig, weil andere Menschen in anderen Zeiten erreicht werden sollten. Die nimt-reduzierbare Verkündigung soll in Beziehung gesetzt werden zur neuen Gegenwart; genauer: die Sache, die die nicht-reduzierbare Verkündigung aussagt, soll in diese Beziehung zur neuen Gegenwart gebracht werden. Die einmal an einem Ort gesmehene Offenbarung soll neu zur Anrede werden. Gibt es nun (so heißt unsere zweite Frage} Kriterien dafür, ob diese Beziehungsbögen sachgemäß sind oder nicht? Ich denke, dieses sollte deutlim sein: Man kann die Sachgemäßheil der späteren Verkündigung nicht damit begründen, daß ihr Beziehungsbogen mit einem früheren übereinstimmt. (Das Verlesen eines Bibeltextes ist keine Verkündigung, wenn auch nicht bestritten werden soll, daß es, freilim auf einem komplizierten Wege, zu einer Verkündigung werden kann.) Vielmehr ist der Beziehungsbogen sachgemäß, der die Sache in der der neuen Situation gemäßen Weise ausdrückt oder die veränderte
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Sache wiederherstellt, zurechtrückt, korrigiert. In diesem letzten Fall kann es durchaus sein, daß die nun entstehenden Sätze, gemessen an den früheren Sätzen, Vereinseitigungen sind.- Die Sachgemäßheil der Beziehungsbögen ist also niemals absolut zu bestimmen, sondern immer nur in der Beziehung zu dem Hörer, den die Verkündigung treffen soll. Ich breche ab.- Ich wollte das Problem des neutestamentlichen Kanons aus der Sicht des Exegeten behandeln. Bevor ich nun noch einige zusammenfassende Überlegungen anstelle, möchte ich einem möglichen Einwand begegnen. Es könnte nämlich sein, daß man mir den Vorwurf macht, ich hätte (wie es heute ja offenbar modern ist) den Kanon aufgelöst. - Dieser Vorwurf würde mich aber nicht treffen, weil ich der Auffassung bin, daß der Kanon zu begründen ist bzw. begründbar sein muß. Darum kann es auf gar keinen Fall eine theologische Aufgabe sein, die Kanonizität von Schriften in einem bestimmten Umfang und einem bestimmten Verständnis zu verteidigen oder gar zu "retten". Man kann den Kanon gar nicht auflösen. Man kann höchstens sagen, er sei nicht ausreichend oder nicht umfassend genug begründet. I Was bedeuten nun unsere Oberlegungen etwa auch im Rahmen der gegenwärtigen Diskussion? Hier liegt das Interesse ja im allgemeinen bei zwei Punkten. Unverkennbar besteht zunächst eine starke Tendenz zur Reduzierung des Kanons. Immer wieder werden Stimmen laut, die die Grenze enger gezogen haben möchten. Ich nenne nur das Stichwort: Frühkatholizismus. - Zugleich aber offenbart sich eine (im allgemeinen eingestandene) Ratlosigkeit darüber, was (u. U. in dem schon reduzierten Kanon) die Behauptung der Kanonizität einer Schrift oder von Schriften inhaltlich bedeutet. Mir ist nun, offen gestanden, häufig nicht recht klar, wie man bei der Ratlosigkeit im zweiten Fall zu einem Vorschlag im ersten Fall kommen will oder kommen kann. Wenn ich schon den Kanon (aus welchen Gründen immer) reduzieren will, dann muß ich mir doch zuvor darüber klar sein, was denn "kanonism" bedeutet. Da hier aber Unklarheit herrscht, ist die Frage des Umfanges so lange nicht zu beantworten, bis die Frage nach der Sache des Kanonischen geklärt ist. Im übrigen kann man ja auch feststellen, daß beide Fragen in entgegengesetzter Richtung erfolgen. Frage ich nach der Grenze, ist die behauptete Kanonizität die vorher festgelegte Größe, die entweder für die einzelne Schrift behauptet oder widerlegt werden muß. Frage ich dagegen danach, was denn eigentlich kanonisch bedeutet, dann kann ich, sobald das festliegt, bei bestimmten Schriften sagen, daß sie diese Voraussetzungen erfüllen, andere (vielleicht) nicht.
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Da nun, wie ich meine, der Kanon zu begründen ist, halte ich die Diskussion über die Grenze (auch die dauernd wiederkehrende Betonung, sie sei prinzipiell fließend) für bestenfalls sekundär, denn die Differenz der Meinungen kann vielleicht an der Grenze deutlich werden, liegt aber beim Begriff und der Vorstellung vom Kanonischen. Da man nun unschwer zeigen kann, daß diese Beziehungsbögen an der sogenannten Kanonsgrenze keineswegs aufhören, möchte ich behaupten: Die Grenze einer Liste in der Kirche gültiger, zum Gebrauch zugelassener Schriften läßt sich theologisch nicht festlegen. Wo man aufhört (wo man die Kanongrenze alter Art setzt), ist (mit einer gleich noch zu besprechenden Ausnahme) eine Frage der Zweckmäßigkeit, die ihrerseits allein orientiert ist an der Frage, was man mit einer solchen Liste erreichen will, - und was man mit ihr erreichen kann. Damit sind wir aber bei der Frage, was denn kanonisch inhaltlich bedeutet. Ich setze ganz innen an. Ich habe zu zeigen versucht, daß die Beziehungsbögen die Offenbarung weiter wirken lassen sollen und wollen. Die Legitimität der ersten Beziehungsbögen liegt darin, daß sie die Offenbarung so hinstellen, daß Gemeinde entsteht. Die Legitimität der weiteren Bögen liegt darin, daß sie die Sache der ersten Bögen, also die Offenbarung, so weitersagen, daß die Sache in anderer Umgebung, in späterer Zeit erhalten oder wiederhergestellt wird. Alle Beziehungsbögen, die das nun sachlich richtig tun (und hier liegt die Grenze) sind "legitim". Das gilt auch von den sogenannten nachkanonischen Schriften, I von Predigten Augustins, Luthers und solchen in der Gegenwart. Ihre "Mächtigkeit" macht diese Beziehungsbögen "legitim", weil sie die Sache der Offenbarung bringen, weil sie die Offenbarung "ereignen". Aufnahme in die Liste verdienen also nicht etwa Schriften, die sich predigen lassen (Diem), die also zu etwas gebraucht werden können, sondern, die zu etwas gebraw:ht worden sind: die sachgemäßen Predigten. Die sachgemäßen! Das aber kann (abgesehen von ihrer Wirkung, die nicht alleiniges Kriterium sein kann) nur geprüft werden an der Korrespondenz (nicht: an der Identität) zu den ersten Beziehungsbögen. Ich betone ausdrücklich: an der Korrespondenz, nicht an der Identität, denn ich habe den Eindruck, daß manche moderne Kanonskritik dies übersieht oder durcheinanderwirft. Nicht erheblich ist, welche Vorstellungen und Begriffe überhaupt benutzt werden (nicht erheblid:t ist: "was geschrieben steht"), sondern es kommt darauf an, was damit gesagt wird, erreicht werden soll, d. h. es kommt daraui an, ob der Beziehungsbogen recht gesetzt wird, ob die Begegnung der Verkündigung mit dem (konkreten) Hörer die red:tte Sache bringt.
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Es kann zu Zeiten durchaus etwas rechte Verkündigung sein, was, mit denselben Worten vorgetragen, zu anderer Zeit massive Irrlehre ist. - So kann ich also meine Liste nicht begrenzen, außer durch solche Sachkritik, die die Korrespondenz mit der apostolischen, der nicht-reduzierbaren Verkündigung prüft. Aber nun will ich ja meine Liste auch benutzen. Dann aber ist eine Abgrenzung zweckmäßig, wenigstens für homiletischen Gebrauch. Für kirchenhistorischen Gebrauch ziehe ich natürlich keine Grenze, da ich ja in diesen Verkündigungen meine Quellen habe. Es ist nun nach dem Gesagten klar, daß ich das Neue Testament nicht einfach als Predigttext bzw. als Summe von Predigttexten verstehen und benutzen kann. Es handelt sich vielmehr um frühe Predigten. Meine Verkündigung ist darum niemals Predigt über einen Text, sondern Predigt mit einer Predigt. Die Predigtgrundlage braucht aber nun keineswegs dem Neuen Testament entnommen zu werden. Eine Luther-Predigt läßt sich mit dem gleichen theologischen Recht weiter-predigen wie der Epheserbrief, der 1. Petrushrief oder die Didache. Es bestehen da keine Differenzen der kanonischen Qualitäten. Nur - zur Sachkontrolle kann ich nicht verzichten und muß ich immer wieder zurückgreifen auf die apostolische, die nicht-reduzierbare Erstverkündigung -, wobei ich mir zugleich darüber klar sein muß, daß ich sie nicht exakt aus den neutestamentlichen Texten herausarbeiten kann. Dennoch kommt es auf die Korrespondenz mit dieser Verkündigung an. Und so muß ich sagen, daß unser Neues Testament in seinem Umfang und in seiner Abgrenzung schon eine recht brauchbare Grundlage für homiletische Zwecke bietet, - wenn es sachgemäß benutzt wird. Ich habe in ihm die ersten Beziehungsbögen und die ersten Ableitungen davon, darin dann paradigmatisch die ersten abgeleiteten Verkündigungen. Diese ersten abgeleiteten Verkündigungen stehen I sachlich, stehen "kanonisch" genau neben meiner Verkündigung heute. Sie haben aber für mich Bedeutung als Paradigmen. Ich kann hier lernen, was homiletisch möglich ist, was nicht. Ich kann hier schon am Anfang die Notwendigkeit der Kritik erkennen, kann mich üben, die späteren Verkündigungen an der nicht-reduzierbaren apostolischen zu prüfen. Darum würde ich die Liste nicht ändern. Vergrößere ich sie, wird das Buch unhandlich. Verkleinere ich sie, verliere ich wertvolles Anschauungsmaterial gerade für die Kritik, die ich lernen muß. Aber warum soll man aus dem Umfang ein Problem machen? Die Liste ist ja nicht kanonisch. Kanonisch ist vielmehr die geschehende rechte Verkündigung.
CARL HEINZ RATSCHOW
Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons aus der Sicht des systematischen Theologen• Die Erörterung der Kanon-Frage ist in den letzten Jahren immer erneut aufgenommen worden. W. Marxsen hat sie im Vorstehenden als Exeget gestellt und zu beantworten versucht, wie das vor ihm z. B. E. Käsemann, E. Dinkler, W. G. Kümmel und H. Braun getan haben. Von systematisch-theologischer Seite ist das Problem in den letzten Jahren viel seltener erörtert, und wo es geschah, da stand diese Erörterung unter den von der Exegese gegebenen Fragestellungen. Ja, man wird sagen dürfen, daß die systematische Theologie gegenüber diesen in der Exegese angelegten Fragestellungen eigentlich wenig Eigenes in die Debatte einzubringen wußte. Das ist typisch für unsere theologische Gesamtlage, die einem ein Bild zeigt, in dem die systematische Theologie weithin nur exegetische Linien auszieht, in denen sie um hermeneutische Probleme kreist, und in denen sie über das Exegetische hinaus eigentlich nicht viel Eigenes zu sagen hat. Nun, es ist ja auch wohl sachgemäß, daß eine I systematische Theologie fest auf exegetischen Fundamenten ruht1• Aber es läßt sich dennoch fragen, ob es wirklieb so sei, daß die systematische Erörterung eigentlich nichts anderes sei als eine Prolongation der exegetischen Einsiebten ins Schema der dogmatischen und ethischen Fragestellungen hinein. Wir erkennen es wohl in der Ausbildung, daß der Student angesichts dieser Lage nur schwer zu begreifen vermag, daß es ein Schritt von der Exegese in die systematische Theologie hinein sein soll, daß Dogmatik etwas anderes sei als biblische Theologie und daß bei der Entstehung einer Predigt zwischen der Exegese und dem Predigt-Entwurf eine systematisch-theologische Reflektion stehen müsse, die mehr und anderes sei, als nach Locis geordnete Wieder• Erstmals veröffentlicht in: NZsystTh 2, A. Töpelmann, Berlin 1960, S. 150 bis 160. 1 Was keine "Kategorie der Auslegung" beinhaltet, die G. Ebeling aus dem inneren Zusammenhang zwischen histor.-krit. Methode und reformatorischer Rechtfertigungs-Lehre entnimmt. In: Die Bedeutung der histor.-krit. Methode, ZThK 1950, S. 25 f. Die Kritik, die W. Maurer (Luthers Verständnis des neutestamentlichen Kanons, Fuldaer Hefte 12, S. 74 ff.) an Ebelings Thesen übt, besteht wohl zu Recht, wie gerade die Kanonfrage zeigen kann.
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holung biblisch-theologischer Einsichten oder als die Traktation hermeneutischer Probleme. Die Kanon-Frage scheint sich besonders anzubieten, um an ihr das Problem von exegetischer und systematischer Theologie aufzuzeigen, denn mit dieser Frage nach dem Kanon ist ja scheinbar die gemeinsame Bezugs-Stelle von Exegese und systematischer Theologie anvisiert. Der Kanon umfaßt die Schriften, um die es der Exegese geht, und dieser Schriftenkomplex ist, als Kanon gefaßt, ein systematischtheologischer Begriff. Jedoch, es scheint mm doch so zu sein, daß es mit den Entstehungsgründen des Kanons andersartig bestellt ist. Der Kanon wurde nicht auf Grund exegetischer Erwägungen zum Kanon erklärt und zum Kanon führte keine systematisch-theologische Einsicht oder Notwendigkeit. Der Kanon verdankt seine Feststellung vielmehr kirchlichen Notwendigkeiten, die man am ehesten praktisch theologisch nennen könnte. Für die systematische wie für die exegetische Erwägung ist er ein Datum, dessen Entstehung jenseits ihrer methodischen Ansätze und Folgerungen liegt. Daher ist der Kanon also eine sehr andersartige theologische Größe als die Zwei-Naturen-Lehre oder die Trinität, was die Dogmatik auch immer wieder bemerkt und betont hat. Dogma de canone proprie loquendo non est articulus fidei, stellt Johann Gerhard fest. Allerdings ist die Kanon-Entstehung aber einerseits von vornherein eng mit spezifisch historisch exegetischer Besinnung verbunden, denn seine Schriften sollen von Aposteln und Apostelschülern stammen- eine Frage, an der sich historisches Fragen in der Alten Kirche ebenso wie im Humanismus integrierte. Der Kanon hat in seiner Entstehung aber auch andererseits spezifisch systematische Elemente, denn mit dem Apostolischen war das Geist-gewirkte dieser Schriften bis hin zur Verbalinspiration impliziert2 • Es ist also so, I daß ein exegetisch-historisches wie ein systematisch-theologisches Moment mitschwangen, als ein spezifisch "praktisches", gottesdienstliches Bedürfnis, wie zumal lange gottesdienstliche "Erfahrung", zur Feststellung des Kanons führten. Wenn wir dabei den neutestamentlichen Kanon für sirh ins Auge fassen, so ist die Berechtigung zu solcher Abstraktion vom alttestamentlirhen Kanon zu erwägen3 • Es ist ja doch keine Frage, daß die Tatsache des Alten Testamentes als "Schrift" bei der Sammlung der neutestamentlichen Schriften Pate gestanden hat. Die Intention der beiden Vorgänge ist auch nicht ganz verschieden. Die alttestamentlichen Schriften wurden kanonisch gesammelt, weil der Geist nicht 1 W. Maurer, Luthen Verständnis des neutestamentlichen Kanons, in: Fuldaer Hefte 12, S. 49-60. a W. Staerk, Schrift und Kanon-Begriff der jüdischen Bibel, ZsystTh VI, 101 bis
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mehr redet. Dies geschieht gegen jene epigraphisch pseudonymen, hoch begeisteten Henoche und Patriarchen, die trotz all ihrer geisthaften Lebhaftigkeit zweifelhafte Zeugen zu sein schienen. Die neutestamentlichen Schriften wurden kanonisch gesammelt, weil der Geist im apostolischen Zeugnis geredet hat und mit diesen Schriften ist. Dies geschieht gegenüber begeisteten Skribenten, wie sie die Gnosis heckte. Beide Vorgänge geschehen auf der Folie raumzeitlich geschehener und vergehender Heilstat. In beiden Vorgängen steckt aber auch die Defensive gegenüber Kanon-puristischen Bewegungen - z. B. den Samaritanern und Mareion- die diesen Vorgängen der Kanonbildung mit Sach-Gesichtspunkten begegneten, die sektenhafte Verengung mit sich brachten. Wir sehen also die Kanon-Bildungen - zeitlich fällt das Ende der alttestamentlichen Fixierung mit dem Anfang der neutestamentlichen zusammen4 - zwischen ähnlichen Fronten: Dem grenzenlösenden freien Geist und seiner Offenbarungs-Produktion wie der nach sachlichen GruppierungsschemateD vorgehenden sektenartigen Reduktion. Jedoch, so gewiß die alttestamentliche Schrift einen Anstoß für eine Schriftensammlung gab, und so viel Analoges sich aus der Kanonbildung dort und hier auf Grund analoger Gegebenheiten auch sagen läßt, so ist die neutestamentliche Kanonbildung doch eigenständig nach Prinzipien und Verlauf. Man wird den Unterschied zwar nicht mit Luther darin ansetzen wollen, daß es nicht neutestamentisch sei, Bücher zu schreiben. So viel Zutreffendes diese Beobachtung auch in sich trägt, so wenig gilt sie für diesen Vergleich. Da die neutestamentliche Kanonbildung vielmehr mit dem Komplex der Apostolizität nach ganz eigenständigen Voraussetzungen und Prinzipien verfuhr, wird man sie für sich ins Auge fassen können, obwohl die beiden Kanonbildungen doch wohl nur in Analogie I verhandelt und gesehen werden können. Zumal war das christliche Selbst-Bewußtsein von dem "Neuen" und abschließenden Offenbarungsgeschehen gegenüber der "Schrift" in diesen ganzen Vorgängen so stark, daß es angemessen zu sein scheint, die neutestamentliche Kanonbildung zunächst für sich ins Auge zu fassen.
II. Wenn wir versuchen, die Meinung der Exegeten zur Kanonfrage, wie W. Marxsen sie darlegt, systematisch-theologisch zu erörtern, so ist zunächst der Horizont der ganzen Fragestellung zu besprechen. • Dabei braucht uns hier die Tatsache, daß die Alte Kirche nicht einfach den jüdischen Kanon übernahm, sondern den .,alt"-testamentlichen Kanon selbst formte, nicht zu beschäftigen. Vgl. A. Jepsen, Kanon und Text des Alten Testamentes, TbLZ 74, Sp. 65-74.
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Dieser Fragehorizont ist offenbar in der Frage nach der auctoritas scripturae sacrae gegeben. Von dieser Frage geht W. Marxsen auch aus, und es scheint ja eindeutig zu sein, daß bei der Kanonizität des Neuen Testaments die Autorität des Neuen Testaments in Frage steht. Jedoch, wenn wir den Ausführungen Marxsens aufmerksam folgen und sehen, wie sich die Autorität herausbildet, auf der dann die "Kanonizität" stehen soll, so fragen wir uns, ob das eigentlich die Autorität sei, auf die es beim Kanon ankomme? Die Autorität, von der bei M arxsen gesprochen wird, und deren Specificum letztlich Jesus von Nazareth ist, das ist die auetorilas der viva vox Dei oder des eigentlichen verbum Dei. Die Autorität, die der Exeget hier ins Auge faßt, ist die Autorität des sich am Menschen durchsetzenden Wortes Gottes. Daher ist es angemessen, festzustellen, daß hinsichtlich dieser Autorität eine Predigt Luthers z. B. dem li. Korinther-Briefe gleich erachtet werden dürfe. Diese Gleichachtung entspricht auch durchaus der Überzeugung der Reformation, die dahingehend von Luther ausgesagt wurde, daß der Prediger Mund Christi Mund sei. Der "Zuspruch des Wortes Gottes" geschieht in der Verkündigung mit der ganzen auctoritas des verbum Dei bzw. der viva vox Dei. In und mit der Predigt wird "Offenbarung ereignet" wie in und mit dem biblischen Worte. Man wird von dieser Grundlage aus sich der Konsequenz (S. 149 o. S. 246]) nicht entziehen können und wollen, daß also eine Predigt "über" einen neutestamentlichen Text nicht eigentlich "Predigt über einen Text, sondern Predigt mit einer Predigt" ist, und daß ergo auch andere Predigten sich analog dazu weiterpredigen lassen müssen. Dabei hat das Neue Testament seine Rolle immer noch nicht ausgespielt, denn als "Erstverkündigung" behält es "zur Sachkontrolle" Bedeutung. Spätere Predigt ist darauf angewiesen- auf die apostolische, die nicht reduzierbare "Erstverkündigung" (S. 149 [ = o. S. 246]), zurückzugreifen. Die neutestamentlichen Texte haben dabei also die "Bedeutung als Paradigma". Ihre Zahl oder ihr Umfang ist damit aber gerade nicht festgelegt, denn offenbar ist diese Frage irrelevant geworden- eine Frage der "Handlichkeit" des Buches (S. 150 [ = o. S. 246]). "Kanonisch ist vielmehr die geschehende rechte Verkündigung" I (ebd.). Was wir hier vor uns sehen, das ist die Auffmdung einer der Schrift und dem Worte Gottes gemeinsamen Autorität. Aber wir müssen uns fragen, ob das eigentlich möglich ist, die Autorität des Wortes Gottes der kanonischen Autorität so zu unterlegen? Es hat allerdings schon einmal eine theologische Situation gegeben, in der Wort Gottes und Schrift unmittelbar identisch wurden und wo sich daher auch die Folgerung nahelegte, die Autorität des Wortes Gottes der Schrift zu unterlegen. Diese Situation war da gegeben, wo auf
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Grund der Inspiration Wort und Schrift ineinanderfielen. Seriptura materialiter aeeepta nihil aliud est quam Verbum Dei (Joh. Gerhard II. 17 vgl. li. 427). Wenn im 17. Jahrhundert die Inspiration das Tertium war, an dem sich Schrift und Wort Gottes identifizieren ließen, so ist dies Tertium heute das "Zeugnis" qua "Beziehungsbogen", das bei Paulus und Luther gleicherweise die "Predigt" trägt und zum Worte Gottes werden läßt. Mit der Identität von seriptura und Verbum auf Grund der Inspiration war auch im 17. Jahrhundert spezifische Autorität begründet, und zwar nach dem Ansatz in doppelter Hinsicht. Was die Seite der seriptura anbelangte, ging es um die Erhebung einer auetorilas extema des Buches und seiner Eigenarten. Was das Wort Gottes anbetraf, ging es um eine auetorilas intema, die eng mit dem testimonium internum spiritus saneti gekoppelt war. Ganz analog wird auch eine auetorilas eausativa, die den Vorgang der Glaubensbegründung betrifft und dem Wirken des Heiligen Geistes zukommt, von einer auetoritas normativa, die das Schriftwort zur Lehrentscheidung gebrauchen läßt, unterschieden. Was bei dieser ganzen Identifikation von Wort und Schrift im 17. Jahrhundert aber in der Voraussetzung liegt, das ist die Bindung an diese vorgegebene Schriftensammlung. Diese Schriftensammlung selbst in ihrer Kanonizität wird nun aber -und das ist auffällig- nicht einfach den bislang genannten auetoritatibus subsumiert, sondern gesondert als auetorilas eanoniea behandelt. Offenbar empfmdet man immer noch, daß man es bei der Kanonfrage doch noch mit einem Speeifieum zu tun hat, das mit jener auetorilas seripturae nicht so ohne weiteres erledigt ist. So wird z. B. bei Buddeus zu Beginn der Behandlung der affeetiones der inspirierten Schrift von der auetorilas grundsätzlich gehandelt, danach von effieaeia und suffieientia und hermeneutischen Fragen. Danach aber heißt es: Ex auetoritate, qua seriptura saera pollet, divina, fluit etiam auetorilas eanoniea seu normalis (§ 31). Das heißt, daß diese kanonische Autorität zwar eine Folge jener in der Inspiration gegebenen Grundautorität ist, aber daß sie dennoch eine Eigenart darstellt. Diese Eigenart ist gegeben in dem Faktum: aeeedente ecclesiae testimonio. Zwar hat dies kirchliche Zeugnis nichts über die auetoritas seripturae in se spectata zu besagen. Auch hat dies kirchliche Zeugnis keine Macht über die Glaubensbegründung, denn das wird, wie Budeleus betont, vom Heiligen Geist bzw. auch durch die Sduift selbst I besorgt. Diese eigentümlid:J.e autoritas normalis ruht vielmehr -das ist ihr Kennzeichen- auf dem Zeugnis der Kirche und stellt insofern einen Sonderfall dar. Er betont, daß es die Bücher seien, qui in eeclesia publice praelegebantur, und daß diese Bücher schon in der
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Alten Kirche als certa fidei et vitae regula et norma, ad quam omnis alia doctrina, quae de ratione consequendi salutem proponitur, erigenda sit atque düudicanda. Buddeus erörtert einzelne Fragen der Kanonbildung und kommt zu dem Urteil: Totius enim ecclesiae consensu definitum esse, quinam. bibli canonici esse debeant, quinam non, numquam probari potest. Die Kirche habe daher die kanonische Autorität nicht gesetzt- das sei vielmehr durch die Inspiration geschehen- aber sie habe sie festgestellt. Obwohl also in der Orthodoxie Schrift und VVort Gottes auf dem Grunde der Inspiration identifiziert wurden, wurde gleichwohl nach dem Schema extemum und intemum, normativa und causativa auch nach materia und forma - die Unterscheidung von Schrift und Wort distinctive nach wie vor markiert und damit zugleich in ihrer Zusammengehörigkeit fixiert. Der Kanon aber wird in seiner Autorität für sich behandelt. Er gründet zwar in jener General-Autorität des Heiligen Geistes. Er ruht aber auf einem kirchlichen Votum, und wo man von Kanon redet, reicht die Beziehung auf jene auetorilas verbi divini zur Definition nicht aus. Wir hätten von hier aus zu erwägen, ob die Reduktion der kanonischen Autorität auf die Autorität des Wortes Gottes, wie sie von W. Marxsen im Vorstehenden vorgenommen wurde, nicht ein "Kurz"Schluß ist, der dann die Folge hat, daß der Kanon nun in jedem "Beziehungsbogen" angesetzt werden muß- auch in Predigten Luthers und Augustins-soweit sie sich an der Erstverkündigung analogice und nicht identice (S. 149 [ = o. S. 245]) messen lassen können.
111. Gehen wir von unserer Beobachtung aus, so ist zunächst zu fragen, ob denn ein Kanon überhaupt notwendig sei. Dies kann nicht geleugnet werden, weil wir es bei dem Heilsereignis in und durch Jesus von Nazareth mit einem Ereignis in Raum und Zeit zu tun haben, auf dessen zeugnisweise Überlieferung wir als Christen nun einmal angewiesen sind. Das Verbum extemum korrespondiert dem actus Dei in Raum und Zeit. Wie jenes Ereignis Gottes in und durch Jesus von Nazareth raumzeitlich war, so ist es diese Uberlieferung, die als Zeugnis geschieht. Zu dieser Oberlieferung aber gehört auch das Moment der Abgeschlossenheit, dem die Alte Kirche durch den Charakter der Apostolizität Ausdruck gab. Wie jenem Heilsereignisse selbst, so eignet den Aposteln "Einmaligkeit" in strengem Sinne. Nach dem Tode der Apostel gab es keine neuen Apostel. Der Apostolizität eignet auch Geisterfülltheit. Aber hier braucht uns zunächst nur dies Moment ihrer Unwiederholbarkeit zu interessieren. Es I ist sachgemäß, wenn
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W. G. Kümmel sowohl den Kanon selbst wie die Abgeschlossenheit des Kanons als mit der Eigenart der Offenbarung in Raum und Zeit gegeben ansieht5 • Es widerspricht offenbar der Stringenz dieser Einmaligkeit der Offenbarung, wo der Kanon nicht fixiert und die Abgeschlossenheit des Kanons nicht mehr postuliert wird. Es ist keine Frage, daß dabei die Teile dieses Kanons nicht gleichwertig und nicht gleichgewichtig sind. Uns ist die Möglichkeit verloren, diese Schriften auf eine gemeinsame Basis, wie die Inspiration, zu beziehen. Aber solche Beziehungen würden wir ja auch wohl gar nicht wünschen dürfen, denn es soll sich in diesen Schriften um Oberlieferung handeln, die uns mit jenem Ereignis zeugnisweise in Verbindung hält. Zeugnisweise bedeutet ja immer auch berichtweise, denn es geht um jenen Jesus von Nazareth und nicht um geisthaft allgemeine Wahrheiten. Zeugnisweise, das bedeutet aber auch in gewiesener Stellvertretung, denn das Ereignis selbst ist nicht zur Aussage gekommen. Also es geht allerdings um einen "Beziehungsbogen" als Zeugnis, d. h. Verweis an Jesus von Nazareth, als Bericht und als Hinweis auf ihn. Aber dieser "Beziehungsbogen" ist für uns da als Zeugnisbericht von Menschen, die ihr Verständnis ihrem Zeugnis unterlegten, und dies Verständnis ist ja weder gleichwertig noch gleichgewichtig. Es ist daher sicher richtig, wenn Käsemann die Variabilität im Kanon stark betont8 • Es ist auch wohl richtig, wenn auch überspitzt formuliert, daß der Kanon nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielzahl der Konfessionen begründet7 • Das kann ja doch nicht anders sein, wenn man diese Schriften als das wertet, was sie sind, nämlich als zeugnisweise Aussage über jenes Heilsereignis, wie Menschen der ersten Generationen sie taten, die verschiedener Herkunft und Bildungslage in verschiedenen Situationen und aus verschiedenem Anlaß ihre Aussagen machten. Muß nun also oder sollangesichtsdieser Variabilität der Schriften des Kanons nach einer "sachlich" erhebbaren Einheit gesucht werden? Die Alte Kirche hat, als sie den Kanon nach und nach fixierte, offenbar nach "äußerlichen" Gesichtspunkten geurteilt, wobei erstens jene Apostolizität und zweitens dann der kirchliche Gebrauch Grundlagen für das Urteil gaben. Sollen wir nach "inneren" Gründen suchen? Diese Frage muß gestellt werden, denn was nicht nach "inneren" Gründen entstand, sondern von "innen" gesehen kontingent • Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 1950, S. 296 f. [= 0. s. 81f.]. 1 Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, EvTh 1951/ 1952, s. 16 ff. [= o. s. 127 ff.]. 1 Ebd. S. 19 [= o. S. 131); vgl. meine Arbeit "Der angefochtene Glaube", 1957, s. 187 ff.
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zusammenwuchs, kann das überhaupt so befragt werden? Die Ergebnisse der ganzen Suche nach sachlichen "inneren" Gründen sind auch kaum ermutigend, denn sie sind auf der ganzen Linie negativ: Der Kanon im Kanon ( !) oder die Grenze des I Kanonischen, die mitten durch den Kanon geht ( 1), oder der in die Geschichte der Kirche hinein offene Kanon(!). Sind das nicht Verlegenheiten einer falschen Fragestellung? Der Kanon erwächst einer kirchlichen Notwendigkeit und trägt die Kennzeichen der raumzeitlichen Kontingenz an sich, die als Apostolizität definiert wurde, die als kirchlicher Gebrauch dieser Schriften durchgesetzt wurde und die einem kirchlichen Entscheid ihre Endgültigkeit verdankt. Diese Kontingenz des Kanons gehört zur Kontingenz der Offenbarung. Die Kirche bedarf auch heute des Kanons. Aber versuchen wir uns nicht um diese Kontingenz des Kanons herumzuarbeiten, indem wir so etwas wie eine erweisbare Autorität, die wie jene Inspiration Schrift und Wort Gottes zu identifizieren erlaubt, finden wollen? Wir suchen solche Frage heute nicht mehr mit supranaturalen Postulaten wie der Verbalinspiration zu lösen, sondern wir versuchen es mit "inneren", sachlichen, historisw begründbaren Fakten. Aber die Intention ist doch wohl analog. Diese Intention aber muß angesichts der Kontingenz des Kanons fragwürdig erscheinen. Es geht im Kanon um den Zeugnisbericht von Jesus von Nazareth als die Offenbarung Gottes. Es ist also völlig richtig, daß in den Kanon gehört, "was Christum treibet" 8 • Aber ist dieses Moment nun inhaltlich und "innerlich" so aufzufüllen, daß man daran einen Maßstab gewinnt, was kanonisch sei? Wie soll man hier überhaupt verfahren? Exegetisch sicher nicht, denn diesen Schriften kann es exegetisch ja wohl schwer anzusehen sein, ob sie hundert Jahre späteraus "äußeren" Gründen der Apostolizität z. B. - für kanonisch erklärt wurden. Exegetisch kann man eine Wertungs-Größe so gewinnen, wie Marxsen es tat, indem man nämlich durch das Verbum externum hindurch auf das Verbum Dei zuzugehen versucht. Diese Größe ist dann an jedem späteren Zeugnis auch erhebbar. Aber damit ist dann die Kanonizität des Kanons auch "nur noch" Erstverkündigung, deren Grenzen nicht festliegen. Ganz ähnlich geht es ja auch anderen Bearbeitern dieser Frage. W. G. Kümmel stellt auch fest, daß der Kanon Norm sei "auf Grund des uns aus dem Kanon selber entgegentönenden und unseren Glauben weckenden Zeugnisses von • Die Position Luthers ist von W. Maurer hinreichend erörterL Was dabei entscheidend zu sein scheint, das ist Luthers dogmatischer Apostel-Begriff, der, der Inspiration nahestehend, seine Position von der unseren trennt (Fuldaer Hefte 12, 63--72).
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Gottes Heilshandeln in Jesus Christus"'· Kümmel erhebt von da aus die "innere Grenze des Kanons", die "sachlich immer von neuem zu bestimmen" ist10• Kümmel reflektiert die Frage nicht, ob es außerhalb des Neuen Testaments nicht auch "Glauben weckendes Zeu@lis von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus" gibt. Er müßte die Frage wahrscheinlich auch bejahen I und somit die "innere Grenze des Kanons" auch sehr weit nach außen verlegen, den neutestamentlichen Schriften aber die Bedeutung von Erstverkündigung als Ridltschnur, wie Marxsen es tut, zuschreiben, die dann keine streng "sachlidle" Abgrenzung mehr zuläßt. Das heißt also, daß wir der Fragestellung nach "sachlicher und innerer" Begründung des Kanons gegenüber, wie sie in der Geschichte der evangelischen Theologie von Luther an immer wieder gestellt wurde, skeptisch sein zu müssen meinen. Der Kanon umschreibt die Kontingenz der "ersten"- das werden wir mit Recht in Anführungsstriche setzen- Zeugnisberichte von Jesus dem Heile Gottes für die Welt. Er entspricht damit der Kontingenz dieser Offenbarung. Erbekräftigt sie für die Kirche aller Zeiten und macht den Wunsch, eine mit sich selbst identische Wahrheit an sich haben zu können, zunichte11. Jedoch der Kanon ruht ja nicht nur auf diesem Autorengesichtspunkt, sondern hinzukommt zweitens die experientia ecclesiae im gottesdienstlichen Umgange mit diesen Schriften. Man wird diesem Moment große Bedeutung beimessen müssen, denn am Kanon haben sich die grundlegenden dogmatischen Entscheidungen der ersten drei Jahrhunderte manifestiert. Die Ausscheidung des gnostischen Momentes zumal ist dessen Zeuge. Daß dieser Vorgang sidl nidlt als dogmatische Diskussion, sondern als praktisch-theologische Experientia vollzog, scheint uns von Bedeutung zu sein. Es ist schon so, daß man mit diesem zweiten Momente dem testimonium spiritus sancti in ecclesia begegnet, und daß die Dogmatiker der Wahrheit wohl nidlt so fern waren, die des Heiligen Geistes bei der Erörterung der auctoritas canonica Erwähnung taten. Drittens aber ruht der Kanon auf einer kirchlidlen Entscheidung. So ist es wohl nidlt angemessen, angesichtsder Vorgänge nadl 360 zu sagen, diese Entscheidung sei nur passive Rezeption gewesen. Obwohl der Begriff des ' AaO, S. 308 [= o. S. 92]. 10 AaO, S. 312 [ = o. S. 96 f.]. 11 Dabei kann man auch darauf verweisen, daß wir es bei den Zeugen mit Menschen als Sündern zu tun haben, wie H. Braun und W. Andersen (Fuldaer Hefte 12, S. 20 [= o. S. 228 f.]. 33) es tun. Aber dies Sünder-Sein läßt die Tatsache der einfachen raumzeitlichen Kontingenz leicht zu stark übertheologisieren. Ganz anders ist das mit Luthers Gedanken, der den Kanon in dieser Hinsicht der Niedrigkeit des Gotteswortes einordnet und also im Zusammenhang seiner theologia crucis erörtert. (Vgl. W. Maurer, Fuldaer Hefte 12, S. 70 f.).
CARt. HEINZ RA.TSCHOW
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recipere oder suscipere vorkommt12, so wird man die Entscheidung doch als Entscheid gewichtig nehmen müssen, denn anderenfalls wäre die Kirche gezwungen, den Kanon neu und neu in die Offenheit der gottesdienstlichen Experientia hinein zu halten, und auf seine Geschlossenheit grundsätzlich zu verzichten.
IV. Drei Momente begründen den Kanon: ein kontingentes komplexes Vielerlei menschlicher Zeugnisberichte, ein geistliches Erfahren in der I gottesdienstlichen Übung der Kirche und ein kirchliches Entscheiden auf diesem Boden! Das erste ganz äußerliche Moment der Setzung nach Gesichtspunkten, die wir heute nicht mehr vertreten, d. h. nach der Apostolizität, hat den Anstoß zur Kanonbildung gegeben. Die Auswahl geschah in jenem langen Prozeß der geistlichen Erfahrung. Die Fixierung aber war eine "kirchenamtliche" Setzung auf jenem Boden von Erfahrung. Exegetisch überprüfbar ist hieran jenes erste Moment als Einleitungsfrage. Jedoch mit der einsichtigen Feststellung, daß jener Apostel- und Apostel-Schüler-Gesichtspunkt so nicht durchzuhalten ist, wie man im zweiten Jahrhundert meinte, ist ja gegen den Kanon nicht viel ausgerichtet. Damit fällt der Kanon nicht. Es haben manche Schriften, wie wir wissen, in diesem "Geruch" gestanden und sind gleichwohl abgetan. Das Schwergewicht des Kanons liegt fraglos auf dem zweiten und dritten Momente. Diese aber entziehen sich der exegetischen Beurteilung. Ob an Hand des Philernon-Briefes das Wort von der Erlösung "wirksam" verkündigt werden könne, das entzieht sich der exegetischen Beurteilung. Zwar kann und muß man exegetisch fragen, wie der Philernon-Brief im Grundzusammenhange der neutestamentlichen Botschaft vom Heil in Christo steht. Aber das besagt über jene experientia ecclesiastica nicht viel, denn sie basiert auf dem wiederumkontingentenGeschehen des Geistes bei dem Worte. Das dritte Moment aber ist als kirchliche Entscheidung der exegetischen Uberprüfung entzogen. Diese Entscheidung hat den Kanon geschlossen. Sie hat das vollzogen, was implizit im Anstoße des Ganzen im Apostolischen angelegt war. Die Exegese wird daher den Kanon hinnehmen müssen, sofern der Exeget als Glied einer evangelischen Kirche diese Schriften in ausgezeichnetem kirchlichem Gebrauche fmdet. Jedoch der Exeget wird eine kanonische Schrift nicht nach anderen Maßstäben behandeln, als er es mit außerkanonischen Schriften tut. Wenn er nach jener Autorität so fragt, wie W. Marxsen das tut, so ist das eine fruchtbare und wohl auch notwendige Fragestellung, aber wie man sieht, muß tmd kann 11
W. Eiert, Der christliche Glaube, 2. Aufl. 1941, S. 180.
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diese Fragestellung auch an die apostolischen Väter etc. gestellt werden. Im methodischen Verlauf exegetischer Arbeit läßt sich der Kanon nicht verifizieren. Der Exeget, der als Christ um diesen Kanon weiß, wird zwar rein praktisch in der Ausbildung künftiger Pfarrer zumal diese Schriften traktieren, aber inhaltlich ist die Grenze des Kanons für ihn ein "Vorurteil", dem er in der Durchführung seiner Aufgabe keine eingrenzende Bedeutung zuerkennen kann. Die Dogmatik steht in bezugauf den Kanon anders da. Zwar kann auch sie jene Momente, die zum Kanon führten, nicht überprüfen, denn das erste Moment liegt als historische Fragestellung in der Einleitungswissenschaft, das zweite Moment liegt für sie genau so wie für die Exegese zunächst jenseits ihrer methodischen Einsicht, das dritte Moment aber ist ihr insoweit verbindlich, insoweit sie ein Denkvorgang ist, der die kirchllichen Entscheide im Verhältnis zur Offenbarung des Alten und Neuen Testamentes in bezugauf ihre kirchliche Gegenwart auszusagen hat. Der Kanon hat de facto eine hohe systematisch-theologische Bedeutung, denn diese kanonischen Schriften sind es, an denen sich alle Lehre dogmatischer wie ethischer Natur ausweisen lassen muß. Dabei geht es streng um methodische Erweisbarkeil an diesen Schriften gemäß ihrer "Sach"-Aussagen. Dogmatik und Ethik weisen sich nicht an der viva vox Dei aus, sondern an scriptura als Kanon! Sie tun dies nicht, weil diese Schriften gestatteten, eine uniforme Wahrheit in und mit ihnen zu handhaben. Sie tun dies um der kirchlichen Erfahrung willen, daß in und mit diesen Scluiften das Wort Gottes als Wahrheit geschehen ist und geschieht. Weil diese Schriften als solche der Kirche immer wieder das Wort Gottes imponieren, darum hat sich Dogmatik wie Ethik von ihnen her zu begründen und an ihnen BekenntnisVerbindlichkeit wie alle Uberlieferung zu messen. Diese Feststellung wäre ein Zirkel, und zwar ein circulus vitiosus, wenn die systematische Theologie den Kanon als bloßes Stück der Tradition gemäß kirchlichem Entscheid rezipierte, um an ihm alle Tradition zu messen. Diese Feststellung ist kein Zirkel, sobald die systematische Theologie an diesen Schriften in die Offenheit vor dem Worte Gottes hineintritt, dessen Geschehen zwar jenseits ihres Vollzuges Kirche ereignet, von dem her und auf das hin sie aber arbeitet. In dieser Weise hat die Dogmatik und Ethik also in ihren Voraussetzungen ein gewichtiges Moment -nämlich den Kanon- auf den sie ständig zu rekurrieren hat. Sie ist in dieser Voraussetzung von der Exegese unterschieden.
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WILFIUED JoEST
Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des Neuen Testaments• Walter Künneth zum 65. Geburtstag
In welchem Sinn das Neue Testament der Kanon christlicher Verkündigung und Lehre sein kann, ist durch die Anwendung historischkritischer Forschung auf die biblischen Schriften zu einer Frage geworden, die mit einer Wiederholung der Inspirationslehre in ihrer klassischen altprotestantischen Gestalt nicht mehr zu bewältigen ist. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache, und die folgenden Ausführungen werden an Tatsachen zur Kanonsfrage auch nichts Neues beizutragen haben. Sie werden vielleicht nicht einmal Gesichtspunkte
zur Deutung der Problemlage beisteuern können, die nicht auch sonst schon in deren weitverzweigter Diskussion so oder ähnlich geäußert sind. Sie versurhen aus dem, was uns als geistliche Wirklirhkeit und Wirkung des Neuen Testamentes gegeben und nun eben zugleich als sein "historisrhes" Aussehen vor die Füße gelegt ist, ein Fazit zu ziehen mehr in Gestalt einer Thesenreihe als in der des Ringreifens in die laufenden Diskussionen. Ein solches Fazit muß ja jeder für sirh zu ziehen suchen, der sich jenem "historischen" Aussehen nicht verschließen kann und will und der sich doch weiterhin in seiner Verkündigung und Theologie an das neutestamentliche Zeugnis gebunden weiß. Die Frage nach der kanonisrhen Bedeutung des Alten Testamentes für die Christenheit sei dabei ausgeklammert, nicht weil sie verneint wird, sondern weil sie ihre eigene Problematik hat, deren Erörterung den Rahmen eines Aufsatzes sprengen würde. Die Besinnung soll sich zunächst auf den Vorgang des Werdens des Neuen Testamentes als Kanon richten; sodann auf die Frage, in welchem Sinne dabei von Inspiration gesprochen werden kann und in welrhem nicht; drittens auf die Frage nach dem Verhältnis von historisch-kritischer Erforschung und kanonisrher Wirksamkeit des Neuen Testamentes.
• Erstmals veröffentlicht in: Kerygma und Dogma 12, Vanr!enhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966, S. 27-47.
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I. Der Vorgang der Kanonsbildung 1. Wir rufen uns zunächst die bekannten Tatsachen des äußeren Hergangs ins Gedächtnis. Im Ursprung war der christlichen Gemeinde als Schrift nur das Alte Testament gegeben. Sie rezipierte es freilich nicht einfach in seinem jüdischen Verständnis; sie verstand es neu im Glauben an Jesus als den Christus und als das Zeugnis der Geschichte Gottes mit Israel auf Christus hin. Die Christusbotschaft ihrerseits, von der her das Alte Testament nun verstanden wurde, war mündliche Predigt. Wo im Neuen Testament selbst von graphe die Rede ist, ist I stets das Alte Testament gemeint. Das Neue Testament spricht nicht über sich selbst als kanonische Schrift (es wirkt als solche). Beim Werden des Neuen Testamentes zur kanonischen Schrift sind zwei Stufen zu unterscheiden: a) Die Entstehung der neutestamentlichen Schriften. Wir wissen, daß dies ein äußerst komplexer Vorgang war, der sich durch einen längeren Zeitraum hinzog und bei dem nicht nur eine älteste Generation von Verfassern, geschweige denn ein irgendwie institutionell abgegrenzter Personenkreis, vielmehr mannigfache Überlieferungsstränge, Bearbeitungen, Redaktoren usw. beteiligt waren. Immerhin darf man sagen, daß wir im Neuen Testament die älteste schriftliche Überlieferung der Geschichte Jesu und des Glaubens an ihn als den Christus haben, und daß die Grundelemente dieser Uberlieferung in die Zeit der ältesten Zeugengeneration, der Augenzeugen der Geschichte Jesu und der Zeugen der Ostererlebnisse zurückreichen. b) Die Sammlung dieser Schriften zum Corpus des Neuen Testamentes, d. h. ihre Sammlung zum Kanon und Herausstellung als Kanon. Auch dies war ein komplexer und durch lange Zeit sich hinziehender Vorgang- jedenfalls keineswegs der einheitliche Akt einer gesamtkirchlichen Lehrautorität. Immerhin kann man sagen, daß die Sammlung in ihrem wesentlichen Grundstock zwischen 150 und 200 sich herauskristallisierte, wenn auch hinsichtlich der Randgebiete nom lange in verschiedenen Kirchengebieten verschiedene Abgrenzungen vollzogen wurden, die sich erst allmählich auf einer einheitlichen Linie ausglichen. Den Anstoß zum Prozeß der Kanonsammlung gab vor allem die gnostische Krise des 2. Jahrhunderts. Gegenüber der Berufung gnostischer Gruppen auf apostolische Geheimüberlieferungen mußte die Frage nach dem Kriterium für die wahre apostolische Überlieferung sich erheben. Der neutestamentliche Kanon wurde zweifellos auch unter dem Gesichtspunkt gesammelt, daß man in diesen Schriften das älteste, von Aposteln und Apostelschülern herkommende Traditionsgut habe. Außer diesem historischen Maßstab:
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älteste, apostolische bzw. apostelnahe Verfasserschaft, spielte aber nocl:t ein anderes Moment herein: die Schriften, die man unter diesem Maßstab als kanonisch anerkannte, waren zugleich die gottesdienstlichen Vorleseschriften, die als solcl:te schon zuvor eine besondere Wirksamkeit im kirchlichen Lebensvollzug erlangt hatten und durch diese bereits herausgehoben waren. Man wählte als kanoniscl:J. die gottesdienstlicl:J.en Vorleseschriften. Aber man wählte sie zugleich als apostolische bzw. apostelnahe Schriften. 2. Soweit der äußere Hergang. Zunächst kann man nun sagen: Was in diesem Werden des Neuen Testamentes zum Kanon geschah, war ein Prozeß kirchlicher Selbsthilfe in einer Situation der Krisis; ein Prozeß historischer Nachfrage und Feststellung, den Menschen, Synoden, Theologen usw. in der Kirche vollzogen, weil sie für die Identität der kirchlichen Verkündigung und Lehre mit ihrem Ursprung sorgen wollten und mußten. Die gnostische Krise war gegeben- die Frage nach dem Kriterium der echten Oberlieferung war uniumgänglich geworden- man beantwortete sie mit den Mitteln, die man hatte und so gut man konnte, indem man das älteste Oberlieferungsgut feststellte. Das Ergebnis war der kirchlich festgestellte und schließlich definitiv in seinen Grenzen umschriebene Kanon des Neuen Testa-
mentes. Man kann dann feststellen, daß der alten Kirche diese historisme Nachfrage mehr oder weniger gut gelungen ist, so wie sie eben damals gelingen konnte. Die Annahme der apostolischen oder mit dem Apostelkreis durch unmittelbares Schülerverhältnis personell verbundenen Verfasserschaft hat sich ja mindestens für spätere Bestandteile und Schichten der neutestamentlichen Oberlieferung als historisch nid:tt gegeben erwiesen. Das neutestamentlime Schrifttum ist in einem zu langen Zeitraum und auf zu komplizierte Weise zusammengewachsen, als daß sich seine Autorschaft personell auf einen solchen Kreis festlegen ließe. Auch ist es theologisch weit weniger einheitlich, als man unter der früheren Annahme apostolischer Autorscl:taft erwarten konnte. Man könnte nun versucht sein zu folgern: da es hier um einen historischen Nachfrageakt der alten Kirche ging, und da diese historische Nachfrage (als solche notwendig und berechtigt) in ihrem Ergebnis problematisch blieb und mit den Mitteln jener Zeit bleiben mußte, wir aber mit heutigen Mitteln historischer Nachfrage mindestens genauer das älteste Gut feststellen können, ist der kirchlichen Gegenwart der durch das kirchliche Altertum festgestellte Kanon sinngemäß zur Korrektur und Reduktion aufgegeben. Maßgebend kann für uns nur bleiben, was wir mit unseren Mitteln als älteste Überlieferung, als echtes Jesuswort usw. feststellen können.
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Nun ist die Feststellung, was im Kanonwerden des Neuen Testamentes geschah, sei ein Prozeß historischer Nachfrage von Menschen gewesen, die als solche durchaus verbesserungsfähig ist, zwar nicht falsch. Sie ist aber als theologische Feststellung über jenes Geschehen ungenügend, weil sie der geistlichen Erfahrung der Kirche mit der Schrift, der eine theologische Feststellung über das Werden des Kanons entsprechen sollte, nicht voll entspricht. Denn erstens war das, was damals geschah, eben nicht nur die Annahme solcher Schriften, über deren apostolische Herkunft man sich vergewissert hatte (und z. T. täuschte), sondern ineins damit die Anerkennung derjenigen Schriften als kanonisch, die in den Gemeinden als gottesdienstliche Vorleseschriften bereits in hervorgehobener Weise wirksam geworden waren, mit denen man also bereits eine Geschichte geistlicher Erfahrung hatte. Man hat nicht nur historische Feststellung getroffen, sondern man hat zugleich diese geistliche Erfahrung anerkannt. Und zweitens hat die Kirche weiterhin mit dem zum Kanon gewordenen Neuen Testament eine besondere Geschichte gehabt. In dieser Geschichte hat das Neue Testament sich als Kanon bewährt, indem durch seine Wirksamkeit immer wieder die Verkündigung bei ihrer Sache gehalten und zu ihrer Sache zurückgebracht wurde. In dieser Wirksamkeit geschahen Durchbrüche durch spekulative Verfremdungen der Theologie, durch hierarchische, gesetzliche oder auch I säkularistische Verfremdungen des kirchlichen Lebens. Das Neue Testament wirkte erhaltend, erweckend und kritisch am Glauben und Leben der Kirche. (Die Frage, ob dieses Wirken durch alle Momente der neutestamentlichen Schrift geschah und geschieht, bleibe vorerst dahingestellt, wir werden sie später aufnehmen. Jedenfalls wird man nicht behaupten können, daß es nur durch diejenigen Elemente geschah, die eine historische Untersuchung mit heutigen Mitteln als älteste Überlieferungsschicht erweisen kann.) Im Blick auf diese geistliche Erfahrung der Kirche mit den neutestamentlichen Schriften zur Kanonisierung hin und mit dem Kanon gewordenen Neuen Testament seither durch die Jahrhunderte hindurch genügt es nicht, den Vorgang der Kanonsbildung nur als eine menschliche, quasi-kirchenamtliche Maßnahme zu betrachten, die ebenso gut oder auch fragwürdig ist wie beliebige andere kirchliche Maßnahmen und Entwicklungen. Eine theologische Beurteilung dieses Vorgangs wird sagen müssen, daß "in, mit und unter" dieser menschlichen Maßnahme (die zweifellos vorliegt) der Kirche zugleich eine "Maßnahme" Gottes widerfuhr: In der Kanonsbildung geschieht eine besondere Gabe Gottes an die Kirche, in der Wirksamkeit des Kanons vollzieht sich ein besonderes Wirken Gottes an der Kirche.
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Gott selbst hat im Werden dieser Schriften wahres Zeugnis von Jesus als dem Träger seiner Selbsterschließung entstehen lassen; er selbst gebraucht diese Schriften als Werkzeug, um das wahre Zeugnis seiner Selbsterschließung in alle Zeiten und Phasen kirchlicher Entwicklung hinein immer wieder geltend zu machen: rechten Glauben erweckend und erhaltend, kritisch einredend in die Verfremdungen dieses Glaubens in Lehre und Leben der Kirche. Wir sind uns allerdings im klaren darüber, daß diese Beurteilung des Vorgangs der Kanonsbildung selbst ein Glaubensurteil ist und den Charakter eines Bekenntnisses hat, für das sich keine "objektiven" Begründungen geben lassen. "Objektiv" betrachtet könnte man ja jene geistliche Wirksamkeit des Neuen Testamentes in der Kirche, die als Wirksamkeit historisch unbestreitbar ist, als geistliche in Frage stellen. Jeder Christ kann im Grunde diesem Urteil nur zustimmen aus seiner eigenen geistlichen Erfahrung mit dem Neuen Testament und der vom Neuen Testament geleiteten Verkündigung der Kirche. Dann aber wird die Frage nach dem historisch Ältesten und im personellen Sinn Apostolischen im Neuen Testament zweitrangig. (Wird die Bedeutung der Kanonsbildung nur in der historischen Rückfrage als kirchliche Maßnahme gesehen, so bleibt sie die über die kanonische Bedeutung entscheidende Frage.) Sie wird nicht einfach gleichgültig, denn das wahre, dem Gottessinn der Sendung Jesu gemäße Christuszeugnis kann als solches nicht im inneren Widerspruch zu der wirklichen Geschichte des wirklichen Menschen Jesu stehen. Darum ist es von Bedeutung, daß wir im Neuen Testament auch den erreichbar ältesten Reflex dieser Geschichte haben und das Spätere in ihm mit dem Altesten zusammenhalten können. Aber diese Frage verliert den Charakter einer Grenzangabe für das eigentlich Kanonische im Kanon. Als von Gott gewirktes Glaujbensverständnis der Geschichte Jesu Christi geht das neutestamentliche Christuszeugnis in den als historisch exakt erweisbaren Momenten der Berichterstattung dieser Geschichte nicht auf. Auch "gemeindetheologische" Bildungen können in ihrem Aussagesinn wahres, von Gott gewirktes Glaubenszeugnis Jesu und seiner Sendung aussprechen. (Wiederum: die Frage, ob man postulieren kann, daß alle gemeindetheologischen Bildungen des Neuen Testamentes dies tun, lassen wir noch offen.) Geht es hier nicht nur um das Älteste, historisch Exakte, personell Apostolische als solches, sondern um das durch Gott gewirkte wahre, exemplarische Glaubenszeugnis, so sind wir von der Vorstellung befreit, als kanonisch nur das annehmen zu können, was bestimmten Ansprüchen an historische Echtheit oder apostolische Verfasserschaft genügt.
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li. Die Frage der Inspiration Eben das, was wir jetzt behauptet haben: daß im Werden des neutestamentlichen Kanons in dem kirchlichen Nachfrage- tmd Feststellungsvorgang zugleich eine besondere Gabe Gottes, in seinem Wirken als Kanon ein besonderes Wirken Gottes an der Kirche geschah und geschieht, wollte auf ihre Weise die Inspirationslehre der altprotestantischen Orthodoxie zum Ausdruck bringen. Darin liegt ihr berechtigter Sinn. Aber man wird hier unterscheiden müssen: Das kanonische Wirken des Neuen Testamentes und darüber hinaus der ganzen Schrift, und damit meinen wir: das erweckend-erhaltend-kritische Wirken Gottes durch das Werkzeug der Schrift, ist eine geistliche Erfahrung der Kirche. Die Inspirationslehre als solche, in der Theologie des Spätjudentums gebildet, in der christlichen Tradition weitergetragen und im alten Protestantismus zu letzter Schärfe ausgearbeitet, ist keine geistliche Erfahrung. Sie ist eine theologische Theorie, von der man vielleicht sagen kann, daß sie zur Erklärung jener geistlichen Erfahrung gebildet wurde. Theologische Theorien sind unentbehrlich, aber nicht unkorrigierbar. Wir haben zu fragen, inwiefern die Theorie der Inspirationslehre (deren klassische Gestalt wir als bekannt voraussetzen dürfen) der Wirklichkeit, die sie umschreiben sollte, angemessen oder unangemessen ist; in welchem Sinn wir sie also festhalten sollten und in welchem nicht. Dabei gehört für uns zur Wirklichkeit der neutestamentlichen Schrift ebenso ihre geistliche Wirksamkeit, von deren Erfahrung durch die Kirche und den einzelnen Christen wir sprachen, wie andererseits auch die menschliche Gestalt, die sie dem historischen Betrachter zeigt und die wir als die von Gott selbst nun einmal akzeptierte Gestalt dieses Werkzeugs auch unsererseits akzeptieren sollten. Unter Voraussetzung der vorstehenden Uberlegungen zum theologischen Verständnis der Kanonwerdung erscheint der Begriff der Inspiration in folgendem Sinn verwendbar: a) wenn damit gesagt sein soll, daß Gott selbst im Werden der neutestamentlichen Schriften wahres, exemplarisches Zeugnis der Sendung Jesu und der Glaubenserkenntnis seiner Selbsterschließung in Jesus entstehen ließ; I b) wenn ferner gesagt sein soll, daß Gott selbst im Vorgang der Sammlung und Herausstellung dieser Schriften als Kanon die Kirche zur Anerkennung dieses exemplarischen Zeugnisses geführt hat; c) wenn endlich gesagt sein soll, daß Gott selbst im fVirken dieser Schriften schon vor ihrer formellen Anerkennung als Kanon und dann danach erweckend, erhaltend und kritisch am Glauben und Leben der Kirche und ihrer einzelnen Glieder gehandelt hat; und wenn die Erwartung ausgedrückt werden soll, daß er dies auch ferner tun wird.
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Mit dem dritten Satz kommt unmittelbar die geistliche Erfahrung der Kirche mit der Schrift zum Ausdruck; die beiden ersten Sätze ergeben sich als Voraussetzungen des dritten. Alle drei Sätze zusammen suchen das mit Werden und Wirksamkeit des Neuen Testamentes verknüpfte Wirken des Heiligen Geistes in seinem gesamten Zusammenhang auszusagen. Der Heilige Geist ist ja Gott selbst, sofern er im Menschen wahre Erkenntnis, Glauben und Bezeugung seiner Selbsterschließung wirkt: den Glauben, aus dem die Schriftzeugnisse hervorgingen, und wiederum den Glauben, zu dessen Erweckung und Reinigung sie werkzeuglieh dienen. In diesem Sinne kann der Begriff Inspiration, der ja Einwirken des Geistes bedeutet, mit Werden und Funktion des Neuen Testamentes verbunden werden. Man kann aber fragen, ob es zweckmäßig ist, an dem Begriff festzuhalten, ob es nicht vielmehr besser wäre, die "Sache", auf die wir ihn soeben bezogen haben, ohne den Begriff geltend zu machen. Denn historisch ist er von der klassischen Gestalt der Inspirationslehre her mit Zügen behaftet, die man u. E. als unangemessen bezeichnen muß. Diese Züge seien in vier Punkten herausgestellt. a) Unangemessen ist die direkte Gleichsetzung der Schrift mit dem Offenbarungswort Gottes, die in der alten Inspirationslehre enthalten ist: das verbum Dei scriptum, in dem die revelatio als mediata auf uns gekommen ist, nachdem zuvor das verbum als unmittelbare Eingebung des zu Schreibenden- revelatio immediata- den Propheten und Aposteln zuteil geworden war. Diese Vorstellung entspricht nicht dem Selbstzeugnis des Neuen Testamentes. Nach ihm ist das Wort Gottes primär und in unmittelbarer Identität Jesus Christus selbst (Job. 1, Apoc. 19, 13). Wort Gottes wird sodann auch die Verkündigung der Christusbotschaft durcll Menschenmund genannt, weil und sofern durch sie Gott selbst zu den Hörenden redet, Christus selbst ihnen dadurch gegenwärtig wird. (So etwa 1. Thess. 2, 19.) In diesem Sinne und sofern dies durch siegeschieht, kann man natürlich auch die neutestamentlichen Zeugnisse als Wort Gottes bezeichnen. Das gilt dann aber auch für weitere Verkündigung, sofern Gott selbst durch sie als Werkzeug zu Menschen redet, Christus selbst sich ihnen gegenwärtigt. Umgekehrt werden wir aber nun nicht sagen, das Wort solcher Verkündiger sei als solches und damit, daß sie es sagen - sozusagen in ontologischer Identität mit ihrer Person und deren Redeakt - Wort Gottes. Sondern wir werden sagen: durch ihr Reden, das menschliches I Reden von Menschen bleibt, geschieht Gottes eigenes Wort, so daß ihr menscl:iliches Reden, welches Zeugnis vom Worte Gottes ist, zum Werkzeug des Selbstwortes Gottes wird. Dann gilt dasselbe aber auch von den Worten des Neuen Testamentes. Denn auch hier reden menschliche Zeu-
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gen, das Neue Testament ist ja Niederschlag urchristlicher Verkündigung. Zwischen seinen Autoren und späteren Verkündigern ist kein prinzipieller Unterscllled (ein solcher konnte allenfalls noch gedacht werden, solange man die Vorstellung des personell abgrenzbaren apostolischen Verfasserkreises haben konnte, nicht aber angesichts der komplizierten Entstehungsgeschichte, um die wir heute wissen). Also sind auch ihre Worte nicht in direkter Identität das Selbstwort der Offenbarung, son~ern sie sind Werkzeug durch welches Gottes eigenes Wort geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Allerdings sehen auch wir dieses Werkzeug in einer Vorrangstellung gegenüber aller anderen Verkündigung, die ihrerseits Werkzeug des Selbstwortes Gottes wird. Aber diesen Vorrang sehen wir nicht darin, daß das Novum Testamentum scripturn direkt mit dem Offenbarungswort Gottes identisch ist, sondern darin, daß es dasjenige Werkzeug ist, durch welches Gottes Wort so geschieht, daß die fernere Verkündigung der Kirche bei ihrer "Sache" gehalten und zu ihr zurückgerufen wird, so daß auch sie Werkzeug des Selbstwortes werden bzw. bleiben kann. Der kanonische Vorrang des Neuen Testamentes ist es, dasjenige menschliche Offenbarungszeugn.is zu sein, daß dem Selbstwort Gottes zu dieser spezifischen Wirkung des Erweckens, Erhaltens, und kritischen Reinigens weiteren Zeugnisses als Werkzeug dienen kann und dient. Im Sinne unmittelbarer Identität kann man u. E. überhaupt nur von Christus selbst sagen: Er ist das Wort Gottes. Was er spricht, ist Wort Gottes, weil er es ist, der redet. Es gibt nur diesen Einen, in dem Gott sich und sein Reden in unmittelbarer Identität mit einem irdisch-geschichtlichen Konkretum gleichgesetzt hat. Der Bibelkanon ist kein zweites solches geschichtliches Konkretum, in dem diese Gleichsetzung noch einmal geschehen wäre- das Wort Gottes ist nicht inkarniert und dann noch einmal "inkodifiziert". Das Neue Testament, wie streng immer als Kanon verstanden, muß in werkzeuglicher Unterordnung unter das Selbstwort Gottes in Christus gesehen werden. Das würden grundsätzlich wohl auch die orthodoxen Theologen zugestanden haben. Dann erscheint es aber angemessener, das Bibelwort nicht in jener direkten Gleichsetzung als verbum Dei scripturn zu bezeichnen, weil dies eben doch irgendwie eine formale Isomorphie zu dem verbwn Dei incarnatum bedeutet, sondern nur von seiner spezifischen Werkzeuglichen Bedeutung für die Selbstdurchsetzung des Gotteswortes in Lehre und Leben der Kirche und gegen deren Entstellungen zu reden. b) Unangemessen erscheint uns die These, kraft ihrer Inspiration sei die Sduift als solche das formale principium aller Glaubenserkenntnis und Theologie, weld::tes principium dann formuliert werden könne: Quidquid Scriptura sacra docet, credendum est. I
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Das ist darum unangemessen, weil nach dem neutestamentlichen Zeugnis selbst diejenige Autorität, an die wir im Glauben unbedingt gebunden werden, nicht ein formales Prinzip ist, sondern eine inhaltliche, personale Größe: Jesus Christus selbst, die Selbsterschließung Gottes in ihm. Die neutestamentlichen Zeugnisse weisen ja überall auf diese ihre inhaltliche Mitte und "Sache" hin. Sie rechnen damit, daß diese "Sache": das Evangelium und in ihm der gegenwärtige Herr, den Hörenden unmittelbar an sich selbst bindet und nicht auf dem Umweg, daß zuerst die Bindung an eine formale Autorität erfolgt und dann erst, kraft seines Bezeugtseins durch diese, die Bindung an Christus und das Evangelium. Die Vorstellung der Schrift als formales Glaubensprinzip ist ferner dem Wesen und der geistlichen Erfahrung des Glaubens selbst unangemessen. Wirklicher Glaube entsteht nicht so, daß man zunächst zu dem Entschluß überwunden wird: ich will alles glauben, was in der Bibel steht- und daß man erst daraufhin und weil man in der gleichsam "zuerst geglaubten" Bibel das Christuszeugnis fmdet, auch an Christus glaubt. Wirklicher Glaube entsteht freilich nicht abseits der Schrift, aber so, daß durch sie hindurch Christus und das Evangelium unmittelbar das Leben bewegt. Solcher Glaube könnte nicht sprechen: Ego non crederem Christo et evangelio, nisi me commoveret auetorilas Sacrae Scripturae. Wenn er so spräche, müßte man ihn als unmündig bezeichnen. Sondern er wird sagen: Ich glaube an Christus und das Evangelium, weil seine befreiende Autorität mich ergriffen hat - und weil er und diese seine Autorität mir durch die Schrift begegnet ist und immer wieder begegnet, darum halte ich mich an die Schrift. Jener formale Entschluß, zu glauben, was in der Bibel steht, weil es in der Bibel steht, wäre ein "gesetzlicher" Glaube, d. h. eigentlich kein Glaube, sondern ein Gesetzeswerk, das der Freiheit und Unmittelbarkeit der Gotteskindschaft, die im Neuen Testament selbst bezeugt wird, nicht entspricht. Es gibt solchen formalen Bibelglauben, aber er trägt in der Regel die Züge der Gesetzlichkeit. Er entspricht dem spätjüdischen Verhältnis zur geschriebenen Thora. Von dieser Art von Unmündigkeit hat uns das Evangelium nach Paulus gerade freigemacht. Selbstverständlich wollten die alten Theologen mit der Formulierung jenes Prinzips: Quidquid usw. nicht eine solche gesetzliche Haltung vertreten. Sie weisen ja im weiteren Verlauf ihres locus de Sacra Scriptura selbst darauf hin, daß die Schrift nicht gesetzlich als Norm angenommen wird, sondern durch das testimonium Spiritus sancti internum, also im inneren überführtwerden durch die Autorität Gottes selbst, Geltung gewinnt und ihre Autorität beweist. Dann muß man aber sofort hinzufügen, daß der Geist eben der Geist ist, der
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Christus gegenwärtigt. Das testim.onium des Geistes ist nach dem Neuen Testament selbst stets inhaltlich auf Christus und das Evangelium bezogen (Joh. 14, 26; 15, 26), nicht auf irgendeine formale Größe, deren Geltung ihrerseits erst wieder den Glauben an Christus begründen müßte. Dies wollten, wie gesagt, die alten Theologen mit der Formulierung jenes Prinzips auch kaum behaupten; I sie formulierten es im Interesse wissenschaftlicher Durchgestaltung der Theologie als axiomatischen Hinweis auf eine klar umschriebene, formal abgrenzbare Größe, von der aus die Geltung dogmatischer Sätze streng deduziert werden kann. Aber es ist eben die Frage, ob die Theologie eine solche formal umschriebene Deduktionsgrundlage haben kann und soll. Jedenfalls entspricht die prinzipielle Voranstellung des Satzes "Quidquid ... "weder dem Selbstzeugnis des Neuen Testamentes noch der geistlichen Wirklichkeit des Vorgangs, wie durch das Werkzeug der Schrift Glaube entsteht. Somit ist er als theologischer Ausdruck der Bedeutung der Schrift für den Glauben unangemessen. c) Unangemessen ist das Postulat, kraftihrer Inspiration seien alle Aussagen der Schrift, eingeschlossen weltbildliehe und historische Angaben, Verfasserschaftsangaben usw. von Irrtum frei. Es ist in einer mehrhundertjährigen Geschichte wissenschaftlicher Erforschung der Natur, Geschichte usw. einerseits, der Bibel andererseits zutage getreten, daß diesem Postulat die biblische Wirklichkeit nicht entspricht. Das muß man zugeben, auch wenn man vielen scheinbar wissenschaftlichen Ergebnissen bis auf weiteres kritisch gegenüberstehen mag. Wir sollten darin theologisch auch nicht nur das mehr oder weniger unbequeme Resultat menschlicher Wissenschaft, sondern zugleich die Korrektur Gottes selbst an unseren theologischen Theorien und Postulaten hinnehmen: Ihm hat es offenbar gefallen, die Bibelzeugnisse in jener nicht-irrtumslosen Gestalt nun dennoch als Werkzeug jenes spezifischen Wirkens zu gebrauchen, von dem wir gesprochen haben. Denn auch was menschliche Wissenschaft uns in korrektem Aufweis mit denjenigen Erkenntnismitteln, die wir im Glauben doch als von Gott dem Menschen zur Anwendung verliehen sehen, als eben so und nicht anders gegeben aufzuweisen vermag, gehört zu der Wirklichkeit, die Gott so werden ließ, wie sie wurde, und so sein läßt, wie sie ist, mit der wir also letztlich von ihm her konfrontiert sind und uns abzufinden haben. Jeder Theologe würde das bejahen, wenn es sich um wissenschaftliche Erkenntnisse handelt, die sich auf Gegebenheiten außerhalb des biblischen Bereiches beziehen. Auch die alten Theologen haben nicht daran gedacht, etwa aus der Tatsache der Sünde eine grundsätzliche wissenschaftsskeptische Haltung abzuleiten. Dann gilt dasselbe auch für kritische wissenschaftliche Ergebnisse hinsieht-
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lieh der Richtigkeit biblischer Vorstellungen, soweit diese sich auf Dinge beziehen, die überhaupt einer wissenschaftlichen Nachprüfung unterliegen. Wir können solche Ergebnisse auch hier nur ablehnen, wenn sie eben nicht korrekt nachgewiesen sind- d. h. aus Gründen mangelnder wissenschaftlicher Evidenz, die uns auch gegenüber Behauptungen auf außerbiblischem Gebiet zu einer entsprechenden Skepsis veranlassen müßten; wir können sie nicht deshalb ablehnen, weil sie sich kritisch auf etwas beziehen, was "in der Bibel steht". Sonst müßten wir entweder eben jene grundsätzlich wissenschaftsskeptische Haltung beziehen - woran im Ernst kein Theologe denkt -, oder aber behaupten, die wissenschaftlichen Kriterien seien in bezug auf die Bibelzeugnisse als geschichtjliche und geschichtlich bedingte Gestalt menschlicher Äußerungen prinzipiell unanwendbar. Sind sie aber dann noch wirklich menschliche Äußerungen? Nun hing das Postulat der unbedingten lrrtumslosigkeit ja in der Tat mit jener unmittelbaren Identifizierung von Schriftwort und Selbstwort Gottes zusammen, über deren Problematik wir bereits sprachen. Zu jenem Postulat konnte es nur kommen- und mußte es dann kommen-, wenn man davon ausging: hier redet Gott selbst unter Ausschaltung der menschlichen Bedingtheit seiner schreibenden Amanuensis. In dem Augenblick, in dem die Unangemessenheit dieser Vorstellung erkannt ist, in dem also erkannt ist: hier ist menschliches Zeugenwort, das in seiner vollen Menschlichkeit dem Selbstwort Gottes als Werkzeug dient, ist der Weg frei, die geschichtliche Bedingtheit jener Menschen, die hier reden, mit einzubeziehen damit auch die Grenzen ihres kosmologischen und historischen Wissens, ihrer Methoden historischer Berichterstattung, ihrer exegetischen Methoden usw. und deren Abstand von heutigem VVissen und heutigen Methoden (wobei es gut ist, sich zu erinnern, daß auch das "Heutige" für spätere Geschlechter überholt sein wird). Dieses Menschliche der Schriftzeugnisse wird also von dem Göttlichen, dessen Werkzeug sie sind, nicht verdrängt. Es kann aber auch seinerseits das göttliche Wirken nicht verdrängen. Zugespitzt gesagt: Gott spricht sein die Kirche bei der Wahrheit seiner Selbsterschließung in Christus erhaltendes Wort durch die Schrift nicht nur da, wo etwa "Inseln" historischer oder sonstiger Irrtumsfreiheit zu fmden sind. Er spricht es auch durch die menschlichen Irrtümer der biblischen Zeugen hindurch. Die Frage bleibt, ob wir postulieren können, daß dies durch alle Teile des Schriftzeugnisses hindurch geschieht. Anders und wieder in Beschränkung auf den neutestamentlichen Kanon gesagt: ob jedes Element der neutestamentlichen Schrift, unangesehen die Problematik seines frühen oder späten, im historischen Sinn "jesuanischen" oder gemeindetheologischen Ursprungs, unangesehen auch
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die sonstige Problematik seiner menschlichen Bedingtheit, kraftseines Enthaltenseins im Neuen Testament in seinem theologischen Aussagegehaltals Ausdruck des wahren, exemplarischen Glaubenszeugnisses anzunehmen ist, das Gott zum Werkzeug seines erweckend-erhaltend-kritischen Wirkensan der Kirche dient. d) Wir meinen, daß auch dieses Postulat unangemessen wäre. Zwar hatten wir festgestellt, daß in einer theologischen Beurteilung der menschliche Prozeß der Kanonsdefinierung nicht nur als menschliche Maßnahme, sondern zugleich als Gabe und Wirken Gottes an der Kirche zu verstehen ist. "In, mit und unter" der menschlichen Maßnahme hat Gott selbst in der Kirche jenes Werkzeug einund durchgesetzt. Das menschliche Geschehen der Kanonsdefmierung ist als Annahme und Anerkennung dieses Gottesaktes zu verstehen. Es bleibt aber als diese Anerkennung ein menschlicher Vollzug, dem als solchem ebensowenig Unfehlbarkeit zukommt wie irgendeiner anderen menschlichen Äußerung oder Maßnahme in der Kirche. Es kann also nicht postuliert I werden, der kirchliche Vollzug der Kanonsabgrenzung müsse in seinem schließliehen Ergebnis absolut deckungsgleich sein mit jenem besonderen Wirken Gottes, das das exemplarische Glaubenszeugnis entstehen ließ, seine Bedeutung in der Kirche durchsetzte und es nun als erweckend-kritisches Werkzeug gebraucht. Es wird zumindest damit zu rechnen sein, daß in die Grenzen des kirchlich festgelegten Neuen Testamentes auch Elemente eingetreten sind, die nicht exemplarisches, sondern verdunkeltes Glaubenszeugnis sind, die dem Gottessinn der Sendung Jesu nicht entsprechen, die also aus jenem Gotteswirken ihrer Entstehung wie ihrer Wirksamkeit nach herausfallen. Man hat ja in der Kirche auch nie alle Bestandteile der Bibel, nicht einmal alle Bestandteile des Neuen Testamentes, zum Predigttext gemacht. Offenbar kann man das nicht. Und wo man dennoch die ganze Bibel von A bis Z durchpredigen wollte, würde das an gewissen Punkten gar nicht abgehen ohne gewaltsame Um- und Eindeutungen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Feststellung eines einzelnen Predigers oder Theologen oder auch der Konsens einer ganzen Gruppe oder Epoche der Kirche über die geistliche Unfruchtbarkeit eines Textes ein sicheres Kriterium dafür abgäbe, daß dieser Text definitiv nicht zum "eigentlichen" Kanon gehört und der Selbstgegenwärtigung des Wortes Gottes nie zum Werkzeug dienen kann. Der Eindruck geistlicher Unfruchtbarkeit kann auch in der Enge der Theologie oder der persönlichen Glaubenserfahrung des betreffenden Beurteilcrs gelegen sein. Er kann darin begründet sein, daß der Text in eine andere "Situation" der Kirche hinein redet als die gegenwärtig gegebene. Wir wenden uns lediglieb gegen das dogmatische Postulat, es müsse jedes Element des Neuen
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Testamentes (erst recht des Alten) kraftseines Enthaltenseins in diesem kanonische Bedeutung im Sinne jenes Gotteswirkens durch das Werkzeug der Schrift haben, und solche Bedeutung müsse gar jederzeit methodisch zu erheben sein. Gegenüber solchen quasi-juristischen Feststellungen ist das Geheimnis und die Lebendigkeit des göttlichen Wirkens durch die Schrift zu wahren. Im übrigen meinen wir, daß man mit einem definitiven Urteil über das "Unkanonische" in der Schrift sehr viel vorsichtiger sein sollte als es die heutige Theologie weithin ist. Aber damit rühren wir an ein Problem, das im folgenden Abschnitt noch etwas weiter verfolgt werden soll.
lll. Die Bedeutung der historisch-kritisd~.en Forschung für die kanonische Wirksamkeit des Neuen Testamentes, und ihre Grenze Es kann vermessen erscheinen, zu dieser Frage auf wenigen Seiten etwas zu sagen. Aber wir können sie nicht umgehen, wenn wir uns über die kanonische Bedeutung des Neuen Testamentes Rechenschaft geben wollen. Denn wir tun dies in einer Situation, die durch die Wirksamkeit historisch-kritischer Erforschung des Neuen Testa-
mentes bestimmt ist. Wir müssen also die Frage stellen, was die Tätigkeit und die Ergebnisse dieser Forschung für die kanonische Wirksamkeit der Schrift besagen können und was nicht. Dabei kann es sich hier I wie schon im bisherigen nur um die thesenartige Formulierung einiger grundsätzlicher Einsichten handeln. Voranzustellen ist die Erkenntnis, daß es keinen legitimen theologischen Grund geben kann, die Anwendung historisch-kritischer Fmgestellungen auf die biblischen Schriften a limine abzuweisen. Sonst müßte folgerichtig die Berechtigung historisch-kritischer Forschung auch im profanen Anwendungsbereich theologisch in Frage gestellt werden, oder aber es müßte den Schriftzeugnissen die Eigenschaft abgesprochen werden, ein menschlich-geschichtliches Phänomen zu sein (eine Art von Doketismus hinsichtlich der Bibel, der letzten Endes auf den Doketismus hinsichtlich des Menschseins und der Geschichte Jesu zurückführen müßte). Daß und warum eine solche Alternative gerade aus theologischen Gründen nicht gangbar ist, wurde im vorhergehenden Abschnitt bereits erörtert. Kann es aber keinen Gmd geben, die Anwendung historisch-kritischer Forschung von der biblischen Schwelle abzuweisen, dann bedeutet dies, daß ihre Ergebnisse auch in der Anwendung auf biblische Gegebenheiten in dem Maße anzunehmen sind, in dem sie wirklich begründet werden können und von dem Theologen, wenn es sich um einen außerbiblischen Forschungsgegenstand handelte, als begründet angenommen würden. Ich sehe
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keine Möglichkeit, an dieser Konsequenz vorbeizukommen. Historisch-kritische Forschung wurde freilich faktisch oft mit der destruktiven Tendenz betrieben, die Offenbarungsqualität der Schrift zu bestreiten. Das mußte auf der Seite derer, denen die Schrift das Werkzeug des Wortes Gottes ist und bleibt, die apologetische Tendenz hervorrufen, ihrerseits diese Forschung und ihre Ergebnisse zu bestreiten. Aber historisch-kritische Forschung, die sachlich bleibt, muß nicht jene destruktive Tendenz haben. Ja sie wird einsehen, daß sich jene Offenbarungsqualität ihren Beobachtungs- und Feststellungsmöglichkeiten grundsätzlich entzieht. Darum muß auch der Glaube nicht jene apologetische Tendenz haben. Sie widerspricht seinem Wesen als Glauben, weil ihr geheimes Motiv die Angst ist, was "herauskommen könnte". Glauben wir wirklich der Selbstbezeugung Gottes in Christus, die uns durch die Schrift begegnet, dann sollte darin die Gewißheit eingeschlossen sein, daß bei einer sachlichen Erforschung der Schrift als geschichtliches Phänomen nichts "herauskommen" wird, was die Selbstbezeugung Gottes vernichtet. Glauben wir das nicht, so wäre der Glaube, der apologetisch verteidigt werden soll, schon in der Wurzel gebrochen. Es muß das Ziel einer evangelischen Lehre vom Bibelkanon sein, die furchtlose Offenheit für das, was historische Forschung in sachlicher und begründeter Beobachtung an der Schrift wahrnehmen kann, zu vereinigen mit der ungebrochenen Gewißheit, daß durch diese Schrift hindurch wirklich das die Kirche unter dem wahren Christuszeugnis erhaltende Wirken Gottes geschehen ist, geschieht und weiterhin geschehen wird. Es bleibt die Frage, ob und inwiefern historische Forschung an der Schrift mehr sein kann als eine zu tolerierende, aber theologisch irrelevante Randerscheinung; inwiefern sie also gerade für die kanonische Wirksamkeit der ISchrift, für jenes durch sie geschehende Wirken Gottes einen Dienst zu leisten hat. Um diese Frage zu beantworten, sind verschiedene Schichtungen in der historisch-kritischen Fragestellung gesondert zu betrachten. a) In einer ersten Schicht wird sich diese Fragestellung auf die ursprüngliche Gestalt der Texte richten. Diese textkritische Schicht der historisch-kritischen Untersuchung sei hier nicht weiter besprochen ,_ sie bietet, soweit wir sehen, kein gravierendes theologisches Problem. b) In einer zweiten Schicht richtet sich die historische Fragestellung auf die ursprüngliche Meinung der Texte. Sie fragt also etwa: Was wollte der Verfasser wirklich sagen mit dem, was er schrieb? Welche geschichtliche Situation steht hinter der Entstehung der Aussage, und wie ist ihr Sinn im Bezug dieser Situation zu verstehen? Wird die kritisdle Frage so gestellt, so zielt sie darauf ab, zu verhindern,
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daß wir von Voraussetzungen aus, die nicht die der Verfasser waren, Texte umdeuten. Es ist klar, daß kritische Forschung unter dieser Fragestellung kirchlich und theologisch keineswegs belanglos ist. Indem historischkritisch die ursprüngliche Meinung des Textes herausgestellt wird, kann dies dem Treffen des Wortes Gottes durch das Wort der Schrift dienen. Die kritische Verdeutlichung seines ursprünglichen Sinnes kann einen Text zunächst fremd erscheinen lassen; aber gerade so kann es dazu kommen, daß dieser Text zum Werkzeug der Einrede Gottes selbst in das eigene oder traditionelle Gedankengefälle wirddaß er also wirklich in seine "kanonische" Funktion eintritt. Als Beispiel sei an Luthers Entdeckung des genuinen Sinnes von dikaiosyne theou im Römerbrief erinnert; oder auch an die starke theologische Wirksamkeit, die von der Wiederentdeckung des Eschatologischen im Neuen Testament durch die religionsgeschichtliche Schule (und z. T. gegen deren eigene theologische Intentionen) ausgegangen ist. Daß diese Wirkung eintritt, ist freilich kein methodisch zu erreichendes Forschungsergebnis. Die historische Forschung kann ja immer nur zeigen, was Menschen, nämlich die biblischen Schriftsteller, damals wirklich sagen wollten und gesagt haben. Daß und was Gott selbst durch dieses geschichtlich genau gehörte Menschenzeugnis gesagt hat und der Kirche heute zu sagen hat, entzieht sich der wissenschaftlichen Feststellung. Diese muß also nicht zum neuen Reden und Hören des V\'ortes führen, sondern es kann ihren Ergebnissen gegenüber bei der Befremdung über den ursprünglichen Sinn des Textes bleiben, oder beim rein historischen Interesse. Unterlassen wir aber die Frage nach der ursprünglichen Meinung des Textes, so schieben wir, so viel an uns ist, auch seinem Treffen als Werkzeug des Wortes Gottes einen Riegel vor. Denn wenn Gott durch dieses Werkzeug redet, so doch durch das, was Paulus, Johannes usw. wirklich sageil wollten- nicht durch das, was wir (auf Grund einer Tradition, diE ja gerade dem kritischen Wirken der Schriftzeugnisse ausgesetzt wer· den soll) meinen, daß sie hätten sagen wollen. Es sei zugegeben, daE auch historische Forschung meinen kann, etwa als die ursprünglichE Meinung des I Textes festgestellt zu haben, was in Wahrheit aus de1 Meinung des Exegeten darüber stammt, was der Verfasser allein ge· meinthaben könne. Dann wird solche Forschung unkritisch. Aberdaf dies faktisch geschehen kann, entbindet nicht von der Feststellung, da{ die kritische Frage nach dem historisch ursprünglichen Sinn der Texte möglich und theologisch notwendig ist. Abusus non tollit usum. c) Eine dritte Schicht kritischer Fragestellung kommt in Frage sofern es sich in den Texten um Berichte über ein Geschehen handelt im Neuen Testament also vor allem den Evangelien gegenüber. Di~
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Fragestellung wird sich dann über die geschichtliche Meinung des Textes hinaus auf die geschichtliche Tatsächlichkeit des berichteten Geschehens richten. Diese Frage mag für weite Bezirke biblischer Geschichtsberichte theologisch unerheblich sein; für die Evangelienberichte der Geschichte Jesu führt sie in eine eigentümliche Problematik. Auf der einen Seite wollen diese Berichte die wirkliche Geschichte des wirklichen Menschen Jesus bezeugen, und es ist für das neutestamentliche Glaubenszeugnis von Christus als dem auferweckten und erhöhten Herrn wesentlich, daß es sich auf die Geschichte dieses wirklichen Menschen zurückbezieht. Auf der andem Seite läßt historische Forschung uns erkennen, daß dieser Geschichtsbericht sowohl in der Darstellung der Ereignisse wie in der Wiedergabe der Worte Jesu mit unhistarischen Zügen durchwachsen ist, in denen das Glaubensverständnis sich ausspricht, das die Gemeinde im Lichte der Ostererfahrung von Jesus und seiner Sendung als der Christus gewann. Das ist bekannt und muß hier nicht näher ausgeführt werden. Indem historische Forschung diese Durchwachsenheit der Berichte mit unhistarischen Zügen beobachtet, hat sie gewiß oft über das Ziel geschossen und wird das weiterhin tun, aber in vielem ist sie zu begründeten Ergebnissen gelangt. Damit bleibt hier eine grundsätzliche Frage gestellt, wie immer man sich im einzelnen gegenkritisch zu der oder jener hyperkritischen These stellen mag. Diese Frage lautet: Welche Bedeutung kann historische Forschung in ihrer Eigenschaft als Frage nach der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu für das Hören des Wortes Gottes im neutestamentlichen Christuszeugnis haben? Sie hat zunächst jedenfalls die Bedeutung, festzuhalten, daß der erhöhte Christus nicht Chiffre einer bloßen Idee, sondern der Jesus ist, der als wirklicher Mensch eine wirkliche Geschichte unter Menschen gehabt hat, und daß der Glaube an ihn, nicht an einen abstrakten theologischen Gehalt, gebunden wird. Eben weil er wirklicher Mensch ist, darum kann man auch nach dem "historischen" Aussehen seiner Geschichte fragen. Könnte man es nicht, so wäre er nicht wirklicher Mensch gewesen; und wollte man diese Nachfrage abstellen, so wäre man wieder auf dem Wege zum- diesmal unmittelbar christologischen - Doketismus. Damit ist vorerst nur etwas über die Bedeutung des "daß" der historischen Nachfrage gesagt. Welche Bedeutung kann aber der Tatsache zukommen, daß I diese Forschung zur Feststellung unhistarischer Züge der Berichte führt? Sie lehrt dadurch das Glaubensverständnis Jesu und seiner Sendung, das sich im Neuen Testament ausspricht, von dem, was an Jesus auch mit dem Auge des unbeteiligten Beobachters gesehen werden konnte, zu unterscheiden. Diese Unter18 Käsemann, Kanon
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scheidung wird immer unvollkommen bleiben, weil ein vollständiges und exaktes Bild der historischen "Erscheinung" der Geschichte Jesu kaum zu erreichen ist; aber bis zu einem gewissen Grade ist sie mit dem, was auf diesem Gebiet gesichert festgestellt werden kann, tatsächlich gegeben. Die Herausstellung der "unhistarischen" Züge der Berichte, in denen sich nun gerade das Glaubensverstehen Jesu als des Christus ausspricht, kann dieses selbst in seiner Intention und Aussage als Christusbekenntnis schärfer hervortreten lassen. Vielleicht darf man hier noch einen Schritt weiter gehen. Die Differenz zwischen historisch sichtbarer Wirklichkeit und Christusbekenntnis, wie sie die Forschung sehen läßt, könnte dazu dienen, die konkrete Gestalt des status exinanitionis dessen, dem dieses Bekenntnis gilt, damit die innere Spannung, das "Dennoch" des Bekenntnisses zu ihm als dem Christus, zu verdeutlichen - diese Spannung, die durch die Hoheitsaussagen über den Erhöhten und Fantokrator ja auch verdeckt werden kann und im Christusbild der Kirche zeitweilig verdeckt war. Was "historisch" sichtbar wird, kann die Hoheitsaussagen als Aussagen des Glaubens niemals aufheben; es kann aber dazu dienen, den Blick zu schärfen für die Spannung zwischen Jesu Teilhabe an unserer Schwachheit und der gerade darin wirkenden Gotteskraft. Auch hierzu muß freilich gesagt werden: Historische Erhellung der Wirklichkeit Jesu ist kein methodischer Weg, die Gotteskraft in der Niedrigkeit zu erkennen. Sie kann auch dazu führen, daß man sagt: Er war ein bloßer Mensch, und sich von dem Ernstnehmen der dui.stologiseben Hoheitsaussagen für dispensiert hält. Daß die Gotteskraft in der Niedrigkeit erkannt wird, ist das Werk des Redens Gottes durch die Schrift, nicht die Sache der Frage des Historikers nach dem historischen Aussehen der Geschichte Jesu, die hinter den neutestamentlichen Zeugnissen steht. Würden wir aber umgekehrt diese Frage verbieten, so könnte es sein, daß wir uns damit weigern, die Niedrigkeit dessen zu sehen, in dem die Gotteskraft wirkt. Nicht dagegen kann die Rückfrage nach dem Historischen der neutestamentlichen Berichte, nach den im historischen Sinne "echten" Jesusworten usw. den Sinn haben, mit der Unterscheidung des Historischen und Unhistarischen eo ipso auch das eigentlich Maßgebliche im Neuen Testament vom Unmaßgeblichen zu unterscheiden; als ob, was unhistarisch ist, eben damit auch als Verfälschung der Wirklichkeit Jesu als des Christus zu beurteilen wäre. Denn auch nach historischen Maßstäben "legendäre" Züge der Berichte, "unechte" Jesusworte können in ihrem bekennenden Aussagegehalt wahres Zeugnis von Jesus als dem Christus sein, das von Gott selbst als Glaubensantwort auf seine Selbsterschließung in Christus erweckt ist und seinem Wirken am Glauben der Kirche als Werkzeug dient.!
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d) Aber nun muß die schon mehrfach angedeutete Frage endgültig aufgegriffen werden: Kann das von dem Aussagegehalt jeglichen Elementes der neutestamentlichen Zeugnisse gesagt werden? Damit stoßen wir auf eine vierte und letzte Schicht in der Fragestellung historisch-kritischer Forschung. Diese erwächst aus dem, was in den bisher besprochenen Frageebenen zutage trat: Bei der Feststellung, was die Texte, nicht durch die eventuell ungeschichtlich harmonisierende Brille kirchlicher Tradition gesehen, sondern auf ihre ursprüngliche Situation und Meinung befragt, sagen wollen, stellt sich eine große Mannigfaltigkeit ihres theologischen Aussagegehaltes heraus. Nicht nur Verschiedenheiten, sondern auch Widersprüche zeigen sich. Matthäus hat eine andere Theologie als Paulus. Wieder eine andere hat Lukas, ganz zu schweigen von dem Problem Paulus-Jakobus. Das Feststellen von Unterschieden und Widersprüchen kann freilich auch zur Manie werden und über wirklich begründete Beobachtungen hinausführen in das Reich der Konstruktion (die dann nicht selten ebenso "dogmatische" Gründe haben kann wie die apologetische Abwehr historischer Beobachtungen). Aber auch hier wieder: Abusus non tollit usum. Die historisch-kritische Forschung hat uns gelehrt, erhebliche theologische Unterschiede im Neuen Testament zu sehen; auch wenn man Übertreibungen in Rechnung stellt, bleiben deren noch genug. Die Frage lautet also nun: Wennschon die Unterscheidung von Historischem und Unhistarischem nicht bereits gleichbedeutend sein kann mit der Unterscheidung von Kanonischem und Unkanonischem, weil auch das unhistarische Element auf seinen theologischen Aussagegehaltgesehen wahres Glaubenszeugnis sein kann- nötigt nicht die Entdeckung der Unterschiede gerade im theologischen Aussagegehalt selbst nun doch zu einer theologisch-kritischen Unterscheidung innerhalb des gegebenen Neuen Testamentes? Muß diese nicht geübt werden, wenn tiian sich nicht damit zufrieden geben will, daß der Kanon statt der Einheit der Kirche die Vielfalt der Konfession begründet? Aber welches wäre dann das Kriterium dafür, wo innerhalb jener Unterschiede das wahre und wo das verdunkelte Glaubenszeugnis zu suchen ist? Hier wird man an das Kriterium Luthers denken: Kanonisch ist, "was Christum treibet"; und dies bedeutet für ihn bekanntlich: was der Verkündigung der Rechtfertigung aus Gnade in Christus zugehört. Einige Schriften des Neuen Testamentes hat Luther bekanntlich von daher abzuwerten gewagt. Ist hier nicht schon der Ansatz und zugleim der Maßstab solcher theologisch-kritischen Unterscheidung innerhalb des Kanons gegeben? Die heutige Kritik, sofern sie zur theologischen wird, pflegt sich denn auch auf diesen Ansatz und Maßstab Luthers zu berufen. Aber was kann das heißen: Christum treiI&•
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ben? Das bedürfte einer eingehenden Erwägung, für die an dieser Stelle nur einige Thesen bereitgestellt werden können. a) Der Satz, kanonisch sei, was Christum treibet, ist zu bejahen. Das folgt aus dem, was wir in der Auseinandersetzung mit dem Formalprinzip "Quidquid Sacra Scriptura ... " bereits festgestellt hatten: Wir glauben dem neuitestamentlichen Zeugnis nicht aus formalen Gründen, sondern wir glauben ihm als dem Werkzeug, durch das uns bisher Christus als Gottes Lebenswort begegnet ist und durch das wir solches Begegnen weiterhin erwarten. ß) Christum treiben heißt in der Tat: ihn als den Giund und Träger der Rechtfertigung aus Gnade verkfuidigen. Wir halten die paulinisch-reformatorische Rechtfertigungsverkündigung in der Sache wirklich für die zentrale Auslegung des in JesU:s Christus gesprochenen Wortes Gottes auf un.Sere Existenz hin (unter der Bedingung freilich, daß dabei die RechtfertigUng nicht von der Bindung an Jesus als den Personträger der Gnadengegenwart des rechtfertigenden Gottes abgelöst; daß Jesus also nicht nur als der erste Prediger der Rechtfertigung verstanden wird). Dabei soll nicht .verkannt werden, daß dasselbe Zentrum im Neuen Testament auch in anderen Gestalten als der paulinischen hervortritt, etwa in der johanneischen Terminologie von Christus als dem Leben oder in der synoptischen Darstellung des Verhaltens Jesu zu den Sündern. Ob die Rechtfertigungsterminologie heute noch verstanden wird oder der Übersetzung in andere Ausdrucksformen bedarf, ist eine andere Frage, die das Urteil über die zentrale Bedeutung der hier gemeinten "Sache" u. E. nicht berührt. y) Das Christum-treiben der neutestamentlichen Zeugnisse ist nun aber nicht nur als Lehre von der Rechtfertigung in Christus zu verstehen, sondern als V erkündigungsgeschehen, wodurch Menschen der Rechtfertigung-"zugetrieben" oderwodurch sie Christo zugetrieben, unter ihn herangeholt oder zurückgeholt werden. Das gilt sowohl für das Reden dieser Zeugnisse, die ja durchweg Verkündigung sind, zu ihren ursprünglichen Adressaten wie für das Reden Gottes durch das Werkzeug dieser Zeugnisse zu der Kirche in allen späteren Zeiten: Sofern es sich dabei wirklich um Christum treiben handelt, geht es darum, daß sie wie wir in den Vollzug unserer Rechtfertigung aus Gnade in Christus gebracht oder in ihn zurückgebracht werden. . B) Wenn dem so ist, dann kann zu dem, was Christllllf treibet, in den neutestamentlichen Schriften jedenfalls, nicht nur das gehören, was als direkte Aussage über Christus und die Rechtfertigung selbst verstanden werden kann. Es werden auch Aussagen anderer Wahrheiten laut werden: über den Menschen, die Sünde, .das Gericht, den Zorn Gottes; andererseits über das in der Rechtf~rtigung eröffnete
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neue Leben und seine konkreten Gestalten, über die Gemeinschaft der Christo Zugehörenden und ihre konkreten Gestalten usw. Nennen wir dies die existentiellen Voraussetzungen und Folgesetzungen des Rechtfertigungsgeschehens. Nur in ihrem Kontext kann dieses Geschehen selbst so zur Sprache kommen, daß es zugleich zum Vollzug kommt. E) Man könnte nun zu folgender Auffassung neigen: Die Aussagen über diese Voraussetzungen und Folgesetzungen werden, soweit im Neuen Testament wirklich Christus getrieben wird, sachlich überall dieselben sein müssen, weil Voraussetzungen und Folgerungen derselben Sache für alle Menschen dieselben sein müssen. Wenn hier Unterschiede und Spannungen auftreten, wäre I dann von der "Mitte" her zu entscheiden, welches diejenige Aussage ist, die im wahren inneren Verhältnis zu der Rechtfertigung in Christus steht, und welche nicht. Diese Annahme ist jedoch nicht zutreffend. Jene Aussagen werden nicht überall dieselben sein, weil die Menschen, die Christo zugetrieben werden sollen, sowohl in den im Neuen Testament unmittelbar angesprochenen Urgemeinden als in den späteren Geschlechtern der Kirche, an denen das Neue Testament zum Werkzeug jenes erweckend-kritischen Gotteswirkens werden soll, verschieden sind und in verschiedenen Situationen leben. Es gibt gewiß das, worin alle in gleicher Weise vor Gott stehen. Es gibt aber innerhalb dieses Gemeinsamen auch tiefgreifende Unterschiede. Daß wir Sünder sind, gilt für alle; wie wir es sind, darin sind die Einzelnen und die Zeiten sehr verschieden. Was Gottes Gebot letztlich meint, ist für alle eines; in welcher konkreten Zuspitzung wir für dieses eine jeweils beansprucht werden, das kann sehr verschieden sein. Das Wort redet nicht in abstrakter Allgemeinheit obenhin, sondern es trifft in die konkrete Situation hinein und redet daher in verschiedener Weise. Ist sein Ziel immer das eine: Menschen unter ihre Rechtfertigung in Christus zu führen, so sind die Wege dahin in dem Maße verschieden, als die Mensmen und ihre Lagen verschieden sind. Es ist also innerhalb der neutestamentlichen Verkündigung mit situationsbedingten Divergenzen zu redl.nen, die die Einheit des "Skopus" nimt aufheben, die aber dem, der von der Umgrenzung durm seine eigene Situation her auf diesen Skopus blickt, u. U. als dem Skopus fremd erscheinen können. Aum der heutige Theologe lebt ja nicht in einer Vogelschau, aus der er alle menschlichen Situationen, auf die die Mannigfaltigkeit neutestamentlicher Verkündigung sich bezieht, durchschauen würde. ~) Wird man dies zugeben, so wird man nun vielleicht meinen, es müsse die neutestamentliche Verkündigung wenigstens in der Aussage der Sachmitte selbst, auf die jene Voraussetzungs-und Folgeaus-
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sagen hinweisen bzw. zurückweisen- nämlich in der Frage, wie wir vor Gott ins Rechte kommen-, von logisch einheitlicher Gestalt sein. Sofern sie es nimt ist, müsse man hier jedenfalls entscheiden, welmer Aussage man als der wirklich "Christum treibenden" folgen will und welcher nicht. Nun treten aber gerade in dieser Mitte gegensätzliche Aussagen hervor, zwischen denen wir nicht optieren können, die wir vielmehr zusammenbehalten müssen, weil sie zwar auf der logischen Ebene (scheinbar, vielleicht auch wirklich) sich stoßen, im Existenzgeschehen der Rechtfertigung in Christus aber zusammengehören. Wir sprechen hier im Unterschied zu jenen situationsbedingten Divergenzen von sachbegründeten (in der "Sache" des Evangeliums begründeten) Paradoxien. Die Pole solcher Paradoxien können nun in einzelnen Elementen neutestamentlicher Verkündigung u. U. wiederum situationsbedingt einseitig hervortreten. Diesem Tatbestand müßte in gründlicher exegetisch-systematischer Untersuchung genauer nachgegangen werden. Wir können diese Untersuchung hier nicht führen; statt dessen nur zwei Hinweise: Wir hören im Neuen Testament, daß Gott allein Glauben, Wollen und Vollbringen schafft. Wir hören aber ebenso den Ruf zum Glauben als Ruf an I unsere Entsmeidung. Das ist gegensätzlich gespannt, aber im Vollzug des Glaubens gehört es zusammen. Kein Glaube, der sich nicht gänzlich auf Gottes alleinige Macht gerade auch zum Schaffen und Erhalten des Glaubens verläßt. Und doch kann ich ebensowenig glauben, ohne zu realisieren, daß es dabei um mein eigenes Hören und Versagen geht. Wir hören im Neuen Testament, das Gericht ergehe nach unseren Werken, so daß wir dies als Entscheidung über Leben und Tod ernst nehmen müssen. Wir hören aber ebenso die Botschaft der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade in Christus. Das ist auf der Ebene logischer Betrachtung gegensätzlich gespannt- die Versuche einer logischen Synthese haben in der Theologiegeschichte immer wieder zu einer Abstumpfung der Radikalität und des Ernstes der einen wie der andem Aussage geführt. Und doch gehört beides im Vollzug dessen, daß Menschen Christo zugetrieben werden, zusammen. Im Fliehen zu der Gnade ist die Anerkennung des Rechtes Gottes, uns nach unsern Werken zu richten, existentiell unabtrennbar enthalten. Solche Gegensätze können also nicht so aufgelöst werden, daß ihre eine Seite als dem Christum treiben zugehörig zu erkennen, die andere als ihm fremd abzulehnen wäre. Wenn wir in einem systematisch-theologischen Werk den Inhalt des Glaubens entfalten, werden wir bemüht sein, die verschiedenen Aussagen zusammenzuhalten und reflexiv zu verdeutlichen, wie sie: einander zugeordnet sind. Aber auch in der theologischen Reflexion können wir das nie schlechthin situationsentbunden und von iedeJ
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Einseitigkeit frei: wir bleiben die Menschen unserer Zeit und ihrer Fragen. Erst recht kann unmittelbare Verkündigung nicht allseitig reden, sondern muß das Wort, das Christum und zu Christo treibt, den Hörenden auf ihren geschichtlichen und persönlichen Ort zu-sagen. Dabei muß u. U. einseitig geredet werden, so wie es dem Menschen an diesem seinem Ort nötig ist, ohne daß ihm das "Komplementäre" sofort hinzugesagt werden kann. Das ist eine Erfahrung des Predigers und Seelsorgers. Wer in der Gefahr steht, die Gnade zu dem Prinzip zu machen, das die Sünde deckt, dem muß das Gericht gepredigt werden. Wer unter dieses Gerirht gebeugt ist, dem kann die Gnade verkündigt werden, die das Gerirht aufhebt. Die Zuchtlosen und Ekstatiker müssen zur Ordnung der Gemeinde gerufen werden, den Gesetzlirhen muß die Freiheit und der Geist gezeigt werden, ohne den diese Ordnung zum Schema wird. Da das Neue Testament nicht ein Lehrbuch der Dogmatik, sondern der Niederschlag vielfältiger Verkündigung auf vielfache geschichtliche "Orte" hin ist, kann es nicht anders sein, als daß in ihm die eine Botschaft die vielfache Gestalt situationsbedingter Divergenzen annimmt, und daß auch das, was wir sachbegründete Paradoxien genannt haben, nicht immer so erscheint, daß die Sache selbst in beiden Polen gleirhzeitig (also in einer dialektisch-systematischen Zusammenschau) zur Sprache kommt. Es kann ein Wort, ein Kapitel, vielleicht ein ganzer biblis~er Autor einseitig reden - unter Umständen so, daß diesem Autor selbst das, was hinzugesagt werden muß und an anderer Stelle der neutestamentlichen Zeugnisse auch hinzugesagt ist, nicht I reflex gegenwärtig ist. Gerade so aber können diese Zeugnisse jenes Werkzeug des Handeins Gottes an der Kirche werden, die ja ihrerseits nicht ein einheitliches Auditorium, sondern geschichtliche Bewegung ist, in der Gemeinden und Einzelne an den mannigfaltigsten "Orten" stehen. Nur durch ein vielfältiges Zeugnis hindurch können diese Orte erreicht werden. Nach dem Durchgang durch diese Erwägungen versuchen wir abschließend, zu der Bedeutung der Ergebnisse kritischer Forschung hinsichtlich der theologischen Divergenzen des Neuen Testamentes Stellung zu nehmen. Auch dies soll wieder in der Form einiger Thesen geschehen, die weiterer Ausarbeitung bedürfen. a) Sofern diese Forschung zunächst die theologische Verschiedenheit neutestamentlicher Verkündigung unterscheidend feststellt, kommt ihr die große Bedeutung zu, eben auf deren konkreten, situationsbezogenen Verkündigungscharakter aufmerksam zu machen. In dem Maße, in dem sich die Theologie dieser theologischen Vielgestaltigkeit des Neuen Testamentes aussetzt, kann sie davon zurückgehalten werden, sich konfessionalistisch zu verengen und das lebendige
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Geschehen des Christum-treibens durch ein starres System zu beschneiden. Das hat besondere Bedeutung auch für das ökumenische Gespräch. ß) Zu der Frage, ob aus dem Unterscheiden auch ein Ausscheiden bzw. die polemische Abwertung von Elementen des Neuen Testamentes zu folgen hat, ist zunächst zu sagen: Vor dem Ausscheiden sollte in jedem Fall die Erwägung stehen, ob das theologische Schwierigkeit bereitende Element nicht im Sinne situationsbedingter Divergenz oder sechbegründeter Paradoxie dennoch jenem Zu-ChristoTreiben eingehören kann, das im Neuen Testament geschieht und im Wirken Gottes durch das Neue Testament an der Kirche geschehen soll. Sonst könnte gerade auch auf dem Wege des Ausscheidens (nicht nur auf dem eines die Unterschiede einebnenden Harmonisierens) die Enge des theologischen Systems über die Lebendigkeit der Sache siegen. y) Es ist damit zu rechnen, daß wir auch nach dem Durchgang durch diese Erwägung vor Elementen stehen, deren innere Zugehörigkeit zu dem, was uns als die Mitte neutestamentlicher Verkündigung deutlich wurde, wir nicht erkennen können - auch nicht im Sinne situationsbedingter Divergenz oder sechbegründeter Paradoxie. Das kann seinen Grund in der persönlichen oder geschichtlichen Begrenztheit unseres eigenen Blickpunktes haben. Es kann aber auch darin begründet sein, daß hier tatsächlich ein Element der Verdunkelung des Christuszeugnisses vorliegt, das weder für uns noch je für andere Zeiten der Kirche zum Werkzeug des seine Selbsterschließung in Christus vergegenwärtigenden Wirkens Gottes durch die Schrift gehört. Wir hatten ja darauf verzichtet, die Grenzen des kirchlich festgestellten Kanons automatisch mit der Grenze jenes göttlid:J.en Werkzeuges gleichzusetzen. ö) In dem Fall, der mit der vorhergehenden These ins Auge gefaßt ist, ist eine gewaltsam passend machende Umdeutung allegorischer oder sonstiger Art zu unterlassen. Sie stünde mit der Wahrhaftigkeit im Widerspruch- nämlich I dann, wenn sie nicht mehr "naiv" erfolgt, wenn vielmehr der genuine Sinn des Textes in kritischer Forschung erkannt ist. E) Es ist aber auch ein kerygmatisches oder dogmatisches Geltendmachen des schwierigen Textes in seinem erkannten genuinen Sinn zu unterlassen. Denn der Prediger oder Theologe kann nicht etwas vertreten wollen, was er mit dem Sinn des Evangeliums, das er als Mitte der Schriftzeugnisse verstanden hat und soweit er es verstanden hat, nicht vereinbaren kann. t) Ausdrückliche Polemik gegen solche Schriftelemente wird er aber zunächst zurückstellen, eingedenk der Möglichkeit, daß es an der
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persönlichen oder situationsbedingten Begrenztheit seines Verstehens oder seiner geistlichen Erfahrung liegen kann, daß ihm das betreffende Element der eigentlichen Botschaft des Neuen Testamentes fremd und widersprechend erscheint. Er wird sich im allgemeinen darauf beschränken können, dieses Element in Predigt und Lehre zu übergehen. 11) Es ist denkbar, daß diese Zurückhaltung aufgegeben werden muß: nämlich dann, wenn in der Kirche (oder etwa durch sektierende Gruppen) von einem solchen Schriftelement ein ausdrücklicher Gebrauch gemacht wird, um eine Lehre und Haltung zu verbreiten, die nach der im neutestamentlichen Zeugnis selbst begründeten Einsicht des Theologen die Erkenntnis des Evangeliums zerstört, um deretwillen dieses Zeugnis der Kirche gegeben ist. Dann kann es notwendig werden, nicht nur dieser Lehre, sondern auch dem von ihr geltend gemachten Schriftgrund um der wirklichen Sache des Schriftzeugnisseswillen zu widersprechen. Der Theologe nimmt damit aber das Wagnis einer Entscheidung auf sich, die in letzter Instanz nur von dem Wirken Gottes selbst durch die Schrift gedeckt werden kann. Denn dieses ist das eigentliche Subjekt alles dessen, was durch sie erweckend, erhaltend und kritisch an der Kirche geschieht. Erst im eschatologischen Ziel dieses "in alle Wahrheit leitenden", Christo zutreibenden Wirkens wird endgültig darüber entschieden sein, was am Werkzeug der Schrift zu seinem Vollzug gedient hat und was nicht.
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"Sola scriptura" und das Problem der Tradition • A. Die Verflechtung des "sola scriptura" und des Traditionsproblems Wird das Problem der Tradition in theologischer Hinsicht erörtert, so geschieht dies notwendig unter dem Gesichtspunkt, daß und wie zwischen "der Tradition" und "den Traditionen" zu unterscheiden ist. Damit wird die Frage nach dem Kriterium maßgeblicher Tradition zum Brennpunkt des theologischen Traditionsproblems. Die reformatorische Antwort hat im "sola scriptura" 1 formelhaften Ausdruck gefunden. In der Diskussion um das Traditionsproblem muß deshalb das "sola scriptura" zum Thema werden. Obwohl es die reformatorische Antwort ist, steht sie heute doch auf evangelischer Seite in Frage. Die - wie glaubhaft berichtet wird protestantischerseits im ökumenischen Gespräch gefallene Äußerung "Sola scriptura has become obsolete" verrät allerdings eine leichtfertige Kurzschlüssigkeit. Ebensowenig wie der einstigen Animosität gegen den Traditionsbegriff sollte man nun dessen wachsendem Sog verfallen. Wohl aber erweist sich das "sola scriptura" als interpretationsbedürftig. Sein echter reformatorischer Sinn muß gegen verbreitete Fehldeutungen klargestellt und in veränderter Situation neu verantwortet werden. Der Zusammenhang zwischen dem sogenannten reformatorischen Schriftprinzip und dem Traditionsproblem ist uns in verschiedener Weise vorgegeben. I * Als Vorarbeit für die Vierte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal1963. Zuerst erschienen in: ökumenischer Rat der Kirchen. Kommission für Glauben und Kirchenverfassung: Schrift und Tradition. Untersuchung einer theologischen Kommission. Hg. von Kristen E. Skydsgaard und Lukas Vischer. Zürich 1963,95-127, 172-183. Wieder abgedruckt in: G. Ebeling, Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen (Kirche und Konfession 7), 2. Auß., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966, 91-143. 1 Im folgenden sind z. T. Gesichtspunkte mit verarbeitet, die im in einem 1956 gehaltenen Vortrag über das "sola scriptura" dargelegt habe, der durch eine Sammelverviclfältigung der Akademie der Diözese Rottenburg und der Evangelischen Akademie Bad Boll "Schrift und Tradition. Ein interkonfessionelles Gespräch" eine gewisse Publizität erhielt und in der Literatur gelegentlich danach zitiert worden ist. Die vorliegende Neubearbeitung des Themas tritt an die Stelle der alten Fassung. - Der Rahmen dieser Publikation nötigt dazu, Quellen- und Literaturhinweise in bescheidenen Grenzen zu halten und auch auf explizite Auseinandersetzung mit anderen Äußerungen zum Thema weitgehend zu verzichten.
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"SoJa scriptura" und das Problem der Tradition
1. Die übliche Antithetik von "sola scriptura" und "Schrift und Tradition". In der herkömmlichen kontroverstheologischen Terminologie ist das "sola scriptura" die schlagworthafte Gegenthese zur katholischen Parole "Schrift und Tradition". Die Particula exclusiva "sola" schließt demnach eine, wie auch immer näher zu bestimmende, selbständige theologische Relevanz der Tradition neben der Schrift aus. Als Negation des katholischen Traditionsprinzips scheint das reformatorische Schriftprinzip auf ein ablehnendes Verhältnis zum Phänomen der Tradition überhaupt hinauszulaufen. Oberflächlicher Betrachtung galt und gilt deshalb schon die Vokabel "Tradition" als unevangelisch. Diese gängige Auffassung des Sachverhalts ist jedoch ungenau und mit Unklarheiten belastet. Sie übt allerdings eine starke Macht aus und bestimmt die faktische Ausgangssituation jeder Erörterung des Traditionsproblems in der heutigen Theologie, zumal im ökumenischen Gespräch. Deshalb muß man sich darüber Rechenschaft geben, ob und, wenn ja, welche Korrekturen daran vorzunehmen sind. 2. Die Bedeutung des "sola scriptura" für die Geschichte des Traditionsbegriffs. Das Aufkommen der kontroverstheologischen Antithetik von "sola scriptura" und "Schrift und Tradition" in der Reformation stellt eine entscheidende Zäsur in der Geschichte des Traditionsbegriffs2 und den Beginn schärferer Bewußtwerdung, tieferer Erfassung und breiterer Erörterung seiner Probleme dar. Gewiß fmdet sich in der alten Kirche wichtiges Material zu dem Verhältnis zwisd:J.en apostolischer Paradosis in der Heiligen Schrift und ihrem Dasein in mündlicher Uberlieferung. Aber die ausdrücklidi darauf reflektierenden Erörterungen - vornehmlich bei lrenaeus, Tertullian, Basilius d. Gr. und Vinzenz von Lerinum- sind aufs Ganze gesehen verhältnismäßig spärlich. Für die mittelalterliche Kirche und Theologie steht vom patristischen Erbe her das, was man mit der Formel "Schrift und Tradition" bezeichnen könnte, zwar gesamthaft als unteilbarer Komplex des Autoritativen in selbstverständlicher Geltung. Dom fällt an der scholastischen Theologie auf, daß das Wort traditio kaum begegnet und nicht zum Gegenstand der Reflexion wird3 • Man emp1 Der materialreichste Gesamtüberblick: A. Michel, Art. Tradition, DThC XV (1946), 1252-1350. Vgl. auch: J. Beumer, Die mündliche Oberlieferung als Glaubensquelle. Handb. d. Dogmengesch. hg. von M. Schmaus und A. Grillmeier, Bd. I Fase. 4, 1962. 1 Bezeidmend ist z. B., daß im Vocabularius theologiae von Jolumnes Altenstaig vom Jahre 1517 das Stichwort traditio fehlt und das Thomas-Lexikon von L. Schütz sub voce "traditio" im Sinne von "Uberlieferung" neben zwei Stellen, die von der traditio sacrae Scripturae reden (S. th. 2, II q. 140 a. 2 S. c. gent. IV, 34), nur eine einzige Stelle verzeichnet, an der bei einer Einzelfrage der Zelebration der Messe in äußerst behutsamer Weise von dem Argument einer die Schrift ergänzenden
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fand kein Bedürfnis, das Verhältnis der mündlichen I Uberlieferung zur Heiligen Schrift genauer zu bestimmen, weil man sich der Möglichkeit einer Spannung zwischen beidem nicht bewußt war. Die sacra doctrina galt selbstverständlich als so sehr eins mit der Heiligen Schrift, daß "sacra scriptura" oder "sacra pagina" geradezu Wechselbegriffe für Theologie sein konnten'. Die Scholastik bietet ungleich mehr Anlaß zur Untersuchung ihres "Schriftprinzips" als zur Untersuchung ihrer Lehre von der Tradition5 • So weist die Theologiegeschichte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zwar fundamentale Ansätze für das Traditionsproblem auf, aber erstaunlich wenig Bemühungen um dessen Präzisierung. Der Humanismus eröffnete in historischer Hinsicht ein deutliches Unterscheiden zwischen Schrift und Tradition8 • Doch erst die Reformation hat durch die Tiefe und Schärfe ihres theologischen Einspruchs zu neuer Erörterung des Traditionsbegriffs und zu einer ersten, sehr vieles noch offen lassenden dogmatischen Definition des Verhältnisses von Scluift und Tradition im Tridentinum, Sessio IV, genötigt7 • Im Gefolge davon traditio apostolorum unter Berufung auf Joh 21,25 Gebrauch gemacht wird: S. th. lll. q. 83 a. 4 ad 2. • Vgl. J. de Ghellinch, "Pagina" ct "Sacra Pagina". Histoire d'un mot ct transformation de l'object primitivement designe. In: Melanges A. Pelzer. Louvain 1947, 23-59. a Vgl. z. B. 1. Beumer, Das katholische Schriftprinzip in der theologischen Literatur der Scholastik bis zur Reformation. Scholastik 16, 1941, 24-52. Y. Congar, Traditio und Sacra doctrina bei Thomas von Aquin. In: Festschrift J. R. Geiselmann, 1960, 170-210. B. Decker, Sola Scriptura bei Thomas von Aquin. In: Festsdnift A. Stohr, I. 1960, 117-129. 1. R. Geiselmann, Die Heilige Schrift und die Tradition. QuaesL disp. 18, 1962, bes. 222 ff. zur Frage der Suffizienz der Heiligen Schrift. Zu Thomas vgl. besonders S. th. I q. 1 a. 8 ad 2: Auctoritatibus ... canonicae Scripturae (sacra doctrina) utitur proprie et ex necessitate argumentando: auctoritatibus autem aliorum Doctorum Ecclesiae quasi argumentando ex propriis, sed probabiliter. lnnititur enim fides nostra revelationi Apostolis et Prophetis factae, qui canonicos libros scripserunt, non autem revelationi, si qua fuit, allis Doctoribus factae. Zur Notwendigkeit eines Symbols neben der Heiligen Schrift, S. th. 2, ll q. 1 a. 9 ad 1: ... fuit necessarium, ut ex sententiis sacrae Scripturae aliquid manifestum summarie colligeretur, quod proponeretur omnibus ad credendum; quod quidem non est additum sacrae Scripturae, sed potius ex sacra Scriptura assumptum. • W. Maurer, Luthers Verständnis des neutestamentlichen Kanons. Fuldaer Hefte 12, 1960, 47-77, bes. 53. 7 Denz. 78~786. Die gegenwärtige Diskussion um die Interpretation ist vor allem durch die These Geiselmanns bestimmt, daß das "et" des Dekrets (in libris scriptis et sine scripto traditionibus) nicht im Sinne des "partim-partim" des Entwurfs zu deuten sei. Vgl. dazu besonders: 1. R. Geiselmann, Das Konzil von Trient über das Verhältnis der Heiligen Schrift und der nicht geschriebenen Traditionen. Sein Mißverständnis in der nachtridentinischen Theologie und die Oberwindung dieses Mißverständnisses. In: Die mündliche Uberlieferung. Beiträge zum Begriff der Tradition. Hg. von M. Schmaus. 1957, 123-206.
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"Sola scriptura" und das Problem der Tradition
kam es in der nachtridentinischen Theologie zu intensiver Behandlung dermit dem I Traditionsbegriff aufgegebenen Probleme, die dann erneut im 19. Jahrhundert infolge des geschichtlichen Denkens vor allem durch J. A. Möhler und wiederum im 20. Jahrhundert teils durch Bibelbewegung und Reformkatholizismus, teils durch die Diskussion um das Assumpta-Dogma von 1950 in Bewegung geraten sind. Indem das reformatorische "sola scriptura" eine zuvor nicht klar erkannte Problematik angerührt und diese in den Stand einer Entscheidungsfrage gebracht hat, hat es die umfassende Explikation der römisch-katholischen Lehre von der Tradition überhaupt erst ausgelöst. Es bleibt darum für diese als fundamentaler Einwand konstitutiv. Auch aus diesem Grunde ist das Thema "sola scriptura" von der Behandlung des theologischen Traditionsproblems nicht zu trennen. J. Das Akutwerden des Traditionsproblems in der protestantischen Theologie. Nun hat sich aber auch innerhalb des Protestantismus selbst das Phänomen der Tradition in vielfältiger Weise Geltung verschafft. Sd:10n in der reformatorischen Theologie tritt dies an der Rezeption des altkirchlichen Dogmas sowie an der Fixierung der eigenen reformatorischen Lehrüberlieferung in Bekenntnisschriften in Erscheinung. Besonders bei Melanchthon wurde das Interesse an der Tradition ein wichtiger theologischer FaktorS und wirkte entscheidend mit zur Entstehung der altprotestantischen Orthodoxie. Für sie war konservierende Verarbeitung der Tradition ein wesentliches Moment ihrer Methode im Banne der konfessionellen Auseinandersetzung. Durch Obereinstimmung mit der alten Kirche sollte die wahre Katholizität und damit die Legitimität der Reformation erwiesen werden9• Doch wirkte sich zugleich die Nötigung, das "sola scriptura" gegen das römisch-katholische Traditionsverständnis zu verteidigen, als Hindernis aus, sich auf die theologische Relevanz des Traditionsproblems unbefangen einzulassen. Das gilt selbst von einer so eingehenden Differenzierung des Komplexes der Traditionen, wie sie M. Chemnitz im Examen Concilii Tridentini vornimmt, indem er A. Sperl, Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Eine Untersuchung über den Wandel des Traditionsverständnisses bei Melanchthon und die damit zusammenhängenden Grundfragen seiner Theologie. FGLP 10. Reihe, Bd. XV, 1959. P. Fraenkel, Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argument in the Theology of Philip Melanchthon. Genf 1961. ' Besonders charakteristisch sind die Formulierungen am Ende des ersten und des zweiten Teils der CA: Haec fere summa est doctrinae apud nos, in qua cerni potest nihil inesse, quod discrepet a scripturis vel ab ecclesia catholica vel ab ecclesia romana, quatenus ex scriptoribus nobis nota est. (Die Bek. Schriften der ev.-luth. Kirche 19521, 8X, 7-11) ... quae videbantur necessario dicenda esse, ut intelligi posset, in doctrina ac caeremonüs apud nos nihil esse receptu.m contra scripturam aut ecclesiam catholicam, quia manifcstum est, nos diligentissime cavisse, ne quae nova et i.mpia dogmata in ecclesias nostras serperent (aaO 134, 17-23). 8
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dem schillemden tridentinischen Traditionsbegriff, welcher Schriftwidrigem I Eingang verschaffe, sieben genera traditionum gegenüberstellt, die teils mit der Schrift selbst identisch sind, teils mit ihr sachlich übereinstimmen, teils ihr nicht widerstreiten. Allerdings war ebensowenig auf katholischer Seite die eigentliche theologische Problematik der Tradition erfaßt, solange - entsprechend dem pluralischen Wortgebrauch im Tridentinum (sine scripto traditiones)- der Traditionsbegriff am einzelnen traditum orientiert war. Erst mit derneuzeitlichen Einsicht in die Geschichtlichkeil wurde die Theologie der Weite und Schwierigkeit des Traditionsproblems ausgesetzt. Dies vollzog sich weitgehend unabhängig von der kontroverstheologischen Fragestellung als Folge der historischen Betrachtungsweise. Sie hatte ja gerade ihr Pathos in der Befreiung aus der Bindung an konfessionelle Voreingenommenheit. Doch eben dadurch hatte sie Rückwirkungen auf die kontroverstheologische Situation und gab dem theologischen Verstehen des Konfessionsgegensatzes neue Probleme auf. Der Grundzug historischen Forschens: die Emanzipation von der ungeprüft selbstverständlichen Geltung der Tradition, die kritische Distanznahme gegenüber der Überlieferung bringt erst die Macht der Tradition zum Bewußtsein und läßt auf die Rolle historisch bedingter Traditionen in der Geschichte um so aufmerksamer werden. So wird der Blick für Traditions-Sachverhalte im einzelnen sowie die grundsätzliche Einsicht in die geschichtliche Funktion der Tradition außerordentlich geschärft. Zugleich jedoch wird dadurch das Phänomen der Tradition historisiert und ihre Geltungsweise problematisch, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob bei dem einzelnen Forscher die kritischen oder die konservativen Neigungen die Oberhand haben. Damit, daß etwas historisch als Tradition erkannt ist, steht es keineswegs auch als Tradition in Kraft, ist es vielmehr eher in seiner Geltung als Tradition in Frage gestellt und bedroht. Historische Untersuchung von Tradition und verantwortliches übernehmen und Mitvollziehen von Tradition geraten in Spannung miteinander10 • Die Auswirkungen des historischen Denkens auf die Theologie zeichnen sich im Problemhorizont "Schrift und Tradition" in vielfacher Hinsicht ab. Vor allem ist auf die historisch-kritische Bibelforschung zu verweisen, die bei der Untersuchung der Entstehung der Ich habe mich darüber ausführlicher geäußert in: Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem. SgV 207/8, 1954, bes. 31 ff. Wort und Glaube. 19621, 351 ff., 581 ff. Wort Gottes und kirchliche Lehre, MdKI 13, 1962, 21-28, in: Wort Gottes und Tradition, 1966', S. 155-174. Theologie und Verkündigung (HUTh 1) 1962, 3 ff. Art. Tradition VII. Dogmatisch, RGG1 VI (1962), 976-984, bes. 979 ff. 18
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Heiligen Schrift dem Phänomen der Tradition in vorher unbekannter Differenziertheil begegnete. Die Kirchengeschichtswissenschaft erkannte die Konfessionsunterschiede als durch verschiedene Traditionen historisch bedingt und I führte, in gewissen Grenzen, zu deren Relativierung. Die durch das geschichtliche Denken geweckte Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Tradition konnte theologisch verschieden ins Gewicht fallen, je nachdem mit welchen kirchlichen Aufgaben und Interessen sie sich verband. So begegnet das Traditionsproblem etwa als Frage nach der dem geschichtlichen W andel angemessenen Sprache der Verkündigung, und zwar am überzeugendsten als Übersetzungsproblem in der Mission; oder als Frage nach den Möglichkeiten einer Festigung oder Erneuerung der Gestalt der Kirche gegenüber Auflösungs- oder Erstarrungstendenzen; oder als Frage nach den Ursachen konfessioneller Spaltung und Entfremdung sowie nach den Bedingungen der Möglichkeit ökumenischer Verständigung. In jedem Fall aber mußte das im Stichwort "Tradition" konzentrierte Geschichtsproblem dogmatisch ernst genommen und verarbeitet werden. Das stellt im Grunde die fundamentaltheologische Aufgabe der neuerenevangelischen Theologie dar. Denn durch das geschichtliche Denken war die theologische Prinzipienlehre der altprotestantischen Orthodoxie erledigt. Was der Sicherung des reformatorischen Schriftprinzips hatte dienen sollen, nämlich die Lehre von der Verbalinspiration, schlug nun um in eine Gefährdung des "sola scriptura". Jedenfalls wurde das herkömmliche Verständnis der Schriftautorität fraglirh. Und es konnte der Eindruck entstehen, als bedeute das Aufmerksamwerden auf das Traditionsproblem eine Abschwächung oder gar Preisgabe des reformatorischen "sola scriptura". Aber nicht nur die Historisierung der Schrift zu "bloßer" Tradition bedrohte das "sola scriptura". Auch die theologische Aufwertung des Traditionsgedankens einerseits durch die traditionsgeschichtlichen Erkenntnisse der Bibelwissenschaft selbst, anderseits infolge eines allgemeinen geistigen Wandels, der dem Phänomen der Tradition neues Verständnis entgegenbringt und die fundamentale BedeutungderTradition für eine positiveBewältigungdes Problems der Geschichtlichkeil zu bedenken beginnt11 , scheint die Fraglichkeil des "sola scriptura" nur zu verstärken. Es wäre jedoch eine Täuschung, zu meinen, das Traditionsproblem, wie es sich dem geschi
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solches schon eine Bestätigung der katholischen Auffassung von der Tradition. Das katholische Traditionsverständnis, wie es in grobem Umriß im Tridentinum und Vaticanum I verbindlich zum Ausdruck gekommen ist, kann der veränderten Problemsituation der Neuzeit durchaus nicht genügen. Unter der Einsicht in das Problem der Geschichtlichkeit bedarf die I katholische Lehre von "Schrift und Tradition" nicht weniger als das reformatorische "sola scriptura" der Neubesinnung und Klärung. Deren Schwierigkeiten sind in der ersten Phase des Vaticanum II deutlich an den Tag getreten. Von einer Annäherung der konfessionellen Standpunkte zu reden, ist zumindest angesichts der nicht bloß für Protestanten anstößigen lliustration, die die lehramtliche Auffassung von Schrift und Tradition durch das Assumpta-Dogma erfahren hat, völlig grundlos11• Dadurch hat im Gegenteil der im reformatorischen "sola scriptura" formulierte Protest neuen Auftrieb und eine alle früheren Anlässe überbietende Bestätigung erfahren. Auf Grund anderer Symptome scheint jedoch die kontroverstheologische Situation tatsächlich nivelliert zu sein. Zumindest eine bestimmte Richtung katholischer Theologie der Gegenwart kann ein "Schriftprinzip" vertreten, das den Gesichtspunkt der Tradition in sich tägt13, während umgekehrt evange-
lische Theologie, wie es scheint, eine Art "Traditionsprinzip" zu akzeptieren lernt als Korrektiv zu dem als zu eng empfundenen reformatorischen Schriftprinzip. Es ist in der Tat eine merkwürdige Situation, daß katholische Theologen sich für die Inanspruchnahme des "sola scriptura" ereifern, evangelische Theologen es dagegen für obsolet erklären. Schon diese Gegenläufigkeit der Tendenzen sollte gegen die Annahme mißtrauisch machen, als sei die konfessionelle Ver· ständigung über das Problem Schrift und Tradition in greifbare Nähe gerückt. Es bedarf sorgfältiger Prüfung, ob die heute auf katholische! Seite z. T. vertretene Interpretation des Verhältnisses von Schrift und Tradition im Zeichen eines "sola scriptura" wirklich eine Annähe· rung an die evangelische Auffassung darstellt oder ob sie nicht in ge· 11 Am instruktivsten ist die Untersuchung von B. Altaner, Zur Frage der Defini· bilität der Assumptio B.M.V. In: Theol. Revue 44, 1948, 129-140; 45, 1949, 129 bil 142; 46, 1950, 5-00. Im Auszug in: Das neue Marlendogma im Lichte der Ge schichte und im Urteil der Okumene, hg. von Fr. Heiler. Okumenisc:he Einhei' 1951, Heft 2, 49-60. 1• Vgl. etwa K. Rahner, Ober die Schriftinspiration. Quaest. disp. 1, 1958, 7 f Ders., Was ist eine dogmatische Aussage? Cath. 15, 1961, bes. 180, 182. (abgedr. in K. Rahner, Schriften zur Theologie V. 1962, 54-81). Ders., Art. ID. Sduüt UD( Theologie, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe, hg. von H. Fries, ll, 1963 517-525. H. Küng, Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholisc:h1 Besinnung. 1957, 116 f. P. Lengsfeld, Uberlieferung. Tradition und Sc:hrih in de evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart. 1960, 187 ff. 0. Sem melroth, Wirkendes Wort. Zur Theologie der Verkündigung. 1962, 106.
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wisser Hinsicht den konfessionellen Gegensatz subtiler und damit in Wahrheit sachlich schärfer macht. Ebenso wäre zu fragen, ob auf evangelischer Seite das Ernstnehmen des Traditionsproblems wirklich die Preisgabe des reformatorischen "sola scriptura" nach sich zieht - oder ob es, im Gegenteil, aus dem recht verstandenen reformatorischen "sola scriptura" I folgt, aber in anderem Sinne, als ein katholisch interpretiertes "Schriftprinzip" das Traditionsprinzip in sich schließt. Um in dieser allerdings zu mancher Verwirrung Anlaß gebenden Lage Klarheit zu schaffen, kann evangelische Theologie die unbestreitbar notwendige Besinnung auf das Traditionsproblem nur als radikale Besinnung auf das "sola scriptura" verantwortlich durchführen.
B. Einwände und Mißverständnisse in bezugauf das "sola scriptura" In der bloßen Antithese gegen die römisch-katholische Zusammenordnung von Schrift und Tradition besteht die Gefahr, daß der Sinn des "sola scriptura" verengt und verkürzt wird. So sind zunächst einige verbreitete Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen. 1. Traditionsfeindlichkeit als Vorwurf gegen das "sola scriptura". Das "sola scriptura" ist so wenig traditionsfeindlich, daß es vielmehr selbst eine bestimmte Art von Traditionsprinzip ist. Diese Feststellung befremdet nur deshalb, weil der Traditionsbegriff im kontroverstheologischen Sprachgebrauch gewöhnlich von vomherein auf die traditio non scripta eingeschränkt, also auf die Unterscheidung von der Heiligen Schrift festgelegt ist. Damit ist freilich nicht erklärt, warum nicht im Gegensatz dazu auf reformatorischer Seite der Sprachgebrauch aufkam, die Heilige Schrift und nur sie sei die genuine, weil "apostolische" Tradition. Auch abgesehen von jener faktisch eingetretenen Verengung des Sprachgebrauchs sträubt sich evangelisches Verständnis offenbar dagegen, das, worum es in der Heiligen Schrift geht, in seinem eigentlichen, letztgültigen Sinn als "Tradition" zu bezeichnen. An dieser Stelle steht vielmehr für reformatorisches Denken der Begriff" Wort Gottes". Obwohl unbestritten das Wort Gottes, und zwar in strengem Sinne als die Sache des Evangeliums, nicht anders begegnet als durch Uberlieferung, so erschiene es doch bedenklich, den Begriff der Tradition theologisch zum eigentlich bestimmenden zu erheben. Zwar ist der Versuch gemacht worden, in Anlehnung an die Vielfalt der neutestamentlichen Verwendung von xaQaöt.Mvat. das apostolische "überliefern" samt dem dazu in Kontrast stehenden "überliefern" durch Judas auf ein mit der Offenbarung selbst identisches göttliches "überliefern" zurückzuführen und so in den Begriff der Oberlieferung die Sachfülle des Evangeliums selbst hineinzule19 Käscmann, Kanon
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gen1'. Auch wenn man die exegetischen Bedenken gegen dieses geistvoll biblizistische Konkordanzverfahren zurückstellt, wird man allenfalls einen so gefüllten Begriff der Überlieferung einmal erläute-1 rungsweise verwenden, doch nicht in der Weise zu einem theologischen Terminus erheben, daß man ihn als Inbegriff des reformatorismen "sola scriptura" gegen das römisch-katholische Traditionsverständnis ausspielen könnte. Zu diesem Zweck täte man besser, sich nüchtern an das nächstliegende Verständnis von "Uberlieferung" zu halten, um die alleinige Geltung der ursprünglichen Tradition zu betonen: Das Evangelium kommt zu uns aus einer bestimmten, nämlim der in Jesus zentrierten Geschichte, so daß um Jesu willen der neutestamentliche, aber eben darum auch der alttestamentlime Überlieferungskomplex in Samen des Evangeliums als die ursprüngliche Oberlieferung von schlechterdings einzigartiger, durm nichts zu ersetzender Bedeutung ist. An diese reine, ursprüngliche Überlieferung zu binden, sie nicht mit Fremdem vermismen zu lassen, der Macht der biblischen Oberlieferung Raum zu geben, sie also der Gegenwart zu überliefern, das ist der klare Sinn des "sola scriptura". Daran schließen sich allerdings Fragen an, die weiterer Erörterung bedürfen. Warum kommt das Evangelium überhaupt aus der Geschichte, und zwar aus dieser Geschichte zu uns und warum bedarf es zu seiner Ausrichtung der ausdrücklichen Bezugnahme auf diese Geschichte? Was besagt ferner der Gesichtspunkt der Ursprünglichkeit, wie ist er näher zu präzisieren und nach welchen Kriterien hat dies zu geschehen? Und wie vollzieht sich die Weitergabe dieses ursprünglimen Zeugnisses, also die Oberlieferung dieser Uberlieferung? Unter welchen Bedingungen wird sietrotzoder gerade durch die Weitergabe rein bewahrt? Wenn es gelingt, das "sola scriptura" an diesen Problemen zu bewähren, ergibt sich ein Doppeltes: Das "sola scriptura" ist zwar Ausdruck des Kampfes um die wahre Tradition. Abex der Begriff "Tradition" genügt schwerlich, um das Eigentliche de! vom "sola scriptura" gemeinten Sachverhalts zu kennzeichnen. MaD wird freilich zugeben müssen, daß der Begriff "Schrift", isoliert verstanden, ebensowenig, ja vielleicht noch weniger den eigentlim ge· meinten Sachverhalt als ganzen umschreibt. Das "sola scriptura" ha1 nur dann, dann aber tatsäd:ilich einer wie auch immer zu verstehen· den Zweiheit von Schrift und Tradition gegenüber Recht, wenn e! dem überlieferungsgeschehen des Evangeliums eindeutig die Rieb· tung weist, d. h. dazu dient, daß es wirklich zur Oberlieferung de! Evangeliums kommt und dabei bleibt. 1• K. Barth, KD 11, 2. 1946, 533-563. Vgl. H. Diem, Theologie als kinhlidu Wissenschaft. Bd. II Dogmatik. 19601, 160-162.
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2. Die Priorität und Lebendigkeit der Tradition als Einwand gegen das "sola scriptura". Gegen das "sola scriptura" wird der Einwand erhoben, diese Reduktion auf Geschriebenes verkenne sowohl die historische Priorität mündlicher Uberlieferung, als auch die Notwendigkeit lebendigen Uberlieferungsgeschehens. Beide Gesichtspunkte gehören nun aber gerade wesenhaft zum reformatorischen "sola scriptura". Sie sind I sogar in ihrer inneren Zusammengehörigkeit überhaupt erst durch das reformatorische Verständnis des Evangeliums erfaßt worden. Man darf sich diesen wichtigen Sachverhalt nicht durch den Umstand verdecken lassen, daß später katholische Polemik sich beider Gesichtspunkte bedient und sie gegen das - nicht ohne Schuld protestantischer Theologie - mißverstandene reformatorische Schriftprinzip ausgespielt hat. Gewiß war man sich stets dessen bewußt: Das Neue Testament steht nicht am Anfang des Christentums. Nicht ein Buch ist das grundlegende Offenbarungsfaktum. Vielmehr sind die neutestamentlichen Schriften der Niederschlag des vorausgehenden oder, wie bei den echten Briefen, des sich darin vollziehenden Verkündigungsgeschehens, jedenfalls Folge der Offenbarung. Erst recht ist der Kanon in einem langen Prozeß zustande gekommen. Die Gestalt des Neuen Testaments gibt selbst diese Herkunft aus mündlicher Oberlieferung deutlich zu erkennen, zumal Jesus selbst und weitgehend auch die Apostel nichts Schriftliches hinterließen. Außerdem hatten die Nachrichten des Euseb von Cäsarea zur Kanonsgeschichte wenigstens eine Ahnung von der historisch sekundären Rolle der schriftlichen Gestalt der Offenbarung wach gehalten. Auch der Gedanke, daß mündliche Weitergabe die eigentlich sachgemäße Art der Lehrüberlieferung sei, reicht weit zurück. Er läßt sich ebenso ins Judentum wie in die antike Philosophie zurückverfolgen15 • Im frühen Christentum wird er freilich mit Rücksicht auf die Gnosis und deren Berufung auf mündliche Geheimtraditionen18 eher gemieden. Der grundsätzliche Aspekt jenes 11 Natürlim wäre zwismen der faktismenRolle mündlicher Weitergabe und der ausdrücklichen Reflexion auf die Gründe, die ihr den Vorrang verleihen, zu unterscheiden. Zum Alten Testament und Judentum vgl. u. a.: J. van der Ploeg, Le röle de Ia Tradition orale dans Ia transmission du texte de l'AT. Revue Biblique 54, 1947, 5-41. H. Ringgren, Oral and Written Transmission in the 0. T. Studia Theologica 3, 1949, 34--59. B. Gerhardsson, Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinie Judaism and Early Christianity. Acta Sem. Neotest. Ups. 22, 1961. Zum Griechentum: R. Harder, Bemerkungen zur grie
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Vorzuges der MündliChkeit begegnet nahezu ausschließlich bei Klemens von Alexandrien17 • Aber selbst hier ist der spezifische Zusammenhang von Evangelium und Mündlichkeit nicht erlaßt. I Es ließe sich sogar zeigen, daß sowohl dem altkirchlichen wie dem mittelalterlich-scholastischen Verständnis der Sache des christlichen Glaubens ein solches Verständnis vom Wort in seiner konkreten SprachliChkeit zugrunde liegt, das eigentlich an der Schriftlichkeit des Wortes orientiert ist. Das Wesen des Wortes wird vom Buchstaben und dessen Bezeichnungsfunktion her gedacht. Darin liegt seine Stärke als festgelegte" Vorschrift". Zugleich aber zeigt sich daran die Schwäche und das Unvermögen des sprachlichen Wortes. Es vermag zwar zu belehren und zu fordern; aber die Sache selbst, um die es eigentlich geht, die Kraft des Heiligen Geistes, die Gnade, wird nicht durch das bloße Wort zuteil, sondern durch das sakramentale Handeln der Kirche. So stellt sich z. B. fürThomas v. Aquin18 das Problem, ob die lex nova, die doch eigentlich das ins Hen gegebene, das nicht mehr sprachliche, sondern verwirklichte, lebendige Gesetz, nämlich die Gnade des Heiligen Geistes selbst ist, doch in bestimmter Hinsicht auch noch in Worten gegeben sei. Daran ist gleichermaßen charakteristisch: daß Thomas die Frage nach der Gegebenheit der lex nova in sprachlicher Gestalt als Frage nach ihrer Schriftlichkeit stellt und daß er diesen Aspekt der lex nova als einen bloß sekundären ansieht, nämlich im Sinne von Unterweisung, die nur der Vorbereitung auf die Gnade und dem rechten Umgang mit ihr dient, während der eigentlich hilireiche Gnadenempfang selbst durch das Sakrament erfolgt. Die Schriftlichkeit steht hier also nicht in Spannung zur Mündlichkeit, bringt vielmehr das Wesen des Wortes überhaupt, auch de! mündlichen Wortes, zum Ausdruck 19 • Von den Voraussetzungen deJ herrschenden kirchlichen Lehrüberlieferung her mußte darum da~ 17 H. v. Campenluatsen 215 ff. Z. B. Strom. I, 13, 2: "Geheimnisse wie die Lelm von Gott werden nur dem Wort anvertraut, nicht der Schrift." Bei Klemens ver· binden sich im Gedanken der Mündlichkeil so verschiedene Aspekte wie die Ide« der Arkandisziplin, die pädagogisch-seelsorgerliehe Bedeutung des persönliche~ Lehrer-Schüler-Verhältnisses, die Erwägung, daß es sich nicht um bloße Wissens mitteilung handelt, Leben und Geist aber nur durch Leben und Geist weitergege ben werden können, sowie der hermeneutische Gesichtspunkt, daß die eigentlicht Oberlieferung gerade auch des Schriftlichen - und Klemens ist durchaus "Schrift theologe"- in der Weise der Auslegung erfolgen muß. te Zum folgenden: S. th. 1, ll q. 106 a.l: Utrum Iex nova sit lcx scripta. 11 S. th. 111 q.42 a.4 spricht zwar Thomas bei Erörterung der Frage, utrum Chri stus debuerit doctrinam suam scripto tradere, in bezug auf Christus selbst - soga unter Berufung auf Pythagoras und Sokrates - von dem Vorrang mündliche Lehre als dem excellentior modus doctrinae. Aber die hier vorhandenen Ansätz, werden nicht fruchtbar gemacht für das Verständnis des Evangeliums und ein Theologie der Verkündigung.
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reformatorische "sola scriptura", und zwar gerade in seiner Verbindung mit dem "solo verbo - sola fide", als Errichtung des Primats der Schriftlicllkeit des Evangeliums mißverstanden werden, jedoch nicht im Unterschied zu seiner Mündlichkeit, sondern im Gegensatz zur lebendigen kirchlich-sakramentalen Gnadenwirklichkeit. Der wahre Sinn des reformatorischen "sola scriptura" erschließt sich nun aber nur aus dem Zusammenhang des spezifisch reformatorischen Verständnisses der Sache des christlichen Glaubens und des entsprechenlden anderen Wort-Verständnisses, das an der Mündlichkeit des Wortes orientiert ist. Die ausschließliche Geltung der Heiligen Schrift beruht also nach reformatorischer Anschauung paradoxer Weise auf dem Evangelium, das seinem Wesen nach nicht Schrift, sondern mündliches Wort ist. Das Alte Testament "allein den Namen hat, daß es Heilige Schrift heißt, und Evangelium eigentlich nicht Schrift, sondern mündliches Wort sein sollte, das die Schrift hervortrüge [ auslege], wie Christus und die Apostel getan haben. Darum auch Christus selbst nichts geschrieben, sondern nur geredet hat und seine Lehre nicht Schrift, sondern Evangelium, das ist, eine gute Botschaft oder Verkündigung genannt hat, das nicht mit der Feder, sondern mit dem Mund soll getrieben werden" 10• "Denn im Neuen Testament sollen die Predigten mündlich mit lebendiger Stimme öffentlich geschehen und das hervorbringen in die Sprache und das Gehör, was zuvor in den Buchstaben und heimlichem Gesicht [ = geheimer Vision] verborgen ist. Denn das Neue Testament nichts anderes ist denn ein Auftun und Offenbarung des Alten Testaments ... Darum ist's gar nicht neutestamentlich, Bücher schreiben von christlicher Lehre, sondern es sollten ohne Bücher an allen Orten sein gute, gelehrte, geistliche, fleißige Prediger, die das lebendige Wort aus der alten Schrift zogen und ohne Unterlaß dem Volk vorbleuten, wie die Apostel getan haben. Denn ehe sie schrieben, hatten sie zuvor die Leute mit leiblicher Stimme bepredigt und bekehrt, welches auch war ihr eigentliches apostolisches und neutestamentliches Werk ... Daß man aber hat müssen Bücher schreiben, ist schon ein großer Abbruch [ = Verlust] und ein Gebrechen [ = Mangel] des Geistes, daß es die Not erzwungen hat und nicht die Art ist des Neuen Testaments ... " 21 Es weist in außerordentliche Tiefen des reformatorischen Verständnisses des Evangeliums, daß zwischen dem Inhalt dieser Überlieferung und ihrer wesenhaften Mündlichkeil dieser notwendige Zusammenhang besteht. Wenn trotzdem das "sola scriptura" zur reformatorischen Parole wurde, so kann dies nur in einem Sinn gelten, der
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• WA 10, 1, 1; 17,7-12 (1522). WA 10, 1, 1; 625, 19-627, 3 (1522). Vgl. auch WA 10, 1, 2; 34, 27-35, 3 (1522) 10, 3; 305, 1-8 (1522) 7; 526, 12-24 (1521). 11
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nicht im Widerspruch steht zum Geschehen des Wortes Gottes in der Weise mündlicher Verkündigung, also mündlicher "Überlieferung". Das "sola scriptura" soll gerade der rechten Erfassung dieser wesenhaften Mündlich.keit der "Überlieferung" dienen. Es ist also nur dann recht verstanden, wenn es zurückweist in das Verkündigungsgeschehen, aus dem die Schrift herkommt, und hineinweist in das Verkündigungsgeschehen, in das die Schrift eingehen will. Selbst die altprotestantische Orthodoxie, die so smarf den Akzent auf das verbum Dei scripturn legte, war sich natürlich der historischen I Priorität des verbum Dei non scripturn bewußt. Was, in Wiederaufnahme von Luthers Gedanken über die Mündlichkeil des Evangeliums, durch Lessing, Semler, Herder22 und andere über die Namträglich.keit der schriftlichen Fixierung eingeschärft wurde und dann im einzelnen durch historisch-kritische Forschung an vorausgegangenem Traditionsgeschehen aufgedeckt worden ist23 , und was der katholischen Kritik am "sola scriptura" entgegenzukommen schien, hätte an sich durchaus als Erweiterung und Spezifizierung dessen rezipiert werden können, was grundsätzlich auch der Orthodoxie über die Anfänge des Christentums bekannt war, obwohl es dann doch de facto auf die herrschende Vorstellung von der Entstehung der Bibel umstürzend wirkte. Im übrigen brauchte diese historische Einsicht in das Werden der Bibel, speziell des Neuen Testaments, durmaus nicht als Gegenargument gegen die Notwendigkeit der Schriftwerdung ins Gewicht zu fallen. Im Gegenteil, wie Luther im Zusammenhang des oben Zitierten sehr wohl die positive Bedeutung der schriftlichen Fixierung des Neuen Testaments hervorgehoben hat24 , so läßt gerade der historische Einblick in die Geschichte des Urchristentums den unersetzlichen Wert der schriftlimen Oberlieferung erkennen. Man stelle sich vor, was etwa aus der synoptischen Tradition in ausschließlich mündlicher Oberlieferung geworden wäre; oder wie die Kirmengeschichte ohne die Tradierung der paulinischen Briefe verlaufen wäre, obwohl sie selbst trotz der paulinischen Briefe auf weite Strecken in bezug auf Paulus eine Geschichte des Mißverständnisses und des Vergessens ist. Die altprotestantische Orthodoxie hat freilich die historische Priorität des verbumDeinon scripturn nicht hinreichend für das Verständnis des verbum Dei scripturn in Ansatz gebracht. Zwar war ihr selbstverständlich auch dies bewußt, daß das verbumDeials viva vox geschehen will und daß die Konzentration auf das verbum Dei scripturn der mündlichen Verkündigung zugute n Vgl. mein Buch: Theologie und Verkündigung. HUTh 1, 1962, 110 f. Klassisches Beispiel dafür ist: R. Bultmann, Die Geschimte der synoptischen Tradition. (1921) 19571• 14 WA 10, 1, 1; 627, 1-21 (1522). ta
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kommen soll. Doch hat man sich vornehmlich in konfessionalistischer Abwehrhaltung davon abbringen lassen, den Sinn des "sola scriptura" genauer in Hinsicht auf die Spannung zu bedenken, die zwischen dem Geschriebensein und dem Wortcharakter des Wortes Gottes besteht, der in mündlid:ter Verkündigung zur Geltung kommen will. Es ist aufschlußreich, daß Johann Gerhard den Satz, dem Wesen des evangelischen Wortes sei Schriftlichkeit eigentlich nicht gemäß, als Äußerung eines kontroverstheologisd:ten Gegners bekämpft26, statt sich selbst dafür auf Luther zu berufen und von daher das "sola scriptura" zu begründen.! J. Die K.arwnsbildung und Kanonsgeltung als Argument gegen das "sola scriptura". Der scheinbar stärkste und von katholischer Seite bis heute mit dem triumphalen Unterton unwiderleglid:ter Schlüssigkeit vorgebrachte Einwand lautet: Das "sola scriptura" sei ein Widerspruch in sid:t, da es das katholische Traditionsprinzip voraussetze; denn es stütze sich auf das Urteil der Kirche über die Schrift, wie es im Vorgang der Kanonsbildung zum Ausdruck gekommen ist und nach wie vor in der kirchlichen Lehre von der Schrift zum Ausdruck kommt. Als Beispiel nur eine der jüngsten Stimmen dieser Art: "Seit es eine katholisch-protestantische Kontroverse um das von den Reformatoren vorgetragene Prinzip ,sola scriptura' gibt, war sd:ton immer der biblische Schriftenkanon eins der stärksten Argumente von katholischer Seite. Das Argument wird um so wirkkräftiger, je genauer man die Geschid:tte der Entstehung der biblischen Bücher und des Kanons erforscht. Was da an ,Zufälligkeiten', besonderen Gelegenheiten und geschid:ttlichen Situationen im jahrhundertelangen Hin und Her einzelner kanonischer oder nichtkanonischer Büd:ter sich ereignet hat, um dann schließlich doch einen allerseits als normativ angesehenen Schriftenkanon zu ergeben, wird man nie befriedigend erklären können ohne die Annahme einer normativen Glaubenstradition als der von Gottes Geist selbst geleiteten Kraft, die dem Kanon zum Durchbruch verhalf ... Kanon und Kirche gehören zusammen. Und das heißt zugleich: Schrift und Tradition gehören zusammen ... De facto argumentiert fast jeder protestantische Theologe im Aufbau seiner Dogmatik und jeder Prediger auf der Kanzel so, als ob der Kanon eine dem Umfang nach begrenzte, dem Inhalt nach Gehorsam beanspruchende ... Größe sei. Die de-facto-Anerkennung der Tradition reicht wesentlich weiter als die reflexe Besinnung [verwiesen wird auf die Kennzeichnung des Kanons als "dogmatischer Gegebenheit" durch H. Diem] erlauben dürfte." 28 Loci theol., loc. I Oe script. s., cap. 2, q. 3, ed. Gott. II, 30. Vgl. mein Buch: Wort und Glaube. 19621, 328. 11 P. Lengsfeld (s.o. S. 97, Anm. 13) 102 f., 104. 11
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In der Tat: Die Festlegung des Kanons ist ein Werk der nachapostolischen Kirche. Freilich darf man durch ein so pauschales Urteil nicht die Differenziertheit des Geschehens verdecken, das zur Entstehung des Kanons führte. Neben und vor dem Dekretieren kirchlicher Instanzen, das namentlich beim Abschluß der Kanonsbildung im Interesse der Vereinheitlichung und des Ausgleichs zwischen den Entwicldungen in den verschiedenen Kirchengebieten wirksam war, handelte es sich in der Hauptsache darum, daß sich der kirchliche Gebramh bestimmter Schriften einfach durchgesetzt hatte und daß dieser ihrer unbestrittenen Autorität nachträglich durch die Kanonsidee, in Entsprechung zum Alten Testament, die Interpretation als "Heilige Schrift" gegeben wurde. Je mehr man sich für die - jetzt nicht im einzelnen zu erörternde -Vielfalt der I Kanonsgeschichte offenhält, verbietet sich beides in gleicher Weise: aus den neutestamentlichen Schriften selbst Idee und Umfang des Kanons direkt entnehmen zu wollen sowie aus dem Vorgang der Kanonsbildung ein der Schrift gegenüber selbständiges Traditionsprinzip zu folgern. Es ist nic:ht nur tatsächlich so, daß die für kanonisch erklärten neutestamentlichen Schriften (abgesehen von der Offenbarung Johannis) weder sich selbs1 ausdrücklim als solme ausgeben, noch von sim aus Angaben über ihre Zusammengehörigkeit und Vollständigkeit machen; es wäre aucb sinnlos, für das "sola scriptura" einen direkten Schriftbeweis führen zu wollen, da ein solcher das zu Beweisende, nämlich die kanonischE Autorität der Schrift, ja schon als anerkannt voraussetzen müßte, um als Beweis überzeugen zu können. Daß aber der Umfang des Kanom nicht anders als durch den faktischen Bestand der neutestamentlicheil Schriften im Kanon selbst erscheint, also nicht als förmlicher Offenba· rungssatz Bestandteil des Kanons ist; daß ebenso die Statuierung all Kanon, also die Ausgabe dieser Schriftensammlung als "alleinige1 Regel und Richtschnur" - und eben das besagt doch zunächst das "so· la scriptura" in seinem üblichen Verständnis- nicht im Kanon selbst sondern nur in der Bezeichnung als Kanon ausgesprochen wird; da.( also das Schriftprinzip streng genommen die Schrift als "principiwn' meint, aber erst als dogmatischer Lehrsatz dies als Prinzip aussprich - das erlaubt durchaus nicht den Schluß auf eine Insuffizienz de: Schrift, zu der die Tradition als zweite Offenbarungsquelle hinzutre ten müsse. Wenn das "sola scriptura", weil durch die Kirche ausge sprochen, als Widerspruch in sich bezeichnet wird, so wäre gleichfall der Kanon, weil durch die Kirche dekretiert, ein Widerspruch in sieb Aber auch umgekehrt wäre es ein Widerspruch in sich, das Urteil de Kirche, das sich in der Anerkennung der neutestamentlichen Schrif ten als allein kanonischer ausspricht, als Äußerung eines Traditions prinzips neben dem Kanon zu verstehen, während in jenem "Urteil
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doch gerade die Unterwerfung unter das Urteil der Schrift, die alleinige Anerkennung der Schrift als des Kanons zum Ausdruck kommt. Man kann nur im Widerspruch zu dem, was in der Rezeption der neutestamentlichen Schriften als Kanon ausdrücklich ausgesprochen ist, dies als ein Zeugnis gegen das "sola scriptura" ins Feld führen. Angesichts der Kanonsgeschichte das Argument einer contradictio in adiecto ins Feld zu führen, ist also ein zweischneidiges Unternehmen und läßt sich ebenso, wie es von katholischer Seite gegen das "sola scriptura" vorgebrad:J.t zu werden pflegt, gegen den katholischen Versuch geltend mad:J.en, aus dem Vorgang der Kanonsbildung die Behauptung eines besonderen Traditionsprinzips neben der Schrift zu rechtfertigen. Daran tritt aber mehr in Erscheinung als der bloße Widerspruch der konfessionellen Positionen. Die Problematik, die in der Exilstenz eines von der Kirche selbst zusammengestellten und proklamierten Kanons neutestamentlicher Schriften unbestreitbar beschlossen liegt, hilft gerade dadurch, daß sie in der gekennzeichneten Weise aufbricht, zur Klärung des Kanonsverständnisses. Das Urteil über die Kanonizität der neutestamentlichen Schriften ist ebensowenig wie das diesen Gesicl:ttspunkt der Kanonizität unterstreichende "sola scriptura" eine Feststellung über die Schrift extra usum scripturae. Es verhält sich zur Schrift als die Antwort auf die von daher zur Spracl:te gekommene Sache. Wie das Bekenntnis nicht das, zu dem es sich·bekennt, autorisiert, vielmehr dessen als wirksam erfahrene Autorität- die altprotestantiscl:te Dogmatik sprach in diesem Zusammenhang mit Recht von einer auctoritas causativa - anerkennt und proklamiert, so ist die Feststellung der Kanonizität und entsprechend das Urteil "sola scriptura" Bekenntnisäußerung. Sie bezieht sich letztlich auf das testimonium spiritus sancti intemum als die Weise, wie sich die Sache der Schrift Geltung verschafft. Wie die Schrift nicht zu trennen ist von ihrem Gebrauch, der Verkündigung, so ist selbstverständlich auch das testimonium spiritus sancti intemum nicht zu trennen vom Zeugnis der Kirche als dem andauernden Verkündigungsgescl:tehen, in dem die Schrift konkret begegnet. Wenn man mit der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Schrift und Kirche, Schrift und Tradition dies meint, daß die Schrift nicht isoliert als Buch existiert, sondern im Verkündigungsgeschehen tradiert wird als die Schrift, welche "Heilige Schrift" nicht ist, um Schrift zu bleiben, sondern um zur Verkündigung zu helfen und als Predigttext die Verkündigung bei der Sache sein zu lassen, dann brauchte um das "sola scriptura" kein Streit zu sein. Hebt man aber um der Frage der Autorität willen auf jene Zusammengehörigkeit von Schrift und Kirme, Schrift und Tradition ab, so darf das testimonium ecclesiae nimt als auf sich allein stehend in Betracht kommen, sondern nur als
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Vollzug des Verkündigungsgeschehens, das sich auf das testimonium scripturae bezieht und abzielt auf das testimonium spiritus sancti intemum, also auf das vollmächtige Zur-Geltung-Kommen der Sache der Schrift selbst. Nur so ist das testimonium ecclesiae Bezeugung des "sola scriptura". Die altprotestantische Orthodoxie hat darum in Hinsicht auf das Schriftprinzip das testimonium ecclesiae als ein bloß dienendes (testimonium ministeriale) von dem eigentlichen (testimonium principale) der Sache der Schrift selbst untersdlleden. In Sachen des "sola scriptura" ist das Zeugnis der Kirche nicht Einwand gegen das Schriftprinzip, sondern als Bezeugung der Schrift Folge der Sache der Schrift27 • I Wenn an der Frage des Kanons die Strittigkeit des Verhältnisses von Schrift und Tradition akut wird, ist dies jedenfalls in der Hinsicht klärend, daß es nun zu einer Auseinandersetzung über das Kanonsverständnis kommen muß. Denn gerade das ist eine Quelle der Unklarheit: es unbedacht für selbstverständlich klar zu halten, was "Kanon" heißt und in welchem Sinne die neutestamentlichen Schriften Kanon sind, in welcher Hinsicht sie "Norm" oder "Autorität" sind und in welcher Weise sie- was offenbar mitzubedenken ist- ihrerseits der Kanon des alttestamentlichen Schriftenkanons sind. Es ist nicht etwa das Kennzeichen eines angeblich abschwächenden Kanonsverständnisses in bestimmten Ausprägungen evangelischer Theologie, wenn die Frage der Autorität des Kanonshinausgespielt wird auf die Wahrheit der Sache, um die es im Kanon geht, wenn also, wie es scheint, die Strenge der formalen Autorität gelockert wird durch ein dazu in Konkurrenz tretendes Sachkriterium. Nun ist freilich die Benennung des "sola scriptura" als "Formalprinzip" gerade protestantischen Ursprungs 28 • Doch bringt eben diese ihrer Herkunft nach in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückweisende,Bezeichnung die Problematik eines formalen Verständnisses der Schriftautorität an den Tag. Sie erinnert an die Stellung der Heiligen Schrift als "principium" der Theologie in der altprotestantischen Dogmatik29 , verwendet aber den Prinzipbegriff in ganz anderer 17 Vgl. die Formulierung bei loh. WoUeb, Christianae theologiae compendium (1626): Ecclesiae testimonium prius est tempore; spiritus sancti vero prius est natura et efficacia. Ecclesiae credimus, sed non propter ecclesiam; spiritui autem sancto creditur propter seipsum. Ecclesiae testimonium 'tÖ lSn monstrat; spiritus vero sancti testimonium 'tÖ ~Ihn demonstrat. Ecclesia suadet; spiritus sanctus persuadet. Ecclesiae testimonium opinionem, Scripturae vero testimonium scientiam ac fidem firmam parit. 18 A. Ritschl, über die beiden Prinzipien des Protestantismus. ZKG 1, 1876, 597 bis 415 = Ges. Aufs. I, 1895, 2:54--247. Vgl. G. Gloege, Art. Schriftprinzip. RGG1 V, 15-ro-1545. n Vgl. B. Hägglwui, Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie
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Weise: nidlt wie dort als wissenschaftsmethodologischen Terminus, der den außer Diskussion stehenden Erkenntnisgrund einer Wissenscl:J.aft angibt3°, sondern als historiographischen Terminus, der dasjenige auf den Begriff bringt, was einer komplexen und sim wandelnden gescl:J.ichtlimen Größe als das eigentlim Bestimmende und Einende zugrunde liegt. Während es in dem einen Fall um das Prinzip der Theologie geht, geht es im andem Fall um das Prinzip des Protestantismus. Nun nimmt selbstverständlich die historism-phänomenologische Bezeichnung der Heiligen Smrift als des Formalprinzips des Protestantismus Bezug auf jene dogmatisme Bezeimlnung der Heiligen Scl:J.rift als des Prinzips der Theologie. Die orthodoxe Auskunft wird zwar positiv aufgegriffen, zugleim aber mit einem kritismen Vorbehalt versehen, indem jenes "Schriftprinzip" einschränkend als "Formalprinzip" bezeichnet wird, das nach einer Ergänzung durm ein "Materialprinzip" ruft, als das man dann die reformatorisme Rechtfertigungslehre auszugeben pflegt. Trotz des Anscheins terminologischer und sacl:J.licher Nähe zur orthodoxen Dogmatik besteht jedoch eine tiefe Differenz. Für die orthodoxe Dogmatik gilt nimt die Heilige Schrift in diesem Sinne als ein "Formalprinzip", das der Ergänzung durch ein "Materialprinzip" bedürfe. Zwar unterscheidet man auch dort in Hinsicht auf die Theologie ein zweifaches principium: nämlich Gott als den Seinsgrund ( principium essendi) der Theologie und die Heilige Scl:J.rift als den Erkenntnisgrund (principium cognoscendi) der Theologie. Wissenschaftsmethodologisch kommt jedoch nur das letztere in Betracht, so daß die Heilige Schrift auch als unicum et proprium theologiae principium bezeichnet werden kann31 • An dieser Fassung des Schriftprinzips wird nun auf Grund der hermeneutismen Erfahrung der Neuzeit durch den Terminus "Formalprinzip" in der Weise Kritik geübt, daß zwar die fundamentale Bedeutung des "sola scriptura" für das Wesen des ProtestantisJohann Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis. 1951. 10 Darum heißt es z. B. bei loh. WoUeb, ChrisL theol. Comp.: Quaestio, an Scripturae sive sacra Biblia sint Dei verbum, homine Christiano indigna esL Ut enim in schola contra negantem principia non disputatur, ita indignum iudicare debemus, qui audiatur, si quis Christianse religionis principium neget. 11 loh. Gerhard (Loc. theol., Prooemium de natura theologiae 19, ed. Cott. II, 8) sagt zusammenfassend: principium theologiae supematuralis adaequatum et proprium esse divinam revelationem, quae cum hodie non nisi in sacris literis, h. e. in propheticis Veteris et apostolicis Novi Testamenti libris descripta exstet, inde scripturn Dei verbum sive quod idem est, Scripturam sacram dicimus esse unicum et proprium theologiae principium. Ubi tamen observandum, non de essendi, sed de cognoscendi principio hic agi. Deus est principium et causa theologiae prima, quippe a quo et finis et media oriuntur, sed principium cognoscendi in theologia est Dei verbum.
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mus anerkannt, zugleich aber eingestanden wird, mit dieser ausschließlichen Autoritätsstellung der Schrift sei noch nicht ihr Verständnis im reformatorischen Sinne sichergestellt. Man traut also offenbar der Heiligen Schrift nicht ohne weiteres zu, daß sie von sich aus das richtige Verständnis ihrer selbst gewährleistet, und sucht diesem Auslegungsrisiko zu steuern durch ein zusätzliches "Materialprinzip", das die Funktion eines sachbestimmten hermeneutischen Prinzips übernehmen soll. Daß man sich damit bereits im Bereich neuzeitlicher Denkweise befindet, zeigt schon die Art, wie hier zwischen bloßer, leerer "Form" und dem eigentlich wesentlichen "Inhalt" unterschieden wird. In aristotelischer Terminologie müßte man eher umgekehrt formulieren, nämlich der Schrift als dem "Materialprinzip" die Rechtfertigungslehre als "Formalprinzip", präziser: als ratio formalis des rechten Schriftverständnisses zuordnen32 • Vom neuzeitlichen Standpunkt aus erscheint das Schriftprinlzip für sich genommen als formal im Sinne von unbestimmt in sachlicher Hinsicht, also mehrdeutig, so daß es erst durch das beigefügte Materialprinzip eindeutig wird im reformatorischen Sinne. Zwar steht hinter dieser Zweiheit von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus die Oberzeugung, daß dieses Materialprinzip schriftgemäß, ja der eigentliche Kanon im Kanon sei. Trotzdem legt sich die Frage nahe, ob die Struktur dieser zwei Prinzipien nicht eine gewisse Verwandtschaft mit der
als katholisch geltenden Zweiheit von Schrift und Tradition aufweist, insofern die Schrift zur Sicherung ihrer rechten Auslegung der Fixierung einer bestimmten Auslegungstradition bedarf, wie sie nun im reformatorischen Bekenntnis vorliegt. Daß an der Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip das Problem des Kanons sich als Frage des Kanonsverständnisses, das Problem des "sola scriptura" sich als Frage der Schriftauslegung stellt, treibt zweifellos die Explikation des Sachverhalts erhellend voran. Doch kommt dadurch nur an den Tag, was wesenhaft das Urteil der Kanonizität und entsprechend des "sola scriptura:4 in sich schließt. Denn es ist eine Täuschung, als sei das Schriftprinzip, selbst im orthodoxen Verständnis, ein rein formales. Als expliziertes besagt es doch: die Schrift sei das Wort Gottes. Wenn nun auch der Eindruck, man habe es mit einer rein formalen Bestimmung zu tun, sich ebenfalls auf den Begriff des Wortes Gottes übertragen kann, so wird man doch zugeben müssen: Indem das "sola scriptura" durch die Prädizierung der Schrift als Wort Gottes interpretiert wird, wird dem hier in Betracht kommenden Verständnis von Autorität und damit auch dem 11 Das entspräche dann etwa der Unterscheidung, die Thomas zwischen dem obiectum fidei materiale und der formalis ratio obiecti fidei macht: S. th. 2, II q.l a.1.
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Verständnis dessen, was hier sachlich in Frage steht, zumindest die Richtung gewiesen. Und wenn auch der Begriff des Wortes Gottes noch so unbestimmt in Ansatz gebracht wird, gibt er doch das Gefälle dessen an, was die Kanonizität der Schrift eigentlich besagt, und stellt ein gewisses - vielleicht sehr vage erfaßtes, aber der Explikation fähiges und bedürftiges - Kriterium dessen dar, in welcher Hinsicht der Kanon kanonisch ist. Durch das grundsätzliche Verständnis der Schrift als Wort Gottes hat die altprotestantische Orthodoxie den sachlichen Sinn der Kanonizität bzw. des "sola scriptura" angegeben und dabei diesen vielleicht sogar von vornherein präziser gemeint, als es zum Ausdruck kommt. Was aber von dem orthodoxen Schriftprinzip gilt, trifft grundsätzlich auf jedes, auch das katholische Kanonsverständnis zu. Es impliziert notwendig ein wenn auch noch so verborgenes Sachkriterium. Ein formales Schriftprinzip ist eine Unmöglichkeit. In der Doppelheit der als kanonisch bezeichneten Schriften selbst auf der einen Seite und des in dieser Bezeichnung gemeinten Kanons- und Autoritätsverständnisses auf der anderen Seite liegt eine diesem Sachverhalt notwendig eigene Spannung, I wie sie dann in der theologiegeschichtlich späten Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip zwar zutage getreten, aber nicht in ihrem eigentlichen Wesen erlaßt ist. Denn statt von zwei getrennten Prinzipien auszugehen, käme es darauf an, sich auf die Bewegung einzulassen, in der die kanonischen Schriften selbst sich als kanonisch zur Geltung bringen und den Sinn ihrer Kanonizität deutlich werden lassen. Damit, daß diese Schriften als Kanon, als Heilige Schrift bezeichnet und rezipiert sind, ist nur ein Anspruch erhoben, den es einzulösen gilt, oder- vielleicht sachgemäßer formuliert- eine Verheißung ausgesprochen, die es wahrzunehmen gilt, jedenfalls eine Aufgabe gestellt, die im auslegenden Umgang mit der Schrift in Angriff zu nehmen ist. Die Bezeichnung als Kanon ist im genauenSinne des Wortes" Vor-Urteil" 33 , das der Erprobung und Bewährung an der Schrift selbst auszusetzen ist. Wenn aber das Verständnis der Schrift als Kanon in eine Auslegungsaufgabe hineintreibt, in der an der Fülle der Schriftaussagen deutlich zu machen ist, inwiefern sie "kanonisch" sind und was überhaupt Kanonizität dieser Texte besagt, dann ist unbestreitbar die durch den Kanon als Kanon gestellte Aufgabe eine kritische, die ständig gegen falschen Gebrauch des Kanons und falsches Kanonsverständnis wahrzunehmen ist3 '. Das reinigende, klarstellende Zur-GelZu dem positiven hermeneutischen Sinn von" Vorurteil" vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. 1960, 255 ff. a. Dies einzuschärfen ist der Sinn von Luthers Vorreden zum Neuen Testament: "Siehe, nun richte dich also in die Bücher des Neuen Testaments, daß du sie auf 11
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tung-Kommen des Kanons als Kanon vollzieht sich in erster Linie und eigentlich durch die Verkündigung an der menschlichen Wirklichkeit, um derentwillen die Verkündigung und darum auch der Kanon notwendig sind. In diesen umfassenden Vorgang klärenden Zur-Entscheidung-Bringens gehört selbstverständlich auch die gegen alle Arten von Unklarheit und Irrtum angehende Klärung dessen, wie der Kanon als Kanon zu verstehen und zu gebrauchen ist. Das schließt aber wiederum mit Notwendigkeit eine innere Kanonskritik in dem Sinne ein, daß gegen drohende Desorientierung in bezugauf die Einheit des Kanons die Stellung des einzelnen Textes im Kanon kritisch bedacht wird. Bekannt, aber vielleicht längst nicht bekannt genug, sind die Weisen, wie Luther der inneren Kanonskritik Raum gegeben hat: durch Umstellung des Hebräer- und Jakobusbriefs hinter die johanneischen Briefe und die unbezifferte Aufführung der nun vier letzten neutestamentlichen Schriften, nämlich Hebräerbrief, Jakobusbrief, Judasbrief, Offenbarung Johannis, außerhalb der fortlaufenden Zählung I der übrigen 23 Bücher des Neuen Testaments315 sowie durch wertende Urteile, "welches die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind" 38 , und entsprechende negative Äußerungen zu anderen neutestamentlichen Schriften37 • Was sich hier in freilich besonders auffallender Weise vollzieht, gehört grundsätzlich, ob ausdrücklich oder stillschweigend, zu jedem Umgang mit dem Kanon, wenn er überhaupt als Kanon verstanden wird. Daß hier die Möglichkeit einer Kanonsrevision auftaucht, ist grundsätzlich zu bejahen, kann aber nur dann als Einwand gewertet werden, wenn man die in der Struktur des Kanons liegende Spandiese Weise zu lesen wissest." WADB 6; 10,6 f. (1522) 11, 6 f. (1546). Die Tatsache der Beifügung solcher Vorreden ist nichts Neues. Luther folgt - wenn auch der Samenamin kritismer Orientierung (vgl. WADB 6; 8, 5 = 9, 5)- dem Vorbild der Vulgata-Vorworte des Hieronymus. 11 WADB 6; 12 f. Sowohl im Neuen Testament deutsch 1522 wie in der Bibelausgabe von 1546. 11 WADB 6; 10, 6-35. Dieser Passus der Vorrede zum Neuen Testament ist von 1534 an fortgelassen. Vgl. jedom die Vorrede zum Römerbrief: WADB 7; 2, 3 f. (1522) 3, 3 f. (1546) sowie den Beginn der Vorrede zum Hebräerbrief, WADB 7; 344,2-4 (1522) 345,2-4 (1546): "Bisher haben wir die rechten gewissen Hauptbücher des Neuen Testaments gehabt. Diese vier nachfolgenden aber haben vorzeiten ein ander Ansehen gehabt ... " 11 Zum Hehr.: WADB 7; 344, 4-19 (1522) = 345, 4-19 (1546). Zum Jak.- und Judasbrief: WADB 7; 384 ff. (1522 und 1546). Manbeamte aber, daß es neben der bekannten Bezeimnung des Jakobusbriefes als "stroherner Epistel" (WADB 6; 10, 33 f. [1522] zugleim beißt: "Diese Epistel S. Jacobi, wiewohl sie von den Alten verworfen ist, lobe ich und halte sie dom für gut, darum daß sie gar kein Mensmenlebre setzt und Gottes Gesetz hart treibt." WADB 7; 384, 3-6 (1522) = 585, 3--5 (1546). Zur Offb. Job.: WADB 7; 4()4 (1522), ab 1530 durch eine ganz andere Vorrede (aaO 406 ff.) ersetzt.
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nung zwischen der allgemeinen Behauptung der Kanonizität und dem konkreten Aufweis der Kanonizität verkennt bzw. die eigentliche Kanonizität von den auszulegenden Texten auf ein definitives Kanonsdekret, also im Prinzip auf eine Auslegung verlagert. Sich für die Möglichkeit einer Kanonsrevision offenzuhalten, besagt dasselbe, wie sich im Umgang mit der Heiligen Schrift der Möglichkeit einer Korrektur seines Verständnisses und Bekenntnisses des christlichen Glaubens auszusetzen. Wollte man das a limine ausschließen, so wäre die Schrift gerade nicht als Kanon ernst genommen. Etwa darum das Bekenntnis als ungewiß anzusehen, weil es sich der Heiligen Schrift als der "alleinigen Regel und Richtschnur" unterstellt, oder anders formuliert: etwa darum die Auslegung nicht ernst zu nehmen, weil sie am Text zu prüfen bleibt und nie an die Stelle des Textes treten darf, verriete Unverstand in bezugauf das Wesen des Bekenntnisses und zugleich in bezugauf das Wesen von Auslegung. Das römisch-katholische Kanonsverständnis, das die Autorität des Kanons letztlich im kirchlichen Kanonsdekret verankert, kann darum die Schrift nur in der Weise als Kanon gelten lassen, daß ihr eine Auslegungstradition als kanonisch übergeordnet wird. Das reformatorische Kanonsverständnis dagegen, das die Autorität dem als Kanon rezipierten ISchriftenkorpus läßt, kann darum das kirchliche Kanonsdekret nur in dem Sinne als kanonisch gelten lassen, daß es, weil Auslegung, an der Schrift selbst geprüft, darin aber in seinem Urteil über die Kanonizität der Schrift gerade beim Wort genommen wird. Im übrigen lenkt das Starren auf die extreme Möglichkeit einer Kanonsrevision - zu der, was das Neue Testament betrifft, trotz der von Luther geübten inneren Kanonskritik seiner eigenen Auffassung nach gar kein Anlaß war - von dem entscheidenden Problem ab. Die Frage, ob etwa einzelne Schriften oder Teile von ihnen zu Unrecht zum Kanon gehören, suggeriert leicht ein falsches Kanonsverständnis, wonach der Kanon eigentlich nicht Sammlung von geschichtlich differenzierten Zeugnissen, sondern ein gesetzlich handhabbares dogmatisches Lehrbuch sein sollte und die Notwendigkeit der Interpretation schon als im Grunde der Kanonsidee widersprechend angesehen wird. Das Kernproblem, auf das das Stichwort der inneren Kanonskritik weist, ist von der Existenz des Kanons, in welcher Umgrenzung auch immer, unabtrennbar, also durch keine Kanonsrevision zu eliminieren. Denn es ist identisch mit der Aufgabe, den Kanon als Kanon zu gebrauchen, also das "sola scriptura" zu praktizieren.
C. Die Wahrheit des "sola scriptura" Durch die Erörterung der Einwände, die gegen das "sola scriptura", besonders unter Hinweis auf das Phänomen des Kanons, erhoben
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werden, ist einer positiven Entfaltung des "sola scriptura" vorgearbeitet worden. Sie muß nun im Gegenüber zur katholischen Zusammenordnung von "Schrift und Tradition" zum Thema werden, doch so, daß die Wahrheit des "sola scriptura" sich an dem bestmöglichen Verständnis der Gegenposition bewähren muß. 1. Der hermeneutische Sinn der Formel "Schrift und Tradition". Es ist keineswegs selbstverständlich, inwiefern die Formel "Schrift und Tradition" dem "sola scriptura" widerspricht. Die Particula exclusiva gilt nur in bestimmter Hinsicht, untersagt also natürlich nicht etwa den Umgang mit anderen Büchern und Überlieferungen, im Gegenteil, fordert ihn geradezu, da nur in Begegnung mit der Fülle des für das Menschsein irgendwie Belangvollen das in der Heiligen Schrift Bezeugte sich in seiner Einzigkeit Geltung verschaffen und diese Geltung bewähren kann. Nun ist aber die Intention der Formel "Schrift und Tradition" ohne Zweifel nicht die, die Einzigkeit der Heiligen Schrift, wie sie in ihrer Stellung als Kanon zum Ausdruck kommt, anzutasten und einzuschränken. Wenn das "sola scriptura", wie man zunächst jedenfalls meinen sollte, nichts anderes besagt, als eine ausdrückliche Unterstreichung der kanonischen I Sonderstellung der Heiligen Schrift, dann steht es in diesem Sinne unbestritten auch auf katholischer Seite in Geltung. Das "pari pietatis affectu ac reverentia" des Tridentinum38 enthebt trotz der darin ausgesprochenen Gleichstellung von Schrift und Tradition nicht der Notwendigkeit, sich über deren Unterschied so Rechenschaft zu geben, daß man der nicht bestrittenen Sonderstellung der Bibel als kanonischer Schrift gerecht wird39 • Denn weder die einzigartige Autorität der Heiligen 18 Denz. 783. Die Frage der Gleichstellung hatte auch in bezugauf das Verhältnis der kanonischen Schriften untereinander zur Diskussion gestanden; aber von einem formellen Beschluß im Sinne von "pari auctoritate" wurde abgesehen. H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient. Bd. II. 1957, 45 f. J. R. Geiselmonn, Die Heilige Schrift und die Tradition. Quaest. disp. 18, 1962, 280. Anderseits waren Stimmen laut geworden, die mit "pari pietatis a.ffectu" nur die Gleichstellung der geschriebenen und ungeschriebenen Traditionen zum Ausdruck bringen wollten, H. Jedin, aaO 60. 11 Vgl. K. Rahner, Was ist eine dogmatische Aussage? Cath. 15, 1961, 161-184 (s. o. S. 97, Anm.13), erläutert die "eigentümliche, einmalige Stellung der Heiligen Schrift" folgendermaßen: Ihre Aussagen "gehören zu dem einmaligen geschichtlichen Heilsereignis selbst, auf das sich alle Verkündigung und alle Theologie später beziehen, sie sind in diesem ganz bestimmten Sinn wahr als Theologie, auch wahr als absolut verpflichtende Theologie, nicht nur eine Glaubensaussage, sondern diejenige, die der bleibende Grund aller anderen und künftigen bleibt, sie sind das Tradierte, nicht die entfaltende Tradition des Tradierten." (180) Die Frage, in welcher Form die "ursprüngliche Glaubensaussage als norma normans non normata, sowohl der glaubensfordernden wie der nicht verbindlichen heutigen Glaubensaussage, gegeben ist", beantwortet Rahner darum "schlicht und einfach": "in der Heiligen Schrift". Und er bemerkt dazu: "Auch wenn wir die in der katholischen
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Schrift (ihre I Kanonizität) noch - was davon untrennbar ist - ihre Offenbarungsdignität (ihre Inspiration) sind an sich zwischen Katholizismus und Reformation kontrovers. In der Reformation ist zwar der Gesichtspunkt der Kanonizität strenger gehandhabt worden: Es erfolgt die Bindung an den engeren hebräischen Kanon, also unter Ausschluß der Apokryphen; im Neuen Testament wird zwischen proto- und deuterokanonischen Schriften, entsprechend den Antilegomena in der Kanonsgeschichte, unterschieden; als maßgebend wird allein der Urtext angesehen. All das sind Symptome einer nicht laxeren, sondern strengeren Fassung des Kanons. Desgleichen ist im orthodoxen Ausbau der Lehre von der Schrift der Gesichtspunkt der Inspiration aufs äußerste verschärft worden. Doch trotz solcher Gradunterschiede wird damit nicht die Grunddifferenz erlaßt, auf die das "sola scriptura" als kontroverstheologische Formel hinweisen soll. Man trifft den Sachverhalt auch damit nicht, daß es sich um verschieTheologie noch und heute mehr als in den letzten Jahrhunderten kontrovene Frage ganz offen lassen, ob die Tradition, die nad:l dem Trienter Konzil eine Norm unseres Glaubens und der kirchlid:len Lehrverkündigung ist, grundsätzUm und abstrakt gesprochen eine zur Schrift additiv hinzukommende Quelle materialer Glaubensinhalte ist oder nur ein formales Kriterium für die Reinheit des Glaubens, nad:ldem sich der materiale Inhalt der apostolisd:len Verkündigung in der Sd:lrift &adilirh adäquat niedergeschlagen hatte, so können wir auf unsere Frage doch antworten: die Heilige Schrift. Der Grund dafür ist einfach. Selbst wenn wir nämlich annehmen, daß es eine Quelle neben der Schrift gäbe, die uns materiale Glaubensinhalte bezeugen würde, die nicht aud:l in der Heiligen Schrift zu finden sind, so wäre diese Traditionsquelle dod:l faktisch nimt so, daß in ihr nur das von Gott als rein garantierte Zeugnis der eigentlid:l offenbarungsmäßigen, apostolischen Oberlieferung mit menschlicher Oberlieferung unvermisd:lt geblieben wäre." (181) " ... die Christen stimmen (mindestens im wesentlid:len) darin überein, daß der Kirche in der Heiligen Schrift die reine (wenn aud:l durmaus gesd:limtlid:le) sd:lriftlid:le Objektivation des apostolisd:len Kerygmas gegeben ist ... Und eine sold:le objektive Norm besitzt die Kirche sonst nid:lt, wenn sie aus dem konkreten Ganzen ihrer faktisd:len Tradition mit der Gabe der Untend:leidung bestimmen will, was in dieser Tradition eigentlich Offenbarungstradition ist und was bloß mensd:llid:le Oberlieferung, die es aud:l von Anfang der Kirche an gegeben hat. Insofern es also eine objektive norma normans, non normata gibt und diese identisd:l ist mit der Sd:lrift und mit ihr allein, eine Norm primär für das Glaubensbewußtsein der Gesamtkircheund für das kirdilid:le Lehramt und nid:lt für den einzelnen (oder gar noch für seinen Kampf gegen das autoritativ sid:l durd:l das Lehramt bezeugende Glaubensbewußtsein der Gesamtkirche), ist dieses ursprünglid:le Offenbarungsund Glaubenswort in der Kirche und der Kirche wesentlid:l von jeder späteren theologisd:len Aussage der Kirche und in der Kirche untenchieden ... " (182) Ferner: Karl Rahner, Ober die Sdniftinspiration. Quaest. disp. 1, 1958. 0. Semmelroth, Wirkendes Wort. Zur Theologie der Verkündigung. 1962, 33: "Schrift und Oberlieferungstehen nimt in gleid:ler Beziehung zum Wort Gottes. lnhaltlid:l enthalten sie wohl beide Gottes Wort, das von Gott Gesprod:lene. Aber die Heilige Schrift als inspiriertes Buch ist auch Gottes Wort, sie enthält es nid:lt nur. Denn sie hat Gott zum Autor, was man von der Oberlieferung nid:lt sagen kann." 20 Käscmann, Kanon
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den weit gespannte Bezirke des Normativen handele: Der Protestantismus reduziere das Normative auf den biblischen Kanon in seiner strengsten Fassung, während der Katholizismus zur Bibel hinzu auch noch die mündliche Tradition für kanonisch erkläre. Diese Charakterisierung kennzeichnet zwar grobschlächtig in der Tat den Sachverhalt, und zwar nicht nur die Vorstellung, die weithin beide Konfessionspartner voneinander haben, sondern auch deren beider triviales Selbstverständnis. Das Unzureichende daran läßt sich aber katholicher- wie evangelischerseits relativ leicht erkennen. Sobald man diese Vorstellung von nebeneinander liegenden Bezirken des Normativen in der Weise konkretisiert, daß dann offenbar der zweigeteilte Kanon Heiliger Schrift Alten und Neuen Testaments durclt den Bereiclt der Tradition zu einer Biblia tripartita erweitert werde, die Heilige Schrift also in diesem dritten Teil immer weiter wacltse und der Kanon im Ganzen somit radikal offene Grenzen habe, so wird die Absurdität dieser Deutung offensiclttlich. Daß sie freiliclt nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, liegt an dem schillemden Charakter des katholischen Traditionsbegriffs und an der immer noch rmd erst recltt im heutigen Katholizismus umstrittenen Frage, wie die Tradition zur Heiligen Schrift in Beziehung zu setzen sei. Den Eindruck des Verwirrenden erweckt der I katholische Traditionsbegriff zunächst durch die Einengung auf ungeschriebene Tradition. Zwar kann das Wort" Tradition" auch in dem weiten Sinn gebraucltt werden, daß es geschriebene und ungeschriebene Überlieferung umgreift40. Faktisch hat sich aber der engere Sprachgebrauch durchgesetzt, ob man nun die Nichtschriftlichkeit ausdrücklich hervorhebt41 oder stillschweigend meint, wie das besonders bei dem globalen singularischen Gehraum von "Tradition" im neueren Katholizismus der Fall ist. Damit ist das unbestreitbar Wahre am Traditionsgedanken von vomherein durch einen theologischen Traditionsbegriff okkupiert, der sich neben der Schrift konstituiert hat und in Ergänzung zu ihr den Gesichtspunkt der Tradition wahrzunehmen beansprucllt, während doch auch die Schrift, recht verstanden, Tradition ist und die Tradition neben der Schrift ebenfalls immer wieder zu schriftlicher Fixierung gelangt. Hier greift nun, die Schwierigkeiten steigernd, die Ambivalenz von traditio als traditwn und als actus tradendi ein. Wäre unter" Tradition", wie es vor allem der pluralisclle Gebrauch "sine scripto traditiones" nahe legt, nur der Inbegriff derjenigen apostolischen tradita zu verstehen, die nicht in der Schrift enthalten sind, sondern sich • Z. B. die Formulierung des Nicänum li: Denz. 308. • 1 So im Tridentinum Sessio IV: libri scripti et sine scripto traditiones, Denz. 78~.
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zunächst nur in mündlicher Weitergabe bzw. in Gestalt von bestimmten Gebräuchen oder Einrichtungen fortgepflanzt haben, so wäre selbstverständlich anzunehmen, daß diese tradita längst in irgendeiner Weise ebenfalls schriftlich fixiert seien. Es wäre geradezu Kriterium des wirklichen Interesses an der Erfassung, Bewahrung und Reinerhaltung jener die Schrift ergänzenden apostolischen tradita, daß man auf ihre schriftliche Festlegung bedacht wäre. Im übrigen ist schriftlicher Niederschlag die unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit eines Traditionsbeweises. Nur so wäre auch der Anspruch apostolischer Tradition nachprüfbar und gegen den Verdacht einer Fiktion zu schützen. Und daran hängt wiederum die Möglichkeit konkreter Unterscheidung zwischen apostolischen und kirchlichen oder bloß menschlichen Traditionen42 • Doch gehen diese Erwägungen an dem eigentlichen Interesse des katholischen Traditionsbegriffs offensichtlich vorbei. Der Vorschlag, das, was mit "sine scripto traditiones" gemeint sei, zu spezifizieren, ist nicht zufällig in Trient unter den Tism gefallen•3 • Was man gewöhnlich als Beispiele für apostolische Traditionen, Idie nicht in der Schrift enthalten sind, anführt, betrifft zumeist zeremonielle oder disziplinarische Einzelheiten wie Kindertaufe, Ohrenbeichte und dgl., wovon man sich fragen muß, was hier letztlich überhaupt an der Apostolizität der Herkunft hängt und inwiefern dies mit der "Reinheit des Evangeliums"•• zu tun hat, ob also diese aufs Ganze gesehendomperipheren "Ergänzungen" der Schrift wirklich den Aufwand der Lehre von der Tradition rechtfertigen. Sofern aber wesentliche dogmatische tradita im Blick sind, zu deren Begründung man sich auf eine die Schrift ergänzende Tradition berufen muß, wie z. B. bei den mariologischen Dogmen, wird hier ohnehin ein streng historisches Verständnis von Apostolizität, aber auch ein einfaches Ergänzungsverhältnis zur Schrift problematisch. Schon die entschiedene Betonung der Nichtschriftlichkeit der Tradition weist darauf hin, daß weit mehr als an bestimmten tradita am Gesichtspunkt des fortdauernden actus tradendi das eigentliche Interesse haftet. Von daher könnte sogar das Verhältnis zur Schrift als ganz unproblematisch erscheinen: Die Schrift wäre das traditum tradendum, das in der Tradition als dem actus tradendi, in münda Belehrungen, wie sie P. Lengsfeld (s.o. S. 97, Anm. 13) 175 an die Adresse evangelischer Theologen wegen der Nimterwähnung der Unterscheidung zwischen "göttlim-apostolischen" und "kirdilimen" Traditionen erteilt, würden weniger entrüstet ausfallen, wenn man sim zugleich verpßimtet sähe, sim zur Frage der konkreten Verifizierbarkeil dieser Unterscheidung zu äußern. a H. Jedin (s.o. 5.113, Anm. 38) 50. " Vgl. im Dekret des Tridentinum (Denz. 783) die Wendungen: ut sublatis erroribus puritas ipsa Evangelii in Ecclesia conservetur, sowie: hanc veritatem et disciplinam contineri in libris scriptis et sine scripto traditionibus ... :w
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liebem Verkündigungsgeschehen weitergegeben würde, selbstverständlich nicht in starrer Wiederholung, sondern in Übersetzung und Entfaltung, so daß das Verhältnis von Schrift und Tradition das von Text und Auslegung wäre•5 • Zweifellos ist dieser Gesichtspunkt der andauernden Weitergabe des ein für alle Mal Offenbarten ein bestimmender Faktor im katholischen Traditionsbegri.f?8 • Trotzdem läßt sich das Problem, das in der katholischen Formel "Schrift und Tradition" angesprochen ist, nicht so einfach entschärfen, daß man hier "Tradition" allein auf den actus tradendi deutet und den Untersdried zur Schrift nicht auch in bezug auf das traditum selbst bedenkt. Wenn man in Betracht zieht, daß die Kirche selbst einerseits die Tradition im Sinne des andauernden Prozesses der traditio ist, anderseits in Gestalt des unfehlbaren Lehramtes letztlich Kriterium und Instanz in einem ist zur Entscheidung über das, was als traditum der traditio divino-apostolica zu gelten habe, und daß eben in jenem Tradiltionsprozeß dieses traditum proponiert und exponiert wird, so ist deutlid:J., daß hier die Untersd:J.eidung von traditum und actus tradendi letztlich dahinfällt und beides in eins verschmilzt: in die als Kirche sich überliefemde Offenbarungswirklichkeit. Die Kird:J.e - als das corpus Christi mysticum - ist die Tradition in der Einheit von traditum tradendum und actus tradendi. Die heute im römischen Katholizismus vorläufig noch so heftig umstrittene Frage, ob von Schrift und Tradition als zwei Offenbarungsquellen oder als zwei Formen der einen Offenbarung zu reden sei•7 , " In diese Richtung tendieren die oben S. 113, Anm. 39 zitierten Äußerungen von K. Rahner. " Im Tridentinum (Denz. 783) wird mit der Betonung des historisch Einmaligen zugleich die bis in die Gegenwart laufende geschichtliche Bewegung des Uberlieferns hervorgehoben: ... sine scripto traditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab Apostolis acceptae, aut ab Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus traditae ad nos usque pervenerunL Ferner: ... traditiones ipsas, tum ad fidem, tum ad mores pertinentes, tanquam oretenus a Christo, vel a Spiritu Sancto dictatas et continua successione in Ecclesia catholica conservatas ... 47 Das Tridentinum (Denz. 783) hat für "libri scripti" und "sine scripto traditiones" keinen gemeinsamen Oberbegriff. Dasselbe gilt von der Constitutio dogmatica de fide catholica, cap. 2 De revelatione, des Vaticanum I. Die Beifügung "De fontibus revelationis" Denz. 1787 ist Zusatz des Herausgebers. Die Redeweise von den "zwei Offenbarungsquellen" herrscht vor. Ausneuerer dogmatischer Literatur vgl. z. B. P. M. Nicolau, S.l., in: Patres S. J. in Hispania professores, Sacrae Theologiae Summa I. Madrid 1955, TracL I n. 57: Tractatus de fontibus revelationem continentibus, sive de Traditione et Scriptura, est fundamentum pro Theologia dogmatica ... u. ö. M. Sc:Junaus, Katholische Dogmatik I. 19531, 107: "Die gegenständliche Oberlieferung im engeren Sinne ist eine selbständige der Schrift gleichwertige Glaubensquelle." So auch der Kath. Katechismus der Bistümer Deutschlands (1955) Nr. 51: "Nicht alle Wahrheiten, die Gott geoffenbart hat, sind in der Heiligen Schrift aufgeschrieben. Manche wurden von den Aposteln nur gepredigt
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und die damit gleichlaufende Frage, ob die Tradition im Verhältnis zur Schrift ergänzenden oder bloß interpretierenden Charakter habe, ist zwar als Symptom der Problemstruktur aufschlußreich. Aber bei aller Behutsamkeit im Wissen darum, daß die definitive Antwort, welches die sachgemäße katholische Lehre sei, wesensgemäß nur durch das kirchliche Lehramt selbst gegeben werden kann, wird man die Verschiedenheit der innerkatholischen Standpunkte kaum für unvereinbar halten können, darum aber auch die Bedeutung dessen, welche Position sich in stärkerem Maße durchzusetzen vermag, nicht überschätzen dürfen. Denn wer die Auffassung von den sich ergänzenden zwei Offenbarungsquellen vertritt, kommt nicht umhin, einmal überhaupt den Zusammenhang herzustellen zwischen der Lehre von der Tradition und der Lehre von der kirchlichen Autorität in Sachen der Schriftauslegung'& und ferner Rechenlschaft zu geben über die Art und Weise der Obereinstimmung der Inhalte beider Offenbarungsquellen. Die Anhänger der Auffassung von der materiellen Suffizienz der Schrift und der bloß interpretierenden Funktion der Tradition müssen dagegen Auskunft geben, wie bestimmte Inhalte der Tradition noch als Auslegung des Schriftinhalts verstanden werden können und wie sich die Behauptung der rein interpretatorischen Rolle der Tradition gegebenenfalls mit der Bestreitung der exegetischen Nachprüfbarkeit verträgt49 • Denn darin besteht auch zwischen und sind dann von der Kirche als kostbares Erbe überliefert worden. Wir nennen sie mündlime Oberlieferung oder die Erblehre. Die meisten dieser Wahrheiten wurden smon bald nam der Zeit der Apostel von heiligen und gelehrten Männem aufgeschrieben (Kirchenväter). Die Heilige Sduift und die Erblehre sind die beiden Quellen des Glaubens. Unter dem Beistand des Heiligen Geistes bewahrt die Kirche sie unverfälsdlt und sdlöpft aus ihnen die Lehre." 1. R. Geiselmann (s. o. S. 93, Anm. 5) 9 bezeidmet diese Formulierung des Verhältnisses von Sduift und Tradition im Einheitskatechismus als "unglücklim". Er selbst sprimt von den "beiden Formen", "durch die das von Jesus Christus promulgierte, von den Aposteln verkündete Evangelium als die einzige Quelle des Heils vermittelt wird" (271). 411 Im Tridentinum wie im Vaticanum I stehen die Äußerungen über Schrift und Tradition (Denz. 783, 1787) sowie über Sduift und Kird:le als entsdleidende Auslegungsinstanz (Denz. 786, 1788) im seihen Dekret, aber nebeneinander, ohne Reflexion auf die innere Verbindung von beidem. Es liegt aber auf der Hand, daß diese Verbindung besteht und auf Explikation drängt, daß also die kird:llidte Auslegung, vor allem in ihrer letztinstanzlimen Entsdleidungsvollmacbt, unter den Samverhalt der Tradition fällt und die Tradition hermeneutischen Sinn hat. " Vgl. z. B. den Vorbehalt K. Rahners in den o. S. 113, Anm. 39 zitierten Ausführungen: Die Sdtrift allein sei objektive norma normans, non normata, - freiUm "eine Norm primär für das Glaubensbewußtsein der Gesamt.kinhe und für das kirchliche Lehramt und nimt für den einzelnen (oder gar nodl für seinen Kampf gegen das autoritativ sim durch das Lehramt bezeugende Glaubensbewußtsein in der Gesamtkird:le) ... " 0. Semmelroth (s.o. S. 97, Anm. 13) 106 f.: "Das von Gott geoffenbarte Glaubensgut wird ... dargeboten dun:h die Heili~e Schrift, insofern
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den gegensätzlichen Standpunkten Ubereinstimmung: Es handelt sich um eine einzige Offenbarung, so daß in der maßgebenden Tradition a priori nimts begegnen kann, was den Charakter einer neuen, anderen Offenbarung hat. Dann stellt sich aber auf jeden Fall die Aufgabe, den in der Offenbarung selbst begründeten Zusammenhang zu explizieren, also aum die als "ergänzend" aufgefaßte Tradition als mit dem Schriftinhalt einig und letztlich eins zu interpretieren, und d. h. sie selbst als Interpretation aufzu!fassen. Die ergänzende Funktion der Tradition wäre dann in der Tat nur eine Art von Interpretation im weiten Sinne. Die Auffassung von der rein interpretatorismen Funktion der Tradition ist deshalb insofern die konsequentere, als sie die Aufassung von der ergänzenden Funktion der Tradition (die für sich allein überhaupt nimt bestehen kann, sondern nur in einer gewissen Verbindung mit dem Gesichtspunkt der Auslegung) so deuten kann, daß diesesimindie erstere auflöst. Freilich wird dadurm den Begriff der Interpretation aufs äußerste strapaziert. Aber das liegt im Wesen der katholismen Auffassung von der SchriftauslegungiO, ganz gleich, ob man in bezugauf einen Randbereich lieber von "Ergänzung" statt von "Auslegung" sprimt. Aufs Ganze des so verwirrend vielseitigen Phänomens der Tradition im katholiscllen Verständnis gesehen, steht es außer Zweifel: Die Formel Schrift und sie durm lebendige, vom Heiligen Geist geleitete Oberlieferung der Kirche mitgeteilt und ausgedeutet wird. Genauso gut kann man aber umgekehrt sagen: Gottes Offenbarung wird uns übergeben durm die lebendige Uberliefenmg, insofern sie die Heilige Schrift in ihren Händen trägt und aus deren Tiefe ans Licht hebt, was Gottes inspirierender Geist in sie hineingeborgen hat. Was die Oberlieferung den späteren Generationen weiterzugeben, zu deuten und ans Licht zu heben hat, ist eben die Heilige Sdnih und sie allein. Denn die Heilige Schrift ist formell das Wort Gottes, das den Inhalt der überliefemden und verkündigenden Tätigkeit der Kirc:he ausmacht ... Und wenn die heutige Kirche ihre Verkündigung und Lehrentscheidungen ausdrücklich auf die Heilige Schrift zurückführt selbst da, wo das für rein philologisch interpretierende Augen nicht vollzogen werden kann- wie etwa bei den beiden letzten Marlendogmen -, so hat das nur zum Teil den Sinn eines rechtfertigenden Nachweises, zum andem Teil und vielmehr hat es den Sinn des Bekenntnisses, daß die Kinhe nicht ihr eigenes, sondern Gottes Wort verkündigt, das Jesus Christus seiner Kirc:he hinterlassen hat. Die kirchliche Verkündigung deutet die Heilige Schrift unter der Führung des Heiligen Geistes, der das Leben der Kirc:he dun:hseelt und allein all das aus der Tiefe zu heben vermag, was er selbst inspirierend im Worte der Heiligen Schrift niedergelegt und gemeint hat." Was besagt das- geradeheraus gesagt- schließlich anderes, als daß gegebenenfalls der Anspruch, es sei Auslegung, die Auslegung ersetzen kann und der Auslegungsanschein als Kundgabe des Auslegungsanspruchs genügt? 10 Denz. 1788: ... ut in rebus fidei et morum ad aedificationem doctrinae christianae pertinentium is pro vero sensu sacrae Scripturae habendus sit, quem tenuit ac tenet sancta mater Ecclesia, cuius est iudicare de vero sensu et interpretatione Scripturarum sanctarum; atque ideo nemini licere contra hunc sensum aut etiam contra unanimem consensu.m Patrum ipsam scripturam sacram interpretari.
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Tradition umschreibt die katholische Antwort auf das hermeneutische Problem der Theologie: Die in der Schrift bezeugte Offenbarung kann nicht recht verstanden werden ohne die in der Kirche repräsentierte Tradition. Ja, die Kirche als die Tradition ist die gültige Interpretation der in der Schrift bezeugten Offenbarung5 1• 2. Das "sola scripura" als henneneutischer Grund-Satz der Reformation. Wenn sich die Formel "Schrift und Tradition" als hermeneutische These erweist, so muß entsprechend auch das "sola scriptura" den Charakter eines hermeneutischen Grund-Satzes haben. Das reformatorische Schriftprinzip ist dann nicht zu ergänzen durch ein hermeneutisches Prinzip im Sinne eines die Auslegung steuernden Materialprinzips, sondern das Schriftprinzip ist als solches ein hermeneutisches Prinzip. Das "sola scriptura" ist im reformatorischen Sinn nicht hinreichend verstanden als Reduktion der "Quellen" allein auf die Heilige Schrift, also als Ausschluß zusätzlicher, ergänzender Oberlieferungen neben der Heiligen Schrift. Das gilt selbstverständlich auch, ist aber in seiner Bedeutung erst eigentlich erlaßt, wenn die Particula exclusiva die hermeneutische Funktion der Tradition ausschließt, also die Suffizienz und Selbstverständlichkeit der Heiligen Schrift in hermeneutischer Hinsicht proklamiert. Als Satz formuliert meint dann das "sola scriptura": Die Heilige Schrift ist die alleinige Quelle ihrer Auslegung. Erst dann ist ihr Verständnis als alleiniger Quelle der Offenbarung streng gefaßt, wenn sie als alleinige Quelle ihrer Auslegung verstanden ist, sie also nicht, um Quelle der I Offenbarung zu sein, zu ihrer Auslegung einer andern Quelle bedarf. Denn dann wäre sie nicht Quelle der Offenbarung. Daß "allein die Heilige Schrift der einzige Richter, Regel und Richtschnur" sei, bezieht sich im strikten Sinne auf alles, was den Anspruch erhebt, Auslegung der Schrift zu sein. Nicht die Tradition entscheidet darüber, was rechte Auslegung der Schrift ist, sondern allein die Schrift selbst ist der Prüfstein ihrer rechten Auslegung, also "iudex, norma et regula" der Tradition51 • Daß die Vorstellung von dem einfachen Nebeneinander verschie11 Vgl. meinen Aufsatz: Wort Gottes und Hermeneutik. ZThK 56, 1959, 22+ bis 251; abgedruckt in: Wort und Glaube. 19621, 519--548. u Form. Conc. Epitome (Die Bek. Sehr. d. ev.-luth. Kirche, 19521 , 769, 19-40): Hoc modo luculentum discrimen inter sacras Veteris et Novi Testamenti litteraset omnia aliorum scripta retinetur et sola sacra scriptura iudex, norma et regula agnoscitur, ad quam ceu ad Lydium lapidem omnia dogmata exigenda sunt et iudicanda, an pia an impia, an vera an vero falsa sint. Cetera autem symbola et alia scripta, quorum paulo ante mentionem fecimus, non obtinent auctoritatem iudicis; haec enim dignitas solis sacris litteris debetur: sed duntaxat pro religione nostra testimonium dicunt eamque explicant ac ostendunt, quomodo singulis temporibus sacrae litterae in articulis controvenis in ecclesia Dei a doctoribus, qui tum vixerunt, intellectae et explicatae fuerint, et quibus rationibus dogmata cum sacra scriptura pugnantia reiecta et condemnata sint.
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dener Bezirke des Normativen nur oberflächlich den kontroversen Sachverhalt trifft, erweist sich nun auch auf protestantischer Seite daran, daß die Auffassung des "sola scriptura" im Sinne bloßer Reduktion der autoritativen Quellen überhaupt nicht den spezifisch reformatorischen Sinn des "sola scriptura" zur Geltung bringt. Denn dies wäre nur dann der Fall, wenn die spezifisch reformatorische Auffassung von der Autorität der Heiligen Schrift klargestellt würde. Sonst unterschiede sich das reformatorische "sola scriptura" weder von dem "sola scriptura" in seiner mittelalterlich-häretischen noch in seiner traditionell katholischen Auffassung. Die Formel als solche ist nicht spezifisch reformatorisch. Die papstkritischen Bewegungen des Mittelalters - nicht nur die eigentlich häretischen Erscheinungen, sondern auch die innerkirchlichen Reformbestrebungen - bedienten sich weithin eines Schriftprinzips im Sinne einer Berufung auf die reine lex divina 53 • Das geschah freilich in Anknüpfung an die traditionelle Geltung des Kanons, also an ein auch von der kirchlichen Theologie grundsätzlich konzediertes "sola scriptura" 5", nur daß der Vorbehalt des I kirchlichen Auslegungsprivilegs mehr oder weniger konsequent entfiel. Aber so wenig, wie dieser hermeneutische Vorbehalt vor der Reformation hinreichend reflektiert war, wurde das "sola scriptura" in häretischer Verwendung auf seinen hermeneutischen Sinn hin bedacht. So konnte Luther selbst sich für sein "Schriftprinzip" zwar auf seinen Erfurter Lehrer, den Nominalisten Trutfetter, berufen55 , ohne daß doch im Ernst behauptet werden könnte, daß sich das reformatoA Vgl. das Material bei Fr. Kropatsdr.eck, Das Schriftprinzip der lutherischen KirdJ.e. I. Bd. Die Vorgeschichte. Das Erbe des Mittelalters. 1904. Besonders eindrücklich ist eine Formulierung aus der tabontischen Konfession von 1451: Scriptura sacra est fidei regula, ex qua bene intellecta omnis probatio efficax capi debet, et ad quam omnis controversia in fide et moribus finaliter resolvi debet, tamquam in primum et universalissimum doctrinae et scientiae fidei principium, praeter quam nulla alia scriptura ad autoritatem debet suscipi, nec contra illam admittenda est auctoritas ..." aaO 82. M S. o. S. 95, Anm. 5. In diesem Zusammenhang wird in der Scholastik Augustin, Ep. ad Hier. 82, 1, 3, MPL 53,277 = CSEL 55,554 zitiert: Sollseis Scripturarum libris qui canonici appellantur, didici hunc timorem honoremque deferre, ut nullum auctorem eorum in scribendo aliquid errasse firmissime credam. Alios autem ita lego, ut, quantalibet sanctitate doctrinaque praepolleant, non ideo verum putem, quod ipsi ita senserunt vel scripsenmt. Z. B. Thomas, S. th. I q.1 a.S. 11 WAB 1; 171, Nr. 74, 72-74 (Brief an J. Trutfetter v. 9. 5. 1518): ... ex te primo omnium didici, solis canonicis libris deberi fidem, caeteris omnibus iudicium, ut B. Augustinus, imo Paulus et Johannes praecipiunt. Das entspricht genau W. Ockham, Dial. p. 411: solum canonibus, qui in Biblia continentur, necesse est fidem certissimam ad.hibere (Kropatscheck 314). - Zum Problem "Schrift und Tradition" im Nominalismus vgl. jetzt: H. A. Oberman, The Harvest of Medieval Theology. Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism. Cambridge1 Mass. 1963, 361-422.
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rische "sola scriptura" nicht entscheidend von dem Verständnis, wie es zuvor vertreten wurde, unterschiede. Man träfe diesen Unterschied aber nicht mit der Kennzeichnung: Zwar bestehe Obereinstimmung in bezugauf das "sola scriptura" als "Formalprinzip", nur im Materialprinzip liege die Differenz. Vielmehr tritt das Neue am reformatorischen "sola scriptura" darin in Erscheinung, daß es auf seine hermeneutische Relevanz hin verantwortet wird. Das stellt nun aber vor die Aufgabe, den inneren Zusammenhang zwischen dem reformatorischen "sola scriptura" und der reformatorischen Grunderkenntnis der Sache des Evangeliums zu erfassen. Dieser Zusammenhang wäre nur oberflächlich hergestellt, wenn man sagte: Aus der Beschränkung allein auf die Schrift ergibt sich eben die darin enthaltene Sache des Evangeliums. Als hermeneutische Weisung verstanden, kommt vielmehr das "sola scriptura" von der Sache des Evangeliums her. Und es müßte sich bei Beachtung und Explikation des hermeneutischen Skopus der beiden strittigen kontroverstheologischen Formeln aufzeigen lassen, daß, wie die katholische Position "Schrift und Tradition" nicht bloß Ursache, sondern auch und eigentlich Folge und Ausdruck des katholischen Grundverständnisses des christlichen Glaubens ist, so auch das reformatorische "sola scriptura" nicht bloß Ursache, sondern auch und eigentlich Folge, als sachhaltiger Ausdruck des evangelischen Grundverständnisses des christlichen Glaubens ist. Das läßt sich an Äußerungen Luthers zum "sola scriptura" verdeutlichen. Die erste eingehende Erörterung darüber fmdet sich relativ spät: Ende 1520 in der Einleitung zur Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum 58 • Das "sola scriptura" steht I nicht als theoretischer Grundsatz am Anfang der Entwicklung von Luthers Theologie, so sehr er sein theologisches Denken von Anfang an mit der Selbstverständlichkeit, wie sie im traditionellen theologischen Rahmen immerhin möglich war, am Studium der Heiligen Schrift orientierte. Anlaß zur grundsätzlichen Reflexion auf dieses sein Verhältnis zur Schrift gab erst der Konflikt mit den kirchlichen und theologischen Autoritäten seiner Zeit. Nicht als ob etwa die Heilige Schrift bloß als letzter Rest übrig geblieben wäre in dem großen Zusammenbruch der Autoritäten, der sich für Luther in den Jahren 1517-1520 vollzogen hatte, und diese äußerste Rückzugsstellung nun nachträglich legitimiert worden wäre! Vielmehr war die Sache der Heiligen Schrift, die ihn so übermächtig in Anspruch genommen und eben dadurch die Freiheit gegeben hatte, alle andem Autoritäten auf diese eine auctoritas hin zu relativieren. Aber weil M
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der treibende Faktor die an der Sache der Schrift selbst orientierte Autoritätserfahrung war, konnte er es der von außen kommenden Nötigung überlassen, die grundsätzlichen Folgerungen für die Frage der Lehrautorität zur Reife zu bringen. Die Besinnung auf das "sola scriptura" - sogar erst nach der großen Auseinandersetzung mit der römischen Sakramentslehre in De captivitate babylonica! - hat also den Charakter einer abschließenden Rechenschaftsablage über Autorität und Verantwortung in Theologie und Kirche. Luther ist sich völlig im klaren darüber, daß die Frage der Schriftautorität sich an der Frage der Schriftauslegung entscheidet. Er stellt sidl sofort dem Einwand, der von daher zu erwarten ist gegen seine Entschlossenheit, sich keiner Autorität der Kirche ohne Ausweis durch die Heilige Schrift zu fügen 57 • Man wird den allbekannten, aber nur von wenigen wirklich verstandenen hermeneutischen Grundsatz gegen ihn geltend machen: Die Heilige Schrift dürfe man nicht nach eigenem Geist, also nicht so, wie einem selbst der Sinn steht, nicht nach. eigenem Gutdünken, nicht eigensinnig auslegen58 • Luther, nach dessen theologischer Grunderkenntnis - in radikaler Uberbietung sowohl der traditionellen Verurteilung des proprius sensus als der Wurzel der Häresie als auch des mönchischen Ideals des Verzimts auf die propria voluntas - die propia iustitia die Ursünde Gott gegenüber und die Gabe des Evangeliums die iustitia aliena extra nos in Christo ist59 , hatte zutiefst Verständnis dafür, daß man im Zeichen des "sola scriptura" zum Häretiker werden kann 80 .l Er läßt sich darum nicht nur diskussionsweise auf den ihm entgegengehaltenen Grundsatz ein, sondern nimmt ihn mit Entschiedenheit als genau das in Anspruch, worum es ihm geht, worauf das "sola scriptura" abzielt, 17 96,4-6: me promu nullius quantumlibet sancti patris autor1tate cogi velle, nisi quatenw iudicio divinae scripturae fuerit probatw ... 11 96, 10 f.: illud omnium ore et calamo usitatum, a paucis tamen intellectum, quod in Canonibw pontificum docetur: Non esse scripturas sanctas proprio spiritu interpretandas. 11 WA 56; 157 ff. • WA 7; 97,36- 98,3. Vgl. z. B. den Schlußpassus in einer Awführung über die superbia der Häretiker in der enten Psalmenvorlesung (1513/15), der wie eine frühe Selbstwarnung klingt: lgitur nolle credere et omnia in dubium revocare ac sie novam doctrinam expectare: haec est gravissima tentatio domini. Cave ergo, o homo; sed humiliter disce sapere et ne novus author transgrediaris limites, quos posuerunt patres tui. Sed 'interroga patrem tuum et dicet tibi'. Spiritum enim legis posuit dew non in Iiteras in papyro positas, in quas heretici con.fidunt, sed in homines officiis et ministeriis praepositos, ut ex illorum ore requiratur. Alioquin quid faciliw diabolo-quam seducere eum, qui suw Magister esse nititur in Scripturis reiecto hominis ministerio? Unum verbum male intellectum in tota Scriptura confwionem facere potest. WA 3, 578,38-579,7. Den letzten Satz hat Luther unterstrichen. Vgl. U. Mauser, Der Häresiebegriff des jungen Luther (Diss. Tübingen}, 1957.
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was also gegen das herrschende kirdillehe Verständnis von der Schriftauslegung geltend zu machen ist. Die Weise, wie in der kirchlichen Tradition der Grundsatz "non esse scripturas sanctas proprio spiritu interpretandas" gehandhabt worden ist, hat die entgegengesetzte Wirkung gezeitigt. Man suchte der Gefahr zu wehren durch Sicherung von außen, d. h. durch Aufhäufung von Auslegungsmeinungen, die das eigentliche Interesse vom Text fort auf sich zogen, sowie durch die Lehre von dem mit Unfehlbarkeit ausgestatteten Ietztinstanzlichen Schriftauslegungsrecht des römischen Bischofs11 • Inwiefern entgeht man aber der Gefahr des proprius spiritus, wenn man etwa der Autorität Augustins folgt und dann doch Gefahr läuft, die Schrift nach dem proprius spiritus Augustins zu deuten, sofern man nicht umgekehrt Augustinder Heiligen Schrift gemäß versteht82 ? Und wie schützt man sich wiederum davor, etwa nach eigenem Sinn Augustin zu interpretieren? Wenn die Richtigkeit der Auslegung durch die Auslegung eines anderen garantiert werden soll, so bedarf es wiederum für diesen eines das Verständnis sicher stellenden Interpreten und so fort in infinitumes. Jene Weisung, die Schrift dürfe nicht proprio spiritu verstanden werden, ist offensichtlich mißverstanden, wenn sie zur Folge hat, daß man sich statt an den Text der Heiligen Schrift an menschliche Kommentare hält und sich immer weiter vom Umgang mit dem Text selbst entfernt. Ihr Sinn ist vom Positiven her zu bestimmen: Die Heilige Schrift ist allein durch den Geist zu verstehen, durch den sie geschrieben ist und den man nirgends gegenwärtiger und lebendiger antrifft als in dem biblischen Text selbst84 • Je größer die Gefahr ist, die Schrift proprio spiritu I zu verstehen, desto mehr muß man sich von allen menschlichen Schriften fort allein der Heiligen Schrift zuwenden85. Denn allein dort ist der Geist zu schöpfen, der über alle heidnischen wie christlichen Schriften zu urteilen instand setzt88 • Argumente, die gewöhnlich zugunsten der hermeneutischen Funktion autoritativer Auslegungstradition gebraucht werden, nämlich daß die heilige katholische Kirche mit demselben Geist des Glaubens ausgestattet sei wie einst an ihrem Anfang und daß man sich auf dem Felde der Auslegung einer Strittigkeit der Meinungen ausgesetzt sieht, führt Luther gerade als Gründe für Recht und Notwendigkeit des Studiums der Heiligen Schrift selbst an87 . 11
WA 7; 96, 11-20.
II
96, 21-25.
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96, 25-34.
" 97, 1-3: scripturas non nisi eo spiritu intelligendas esse, quo scriptae sunt, qui spiritus nusquam praesentius et vivacius quam in ipsis sacris suis, quas scripsit, literis inveniri potest. .. 97, 5-9. .. 97, 11-13. 17 97, 16-22: ... cur non liceat hodie aut solum aut primum sacris literis stu·
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Denn die Schrift legt sich selbst aus, d. h. sie spricht für sich selbst. Sie bedarf nicht erst, weil selbst unklar, schwierig und verschlossen, einer anderswo zu suchenden Verstehensquelle, um in sie hinein Licht und Verstehen zu bringen. Vielmehr ist sie selbst von einer Verstehen eröffnenden Verständlichkeit, erleuchtenden Klarheit, gewißmachenden Gewißheit, und zwar in dem Maße, daß sie schlechterdings alles ans Licht bringt68 • An Stellen des 119. Psalms zeigt Luther auf, daß in Hinsicht auf die Heilige Schrift die eigentliche hermeneutisme Bewegung nicht dem Bemühen entspringt, der Schwäme und Dunkelheit des Textes zu Hilfe zu kommen, sondern von der erhellenden und überwältigenden Macht der Sache der Heiligen Schrift, des Wortes Gottes, selbst ausgeht89 • Ist die Sache der Heiligen Schrift das Wort Gottes, dann ist die Heilige Schrift letztlich nicht das zu Erhellende, vielmehr selbst Quelle der Erleuchtung. Damit ist nicht behauptet, die Schrift werde jedem ohne weiteres zur Quelle der Erleuchtung, während sie doch im Gegenteil vielen zum Anlaß um so größerer Blindheit wird70 • Es ist auch nicht gemeint, die Schrift sei in trivialem Sinne so selbstverständlich klar, daß nicht die Bemühung um ihr Verständnis Sache harter, hingebungsvoller Arbeit I sei71 • Dom will die Auslegung der Schrift als das Sicheinlassen auf den Vollzug ihrer Selbstauslegung und als das Oberwundenwerden des Geistes des Auslegers durch den Geist der Schrift verstanden sein72. Daß die Schrift sui ipsius interpres ist, bedeutet nicht die Proklamation der Oberflüssigkeit von Auslegung überhaupt, sondern stellt die Grundanweisung zu samgemäßer Auslegung dar, expliziert also den hermeneutischen Sinn des "sola scriptura". Es handelt sim zunächst zwar um eine scheinbar rein formale und dere, sicut licuit primitivae Ecclesiae? ... Oportet ... scriptura iudice hic sententiam ferre, quod fieri non potest, nisi scripturae dederimus principem locum in omnibus, quae tribuuntur patribus ... • 97, 23-24: ... ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans ... • 97, 24--35. Luther bezieht sich auf Ps 119, 130 und 160: illuminatio und intelleetos werde zuteil per sola verba dei, tanquam per ... principium ... primum, a quo incipi oporteat, ingressurum ad lucem et intellectum. Man muß also die Worte Gottes als principium primum gebrauchen pro omnium verbarum iudicio. Darum ruft der Psalm zurück ad fontem und lehrt: primum et solum verbis dei studendum esse, spiritum autem sua sponte venturum et nostrum expulsurum, ut sine periculo theologissemus. 70 97,36--98,3. 71 Vgl. 97, 5 f. 34 f. 99, 1 und 100, 18-24: ... ut quemadmodum :psi [sc. sancti viri et Ecclesiarum patres] in verbo dei pro suo tempore laboravenmt, ita et nos pro nostro saeculo in eodem Iaboremus ... Satis est e patribus didicisse studium et diligentiam in scripturis laborandi .. . 71 97,34 f., s. 0. s. 124, Anm. 69.
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allgemeine Auslegungsregel, nämlich daß die Auslegung nichts anderes soll, als den Text selbst zu Worte kommen zu lassen, ihn in dem, was er von sich aus zu sagen, zu erklären und deutlich zu machen hat, zur Geltung zu bringen, ihn also gleichsam in die Situation seiner "Selbstverständlichkeit" zu bringen. Denn sprachliche Äußerung dient als solche der Verständigung73 • Deshalb ist normalerweise das mündlich geschehende Wort, weil situationsgerecht74, nicht interpretationsbedürftig, während das schriftlich überlieferte, weil in irgendeiner oder vielfacher Hinsicht situationsfremd, vor Interpretationsprobleme stellt. Die Auslegung soll also nur die Auslegungsfunktion des Textes selbst beachten und ihr Beachtung verschaffen. In den weiten Rahmen dieser hermeneutischen Weisung gehört auch die traditionelle Regel, dunkle Stellen in der Schrift von den klaren her zu interpretieren; obwohl natürlich über die Grenzen der Anwendbarkeit dieses Auslegungsgrundsatzes Streit sein kann, da das Recht seiner Anwendung vom Verständnis der Schrifteinheit abhängig ist und die Notwendigkeit seiner Anwendung von der Auffassung, ob, in welchem Maß und in welchem Sinne einzelne Stellen als nicht interpretierbar gelten können. Luther radikalisiert hier jedoch jenen allgemeinen Grundsatz der Selbstinterpretation des Textes, indem er ihn auf das Wort Gottes als die Same der Heiligen Schrift bezieht, so daß dem Wort der Schrift um dieser Samewillen hermeneutische Relevanz für alle Menschenworte zukom.mt75 • In diesem an der I Sache der Heiligen Schrift selbst orientierten Sinne ist das sui ipsius interpres ein in strenger Ausschließlichkeit die Heilige Schrift betreffender und eben die Ausschließlichkeit ihrer Geltung, das "sola scriptura" zum Ausdruck bringender hermeneutischer Kanon. Es handelt sim nicht etwa um ein hermeneutisches Sondergesetz zum Smutz der sonst der Bedrohung nicht gewachsenen Schrift, vielmehr um einen Hinweis auf den hermeneutischen Rang des Wortes Gottes, den es um der Sachgemäßheil der Auslegung der Heiligen Schrift willen zu beachten gilt. Luther hat den hermeneutischen Sinn des "sola scriptura" in der Wort und Glaube (s. o. S. 119, Anm. 51) 555 f. Man denke dabei, in weitem Sinne, an die verschiedenen Hinsichten, unter denen mündlich geschehenes Wort bezogen ist auf und eingelassen ist in die dem Redenden und Hörenden gemeinsame Situation, wozu u. a. auch die Gemeinsamkeit der Sprache gehörL Nicht ausgeschlossen ist damit die Möglichkeit, daß das Wort die Situation zu verändern, in neue Situation zu stellen vermag. 71 S. o. S. 124, Amn. 66, sowie: Anm. 67 und 69. Vgl. femer 98, 4-7: Sint ergo Christianorum prima principia non nisi verba divina, omnium autem hominum verba conclusiones hinc eductae et rursus illuc reducendae et probandae . • . 98, 11-17: ... verba divina esse apertiora et certiora omnium hominum, etiam suis propriis verbis, ut quae non per hominum verba, sed hominum verba per ipsa doceantur, probentur, aperientur et firmentur. 71 7'
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Schrift "De servo arbitrio" als Lehre von der doppelten Klarheit der Sduift weiter entfaltet78 • Gegen die mit der Scholastik im Grunde einige Auffassung des Erasmus, daß die Schrift zum Teil dunkel seF7, so daß man sich letztlich den Lehrentscheidungen der Kirche, auch ohne Verstehen, unterwerfen müsse78, setzt Luther als sein "primum principium" 79 die Klarheit der Schrift, die, trotzDunkelheiteinzelner Worte, die Klarheit der Sache der Schrift ist80 , und zwar in der doppelten Hinsicht: die "äußere Klarheit" des verbum extemum der öffentlichen Verkündigung und die "innere Klarheit" der Erleuchtung des Herzens durch den Heiligen Geist81 • Ohne jetzt in die Einzelinterpretation eintreten zu können, sei abschließend das "sola scriptura" als Inbegriff des reformatorischen I Verständnisses in Antithese zur katholischen Position folgendermaßen umrissen: Die Differenz zwischen dem reformatorischen "sola scriptura" und der katholischen Parole "Schrift und Tradition" macht das Gemeinsame, nämlich die Offenbarungsautorität der Schrift und das heißt: ihre soteriologische Relevanz, also den Bezug der Schrift zur Gegenwart strittig. Weil bei dem Verständnis der Schrift als "Heiliger" Schrift und dementsprechend als Kanon dieser Gegenwartsbezug zur Sache selbst gehört, ja, streng genommen, die Sache selbst ist, um die es in der Schrift geht, ist in dem Gegensatz von "sola scriptura" und "Schrift und Tradition" die Sache der Schrift strittig. Diese Strittigkeit der Sache der Schrift konzentriert sich darauf, ob es, zugespitzt formuliert, "Sache" der Schrift selbst ist, die Sache der Schrift zur Geltung .,. WA 18, 606,1-609,14; 653,13-35 (1525). Vgl. dazu R. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift. Untersuchungen und Erörterungen über Luthers Lehre von der Schrift in De servo arbitrio. 1958. 77 606,16-21; 653,31-33. ?8 603,6-8. 11 653,28-35: Nam id oportet apud Christianos esse imprimis ratum atque firmissimum, Scripturas sanctas esse lucem spiritualem, ipso sole Ionge clariorem, praesertim in üs quae pertinent ad salutem vel necessitatem ... illud ipsum primum principium nostrum ... 81 606,22-39: ... Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies? Res igitur in scripturis contentae omnes sunt proditae, licet quaedam loca adhuc verbis incognitis obscura sint ... Eadem vero res, manifestissime toti mundo declarata, dicitur in scripturis tum verbis claris, tum adhuc latet verbis obscuris ... 81 609,~14: Duplex est claritas scripturae, sicut et duplex obscuritas, una externa in verbi ministerio posita, altera in cordis cognitione sita . . . 653,13-28: . . . duplici iudicio spiritus esse explorandos seu probandos. Uno interiori, quod per spiritum sanctum vel donum Dei singulare, quilibet pro se suaque solius salute illustratus certissime iudicat et discernit omnium dogmata et sensus ... Haec ad fidem pertinet et necessario est cuilibet etiam privato Christiano ... altenun est iudicium extemum, quo non modo pro nobis ipsis, sed et pro allis et propter aliorum salutem certissime iudicamus spiritus et dogmata omnium. Hoc iudicium est publici ministerii in verbo et officü externi et maxime pertinet ad duces et praecones verbi ...
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zu bringen82 , d. h. ob und wie die Schrift selbst Sachwalter der Sache der Heiligen Schrift ist, was also die Schrift als Schrift für das ZurGeltung-Kommen ihrer Sache vermag; und das ist gemeint mit der Frage: ob die Schrift in dem oben gekennzeichneten reformatorischen Sinne um der erhellenden Klarheit ihrer Sache willen, und eben durch sie, sich selbst auslegt. Die katholische Antwort "Schrift und Tradition" wird in ihrer Beziehung zu diesem umfassenden Problemhorizont deutlicher, wenn man sie gemäß dem bereits Dargelegten83 im Sinne von "Schrift und Kirche" versteht. In der Behauptung, daß die Heilige Schrift nur durch die Kirche klar werde, daß also nur in der Zweiheit von Schrift und Kirche das rechte Verständnis der Schrift und das Zur-GeltungKommen ihrer Sache ermöglicht sei, so daß man gar nicht in Wahrheit die Heilige Schrift hätte, wenn man "allein die Schrift" und nimt auch die Kirche hätte, sind die verschiedenen Aspekte des so außerordentlich flexiblen Traditionsbegriffs vereinigt: Zur Schrift muß die Kirche als der lebendige Oberlieferungsprozeß in der fortdauernden geschichtlichen Existenz hinzukommen. Zur Schrift muß die Kirche ferner als die - wie man es nun auffassen mag - partielle Ergänzung oder weiterführende Entfaltung oder transformierende Auslegung des Oberlieferungsinhalts hinzukommen. Zur Schrift muß die Kirme endlich als die den Oberlieferungsinhalt im Oberlieferungsprozeß durch das exponere der credenda rein bewahrende Oberlieferungsinstanz hinzukommen, die in Gestalt des außerordentlichen und obersten kirchlichen Lehramts zugleim das In-Erscheilnung-Treten der Oberlieferungsnorm ist. Wenn "Schrift und Tradition" in diesem Verständnis als Ausdruck des Streits um die Sache der Schrift genommen wird, so muß als die Sache der Schrift die Kirche gelten, die zwar in Hinsimt auf ihren Grund und ihren Ursprung in der Schrift selbst enthalten ist, jedom in Hinsicht auf ihren sakramental bewirkten Fortbestand als göttliche Gnadenwirk.lidl.keit selbständig neben der Schrift ihren Bestand hat als das, worauf die Schrift lehrend und gebietend hinweist und worin die ungeheure Vielfalt ihrer Aussageinhalte (credenda und agenda) den gemeinsamen Bezugspunkt hat. So ist die Sache der Schrift nicht nur in, sondern zugleich auch - und was die Begegnungsweise der Schrift betrifft, sogar primäzM - außer11 Der Sprachgebrauch von "Sache" erlaubt es, durch dieselbe Vokabel das zu umgreifen., was man als "Inhalt" oder "Gegenstand" einerseits und als "Aufgabe",
"Zuständigkeit", "Funktion"," Vermögen" oder "Amt" anderseits zu unterscheiden pflegt. Zum Wesen der Sprache gehört der untrennbare Zusammenhang von beidem. Deshalb ist es kein bloßes Wortspiel, diesen Zusammenhang auch sprachlich anzudeuten. 81 s. o. s. 116 fl. " Hier wäre an die in der katholischen Dogmatik übliche Unterscheidung zwi-
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halb der Schrift gegeben. Darum ist von daher die Auslegung der Schrift letztlich normiert; zugleich aber auch relativiert, weil das, was die Kirche zur Gnadenwirklichkeit macht, gar nicht, jedenfalls nicht allein, von der Schriftauslegung, weil nicht vom Wort der Verkündigung, abhängig und zu erwarten ist. Deshalb entzieht sich die Auslegung der Schrift, wie großer Spielraum ihr auch bleiben mag, letztlich der hermeneutischen VerantwortungS'. Oder anders formuliert: die letzte hermeneutische Verantiwartung besteht in der grundsätzlichen Anerkennung des Rechtes eines nur im lauda.biliter se subiicere nachvollziehbaren Auslegungsanspruchs. Wenn dem das "sola scriptura" entgegengestellt wird, dürfen die Probleme nicht verdrängt werden, auf die einzugehen, wie es scheint, die Stärke der katholischen Position ist. Das "sola scriptura" wird sich vielmehr daran bewähren müssen, daß es ebenfalls auf jene Probleme eingeht, und zwar, auf den theologischen Gesamtzusammenhang gesehen, überzeugender, als dies in der katholischen Konzeption trotz deren faszinierender Geschlossenheit der Fall ist. sdlen regula fidei pro:rima und regula fidei remota zu erinnern. Sie deckt sich freilich nicht einfach mit dem oben Gesagten, da, jedenfalls in der traditionellen Lehrform, zwischen Tradition und kirchlichem Lehramt unterschieden wird und somit Schrift und Tradition als die beiden Offenbarungsquellen die regula fidei remota 1ind im Untenchied zum kirchlichen Lehramt als der regula fidei proxima. Der locus classicus für diese Zueinanderordnung ist Vat. I Const. dogm. de fide cath. cap. 5 (Denz. 1792): ... fide divina et catholica ea omnia credenda sunt, quae in verbo Dei scripto vel tradito continentur et ab Ecclesia sive solemni iudicio sive ordinario et univenali magisterio tanquam divinitus revelata credenda proponuntur. Vgl z. B.l. Salaverri, De ecclesia Christi. In: Patres S. J. in Hispania professores, Sacrae Theologiae Summa, Vol. I (Madrid 1955) Tract. II, n. 780 f. S. auch nächste Anm. u Man möchte ergänzend hinzufügen: des Einzelnen. Aber lassen sich Verantwortung und Gewissen voneinander trennen? Man verzerre darum nicht das Problem, indem man die Suspendierung der hermeneutischen Verantwortung der "subjektiven Willkür des Einzelnen" konfrontiert. Im übrigen vergegenwärtige man sich das Problem noch einmal an der Formulierung in der Enzyklika "Humani generis", AAS 42, 1950, 567-569: ... hoc sacrum Magisterium, in rebus fidei et morum, cuilibet theologo proxima et univenalis veritatis norma esse debet, utpote cui Christus Dominus totum depositum fidei - Sacras nempe Litteras ac divinam ,traditionem' - et custodiendum et tuendum et interpretandum concredidit ... Verum quoque est, theologis semper redeundum esse ad divinae revelationis fontes: eorum enim est iudicare qua ratione ea quae a vivo Magisterio docentur, in Sacris Litteris et in divina ,traditione', ,sive explicite, sive i.mplicite inveniantur' ... Una enim cum sacris eiusmodi fontibus Deus Ecclesiae suae Magisterium vivum dedit, ad ea quoque illustranda et enucleanda, quae in fidei deposito nonnisi obscure ac velut i.mplicite continentur. Quod quidem depositum nec singulis christifidelibus nec ipsis theologis divinus Redemptor concredidit authentice interpretandum, sed soli Ecclesiae Magisterio. Die so verwandte, im Druck von mir hervorgehobene Particula exclusiva ist die genau antithetische Entsprechung zum "sola scriptura".
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So kann die Beziehung von Schrift und Kirche in dem Sinne selbstverständlich nicht bestritten werden, daß die Sache der Schrift nirht etwa durch "bloße Schrift", vielmehr eigentlirh durch das mündlirhe Wort der Verkündigung weitergegeben wird, also auf Kirche zielt und durch Kirche bezeugt wird. Wie wir srhon sahen, ist gerade das "sola scriptura" nur recht verstanden in Ausrichtung auf das "solo verbo" des Verkündigungsgeschehens88, zu dem im reformatorischen Verständnis die Sakramente als in bestimmter Weise Situation schaffendes Wortgeschehen hinzugehören. Auch in der Hinsicht steht die Relation von Schrift und Kirrhe zweifellos in Kraft, daß die Tradierung der Sarhe der Heiligen Scluift sirh nicht in Konservierung der Vergangenheit oder im Rückzug ins vermeintlirh Zeitlose vollzieht, sondern in einem sprarhlirhen Wandel, den man nicht etwa als rein formalen vom Sachproblem selbst trennen kann. Nun drängt sich aber gerade vom "sola scriptura" her, viel schärfer als vom katholischen Ansatz aus, die Relevanz des Problems der Auslegung für das Problem der Geschichtlichkeit der Kirche auf87. Und auch das darf man nicht übersehen, daß zum Auslegungsgeschehen allerdings die Frage nach Instanz und Norm gehört. Auslegung kann nicht sein, ohne daß der Text sein Gegenüber erhält, und zwar nicht ein beliebiges, sondern dasjenige, für das der Text bestimmt ist, also den Adressaten, der für das Einverständnis mit dem Text als Erfüllung von dessen Sprachwillen eigentlich zuständig ist. Und ebensowenig kann Auslegung sein ohne Kriterium, an dem sirh unsachgemäße von sachgemäßer Auslegung scheiden läßt. Nun geht in der Tat das reformatorisch verstandene "sola scriptura" auf beide Fragen entschieden ein, wie Luthers Lehre von der Klarheit der Schrift zeigt, nämlich so, daß, ent!sprechend der doppelten Klarheit, die auf ihren Zusammenhang zu bedenkende Zweiheit von öffentlichem ministerium verbisowie dem Forum des Gewissens die Rirhtung weist für Beantwortung der Frage nach der Auslegungsinstanz88 und Christus als die eigentliche Sache der Schrift die Auslegungsnorm ist- eine Auskunft, deren innere Einheit daraus ersichtlich ist, daß in den gegebenen Hinweisen das "solo verbo", "sola fide" und "solus Christus" anklingt. Während also nach katholischem Verständnis die Sache der Schrift die Kirche als präsente Gnadenwirklichkeit ist und deshalb nur sehr bedingt in der Schrift enthalten und zu suchen ist, weswegen
.. s. o. s. 99 ff. 87
Vgl. meine Veröffentlichungen: Kirchengeschichte als Geschichte der Ausle-
gung der Heiligen Schrift. SgV 189, 1947, in: Wort Gottes und Tradition, 1966',
S. 9-27. Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologi18 S. o. S. 126, Anm. 81. sches Problem. SgV 207/8, 1954, bes. 81 ff. 21
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eben die Schrift nur in der Zusammenordnung von "Schrift und Tradition" bzw. "Schrift und Kirche" zur Klarheit kommt, ist nach reformatoriscl:tem Verständnis Jesus Christus die Sache der Schrift81 • Aus diesem Verständnis der Sache der Schrift ergibt sich notwendig das "sola scriptura". Denn Christus ist allein in der Schrift zu finden. Das steht nicht etwa in Konkurrenz zu seiner Gegenwart im Wort der Verkündigung, in den Sakramenten, in der Kirche. Vielmehr gehört beides unauflöslich zusammen, aber wohlgemerkt in dem unumkehrbaren Richtungssinn, daß allein der in der Schrift bezeugte Christus der gegenwärtige ist und daß die Weise seiner Gegenwart allein das Wort ist, welches allein auf Glauben aus ist, daß also Christus als verbum promissionis und darum als verbum fidei die Sache der Schrift ist. Um dieser dem Wesen Christi entsprechenden Weise seiner Gegenwart im Wortwillen ist und bleibt die Kirche allein auf die Schrift angewiesen als auf die Quelle90 , aus der stets neu die gegenwärltige Verkündigung des Wortes Gottes geschöpft werden muß und kann. Hier erweist sich also das "sola scriptura" in engster Verflechtung mit dem reformatorischen Grundverständnis des Evangeliums. Weil allein der Glaube rechtfertigt und der Glaube den im Wort der Verheißung präsenten Christus ergreift91 , ist um der Reinheit des Evan1t S.o. S. 126,Anm.80. WATR 2; 439, 25!. (Nr. 2383): Christus est punctus ma· thematicus sacrae scripturae. Zur christologischen Orientierung von Luthers Exegese in der Friihzeit vgl. E. Vogehang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach der ersten Psal.menvorlesung. AKG 15, 1929, und meine Aufsätze: Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, ZThK 48, 1951, 172-230, bes. 219 ff.; Luthers Psalterdruck vom Jahre 1513, ZThK 50, 1953, 43--99, bes. 80 ff. Daran, daß Christus die Sache der Schrift ist, entscheidet sich die Frage nach der Einheit und nach der Verständlichkeit der Sduif't. S. dazu schon in der ersten Psalmenvorlesung (1513/15), WA 3; 556,35--37: ... omnia verba dei sunt unum, simplex, idem, verum, quia ad unum omnia tendunt, quantumvis multa sint. Et omnia verba, quaein unum tendunt, unum verbum sunt. WA 4; 439,20 f.: ... in Christo omnia verba sunt unum verbum, et extra Christum sunt plurima et vana ... 11 Unser vom Historismus bestimmtes Denken versteht unter "Quellen" dasjenige, was die Vergangenheit als solche ersd:tließt und in sie zurückführt. Vgl. z. B. die Definition von J. G. Droysen, Historik. 19581, 37: " ... was die Rückschau früherer Zeiten in ihre Vergangenheit, die aufgezeichnete Vorstellung oder Erinnerung über dieselbe bietet, nennen wir Quellen." Der ursprüngliche Sinn - nicht etwa nur in theologischer Verwendung- meint die die Gegenwart erschließende Eröffnung "der ursprünglichen, unentstellten Wahrheit", "das Hervorquellen des reinen und frischen Wassers aus einer unsichtbaren Tiefe" (Gadmner [s. o. S. 96, Anm. 11] 474). Ober der Differenz des Interesses darf das Gemeinsame nicht übersehen werden: der unbedingte Vorrang der Quellen vor dem daraus Abgeleiteten. "In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und so ist es auch mit den wahren geistigen Quellen in der Oberlieferung. Ihr Studium ist gerade deshalb so lohnend, weil sie immer noch etwas anderes hergeben, als was man bisher aus ihnen entnommen haL" (Gadmner 474). 11 WA 6; 516, 30-32 (1520): Neque enim deus ... aliter cum hominibus unquam
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gellums und um der Worthaftigkeit des Glaubens willendie Hinwendung zu dem Ort notwendig, wo das ursprüngliche Christus-Zeugnis begegnet und so zum gegenwärtigen Christus-Zeugnis ermächtigt. Dieses Angewiesensein auf den biblischen Text verleiht der hermeneutischen Aufgabe unbedingten Ernst. Die entscheidende Aufmerksamkeit auf den sensus literali.s des Urtextes ergibt sich zwingend aus der reformatorischen Sacherkenntnis und ist vom "sola scriptura" nicht zu trennen. Trotzdem darf die hermeneutische Aufgabe nicht etwa mit der isolierenden Herausstellung einzelner Schriftworte ohne kritische Orientierung an der Sache der Schrift als erfüllt angesehen werden. Das "sola scriptura" duldet nicht ein gesetzliches Schriftverständnis, welches Christus als die Sache der Schrift verfehlt12• Das "sui ipsius interpres" muß bis zu der äußersten Konsequenz einer an Christus orientierten Sachkritik am einzelnen Schriftwort durchgehalten werden11 • I Nur so versieht das "sola scriptura" seine fundamentale Funktion: Es dient dazu, daß der Unterschied von Text und Auslegung gewahrt bleibt, während die katholische Auffassung in der Gefahr ist, eine Auslegung zum maßgebenden Text zu erheben. Das "sola scriptura" dient darum dazu, daß das Wort Gottes als das schlechterdings Konstituierende über der Kirche bleibt und diese als Kreatur des Wortes Gottes verstanden wird, daß also die Kirche nicht etwa selbst maßgebende Quelle des Wortes Gottes wird und so der Unterschied von Wort Gottes und Kirche ins Unbestimmbare verschwimmtN. Deshalb egit aut agit quam verbo promissionis. Rursus, nec nos cum deo unquam agere aliter possumus quam fide in verbum promissionis eius. Die Betonung dieser fundamentalen Relation von verbum und fides steht im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der römischen Meßauffassung. WA 6; 515, 27-29: Ex quibus vides ad Missam digne habendam aliud nihil requiri quam fidem, quae huic promissioni fideliter nitatur, Christum in his suis verbis veracem credat et sibi haec immensa bona esse donata non dubitet. 11 WADB 7; 084,22-086,2 (1522) 085,22-087,2 (1546): "Denn das Amt eines rechten Apostels ist, daß er von Christus Leiden und Anfechtung und Amt predige und lege desselbigen Glaubens Grund ... Und darin stimmen alle rechtschaffenen Bücher überein, daß sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man sieht, ob sie Christum treiben oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeigt ... Was Christum nicht lehret, das ist noch nicht apostolisch, wenns gleich S. Petrus oder Paulus lehret. Wiederum, was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte. Aber dieser Jacobus tut nicht mehr, denn treibt zu dem Gesetz und seinen Werken ... " 11 WA 39, 1; 47, o f. 19 f. (1505): Scriptura est non contra, sed pro Christo intelligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scriptura non habenda ... Quod si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam. " WA 6; 560,00-561,2 (1520): Ecclesia enim nascitur verbo promissionis per
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dient das "sola scriptura" dazu, daß Christus von der Kirche als deren Haupt unterschieden bleibt und die Kirche dem Geschehen ausgesetzt und auf es angewiesen bleibt, das Kirche zur Kirche macht. Allerdings ergeben sich daraus erregende ekklesiologische Konsequenzen. Zusammen mit der juridisch-institutionellen Feststeilbarkeit unfehlbarer Auslegung entfällt die unzweideutige Darstellbarkeil der Einheit der Kirche. Aber die Vorstellung einer dadurch erzeugten Ungewißheit in bezugauf das Wort Gottes verkennt die radikale Verschiebung im Verständnis der Sache des christlichen Glaubens. Gerade dem "sola scriptura" korrespondiert die Gewißheit des Glaubens, die an dem die Gewissen gewiß machenden Wort des Evangeliums haftet85 • Wo es um den Glauben geht, kann sich der Mensch die Frage der Gewißheit durch keine andere Instanz abnehmen lassen; vielmehr ist der Glaube das Gewißwerden des Menschen selbst durch Christus vor Gott". Weil es um ein anderes Verständnis der Sache der Schrift geht, handelt es sich im "sola scriptura" auch um ein anderes Verständnis von Gewißheit, als es bei der katholischen Lehre von "Schrift und Tradition" im Blick ist: nicht I um die Entsdliedenheit eines kirchlichen Dekrets, sondern um die Entschiedenheit des Christusglaubens selbst. Die Formel "Schrift und Tradition" gilt eigentlich der Begründung und Betätigung des kirdilidlen Lehramts87 • Für den einzelnen Glaubenden ist sie letztlich nur als Einweisung in die sakramentale Gnadenwirklichkeit der Kirche bestimmend98 und bringt darum auch bloß fidem, eodemque alitur et servatur, hoc est, ipsa per promissiones dei constituitur, non promissio dei per ipsam. Verbumdei enim supra Ecclesiam est incomparabiliter, in quo nihil statuere, ordinare, facere, sed tantum statui, ordinari, fieri habet tanquam creatura. Quis enim suum parentem gignit? quis suum autorem prior constituit? • Vgl. die enge Verbindung der Lehre von der claritas scripturae mit dem assertio- und certitudo-Charakter des Glaubens in der Einleitung von De servo arbitrio, WA 18; 603, 1 ff. (1525) 603, 28 f.: Tolle assertiones, et Christianismum tulisti. 604, 33: Quid enim incertitudine miserius? 605, 32--34: Spiritus sanctusnon est Scepticus, nec dubia aut opiniones in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa vita et omni experientia certiores et firmiores. N Unübertrefflich formuliert am Beginn der lnvocavit-Predigten 1522, WA 10, 3; 1,6-2,2: "Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert und wird keiner für den andem sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren könnten wir wohl schreien. Aber ein jeglicher muß für sich selber geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir. Hierin so muß ein jedermann selber die Hauptstücke, so einen Christen belangen, wohl wissen und gerüstet sein ... " ' 7 s. o. s. 128, Anm. 85. 88 Mir ist die veränderte lehramtliche Stellung zum Bibellesen der Laien und die katholische Bibelbewegung sehr wohl vor Augen. Dadurch wird die Vielschichtigkeit des konfessionellen Sachverhalts unterstrichen. Oberflächliche protestan-
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indirekt das Verständnis des Heilsgeschehens selbst zum Ausdruck. Hingegen ist das "sola scri.ptura" Bekenntnis des Heilsnotwendigen selbst. Es vollzieht die Konzentration auf das Dasein Jesu Christi pro nobis im Wort als auf den Grund unseres Seins in Christus extra nos durch den Glauben. Und zwar verankert es dieses Wortgeschehen in dem es allein ermöglichenden, bei seiner Sache erhaltenden und so als Evangelium rein und frisch bewahrenden Text. Denn zu dem Text, welcher Quelle der Vollmamt zu Wort und Glaube ist und auf den sich christliches Wort und christlicher Glaube berufen, müssen als zu dem unausschöpflichen Quellgrund der Existenz im Worte Gottes Zeuge und Hörer des Evangeliums Zugang haben, um sich darin zu treffen. Ist doch jeder in Wahrheit beides: Das Zeugesein kommt aus dem Hören und das Hören macht zum Zeugen. So ist das "sola scri.ptura" an der elementaren Situation des Angefochtenen orientiert, dem nichts hilft als allein das verbum extemum, das gewiß machende Wort, welches Jesus Christus selbst ist. Von daher geurteilt nimmt allerdings die Formel "Schrift und Tradition" nimt interpretierend die Sache der Schrift selbst wahr, sondern beeinträchtigt, ganz gleich ob die Tradition als auch ergänzend oder als bloß interpretierend ausgegeben wird, die Reinheit und gewißmachende Klarheit der Sache der Schrift durch die Statuierung einer zusätzlichen selbständigen Größe neben der Schrift". I J. Das "sola scri.ptura" in der hermeneutischen Situation der Neuzeit. Der Rückgriff auf das reformatorische "sola scri.ptura" kann, wie eingangs schon angedeutet100 , in der hermeneutischen und kontroverstheologischen Situation der Gegenwart nimt genügen ohne eine Rechenschaftsablage über die veränderten Verstehensbedingungen, die dem "sola scri.ptura" außerordentlich bedrohlich zu werden scheinen. Die Aufgaben, die sich dadurch stellen, übersteigen allerdings weit die Möglichkeiten eines Aufsatzes, dessen primäre Aufgabe darin tische Polemik mag sich verwirrt fühlen etwa durdt die Bemerkung im Katholismen Katec:hismus der Bistümer Deutsc:hlands (1955), Nr. 51: "lc:h will mir ein Neues Testament kaufen oder sc:henken lassen; es soll mic:h durch mein ganzes Leben begleiten." Es geht uns jetzt um die Herausarbeitung des Grundsätzlic:hen, gegen dessen obige Darlegung diese Bemerkung kein Einwand ist, wie der Kontext des Katec:hismus zeigt. Welc:he innerkatholischen Veränderungen der intensivierte Umgang mit der Heiligen Schrift haben mag, soll man nic:ht zum Gegenstand der Prognose mac:hen. " Dadurch werden die Ausführungen o. S. 117 ff. nic:ht zurückgenommen, deren Ergebnis wird nun aber kontroverstheologisch beurteilt. Obschon die Auffassung von der rein interpretatorischen Funktion der Tradition, auf den Gesamtduktus katholischer Lehre gesehen, die konsequentere ist, muß doch gerade auc:h sie vom evangelischen Verständnis her als Versuc:h einer Legitimierung der ergänzenden Funktion der Tradition aufgefaßt werden. 100 s. o. s. 92 f., 94-98.
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bestand, gegen eine verkürzte und vergröberte Fassung der konfessionellen Unterscheidungslehren den genuin reformatorischen Sinn des "sola scriptura" in seinem Verflochtensein in das reformatorische Verständnis des christlichen Glaubens überhaupt herauszuarbeiten. Nun liegt zwar schon in der Art, wie dabei in die Tiefe zu bohren versucht wurde, implizit eine Auseinandersetzung mit den Problemen, wie sie sich heute in veränderter Situation stellen. Doch müssen darüber hinaus wenigstens noch einige Hinweise diese Situationsveränderung und die daraus sich ergebende Wegrichtung theologischen Denkens im Gefolge der Reformation kennzeicl:men. Man versperrt sich den Zugang schon zu dieser Fragestellung, wenn man das reformatorische "sola scriptura" als einen fertigen Sachverhalt der folgenden geistesgeschichtlichen und theologischen Entwicklung ausgeliefert sieht, so daß nur das unveränderte Festhalten oder eine mehr oder minder kaschierte Preisgabe in Betracht kommt. So sehr allerdings die Reformation mit Entschiedenheit das "sola scriptura" proklamierte, besteht doch Anlaß zu der Frage, ob sie es in seiner theologischen Problematik schon hinreichend durchreflektiert hatte. Und das hieße, wenn wir uns an den Charakter des "sola scriptura" als hermeneutischen Grund-Satzes der Reformation halten: ob bereits in der Reformation der hermeneutische Sinn des "sola scriptura" samt dendaranhängenden Konsequenzen erkannt worden ist. Schon die Tatsache, daß um den hermeneutischen Sinn der Formel "Schrift und Tradition" noch immer und in gewisser Hinsicht erst recht heute gerungen wird101 , legt den Rückschluß nahe, daß auch in bezugauf das "sola scriptura" Probleme noch auszutragen sind, die im 16. Jahrhundert nicht gelöst oder nicht erkannt worden sind. Darüber hinaus ist ja die Geschichte des hermeneutischen Problems seit der Reformation ein einziger Beleg dafür, daß hier zumindest nicht in bloßem Widerspruch zur Reformation, wenn auch gewiß nicht einfach in direkter Folgewirkung und Weiterführung, Fragen zur Klärung drängen, die im reformatorischen "sola scriptura" i.mjpliziert sind102• Als Symptome ungenügender Explikation des "sola scriptura" lassen sich im reformatorischen Denken selbst vor allem folgende Gesichtspunkte anführen: das Verhältnis von Wort Gottes und einzelnem Schriftwort, die Beziehung zwischen der behaupteten Einheit der Vielfalt der Schrift sowie die Bedeutung des "sola scriptura" für die Methode theologischer Erkenntnis. Was man der altprotestantischen Orthodoxie nicht ohne Recht als
s.o. s. 117 ff. soa Vgl. meinen Art. Hermeneutik, RGG' 111,242-262. G. Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther. 1961. 101
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Verfälschung des reformatorischen Schriftverständnisses und als Ursache der späteren, bis heute noch nicht allgemein überstandenen Krise des Schriftverständnisses zum Vorwurf gemacht hat, will freilich auch in seiner positiven Intention gewürdigt sein. Die Lehre von der Verbalinspiration, die sich sogar auf die massoretische Punktation erstreckte, war nicht so sehr als eine ins Absurde getriebene Steigerung des Autoritätsanspruchs zugunsten des "sola scriptura" gemeint, als vielmehr durch das Bemühen motiviert, den hermeneutischen Sinn der Particula exclusiva gegenüber der Autorität von Tratition und Kirche durch Sicherstellung absoluter Eindeutigkeit des Schriftbefundes und damit auch des Schriftsinnes zur Geltung zu bringen. Das Interesse der orthodoxen Lehre von der Schrift haftete somit vor allem an der Behauptung der perspicuitas der Schrift, nahm also die für das reformatorische "sola scriptura" fundamentale Lehre von der claritas der Schrift auf. Doch verschob sich der Akzent von der Klarheit der Sache auf die nicht in Zweifel zu stellende Unantastbarkeit der Vokabeln und Buchstaben, so daß die dabei entstehenden Verslehensschwierigkeiten bisweilen gedeckt werden mußten durch Rekurs auf die geheimnisvolle Dunkelheit der Sache103 • Damit hängt zusammen, daß die Einheit der Schrift, statt von der Konzentration auf die Einheit der Sache her, aus der Summation ihrer Vielheit zu einer allerdings als unteilbar dekretierten Ganzheit bestimmt wurde. Und der den Gesichtspunkt der Einheit ausdrückende Begriff des Wortes Gottes wurde weitgehend formalisiert, so daß sich der innere Zusammenhang zwischen dem "sola scriptura" und der reformatorischen Grunderkenntnis, dem "solus Christus", "solo verbo", "sola fide", lockerte, wenn nicht gar auflöste, jedenfalls nicht mehr erkennbar war. Dieser Zusammenhang mußte nun dadurch gewährleistet werden, daß die reformatorische Lehrüberlieferung faktisch als regula und nonna der Schriftauslegung gehandhabt wurde. Wenn es auch irreführend wäre, in Hinsicht darauf etwa von einem das Schriftprinzip ergänzenden Traditionsprinzip zu reden, so mangelte I es doch sowohl an einer hermeneutischen Reflexion auf diesen Sachverhalt als auch vor allem an dem Wagnis, aus dem "sola scriptura" Konsequenzen zu ziehen für die Methode der Theologie. Es ist ja höchst auffällig, daß eine theologische Prinzipienlehre, die so entschieden die Heilige Schrift als unicum principium cognoscendi proklamierte, den Primat einer systematischen Theologie begründete, die sich gegen Überraschungen von seiten der Exegese abzuschirmen wußte und die exegetische Theologie zur Sterilität verurteilte. Nun darf zwar keineswegs das Schriftprinzip gegen die systematische 101
Vgl. Wort und Glaube (s.o. S. 119, Anm. 51), 322 Anm. 7.
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Theologie als solche ausgespielt werden, sei es, daß man, formalisierend, einem exegetisch am biblismen Einzeltext orientierten Vorgehen den unbedingten Vorzug vor systematischer Darstellungsweise gibt, sei es, daß man, biblizistisch, die Aufgabe der Theologie überhaupt in der Aneignung biblischer Ausdrucksweise sich ersmöpfen läßt. In beiden Fällen liefe es gerade auf eine Verkennung der hermeneutischen Aufgabe hinaus, der weder durch zerstückelnde Isolierung nom durch Harmonisierung der biblischen Texte geremt zu werden ist. In der reformatorischen Exegese selbst lag noch ungeschieden als ein einziger hermeneutischer Vorgang beisammen, was später nicht in bloß äußere Verschiedenheit der Verfahrensweisen (exegetisch- systematisch), sondern in spannungsvolle Konkurrenz der Fragehinsichten (historisch - dogmatisch) auseinandertrat. Der altprotestantischen Theologie ist nicht zum Vorwurf zu machen, im Gegenteil grundsätzlich als Verdienst anzurechnen, daß sie auf der Basis des reformatorischen "sola scriptura" am Aufbau dogmatischer Theologie arbeitete. Fraglich - wenn auch historisch verständlich und in jener geistes- und konfessionsgeschichtlichen Situation unvermeidbar - mußte es jedoch sein, den Gesichtspunkt des "sola scriptura" und entsprechend aum das reformatorische Grundverständnis vom Wesen des christlichen Glaubens korrigierend in eine letztlich, wenn aum verborgen, vom Gesichtspunkt "Schrift und Tradition" und von dem entsprechenden katholischen Verständnis der Sache des christlichen Glaubens bestimmte dogmatische Gesamtkonzeption11M einzuarbeiten, statt von Grund auf das Problem einer Dogmatik, wie es sich vom reformatorischen "sola scriptura" her stellte, in Angriff zu nehmen. I Die Revolutionierung protestantischer Theologie, wie sie, das Zeitalter der altprotestantischen Orthodoxie beendend, mit Pietismus und Aufklärung einsetzte, schöpfte, so vielfältig die hier einwirkenden geschichtlichen Kräfte auch waren, die theologische Legitimation aus dem "sola scriptura". Was die Vielgestaltigkeit des Protestantismus als Gemeinsames verbindet, ist, sofern man von der geschichtlichen Herkunft und der Antithetik gegen Rom als gestaltenden Faktoren einmal absieht, weniger ein bestimmter dogmatischer Lehrgehalt als das im Prinzip durchweg festgehaltene, wenn auch sehr verschieden verstandene und gehandhabte, auf den Zusammenhang mit der re-
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Der behauptete Zusammenhang zwischen der traditionellen dogmatischen Gesamtkonzeption und den - sagen wir einmal abgekürzt - katholischen Prinzipien der Dogmatik, wie sie, bei umfassender Interpretation, in der Formel "Schrüt und Tradition" enthalten sind, bedürfte freilich noch gründlicher Prüfung und Durchleuchtung. Dabei müßte der sehr schwierige Zusammenhang zwischen der Grundtendenz, wie sie in der Formel "Schrift und Tradition" zum Ausdruck kommt, und der Orientierung an der antiken Signifikationshermeneutik und Metaphysik bedacht werden.
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formatarischen Grunderkenntnis meist nicht recht bedachte, aber doch bestimmte sachliche Konsequenzen für das Verständnis des Glaubens in sich sdlließende "sola scriptura". Das Prinzip der orthodoxen Dogmatik wurde zum Prinzip der Kritik an dessen orthodoxem Verständnis. Das offenbarte einerseits die Differenz zwischen dem reformatorisdlen "sola scriptura" und dessen orthodoxer Interpretationalle folgenden Richtungen des Protestantismus beriefen sich, wenn auch in verschiedener Hinsicht und mit unterschiedlichem Recht, gegen die orthodoxe Dogmatik auf die Reformation-, anderseits das Dilemma der orthodoxen Dogmatik selbst zwischen deren Proklamierung der Heiligen Schrift als unicum principium cognoscendi und der damit grundsätzlich eingeräumten, aber der Intention nach gerade ausgeschlossenen Möglichkeit, daß dieses sich gegen sie selbst wenden könnte. Sowohl der Pietismus mit seinem Streben nach Reduktion der traditionellen Dogmatik auf die Einfachheit einer "biblischen Theologie" als auch die Aufklärung mit ihrer Forderung einer lehrhaften Redlensdlaft über das Verhältnis der Schriftaussagen zur rationalen Erkenntnis und moralischen Erfahrung wie auch endlich die aufkommende historisch-kritische Schriftforschung mit ihrem rücksichtslosen Ernstnehmen des überlieferten Buchstabens als fixierter Zeitdifferenz nehmen je in ihrer Weise und in ihren Grenzen auf Gesichtspunkte Bezug, die im Prinzip der orthodoxen Dogmatik selbst angelegt waren und mit denen sich auseinanderzusetzen bedeutete, sich auf das im "sola scriptura" beschlossene hermeneutisdle Problem einzulassen, damit aber eo ipso den Standpunkt der orthodoxen Dogmatik selbst zu verlassen, deren Hermeneutik - darin verwandt dem katholischen Partner -letztlich in der Abweisung der hermeneutischen Fragestellung bestand. Doch wird eben dadurch die Frage bedrängend, ob die Freigabe der im "sola scriptura" implizierten Probleme nicht die Auflösung des Schriftprinzips zur Folge hat. Die übliche Klage über die angebliche Zerstörung der Schriftautorität übersieht allerdings die Problematik des als Maßstab angelegten orthodoxen Verständnisses der Schriftautorität sowie die I Tatsache, daß die historisch-kritische Schriftauslegung als solche das Problem der Schriftautorität gerade offenhält. Denn die historisch-kritische Methode stellt insofern nicht den hermeneutisdlen Gesamtvollzug dar, als sie sowohl auf die Klärung ihres Selbstverständnisses als auch auf die Entfaltung des von ihr berührten Sachverständnisses angewiesen ist, also auf eine hermeneutische Radikalisierung, die unterschieden, aber nicht zu trennen ist von dem, was man im technischen Sinne als historisch-kritische Methode anzusprechen pflegt. Trotzdem bleibt zu fragen, ob nicht gegebenenfalls die historisch-kritische Methode in bezug auf die Schrift vor eine Sachlage
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stellt, die das "sola scriptura" sprengt. Damit hängt aufs engste die andere Frage zusammen, wie die historism-kritische Schriftauslegung gesamthermeneutisch im Horizont der Theologie zu verantworten ist. So mannigfam die Probleme sind, die durch die veränderte Verstehenssituation, wie sie vom historischen Denken der Neuzeit bestimmt ist, der Schrift gegenüber aufbrachen, konzentrieren sie sich doch, was das "sola scriptura" betrifft, vor allem in der Frage der Einheit der Heiligen Schrift. Denn an der Einheit der Schrift hängt es, ob ihre Geltung als Kanon sinnvoll ist und obdessenHandhabungvonihmselbstherso eindeutig ist, daß das "sola scriptura" im reformatorischen Sinne vertretbar ist. Die Frage der Einheit der Schrift fällt darum zusammen mit der Frage nam der erleuchtenden Macht ihrer Sache. Nun besteht jedoch gerade das Wesen historisch-kritischer Methode im Aufspüren von Differenzen, um den bloßen Schein von Einheit und Klarheit zu zerstören. Und zwar geht es darin, summarisch formuliert, um Beachtung von Zeitdifferenz (eben darum "historisch-kritisch"), sei es zwischen einst und jetzt, zwischen der Zeit des überlieferten Textes und der Zeit des heutigen Lesers, sei es zwischen verschiedenen Zeitschichten der Vergangenheit, oder handele es sich auch um Differenzen in der Gleichzeitigkeit, die insofern Zeitdifferenzen sind, als es um die Strittigkeil der Zeit selbst geht. Diese verschiedenen Weisen von Zeitdifferenz, um deren Herausarbeitung historisch-kritische Metho-
de bemüht ist, stellen sich dar als Sprachdifferenz sowie- in diffizilem Verhältnis dazu - als Sachdifferenz. Obwohl der biblische Kanon von sich aus bis zu einem gewissen Grade sehr wohl die eigene historische Tiefenschichtung und, damit verbunden, sprachliche Verschiedenheiten und sachliche Spannungen erkennen läßt und jeder Leser auch in irgendeiner Weise durch sprachliche und sachlime Verstehensschwierigkeiten sich vor das Problem seiner eigenen Zeitdistanz zum Text gestellt sieht, so daß es sim also um Sachverhalte handelt, die schon immer irgendwie im Umgang mit der Heiligen Schrift eine Rolle spielten, hat doch erst die historisch-kritisme Methode der Neuzeit die Sachverhalte in einer Schärfe sehen lassen, daß die früheren I Weisen, sich mit gewissen Problemen dieser Art abzufinden, als völlig unzureichend versagten. Daß die Geschichte historisch-kritischer Schriftforschung selbst in vielfacher Hinsicht Irrwege und Versagen aufweist, gibt kein Remt, daraus auf billige Weise apologetisches Kapital zu schlagen und sich der Problematik als solcher zu entziehen. Trotz der Widersprüchlimkeit wissenschaftlicher "Ergebnisse" und dem unaufhörlichen Wechsel im Stande der Forschung haben sich doch gewisse Grunderkenntnisse kritischer Bibelwissenschaft als außer Diskussion stehend durchgesetzt. Und dazu gehört auch der wissenschaftliche consensus über
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die unvermeidbare vorläufige oder vermutlich andauernde Umstrittenheit vieler Fragen. Statt auf Einzelheiten sei auf den Aufsatz von Ernst Käsemann verwiesen: Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche ?105 Auf Grund einer Charakterisierung der Mannigfaltigkeit und z. T. Gegensätzlichkeit in den verschiedenen Ausprägungen des urchristlichen Kerygmas, stellt Käsemann fest: "Die Zeit, in der man die Schrift als ganze dem Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaubwürdig zu machen. Der neutestamentliche Kanon steht nicht zwischen Judentum und Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Judentum so auch dem Frühkatholizismus Raum." Und daraus zieht er für das Kanonsproblem die Folgerung: "Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen." Bereits in der Urchristenheit war eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander vorhanden. "Daß die gegenwärtigen Konfessionen sich sämtlich auf den neutestamentlichen Kanon berufen, ist von da aus begreiflich. Der Exeget kann ihnen grundsätzlich weder das methodische noch das sachlich fundierte Recht dazu bestreiten. Er muß es ihnen im Gegenteil grundsätzlich bestätigen. " 106 Diese provozierenden - m. E. übrigens nicht unanfechtbaren, jedenfalls mißverständlichen - Schlußfolgerungen, die jetzt nicht im einzelnen diskutiert werden können107, sind gegen das auch im Protestantismus weithin herrschende gesetzliche Kanonsverständnis gerichtet, das die Einheit der Schrift als die Einheit eines dogmatischen Lehrganzen vorstellt, aber nur durchzuhalten ist, wenn man entweder, wie es die katholische Kirche tut, sich auf die hermeneutische Funktion der Tradition zurückzieht oder zumindest mit dem Anschein von Willkür einen Kanon I im Kanon dekretiert in Gestalt eines bestimmten Schriftenkomplexes oder einer bestimmten Lehre als kritischen Maßstabs. Der Anschein, daß die zweite Möglichkeit die von der Refomation gewählte sei, trifft jedoch nicht zu, da eben schon die Voraussetzung, nämlich das gesetzliche Kanonsverständnis, hier nicht gegeben ist. Und deswegen wird durch Käsemanns These m. E. durchaus nicht das recht verstandene reformatorische KanonsverEvTh 11, 1951/52, 13-21. Abgedr. in: E. Kiisernann, Exegetische Versuche und Desinnungen I, 1960,214--223. 101 AaO, 221. 117 S. G. Ebeling, Das Neue Testament und die Vielzahl der Konfessionen, in: Wort Gottes und Tradition, 19661, 144 ff. 105
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ständnis kritism getroffen. Denn danambesteht die Einheit, weil die eigentliche Same, der Schrift nicht in einem dogmatischen Lehrgebäude, sondern in dem im Namen Jesu Christi sim vollziehenden, weil auf ihn sich berufenden, auf ihn gründenden Wortgeschehen, welmes Glauben schaffend das Geschehen des rettenden Evangeliums ist. Das Gesmehen dieses Wortes ist zwar auf die überlieferte Bezeugung der Glauben smaffenden Christusverkündigung angewiesen, vollzieht sim aber nicht als bloßes Nachsagen, sondern kraft befreiender Ermämtigung zu eigenem Zeugnis in gegenwärtiger Verantwortung. Die Versmärfung der hermeneutischen Situation in der Neuzeit kann deshalb, wenn man ihr standhält, gerade zu einer schärferen Erfassung des reformatorischen "sola scriptura" anleiten, indem die Frage nach der Einheit der Schrift hingelenkt wird auf das, wozu die Schrift gegenwärtig ermächtigt, und somit die historisch-kritische Arbeit am traditum der Erfüllung der hermeneutischen Aufgabe im verantwortenden Vollzug der traditio ruft 10B.
D. Tradition im Lichte des "sola scriptura" Da die Wahrheit des "sola scriptura" sich erfüllt in verantwortender Oberlieferung des Evangeliums, ergibt sim aus dem Schriftprinzip mit Notwendigkeit eine Lehre von der Tradition109• Ihre Entfaltung stellt eine umfassende Aufgabe dar, in der die Same des christlichen Glaubens selbst in Hinsicht auf die Geschichtlichkeit hermeneutisch bis in die Fragen des Kirchenrechts und der tätigen Weltverantwortung hinein zu bedenken ist. Es muß jetzt dabei sein Bewenden haben, dafür den theologischen Ansatz aufzuzeigen. Die Warnungen, die aus Sprachgebrauch und Denken der Reformation gegen ein Sicheinlassen auf den Traditionsbegriff zu sprechen scheinen, sollen nicht etwa in den Wind geschlagen werden. Die Reformation hat bekanntlich von traditio nur unter negativen theologismen Vorzeichen I geredet in Orientierung an der neutestamentlichen Polemik gegen die jüdische Konzeption "Schrift und Tradition", derzufolge im Neuen Testament selbst das Substantiv "Tradition" vornehmlich kritisch im Sinne von traditiones humanae, antithetisch zu verbum dei, vorkommt110 • Der damals noch recht unentwickelte ka108 Vgl. die Ausführungen über historische und dogmatische Theologie in meinem Buch: Theologie und Verkündigung. HUTh 1, 1962, 10-18. 111 Im folgenden lehne ich mich, gelegentlich auch in wörtlicher Ubemahme, an meinen Artikel: Tradition VII dogmatism, RGG1 VI, 976-984, an, ohne dodl alle dort angerührten Gesimtspunkte aufgreifen zu können. uo Mk 7, 1-13 par; Gal1,4; Kol 2,8.
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tholische Sprachgebrauch von traditio legtees-in Verbindung mit der auch sonst betonten Entsprechung zwischen der neutestamentlichen Kritik am Judentum und der reformatorischen Kritik am Römisch-Katholischen- nahe, den katholischen Traditionsbegriff vom spätjüdischen her zu verstehen: sowohl in Hinsicht auf die Zusätzlic:hkeit gegenüber dem in der Schrift überlieferten als auch in Hinsicht auf den Charakter dieser traditiones als einzelner gesetzlicher tradita. Dagegen konnte sich die ebenfalls im biblischen Sprachgebrauch begegnende positive Verwendung von 1UIQalhMvaL und XQ(.)(IÖO<JL; nic:ht durchsetzen, zumal im herrschenden Sprachgebrauch selbst traditio auf jene derSduift gegenüber zusätzlichen einzelnen Uberlieferungen festgelegt war. Für das reformatorische Denken erwuchs daraus allerdings die Gefahr, das theologische Gewicht des Traditionsproblems überhaupt zu verkennen, obschon dies vom theologischen Sachverständnis der Reformation her keineswegs so sein mußte. Allerdings wurde der negative Akzent verschärft durch den kirchengeschichtlich beispiellosen faktischen Bruch mit einer Fülle von Traditionen, der sich in der Reformation selbst vollzogen hat, obschon die darin wirksame Intention gerade die Wahrung bzw. Wiederherstellung der reinen Tradition war. Indem man jedoch sofort erläuternd hinzufügen muß, daß es sidJ. selbstverständlich nicht um archaisierende Repristination bestimmter urchristlichen Traditionen handelte, werden audJ. vom Sachlichen her die Hemmungen gegenüber einer theologischen Aufwertung des Traditionsbegriffs verständlich. Denn es gilt ständig wachsam zu sein gegenüber der Gefahr, daß das Evangelium verwechselt wird mit oder überlagert wird durch Gesetzestraditionen, daß es als Gesetz oder aber auch als "bloße Tradition" angeeignet und gerade deshalb preisgegeben wird. Will man darum in beremtigter Hervorkehrung von Problemaspekten, die von der Reformation vernachlässigt wurden, der außerordentlichen Verzweigtheil des Traditionsproblems theologism gerecht werden, so muß man, der Intention des reformatorischen "sola scriptura" folgend, mit Schärfe die Frage nam dem eigentlichen traditum tradendum stellen. Was im Blick auf die Sduift in deren historism-kritischem Verständnis als so erschwerend erscheint, nämlim daß uns das eine traditum tradendum nur in der Weise verschiedener Verkündigungs- und Lehrtraditionen gegeben ist, von denen keine einzige einfam als das traditum tradendum ausgegeben werden kann, läßt gerade auf das Entscheidende I amten: Nicht eine fixierte Lehre, nicht ein Gesetz, nimt ein Offenbarungsbuch, vielmehr die Person Jesu selbst als das fleischgewordene Wort Gottes und darum als die Autorisation von Evangelium, von Geschehen vollmächtigen Wortes des Glaubens ist der Inbegriff dessen, was zu überliefern ist,
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und entsprechend der Heilige Geist als Gottes Gegenwart im Glauben schaffenden Wort der Verkündigung. Nur dann kann in der Theologie recht von" Tradition" gesprochen werden, wenn man diesen fundamentalen, zu allem, was man sonst unter Tradition versteht, in scharfem Kontrast stehenden Ausgangspunkt festhält und zur Geltung kommen läßt: Das traditum tradendum im christlieben Verständnis ist nicht Gesetz, sondern Evangelium, darum beschlossen in einem Namen, dessen Bezeugung nicht in der Errichtung einer Sondertradition, sondern in der Ausrichtung der rettenden eschatologischen Botschaft an alle Menschen besteht, die sieb nicht durch Werke realisieren läßt, sondern allein auf Glauben aus ist. Nur bei Beachtung dieses Wesensunterschiedes zwischen der "Uberlieferung" des Evangeliums und allen geschichtlichen Traditionen, die für das Menschsein sowohl hilfreich als auch gefährdend sind und trotz universalen Anspruchs stets auf eine Errid::ttung von Partikularität hinauslaufen, kann man begreifen, warum das Evangelium die Freiheit hat und gibt zum Eingehen in und zum Sicheinlassen auf eine Vielheit von Traditionen, ohne mit einer einzelnen von diesen verwemseit werden zu dürfen. Dieser eigentümliche Sachverhalt, daß sich die traditio jenes einen traditum tradendum nur in der Vielfalt von Traditionen vollzieht und sich um des Missionsauftrages willen als Oberlieferung in alle gesd:llchtlichen überlieferungsräume hinein vollziehen muß und das auch vermag, ist, in der Tiefe bedacht, identisch mit dem Wesen des Evangeliums selbst als der eschatologischen Erfüllung dessen, was in der Geschichte notwendig aussteht. Von diesem Ansatzpunkt her erschließt sich evangelische Freiheit nicht nur von falschem Gebrauch, sondern auch und vor allem zu rechtem Gebrauch von Traditionen. Denn das Evangelium bedient sich mannigfacher Traditionsgestalten: der vielfältigen Weisen von Christuszeugnis und Christusverkündigung, des verbum visibile der Sakramentshandlungen, der kerygmatischen Formeln, der Ordnungen und Dienste der txxÄT)OLa, der autoritativen Texte, der theologischen Auslegungstradition, der diristliehen Sitte, der Ausstrahlungen in die ganze Breite sittlimen, kulturellen und geschichtlichen Lebens. Dod::t vollzieht sich durd::t all diese Traditionsformen nur dann die eigentliche traditio des Heiligen Geistes, wenn sie dienend bezogen sind auf das Wort des Glaubens, durch das Jesus Christus den Menschen überliefert wird und die Menschen Jesus Christus überliefert werden. Die christliche Tradition ist ständig in der Gefahr, zur Gesetzestradition zu werden und die Oberlieferung des Evan!geliums schuldig zu bleiben. Nicht die Wahrung und Weitergabe der Traditionsinhalte und -formen als solcher, sondern nur deren rechter Gebrauch als Weisen und Mittel des Evangeliums wird dem Oberlieferungsge-
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schehen gerecht. Und eben diesem rechten Gebrauch von Traditionen dient das reformatorische "sola scriptura", nimt als gesetzliche Vorschrift von Traditionen, sondern als Quellgrund der einen Überlieferung, welcher Raum zu lassen das Kriterium aller Traditionen ist. Damit ist die Richtung gewiesen, in der vom "sola scriptura" her das Problem der Tradition in die Verzweigung seiner mannigfachen Konkretionen hinein zu erörtern wäre: im Hinblick auf die theologische Relevanz der Kirchengeschimte, auf die Hermeneutik der konfessionellen Auseinandersetzung und des ökumenischen Gespräcl:J.s, auf das Problem der Verkündigungssprache, der kirchlichen Lehre und des Kircl:J.enrechts sowie auf die Mitverantwortung der Christenheit für die Wahrung, Wiederherstellung und Schaffung guter, welterhaltender Traditionen in einer vom Traditionsverlust bedrohten Welt.
Il. Kritische Analyse Zwei Hinweise sind als Einleitung der folgenden Besinnung angebracht: Die wissenschaftliche Arbeit an der Bibel hat im deutschen Protestantismus nie einen wirklichen Ausgleich mit dem Leben der Gemeinde gefunden, obgleich sie in der Zeit des Liberalismus starke Gruppen freundlich oder feindlich beeinflußte und durch allgemein verständliche Schrüten Interesse zu wecken suchte. Das lag entscheidend wohl daran, daß es fast durchweg kirchliche Gemeinschaft über das Konventionelle hinaus nur auf dem vom Pietismus durchpflügten Boden gab und dessen Biblizismus Kritik an der Schrift nicht duldete. Infolgedessen blieben die Vertreter einer historisch-kritischen Exegese mehr oder weniger im akademischen Bereich isolierte Spezialisten, selbst wenn sie von den kulturellen Strömungen ihrer Zeit getragen wurden und sogar vermeintlime Orthodoxie weithin liberal infiziert war. Man vertraute ihnen die Erziehung der Pfarrer und Religionslehrer an, weil Universitätsbildung hödlsten Respekt in der Gesellschaft genoß. Sofern man sich überhaupt Gedanken über die kirchliche Zweckmäßigkeit dieses Weges machte, konnte man begründet hoffen, daß Vermittlungstheologie, Predigerseminare und vor allem die Praxis unliebsame Früchte des Studiums eingrenzen würden. Tatsächlich haben 40 Dienstjahre in der Gemeinde eine den Mensmen wie sein Amt unvergleichbar prägende Kraft, welcher sich nur die Wenigsten entziehen können. Von Außenseitern abgesehen, gleicht man sim allmählich an, und das radikale Ethos der Wissenschaft schwindet, wenn man überhaupt davon berührt worden ist, gewöhnlich mit der Jugend, was man als Reifeprozeß betrachten und rechtfertigen mag. Dann kamen die Jahre, in welchen die dialektische Theologie den Liberalismus auch in den theologischen Fakultäten überrannte und auf Widerstand einzig in konfessionellen Hochburgen und einigen Zentren historischer Kritik stieß. Der Kirchenkampf distanzierte unter der Losung "Bibel und Bekenntnis" die Schar der Getreuen, wenngleich mit recht verschiedenen Motiven, kirchlich und politisch von ihrer Umwelt. Der Bewegungsraum mindestens neutestamentlicher Kritik wurde immer enger und beschränkte sich zuletzt fast ausschließlich auf den Umkreis der Schule Bultmanns. Von dort her erfolgte gegen Ende des Krieges mit dem sogenannten Entmythologisierungsprogramm ein Umschlag, der zunächst recht langsam zur Kenntnis genommen wurde, allmählich jedoch immer weitere Kreise
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zog, die Hermeneutik zum zentralen theologischen Thema machte, Exegeten und Dogmatiker und schärfer als je zuvor kritische Wissenschaft und Gemeindefrömmigkeit voneinander trennte. Die Radikalisierung der Fronten läßt sich nicht verstehen, wenn man diese innerdeutsche Entwicklung nicht vor Augen hat. Noch erstaunlicher ist, daß diese Radikalisierung, von der hermeneutischen Frage getragen, wie ein Buschfeuer um sich griff und heute selbst die Okumene beunruhigt. Zwei Faktoren haben hauptsächlich dazu beigetragen. Die theologischen Seminare Amerikas, noch vor kurzem zumeist rein kirchliche Ausbildungsstätten, gewinnen immer stärkere Selbständigkeit gegenüber ihren Denominationen und öffnen sich dabei begreiflicherweise gerade den radikalen Fragestellungen Europas, was umgekehrt dorthin zurückwirkt. Zweitens hat die römisch-katholische Exegese besonders in Deutschland, aber rasch von dort aus weiterwirkend, in wenigen Jahrzehnten den Anschluß an den protestantischen Forschungsstand gewonnen, auch wenn sie im allgemeinen eine gemäßigte Linie innehält. Doch ist man jetzt mit der historischen Problematik und selbst ihren radikalen Fragen vertraut und kann sich auf die Dauer nicht länger von der traditionellen Systematik leiten lassen, zumal man den günstigen Wind einer kirchlichen Erneuerungsbewegung im Rücken hat. Bedenkt man endlich, daß wir alle in einem weltweiten Umbruch stehen, ist klar, daß Unruhe die Signatur heutiger Theologie sein muß und extreme Experimente nicht zu vermeiden sind. Der Umgang mit der Bibel wird davon notwendig mitbetroffen. Wie heftig sich überall Gemeindefrömmigkeit dagegen noch zur Wehr setzt, auch sie kann den Einbruch wissenschaftlicher Einsichten und historischer Forschung in ihre Bereiche nicht mehr verhindern. Sie verlangt sogar in zunehmendem Maße nach Information, welche ihren allzu lang verdeckten Nachholbedarf an Aufklänmg über die Vorgänge in der Theologie befriedigt. Zum ersten Male seit Jahrhunderten erfolgt eine echte, obschon spannungsgeladene Konfrontation zwischen ihr und moderner Exegese. Das legt allen Beteiligten eine ungewöhnliche Verantwortung auf, gibt allen aber auch eine ungewöhnliche Chance, sich gegenseitig besser zu verstehen und miteinander zu wachsen. Man hat das offensichtlich begriffen, wenn die reformierte Kirche Hollands ein Handbuch herausgibt, das, ins Deutsche übersetzt, den Titel trägt: "Rechenschaft über Geschichte, Geheimnis und Autorität der Bibel" 1• Der Versuch, die sich noch zum Gottesdienst haltende Gemeinde mit der biblischen Forschung bekannt zu machen, ist nicht völlig von früher herrschender Erbaulichkeit frei, 1 Ndl. "Klare wijn", erschienen 1967. Im Auftrag der Evangel. Jugend Deutschlands übers. und hrsg. von G. Blaurock und fi.-U. Kirchhoff, 1968.
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aber im ganzen doch ein gelungenes Beispiel des heute Möglichen und Erforderlichen. Auf der anderen Seite wurden die Neutestamentler schon durch die dialektische Theologie und die etwa gleichzeitige Blüte kirchengeschichtlicher Forschung zur Reformation gezwungen, ihre Arbeit mit einer grundsätzlichen Reflexion über die systematische Bedeutung ihrer Methoden und Ergebnisse zu verbinden, und das gilt angesichts der soeben anvisierten Lage noch stärker. Mit Recht kann G. Gloege deshalb am Ende seines Oberblicks (S. 38)1 feststellen: "Für die gegenwärtige Bibelwissenschaft ist damit die theologische Fragestellung in den Vordergrund gerückt." Noch präziser: "Historische und theologische Problematik beginnen, sich wechselseitig zu befruchten" (S. 39). Einen geistesgeschichtlichen Rückblick auf das Bibelverständnis, begrenzt durch die Zeit seit Orthodoxie und Aufklärung im deutschen Protestantismus, bietet auch H. Strathmann. Er tut es sehr viel anschaulicher, allerdings in unverkennbar parteüscher Antithese. Schon der erste Satz zeigt, daß sein Aufsatz als Fanal gedacht war: "Eine schleichende Krankheit der evangelischen Theologie und damit der evangelischen Kirche ist die Unklarheit ihres Verhältnisses zu den Urkunden ihres Ursprungs, also zum Bibelkanon, genauer dessen UDgeschichtliches, nämlich intellektualistisch-juridisches Mißverständnis und seine Auswirkungen" (S. 41). Er irrt, wenn er das unter den Titel setzt: "Die Krisis des Kanons der Kirche". Denn Krisen haben die Christenheit seit der Kanonbildung und die Schriftauslegung seit der Interpretation des Alten Testaments durch Jesus unaufhörlich begleitet. Strathmann signalisiert nur den Beginn einerneuen Runde im alten Streit. Seine Begründung des von ihm als notwendig empfundenen Warnrufs faßt zudem eine Entwicklung ins Auge, welche 1941 im wesentlichen abgeschlossen war, zum mindesten nicht mehr als ungebrochen gelten konnte. Immerhin spürte er, was in der Luft lag, und gab einen Anstoß, dem R. Bultmanns gleichzeitig erschienener Aufsatz "Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung" 3 zu seinem Recht und weltweitem Widerhall verhalf. Das Problem des Kanons ist seitdem akut. Strathmanns Darstellung geht davon aus, daß das dialektische Verständnis der christologisch begründeten und begrenzten Schriftautorität in der Reformation von protestantischer Orthodoxie intellektua1 Seitenzahlen innerhalb des Textes verweisen auf die vorliegende Dokumentation. 1 Zuerst erschienen in den Beiträgen zur Evangelischen Theologie 7, hrsg. von E. Wolf, 1941, S. 27-69; wieder abgedruckt in: Kerygma und Mythos I, hng. von H. W. Bartsch, 1948, S. 15-53.
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listisch-juridisch durch das Postulat einer unbedingt zuverlässigen äußeren Autorität abgelöst wurde, das man vonder Lehre der Verbalinspiration her und unter Berufung auf die innere Erfahrung der Gläubigen mit der Schrift zu unterbauen suchte (S. 41-44). Die Aufklärung zersetzte mit ihrer dogmatischen, historischen und religiösen Kritik, die besonders liebevoll wiedergegeben wird, diese Betrachtungsweise mit noch heute weithin zwingenden Argumenten, und ihre historische Kritik verschärft sich in Idealismus und Liberalismus. Doch kann man sich von den Prämissen des Gegners nicht lösen. Die Struktur des Denkens ist das negative Spiegelbild des doktrinär-jwidischen Vorbildes, so daß man dem Dilemma von historischer Wissenschaft und dogmatischem Glauben intellektualistisch verhaftet bleibt (S. 45 bis 59). Ungewöhnlich scharf wird das Recht der historischen Kritik verteidigt und deren mangelhafte Kenntnis in den Gemeinden beklagt: "Keine Behandlung der biblischen Schriften hat heute noch irgendwelche Glaubwürdigkeit, welche der geschichtlichen Wirklichkeit dieser Bücher nicht in voller Aufgeschlossenheit und Ehrlichkeit Rechnung trägt. Die Wirklichkeit ist stärker als alle apologetische Künstelei" (S. 59). Es wäre nützlich, wenn die heutige deutsche "Bekenntnisbewegung" sich daran erinnern würde, daß ein Freund A. Schlatters und ein sehr konservativer Exeget diese Sätze schrieb. Leider ist die verwandte Begrifflichkeil reichlich unscharf: "Juridisch-doktrinär" erscheint, zumalesumgedreht werden kann, fast als Tautologie. Daß historische Kritik seit der Aufklärung dem Jwidischen wenigstens negativ Vorschub geleistet hat, läßt sich kaum behaupten. Daß sie durchweg oder hauptsächlich doktrinär gewesen wäre, wurde weithin durch die tiefgreifende Aporie gegenüber der historischen Problematik und die positivistische Beschäftigung mit dem Detail verhindert. Selbst das Schema des Intellektualismus wird den Bahnbrechern der radikalen Kritik schlechterdings nicht gerecht. Diese terminologischen Mißgriffe wurzeln im Ressentiment, dem sich als solchem auch nicht die Frage stellt, inwiefern 'die Reformation Autorität der Schrift ohne "Doktrin" christologisch begründen und begrenzen konnte, die Orthodoxie also nicht ohne Anhalt bei ihren Vätern war. Diffus ist ebenfalls die Antithese: "nicht historisch-dogmatisch", sondern "geschichtlich-religiös" (S. 59), die jedoch Strathmanns eigene Position sichtbar werden läßt. Faktisch wird bei ihm die Kanonfrage auf die Behauptung und Forderung einer "Lebensbeziehung der Kirche und ihrer Glieder zum Neuen Testament" reduziert, das die "Urzeugnisse der glaubensvollen Verkündigung" enthält (S. 59, 60). Unscharf bleibt schließlich der Gegensatz in der Aussage: "Der biblische Wahrheitsbegriff ist nicht dokrinär-juridisch, sondern personhaft" (S. 61). Sie setzt voraus: "Das Zentrum dieser 22•
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Zeugnisse bildet die Gestalt Christi- und sonst nichts-, deren erlösende, lebenspendende Macht die Zeugen als erlebte Wirklichkeit bekunden . . . Diese religiöse Lebensbeziehung erneuert sich . . . von Geschlecht zu Geschlecht" (S. 60). Hier häufen sich die Fragen: Wie kann ein Wahrheitsbegriff personhaft sein? Inwiefern soll nicht Bindung an eine Person zur "Doktrin" führen und sich dogmatisch niederschlagen, wie es im Christentum doch stets geschehen ist, selbst wenn man die Wahrheit auf die Nachfolge Jesu beschränkte? Gibt es religiöse Bindung an die Gestalt Christi nicht auch außerhalb der Kirche? Schließen "Lebensbeziehungen" den Aberglauben aus? Ist ihre Erneuerung von Geschlecht zu Geschlecht uns nicht inzwischen in Europa recht fragwürdig geworden? Was besagt endlich die Rede von der "Gestalt" Christi präzis für den Glauben? Strathmann vertritt jene Haltung, die nach Gloege (S. 31) für den anfänglichen Pietismus kennzeichnend ist: "Von spiritualistischen Motiven gespeist, hält er gegenüber dem Wiederaufkommen des dok.rinären Biblizismus die Erinnerung daran wach, daß der Ruf der Bibel das Leben des Menschen und der Gemeinschaft angeht." Doch ist man allzu optimistisch, wenn man die Freiheit der historischen Forschung gleichzeitig proklamiert. Denn dann wird nicht gesehen, wie sehr mindestens deren radikale Form- und echte Wissenschaft wird des Fragens nie müde, deshalb immer radikal sein I - auch die persönlichen Lebensbeziehungen gefährdet. Die Gültigkeit des Kanons ist hier letztlich an die Erfahrungen glaubender Individuen gebunden. Damit wird jedoch ein Bogen zum theologismen Antipoden E. Troeltsch geschlagen, der ebenfalls "die Persönlid:Ikeit und Verkündigung Jesu" als "die eigentlich klassische Quelle der christlimen Glaubensgedanken" bezeichnete und die "Darbietung eines religiös-sittlichen Personlebens" gegen im dogmatischen Sinne unanfechtbare Lehrsätze ausspielte'. In einer Vorlesungsnachschrift wird das verdeutlicht: "Eine Theorie über die Bibel aufzustellen, ist nicht nötig. Die Hauptsache ist, daß die Bibel eben da ist und daß wir sie richtig lesen lernen, nämlich ohne kritische und dogmatische Sorgen, ohne beständige wissenschaftliche Einfälle, einfach als religiöser Mensch. Sogar die Theologen müssen unbedingt dazu gelangen. Wer das Leben will aus dem Buch des Lebens, muß die Stellen finden, die gerade an die eigene Seele pochen. Das bloße Steineklopfen gehört dann denen, die dazu berufen sind. " 5 Die Exegeten werden über die ihnen hier verordnete Aufgabe nicht glücklich, die Dogmatiker mit der Lösung des Problems nicht zufrieden sein. Immerhin sieht man, daß rechts und links auch in der Theo• Glaubenslehre, hrsg. von G. von le Fort, 1925, S. 20 f. II Ebd. s. 27.
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logie verfließen können, Rationalismus und Pietismus Geschwister sind. Man beklagt die Krise des Kanons und gewahrt nicht, daß man selber zu seiner Aushöhlung beiträgt, indem man aus ihm das historische Dokument religiösen Erlebens und persönlicher Glaubenserfahrungen macht. fV. G. Kümmels Aufsatz ist geradezu erregend, wenn man sich klarmacht, daß hier ein Historiker strengster Prägung bewußt dogmatische Fragen angreift und das für notwendig erklärt, weil der Exeget sich Rechenschaft über den Horizont seiner Arbeit geben muß und das Verhältnis zum Kanon nicht individueller Willkür überlassen darf. Erregend ist nicht weniger aber auch die Unerbittlichkeit, mit welcher die dogmatische Frage in methodischer Konsequenz im Felde historischer Kenntnis festgehalten wird. Nicht die religiöse Lebensbeziehung ermöglicht die Freiheit der Forschung. Diese ist vielmehr Ausgangspunkt und Leitfaden auf dem Wege zur theologischen Antwort, welche sich darum immer wieder vor der historischen Kritik zu rechtfertigen hat. Es wäre unendlich viel gewonnen, wenn Theologen und Gemeinde sich derart furchtlos zwischen Szylla und Charybdis wagten und diesen Stand als uns heute geboten nicht mit Postulaten oder professioneller Betriebsamkeit im wissenschaftlichen Kleinkrieg überspielten. Die Identität des Historikers mit dem Theologen darf weder in ihrer Spannung bagatellisiert noch als Uberforderung preisgegeben werden, wenn die moderne Krise kirchlich fruchtbar werden soll. Wir sind zu einer Grundentscheidung aufgefordert, wenn gesagt wird: "Es gibt keine andere lVIöglichkeit, über Bedeutung und Umfang des neutestamentlichen Kanons für die Kirche von heute Klarheit zu gewinnen als auf dem Wege über die geschichtliche Frage nach dem Werden dieser Schriftensammlung" (S. 63). Es ist nicht nötig, Kümmels Darstellung dieses Prozesses im einzelnen zu verfolgen, so informierend sie zumal für den damit nicht Vertrauten sein mag. Die protestantische Forschung ist sich hier, von bestimmten Einzelproblemen abgesehen, im allgemeinen einig. Es kommt vielmehr darauf an, die gesetzten Akzente deutlich zu erkennen. Die wichtigste Aussage lautet, "daß alle christliche Verkündigung ihre Begründung und Ermächtigung allein durch das einmalige Handeln Gottes in Jesus Christus und den Aposteln erhält"; der Theologie ist darum die Frage brennend, "wo dieses einmalige Heilshandeln Gottes uns in unverfälschter Form faßbar sei" (S. 64). Das Abbrechen der mündlichen Tradition zwang dazu, die für die Kirche unentbehrliche Norm des Kyrios und der Apostel nur noch in den Schriften aus der Apostelzeit zu suchen, so daß sich der Kanon zunächst "völlig unreflektiert aus den Bedürfnissen des kirchlichen Le-
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bens entwickelt hat" (S. 69). Wenn Mareion den ersten geschlossenen Kanon aufstellte, so hat er diesen Prozeß beschleunigt, aber nicht inauguriert (S. 72). Hat die abgeschlossene Form als bewußte Smöpfung der sich am Kriterium vermeintlimer "Apostolizität" orientierenden Kirche zu gelten (S. 73, 78), so ist umgekehrt die Entstehung des neuen Kanons "Teil der Formwerdung der Kirche und nicht bewußte Schöpfung" (S. 79). Den Eckpfeiler dieser Argumentation bildet die Feststellung der "Unwiederholbarkeit . . . der christlichen Urgeschichte". Sie wird auch durch den Geist nicht aufgehoben, sofern dieser nicht neue Offenbarung schafft, sondern "nur die immer neue lebendige Begegnung mit der geschichtlichen Offenbarung" ermöglicht (S. 85). Von hier aus muß sich eine Dialektik entfalten, welche einerseits die grundsätzliche Notwendigkeit des Kanons und seiner Begrenztheit sowie das relative Recht seines schließliehen Umfangs anerkennt, andererseits jedoch den geschichtlim-kontingenten Imponderabilien und der darin beruhenden Problematik des Kanons sim nicht verschließt. Ist der christliche Glaube auf das einmalige Gotteshandeln angewiesen, so muß das Unwiederholbare der Urgeschichte zunächst mündlich, dann schriftlich in Berichten weitergegeben werden, die, weil sie von einem Heilshandeln sprechen, nicht bloß geschichtliche Mitteilung, "sondern zeugnishafte Aussage über ein geschichtliches Faktum" sind (S. 80). Sofern das Heilshandeln an die "Urgesmidtte" gebunden bleibt, ist das "ursprüngliche Zeugnis", durch Amt und Funktion der Apostel gekennzeichnet, konstitutiv, also durch spätere kirchliche Tradition nicht zu ersetzen oder zu ergänzen (S. 81). Das konstitutive Zeugnis muß schriftlich fixiert werden, wenn seine mündliche Oberlieferung nicht mehr gesichert ist, und bedarf der Abgrenzung, sofern es überwuchert zu werden droht. Der Umfang unseres Kanons kann relativ geremtfertigt werden, weil Schriften nach dem ersten Viertel des 2. Jahrhunderts kaum mehr als ursprüngliche Zeugnisse gelten dürfen (S. 90). Selbst seine Vielfältigkeit und die sich darin äußernde Entwicklung sind positiv zu werten, weil "nur eine Sammlung der verschiedenartigen Zeugnisse, d. h. der Kanon, uns in ausreichender Weise mit dem urchristlichen Kerygma der Apostelzeit in Verbindung" bringt (S. 93). Freilich sind all diese Feststellungen mit schweren Hypotheken belastet. Chronologische Argumente sind in unserm Zusammenhang nur negativ anwendbar und gewähren auch dann keine Sicherheit (S. 91). Die Irrtumsfähigkeit und das Unverständnis der Menschen müssen berücksichtigt werden und wehren der Meinung, in den ältesten Dokumenten sei das Christuszeugnis unverfälscht erhalten (S. 93). Urchristliches Gut mag neu entdeckt werden. Das wäre dann,
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allerdings mit allgemeiner kirchlimer Zustimmung, in den Kanon aufzunehmen, wie unter der gleimen Bedingung ein simer nimt mehr ursprünglim zu nennendes Scllriftstück ausgeschlossen werden könnte (S. 91). Vor allem ist Apostolizität als Kriterium des Kanonismen, wie die Alte Kirme es verwandte, problematism, weil derbegrenzte Apostelbegriff uns" durmaus nimt streng faßbar ist" (S. 88), ~:apostolism" heute nur noch die ersten Zeugen bezeichnen kann. Das alles nötigt zu der Konsequenz, daß die Grenze des neutestamentlimen Kanons zwar historisch geschlossen ist, sachlim aber immer wieder von neuem zu bestimmen bleibt und sogar mitten durcll den Kanon läuft (S. 96 f.) 6 • Den "normativen Kanon" gewinnen wir im "inneren Vergleim", der keineswegs rein subjektiv, aber auch nicht rein historisch arbeitet (S. 94 f.). Er beurteilt den Text nam der Eindeutigkeit, mit der er auf die geschichtlime Christusoffenbarung hinweist, insbesondere die Botschaft und Gestalt Jesu nam der ältesten synoptischen Form, das älteste Kerygma der Urgemeinde und dessen erste theologische Reflexion bei Paulus spiegelt (S. 94). Umgekehrt ist "die zentrale Christusverkündigung des Neuen Testamentes in ihren verschiedenen Formen wirklich als Norm zu begreifen" (S. 97) und so auch dem uns überlieferten Kanon dogmatismes Gewicht nicht abzusprechen. Für geschichtlich gesmultes Denken ist die Konzeption Kümmels cinleumtend und ihre Logik zwingend. Der Historiker verleugnet sich nicht, wenn er zum Theologen wird. Das ist seine Stärke. Verursacht das aber nicht zugleich seine Schwäche? Darf sim der Theologe mit dem zufrieden geben, was ihm der Historiker anbietet und zumutet? Gilt nicht für ihn genau so wie für den Historiker und vielleicht noch mehr, daß Gott und der Teufel sich im konkreten Detail verstecken? Gerade das muß nun verdeutlicht werden. Kümmel hat deutlich gesagt, was er unter "apostolisch" verstanden wissen will, weil er der Problematik dieses Begriffes sich bewußt ist. Warum firmiert er jedoch den anvisierten historischen Samverhalt mit einem dogmatism außerordentlich befrachteten und strapazierten Prädikat, wenn er die Fortführung der Diskussion des 3. und 4. Jahrhunderts gerade in diesem Zeichen für unmöglich erklärt (S. 89)? Die ersten Zeugen waren offensichtlich nicht alle Apostel, sondern zum großen Teil uns anonym gewordene Jünger. Bei den "Apostel" genannten Missionaren der Urchristenheit ist umgekehrt keineswegs sicher, daß sie durchweg erste Zeugen waren. Es gibt im Neuen Testament zweifellos auch apostoSo ist Kümmel in seinem Aufsatz "Mitte des Neuen Testaments" (in: L'Evangile, hier et aujourd'hui. M~langes offerts au F. J. Leenhardt, 1968, S. 71-85) eindringlich dafür eingetreten, daß man einen "Kanon im Kanon" zu erkennen und anzulegen habe. 1
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lische Tradition im Sinne einer Überlieferung aus dem Kreise der den irdischen Jesus begleitenden Jünger. Doch wird radikale Kritik sie auf ein Minimum beschränken. Die ältesten christlichen Bekenntnisse dürften mit wenigen Ausnahmen in die hellenistische Gemeinde und deren Enthusiasmus weisen, also kaum "apostolisch" zu nennen sein. Kein neutestamentliches Schriftstück läßt sich, von den Paulusb.riefen abgesehen, auf einen Apostel oder mit einiger Wahrscheinlichkeit, von den Deuteropaulinen abgesehen, auf direkte Apostelschüler zurückführen. Darf der Historiker unter diesen Umständen von Apostolizität sprechen, wenn damit im allgemeinen nur die Vertreter der dritten Generation und die von ihnen aufgegriffene, bereits erheblichen Abwandlungen unterworfene Tradition gemeint sein können? Verbirgt sich dahinter nicht doch die Anschauung, daß die neutestamentliche Überlieferung weithin authentisch sei und Garantien biete, wie Historiker und Theologen sich es wünschen? Stärkeren Anstoß empfinde ich noch durch die Behauptung, im wesentlichen hätten kirchliche Bedürfnisse den Kanon des 2. Jahrhunderts gestaltet. Die Bedürfnisse selbst des Christen, sofern ihm der alte Adam anhaftet, richten sich mindestens so sehr auf den Aberglauben wie auf den Glauben, und das Neue Testament dokumentiert das nicht ganz selten. Diese Bedürfnisse haben doch auch die phantastischen Erinnerungen des Papias und die Apokryphen produziert, Paulus und Johannes von den Gnostikern ausbeuten lassen, die Legenden und Mythologeme des Neuen Testamentes, die Fortbildung jüdischer Apokalyptik veranlaßt und Lukas dazu getrieben, Erbauungsschriftsteller mit historischen Ambitionen zu werden. Sollte die Feststellung geschichtlich zutreffen, kann sie den Theologen nur höchst bedenklich stimmen. Umgekehrt ist nicht einzusehen, daß die Entstehung des frühen Kanons "völlig unreflektiert" vor sich ging. Reflexion liegt doch schon vor, wenn die späteren Evangelisten Markus korrigieren, Johannes rücksichtslos mit der von ihm vorgefundenen Tradition umspringt, Paulus gegen Judaismus und Enthusiasmus polemisiert, die Pastoralen und andere urchristliche Paränese sich um eine feste Gemeindeordnung bemühen, von vielem andern zu schweigen. Kann man Reflexion den Einzelnen zubilligen, der Rezeption in ersten Sammlungen aber aberkennen? Würde das nicht bedeuten, daß von Anfang an der Aspekt rechter Lehre keine oder bloß untergeordnete Bedeutung gehabt hätte? Daß der frühe Kanon "Teil der Formwerdung der Kirche" war, soll nicht bestritten werden. Müßte das jedoch nicht sehr dialektisch dagegen abgesichert sein, aus dem Evangelium in seinem Gegenüber zur Gemeinde erste kirchliche Tradition zu machen? Müßte nicht auch sehr viel vorsichtiger davon die Rede sein, daß der Geist nicht neue Offenbarung schafft? Wird
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dem entgegengestellt, daß er "nur" Begegnung mit der geschichtlichen Offenbarung ermögliche, sollte das Verb zum mindesten "verwirklichen" heißen. Erst recht stört mich das eingrenzende "nur", das einzig bei historischer Betrachtungsweise sinnvoll ist. Sicher wird man nicht als Evangelium bezeichnen, was der Jesusbotschaft zuwiderläuft, und die Erinnerung daran als spezifisches Werk des Geistes ansehen. Doch hat diese Erinnerung in verschiedenen Situationen und Zeiten aus der Antithese zur Umwelt ein verschiedenes Gepräge, und sie erfolgt immer wieder im Widerspruch zur früheren Tradition und herrschenden Gemeindefrömmigkeit. Offenbarung läßt sich nicht konservieren und auf einen Zeitraum einschränken. Genau das scheint Kümmel jedocll anzunehmen, wenn er das "einmalig" ausschließlich historiscll versteht und nicht hevorhebt, daß sich neutestamentlich damit das Motiv des eschatologischen "ein für alle Male" verbindet, das die Zeiten umspannt und Gegenwart Christi allen Generationen nicht nur in historischer Begegnung verheißt. Daß nach reformatorischer Sicllt, die neutestamentlich und bibliscll gut begründet ist, das jeweils ergehende Wort der Predigt des Evangeliums Offenbarungscharakter besitzt, kommt offensichtlich zu kurz. Was als Ereignis der Sendung und des Geschickes Jesu tatsächlich unwiederholbar ist, wird paradoxerweise in Verkündigung und Sakrament gleichwohl "wiederholt". Verhält es sicll jedoch so, mag die Chronologie für den Historiker wichtig und für den Theologen nicht ganz irrelevant sein, insofern das "Ursprüngliche" wahrsclleinlich dem "Echten" näherkommt. Das Gewicht der Argumentation darf sich darauf aber nicht verlagern, und eine grundsätzliche Scheidung von der späteren kirchlichen Tradition ist von da aus mindestens theologisch unberechtigt. Der entscheidend aus historiscllen Gründen abgegrenzte Kanon hat auch in seiner negativen Funktion kein wirklich dogmatisches Wesen. Er müßte sachlich offen sein, und die Alte Kirche hat darum nicht ganz von ungefähr das Sachkriterium des Apostolischen ins Spiel gebracht, in welchem es zugleich um das Ursprüngliche und das Echte ging. Das führt zum letzten Diskussionspunkt. Es bleibt doch Chiffre und Schemen, wenn vom einmaligen Heilshandeln gesprochen wird, selbst wenn das inhaltlicll durch die Beziehung auf Gestalt und Botschaft Jesu konkretisiert ist7. Verdeckt man so nicht den erbitterten Streit um das, was über Jesus und seine Botschaft ausgemacht werden kann, also etwa das Problem des sogenannten Selbstbewußtseins, der ~Am weitesten geht die Charakteristik in "Mitte des NT", S. 84; "das Wesen dieses gegenwärtigen und endzeitliehen Heilsgeschehens" sei darin zu erblikken, "daß Gott in Jesus Christus sich zum Menschentrotz dessen Sünde herabgelassen und ihm seine rettende Liebe angeboten hat, die ihre Vollendung im Kreuz und in der Auferstehung Jesu findet".
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Haltung zu Gesetz und Eschatologie, den wirklichen Hergang der Passion und der Osterereignisse? Das setzt sich fort, wenn das erste Zeugnis an dieses Heilshandeln geknüpft wird. Die Divergenz der Synoptiker, die Eigenart des 4. Evangeliums und der paulinischen Lehre, ihr Verhältnis zu Apokalyptik und Frühkatholizismus, die historisierenden Tendenzen des Lukas und all das, was sonst an Spannungen und an Fragwürdigkeit dem Historiker sichtbar wird, darf doch nicht vom Theologen harmonisiert werden. Die Mannigfaltigkeit eröffnet nicht nur ausreichenden Spielraum, um das Ursprüngliche zu suchen, sie verdeckt es auch bis an die Grenzen der Unkenntlichkeit und kann darum nur graduell von der späteren kirchlichen Tradition geschieden werden. Der Dogmengeschichtlicher vermag das Neue Testament nicht aus seiner Arbeit grundsätzlich auszugrenzen. Deshalb wird es notwendig, einen inneren Vergleich anzustellen und die Grenzen des Kanons durch diesen selbst laufen zu lassen. Der Glaube kann aber nicht von Chiffren leben. Er muß präzis wissen, was sim unter dem Stichwort Jesus Christus, göttliches Heilshandeln verbirgt. Sonst gerät er bestenfalls in ein magnetisches Feld, aber nimt zum Pol, in Wahrscheinlichkeiten statt in die Wahrheit. Kümmel setzt mit einem Salto ein, den er als Historiker nicht zu begründen und nicht einmal hinreichend zu erläutern vermag, ehe er dann historische Notwendigkeiten und Zweckmäßigkeilen herausstellt, ohne die dem Historiker überall vertraute Kontingenz im geschichtlichen Geschehen zu leugnen. Die methodische Konsequenz und sachliche Nüchternheit seiner Kritik lassen nur zu leimt eine gewisse Naivität im dogmatischen Ansatz vergessen. Es ist ihm nicht gelungen, zwischen Szylla und Charybdis hindurchzulavieren, obwohl er sich das vorgenommen hatte. Auf eine Formel gebracht: Heilsgeschichtliche Betrachtungsweise bietet das Sprungbrett für den Historiker, theologische Fragen aufzuwerfen und zu beantworten, die dem geschichtlichen Befund besser entsprechen, als sie dogmatischer Klarheit zu dienen vermögen. Dieser Vorgang hat exemplarische Bedeutung. Er begegnet überall im ökumenischen Bereich mit der größten Selbstverständlichkeit, wie der Rechenschaftsbericht der holländischen Kirche als besonders interessantes Dokument beweist. Die Redlichkeit seiner Absichten, der Mut, heute Erforderliches zu tun, die weithin gelungene Darstellung sind so wenig zu verkennen wie die Schwierigkeiten eines Gemeinschaftswerkes, das sich zudem noch an eine strenggläubige Gemeinde wendet. Es wäre angesichts all dessen unangemessen, jedes Detail unter die Lupe zu nehmen und Beckmesserei zu treiben. Gleichwohl gilt, daß im heutigen Protestantismus ein solcher Versuch nur im Zei-
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dt.en einer heilsgeschichtlichen Theologie unternommen werden und gelingen konnte. Der Gemeinde wird mit radikaler Kritik zugleim die radikale theologische Problematik erspart. Es fehlen nicht ausgesprochen evangelische Töne wie "eine Theologie des Wortes" 8, Rechtfertigung allein aus Glauben als die ganze Struktur der biblischen Botschaft'. Es fehlen nicht ausgesprochen kritische Bemerkungen gegen den Fundamentalismus10 oder den Idealismus, wenn er allgemeine Wahrheiten gegen die konkrete Wahrheit der Bibel setzt11 , die ebenso als Gottes Wort11 wie als menschliches Buch13 und geschichtliches Dokument anerkannt wird 14 . Sie ist jedoch beides als "das Buch der Heilsgeschichte" 15 • In ihm begegnet man dem "historischen Geschehen der Taten Gottes", welche, grundsätzlich gleich wichtig, doch ihre entscheidenden Augenblicke und Knotenpunkte haben18. Wir sollen als Zeugen eines spannungsvollen Geschehens17 daraus nicht die beliebige Aufeinanderfolge blinder Tatsachen machen18 und das Geschehen nicht verabsolutieren19 • Denn die Lehre hat darin ihren festen Platz10 , bildet mit der Tat eine Einheit11 • Werden wir in einen Dialog von Rufen und Antworten gerissen11, so ist das selber tathafte Wort doch nur "die begleitende Auslegung" derTaten Gottes23 , die Predigt entsprechend "ein Ausziehen der Linien von Gottes Heilsgesclrichte zu den Menschen der Gegenwart hin" 14. Konkret heißt das, die ganze Bibel müsse von Israel her gelesen werden11. Nur wo man zu den Quellen Israels zurückkehrt, läßt sich das Recht des evangelischen und apostolischen Zeugnisses von Jesus als dem Christus entsdt.eiden18. Schließlich soll man die Bibel nicht allein17, sondern als Buch der Kirche lesen18. Bei aller Anerkennung des Werkes, aus dem jetzt die problematischen Ausführungen herausgerissen wurden, läßt sich schlechterdings nicht übersehen, daß mit der Einführung in die historische Kritik eine ganz bestimmte und, von der Reformation her geurteilt, keineswegs selbstverständliche heilsgeschichtliche Dogmatik impliziert wird, die das Unternehmen trägt und schmackhaft macht. So eben können sich kritische Theologie und Gemeindefrömmigkeit zunächst am leichtesten akkomodieren, vielleicht sogar allein verständigen. Der außerordentlid:te Vorzug dieser Betrachtungsweise ist, daß nun auch das Alte Testament in die Kanonfrage einbezogen wird. Umgekehrt 8 Rechenschaft über Geschichte, Geheimnis und Autorität der Bibel (s. o. S. 337, Anm. 1), 138. 11 Ebd. S. 79, 170. ' Ebd. S. 191. u Ebd. S. 109 f., 113, 172 ff. 11 Ebd. S. 79. 1• Ebd. S. 61. 1a Ebd. S. 82. u Ebd. S. 169. 11 Ebd. S. 111. 17 Ebd. S. 118. 18 Ebd. S. 124. 11 Ebd. S. 125. 10 Ebd. S. 122. 11 Ebd. S. 124. II Ebd. 128. II Ebd. 123. u Ebd. S. 179. .. Ebd. 193. ~ Ebd. S. 205. 17 Ebd. 5.208. 10 Ebd. 5.210.
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stellt man sich aber nicht dem Sachverhalt, daß dieses Alte Testament zu Recht ebenfalls vom Judentum beansprucht und interpretiert ist, durchaus nicht, von der Tora her verstanden, zum Gesellen der Zöllner und Sünder führt oder zur paulinischen Rechtfertigungslehre oder zur johanneischen Behauptung der Gottheit Jesu. Mit der billigen Antithese vom historischen Jesus und dem Christus der SchriftenH kommt man schwerlich aus. Oberhaupt nicht bedacht ist, daß Bibel und Kirche genau wie die Geschichte Israels der Ort sind, an welchem Glaube und Aberglaube aufeinander treffen und miteinander kämpfen. Eine harmonisierte Entwicklung läßt Fehler und Irrtümer unvermeidlich sein, garantiert jedoch den göttlichen Sieg. Eine Theologie der Tatsachen weist dem Wort, selbst wenn es kerygmatisch verstanden wird, die Funktion zu, historische Ereignisse deutend zu begleiten. Eine Inkarnationslehre rückt die Kreuzeslehre in ihren Schatten. In der Heilsgeschichte findet alles seinen Platz, obgleich vieles relativiert werden muß und darf. Vom göttlimen Plane her merkt man schon, worauf es ankommt, und die Kirche sorgt dafür, daß dieser Plan niemandem unbekannt bleibt. Das so gewonnene geschichtliche Verständnis der Bibel dient letztlich der Apologetik, welche gefilterte Kritik nicht zu scheuen braucht oder sogar benötigt, um nicht der Gefahr des Doketismus zu verfallen. Kümmels streng wissenschaftliche Untersuchung wird hier nicht mit dem Rechenschaftsbericht verglichen, geschweige auf sein Niveau gezogen. Doch sollte man sehen, wohin sein theologischer Ansatz führt, wenn er popularisiert wird, und sich nicht darüber hinwegsetzen, daß ökumenische Einigung wie die offene Begegnung von kritischer Theologie und Gemeinde vorläufig allein von diesem dogmatischen Ansatz aus erfolgen und erfolgreich sind. Als Kronzeuge beweist das aum 0. Cullmann, der uns wieder aus dem Raum reichlim vager Äußerungen in eine präzise Problemstellung zurückführt. Seine Grundthese ist von bezaubernder Einfachheit: Das Problem Schrift und Tradition wird das von apostolischer und nachapostolischer Tradition, wobei jedoch, anders als zumeist im kritischen Lager, "apostolisch" streng historisch auf das von Ohrenund Augenzeugen Überlieferte bezogen und damit von der weiteren kirchlichen Tradition unterschieden wird30 • Wie der Rabbi übermittelt auch der Apostel Tradition. Doch ist sein Amt allein darin rechtmäßig, daß es in der Gabe des Heiligen Geistes gründet31 , und zur "Paradosis Christi" gehört die Vollständigkeit, zu der jeder Apostel n Ebd. S. 108. so 0. Cullmann, Die Tradition als exegetisches, historisches und theologischC's 11 Ebd. S. 26 ff. Problem, Züridt 1954, S. 7.
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auf seine Weise etwas beigetragen hat32 • Insofern gehört der Apostolat nicht der Zeit der Kirche, sondern derjenigen der "unmittelbaren Offenbarung oder der Inkarnation" zu, welche normativ Vergangenheit und Zukunft beleuchtet33 • In der Kirche läuft die Heilsgeschichte dialektisch weiter. Ihr Zeugnis beruht nicht mehr auf direkter Offenbarung, ist infolgedessen abgeleitet und muß am apostolischen Wort gemessen werden, das in den Schriften, wenngleich unter menschlichen Schwächen, festgehalten wird3•. Auch die schriftliche Niederlegung der apostolischen Botschaft ist "eine Grundtatsache der Inkarnation" (S. 99). Wir haben darin "die Lebenskraft, die uns stets aufs neue vor Christus stellt" 35 • Zwar hat im Prinzip die Kirche selbst den Kanon geschaffen. Doch besagt das allein, daß sie selbst die Scheidelinie zwischen ihrer und der Apostel Zeit, Grundlegung und Aufbau zog (S. 100), weil die Reinheit der Tradition ohne übergeordnete schriftliche Norm nicht gewahrt werden konnte und deshalb die als apostolisch geltende Tradition begrenzt werden mußte (S. 101). Die Kanonbildung war nur im 2. Jahrhundert möglich, weil man nur damals dem Ursprünglichen noch nahe genug, gleichzeitig jedoch bereits von Wucherungen bedroht war. Sie drängte sich dieser Epoche mit derselben Notwendigkeitkraft der inneren apostolischen Autorität auf, die auch wir empfinden, wenn wir in den Schriften Christus als den Kyrios vernehmen (S. 102). Der menschliche Bestandteil ist hier "auf das unvermeidliche und dem Begriff aller göttlichen Offenbarung selbst innewohnende Mindestmaß beschränkt" 36 • Insofern setzt sich das Werk des fleischgewordenen Christus in der Kirche fort, die selber keine neue Offenbarung mehr empfängt37 • Umgekehrt begegnen sich historische Wissenschaft und protestantische Theologie in der gemeinsamen Aufgabe, zu den Quellen zurückzukehren38 • Das Alte Testament wurde in den Kanon "als Zeugnis für diejenige heilsgeschichtliche Zeit, die die Fleischwerdung vorbereitet" (S. 103), aufgenommen, ist aber nur in der für es normativen Beziehung auf das Neue Testament kanonisch (S. 104). Die Glaubensregel könnte als apostolische Zusammenfassung und Auslegungsregel der unter sich verschiedenen Bücher anders als die späteren Bekenntnisse dem Neuen Testament als letzte Seite angefügt werden (S. 106). In Summa: "Die Schrift ist die Vergegenwärtigung des apostolischen Zeugnisses, so wie die Sakramente die Vergegenwärtigung des Erlösungswerkes Christi sind. " 39 Klarheit und Geschlossenheit der Konzeption sind schlechterdings hinreißend, so daß auch der schlimmste Kritiker den Wunsm nimt unterdrücken kann, die Theologie möchte für ihn ebenso durchsimtig lll 3&
Ebd. s. 25. Ebd. s. 4{).
SI 37
Ebd. s. 29, 31. Ebd. s. 36 f.
34
Ebd. s. 31, 33. Ebd. s. 35.
88
SI SI
Ebd. s. 34. Ebd. s. 56.
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sein. Leider ist nach meiner Oberzeugung Cullmann einer historischen Fiktion unterlegen, die ihn zu einer systematischen Fehlkonstruktion verführte. Die nächsten drei Aufsätze werden sich mit der geschichtlichen Problematik befassen, wie ich das zum Begriff des Apostolischen bereits getan habe. So wendet sich die Analyse zweckmäßigerweise gleich der Systematik zu. Wenn irgendwo, wird hier, und zwar unter ausgesprochener Zustimmung des Autors, Gloeges Feststellung bestätigt: "Mit der Einheit des Kanons war der Gedanke der einheitlichen Heilsgeschichte grundlegend gegeben ... Alles Verstehen der Bibel war daher von vornherein heilsgeschichtlich orientiert, bzw. mußte sich mit der heilsgeschichtlichen Orientierung auseinandersetzen" (S. 13 f.). Wird anderswo die apostolische Sukzession als das unumstößliche Fundament der rechtgläubigen Kirche betrachtet, so scheint Cullmann diese Anschauung typisch protestantisch durch die Kontinuität des göttlichen Wortes abzulösen. Andererseits begrenzt er dieses durch das historisch zu fixierende apostolische Zeugnis, das in der Kirche als Mitte und Kriterium ihrer eigenen Oberlieferung weitergegeben wird und so den Fortgang der Heilsgeschichte ermöglicht. Der Gedanke der apostolischen Sukzession wird damit protestantisch abgewandelt und unter das Thema "Die Tradition und die Traditionen" gestellt. Wie faszinierend solche Variation wirkte, zeigte sich darin, daß die Sektion II der 4. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1963 in Montreal dieses Thema zu ihrem Hauptgegenstand machte•• und konsequent bis in die entscheidende Vollversammlung hinein die Formel "Sola Traditione" als Basis kirchlicher Einigung auf dem Felde der Schriftinterpretation vorschlug. Seltsamerweise hat dieser Vorgang die reformatorischen Konfessionen keineswegs in gebührender Weise alarmiert, im Gegenteil die Zustimmung auch vieler ihrer Vertreter gefunden. Das bedeutet keineswegs, daß man sich die Dinge leicht gemacht hätte. Gründliche Vorarbeit war bis in die Ergebnisse sonst manchmal verpönter formgeschichtlicher Methodik vorgedrungen, die unwiderleglich mündliche Oberlieferung hinter den ersten Sammlungen und schriftlichen Fixierungen schon vor der Evangelienschreibung, urchristliche Hymnen als erste Glaubensbekenntnisse und älteste Dokumentation der Botschaft nach den verba ipsissima Jesu, die Aufnahme festgeprägter Paradosis an entscheidenden Stellen bereits durch Paulus herausstellten. So konnte man formulieren, "daß wir als Christen durch die Tradition des Evangeliums (die Paradosis des Kerygmas) existieren, wie sie in der Schrift bezeugt und in und durch die Kirche kraft des Heiligen Geistes übermittelt worden " V gl. Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, hrsg. von L. Vischcr, 1965, S. 195-211.
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ist"•1 • Das wurde noch präzisiert, Tradition meine hier das Evangelium selbst, "wie es von Generation zu Generation in und von der Kirche übermittelt wurde: der im Leben der Kirche gegenwärtige Christus selbst"•2 • Das dogmatische Urteil schien sogar mit radikal historischer Kritik im Protestantismus vereinbar und durch diese geradezu herausgefordert. Man hat sich dabei historisch nicht klargemacht, daß etwa die urchristlichen Hymnen weithin auf dem Boden des hellenistischen Enthusiasmus erwachsen sind und infolgedessen bereits durch Paulus und seine Schüler einer theologischen Korrektur unterworfen wurden; daß überhaupt, soweit wir zurücksehen können, die Korrektur und Kritik vorhergehender Oberlieferung integrierender Bestandteil des Traditionsvorganges selber sind. Theologisch hat man sich nicht klargemacht, daß die paulinische Rechtfertigungslehre von vomherein eine Kampfeslehre gegen nomistische und enthusiastische Gemeindefrömmigkeit darstellt. Denn das zeigt, daß das Evangelium zwar in festgeprägter und als inspiriert geltender Tradition erblickt, gleichzeitig jedoch anderwärts gegen geläufige und in den Gemeinden anerkannte Tradition ausgespielt werden kann, seine pauschale Identifikation mit der Tradition (im Singular, der die Urverkündigung anzeigen möchte!) nicht erlaubt ist. Unerträglich erscheint schließlich die Formel von dem im Leben der Kirche gegenwärtigen Christus, auch wenn der Kontext das durch den Hinweis auf das Evangelium gegen Mißverständnisse abzuschirmen sucht. Aus der Kirchengeschichte sollte man zum mindesten gelernt haben, wie oft man sich vieldeutig, fälschlich und abergläubisch, unchristlich auf den im Leben der Kirche gegenwärtigen Christus berufen hat und immer noch beruft. Brutal ist dem entgegenzustellen, daß weder der gegenwärtige Christus noch das Evangelium räumlich, zeitlich, institutionell, durch geltende Tradition oder christliche Frömmigkeit dingfest zu machen sind, weil der Geist sich nie ein für alle Male irgendwo binden läßt, der Aberglaube sich vorzugsweise in der Gestalt der Lichtengel tarnt und das ubi et quando visum est Deo gerade angebliche Offenbarung stets neu der Prüfung der Geister unterwirft. Die Auseinandersetzung um die Wahrheit ist schon im Neuen Testament so hart im Gange und so gegensätzlich geführt worden, daß man seine Tradition nicht auf einen Nenner bringen, also etwa mit dem Stichwort der apostolischen Botschaft formalisieren und harmonisieren darf. Das ist mein entscheidender Einwand auch gegen Cullmanns Darstellung. Ihm kann ich ebenso wenig abnehmen, daß die Kirche des zweiten Jahrhunderts in einem Akt göttlicher Eingebung und eigener Demut die Priorität der apostolischen Tradition als Norm u Ebd. § 45, S. 198.
' 1 Ebd. §59, S. 196.
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und Kriterium ihrer weiterwirkenden Predigt und Lehre angenommen, also von der nachapostolischen Tradition unterschieden habe (S. 98). Wie die Apostel nie der Kirche bloß gegenüberstanden, sondern selbst schon kirchliche Verkündigung repräsentierten, wie die nachapostolische Botschaft grundlegend bereits ins Neue Testament eingedrungen ist und dieses weithin beherrscht, so verfließt im 2. Jahrhundert noch ineinander, was man später "kanonisch" oder "apokryph" nannte, und geht der Streit um beides durch die Kirchengeschichte weiter. Anläufe zu freiwilliger und demütiger Selbstunterwerfung unter das Evangelium sind zwar stets erfolgt, aber nie auf die Dauer festgehalten worden. Ich kenne keine Kirche, die derart geschlossen und endgültig sich dem göttlichen Worte gegen ihren Eigenwillen und ihre Selbstverherrlichung zugewandt hätte und dabei geblieben wäre. Der Kirchenkampf hat uns im eignen Lande an dieser Stelle jeglicher IDusion beraubt, und die Introvertiertheil der Konfessionen wie selbst weitester Kreise der ökumenischen Bewegung überzeugt uns schmerzlich von der bitteren Wahrheit und Notwendigkeit der ecclesia semper reformanda. Ein in der Romantik wurzelndes organisches Denken ist uns fremd geworden, welches den irdischen Jesus zum Initiator, die Apostel zu Medien des erhöhten Christus, den Geist zum Wächter und Garanten der Tradition, den Glauben zur Annahme und Weitergabe geschichtlicher Erinnerungen im Rahmen einer von der Inkarnation her gedeuteten Entwicklung macht. Jesu Kreuz führte nicht bloß einmal zur Verleugnung in der Jüngerschaft und zum Bruch. Es wirkt auch in der folgenden Christenheit immer wieder Ärgernis und Trennung in und zwischen den Kirchen.
H. v. Campenhausen teilt grundsätzlich Kümmels Position, akzentuiert jedoch schärfer und formuliert zum Detail vielfach kritischer. Eine "unabänderliche Gegebenheit des geschichtlichen Lebens" läßt die Tradition, von der man zehrt, gerade dadurch zugleich verwandelt und umgebildet werden, so daß stets neu nach der inneren sachlichen Ubereinstimmung mit dem Ursprung zu fragen ist und die Quellen, die am Anfang aus dem Geschehen selber flossen, unverändert bewahrt werden müssen. "Der Glaube an eine ewige Unmittelbarkeit des Vergaugenen oder eine unfehlbare Bewahrung des Ursprungs wäre ohne sie nichts als eine hybride Utopie" (S. 111). Auch er erkennt an: "Tatsächlich hat die christliche Bibel eine paulinischc oder doch von Paulus inaugurierte Konzeption der Heilsgeschichte zu ihrer bleibenden Voraussetzung. " 43 Doch leitet er daraus keine organische Entwicklung ab. Authentische Zeugnisse finden wir mit 43
H. v. Campenhausen, Die Entstehung der ehristliehen Dibel, 1968, S. 46.
Kritische Analyse
Sicherheit nur bei Paulus. Er hat entscheidende Aussagen über heilswesentliche Daten der Christusgeschichte "als festen, ökumenischen Besitz ursprünglich christlicher Tradition" und so etwas wie einen kanonischen Text in Urgestalt bereits übernommen. "Wäre die Kirche in seiner Bahn geblieben, so wäre sie wesentlich früher zu einem Kanon der Christus-überlieferung gekommen, der wohl ärmer, dafür aber im rein historischen Sinne zweifellos auch sicherer gewesen wäre als unser heutiges Neues Testament" (S.112).Stattdessenführt der Weg jedoch in eine Vielfalt schwankender, nirgends klar begrenzter, von vielen Gruppen verschiedenartig benutzter, weithin problematischer Uberlieferung mit spannungsvollen und sogar gegensätzlichen Strömungen, die nicht mehr einfach und erkennbar von den Aposteln abgeleitet werden kann (S. 113-115). Mit solcher Feststellung wird Cullmanns Grundthese aus den Angeln gehoben. Wichtig ist jedoch nicht so sehr diese Kritik wie die Gegenposition. Die erste Kanonsammlung in der Mitte des 2. Jahrhunderts ist nicht durch Harmonisierung und allmählich wie von selbst erwachsen: "Am Anfang steht vielmehr die Tat eines bedeutenden Einzelnen, eines lrrlehrers, der durch die Eigenart seiner Botschaft förmlich gezwungen war, ein solches ,Instrument' zu suchen oder zu schaffen: Markion; und erst im Gegenschlag gegen dessen Kanon und in der Auseinandersetzung mit ihm entsteht dann auch in der Großkirche verhältnismäßig schnell die Vorstellung und ... der klare Umriß unseres heutigen ,Neuen Testaments'" (S. 116). Wir sahen, daß Kümmel eine solche Anschauung für unbeweisbar hielt und seinerseits nur zugesteht, Mareion habe tatsächlich den ersten geschlossenen Kanon gebildet. Es ist nicht unsere Aufgabe und übersteigt unsere Kraft, den Streit der Experten zu entscheiden. Hier kommt es einzig darauf an, daß wir die historische wie theologische Tiefe des vorliegenden Konfliktes ausloten. Zunächst ist man geneigt zu fragen, ob v. Campenhausen nicht von seiner begreiflichen Aversion gegen eine in aller Mannigfaltigkeit doch letztlich einheitlich sich durchsetzende apostolische Überlieferung zu weit getrieben wird und dabei der idealistischen Anschauung von der Bedeutung der produktiven Persönlichkeit zu große Opfer bringt. In der gleichen Weise hat er vorher schon die ausschlaggebende Funktion des Paulus für die Bildung des Urkanons hervorgehoben. Umgekehrt wird man das Gewicht der bereits früh einsetzenden Sammlung und Weitergabe paulinischer Briefe durch seine Schüler und ihre Vermehrung in den Deuteropaulinen als entscheidenden Schritt auf dem Wege des Überlieferungsprozesses nicht unterschätzen. Es ist nicht geringer als das der Sammlung von Logien, Gleichnissen, Wundergeschichten Jesu und der Verbindung von Passions2J
Käsemann, Kanon
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und Osterberichten, die unabhängig davon erfolgten. Vor allem erstaunt, wie kritisch v. Campenhausen über das Unterfangen Mareions urteilt: Dessen Bibel sei nicht Wiederherstellung, sondern völlige Verwüstung des Ursprünglichen und ein schlagendes Beispiel dafür, "wohin ein sach- und geschichtsfremder Dogmatismus gerade dann zu führen vermag, wenn er sich mit der formalen philologischen Kritik verbündet und seinen Weg scheinbar logisch und konsequent von hier aus zu Ende geht"u. Wie erklärt sich das Mißverhältnis zwischen historischer Anerkennung, welche dem Ketzer eine geradezu einzigartige Stellung nicht nur in der Kirchengeschichte, sondern auch für alle folgenden kirchlichen Entwicklungen einräumt, mit der theologischen Ablehnung? Gerade wenn einem v. Campenhausens Darstellung einleuchtet, wird die Härte des Verdikts problematisch. Wenn ich recht sehe, ist es gerade der Historiker, der dieses Urteil fällt. Ihm erscheint die Willkür unerträglich, in welcher Mareion nicht nur das Alte Testament rücksichtslos abschreibt, sondern auch die tatsächlichen Ursprünge des urchristlichen Uberlieferungsprozesses mißachtet. Denn so kritisch v. Campenhausen der Apostolizität der Tradition gegenübersteht, die er nicht als Voraussetzung, sondern als Resultat einer nach historischen und theologischen Gesichtspunkten durchgeführten Prüfung begriffen wissen will (S. 1!21), so sehr ist er daran interessiert, die Vielfalt einer schon die Anfänge bestimmenden, in gewissem Sinne der Kirche sogar vorgegebenen Tradition festzuhalten (ebd.) 45 • Dem entspricht, daß er auch in der Entwicklung seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts die Bedeutung der lebendigen, sich vor allem im Gottesdienst bewährenden Uberlieferung betont" und der heilsgeschichtlichen Konzeption des Irenäus zuschreibt, sie habe endgültig die "Weiträumigkeit" der Tradition herausgestellt und durchgesetztn. Beide Argumente dienen der schon durch Kümmel vertretenen Auffassung, daß nur so "die historisch wie theologisch ursprüngliche Kenntnis und Erkenntnis Jesu" vermittelt werden konnte (S. 1!20). Die größte und folgenreichste Schöpfung der frühen Kirchengeschichte dokumentiert "das ursprüngliche Christus-Zeugnis und Bekenntnis" (S. 1!2!2), und ihre spannungsreiche Mannigfaltigkeit muß daran gemessen werden, ob sie "eine Wirklichkeit offenbart und einen Geist atmet, die ... auf ein und denselben Ursprung und Herrn zurückweisen" (S. 1!22 f.). "Diese geistige Einheit ist allerdings nicht ein für alle Mal und nicht auf den ersten Blick zu haben; sie ist nimt mit einer bestimmten theologischen Formel oder einem Grundgedanken identisch, wie man ihn als ,Kanon im Kanon' zu bezeichnen liebt" (S. 1!23). " Entstehung der christlichen Bibel, S. 193. • Vgl. ebd. S. 379 ff. " Ebd. S. 239 ff.
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Ebd. S. 238-!242.
KritischeAnalyse
Weil Mareion tat, was hier mit einem Seitenhieb auf Zeitgenossen verpönt wird, gilt er als dem "Dogmatismus" verfallen48 • Das erscheint offensichtlich dem geistigen Enkel Harnacks noch immer als theologische Verirrung und eine der Grundsünden. Die Herausforderung sei angenommen, ohne deshalb den frühchristlichen Ketzer in einen Heiligen verwandeln zu wollen. Das Urteil halte ich, wenn es ausschließlich derart begründet wird, für historisch und sachlich ungerecht, die darin sich äußernde Theologie für letztlich unbefriedigend. Kam es zur "größten und folgenreichsten Schöpfung der frühen Kirchengeschichte" durch die Initiative des Ketzers, so wird man ihn, nachdem er seine Schuldigkeit getan hat, nicht einfach in der Versenkung verschwinden lassen. Kommt er in der Darstellung des Historikers zu einer Einzigartigkeit, die vor ihm allein Paulus zugebilligt wird, so sollte man ihm auch theologisch einiges Verdienst nicht von vornherein und als undiskutierbar absprechen, zumal er nichts als Schüler dieses Meisters sein wollte und ihn geradezu mit dem Evangelium selber identifizierte. Was als sein Dogmatismus verschrieen wird, war die Entdeckung der pura doctrina als Kriterium der Oberlieferung. Für den Protestanten kann das unmöglich dogmatisch belanglos sein. Der Exeget ist vielleicht willens und fähig, genau diesen Sachverhalt, unter Umständen nicht unter der harten orthodoxen Formel, als Merkmal paulinischer Theologie anzusprechen und von da aus den "Kanon im Kanon" leidenschaftlich zu verteidigen. Der Historiker dürfte schlechterdings nicht übersehen, daß bereits die frühesten Christuszeugnisse nicht nur Verkündigung oder mehr und weniger umfangreichen, mehr und weniger zuverlässigen Bericht, sondern Lehre von verschiedenen dogmatischen Prämissen her und mit erheblichen dogmatischen Konsequenzen enthielten. So kam es eben nicht bloß zu ihrer Mannigfaltigkeit, sondern auch zu jenen Spannungen und teilweise unvereinbaren Gegensätzen, welche radikale Kritik heute zu konstatieren gelernt hat. Die Firmierung "frühes Christuszeugnis" erspart niemandem die Frage, ob er mit judenchristlicher Apokalyptik an den kommenden Weltenrichter glaubt und sich dem Gesetz zu unterwerfen hat oder in Christus mit der hellenistischen Mysterienfrömmigkeit den Kultgott erblickt und sich bereits erfahrener Auferstehungskraft rühmt oder mit Paulus die theologia crucis, mit Johannes den über die Erde schreitenden Gott bekennen will oder das alles willkürlich kombiniert. überläßt man nicht jeden seinem Geschmack, bedarf man dessen, was man heute "hermeneutisches Prinzip" nennt. Genau das scheint Mareion anvisiert zu haben. Sein Irrtum war, daß man das hermeneutische Prinzip verwirklichen könnte, indem man alles nicht dazu Passende strich. Dann 48
2J•
Ebd. S. 193.
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wird nicht nur das Prinzip überflüssig, sondern man gerät außerdem in eine Ideologie. Der Mißbrauch diffamiert jedoch nicht die Intention. Der Glaube muß wirklich präzis sagen können, worauf es für Leben und Sterben ankommt. In seiner Weise hatte Mareion das besser erlaßt als seine Zeitgenossen, die ihn als Häretiker brandmarkten, besser auch als jene Theologen, die dem Dogmatismus des Ursprünglichen huldigen und dabei in eine Welt von vieldeutigen Chiffren geraten. Daran würde sich übrigens nichts ändern, wenn die These von Campenhausens sich nicht halten ließe und einzig anerkannt werden müßte, daß Mareion den ersten geschlossenen Kanon geschaffen hat. Die Intention zu sagen, worauf es ankommt, bliebe die gleiche, und das Verdienst, es durch eine autoritative und allein gültige Urkunde (S. 117) festgelegt zu haben, käme dem eines konfessionellen Bekenntnisses zum mindesten nahe. Dafür eine Lanze zu brechen, ist in einer Zeit, welche häufig zwischen mündlicher Tradition und Evangelium nicht mehr zu unterscheiden vermag und das Sola Seriptura über dem in der Tradition gegenwärtigen Christus49 mißachtet, der Mühe wert. Einzig die in unserm Zusammenhang sich daran entzündende hitzige Debatte hat mich bewogen, meinen Aufsatz "Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" noch einmal hervorzuholen. Die vorzügliche Zusammenfassung in Küngs Beitrag erlaubt mir, gleich auf die provokative These einzugehen, der Kanon begründe nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen. übersehe ich es richtig, hat allein G. Ebeling5° die Zwielichtigkeit meines Aufsatzes durchschaut und mit einer von mir durchaus anerkannten Kritik aufgedeckt. Ich habe keine Aussage und besonders nicht den umstrittenen zentralen Satz zurückzunehmen. Doch muß ich erklären, wie ich dazu kam. Im Rahmen einer Vortragsreihe sollte auch der Exeget seinen und seiner Wissenschaft Beitrag zur ökumenischen Einigung leisten. Es kitzelte mich, das mir auferlegte "Pflichtgebot" mit dem Gegenteil des von mir Erwarteten zu beantworten, und nur im Schluß wurde angedeutet, daß ich in meiner These nicht das letzte Wort gesprochen wissen wollte. Zu meinem Ergötzen stürzte sich aber jedermann auf den anstößigen Satz als solchen, und schließlich applaudierte, nachdem die Verblüffung sich gelegt hatte, sogar die Ökumene, weil die proklamierte irdische Polyformität der Una Saneta nicht schlecht zur konstatierbaren Wirklichkeit paßte und die Konföderation von oben, nämlich von den kirchlichen lnstiDagegen audt ebd. S. 157. Das Neue Testament und die Vielzahl der Konfessionen, in: G. Ebeling, Wort Gottes und Tradition (Kirche und Konfession 7), 1964, S. 144-154. 41
1t
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tutionen her, zu rechtfertigen schien. Eulenspiegelei im theologischen Dialog setzt zum mindesten die Gedanken in Bewegung. Die von H. Küng beschworene Angst vor zu schnellem Konsens teile im, und die auf Ausgleich bedachte Versöhnlichkeit des Alters stellte sich nom nicht bei mir ein, weil ich denke, daß es zu vieles gibt, dem man mehr auf den Grund gehen sollte, und zu vieles, gegen das man gerade als Christ und Theologe polemisieren müßte. Die Unumgänglichkeit irdischer Polyformität der Kirme Christi selbst in konfessioneller Hinsicht kann kaum bestritten werden. Wie in der Gegenwart spiegelt sie sich in der gesamten Kirchengeschichte, und kündigte sie sich bereits im Neuen Testament an. Nicht ohne Grund konnte A. Schlauer betont von der jeweiligen Kirche des einzelnen neutestamentlichen Schriftstellers sprechen, und es ist eine täglich zu erfahrende Tatsache, daß sämtliche Konfessionen, Denominationen, Sekten und sogar Weltanschauungsgemeinschaften sich auf biblische Texte berufen. Radikale historische Kritik vermag ihnen weithin das Recht dazu nicht mehr abzustreiten. Denn das Neue Testament ist, vom Alten ganz zu schweigen, keine Lehreinheit, auch wenn man von vornherein eine erhebliche Streuungsbreite konzediert. Es ist das so wenig, daß der Exeget, sofern er ex officio das Detail und dessen Nuancen unter die Lupe nimmt, sogar beim einzelnen Schriftsteller in Verlegenheiten gerät, weil jeder seine eigene Meinung mit Traditionen verbindet und stützt, die verschiedener Herkunft sind und, für sich betrachtet, in verschiedene Richtung weisen, aber auch seiner Intention nicht immertreubleibt oder ihr unvollkommenen Ausdruck gibt. Jede Einleitung macht darauf aufmerksam, und es ist die Aporie neutestamentlicher Theologie, so etwas wie einen einigermaßen gangbaren und übersichtlichen Pfad durch das Gestrüpp zu schlagen, ohne dem exegetischen Befund systematisierend zu sehr Gewalt anzutun. Zu Unrecht nennt Ebeling meine Darstellung "vergröbernd" und "falsch", weil schließlich nicht alles im Neuen Testament aufgenommen worden sei und die Beziehung zu den gegenwärtigen Konfessionen nicht einfach aus den Texten abgeleitet werden könne51 • Seinem Satz, daß jede alle Texte prinzipiell anerkenne und der Streit nur um die Interpretation ginge52, läßt sich gegenüberstellen, daß keine faktisch alle Texte gebraucht und anerkennt, nicht nur die Interpretation, sondern tatsächlich vorhandene Kontraste die Berufung der verschiedenen kirchlichen Gruppen auf die Schrift ermöglichen und legitimieren. Dem Neutestamentler genügt durchaus der Blick auf das Aufgenommene zu solcher Feststellung, so wenig er das als apokryph Erklärte übersehen wird. Dagegen stimme ich meinem Kritiker darin zu, daß die Vielfältigkeit II
Ebd. s. 147.
61
Ebd. S. 148.
Kritische Analyse
des Kanons- hinzugefügt: in seinem vorliegenden Umfang!- jeden konfessionellen Absolutheitsanspruch ausschließt53 • Unter diesen Umständen muß wirklich gefragt werden: "Was ist es eigentlich um das für den christlichen Glauben Konstitutive und das eigentlich Weiterzugebende" ?54 Das wird gerade dann brennend, wenn man mit v. Campenhausen55 , "dem Wortsinn entsprechend, die Vorstellung der Maßgeblichkeit oder Normativität" einer Schrift oder Schriftensammlung für Glauben und Leben an das Kanonische knüpft. Nichts anderes beabsichtigte meine provokative Äußerung, als auf dieses Problem mit größtmöglicher Schärfe hinzuweisen und so die Okumene zu ermutigen, sich der Sachproblematik zu stellen, statt wie üblich den Weg des geringsten Widerstandes fortzusetzen. Daß man einmal mehr der Frage auswich und ihr nur das Nützliche und Praktikable entnahm, geht nicht auf mein Konto, obgleich ich das Nützliche und Praktikable darin ernstgenommen wissen wollte. K. Alands Aufsatz bringt deshalb einen in seiner Rücksichtslosigkeit notwendigen Nachstoß. Man wird ihm vor allem dafür dankbar sein, daß er energisch die Problematik des Neuen Testamentes mit der des Alten koppelt. Wo immer christlich vom Kanon gesprochen wird, hat das Ganze der Schrift vor Augen zu stehen, selbst wenn dadurch die Aufgabe unendlich erschwert wird und die Spezialisten in aller Wissenschaftdarangewöhnt sind, ihre Objekte möglichst zu isolieren. Viele heute gängige Urteile über den neutestamentlichen Kanon würden hinfallen, wenn man sie in den Horizont der ganzen Bibel rückte. Die mit dem Alten Testament erwachsenden historischen Probleme spiegeln sich großenteils im Neuen Testament wider. Der Nachweis, daß man sich in den Kirchen vom Anfang bis in die Gegenwart hinein nie über die Grenzen des alttestamentlichen Kanons einig wurde, hat theologisch-dogmatisches Gewicht. Er zeigt, daß die Behauptung eines geschlossenen Kanons mindestens in der gesamten Christenheit eine Illusion ist, die Schrift faktisch innerkonfessionell offen bleibt, ihre Grenzen religions-und dogmengeschichtlich verfließen. Dann ist es wesentlich leichter, die neutestamentliche Kanonbildung als einen Entwicklungsprozeß zu verstehen, in welchem Aland bis zum 6. Jahrhundert sieben Etappen aufzählt und später verworfene Schriften bis ins 5. Jahrhundert hinein gottesdienstliche Gültigkeit besaßen, demnach als kanonisch galten. Wie von der Kanongeschichte gibt es die geschlossene Schrift auch nicht von der Textkritik her. Drastisch und von außen geurteilt, wird das "Prinzip der Prinzipienlosigkeit" festgestellt (S. 144). Höchst kritisch wird auch der II 56
Ebd. s. 150. N Ebd. s. 153. Entstehung der christlichen Bibel, S. 3.
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sonst so einschneidend genannte Vorgang einer zentralen Formation im 2. Jahrhundert gesehen. Letzte theologische und kirchliche Norm ist die Glaubensregel als Niederschlag des sich fortbildenden Glaubensbesitzes der Gemeinde, der gegenüber alles andere Vorläufigkeit bedeutet (S. 145 f.). Die praktische Verengung und Verkürzung des Neuen Testamentes in Vergangenheit und Gegenwart, auch in Kirchen mit absolut feststehendem Kanon und bei Theologen aller Schulen, die das offiziell Anerkannte formal werden läßt, ist in der Christenheit nicht nur "das maßgebliche Symptom, sondern gleichzeitig auch die eigentliche Ursache ihrer Krankheit" (S. 156). Denn der "faktisch existente~ wirksame Kanon" wird "nach dem eigenen Selbstverständnis gebildet" (S. 155). Aland folgert daraus: "Unsere Aufgabe ist die Diskussion der richtigen Prinzipien für die Auswahl aus dem formalen Kanon und die Auslegung des so Entstandenen mit dem Ziel der Erlangung eines gemeinsamen faktischen Kanons und einer in den Grundsätzen gemeinsamen Auslegung seines Inhalts." Für eine solche Lösung ist dreierlei erforderlich: die "lnfragestellung des eigenen faktischen Kanons", das "Emstnehmen des faktischen Kanons der anderen", das "Emstnehmen des formalen Kanons" (S. 156 f.). Vermutlich hätte er genauso gut die Quadratur des Zirkels postulieren können. Ob man selbst im Himmel sich über einen derartigen faktischen Kanon unter Berücksichtigung des formalen wird einigen können, erscheint fraglich. Es würde zudem, da Kirchen und Schulen das eigene Selbstverständnis nie auszuschalten vermögen, zu einem Prozeß dauernder Revision führen, nachdem der Anfang gemacht worden ist, also in totale Unsicherheit. Möglich und sinnvoll ist allein die Erörterung einer auf das Entscheidende hinzielenden, dieses unter keinen Umständen ausschaltenden Interpretation. Alands Aufsatz "entmythologisiert" in seiner das Tatsächliche hervorhebenden Nüchternheit entschlossen jede heilsgeschichtliche Betrachtungsweise, auch in der säkularisierten Form des organischen Denkens. Weil er die Bedeutung der Lehre in den Vordergrund rückt, werden die Kategorien des Christusgeschehens, des Apostolischen, des Ursprünglichen vermieden oder aufs stärkste relativiert, kann er unbefangen vom "Kanon im Kanon" sowohl für das Alte wie das Neue Testament sprechen und schließlich den Dialog über eine Hermeneutik der Bibel fordern, der, wenn nicht zum Konsens, so doch wenigstens zu einer umfassenden und zentralen Kommunikation in der Lehre bringen soll.
Im allgemeinen haben sich die Systematiker den Einsichten und Fragen der radikalen Kritik nicht recht gewachsen gezeigt. Auf pro-
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testantischer Seite wird zunächst einmal die alte Inspirationstheorie durch die Annahme einer providentia specialissima Dei ersetzt, was jedenfalls der Geschichtlichkeit der Schrift und dem Prozeß ihrer Überlieferung und Auslegung angemessener Rechnung trägt. Das gilt insbesondere von H. Diem, der als Repräsentant der Schule Barths sich unablässig mit dem Kanonproblem herumgeschlagen und dabei mutig und ständig die Auseinandersetzung mit den Partnern aus der historisch-exegetischen Zunft bis ins Detail hinein vorangetrieben hat. Sein frühester Aufsatz ist davon am wenigsten belastet, so daß er die eigene Position am klarsten herausstellt. Doch werden spätere Aussagen zur Verdeutlichung beitragen. Dem Systematiker und Schüler Barths steht es an, mit einem in der theologischen Zunft oft zu vermissenden Nachdruck die Schrift mit dem kirchlichen Leben zu verbinden. Vielleicht geht es zu weit, den isolierten Bibelleser eine unnötige und unsachgemäße Konstruktion zu nennen (S. 159). Es bestimmt nicht nur die Aufgabe des Exegeten, sondern auch die des sogenannten Laien der Bibel gegenüber, daß er seine eigenen Augen, Ohren und seinen Verstand gebraucht und sich dabei die Unbefangenheit zurückgewinnt, welche geltende kirchliche Anschauungen und Vorurteile sehr häufig einschränken oder sogar vernichtet haben. Jedenfalls der Protestantismus kann es sich nicht leisten, der fides implicita Vorschub zu leisten und zu verheimlichen, daß hier jeder für sich selber auf die Schanze steigen und letzte Entscheidungen zu fällen hat. Hat man aus der Nähe je hinter die Kulissen geschaut, wird man die Warnung vor dem Individualismus nicht mehr ganz so ernstnehmen, weil auch die kirchlichen Gremien immer wieder durch Einzelne wesentlich beeinflußt, manchmal terrorisiert und fast unvermeidlich zur taktischen Planung und zu Kompromissen genötigt werden, welche nicht weniger fragwürdig sind als der sich möglichst unabhängig machende Bibelleser. Die "Stimme der Kirche" müßte oft nicht so farblos und auf Ausgleich bedacht sein, wollte sie glaubwürdiger erscheinen. Es ist nicht unnützlich, das auch im Blick auf die Kanongeschichte zu bedenken, weil es um die Väter kaum besser bestellt gewesen sein dürfte als um ihre Kinder, Alter, Ansehen und feierliche Erklärungen keineswegs Autorität im geistigen Sinne garantieren. Eine gewisse Respektlosigkeit schadet längst nicht so sehr wie der Nimbus, den kirchliche Würdenträger um sich zu verbreiten pflegen, um sich vor peinlichen Zugriffen zu schützen. Doch ist das eben nur die eine Seite der Medaille. Auf der andem gibt es zumal die Theologen, und zwar nicht bloß die jungen, für welche die Welt in ihre entscheidende Epoche erst mit ihnen selbst tritt, die sich darum ihre aufbauenden oder destruktiven Systeme ohne Rücksicht auf Vergangenheit und Gegenwart zimmern und
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übersehen, daß eine weltweite Gemeinde noch immer existiert, an der Bibel wächst, sich regeneriert und mit Recht die fast unerschütterliche Kraft der Schrift bezeugt, allen Irrtümern, Mißverständnissen, falschen Gloriolen und konstatierbaren Problemen zum Trotz zu überdauern. Das gehört unabdingbar zum Wesen der Kanonizität und rückt alle, so rasch wechselnden Theologien mit ihrer notwendigen Kritik auf den zweiten, dienenden Platz. Insofern ist Diems erste grundlegende These durchaus zu bejahen, daß die Geschichte des Kanons die der sich selbst durchsetzenden Schrift sei56 • Allerdings gilt das wirklich nur insofern und keinen Schritt weiter. Aus kirchlicher Erfahrung läßt sich weder historisch noch dogmatisch eine brauchbare Definition gewinnen, und die soeben genannte Formel taugt dazu durchaus nicht, obgleich sie das sein soll. Auf der Hand liegt, daß große Teile des Neuen Testaments sich nicht selber durchgesetzt haben, sondern, sei es im Kompromiß, sei es kraft falscher Firmierung oder dank häretischer Initiative durchgesetzt worden sind, wie andere stets oder für lange Zeiten mit guten oder schlemten Gründen vernachlässigt wurden, von den teilweise anerkannten Apokryphen ganz zu schweigen. Gottesdienstliche Benutzung57 führte nicht notwendig zur Kanonisierung. Nicht alle Schriften sind dafür bestimmt gewesen, und viele fallen in der heutigen Lesung völlig unter den Tisch, setzen sich also faktisch nicht mehr durch und dürfen es wie bestimmte Stücke des Alten Testaments auf keinen Fall, wenn die Kirche nicht in den Judaismus zurückfallen soll. Daß fixiertes Gut der ältesten Christenheit allmählich erweitert und kommentiert worden sei, läßt sich pauschal nicht halten, geschieht zwar gelegentlich bei Paulus, ist aber erst in der dritten Generation ein charakteristisches Moment des Traditionsprozesses und hat selbst dann noch nicht den Sinn, gegenüber den Einflüssen der religiösen Umwelt "die Einheit des Kerygma zu sichern" (S. 160). Der Neutestamentler hat im Gegenteil festzustellen, daß die Freude an der Vielfalt und Variation die Sorge um die Einheit sogar des Bekenntnisses lange Zeit hindurch in den Schatten rückt. Schließlich kann man nur abstrahierend "die Kirche" als Subjekt des Rezeptionsprozesses bezeichnen (ebd.). Nicht einmal die offensichtlich liturgischen Formulare des Vaterunsers oder der eucharistischen Einsetzungsworte stimmen in ihrem Wortlaut überein. Die Kirche hattedas zu tolerieren und wurde so zum Medium statt zum Subjekt von Sonderüberlieferung. ----.-.-niese Formel weist wohl auf die bekannte Formel M. Kählers in: Dogmatische Zeitfragen I. Zur Bibelfrage, 19071, S. 23, von der "Urkunde für den Vollzug der kirche11gründenden Predigt" zurück. Sie findet sich dem Sinne nach häufig bei Barthund stereotyp bei Diem, s.o. S. 162, 167. • 7 Oft wie o. aufS. 160 als Argument benutzt.
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Viel wichtiger als diese historischen Einwände gegen Diems Formel sind die dogmatischen. Soll man es als Folge der Introvertiertheil oder des Säkularismus betrachten, daß Theologen die Macht des Aberglaubens nicht mehr berücksichtigen? In dem bisher beschriebenen Sinne haben sich der Koran und das Buch Monnon auch "durchgesetzt", und wer will ernsthaft bestreiten, daß es in allen Kirchen eine Kontinuität und Regeneration des Aberglaubens ebenso gibt wie die des Glaubens, schärfer noch: daß die Schrift zugleich mit Glauben auch Verstockung und infolgedessen Aberglauben in der Christenheit gewirkt hat und wirkt? Diem sucht diesem Einwand zu begegnen, indem er den sich selbst durchsetzenden Kanon auf die sich durchsetzende Verkündigung und letztlich auf den sich selbst verkündigenden und durchsetzenden Jesus Christus zurückführt58 • Wieder wird man zugeben, daß diese Präzisierung ihr Recht hat und, richtig verstanden, wirklich den Kanon legitimiert. Jedoch liegen die Aussagen von dem sich selbst verkündigenden und durchsetzenden Christus und die von der daraus abgeleiteten Verbindlichkeit des Kanons, um die Formel von der sich selber durchsetzenden Schrift zu vermeiden, auf zwei verschiedenen Ebenen. Sie sind nicht zu identifizieren, wozu Diem gefährlich zu tendieren scheint. Anders könnte er kaum vom einhelligen Zeugnis von Christus in den verschiedenen Zeugnissen sprechen und sagen, der Kanon ermögliche das Vor-Urteil, daß wir diese Einhelligkeit in ihm vernähmen". Schon die Dialektik der Aussage macht deutlich, daß die mit dieser zweiten Grundthese verbundenen Schwierigkeiten gesehen und in gewisser Hinsicht auch anerkannt werden. Die Offenheit des Systematikers gegenüber der historischen Kritik wird überall bemerkbar und äußert sich auch darin, daß er mit der größten Selbstverständlichkeit die Variationsbreite des neutestamentlichen Christuszeugnisses und die sich daraus ergebenden Kontraste voraussetzt. Er tut es freilich, indem er zugleich der Problematik entschärfend die Spitze abbricht. Nicht klar wird schon, ob und wieweit er das Alte Testament in die Einhelligkeit des Christuszeugnisses einbezieht, was der Fall sein müßte, wenn man vom Kanon und nicht nur von einem seiner Teile handelt. Schroff ist die These schon von hier aus zu verneinen. Es gibt eben das berechtigt vom Judentum für sich beanspruchte Alte Testament, das dem Judentum auch zu belassen ist und von der Kirche zu Unrecht rezipiert und für die Sache des Christus beschlagnahmt wurde. Hat solche Rezeption gleichwohl einen Sinn, kann es auf keinen Fall der einer Einhelligkeit des Zeugnisses sein, sondern 68 Theologie als kirdilic:he Wissenschaft. Handreichung zur Einübung ihrer Probleme ll, Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus, 1955, S. 204. " Ebd. S. 206.
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nur der, daß man das Evangelium nicht destilliert hat, die Schrift in der Welt belassen muß, statt sie als das vom Himmel gefallene Buch zu tradieren, Jakob und Esau untrennbar zusammengehören, das corpus permixturn des irdischen Gottesvolkes sich auch in einer biblia permixta spiegelt, J ahwes Stimme die des Baal stets voraussetzt oder heraufbeschwört, Glaube und Aberglaube zu unterscheiden, aber von uns nicht ein für alle Male zu trennen sind. Solange diese hermeneutische Bedeutung des Alten Testamentes, die übrigens keineswegs auf das soeben Gesagte beschränkt werden soll, nicht für die Kanonfrage exemplarisch gilt, mag man sich trefflich streiten, kommt es aber allein zum Gefecht mit Platzpatronen. Sieht man sie jedoch, ist es grundsätzlich belanglos, ob man im Neuen Testament Einhelligkeit feststellt oder nicht. Die Entscheidung ist bereits gegen die These gefallen, oder man darf nicht mehr vom ganzen Kanon mit unverkennbarer Emphase sprechen (S. 174)10 • Im übrigen wäre es ein Mirakel, wenn es im Neuen Testament anders als im Alten und in unserer eigenen Gegenwart stände. Einhelligkeit gibt es in der Geschichte nur partiell und nicht flächenweise. Nun bestreitet Diem dieses Faktum als solches nicht, erkennt sogar Gegensätze an, welche in der gleichen Zeit kontradiktorisch sein würden. Er hilft sich, indem er auf die verschiedene Verkündigungssituation hinweist (S. 171 f.). Ihr Wechsel bedingt Ergänzungen, Korrekturen und aus Mißverständnissen resultierende Widersprüche gegenüber dem Früheren. Während die Konkordanzmethode verurteilt wird61 , soll man sich auf das "Konkordanzhören" einstellen (S. 174). Man kann sich diesem Argument nicht entziehen. Etwa die Auslegung der Synoptiker richtet sich unentwegt nach ihm, und ich würde von da aus trotz allen Verschiebungen im einzelnen und ganzen Paulus und Johannes oder die Apokalypse, Paulus und die Deuteropaulinen oder selbst die Pastoralen zu verstehen suchen. Darüber hinaus gibt es zweifellos Aussagen, die isoliert in unversöhnlichem Gegensatz stehen, aber komplementär auf einen paradoxen Sachverhalt hinweisen. Die Beweglichkeit des Exegeten, der einerseits Nuancen hervorzuheben, andererseits Zusammenhänge zu bedenken oder zu rekonstruieren hat, kann nicht groß genug sein. Doch hat sie ihre Grenzen dort, wo gleichzeitig oder in verschiedenen Phasen nicht bloß verschiedene "Verkündigungssituationen", sondern gegensätzliche Theologien zu konstatieren sind. Wenn Diem mit Vorliebe am Verhältnis von Paulus und Jakobus exemplifiziert62 , so ist allerdings die verschiedene • Vgl. H. Diem, Die Einheit der Schrift, EvTh 13 (1953), S.385-405,hierS.391,
405.
' 1 Ebd. S. 387.
u W. G. Kümmel, Mitte des NT, S. 76, A. 3-5, protestiert mit zwingenden Gründen gegen die heutigen Harmonisienmgsversuc:he gerade an dieser Stelle.
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Situation zu berücksichtigen. Nur Apologetik gibt sich jedoch damit zufrieden, weil das konträre Verständnis des Gesetzes ein konträres Verständnis des Evangeliums bekundet und keine Interpretation darüber hinwegtäuschen darf, daß für Paulus das Werk eine Konsequenz, für Jakobus aber eine Vorbedingung der Rechtfertigung ist. Der Text wird vergewaltigt, und jede Berufung auf ihn wird unglaubwürdig, wenn man hier demonstriert, daß man, dazu von Voraussetzungen des sonst angegriffenen Existentialismus her, unter allen Umständen ausgleichen will und das dann natürlich auch kann. Die Kirche hat sich in der Regel so geholfen, und aus dem Konkordanzhören wird nun doch Konkordanzmethode. Daß damit nicht zu scharf geurteilt wird, ergibt sich aus dem Postulat, daß in den verschiedenen Schriften und Zeugnissen die Stimme des einen Christus zu hören sei und jeder Zeuge anerkenne, auch dem andem habe sieb das Geheimnis der Offenbarung erschlossen (S. 171)83 • Unter dieser Voraussetzung kann man sich mit dem Hohen Lied grundsätzlich begnügen, wird man die Vielfalt dankbar als faktische Hilfe für verschiedene Verkündigungssituationen akzeptieren und womöglich sogar die prinziplose Zusammenstellung des Kanons zu seinen Gunsten buchen (S. 160 f.). Ungern greife ich das allmählich abgedroschene Verdikt vom "Offenbarungspositivismus" Barths auf, weil man damit unter die Wiederkäuer gerät. Doch sehe ich nicht, wie man es seinem Schüler ersparen kann, und ich finde es schlechterdings unfair, wenn historisch-exegetische Feststellungen kurzerhand statt aus dem Bemühen um den Text und das Verhältnis der Texte untereinander aus prinzipiellen Gesichtspunkten nach bestimmtem Auslegungsmaßstab abgeleitet werden84 • Das ist Diffamierung des Spezialisten und seines selbstverständlich stets fragwürdig geübten Handwerks. Prinzipien ergeben sich für jeden Denkenden. Ob er sie jedoch aus seiner Arbeit am Detail gewinnt oder, sei es bewußt, sei es aus Trägheit und Voreingenommenheit, seiner Arbeit zugrunde legt, ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Falschmünzerei. Wenn ich dank kirchlicher Erfahrung von vomherein darauf vertraue oder davon überzeugt bin, überall im Neucn Testament die Stimme des einen Christus wenigstens grundsätzlich vernehmen zu können, ist Exegese Handlangerio der Praktischen Theologie oder einer bestimmten Dogmatik. Letztlich hat sie deren Postulat zu verifizieren oder ihre eigene Unzulänglichkeit zu bekennen. Genau das ist aber das Problem einer theologisch verpflichteten und engagierten Exegese, ob wirklich dieser eine Christus überall in den Texten zu 11 14
Vgl. Diem, Einheit der Sduift, S. 395, 401. Diem, Dogmatik, S. 206.
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Wort kommt und ob das angemessen geschieht. Ist man nicht zum Risiko bereit, das hier oder dort rundweg verneinen zu müssen, geht mit dem wissenschaftlichen Ethos auch der theologische Ernst vor die Hunde, hat man es nur noch mit mehr oder weniger nützlichen Quisquilien zu tun, wird man zum "Fachidioten", was vielleicht unvermeidlich ist, wozu man jedoch nicht vom Systematiker verdammt werden sollte. Rundheraus gesagt, nach lebenslanger Beschäftigung mit dem Detail wie mit dem Ganzen neutestamentlicher Theologie vermag ich die Stimme des einen Christus nicht in allen Zeugnissen zu vernehmen. Selbst wenn die kirchliche Erfahrung von 2000 Jahren das bezeugte, würde mich das nicht im geringsten irremachen oder auch nur interessieren. Hier habe ich für mich selber einzustehen und der fides implicita nicht den geringsten Tribut zu zollen, wenn ich nicht mein Handwerk verraten und das sacrificium intellectus bringen soll. Eher würde ich der Kirche den Rücken kehren, als von mir erkannte Wahrheit zu verleugnen. H. Braun konstatiert mit vollem Recht die verschiedensten Christologien im Neuen Testament, und die Stimme des einen Christus in allen ihren Stücken ist nicht nur ein dogmatisches Postulat, sondern auch eine bloße Chiffre, hinter der sich alles oder nichts verstecken kann, solange nicht genau definiert ist, welcher Christus gemeint ist. Mit Chiffren will ich weder als Glaubender noch als Theologe etwas zu tun haben. Die überlasse ich den Computern, die damit umgehen können und müssen. In der Exegese scheinen sie mir einzig dem Aberglauben Türen zu öffnen und die claritas und perspicuitas scripturae zu verdunkeln. Diemist allerdings konsequent. Seine dritte Grundthese folgt aus den beiden ersten und erläutert sie, daß nämlich die Schrift grundsätzlich Predigttext sei, die Geschichte der Kanonbildung die des Predigttextes genannt werden dürfe und daß die Kirche, welche uns den Kanon gab, dafür einstehe, die ganze Schrift lasse sich predigen85 • Das schließt nicht aus, daß es dunkle Stellen gibt, die den Prediger in Verlegenheiten setzen, und dieser die Schrift manchmal nicht zum Reden bringen kann, dann die volle Freiheit habe, das zu sagen (S. 167, 174). So ist es sein eigentlicher Vorwurf gegen den Katholizismus, daß er nicht zu predigen vermöge (S. 165). Nochmals wird man den berechtigten Kern dieser Feststellungen anerkennen. Das Evangelium will tatsächlich gepredigt werden, und beim Kanonproblem darf davon nicht abstrahiert werden. Wieder wird man aber kaum übersehen können, daß Diem erneut zwei Ebenen in eine verwandelt, weil er den Kanon und das Evangelium, sei es auch abgeleitet, identifiziert oder wenigstens zu rasch zusammenbringt. Wenn man aus allen Schriften das einhellige Zeugnis für den einen Chri" Einheit der Schrift, S. 389, 391.
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stus vernimmt, ist das natürlich grundsätzlich möglich und notwendig. Geht das aber nicht so einfach, wird man an dieser Stelle sehr sorgfältig, ohne trennen zu wollen, zu unterscheiden haben. Sicherlich soll man die ganze Schrift hören (S. 173 f.). Doch ist es etwas völlig anderes, daß man sie ganz zu predigen habe und das - grundsätzlich!- auch könne. Die Polemik gegen Rom ist aufschlußreich dafiir, in welcher Weise vereinfacht und vergröbert wird. Zweifellos kann man sich darauf berufen, daß die Reformation genau hier einen oder sogar den entscheidenden Dissens empfand und dazu gute Gründe nicht bloß aus der Praxis, sondern gerade theologisch hatte. Umgekehrt sollte man die Situationsbedingtheit wenigstens so weit wie im Neuen Testament in Anschlag bringen, selbst wenn man anders als dem Neuen Testament gegenüber das Konkordanzhören nicht als der Weisheit letzten Schluß betrachtet. Was man am Sonntagmorgen im protestantischen Gottesdienst oft oder sogar erwartungsgemäß zu hören bekommt, von den Bibelstunden nicht bloß der Gemeinschaften zu schweigen, bestätigt zwar, daß man über die ganze Bibel predigen zu können meint, mehr aber auch nicht. Katholische Bischöfe haben im Kirchenkampf tapfer und im Gehorsam des Evangeliums zu predigen vermocht, während evangelische zum Teil verstummten. Daß der Katholizismus nirgendwo von der Reformation profitiert habe, wird kaum zu behaupten sein, wohl aber mag man gelegentlich geradezu neidisch feststellen, die Reformation werde in Klöstern und anderswo ernsthafter bedacht und aufgenommen als in protestantischen Landeskirchen. Kurz, die Polemik dürfte weniger pauschal und reichlich gedämpfter ertönen, wenn man seinen Stand nid:J.t mehr unter dem Lutherdenkmal in Worms sud:J.en kann. Zunäd:J.st müßte untersucht werden, wie es zum Verfall der protestantisd:J.en Predigt in so ungeheuerlid:J.er Weise kam. Dabei würde man wahrscheinlich entdecken, daß neben der historisd:J.en Kritik der orthodoxe und biblizistische Aberglaube, über die ganze Schrift predigen zu sollen und zu können, kräftig mitgewirkt hat. Denn natürlich kann man das nicht. Das gilt schon von der Praxis, welche nie in der Christenheit die ganze Bibel gepredigt hat, und vom Einzelnen her, der bei solchem Versuch hoffnungslos scheitert. Das gilt grundsätzlich. Es ist trotz kirchlicher Lesung wenigstens vieler oder sogar der meisten Schriften nicht wahr, daß alle diese Sd:J.riften Predigttexte sein wollten, so gewiß das Neue Testament primär als Kerygma gehört werden muß. Gleichwohl ist es das nicht ausschließlich, und sofern es das ist, meint das noch längst nicht, daß es Predigttext ist, also über die einmalige historische Situation hinaus wiederholt, ausgelegt und für ewige Zeiten verbindlich gemacht wer-
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den wollte. Wenn die Kirche es dazu für geeignet gehalten hat, ist das offensichtlich weithin echte Aufnahme des kerygmatischen Anliegens der Urchristenheit, andererseits aber ein Vorgang im Traditionsprozeß, der lange und mancherorts noch heute auch die Apokryphen einbezog, mit dem Alten Testament recht gewalttätig umsprang und nicht bloß erwünschte Resultate zeitigte. Versteht man die Geschichte des Kanons als die des Predigttextes, muß man doch im weitesten Ausmaß von einer Geschichte der Passion und der Vergewaltigung des Textes sprechen. Darum ist gerade die Kirche in Vergangenheit und Gegenwart kaum uneingeschränkt der Eideshelfer, der die in der Schrift überlieferte Verkündigung kanonisierend zum weiteren Verkündigtwerden "autorisierte" (S. 166). Als Garantin der Wahrheit will Diem sie selbst nicht gewertet wissen (S. 167), weil der Kanon den Beweis für seine Kanonizität auch weiterhin für sich, nämlich in der Möglichkeit, gepredigt zu werden, erbringen müsse. Obereinstimmung und Gegensatz zwischen dem Exegeten und dem Systematiker können nun abschließend ins Auge gefaßt werden. Einig sind wir in dem dogmatischen Interesse, daß das "der Kirche vorgegebene Wort von deren eigenem Reden unverwischbar unterschieden bleibt" und Gottes Wort "im Reden und zugleich gegen das Reden der Kirche zu Gehör zu bringen" ist (S. 165, 166). Wir unterscheiden uns darin, daß Diem trotz aller Zustimmung zu den Ergebnissen der historischen Kritik und den daraus folgenden Einschränkungen die Schrift als Sammlung von Christuszeugnissen und als Predigttext mit dem Charakter der Einhelligkeit versehen und im wesentlichen mit Gottes Wort zusammenfallen lassen kann. Das ist mir schon im Blick auf das zum Kanon gehörige Alte Testament und ebenso angesichts kontradiktorischer theologischer Tendenzen nicht bloß in einzelnen Aussagen, sondern in ganzen Büchern des Neuen Testamentes so undialektisch nicht möglich. Ich bestreite nicht, daß Gottes Wort aus der Bibel vernehmbar wird und diese insofern Suffizienz und Selbstevidenz besitzt, wohl aber, daß die Bibel einhellig echtes Christuszeugnis, wenngleich in der Variation der Umstände und Zeiten, bietet und ohne weiteres als Predigttext angesprochen werden darf. Das Evangelium ist in der Schrift zu finden und nicht von ihr zu lösen, steht aber auch dort im Widerstreit mit seinen Verkürzungen, Erweiterungen und Verfälschungen, wie es das geschichtlich immer tun wird. Die theologische Aufgabe der Unterscheidung der Geister bezieht sich mit auf die Bibel. Wenn Diem anerkennt (S. 170), daß "die für uns so wünschenswerte exklusive Unterscheidung der Stimme Christi von derjenigen der kirchlichen Tradition ... innerhalb des N. T. keineswegs rein durchgeführt" ist, das an Traditionen sich klammemde Kirchenturn im Frühkatholizismus schon
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dort beginnt, hat er sich auf meine Problematik eingelassen. Sie kann man aber nicht damit abschwächen, darin bekunde sich der historische Charakter der Schrift, der Harmonisierung verbiete und ein Einheitsprinzip nicht wie ein Wahrheitskompendium besitze, sondern die Lebendigkeit Christi im Wort herausstelle und im Interesse der verschiedenen Verkündigungssituationen zur möglichst profilierten Kenntnis der Zeugen und Zeugnisse aufrufe (S. 171). Es ist nicht zufällig, daß jetzt heilsgeschichtliche Terminologie zur Hilfe gerufen wird: "Die Predigt verkündigt die für uns geschehenen ,großen Taten' Gottes sowohl in ihrem Geschehensein als in ihrer Bedeutsamkeit. Der Prediger ist dabei aber nicht mehr in derselben Lage wie der Apostel, der als unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge dieser Taten Gottes redet. Er braucht darum für seine Predigt einen Text. " 88 Damit wird die vorhergehende Erkenntnis an den Rand gedrückt und der Schrift in ihrem Kern eine historische Ausnahmestellung zugebilligt: Sie ruht im wesentlichen auf dem unmittelbaren, nämlich apostolischen Zeugnis. Ist dieses Argument nach der früher vorgelegten Kritik nicht mehr stichhaltig und ein problematisches Randfeld zugestanden, dient es der Klärung der Fronten, wenn jetzt rückhaltlos die gesamte Bibel als Produkt eines vorchristlichen und christlichen Traditionsprozesses bezeichnet wird. Historisch ist die jüdische und christlid1e Kirche stets vor der Schrift da, und zwar mit ihrer ganzen Fragwürdigkeit als corpus pennixtum. Wird die sachliche Priorität der Schrift vor der Kirche behauptet, wie ich das allerdings zu tun gedenke, so ist das ein Glaubensurteil auf Grund der theologischen Einsicht, die Kirche sei creatura verbi, nämlich des in, mit, unter der Schrift gegebenen Evangeliums. Der Streit spitzt sich auf die Frage zu, was denn wirklich "Evangelium" ist. Dabei wird man weder auf die großen Taten Gottes noch auf die Stimme Christi verzichten dürfen. Doch sind das Chiffren, solange man nicht exakt sagt, worin diese Taten bestehen und was die Stimme Christi verlauten läßt. Denn beides ist zu allen Zeiten von allen möglichen Leuten für sich beansprucht worden, mit denen die Kirche nichts zu tun haben wollte oder nichts hätte zu tun haben dürfen. Darum erscheint mir die Botschaft von der Rechtfertigung als qualifizierendes und scheidendes Kriterium auch des Neuen Testamentes unerläßlich. Sie kann das sein, sofern historisch-exegetisch das Merkmal Jesu im Unterschied von seiner gesamten religiösen Umwelt die Gemeinschaft mit den Sündern im Namen Gottes war, seine Kreuzigung entscheidend mit seiner Durchbrechung des Gesetzes zusammenhing, die auch die Heidenmission erst ermöglichte, und M S.o. S. 166, während im Widerspruch dazu o. S. 161 f. das Merkmal des Apostolischen sehr kritisch beurteilt wurde.
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sdiließlich die urchristliche Verkündigung~ allgemeinen mehr oder weniger zentral von da aus bestimmt ist. Dogmatisch erhellt sie stärker als jedes andere Theologumenon das Verständnis der Christenheit über Gott, den Menschen und das Verhältnis beider. Wo diese Rechtfertigung nicht mehr klar und zentral zu Worte kommt, endet für mich mit dem spezifisch Christlichen auch die theologische Autorität des Kanons, in den ich umgekehrt eben von hier aus das Alte Testament in weitem Umfang als promissio einzubeziehen vermag. Insofern behaupte ich allerdings einen "Kanon im Kanon" und definiere zum mindesten grundsätzlich präzis dessen Grenzen, die faktisch freilich verfließen und im Detail immer neu überprüft und markiert werden müssen. Die Schrift bleibt Produkt eines kirchlichen Traditionsprozesses und deshalb vom Evangelium unterschieden, ohne daß dieses von jener gelöst werden sollte und dürfte. Denn Gott geht nach neutestamentlichem Zeugnis in die Geschichte ein, aber nicht in ihr auf. Aus welchen Gründen immer die Alte Kirche den Kanon fiXierte, sie tat Recht daran, sich gegen die Wucherungen der Gemeindefrömmigkeit zu schützen, und tat es im allgemeinen auf die bestmögliche Weise. Im Gegensatz zu Diem erkenne ich die Kanonisierung also prinzipiell an67 , bestehe aber auf einer faktischen Offenheit. Der Ort, wo das Evangelium vernommen wurde, mußte exemplarisch abgegrenzt werden, wenn nicht der Wildwuchs der Tradition jede Orientierung unmöglich machen sollte. Die damit umgrenzte Fläche ist jedoch deshalb nicht sakrosankt geworden. Mit ihr wird nur das Feld anvisiert, innerhalb dessen Begegnung mit dem Evangelium in sufficientia, claritas und perspicuitas geschah und geschehen kann, ubi et quando visum est Deo. Es sollte deutlich sein, daß nach diesen Feststellungen Diems Einwände zum großen Teil als Mißverständnisse oder Vorurteile dahinfallen, obgleich sie geradezu den Umfang eines Lasterkatalogs annehmen. Es entbehrt nicht der Pikanterie, wenn der Dogmatiker gegen den Exegeten klagt, weil diesem die Geschichte über dem Deutungsprinzip68, der Lehre69 , einem doktrinären (S. 174), biblizistischdogmatischen Lehrsystem70 bedeutungslos würde. Andererseits soll mit der Rechtfertigungsbotschaft bloß ein Motiv oder Teilaspekt ins Auge gefaßt werden71 , das dazu auf diese Weise in die Gefahr eines protestantischen Theologumenons gerät72 . Drittens wird "die Frage nach der Offenbarung von Gottes Wort in der Schrift ... damit aus Gegen Einheit der Schrift, S. 389 f.; Dogmatik, S. 198. • Dogmatik, S. 201. 11 Einheit der Schrift, S. 398. 71 Ebd. S. 392. 71 Ebd. S. 397,400. 71 Dogmatik, S. 202 f. 17
24 Kücmann, Kanon
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dem ,Raum der Objektivität' in unsere Entscheidung verlegt" 71 , so daß die Willkür74 und Vergewaltigung des Textes in greifbare Nähe rückt (S. 174), nicht mehr die ganze Schrift (ebd.) und die Externität des Wortes (S. 170) beachtet wird. Hinter dem allen soll das Sicherungsbedürfnis stehen (S. 173), wie Bultmann es gegenüber der Frage nach der Relevanz des historisch.en Jesus vermutete. Zusammen ist das reich.lich viel, freilich auch reichlich diffus, und ich gestehe, diese Synopse nicht ernstnehmen zu können oder widerlegen zu wollen. Ausgesprochen ärgerlich empfinde ich es jedoch, wenn Diem mich unablässig in das Prokrustesbett der problematischen Untersch.eidung von Formal- und Materialprinzip legen will (S. 167 ff.)7 5 , von der ich ein einziges Mal im Sch.luß meines Vortrages Notiz nahm, als ich in deutlicher Distanzierung vom "sogenannten Formalprinzip" sprach.. G. Ebelings Reflexionen zu diesem Thema begründen, warum dieses Schema mir nicht paßt. Die Schrift wird von mir nicht zu einer formalen Autorität degradiert, Rechtfertigungsbotschaft und Sola Scriptura sind für mich identisch, die theologische Formel von der Rechtfertigung der Gottlosen umspannt nach meinem Verständnis die gesamte Schrift, eben auch des Alten Testamentes, sofern sie es wahrhaftig mit Jesus Christus zu tun hat. Sie macht zugleich jedoch klar, wo nach meiner Überzeugung auch in der Schrift nicht mehr ernsthaft und wirklich auf diesen Jesus Christus geblickt wird, und dazu werden theologische Formeln, zumal solche eines tatsächlichen Apostels, sch.ließlich benötigt, treibt man überhaupt Theologie. Was mich letztlich von Diem scheidet, scheint zu sein, daß ich auf einen Kanon der Christologie nicht verzichten kann, weil nach dem Neuen Testament zu jeder Zeit mancherlei Geister mit dem Anspruch, der Christus zu sein, auftreten und das gerade auch im Blick auf die Urch.ristenheit behauptet wird. Ich meine, davon in der Interpretation der Texte nicht abstrahieren zu dürfen, weil es ein Mirakel wäre, wenn irgendwo und irgendwann dieses Phänomen des falschen Christus sich nicht zeigte, christliche Theologen und Theologien selbst in der Urzeit davor gefeit wären, den Nazarener und sein Werk in den Schemata einer unangemessenen oder sogar falschen Christologie zu präsentieren. Weil ich auf den Kanon der Christologie nicht verzichten kann und mich hier im Zentrum nicht mit Chiffren abspeisen lasse, selbst wenn die Ökumene sie sanktioniert, kommt es von da aus bei mir notwendig auch zum Kanon im Kanon. Die Schrift dient doch. wohl dem Christus. Er darf so wenig von ihr wie von der Kirch.e vereinnahmt und je nach der Situation anders, womöglich im totalen Wi71 Einheit der Schrift, S. 397. " Dogmatik, S. 206. 71 Vgl. Einheit der Schrift, S. 386, 398; Dogmatik, S. 201 f.
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dersprud:t zum gekreuzigten Nazarener repräsentiert werden, obgleich das in der Kirchengeschichte unaufhörlich geschehen ist. ld:t verschärfe jetzt meine frühere Aussage, daß der Kanon in gewisser Hinsicht die Vielfalt der Konfessionen begründet. Er begründet auch eine Vielfalt von Christologien, die teilweise unvereinbar sind. Deshalb bedeutet das Chalcedonense sogar eine exegetische Hilfe für mich. Mannigfaltigkeit muß der Exeget unentwegt ertragen, und das rettet nicht bloß die rechte Freiheit (S. 172 f.), sondern bedeutet für den Christen wie den Denkenden zugleich eine schwere Last. hgendwo muß sie eine Grenze haben, und zwar von der Christologie her und darum auch gegenüber dem Kanon. Diem meint, daß idl damit diesen als "dogmatische Größe" auflöste (S. 170)18• Solche Sorge bewegt mich wenig, solange die Sache der wahren und angemessenen Christologie nicht entschieden ist, was ohne die Interpretation von der Rechtfertigungslehre her kaum geschehen kann. Aus dieser Sorge heraus lehne ich den Satz ab: "Es gibt keinen für alle Zeiten gültigen Maßstab für die Feststellung des Kanons im Kanon, und wenn es der Gesichtspunkt wäre: ,was Christum treibt'" (S. 173). Die Schrift, die man sich selber überläßt und der man sich unkritisch, ohne "Hauptschlüssel" (gegen S. 173), überläßt, führt nicht bloß zur Vielfalt der Konfessionen, sondern auch in die Ununterscheidbarkeit von Glaube und Aberglaube, dem Vater Jesu Christi und den Götzen. Genau wie Diem sich für die sich selbst verkündigende Schrift auf die Erfahrung der Kirche beruft, tue ich es für meine Feststellung. Das dürfte aber darauf hinweisen, daß unsere Sorgen sich treffen und auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen müssen. Der Gegensatz kann nicht unversöhnlich sein. Er dürfte die Verschiedenheit des Ausgangspunktes, der Ebene unseres Gesichtsfeldes, der Betonungjeweils einer Seite in einem komplementären und darum dialektisch zu entfaltenden Sachverhalt anzeigen.
H. Küngs Aufsatz demonstriert, daß zwei Hunden der Knochen, um den sie sich zanken, durch einen dritten vor der Nase weggeschnappt werden kann. Er vergleicht Diems und meine Position und kommt dabei zu dem Schluß, daß jeder von uns einerseits dem andern teilweise ferner wäre als dem Katholizismus, wir umgekehrt jedoch uns im Widerspruch gegen Rom erneut einig würden. Das wird so amüsant und geistreich dargestellt, daß man den dritten Mann gern als Gesprächspartner wie als Gegner in den Streit hineinnimmt, um den ökumenischen Dialog gleichsam auf der menschlichen, nicht-institutionellen Basis, allerdings auch ohne Bandagen taktischer Vorsicht in aller notwendigen Härte privat auszutragen. Vielleicht kann 71
Vgl. Einheit der Schrift, S. 396 f.
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das als Modell dessen dienen, was heute vordringlich neben kirchlicher Strategie auf höchster Ebene zu geschehen hat, nämlich der freien und dreisten theologischen Diskussion der Nonkonformisten, welche die trouble-maker weniger fürchten als die trouble-shooter. Ob alle Wege schließlich in Rom enden werden (S. 198), ist ein Problem der Heils- oder Unheilsgeschichte, dessen Lösung man vorläufig Gott anheimgeben darf. Daß sie sich schon jetzt repräsentativ in Tübingen kreuzen, sei nicht ohne Selbstbewußtsein irenisch und ironisch vermerkt. Meine These vom Frühkatholizismus im Neuen Testament77 nimmt Küng zum Anlaß seiner grundsätzlichen Besinnung über die Kontroverse zwischen Diemund mir. Er versteht sie, ungemein wichtig und für den Katholiken kennzeichnend, nicht wie ich letztlich als christologische Frage, sondern als primär ekklesiologisches Problem (S. 188). Deshalb kann er einerseits meine Aussage aufgreifen, der Kanon bereite in seinem faktischen Bestand die Vielzahl der Konfessionen vor, andererseits aber betonen, daß "die verschiedenen Zeugnisse nicht nur etwa als lehrreiches negatives Kontrastprogramm zum Evangelium, sondern als positiv angemessener Ausdruck und Niederschlag des Evangeliums" von der rezipierenden Kirche verstanden worden sei. Das führt sofort zu der entscheidenden Feststellung, die Konfessionsbildung beruhe statt auf einem umfassenden Verständnis des Kerygmas auf einer Auswahl, welche mit der Kraft der Konzentration die Schwäche der Reduktion auf Kosten des Neuen Testamentes und der dahinter stehenden kirchlichen Einheit verbinde. Verzichtet man grundsätzlich auf "Katholizität", wozu das Neue Testament "zwar Voraussetzung und Anlaß, aber nicht im strengen Sinne Grund und Ursache" bieten möge, wird solches Resultat unvermeidlich. Es liegt auf der Hand, daß damit Diems Kritik anerkannt, jedoch über die Kanonfrage hinaus ausgeweitet wird. Das Problem der Einheit der Schrift wird von vomherein exemplarisch für das der kirchlichen Einheit aufgegriffen (S. 188 f.). WeilDieman dieser Zuspitzung nicht eigentlich interessiert war- ihm ging es um die Verteidigung der sich selbst verkündigenden und durchsetzenden Schrift als der Verleiblichung des Wortes Gottes!-, kann aber meine Position gleichzeitig gegen meinen Kontrahenten dialektisch ausgespielt werden. Das geschieht natürlich nicht von der Formel des Kanon im Kanon her, die als Selektionsprinzip herausgestellt ist, je77 Sie wird notwendig dort bestritten, wo man das Gewicht der nachösterlichen Apokalyptik verkennt. Denn der Frühkatholizismus resultiert neutestamentlich letztlich aus dem Aufhören der Naherwartung, sofern an deren Stelle die Ekklesiologie tritt. Verkennt man dieses Grundmotiv, muß man sich an späteren Symptomen orientieren.
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doch von der andem der "Mitte der Schrift", die Küng sich unbefangen zu eigen macht und gegen Diem verteidigt (S. 191). Damit sind bereits auf den ersten Seiten des Aufsatzes die Fronten deutlich abgesteckt. Sie brauchen nur noch kritisch beleuchtet zu werden, wobei man sich vor Augen zu halten hat, daß im Brennpunkt der Auseinandersetzung das Verhältnis von Christologie, der Lehre vom Worte Gottes in der Schrift und der Ekklesiologie steht und zum mindesten der faktische Primat oder vielleicht besser der hermeneutische Schlüssel in diesem Verhältnis erörtert wird. Die Antwort des Katholiken ist unzweideutig: Diem will zwar das ganze Neue Testament sprechen lassen, muß als Protestant jedoch faktisch die von mir prinzipiell getroffene Auswahl vornehmen, indem er das Frühkatholische im Neuen Testament als Abweg betrachtet (S. 193). Dagegen gilt, daß "katholische Haltung versucht, unvoreingenommen das Neue Testament nach allen Seiten hin emstzunehmen", und selbst einer complexio oppositorum einen guten Sinn abgewinnt (S. 198). Sie erkennt nicht nur Mannigfaltigkeit, sondern aum Gegensätzlidtkeit an, indem sie das Ursprüngliche vom Abgeleiteten unterscheidet und ihm den Vorrang in der Interpretation einräumt (S. 202)18 • Umgekehrt will sie nicht, wie das kühne Programm des Kanons im Kanon es fordert, biblischer sein als die Bibel, neutestamentlicher als das Neue Testament, evangelischer als das Evangelium und sogar paulinischer als Paulus, weil anders Emstnah.me zwar die Absicht, radikale Auflösung aber die Folge ist. "Der wahre Paulus ist der ganze Paulus, und das wahre Neue Testament das ganze Neue Testament" (S. 192). Mir scheint, daß Küng methodisch geschickt, aber unerlaubt das Operationsfeld verengt, indem er nur den Bereich des Frühkatholischen kontroverstheologisch als Absprungsbasis benutzt und daraus exemplarisch Schlüsse für den ganzen Kanon zieht, ebenso geschickt und unerlaubt auf der andem Seite das Verhältnis zur Schrift exemplarism zum Unterscheidungsmerkmal zwischen Kirche und Härese ausweitet. Am Problem der Interpretation des Alten Testamentes und der Anerkennung seiner Apokryphen wäre nachzuprüfen, ob Küngs Rechnung mit dem ganzen Kanon aufgeht und aufgehen kann. Vereinfachend wirkt auch die Unterscheidung zwischen Ursprünglichem und Abgeleitetem. Ursprünglich war ganz gewiß dieurchristliche Apokalyptik, zu welcher die römische Kirche doch ein recht gebrochenes 78 Mit Recht kritisiert Kümmel, Mitte des NT, S. 80-83, diese auch sonst vertretene Position einer differenzierten Einheit. Ein Ventändnis aller Zeugen ist gerade nur dann möglich, wenn mißventändliche und vedälschende Änderungen des Evangeliums auch in der Schrift anerkannt werden (S. 85), und unvermeidlich wird das spätere Zeugnis das frühere bestimmen, wo alle Stimmen zugleich gehört werden sollen (S. 82 f.).
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Kritische Analyse
Verhältnis hat, während umgekehrt die Lehre von der apostolischen Amtsbefugnis und der Kontrolle der Schriftauslegung durch den "Amtsgeist" im 2. Petrushrief kaum sekundäre Bedeutung haben, sondern Schlüsselpositionen anzeigen. Das "großartige Programm" der Katholizität in der Interpretation des Neuen Testamentes, welche das Katholische zum Evangelischen werden läßt (S. 200), zugleich aber alle späteren Zeugnisse aus der inneren sachlichen Nähe zur Mitte des Evangeliums und der Botschaft Jesu Christi verstehen möchte (S. 202 f.), wirkt angesichts des Verlaufs der Kirchengeschichte und der römischen Dogmenbildung auch auf den geneigten Hörer reichlich utopisch. Das faktische Vorhandensein eines Selektionsprinzips und dessen dogmatische Untermauerung springt dem Historiker geradezu in die Augen und kann vom Exegeten auf Schritt und Tritt konstatiert werden, so willig er sein mag, beim Kollegen der anderen Fakultät in die Schule zu gehen. Wenn das Kirche und Härese unterscheidet, gehört wohl keine christliche Kirche stärker auf die letzte Seite als die römische. Anspruch und programmatische Zukunftsmusik decken sich vorerst keineswegs mit vergangener und gegenwärtiger Wirklicllkeit. Freundschaft, Hoffnung und Solidarität werden sich demgegenüber noch auf einige Zeit gerade darin bekunden müssen, daß wir weiterhin protestieren. Ober bestimmte Fragen kann man sich einigen. Beispielsweise protestiere ich keineswegs gegen das Frühkatholische im Neuen Testament schlechthin (gegen S. 199). Im Gegenteil erkenne ich als Historiker wie als Theologe dessen Symptome in der Einführung der Ordination, des Presbyteriums, des monarchischen Episkopats und selbst der Lehrkontrolle aus der konkreten Verkündigungssituation im Sinne Diems als notwendig, verständig und also geistgewirkt dunhaus an. Das zeigt, daß mir an einem doktrinären Purismus nicht im mindesten gelegen ist, die größtmögliche Variationsbreite unentbehrlich erscheint und die Formel "Selektionsprinzip" mich nicht letztlich trifft. Unerträglich ist mir als Theologen jede historisdi leicht zu entlarvende Legitimitätstheorie in der kirchlichen Ordnung, welche das einst Erforderliche für alle Zeiten verbindlich macht, und jeder systematische Entwurf, welcher der Verkündigung die entscheidende Beziehung zur Rechtfertigungsbotschaft und zum gekreuzigten Nazarener raubt, nicht mehr und nicht weniger. Küng müßte dem eigentlich zustimmen, so daß jedenfalls hier ein Mißverständnis zu einem Scheingefecht zu führen scheint. Jene "Option", von der er spricht, ist hoffentlich auch die seinige, "subjektiv" mag die Stellungnahme zum Detail sein, nicht aber die Grundhaltung, die er teilt, wenn er ebenfalls eine Mitte der Schrift kennt und alles Spätere als Interpretation der Botschaft Jesu begriffen wissen möchte (gegen
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S. 191). "Entscheidung vor aller Exegese" (ebd.) ist zu billig. Wer wird leugnen, daß er stets in einer ihn bestimmenden Tradition steht, also in gewisser Hinsicht voreingenommen ist? Daß mich möglichste Unbefangenheit in der Exegese zur ständigen Korrektur der eigenen Tradition treibt, werden auch Gegner mir kaum absprechen. Dem Protestanten wird es als Subjektivismus in Reinkultur erscheinen, wenn die höchste Lehrgewalt in der Gesamtkirche einem Einzelnen vorbehalten ist, und wie gehemmt katholische Exegese noch immer unter dogmatischen Vorentscheidungen arbeitet, braucht wahrhaftig nicht erörtert zu werden. Polemik mit solchen Formulierungen ist ein Bumerang. Das Zentrum unseres Streites wird sichtbar, wenn Küng von der "Mitte des Evangeliums" spricht (S. 191), wo ich die Mitte der Schrift herausstelle. Das dürfte kein Iapsus linguae sein, sondern macht, brutal gesagt, klar, daß die kirchliche Tradition in der ganzen Schrift das Evangelium bildet, in welcher es natürlich eine Mitte, etwas Ursprüngliches oder Abgeleitetes gibt. Der hermeneutische Vorrang der Ekklesiologie wird so deutlich, er stellt das katholische Interpretationsprinzip und in der Folge davon auch ein faktisches Selektionsprinzip dar, das allerdings "nur der Katholik" ernstnehmen kann, obgleich ökumenisch79 und protestantisch80 solche Betrachtungsweise auf dem Vormarsch ist. Nur hier kann das grundlegende Problem denn auch in der Antithese von tota scriptura und "Auswahl" erblickt werden, in welcher das Korrektiv zum Konstitutiv gemacht wird (S. 199), obgleich auch diese Anschauung ökumenisch und protestantisch sich wachsender Beliebtheit erfreut. Endlich werden so Küngs Fragen sinnvoll, warum ich "nur diese und andere Texte nicht als ,Evangelium' zu hören vermag" (S. 191), inwiefern ich Unterscheidung der Geister auch gegenüber der Schrift übe, die Paulus selbst nie auf das Alte Testament angewandt habe (S. 190), ob das Programm des "Kanon im Kanon" nicht eine subjektive und mehr oder weniger willkürliche Radikalisierung sei, das mit der Konzentration beginne, aber in der totalen Auflösung ende. Es wäre reizvoll, den Wurzeln dieser Antithese zwischen dem Katholischen als dem Ganzen und der Härese in der neueren Geistesgeschichte nachzugehen und die Romantik als gewichtigen Faktor dafür herauszustellen. Ganz davon abgesehen, daß dem Katholizismus die71 Vgl. den Beitrag von C. F. Dodd in: Der Weg von der Bibel zur Welt. Berimt von zwei ökumenismen Studientagungen, hrsg. von der Studienabteilung Okumenischer Rat der Kirchen, Zürim 1948, S. 15--20: Wechselwirkung von Bibel und Kirche, dem "Treffpunkt der ewigen Idee ... mit der gesc:himtlimen Wirklichkeit" (S. 17). • Vgl. K. E. Skydsgaard, Schrift und Tradition, Kerygma und Dogma 1 (1955), S. 161-179, wo die Schrift als "Urzeuge der Tradition" gesehen ist.
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Kritisdte Analyse
ser Anspruch schlechterdings nicht abgenommen werden kann, so selbstverständlich er vorgetragen wird, habe ich gegen die Losung tota scriptura durchaus nichts als solche, weil ich aus historischen und theologischen Gründen, wie schon früher gesagt, die prinzipielle Abgeschlossenheit des Kanons bei aller faktischen Offenheit als verbindlich anerkenne. Infolgedessen kann es mir nicht um die Herauslösung von Teilen gehen, obgleich nirgendwo und nirgendwann in der Christenheit faktisch solche Teile nicht betont oder vernachlässigt worden sind. Mein Thema ist nicht: das Ganze und seine Teile, auch wenn der Katholik es von seinem Traditionsgedanken her so sieht und vielleicht sehen muß. Mein Thema ist die Frage nach der rechten Interpretation des Ganzen. Dem dient die Parole der Unterscheidung der Geister, die Paulus übrigens unter den Stichworten "Geist und Buchstabe" durchaus auf das Alte Testament angewandt hat. Kanon im Kanon meint nicht Ausscheidung, sondern Kriterium der Auslegung. Darauf kann auch Küng nicht verzichten, wie seine Losung vom ganzen Neuen Testament als dem Evangelium, wenngleich unter verschiedenen Akzenten und Wertungen, beweist. Tota scriptura richtet sich primär nicht bloß auf den Umfang. Dann hätte von den Apokryphen gesprochen werden müssen. Es ist primär eine hermeneutische Devise. Genau so wenig bin ich wesentlich am Umfang interessiert. Die Gültigkeit des Akzeptierten hat für mich sogar theologisdles Gewicht. Auch mein Anliegen ist primär die hermeneutische Frage, also die Auslegung der ganzen Schrift in ihrer mir vorgegebenen und von mir nicht bestrittenen Gestalt. Die hermeneutische Devise kann freilich für mim nicht lauten: tota scriptura. Denn gerade das ist problematisch und macht eine Hermeneutik erforderlich, sofern nicht von vornherein die kirchliche Tradition als solche diese Devise deckt und mit Ursprünglichkeit, Apostolizität oder andern Schlagworten rechtfertigt. Die complexio oppositoru.m. bereits in der Schrift läßt die Losung tota scriptura zu einer hermeneutisch und kontroverstheologisch antithetischen Parole werden, und diese Antithetik ruft den Protestanten auf den Plan. Er muß allerdings präzis wissen, was er glauben soll, kann und darf, und verläßt sich dafür nicht auf die Kirche. Denn er sieht im Neuen Testament wie in der Kirchengeschichte, daß die Kirche immer wieder das Gegensätzliche toleriert hat, sofern sie nicht selbst in Frage gestellt wurde, und er hört aus dem Neuen Testament, daß Christus und Gottes Wort, aus der Kirchengeschimte, daß die Schrift die Kirche stets neu wie zum Gegenstand, Träger und Raum der Verkündigung, so auch zum Gegenstand, Raum und vornehmsten Empfänger ihres Gerichtes machen, also im Gegenüber zur kirchlichen Tradition und Gemeindefrömmigkeit wie Lehramt bleiben. Das eben wird hermeneutisch und ebenfalls antithetisch in den
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Formeln festgehalten: Sola scriptura, solo verbo, sola fide, solus Christus. Selbst die räumliche Nähe, persönliche Freundschaft und Solidarität im Erneuerungswillen haben nicht vermocht, uns in den Grundfragen seit der Reformation entscheidend weiterzubringen. Wir stehen noch immer im Anfang der Diskussion, und eine weitgehende Integration der Reformation in den Katholizismus wäre nichts als eine typisch katholische Reform und für uns viel bedrohlicher als katholischer Konservativismus, solange man den Streit grundlegend nur um die Ekklesiologie gehen läßt, während über Christologie und Rechtfertigungslehre bereits weitgehende Einigkeit besteht. Gewiß muß man mit Einzelfragen beginnen und legt sich dann die Ekklesiologie als Kontroversthema besonders nahe. Doch sollte man sich darüber klar sein, daß jede Einzelfrage eine Antwort aus dem Zentrum heraus verlangt, wenn diese wirklich befriedigen soll. Man darf in der Kontroverstheologie am wenigsten zunächst isolieren und dann addieren. Dabei ist heute durchaus fraglich, ob die Auseinandersetzung sich primär um Wesen und Gestalt der Kirche zu drehen hat, wie es Jahrhunderte lang der Fall gewesen ist und sich Rom gegenüber natürlich besonders nahelegt. Wenn der Katholizismus heute im Zeichen einer ungestümen Reform steht, so haben wir ebenfalls eine Entwicklung durchlaufen, von der man nicht abstrahieren kann. Dabei ist die römische Lehre von der Kirche einerseits das Schreckbild schlechthin gewesen, andererseits jedoch Anstoß zu Sehnsüchten, Programmen, Einsidtten in eigene Mängel geworden. Die Ekklesiologie drängt sich zunehmend, wenngleich in verschiedenen Formen, bei uns in den dogmatischen Vordergrund. Es könnte deshalb geboten ~ein, nach beiden Seiten hin auf der Hut zu sein und nicht zu bereitwillig sich auf das katholische Angebot einzulassen. WasDiemund mich in Wirklichkeit zutiefst eint, ist die Überzeugung, daß nach wie vor letzte Entscheidungen gerade nicht auf dem Felde der Ekklesiologie fallen und dort primär gesucht werden müssen, so gewiß sie sich dort auswirken. Geht es Diem um das in der Sdtrift gegenüber der Kirche sich durchsetzende Wort Gottes, so mir um eine Christologie, die sich nicht einfach in Ekklesiologie integrieren läßt. Es ist im gegenwärtigen Protestantismus und erst recht in der Ökumene nicht mehr ausgemacht, "was Christum treibet", und allein verdient, Evangelium genannt zu werden. Das Problem des Frühkatholizismus im Neuen Testament hätte Anlaß bieten können, sich darauf zu besinnen. Das hat Küng nicht getan. Wenn ich die Rechtfertigungsbotschaft zum Kanon im Kanon und folglich auch zum Maß des Frühkatholizismus mache, wird damit die ganze Schrift nicht verleugnet, geschweige daß ein Reduktions- oder sogar Selek-
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KritischeAnalyse
tionsprinzip aufgestellt würde. Es wird jedoch behauptet, daß die ganze Schrift uns nicht im mindesten nützt, sofern sie nicht überall und in größter Variationsbreite, also etwa bis in die Fragen kirchlicher Ordnung hinein, auf die Rechtfertigung der Gottlosen statt auf die Erziehung der Frommen bezogen wird. Das muß ich aber behaupten, weil nur so, und zwar in theologischer Reflexion, die Schrift auf den bezogen bleibt, der um der Gottlosen willen gekreuzigt wurde. Denn es würde auch nichts nützen, daß alle Welt sich für Christus erklärte und auf ihn ausgerichtet sein möchte, wenn dabei an den Lehrer des neuen Gesetzes oder den Kultgott oder den Fantokrator gedacht würde, der Sünder Geselle und der Gekreuzigte darüber aber in den Schatten geriete. Tota scriptura kann solus Christus meinen, dieses solus Christus aber ebenso in der kirchlichen Tradition aufgehen lassen. Bei Küng habe ich nicht vernommen, daß er diese Alternative kennt, akzeptiert, als unser zentrales Anliegen begreift. Er scheint nun eben doch noch einmal beides verbinden zu wollen, ohne aus der Kirchengeschichte wie den konfessionellen Dogmatiken und schließlich sogar dem Neuen Testament und dem Frühkatholizismus zu entnehmen, daß genau das nicht möglich ist. Sein Aufsatz stößt deshalb nach meinem Verständnis im entscheidenden am Gegner vorbei. In der Ekklesiologie könnten wir uns sehr viel näher stehen, als es der Fall zu sein scheint. Das würde ich P. Lengsfeld gegenüber nicht sagen, selbst wenn man berücksichtigt, daß sein Buch noch vor dem römischen Konzil und vor Küngs Aufsatz erschien. Auch er macht deutlich, daß sich die Fronten lockern. Doch geschieht das bei ihm offenkundig im Zuge innerkatholischer Regeneration, welche Assimilation und Selbstkritik unter heilsgeschichtlichem Aspekt (S. 213, 215) zur Stärkung der eigenen Konfession nutzt. Auf seine These, der Schriftenkanon sei stets das katholische Argument gegen das Sola Scriptura gewesen81 , ihre Prämissen und Konsequenzen, vor allem ihr grundlegendes Mißverständnis der reformatorischen Losung, ist indirekt Ebelings Aufsatz eine erschöpfende Antwort. Es genügt, die vergleichende Lektüre zu empfehlen und hier nur den Zusammenhang der abgedruckten Ausführungen Lengsfelds kritisch herauszustellen. Für einen gewissen Trend nicht nur in der katholischen, sondern auch in der ökumenischen Diskussion ist charakteristisch, daß man weithin die Einzelergebnisse der formgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament aufs heftigste diskriminiert, erstaunlich naiv jedoch die vermeintliche Sumst P. Le7J8Sfeld, Oberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart (Konfessionskundliche und kontroventheologische Studien 3), 1960, S. 102.
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me sich zu eigen macht: Kirchliche Oberlieferung geht der Schrift von Anfang an voraus. Die historische Feststellung läßt sich in eine eindeutig dogmatische allein dann umwandeln (S. 214)8!, wenn man pauschal urteilt und vom Konkreten absieht. Denn zunächst besagt sie nicht mehr, als daß das Kerygma die Schrift wie die Urkirche bestimmt, in einem Unterweisung, Lehre, Prophetie, Paränese umfassenden Sinne also die Predigt, die viva vox evangelii. Weil es sich so verhält, ist der Traditionsprozeß wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß er anonym, also nicht unter dem Gesichtspunkt apostolischer Authentie oder Garantie (S. 206, 214) 83 , die sehr verschiedenen Auffassungen noch nicht gesamtkirchlich verbundener Gemeinden spiegelnd, darum durchaus unorganisch und unharmonisch mannigfache Interessen und Widersprüchliches dokumentierend und schließlich das jeweils Aufgenommene nach der Situation unbefangen verändernd oder bewußt kritisierend verläuft. Das ist gewiß Tradition. Wem das Wort als solches Freude macht, soll es unterstreichen. Gewonnen ist damit nicht viel mehr, als daß die Christenheit verkündigen mußte und dabei auf ältere Verkündigung zurückgriff, wie es schon Jesus getan hatte- in erstaunlicher Freiheit. Von "göttlich-apostolischer Paradosis" zu sprechen (S. 207 u. ö.) 84 , sei niemandem verwehrt, der es genau zu wissen vermeint und erbauliche Formeln anzubringen liebt. Auf nüchterne Exegese kann er sich dafür nicht berufen. Woher immer er illuminiert ist, die wissenschaftliche Forschung hat dazu nicht beigetragen. Die von ihm postulierte Gemeinsamkeit "hinsichtlich der grundsätzlichen Bedeutung der Tradition für die Schriftauslegung" ist ein Wunschbild von suggestiver Kraft, aber ohne Realität, solange über die Merkmale dieser Tradition und ihre tiefe Unterschiedenheil zur gegenwärtig geltenden nicht verhandelt wurde. Natürlich ist die Schrift ein Buch der Kirche. Daß sie jedoch "nur in der Kirche sachgemäß gelesen und verstanden werden" kann85 , mag zwar aus dem Postulat der göttlich-apostolischen Paradosis folgen, sofern es Inspiration beim Schreiber und Hörer voraussetzt, ist aber einfach nicht wahr. Die Forschung würde anders an Ketten gelegt, und exegetische Ausbildung würde dann zweckmäßiger den Priesterseminaren als der Universität überlassen. Konsequenz ist Lengsfeld nicht abzusprechen, wie denn häufig die Logik die Theologie in den Schatten gedrängt hat und Spekulation einleuchtend werden ließ. Genetische und gewissermaßen ontologische Unterschiedenheit hebt die große Einheit zwischen dem apostolisch verfaßten Gotteswort und dem kirchlich verfaßten Auslegungswort notwendig nicht auf, wenn der gleiche Heilige Geist beides ver81
II
Vgl. ebd. S. 103, 250 f. Ebd. S. 251 f.
a Vgl. ebd. S. 128.
" Vgl. ebd. S. 128,250 f.
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Kritisme Analyse
bürgt, die Kirdie durchweht und ihre Dogmenbildung leitet. Wenn protestantische Interpretation das nicht anerkennt, bleibt ihr einzig das bonum derelictum des zufällig und kommentarlos überlieferten ehemaligen Gotteshandeins übrig. Mögen einzelne unbewußt dem Zeugnis und den Prinzipien der katholischen Kirche und Theologie folgen, im ganzen kann sie keine widerspruchsfrei begründete Rechenschaft über ihre Auslegung ablegen 86 • Solche Sätze können zweifellos zuversichtlicher gewagt werden, wenn die einseitige "Verbaltradition" von der "Realtradition" nicht nur des kirchlichen Glaubensbewußtseins, sondern der Kirche selber als der lebenden und währenden Tradition Christi in seinem mystischen Leibe umschlossen wird (S. 216, 218) 87 • Man kann dann sogar ablehnen, daß es in solcher Kirche nur zu einem Gespräch mit sich selbst komme, und die "Gegenüber-Ständlichkeit" in der "Rück-Besinnung auf ihren Ursprung" betonen (S. 207, vgl. 210), auf die ihr von einem andern gegebene Offenbarung, welche nicht ununterscheidbar in ihrem Glaubensbewußtsein aufgeht (S. 206 f.). Logisch ist das alles schon. Man vermißt nur den Blick auf die Wirklichkeit, an welcher sich schließlich auch eine Logik bewähren muß. Die Forderung widerspruchsfrei begründeter Rechenschaft über das eigene Tun wirkt in Wissenschaft und Praxis des 20. Jahrhunderts nicht einmal mehr provokativ, sondern nur absurd. Man mag Theologie, die das verspricht, um ihres Muteswillen bewundern. Allein um dieses Versprechens und dieser Forderungwillen würde ich ihr in allen Stücken mißtrauen. Wie oberflächlich oder dogmatisch müssen die Nöte gesehen werden, die auch katholische Exegeten quälen. Wie schnell muß man überall die schrecklichen Verirrungen einer Geschichte hinwegkommen, in welcher Menschen und Gemeinschaften immer wieder im Namen Christi vergewaltigt, gefoltert, gemordet worden sind. Wie glücklich ist der, der die vielen Traditionen und Kommentare des Protestantismus zum ehemaligen und gegenwärtigen Gotteshandeln nicht zu studieren braucht, weil es sie für ihn einfach nicht gibt, aber auch von dem Aufstand der Theologen, PrieEbd. S. 252. Vgl. ebd. S. 253. Lengsfeld hat das Verhältnis beider (ebd. S. 67-70, 209-213) dahin interpretiert, daß die "Realtradition" durch die" Verbaltradition" begründet wird und die letzte "Norm und Maß" für alle kirchlichen Entscheidungen bleibt, beide also nimt getrennt werden dürfen. Ein reformatorischer Protestantismus wird sim durch solme, sogar e:ristentialistism verdeutlichten Erklärungen nicht beruhigt fühlen. Wenn der Gottmensd! als der eigentliche Verkündiger bezeimnet, der Predigt "quasi-sakramentale" Wirksamkeit zugebilligt und (ebd. S. 211 f.) die Formel geprägt wird: "realitas a Patre- verbalitas a Filio- traditio in Spiritu", verbirgt sim darin die alte Lehre von der Inkorporation Christi in der Kirche und vom Christus prolongatus, der wir antithetism und exklusiv die fidcs cx auditu entgegenzusetzen haben. 88 87
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ster und Laien im eigenen Lager unangefochten geblieben ist. Man sollte meinen, Bibel, göttlich-apostolische Paradosis, der "Glaubensstrom der Kirche" fänden hier ihren Kontext, den keine Interpretation und Dogmatik vernachlässigen dürften, wenn sie glaubwürdig sein wollten. Das Gegenüber, das festgestellt wird, führt jedenfalls, was sonst es bewirken mag, aus lntrovertiertheit und Farbenblindheit nicht hinaus. Das aber ist das Schlimmste, was man heute über eine Kirche und Theologie überhaupt sagen kann. Das bedeutet nicht, daß es uns im Protestantismus besser ginge. Es bedeutet jedoch, daß über alle konfessionellen Gegensätze hinweg gegenseitige Verständigung und Hilfe in der Gemeinschaft der Beunruhigten beginnen könnten und müßten und wahrhaft göttliche Erleuchtung immer nur auf dem Felde der Verlegenheiten erfolgt. Wer sich nicht hier einfindet, diskreditiert alle, die sich Christen nennen. Daß der Doketismus, der zu viel vom Göttlichen und zu wenig vom Irdischen und Menschlichen weiß, stets die größte Versuchung der Kirche und das sicherste Mittel zur Fehlinterpretation der Bibel war, sollte uns endlich überall beschäftigen und auch unsere Besinnung über den Kanon, die Tradition und die Kirche bestimmen. Doch wird es damit wohl noch eine Weile dauern. Daß Lengsfeld nach wie vor katholische Anschauung im allgemeinen repräsentiert, wird man ebenfalls dem eingangs (S. 9, Anm.) zitierten Buche N. Appels über "Kanon und Kirche" entnehmen, das hier wenigstens kurz gestreift werden soll. Denn in ihm führt die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus zu einer Verschärfung selbst der Formulierungen, die sogar ein gemeinsames Gespräm sinnlos werden läßt88 • Die exegetische Problematik spielt überhaupt keine Rolle. Die Dogmatik definiert, was war und ist und bleiben wird. Kontroverstheologie schafft den Hintergrund für die Feststellung, daß das reformatorische Erleben des Christentums "durch das Fehlbare, das Katholische durch das Unfehlbare" bestimmt wird89, sofern dem Christus solus dank der Inkarnation der Christus totus entgegenzusetzen ist90 und das Selbstbewußtsein der Kirche "schließlich das Selbstbewußtsein des ganzen Christus", deshalb letzte Norm ist91 • "Das wahre Verständnis der Heiligen Schrift ist dem charismatischen Gesamtsinn der Kirche geschenkt" 92 , der als Produkt eines bereits im Neuen Testament beginnenden Wachstums dessen letzte Phase bildet93, fides implicita als persönliche Teilhabe am Glauben des Leibes 88 Vgl. dazu die Besprechungen von W. Mansen, ThLZ 92 (1967), Sp. 604-606; W. G. Kümmel, Mitte des NT, S. 80, denen ich leider uneingeschränkt zustimmen muß.
81 '1
Appel, Kanon und Kirche, S. 330. Ebd. S. 575. ts Ebd. S. 361 f.
" Ebd. S. 555.
11
Ebd. S. 576
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Kritische Analyse
Christi erfordert" und so mehr "als einen bloß menschlichen Glauben" bewirkt95 , nämlidl den absoluten Gehorsam gegenüber dem im authentischen kirchlidlen Bekenntnis konkret begegnenden testimonium Spiritus Sancti96 • Entscheidender Inhalt der kirchlidlen Glaubensgewißheit wird dann "die besondere Führung des Heiligen Geistes" sein97 und damit die successio apostolica98 , mit welcher die Urkirdle als criterium canonicitatis und regula fidei für die Kirche aller Zeiten akzeptiert ist91 • Den Dialog mit solcher Position haben die katholischen Exegeten zu führen, wenn sie nicht verurteilt sein wollen, dafür nadlträglidl die biblische Begründung zu liefern und am Detail zu entfalten, was die Kirche ohnehin bereits weiß. Beides dürfte ein undankbares Geschäft sein, und jedes Ausscheren aus dem festgelegten Kurs muß nicht bloß mit der Kirche, sondern auch dem hier beansprudlten Heiligen Geist in Konflikt bringen, in einen armseligen menschlidlen Glauben zurücksinken lassen. Der Protestantismus aber sollte sicl:t nicht scheuen, dieser Vergötzung der Kirche entschlossen zu widerstehen und beim bloß menschlichen Glauben zu bleiben, welches Risiko damit verbunden sein mag. Es ist schon viel gewonnen, wenn klar wurde, wozu man von Anfang bis Ende schlicht neinzusagen hat, und der Zug durch die Wüste selbst der Bibelkritik ist angesichts der Fleischtöpfe Ägyptens unter allen Umständen fortzusetzen, wie viele dabei auch fallen. Die radikal-historische Kritik am Neuen Testament hat zum mindesten das Verdienst, diesem Ruf auch in den letzten Jahren gefolgt zu sein. Sie hat sich nochmals erheblich radikalisiert, wie die beiden folgenden Aufsätze beweisen. Die Uneinheitlichkeit und Gegensätzlichkeit neutestamentlicher Theologie in allen wesentlichen Themen wird von H. Braun als so selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Beweis dafür kaum noch geführt zu werden braucht (S. 223 ff.). Weil sie bereits im 1. Jahrhundert auftauchen, verfängt auch das Argument der zeitlichen Nähe zum ursprünglichen Christusgeschehen nicht mehr, ist der "genuine Ansatz" bereits damals von seiner Nivellierung her ausgelegt worden. Die Forderung eines Kanons im Kanon ist unabweisbar (S. 227). Sie wird freilich unter die problematische Devise gestellt, daß jeder, wenngleich auf andere hörend, den eigenen Weg zu gehen habe (S. 223), und sie meint jetzt tatsächlich einen Ausscheidungsprozeß: Es kommt auf jene drei großen Blöcke im Kanon an, welche durch die Namen Jesus, Paulus, Johannes gekennzeichnet sind. Ihre Einheit liegt "beschlossen in der Art und Weise, .. Ebd. S. 359. Ebd. S. 225.
18
" Ebd. S. 109, 118 f. " Ebd. S. 225, 227.
" Ebd. S. 120.
17
Ebd. S. 109.
Kritische Analyse
wie der Mensd::J. in seiner Lage vor Gott gesehen ist" (S. 228). "Der radikal geforderte und in Frage gestellte als der im Jesus-Gesd::J.ehen radikal gehaltene Mensch, und zwar nicht im Sinne einer Idee oder Lehre, sondern als Ereignis, das ist das neutestamentliche Grundphänomen, der Kanon im Kanon, von dem her rechte Kanonizität zu messen und zu beurteilen ist" (S. 229). Während die urchristlid::J.e Eschatologie in ihren verschiedenen Gestalten die "Andringlichkeit der Forderung und die Radikalität der Befreiung" ausdrückt, sind die Christologie und die Sakramente die "variable Verschlüsselung für das extra nos, für das transpsychologisd::J.e Woher dieses Befreiungsgeschehens" (S. 230). Für den Kanon als solchen folgt daraus, daß alles an dieser seiner Mitte, dem nur in ihm gegebenen Grundphänomen hängt, welches religionsgeschichtlich nicht verrechenbar ist und von der die Schriften sammelnden Kirche kaum begriffen wurde. Man respektiert ihn am meisten, wenn man sich für ihn als formale Größe und für seine Abgrenzung nur relativ interessiert, dafür jedod::J. leidenschaftlich auf die in seiner Grundtendenz liegende Freiheit achtet (S. 229-232). Braun scheint auf den ersten Blick meine Thesen zu variieren und zuzuspitzen. So habe ich deutlich zu machen, wo unsere Wege sid::J. trennen und Weichen anders gestellt werden. Exegetisch vermag ich nid::J.t die drei Grundblöcke, sei es auch nur nach ihrer Grundtendenz, derart aus dem übrigen Neuen Testament herauszuheben, wie das bei Braun geschieht. Ihre Verkündigung unterscheidet sie voneinander nach der Sache wie der Sprache, was natürlich nicht bedeutet, daß sie theologisd::J. nicht Entscheidendes gemeinsam hätten. Doch ist ihre Variabilität in der Anthropologie nicht geringer als in ihrer sonstigen Thematik, und das sie untereinander Verbindende findet sich auch anderswo im Neuen Testament. Was im "Mitte der Schrift" nenne, läßt sich nicht auf literarisd::J.e Komplexe verengen und in einem Reduktionsprozeß gewinnen, obgleich es sich weithin nur andeutungsweise ausgesprochen findet, in bestimmten Schriften kaum von Belang ist oder sogar durch ein anderes Zentrum ersetzt wird. Aus später noch anzugebenden Gründen habe ich nicht bloß ein relatives Interesse am Kanon im ganzen und seiner Abgrenzung, sondern messe dem selbst dogmatisches Gewicht bei. Dem entspricht auf der andern Seite, daß "Kanon im Kanon" bei uns etwas Verschiedenes meint. Der von Braun anvisierte anthropologische Sachverhalt kann auch von mir nicht übersehen werden. Doch akzeptiere ich ihn nur als Ergebnis der christlid::J.en Botschaft, nicht als ihr "Grundphänomen". Erneut sei festgestellt, daß Formeln wie "Jesusgeschehen" für mich Chiffren sind, die mir als Theologen nichts sagen, wenngleich ich begreife, daß damit etwas sonst nicht
Kritisdte Analyse
Ableitbares mit dem Nazarener zusammengebracht wird. Gerade der Theologe hat hier auf Präzision und Definition zu bestehen, weil alle möglichen Leute alles Mögliche mit diesem Nazarener verbinden, was nach ihrer Meinung nirgendwo so gefunden werden kann, und das bereits im Neuen Testament selbst geschieht. Der Versuch Brauns, das Entscheidende zu sagen, befriedigt mich. nicht, weil das, jedenfalls in dieser Formulierung und entgegen der ausdrücklichen Versicherung des Kontrahenten, auch anderweitig abzuleiten ist, die Beziehung auf das Jesusgeschehen also letztlich unklar bleibt. Von Sokratcs würde ich ebenfalls als einem radikal geforderten und in Frage gestellten wie radikal gehaltenen Menschen sprechen müssen, wenn ich etwa an Platos Apologie denke. Auch dort geht es nicht bloß um eine Idee oder Lehre, sondern um ein erstaunliches, durch Leben und Sterben bewährtes Ereignis, auch dort um eine gehörte Gottesstimme, die freilich nicht im Jesusgeschehen, sondern in Deiphi laut wurde. Das Hören einer solchen Gottesstimme mit dem gleichen anthropologischen Effekt möchte ich mancherlei jüdischen und hellenistischen Zeugnissen entnehmen. Das besagt nicht, daß es sich bei Jesus nicht ähnlich verhalten könnte. Seine Unvergleichlichkeit würde damit aber so wenig dargetan, wie wenn die Urchristenheit ihn als Wundermann oder als Gottessohn bezeichnete. Daß Braun dies mit dem Jesusgeschchen verbindet, ist nicht ohne Bedeutung, sondern Auswirkung des Evangeliums, leider aber theologisch unzureichend. Die Formulierung gefällt mir auch in anderer Hinsicht nicht. Ist es bloß ein Versehen, daß die Forderung und die Fragwürdigkeit der Existenz dem radikalen Gehaltensein vorangestellt werden, ist es eine Reminiszenz an die Reihenfolge in Luthers Kleinem Katechismus oder bedeutet es schließlich, daß Jesus selber zutiefst als Verschärfer der Tora betrachtet wird, der solche Funktion paradoxerweise jedoch mit dem Zuspruch der Gnade verband, sofern man der Unerbittlichkeit seiner Forderung und der Fragwürdigkeit des eigenen Seins innewurde? Unmißverständlich wird im Neuen Testament die Reihenfolge umgekehrt, und zwar im Widerspruch zur Botschaft des Täufers und bestimmter jüdischer Kreise. Schließlich verstehe ich nicht, was mit dem Hinweis auf das Ereignis gewonnen ist. Es gibt doch auch fatale Ereignisse und Proklamationen selbst in der Gestalt christlicher und ihre Hörer faszinierender Predigten, während andererseits etwa nach den Synoptikern Jesu Lehre durchaus Ereignisse bewirkte und die apostolische wie kirchliche Lehre sich stets als wirksames Tun verstand. Ereignis ist in weltweitem Sinne und für Millionen persönlich entscheidend schließlich die marxistische Ideologie genau so geworden wie für andere das Evangelium. Brauns Aversion gegen die Lehre begreife ich nicht, weil er auf der andern Seite auch
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nicht den liberalen Enthusiasmus des Herzensglaubens akzeptiert (S. 222). Auf der Hand liegt, daß systematische Erwägungen ihn treiben, wenn er sein Kriterium bestimmt oder die drei Blöcke aus dem Neuen Testament aussondert. Nicht weniger äußert sich dabei persönliche religiöse Erfahrung, und zwar ausschlaggebend. Faßt man all diese Einwände aufs schärfste zusammen, ist zu fragen, wo und wie Braun sich von christlicher Mystik abgrenzt. Die Terminologie vom radikalen Leben unter der Forderung, in der Fragwürdigkeit, aus dem Gehaltensein dürfte sich unschwer bei Meister Eckehart wiederfinden lassen, ebenso die Defmition Gottes als des Woher und Wozu der Existenz, die implizite Christologie gegenüber der expliziten Anthropologie, die Unschärfe der dogmatischen Aussage, das Desinteresse an der nicht existentiell vernommenen Schrift und die Kritik an der Gemeindefrömmigkeit und herkömmlichen systematischen Lehre aus der persönlichen religiösen Erfahrung heraus. Hier hat jeder tatsächlich seinen eigenen Weg zu gehen, und modern führt das über die radikale historische Kritik, in welcher sich alles bis auf die Botschaft von der "gehaltenen Existenz" für den Extremisten aufgelöst hat. Ein anderes Extrem vertritt W. Marxsen. Auch er spricht in einer für die Zeit nach der Aufklärung typischen Weise aus der Erfahrung des Einzelnen, der nun allerdings in der Gestalt des exegetischen Spezialisten gesehen werden will und muß. Er selber hat diesen Aspekt in dem Aufsatz "Der Exeget als Theologe" 100, der dem Sammelband101 seinen Titel gab, nachdrücklich herausgestellt. Als Theologe kann und darf der Exeget "nicht die Dogmatik in seine exegetische Arbeit hineinnehmen; er kann und darf das gerade um des Dogmatikerswillen nicht. Dieser muß ja alles Interesse daran haben, eine undogmatische Exegese vorzufmden. Er kann die Normativität der Schrift ja nur dann aus der Schrift erheben, wenn sie nicht schon Voraussetzung der Exegese war", und beschäftigt sich mit der Verbindlichkeit der Vergangenheit, nachdem der Ubersetzungsprozeß geleistet worden ist102 . Solche Prämisse hat weitreichende Konsequenzen. Sie läßt den Exegeten einerseits gegen das Postulat des Kanons im Kanon als Leitbild der Interpretation protestieren, andererseits von den Ergebnissen seiner Arbeit her fragen, ob es eine Lehre von der Schrift im traditionellen Sinne als einer dauernd gültigen Norm 101 Zuent endrienen in: Wort und Dienst. Jahrbuch der Theologisdlen Schule Bethel, 1959, S. 147-158. 111 W. Mansen, Der Exeget als Theologe. Vorträge zum Neuen Testament, 1968. Dort S. 104-114. •• Ebd. S. 106.
2S Kilc:mann, Kanon
KritischeAnalyse
außerhalb des römischen Katholizismus überhaupt nodt geben kann. Marxsen bestreitet das und stellt dem gleich die eigene Position entgegen: Man darf das Neue Testament nidtt überspringen. Verlegt man jedoch die Norm in die Schrift, statt sie bei Jesus zu suchen, hat man den Ort der Offenbarung in die neutestamentlich beginnende Dogmengeschichte verlegt103. Diese Äußerungen sind so gewichtig, daß man sie der Analyse des abgedruckten Aufsatzes voranschicken muß. Von ihnen her ergibt sich, wie der Exeget das Problem des Kanons einzig zu sehen und für sich zu lösen vermag. Eingesetzt wird bei einer harten Alternative: Wurde das Urteil über die Kanonizität von außen an die neutestamentlichen Schriften herangetragen, nidtt in ihnen schon angelegt, so ist es auch nicht an ihnen kontrollierbar, hat der Exeget zum Thema nichts mehr zu sagen, verführt es ihn nur zu unsachgemäßen Vorurteilen. Im andern Falle wird er beim Vollzug seiner Arbeit darauf stoßen, ohne sich viel darum zu kümmern, wer Kanonizität endgültig ausgesprochen hat. Dann wird er, das gängige Vorverständnis aufs Spiel setzend, seinen Anteil zur eindeutigen Bestimmung des Begrüfes beizutragen haben. Er tut es schon, indem er defmiert, daß es bei Kanonizität um das Problem der Übertragbarkeit von Autorität geht (S. 236). Er stellt weiter fest, daß bei vielen Schriften dieses Problem überhaupt noch nicht in den Blick kommt, weil es sich in ihnen nur
um vergangene Situationen ehemaliger Gemeinden handelt. Erst am Rande des Kanons meldet sich, je weiter der Empfängerkreis wird, die Frage als brennend (S. 236 f.). Die dritte bedeutsame Aussage behauptet, daß dem vorgegebenen Text nicht als soldtem dauernde und normative Autorität zugekommen ist, sondern nur sofern er der Verkündigung diente. Mansen nennt das potentielle Kanonizität (S. 238 f.). Die urchristliche Entwicklung wird nun unter das Leitmotiv der "Beziehungsbögen" gestellt, die von dem Ältesten als dem nicht weiter Reduzierbaren ausgehen und immer größere Entfernungen im chronologischen und sachlichen Sinne überspannen. Unaufgebbare und unwandelbare Norm, also der eigentliche Kanon, ist allein der Herr, weil von ihm alle Beziehungsbögen ihren Anfang nehmen und auf ihn zurückweisen. Doch will dialektisch beachtet werden, daß dieser Herr faktisch immer nur in einem Beziehungsbogen begegnet, obgleich er damit nicht identisch ist. Anders ausgedrückt: Mit den Beziehungsbögen tritt die Offenbarung in den Bereich des Kontrollierbaren, obwohl nicht sie selbst, sondern allein die Gestalt ihrer jeweiligen Verkündigung kontrollierbar und durch ihre Wirkung ausweisbar ist. Marxsen liegt daran, daß alle christliche Rückbesinnung IN
Ebd.
s. 107 f., 110.
Kritisd:J.e Analyse
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bei Jesus beginnt und endet, umgekehrt aber Jesus einzig durch die gemeindliche Verkündigung zugänglich wird und daß deshalb der ältesten, nicht mehr reduzierbaren, auch apostolisch genannten Verkündigung eine unvergleichliche Bedeutung zukommt: Von ihr spannen sich alle weiteren Beziehungsbögen aus und müssen an ihr gemessen werden. Daß es durch sie zur Bildung der Urgemeinde kam, ist ihre einzige Legitimation, und zwar nach dem Verständnis dieser Gemeinde selbst (S. 242 f.). Die größte Schwierigkeit entsteht bei der Weitergabe der ersten Verkündigung, sofern diese nicht nur in einen stets wachsenden Kreis, sondern auch in eine neue Gegenwart hinein erfolgen muß, darum nicht einfach Wiederholung sein darf. Sachgemäß ist ein Beziehungs-bogen nicht schon um seiner Treue zum Ursprung willen, sondern erst, wenn er die überkommene Sache in einer der neuen Situation gemäßen Weise ausdrückt oder, falls sie verändert wurde, entsprechend zurechtrückt. Nicht Identität, sondern Korrespondenz ist also das entscheidende Kriterium. Damit wird nicht bloß die Variabilität des Kerygma begründet, sondern auch seine unvermeidliche Gegensätzlichkeit in verschiedenen Zeiten. Was einmal rechte Verkündigung war, kann in einer andern Situation zur "massiven Irrlehre" werden (S. 246). So ist- gegen Dieml- das Neue Testament nicht einfach Predigttext oder eine Summe solcher Texte, sondern Sammlung früher Predigten, meine Verkündigung demgemäß nicht Predigt "über einen Text, sondern mit einer Predigt" (ebd.). Grundsätzlich braucht das nicht an das Neue Testament als solches gebunden zu sein. Wichtig ist vielmehr die Sachentsprechung der Predigtgrundlage wie der daraufhin erfolgenden Weitergabe. Auf diese Sachkontrolle darf freilich nicht verzichtet werden. Deshalb muß immer wieder auf die apostolische Erstverkündigung zurückgegriffen werden, für welche das Neue Testament nach Umfang wie Abgrenzung sich als recht brauchbare Dokumentation erweist, selbst wenn man sie nicht mit absoluter Exaktheit aus ihm herausarbeiten kann. Darüber hinaus wird hier ein Paradigma geboten, an dem das Mögliche wie Unmögliche ebenso wie die Notwendigkeit eines stets kritischen Verhaltens gelernt werden sollte (S. 245 f.). Denn es darf nicht vergessen werden, daß die Schriften als solche nicht für uns kanonisch sein wollen, sondern Verbindlichkeit allein für die ehemaligen Leser beanspruchten10'. Theologisch läßt sich die Grenze der in der Kirche gültigen Schriften nicht durch eine Liste festlegen. Das ist ausschließlich eine Frage der Zweckmäßigkeit, solange die grundlegende Sache gewahrt und angemessen weitergetragen wird. Den Vorwurf, daß damit der Kanon aufgelöst würde, weist Marxsen zurück: Das könne IN
2S•
Der Exeget als Theologe S. 114.
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man nicht. Wir hätten den Kanon nicht zu retten, sondern zu begründen, und möglich sei nur, daß wir das nicht ausreichend getan hätten (S. 244). An Klarheit und innerer Folgerichtigkeit läßt auch dieser Entwurf nichts zu wünschen übrig, Radikalität und unkonventionelle Argumentation zwingen zu eigener Besinnung. In einer Kirche, welche ihre Amtsträger oft genug Hans Dampf in allen Gassen werden läßt, sollte man die Stimme des Spezialisten aufmerksam hören, der seine Kompetenz in keiner Weise überschreiten möchte. Dieser Spezialist ist freilich ein sonderbarer Asket, sofern er seine Arbeit scharf von aller Dogmatik trennt, zugleich aber sich unentwegt und mit Leidenschaft kirchlich engagiert und den Dialog mit den Dogmatikern sucht, seine Existenz also der Theorie seiner spezifischen Tätigkeit zu widersprechen scheint. Auf der Hand liegt, daß er damit kein donum superadditum zu geben gedenkt. Offensichtlich liegt ihm daran darzutun, daß Kirche und Theologie um ihrer selbst willen auf den Historiker nicht verzichten dürfen. Man wird jedoch fragen müssen, ob er den Bogen nicht überspannt, mehr noch, ob er sich nicht einer Selbsttäuschung hingibt und gerade mit der Methodik und den Ergebnissen seiner Arbeit beweist, daß es keine undogmatische Exegese gibt. Er demonstriert, daß ihn kein heilsgeschichtliches Schema, keine konfessionelle Systematik in seinem Tun leiten. Dogmatisch kann man aber sogar als Profanhistoriker werden, wenn man sich dem Historismus verschreibt, und genau das dürfte bei Marxsen der Fall sein. Merkwürdig historistisch sind seine Terminologie und seine Aspekte. Es ist kaum zu übersehen, daß von den beschriebenen Vorgängen absichtlich recht neutral und formal gesprochen wird und dem die Darstellung im ganzen entspricht. Weder vom Evangelium noch vom Geist braucht die Rede zu sein, und infolgedessen entfällt auch die Problematik von Glaube und Aberglaube in ihrer Koexistenz, an deren Stelle die der verschiedenen, sachgemäßen oder unsachgemäßen "Beziehungsbögen" tritt. Vom "Kyrios" wie dem apostolischen Zeugnis werden charakteristische Merkmale nicht angegeben, obgleich ausdrücklich zugestanden wird, daß beides nicht mit voller Klarheit aus den Texten entnehmbar sei. Ist Jesus die einzige unwandelbare Norm, muß präzis gesagt werden, in welcher Hinsicht das gilt. In der Kirche sind sowohl über den Nazarener wie den erhöhten Herrn seit je die unterschiedlichsten Ansichten umgelaufen. Welche teilt Mansen, welche nicht? Läßt sich das jedoch nur der apostolischen Erstverkündigung entnehmen, ist erneut zum mindesten klarzumachen, worin diese Verkündigung ihre Stoßrichtung und ihre Kennzeichen hatte, zumal wenn alle spätere Verkündigung sich gefallen lassen muß, darauf zurückbezogen zu werden. Gehört Paulus in diese Erst-
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verkündigung hinein, ist erheblicher Grund vorhanden anzunehmen, daß sein Verständnis des Herrn und seine Botschaft sich wesentlich von dem abhob, was Petrus erkannt hatte und verkündigte. Tut er es nicht, ist er doch der älteste identifizierbare Zeuge. Hat die Oberlieferung etwa der Logienquelle oder des ältesten synoptischen Gutes über den irdischen Jesus den Vorrang vor ihm, dem ältesten identifizierbaren Zeugen, weil er vom irdischen Jesus außer dem Sachverhalt der Kreuzigung fast nichts zu berichten weiß? Was soll in diesem Zusammenhang schließlich die Formel von dem "Nicht-reduzierbaren" bedeuten? Der Liberalismus hat nicht nur Paulus zum ersten Dogmatiker der Kirche gemacht und die Verkündigung auf die Botschaft vom irdischen Jesus reduziert, er hat auch aus den Evangelien ein Trümmerfeld von Traditionen werden lassen, aus dem wenig mehr für Jesus selbst gerettet werden konnte als die Predigt von Gottes Liebe. Ist das mit dem nicht weiter Reduzierbaren gemeint oder was gehört sonst noch dazu? Zu bedenken ist ebenso, daß schon die ältesten Zeugen unter dem Einfluß der Osterereignisse Jesu Wort und Tat etwa apokalyptisch interpretiert, vielleicht sogar mißverstanden haben. Soll, kann, darf alles Spätere darauf zurückbezogen werden? Marxsen schweigt zu diesen Fragen. Wie kann man jedoch sachgemäß vom Kanon sprechen, wenn man einerseits das Gewicht des Ursprungs so stark betont, andererseits das Wesen dieses Ursprungs auf die beiden Chiffren Kyrios und nicht weiter reduzierbare apostolische Verkündigung bringt, unter denen man sich alles oder nichts vorstellen kann? Hier wirdtrotzvernommenem Protest gegen solche Feststellung der kirchliche Kanon tatsächlich nicht nur aufgelöst, sondern auch nicht ausreichend begründet. Sehemalismen und Strukturen abstrahieren von der Wirklichkeit, mit welcher der Historiker es doch zu tun hat, wie denn ebenso die Rede von den Beziehungsbögen zwar die gesamte Kirchengeschichte, einschließlich aller Häresien und weltanschaulichen Auswirkungen, zu umspannen vermag, über die Eigenart des Christlichen, des Neutestamentlichen, des Evangelischen nichts aussagt. Eine Funktionsreihe wird vorgeführt, die von der Sache selbst nichts erkennen läßt. Marxsen hat seine Betrachtungsweise verteidigt, indem er "innerkanonische Kritik" ausdrücklich ablehnte, weil sie vom Wunsch nach einem System oder einer Harmonisierung geleitet sein müsse und bereits von einem dem Exegeten vorgegebenen Begriff des Kanon ausgehe. Er läßt stattdessen nur "vor-kanonische Kritik" in der Rückfrage nach Norm und Ursprung gelten 105 • Wie gelangt man jedoch zu dieser, wenn die Sache immer nur in den Beziehungsbögen vorliegt, die sich bereits im Neuen Testament überschneiden? Sie macht eine "in101
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Derkanonische Kritik" unerläßlich. Wird der Charakter von Kanonizität durch Übertragung von Autorität bestimmt, scheint eine exakte Definition gegeben zu werden. Doch trügt auch das, weil wieder bestenfalls eine Funktion an die Stelle der Sache tritt. Der Prozeß, in welchem Autorität übertragen wird, spielt sich überall im Leben ab. Weiß man über das Problem des Biblischen nicht mehr zu sagen, kommt es schlechterdings nicht zur Einsicht in dessen Eigenart. So wird auch in Apokryphen oder in der Vorliebe, welche die Gnostiker für Paulus und Johannes zeigten, dieser Prozeß sichtbar. Es muß doch klargestellt werden, um welche Autorität es sich handelt, ohne daß man sirh. dafür auf Chiffren zurückzieht. Daß vieles im Neuen Testament bloß vergangene Situationen betrifft und die Schriften im ganzen Verbindlichkeit für ehemalige Leser beanspruchten, ist richtig. Gleichwohl hat srh.on die frühe Gemeinde diese Traditionen bewahrt, gesammelt und weitergereicht, weil sie darin paradigmatisch Anweisung für Gegenwart und Zukunft, also kanonische Autorität erblickte. Besagt das nur etwas für die betreffenden Gemeinden, nicht für die Sache selbst, die von vornherein nicht auf Situationen beschränkt werden will und darf? Müßte man von da aus Kanonizität nicht eher als Weitergabe einer letzten, für alle Zeit verbindlichen Wahrheit statt als Ubertragung von Autorität definieren? Es wird doch, gewiß in einer bestimmten Situation und gegenüber einer konkreten Gegenwart und vielleicht auch einer nächsten Generation, ein eschatologischer Anspruch erhoben, das "ewige Evangelium" nach Apk 14,6 verkündigt. Wie kann man davon absehen, als ginge es nur um Parolen für den Augenblick? Wie läßt sich, selbst wenn die Variabilität und teilweise Gegensätzlichkeit der Verkündigung beachtet wird, behaupten, rechte Predigt zu einer Zeit könnte in der andem "massive Irrlehre" werden? Damit ist doch alles in den Bereich historischer Kontingenz und Willkür gesd:10ben und relativiert. Es erscheint als Salto mortale, wenn Marxsen sich solmen Einwänden gegenüber in die Feststellung rettet, das Neue Testament sei eine Sammlung früher Predigten. Das ist nur zu halten, wenn man den Begriff "Predigt" ungewöhnlich ausweitet, indem man erbaulime Erzählungen, die Einführung von Gemeindeordnungen, die Tradition paränetischen Spruchgutes, dogmatisme Meditationen unter diesen Titel stellt. Will man das akzeptieren, hängt man beim nächsten Schritt wieder fest, daß nämlich alles Spätere Predigt mit einer Predigt statt über einen Text sei. Wie läßt sich solche Alternative halten, wenn schon Jesu Verkündigung im Anschluß an alttestamentliche Texte, sei es selbst antithetisch, erfolgte, wenn zweifellos Paulus neben Jesusworten urchristliche Hymnen als Texte zitiert, die Deuteropaulinen Oberlieferung ihres Meisters interpretieren, die pseudony-
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men Schriften sich von vomherein in den Schatten apostolischer Authenie stellen? Oberall wird dabei Tradition zum mindesten auch als vorgegebener Text benutzt. Überallliegt dabei die Absicht vor, nicht bloß Korrespondenz, sondern Identität zu wahren. Der Historiker mag dartun, daß diese Absicht sich nicht realisieren ließ. Darf er von ihr deshalb abstrahieren? Denn sie zeigt aufs neue, daß die Frage nach der Wahrheit nimt der nachder Autorität untergeordnetwerden darf, sondern über diese letzte entsmeiden läßt. Vom Neuen Testament wie der Erstverkündigung wird eben nicht bloß "potentielle", sondern "normative Autorität" beansprumt, wenngleich der Historiker angesichtsseiner Detailkenntnisse das nicht mehr zu rechtfertigen vermag. Der Exeget läßt sich vom Historiker überspielen, wenn er dessen Feststellungen den Texten aufzwingt und deren Ansprüche durch die eigenen Einsichten ersetzt, die Sache sich einzig durch ihre Auswirkungen legitimieren läßt und aus dem Neuen Testament nicht mehr vernimmt, daß diese Auswirkungen sowohl Glaube wie Verstockungund Aberglaube sein können. Mit gewissem Recht läßt sich tatsächlich behaupten, daß in den Beziehungsbögen jeweiliger Verkündigung die Offenbarung in den Bereim des Kontrollierbaren rückt. Darf man jedoch verschweigen, daß grundsätzlicher Kontrollierbarkeit faktisch weitgehende Nichtkontrollierbarkeit gegenübersteht und der Exeget jedenfalls seine vornehmste Aufgabe nicht in der Kontrolle der Vorgänge, sondern in der Interpretation seiner Texte und im Vergleich der verschiedenen Texte zu erblicken hat? Dann wird er jedoch in die Sache selbst mithineingezogen und kann sich nicht mit bloßen Beschreibungen begnügen. Zum mindesten im vorliegenden Aufsatz bekundet sich nicht der Exeget als Theologe, sondern der Historiker als Systematiker und Apogolet einer bestimmten Methodik. Die Vorgegebenheiten verwickeln ihn nicht in einen Dialog mit der Sache, die alle Beziehungsbögen aus sich heraussetzt, sondern in eine kritische und konstruktive Analyse geschichtlicher Vorgänge, welche dadurch ausgelöst wurden. Dabei interessieren fast ausschließlich Strukturen, als ginge ein Chemiker oder Mathematiker ans Werk. Wenn urchristliche Oberlieferung durch das Stichwort "Predigt" gekennzeichnet wird, genügt solche Finnierung. Zur Begegnung mit dem sich darin bekundenden Wort kommt es nicht. Aum diese Predigten sind geschichtliche Objekte, die man nicht auf ihre Sachbezogenheit, sondern auf ihre Strukturzusammenhänge ins Auge faßt. Wenn man schließlich dem praktischen Theologen erlaubt, mit diesen Predigten seinerseits zu arbeiten, überläßt man ihn der Qual der Auswahl und der unvermeidlichen Willkür entscheiden zu müssen, was sachgemäß oder nicht sei, wobei ihm der Exeget außer mit unpräzisen Formeln nicht zur
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Hilie gekommen ist. Auf diese Weise wird die Einsicht in den Kanon von der historischen Rückfrage nach dem Ursprünglichen und dem Verständnis der jeweiligen Situation abhängig gemacht, die jeder anders und keiner mit letzter Sicherheit oder auch nur hinreichender Genauigkeit zu überblicken vermag. Die Exegese ist undogmatisch in ihren Sachaussagen geblieben und hat dort nur Deskriptionen geliefert. Sie ist jedoch höchst dogmatisch, sofern sie undogmatisch bleiben will, liefert sich nämlich einem Historismus und dem wirklichen oder vermeintlichen Zwang seiner Methodik aus. Sie mag sich am Detail, ihren Konstruktionen und kontrollierbaren Beziehungsbögen ergötzen. Ihr Selbstverständnis wird durch ihre Ergebnisse ad absurdum geführt: Der Exeget kann der Dogmatik um der ihm anvertrauten Sachewillen nicht aus dem Wege gehen, ohne in Sehemalismen zu verfallen, und er kann auf diese Weise ganz gewiß nicht zum Problem des Kanons Stellung nehmen, weil es sich dabei primär um eine Frage der Sache und Wahrheit und allenfalls abgeleitet um eine solche der Autorität und der Strukturen handelt. Eine Sammlung von Predigten aus verschiedenen Generationen mag zu weiterem Gebrauch benutzt und abgewandelt werden, wie Prediger das tatsächlidl immer wieder getan haben und tun werden. Man mag aus ihr entnehmen, was möglich ist, und besonders, was man nicht tun darf. Kanon läßt sich das ernsthaft nicht nennen, selbst wenn Einzelne, Gruppen, Konfessionen oder gar die Ökumene davon sprechen. Der Historiker, der seine Kompetenz nicht überschreitet, wird vom Paradigma reden. Die radikale Kritik ist in eine eigenartige Verlegenheit geraten. Seit der Reformation haben dogmatische Grundeinsichten oder Systeme sie in ihren Dienst genommen oder zum Widerspruch herausgefordert, wobei seit der Aufklärung eine bestimmte Weltanschauung oder ein spekulatives System die überkommene theologische Dogmatik aushöhlen konnten. Der Positivismus des vorigen Jahrhunderts, dem auf kirchlichem Felde der Biblizismus entsprach, machte deutlich, daß historische Arbeit sich der Führung durch jegliche Dogmatik zu entziehen begann und sich nur bestimmten Methoden verpflichtet fühlte. Die dialektische Theologie begehrte dagegen nochmals auf, endete jedoch mit dem Zerfall zwischen Dogmatik und Exegese. Die historische Arbeit am Neuen Testament ist heute fast überall praktisch ohne systematische Führung und ohne dogmatischen Gesprächspartner sich selbst überlassen. Dabei zeigt sich, daß ihre Stärke im Widerspruch und in der Korrektur bestand. Ohne Kontrahenten wird sie steril. Sie muß nun entweder positivistisch vom Detail, spekulativ von Einfällen leben oder durchaus unhistarisch die Problemgeschichte der Auslegung überspringen und von einer be-
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stimmten Methodik oder in der Auseinandersetzung mit philosophischen oder weltanschaulichen Strömungen ihr eigenes System entwerfen. Das bedeutet, daß sie theologisch letztlich ratlos ist. Solche Krisen gehören zum Leben und müssen ausgehalten werden. Man darf sie aber nicht verschleiern. Wenn niemand sonst, hätte die Dogmatik die Exegese zur Sache zurückzurufen. Daß Systematik stattdessen, natürlich unter dem Mantel noch radikalerer Postulate, die Auflösung fördern kann, beweist der Aufsatz von W. Pannenberg: Die Krise des Schriftprinzips108, der als Pendant zu Marxsens Vortrag, freilich mit anderer Schlußanwendung, erscheint. Er beginnt mit der Feststellung: "Die Auflösung der Lehre von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangelisdten Theologie. " 107 Sie wird als nidtt rückgängig zu mamen anerkannt, weil der Abstand zwischen Text und Gegenwart zu groß geworden ist und die von Luther gemeinte Sache der Schrift, nämlich Person und Geschichte Jesu, für unser historisdtes Bewußtsein nicht mehr in den Texten selbst zu fmden ist, sondern aus dem, was hinter ihnen liegt, erschlossen werden muß 108• Für uns ist Jesus auf sehr verschiedene, nicht auszugleichende Weise bezeugt109, und keine Theologie kann mehr im naiven Sinne biblisch sein, weil sie sonst ihre eigene Gegenwartsproblematik verfehlen würde. "Einer sachlichen Ubereinstimmung mit den biblischen Zeugen kommt die Theologie vielleicht gerade dann am nächsten, wenn sie ganz auf die Fragen ihrer eigenen Zeit eingeht, um darin das auszusagen, was die biblischen Schriftsteller in der Sprache und Gedankenwelt ihrer Zeit bezeugt haben. " 110 Eine Revision der spezifisch protestantischen Tradition hat auf eine umfassende Theologie der Geschichte ausgerichtet zu sein 111 • Denn es mündet "die Problemgeschichte des Schriftprinzips in die Frage nach der Universalgeschichte" 112 • Solchen theologischen Astronauten ist Glück zu wünschen. Solange sie selbst ihr Unternehmen unter ein "Vielleicht" stellen und uns statt des Evangeliums nur ein Projekt vorlegen, wird man sich aber besser ihnen nicht anvertrauen.
C. H. Ratschow stand vor einer schweren Aufgabe, als er Marxsen zu antworten hatte. Was ist dabei herausgekommen? Erstaunlicherweise wird dem Gesprächspartner weitgehend zugestimmt, wobei freilich zu beachten ist, daß der Systematiker sich von vomherein auf den kirchlich abgeschlossenen Kanon beschränkt. Dieser Kanon kann 101 Verfaßt 1962, veröffentlimt in: W. Pannenberg, Grundfragen systematismer Theologie. Ges. Aufsätze, 1967, S. 11-21. 117 Ebd. S. 13. 1• 101 Ebd. S. 16. Ebd. S. 15. uo Ebd. s. 17. Ul Ebd. s. 20. Ul Ebd. s. 21.
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nicht aus exegetischen Erwägungen erklärt werden, und zu ihm führte keine systematisch-theologische Einsicht oder Notwendigkeit. Seine Entstehung ist der kirchlichen Praxis zu verdanken, liegt also für die Systematik wie für die Exegese jenseits ihrer methodischen Ansätze und Folgerungen (S.248). Legt man das Gewicht auf seine Autorität, wird man wohl auf die viva vox rekurrieren müssen, die ihr Spezifikum in der Bezogenheit auf Jesus hat. Tatsächlich können wir auf die zeugnisweise Oberlieferung über das Heilsereignis in Jesus als ein raum-zeitliches Geschehen nicht verzichten und werden insofern den Kanon notwendig nennen. Der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit dieses Ereignisses entspricht die Abgeschlossenheit des Kanons (S. 252 f.). Kontingenz in Raum und Zeit verbindet beides (S. 254). Das bedeutet jedoch, daß wir diese Kontingenz stehen lassen und sie nicht durch erweisbare Autorität in Wirklichkeit um ihren Charakter bringen. Deshalb ist zu fragen, ob die Reduktion der kanonischen Autorität auf die Autorität des Wortes Gottes nicht ein Kurzschluß ist, und festzustellen, daß die Suche nach einem Kanon im Kanon, also den inneren Gründen der Einheit, auf der ganzen Linie negativ verlief (S. 252, 253 f.). Der Kanon fixiert die Kontingenz der ersten Zeugenberichte, welche durch die experientia ecclesiae in gottesdienstlicher Erfahrung ihre besondere Würde gewinnen (S. 255 f.). Kurz, es handelt sich um eine Dokumentation, die aus kirchlichen Notwendigkeiten erwuchs und ihnen weiter dient. Der Exeget, dem ihre Abgrenzung als Vorurteil erscheinen muß, behandelt sie wie jede andere. Der Dogmatiker hat wie der Ethiker dagegen seine Lehre an ihr als kirchlich auszuweisen (S. 256 f.). Man wird nicht behaupten, daß diese Ausführungen sonderlich weiterführten. Im Grunde spricht hier ein am Faktischen orientierter und es anerkennender Historiker. Der Kanon ist ein Buch der Kirche, wenngleich von besonderer Bedeutung, weil er an das einmalige und unwiederholbare Geschehen um J esus und die U rchristenheit, also die Anfänge, erinnert. Na türlimläßt sim das nicht bestreiten. Doch bleibt es reichlich dürftig, eine Basis, auf der man sich mit jedermann treffen kann. Fragt man, wie es dazu kommt, liegt auf der Hand, daß das mit jener seit der Aufklärung im Protestantismus herrschenden Betrachtungsweise zusammenhängt, welche die Geschichte ersetzen läßt, was vordem einmal als Wort Gottes oder Evangelium anvisiert wurde. Das ergibt notwendig die protestantisch-rationalistische Variante der katholisdten Auffassungüber die Bedeutung der Tradition. Das Sola Scriptura hat folgerichtig seinen dogmatischen Sinn verloren. Es rechtfertigt einzig den kirchlichen Gebrauch. Theologisches Gewicht behält bloß die Kategorie der "Kontingenz". Doch ist auch sie recht problematisch, wenn sie sowohl
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auf die Einmaligkeit der Offenbarung wie auf die Abgrenzung des Kanons angewandt wird. Denn Einmaligkeit besagt im Neuen Testament das eschatologische "ein für alle Male", während es hier offen· sichtlich historisch ein in Raum und Zeit begegnendes, nicht restlos zu erklärendes oder überhaupt nicht zu begründendes Geschehen bezeichnet. Daß Geschichte nicht wiederholbar ist, leuchtet ein. Ganz so einfach liegt es nad:t dem Neuen Testament aber nicht, weil Offenbarung dort eben nicht, wie man es beim Kanon tun muß, als abgeschlossen betrachtet wird. Das Stichwort "Kontingenz" wird also unreflektiert gebraucht und verdunkelt mehr, als es erhellt. Immerhin konnte W. Marxsen von hier aus nochmals in dem Aufsatz "Kontingenz der Offenbarung oder (und?) Kontingenz des Kanons"113 nachstoßen. Der Exeget zeigt sich dabei interessanterweise am dogmatischen Problem des Kanons stärker orientiert als der Systematiker und betont deshalb entschieden, seinerseits keineswegs die auctoritas canonica aufgeben zu wollen114 • Mit Recht wehrt er sich dagegen, daß man einfad:t die faktische Vorgegebenheit des Kanons hinnimmt, die Kontingenz der Offenbarung mit derjenigen der kirchlichen Entscheidung zu verbinden und die experientia ecclesiae zum eigentlichen Kriterium zu machen sucht115 • So korrigiert er nun seine früheren Bemerkungen, indem er die Frage nach einem Kanon im Kanon für nicht so abwegig erklärt. Denn er will von einer Verlängerung der Offenbarung nichts wissen. Ihm geht es um die viva vox Dei, auf welche durch alle kird:tliche Tradition hindurch zurückgefragt werden muß 118 und die ihren Niederschlag und Ort in der apostolischen Erstverkündigung gefunden hat117 • Damit ist zum früheren Aufsatz zurückgelenkt. Doch wird in der Auseinandersetzung schärfer, als vorher erkennbar war, der Akzent auf das Gegenüber des Wortes Gottes zur kirchlichen Tradition gelegt, eine bloß historische Betrachtungsweise also durchbrochen. Ebenso deutlich wie dieses Anliegen ist freilich, daß die weiterhin benutzten Kategorien und die ihnen zugrundeliegende Anschauungsweise solches Anliegen nicht angemessen herauszustellen vermögen. Auf die Problematik der Rede von "apostolischer Erstverkündigung" wird erneut nicht eingegangen. Was "Handeln Gottes in Jesus von Nazareth" besagt, ist nicht geklärt. Stattdessen kann festgestellt werden, der Kanon sei nichts anderes "als die Ur-Äußerung der Kirche", die also vor dem Kanon existiert118, und von da aus findet sogar Lengsfeld Zustimmung119• Vielleicht zeigt sich die Aphorie, in wel111 Zuerst in: NZsystTh 2 (1960), S. 355-364, zitiert nadJ. Mar.rsen, Der Exeget als Theologe, 1968, S. 129-138. 114 Ebd. 111 Ebd. 11' Ebd. 129 f. 131, 133. 137. 117 Ebd. S. 135 f. 111 Ebd. S. 136 f. 118 Ebd. S. 136.
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eher Marxsen steckt, nirgends deutlicher, als wenn er von der viva vox Dei statt der viva vox evangelii spricht. Weil damit die früheste Predigt anvisiert wird, diese Predigt aber an die ältesten Zeugen gebunden bleibt und insofern kirchliche Äußerung ist, kann man sie zwar von späteren kirchlichen Verlautbarungen distanzieren oder durch Beziehungsbögen mit ihnen zusammenbringen, kommt man jedoch aus dem Historismus nicht heraus. Im Gegenteil, man gestattet ihm nun sogar, die viva vox evangelii, die doch zu allen Zeiten, und zwar nicht bloß abgeleitet, ertönen soll, auf einen bestimmten Zeitraum einzuschränken. Das Handeln Gottes in Jesus von Nazareth ist ebenso chronologisch fixiert wie die Erstverkündigung. Das Evangelium hat seine ausgrenzbare Zeit. Der Kanon gilt darum als abgeschlossen. Die späteren Geschlechter vernehmen nicht das eigentliche Evangelium, sondern so etwas wie den Widerhall der himmlischen Gottesstimme, von welchem das Judentum sprechen konnte. Der Kritiker, der dem verzweifelten Bemühen zusieht, den Sachzwang historistischer Betrachtungsweise zu durchstoßen und die Autorität des Wortes Gottes gegenüber kirchlicher Überlieferung im allgemeinen geltend zu machen, fragt sich: Was in aller Welt veranlaßt den Protestanten, die Formel viva vox evangelii zu vermeiden und zu ersetzen? Er steht auf der Schwelle, tritt aber nicht ein. Denn mit dem Stichwort "Evangelium" ist allerdings die strenge Bezogenheit auf den Jesus von Nazareth verbunden, das Phänomen der Erstverkündigung nicht belanglos, aber auch nicht mehr letztlich entscheidend zu nennen. Kriterium wird jetzt die unverwechselbare Sache, welche diesen Jesus mit seinen Jüngern und Zeugen zusammenbringt oder von ihnen scheidet, eine Sache, die selbst historisch durch die Firmierung "apostolisch" nicht gedeckt wird und den kirchlichen Kanon allerdings qualifiziert, ohne sich in ihm rein darzustellen oder ihn in seinem faktischen Umfang zu legitimieren. Es ist das Verdienst von W. Joest, diesen längst fälligen Sprung endlich getan zu haben. Er tut ihn nach ungewöhnlich behutsamer und gründlicher L'berprüfung der verschiedenen Argumentationen. Die Frage nach dem historisch Ältesten und "Apostolischen" ist für ihn zweitrangig, sofern sie überhaupt ausreichend beantwortet werden kann. Umgekehrt wird die kirchliche Erfahrung mit der Schrift auch in Gestalt des akzeptierten Kanons hervorgehoben. Ihr hat sich dadurch Gottes Wirken "in, mit, unter" menschlichen Maßnahmen bekundet, wenngleich sie daraufhin nur Glaubensurteile abzugeben vermag, die nicht objektiv begründbar sind (S. 261 f.). Anlich stark ist betont, daß die Bibel nicht irrtumsfrei ist, sondern Elemente eines verdunkelten Glaubenszeugnisses enthält. Sie läßt sich nicht überall
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predigen (S. 267 ff.). Die kritische Forschung vermag, sofern sie die Beziehung zur wirklichen Geschichte des wirklichen Menschen aufdeckt (S. 263), eine Hilfe gegen den Doketismus zu bieten (S. 270, 273). Ob man am Begriff "Kanon" festhalten soll, ist fraglich, weil der Glaube sich nicht auf ein formales Prinzip richtet, Gottes Wort nicht zuerst in Jesus inkarniert und später in der Bibel "inkodifiziert" wurde (S. 264 f.). Der vorhandene Kanon wird also dialektisch gesehen. Erweist sim vor allem aus kirchlicher Erfahrung, daß Gott durch ihn als Werkzeug seines Wortes handelt, so hat er es doch auch durch menschliche Irrtümer hindurch getan. Die Rückfrage nach dem Historischen und die Einsicht in Unhistarisches bieten andererseits noch nicht als solche das Kriterium des Maßgeblichen. Das ist vielmehr in der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungsverkündigung zu sehen, welche der Sache nach wirklich die zentrale Auslegung des in Jesus gesprochenen Gotteswortes darstellt. Allerdings muß auch diese These nochmals dialektisch gesichert werden, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens darf die Rechtfertigung nicht von Jesus gelöst werden, sei es selbst derart, daß man ihn bloß zu ihrem ursprünglichen Prediger macht. Zweitens hat man nicht ausschließlich auf die Lehre von der Rechtfertigung zu blicken, als wäre die Bibel ein Lehrbuch der Dogmatik. Sie beschränkt sich nicht auf Aussagen über Christus und die Rechtfertigung und trägt diese in verschiedener Terminologie und Gestalt vor. Man hat drittens zu bedenken, daß im Verkündigungsgeschehen neben situationsbedingten Divergenzen auch sachbegründete Paradoxien zutagetreten, etwa in der Zuordnung vom Zuspruch der Gnade zum Entscheidungsruf oder der Botschaft vom Gericht nach den Werken neben der von der Rechtfertigung des Sünders. Tiefgreifende geschichtliche Unterschiede in der Verkündigung dürfen nicht übersehen werden, eine logism-einheitliche Synthese ist nicht zu fordern. Gegensätzliche Aussagen gerade auch im Zentralen können nimt durch Option aufgelöst werden, sie sind vielmehr zusammenzuhalten (S. 276 ff.). Dieser Betrachtung entspricht es, wenn vor der Abstumpfung in einem Systemdenken ebenso gewarnt wird wie wenn Umdeutung des Textes als unerlaubt gilt und schließlim die Verwendung fragwürdiger Schriftelemente zur Zerstörung der Kirche als Mißbraum abgelehnt wird (S. 279 ff.). Die Obereinstimmung mit Ebelings kontroverstheologisch-hermeneutischer Besinnung auf das Sola Scriptura ist in allen wesentlichen Zügen deutlich. Es ist absolut nicht einzusehen, daß radikale historische Kritik am Neuen Testament nicht zum gleimen Ergebnis gelangen muß. Sie wird unter Umständen die Akzente im einzelnen smärfer zu setzen haben als der Systematiker. Gerade der Hi-
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storiker wird, sofern er es unentwegt mit dem Detail und den Nuancen zu tun hat, jeglichem Systemdenken mißtrauisch gegenüberstehen und vor ihm geschützt sein. Er kann sich nicht einmal der Methode des Konkordanzhörens verschreiben, so gewiß man Einzelheiten immer nur im Zusammenhang nicht bloß des Kontextes, sondern auch im Widerspruch anderer Stimmen exakt zu interpretieren vermag. Er hat den möglichen Ausgleich ebenso zu bedenken wie die mit jedem neutestamentlichen Text unvermeidlich gegebene Frontstellung und wird so auf ein Ganzes schauen, für das Antithetik wie im Leben selber kennzeichnend ist. Doch darf ihn das nicht dazu verführen, Gegensätzlichkeiten allein aus der Verschiedenheit der Situationen oder der Polarität theologischer Aussagen zu verstehen, in denen jede Seite notwendig eine Kehrseite hat und also komplementär, zuweilen auch paradox ergänzt und abgesichert werden muß. Umgekehrt behält im Ganzen nur dann das Einzelne seine Bedeutung, wenn es nicht bloß die Logik, sondern möglicherweise selbst das jeweilige theologische Zentrum zu sprengen vermag. Kontradiktorische Gegensätze lassen sich im Neuen Testament nicht ohne weiteres ausschließen. Sie sind im Gegenteil dort von vomherein zu erwarten, wenn anders es im Neuen Testament menschlich hergeht und der Doketismus nicht doch versteckt siegen soll. Dann ist aber nicht auszuschließen, daß sogar kirchenzerstörende Aussagen, Texte und Schriften dort Platz haben. Ein solches Faktum wäre natürlich beunruhigend und bewiese, daß das Neue Testament ein gefährliches Buch ist. Wird jedoch Kirche nicht am ehesten zerstört, wenn diese Gefährlichkeit ausgeklammert wird? Daß faktische Kirche gestört und zerstört wird, besagt letztlich wenig, weil faktische Kirche nicht selbstverständlich die Kirche Christi ist und selbst diese stets neu über Gräber schreitet. Auch in der praktischen Anwendung der Bibel darf es nicht zutiefst um die Ekklesiologie, hat es primär um die Christologie zu gehen. Falls der Systematiker sich diese Interpretation seiner Intention durch den Exegeten gefallen läßt, erkläre ich mich völlig mit ihm einverstanden.
lll. Zusammenfassung In abscliließender Rückschau sollte man zunäd:tst feststellen, daß in der protestantisd:ten Debatte zum Kanonproblem das Moment der Lehre im Neuen Testament zu kurz kommt. Es war eine wichtige Entdeckung gemacht, als man stattdessen vom Kerygma zu sprechen begann. Denn wirklich dogmatische Auseinandersetzung erfolgt hier erst an den Rändern und in ihrem Anfangsstadium, während Verkündigung in vielfacher Gestalt das Feld beherrscht. Doch hat man sid:t klarzumachen, daß Verkündigung vom ersten Augenblick an ganz unbefangen eben auch in der Form von Lehre geschieht und man beides nicht gegeneinander ausspielen darf. Angesichts der seitherigen Entwicklung ist es vielleicht sogar angebracht, den Akzent nach der entgegengesetzten Seite zu verschieben: Die bereits bei Strathmann sich äußernde Furcht vor Dogmatik und Doktrinarismus ist zunächst Erbe des Liberalismus. Wo immer es auch um Lehre geht, ist implizite Dogmatik mitgegeben. Solche Feststellung ist für uns von größter Wichtigkeit. Das Kanonproblem wird nicht adäquat angegangen, wenn man die Bedeutung der Lehre im Neuen Testament relativiert oder beiseiteschiebt, ihr für das Geschehen der Kanonbildung nicht genügend Beachtung schenkt und den Abschluß des Kanons nicht auch eine Entscheidung über rechte Lehre sein läßt. Das liegt eklatant zutage, wenn Mareion den ersten christlichen Kanon geschaffen haben sollte, wofür immerhin erhebliche Gründe spred:ten. Doch ändert sich daran nichts, falls man diese Hypothese ablehnt. Denn es ist wesentlich der Gesimtspunkt der Lehre gewesen, unter dem er zum mindesten den ersten abgeschlossenen Kanon schuf. Dieses Interesse hat neben dem am Gewinn einer praktikablen Ge· meindeordnung offensichtlich aber schon die Sammlung der Paulusbriefe, die Anerkennung des Johannesevangeliums, die Abfassung pseudoapostolischer Sd:triften bestimmt und die gottesdienstlime Lesung neutestamentlicher Schriften mitveranlaßt. Der heutige Spramgebraum und die herrschende Anschauungsweise sind von da aus zu korrigieren: Die Kanonbildung ist nicht bloß ein Prozeß kirchlicher Tradition oder Verkündigung, sondern wenigstens auch der Niedersmlag kirchlicher Lehrbildung. Sofern man für die Schriften Apostolizität im engeren oder weiteren Sinne beansprud:tte, wollte man nicht nur das Ursprüngliche, sondern auch rechte Lehre festhalten. Dieses Anliegen ist völlig berechtigt. Es kann und darf nicht unterschlagen werden, wo immer man vom Kanon sprimt, wenngleich eingeräumt
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wird, daß es nicht ausschließlich zu sehen ist, unter Umständen nicht einmal den ersten Platz verdient. Hat neutestamentliche Verkündigung im allgemeinen das Evangeliwn bringen wollen und haben sich seine Schriften teilweise schon selbst als Evangelium verstanden, wie es auch die Paulusbriefe tun, setzt sich dieses Evangelium nicht allein, aber auch in Gestalt von Lehre und sogar Dogma fort. Denn es gibt das Evangelium nie anders als in Auseinandersetzung mit falscher Heilsverkündigung und Lehre, und das führt notwendig zu Bekenntnissen, zur Theologie, zur Dogmatik. Die Aversion des Protestantismus gegenüber dieser Betrachtungsweise stammt aus der Fehde der Aufklärung - und des Pietismus I mit der Orthodoxie und hat darin geschichtliches Recht für sich. Dom wird jedes Recht mißbraucht. Das geschah in der protestantischen Debatte um den Kanon mindestens in dem Augenblick, als die Geschichte mehr als den Horizont des Kanonproblems abgab, nämlich in sein Zentrum rückte. Man wird hier wohl vor allem Herder zitieren müssen: "Ist die Bibel lebendige Darstellung, allweite höhere Natur, Geschichte Gottes über Völker und Zeiten: welch ein Zuschauer dieser Natur, dieser höhem Darstellung und Geschichte, der nicht jedes auf seiner Stelle, jedes Geschöpf auf seiner Wurzel, in seiner Kraft, in seinem Daseyn betrachten wollte? Welch ein Wahnsinniger, der alle Kräuter fräße, weil sie alle Kräuter Gottes sind, undistsEin Grad mindern Wahnsinns, wenn man die Bibel ohn' allen Unterschied und überlegung, ohne die mindeste Rücksicht, wer? oder was er spreche? wie man meint, als Gottes Wort, d. i. als Unsinn aus den Wolken, unmenschlich lieset?" 120 Die Antithese des letzten Satzes ist entscheidend. Sie wird am Alten Testament exemplifiziert: "So ist endlich auch der Geist dieser Schriften wahr, denn er ist nur Geist des Volks und seiner Geschichte ... Die Geschichte beweiset die Schrift, die Schrift die Geschichte."121 Summiert wird: "Thatsache ist der Grund alles Göttlichen der Religion, und diese kann nur in Geschichte dargestellt, ja sie muß selbst fortgehend lebendige Geschichte werden. Geschichte ist also der Grund der Bibel ... "122 Es braucht kaum ausdrücklich vermerkt zu werden, daß diese Betrachtungsweise einen außerordentlichen Fortschritt für die Auslegung der Bibel bedeutet hat, alle spätere Interpretation und Exegese ermöglichte und sich auf keinen Fall rückgängig machen läßt. Nur in 1• Lieder der Liebe, ein biblisdles Buch, 1776. Herdcrs Sämtl. Werke, ed. Suphan, 1877 ff., Bd. 8, S. 631. 111 Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780), 1 1785. Sämtl. Werke Bd. 10, S. 140. 111 Ebd. S. 257 f.
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diesem Horizont ist auch die Frage des Kanons anzufassen. Erneut muß aber das Unrecht der These in ihrer Verabsolutierung erblickt werden, wie das schon gegenüber dem Aspekt der Lehre geschah. Das Motto: "Die Geschichte beweiset die Schrift, die Schrift die Geschichte" wird zum Leitmotiv der Auslegung bis in die Gegenwart. Dieses Thema wird variiert, wenn man von Heilsgeschichte spricht oder wie Pannenberg die Universalgeschichte postuliert. Es klingt zum mindesten an, wenn stattdessen von Verkündigungsgeschichte die Rede ist, obgleich dann das Gewicht wieder auf das Wort Gottes und die von ihm hervorgerufene Predigt zurückfällt. Die Gefahr dieser Anschauung liegt darin, daß, wie Herder das Alte Testament auf den "Geist des Volks" zurückführte, die urchristliche Botschaft mit dem Geist der Kirche, in ihrer Variation mindestens mit dem Geist der Gemeinden identifiziert oder aus ihm abgeleitet wird. Evangelium und kirchliche Tradition verschmelzen miteinander, und der Kanon wird zur mehr oder minder bewußt ausgewählten, mehr oder minder kontingenten Dokumentation dieser Tradition in ihrem frühesten Stadium. Selbst das Verständnis der Botschaft als "sich selber durchsetzend" denkt noch aus einem Schema der Kontinuität und Konkordanz der Zeugnisse heraus, welche durch kirchliche Erfahrung verbürgt werden. Die Analyse hat darauf aufmerksam machen wollen, in welche historischen und theologischen Schwierigkeiten wir geraten, wenn wir in dieser Weise die urchristliche Geschichte in das Zentrum der Kanonproblematik rücken. Wir müssen das mit fragwürdigen Postulaten unterbauen, nivellieren die neutestamentliche Verkündigung, können das Entscheidende nur durch vieldeutige Chiffren umschreiben. Keine Historie läßt sich jemals so weit aufhellen, daß sie letzte Kriterien an die Hand gäbe und letzte Entscheidungen im Vertrauen auf sie ermöglichte. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, mit der christlichen Geschichte verhielte es sich anders. Will man Eindeutigkeit von hier aus gewinnen, muß Ekklesiologie dafür sorgen und entsprechend in die Mitte gestellt werden. Nun ist nicht im mindesten daran zu rütteln, daß der Kanon wirklich das Buch der Kirche ist, in seinen Schriften frühchristliche Tradition zu Worte kommt, ihre Sammlung wesentlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewährung im Gottesdienst erfolgte, die Aufnahme der Antilegomena kirchlicher Auswahl und kirchlichen Kompromissen zu verdanken ist. Umgekehrt wird die ekklesiologische Betrachtungsweise natürlich weder Christologie noch die Lehre vom göttlichen Worte ausschalten. Wie zumeist in der Theologie geht es um die Setzung der Akzente. Es ist ein alles bestimmender Unterschied, ob Christus der Kirche als Haupt integriert wird oder als ihr Richter und Herr gegenübersteht, ob das 26 Käsemann, Kanon
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Wort Gottes in ihrer Tradition aufgeht, wenigstens als Ursprung und Maß in sie eingeht und sie faktisch sanktioniert, oder ob von vomherein die Möglichkeit und sogar Notwendigkeit offengehalten wird, daß es diese Tradition auch desavouiert und als Verfälschung des Evangeliums sichtbar macht. Um dieses letzte Problem ging es, wenn ich feststellte, der vorliegende Kanon legitimiere in seiner Faktizität alle Konfessionen. Im verschärfe das noch, um keinen Zweifel daran zu lassen, daß ich die Aussage weiterhin nicht aufzugeben gedenke: Er legitimiert als sol
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siert werden. Die ganze Schrift und damit die Vielfalt kirchlicher Tradition wird vom Protestantismus festgehalten, wie Bekenntnisse und Dogmen festgehalten werden: Damit wurde gegenüber drohenden Fehlentwicklungen oder Überwucherungen der rechten Tradition eine Grenze gezogen, und zwar aus kirchlicher Erfahrung heraus, durch faktische oder grundsätzliche Entscheidungen, an denen wir als der Stimme der Väter und Markierungen inmitten eines Widerstreites nicht achtlos vorübergehen können. Wir respektieren sie sogar zunächst, weil wir auch in der Kirche von Vorgegebenheiten tmd Vorentscheidungen nicht abstrahieren dürfen und wollen. Wir sind nicht zuerst auf dem Plan gewesen und haben weder die Fähigkeit noch die Absicht, die Vergangenheit zu überspringen, unsere Welt und unsern Kanon neu zu schaffen. Es wirdangesichtsbestimmter gegenwärtiger Radikalismen sogar gerechtfertigt sein, die Autorität kirchlicher Vergangenheit für unsere Gegenwart anzuerkennen und Vertrauen für sie zu fordern. Mit den Bilderstürmern wollen wir keineswegs verwechselt werden, so gewiß die herrschenden Zustände immer wieder Verständnis für sie zu wecken vermögen rmd gelegentlich selbst Bildersturm der Kirche dienlich ist. Wennall das gesagt ist, muß aber ebenso deutlich hervorgehoben werden, daß kirchliche Autorität, Bekenntnisse und Dogmen für uns nicht letzte Instanz sind, gegen welche es Appellation nicht mehr gibt; daß infolgedessen auch die Losung tota scriptura für uns nicht bedeutet, wir wollten alles und jedes in der Schrift akzeptieren und insofern ihre Gesamtheit als solche zur letzten Norm werden lassen. Die ganze Schrift hat kirchliche Autorität für sich. Alle kirchliche Autorität muß sich jedoch an derjenigen Christi messen, von ihr her richten lassen. Sie hat den Herrn nicht so integriert, daß er sie nur oder im allgemeinen zu sanktionieren hätte, sie allenfalls auch reformieren ließe. Sie hat stets diesen Herrn als letzte Appellationsinstanz sich gegenüber und so faktisch sogar gegen sich. Grundsätzlich bekundet er seine Autorität immer sowohl durch sie wie gegen sie. Das gilt auch für den Kanon. Sola scriptura meint, daß wir die ganze Schrift behalten, um nicht dem Individualismus der Einzelnen, der Gruppen und Konfessionen zu verfallen, daß wir jedoch andererseits die ganze Schrift stets neu und nun auch von den Einzelnen, den Gruppen, den Konfessionen her zu befragen haben, ob und wie weit sie "Christum treibet", weil wir in Dingen des Glaubens uns nicht einer fides implicita überlassen wollen, ständig für ihn persönlich verantwortlich sind und kirchlichem Zufall, kirchlichen Kompromissen, der Willkür der Institutionen uns ebenso wenig ausliefern wie unserm eigenen Gutdünken. Wird damit aber nicht die Quadratur des Zirkels gefordert? Das ist nicht
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der Fall, wenn sich klar und ausreichend bestimmen läßt, "was Christum treibet". Die wirkliche und permanente Krise der Christenheit besteht darin, daß sie solcher Aufgabe gegenüber stets in Verlegenheit geriet, wie bereits das Neue Testament beweist. Man kann die Ekklesiologie schon darum nicht zum Hauptproblem in der Kanonfrage machen, weil diese Verlegenheit sich durch unsere ganze Geschichte hindurchzieht, sich in den Divergenzen und Widersprüchen des Neuen Testamentes ebenso äußert wie die Notwendigkeit, in veränderter Situation dasselbe auf andere Art sagen zu müssen. Wo nur noch Formeln und Chiffren auf das "Christusgeschehen" deuten, wo die umstrittene Geschichte notgedrungen das Evangelium einzig in seinem jeweiligen Niederschlag umschreiben muß oder sogar ersetzt, wird bestenfalls ein Wegweiser mitten in den Dschungel gestellt, der Richtung angeben mag, aber nicht garantiert, daß man auf dem Wege bleibt und das Ziel findet. Der Kanon erhebt im ganzen den Anspruch, Gottes Wort zu sagen oder es zu kommentieren. Das Neue Testament will tatsächlich im ganzen als Christuszeugnis verstanden werden. Wir müssen das gehört haben, wenn das Evangelium vernommen werden soll. Nicht die Geschichte, sondern die Verkündigung steht für Wahrheit ein, so daß sie darauf auch zur Rechenschaft gezogen werden kann und muß. Die Geschichte offenbart Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit. Sofern Gottes Wort oder das Evangelium in die Geschichte eingehen, partizipieren ihre Dokumentationen an dieser Vielfalt und Vieldeutigkeit. Man kann diese Aporie nicht überwinden, indem man nun auf Lehre im Rahmen einer harmonisierenden oder auswählenden Systematik rekurriert. Dabei kommt es tatsächlich wieder nur zur Vielzahl der Konfessionen und Denominationen, und die Verweise auf die Geschichte oder das Kerygma haben ihre Berechtigung darin, uns vor solchem Doktrinarismus zu schützen. WasChristum treibet, wird ebenso wenig einfach aus der Erfahrung der Einzelnen, der Gruppen oder der Kirchen ablesbar. Denn die gemachten Erfahrungen widerstreiten einander mindestens so oft, wie sie zusammentreffen. Offensichtlich kann es klar und ausreichend nur christologisch bestimmt werden. Doch genügt das nicht. Denn es gibt viele Christologien im Neuen Testament und heute noch, so daß sich hier das Dilemma der Lehre nur konkretisiert. Verschiedene Christologien sind nicht ohne weiteres gegensätzlich, sondern mögen sich, im einzelnen mehr oder weniger angemessen, ergänzen, situationsbedingt andere Züge betonen. Das Gewicht muß hier offensichtlich weniger auf Ausdrucksweise und umfassende Darstellung als auf das christologisch Unverwechselbare und schled:J.terdings Unvermeidbare fallen. Christologisch unverwechselbar und un-
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vermeidbar sind allein solche Aussagen, welche Botschaft und Werk des Nazareners nicht überspringen und die Herrsmaft des Gekreuzigten bezeugen. Sie sind umgekehrt ausreichend, um das, was Christum treibet, klar herauszustellen. Weil es sich so verhält, ist die Rechtfertigung des Gottlosen jene Mitte aller christlichen Verkündigung und darum ebenfalls der Schrift, auf welche unter keinen Umständen verzichtet werden darf. Denn sie ist nicht bloß eine Möglichkeit der Lehre und des Kerygmas unter andern. Weil in ihr Jesu Botschaft und Werk als Botschaft und Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit und Herrschaft sich unverwechselbar von allen andern religiösen Aussagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet werden, ist sie das Kriterium zur Prüfung der Geister auch gegenüber christlicher Predigt in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin. Diese Feststellung bedarf nun der Abschirmung gegen Mißverständnisse nach vielen Seiten. Vor allem andem kommt es darauf an, die unlösbare Verbindung dieser Christologie und der Rechtfertigungsbotschaft darzutun. Wie es immer Christologien gegeben hat, welche von der Rechtfertigung absahen, so wird auf der andem Seite immer wieder aus der Rechtfertigungsbotschaft eine Theologie abgeleitet werden, welche in Jesus bloß den Initiator eines diristliehen Selbstverständnisses erblickt. Man hat streng zu beachten, daß beides sich gegenseitig interpretiert: Jede Christologie, welche nicht an der Rechtfertigung des Gottlosen orientiert ist, abstrahiert vom Nazarener und seinem Kreuz. Jede Rechtfertigungsverkündigung, welche nicht christologisch verankert bleibt und dauernd sich auf die Herrschaft Jesu Christi zurückbezieht, mündet in einer Anthropologie oder Ekklesiologie, etwa in einer Glaubenslehre, die auch anders begründet werden können. Das Werk des Christus ist die Rechtfertigung der Gottlosen, diese bleibt umgekehrt allein sein Werk und kann nur von ihm her begründet und akzeptiert werden. Ist das klar, hat man der heute sich vielfach äußernden Sorge Rechnung zu tragen, daß damit einem Dogmatismus die Türen geöffnet würden. Es ist tatsächlich nötig zu sagen, daß lebendige und konkrete Verkündigung nicht durch eine dazu noch extrem einseitige Systematik abgelöst werden sollen, obgleich mir scheint, daß diese Gefahr nicht ernsthaft zu befürchten sei, wo das skizzierte Wechselverhältnis von Christologie und Rechtfertigungsbotschaft festgehalten wird. Wir glauben nicht an eine Idee, ein System oder ein Programm, sondern an diesen Herrn, welcher der Nazarener war, und sprechen deshalb von seinem Werk an uns, das nicht in einer Idee, einem System, einem Programm sich erschöpft, sondern geschieht, wo immer man es mit ihm als Herrn zu tun bekommt. Deshalb sind wir auch nicht an eine feste Terminologie und nicht einmal an eine gleichblei-
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bende Christologie und Dogmatik gebunden. Das Neue Testament dokumentiert, daß man die anvisierte Sache in verschiedenen Räumen und Zeiten verschieden ausgedrückt hat, und nur theologisdl.er Purismus ist daran interessiert, Verkündigung uniformierend und reduzierend auf ein einziges Schema zu bringen, das notwendig zu einer Sprache Kanaans, sei es auch in der theologischen Zunft, führen müßte. Umgekehrt wird jetzt wichtig, was früher über die Bedeutung der Lehre für die Urchristenheit wie die Kanonbildung festgestellt wurde. Es ist allerdings theologische Aufgabe, so präzis wie möglich das Entscheidende zu formulieren, sogar zu definieren, damit unsere Fahrt sich nicht im Ozean der Möglichkeiten und des Mißverständlichen verliert. Theologie führt zu Dogmatik und hat es ansatzweise bereits im Neuen Testament getan. Unsere Verkündigung darf nicht in Formeln aufgehen. Theologie, welche Formeln und Definitionen verachtet, bleibt nicht sachgebunden. Die Rechtfertigungslehre soll nicht Verkündigung ersetzen und Geschehen am ganzen Menschen reduzieren auf das, was wir denken. Wo die Lehre jedoch nicht mehr die Funktion hat, Verkündigung zu orientieren und Geschehen zu definieren, mag etwa aus der Rechtfertigung der Gottlosen die der Frommen werden, wofür es wieder bereits im Neuen Testament Ansätze und Vorbilder gibt. Theologie löst nicht das Zeugnis, die Erfahrung, die Wirklichkeit eines andauernden Geschehens ab, hat aber dafür zu sorgen, daß Klarheit, Richtung, Anstoß und Fronten nicht in Erbaulichkeit und allgemein religiösen Aussagen oder Erlebnissen untergehen. Man muß mit einem Satz sagen können, was Christum treibet, oder man wird überhaupt nichts Entscheidendes zu sagen haben. Das Evangelium hat eine unerschöpfliche Variationsbreite, es hat aber ebenso eine Unverwechselbarkeit, die es durch den Nazarener und Gekreuzigten empfängt und die sich in provokativ zugespitzten Aussagen äußert. Das bedeutet weiter, daß es theologische Aussagen gibt, welche sich nicht mit dem Evangelium vereinigen lassen. Gedacht ist dabei nicht an die von Joest zitierten Paradoxien, die sich durchaus als notwendig begreifen lassen. Rechtfertigung des Sünders schließt Nachfolge im Gehorsam ein, wenn Christus der Rechtfertigende und darum Herr bleibt. Sie schließt nicht einmal die Verwendung des jüdischen Gedankens von dem Gericht nach den Werken aus, wenn darunter in christlicher Modifikation und recht paradox gemeint ist, daß der Rechtfertigungsglaube sich im Verhalten des Christen zu äußern hat und wir dafür verantwortlich gemacht werden. Unvereinbar mit dem durch die Rechtfertigungsbotschaft charakterisierten Evangelium ist jedoch eine Verkündigung der Rechtfertigung, welche allein den
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Frommen widerfährt, und jede Lehre, welche darauf aufgebaut ist, daß der Mensch sich selbst transzendieren könne. Unvereinbar mit ihr ist es ebenso, wenn die Rechtfertigungsbotschaft, die jedem einzeln gilt, durch kultische, institutionelle Ordnungen in den Schatten geriickt wird. Man wird diese Sachverhalte am. Exempel der alttestamentlichen Tora, aber amh am. Verhältnis von Paulus und Lukas, Paulus und Jakobus zu veranschaulichen und zu überprüfen haben, ins Christentum ständig eindringende Gesetzlichkeit und Schwärmerei bereits im Neuen Testament verifizieren und deshalb von dem unbegreiflichen, aber bei Theologen und in Gemeinden grassierenden Aberglauben abrücken, im Kanon bekunde sich überall nur echter Glaube, wenn vielleicht auch in nicht ganz adäquater Form. Die Rechtfertigung des Gottlosen hat etwas mit dem 1. Gebot zu tun und ist dessen anstößigste und soteriologisch eindeutigste Explikation. Das besagt jedoch, daß es geschichtlich Jahwe nur im Streit mit Baal, Jakob nur in Bindung und Auseinandersetzung gegenüber Esau gibt, Christ und Antichrist stets gleichzeitig auf dem Plane sind, deshalb auch Glaube und Aberglaube, Kirche und Gegenkirche zwar unterschieden, aber nicht irdisch sauber getrennt werden können. Man verkennt den Kanon, wenn man sich einbildet, in ihm sei dieser Streit nicht im Gange, deshalb ihm gegenüber die Prüfung der Geister nicht notwendig. Das gilt nicht bloß von den Rändern, sondern grundsätzlirh von jedem Text. Es gilt ebenso grundsätzlim wie die entgegengesetzte Feststellung, daß in der Sduift ausreimend und klar zutagetritt, auf was es ankommt, also das Evangelium. Weil das Kanonproblem nicht bloß historisch behandelt werden kann, sondern zugleich die Geltung der Schrift in der Kirche, ihrer Verkündigung und Lehre zur Debatte stellt, ist das Kanonproblem zutiefst das Problem seiner rechten Interpretation. Keine kirchliche Entscheidung, Tradition und kein Vorurteil nehmen uns die Verpflirhtung ab, diese rechte Interpretation aus der Srhrift heraus zu lernen, obgleich sie uns Hilfestellung dabei leisten mögen. Auch exegetisrh und historischläßt sirh die Aussage vertreten, daß die Schrift mit hinreimender Klarheit auf diese ihre eigene Mitte im Evangelium hinweist, aus welcher sie interpretiert werden will. Worum es jetzt aber geht, ist die Einsicht, daß wir dabei auf einen Kampfplatz gestellt werden. Hier wird nun die Geschimte bedeutsam, welrhe nicht an die Stelle des Evangeliums gesetzt werden sollte, jedodl das Feld des Evangeliums oder sein Horizont bleibt. Nimt sie bestimmt und interpretiert das Evangelium. Sie kann das nimt, weil sie aus und in sich selber vieldeutig ist, wie Historiker und Exegeten unablässig erfahren. Umgekehrt aber bestimmt und interpretiert das Evangelium die Geschichte, nämlim eben als Kampfplatz zwischen
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Gott und Abott, Christus und Antichrist, Glaube und Aberglaube, Kirche und Gegenkirche, wobei die Gestalten und Fronten dieses Kampfes dauernd sicl:t ändern. Als geschicl:ttlichesDokument bekundet auchdie Schrift solchen Kampf und zieht uns mit ihrer Verkündigung in ihn hinein. Anders werden Bibel und Predigt doketisch betrachtet, und erfahren wir aus ihnen nicht, was es um den wirklichen Menscl:ten, was es um uns selber ist, selbst um christliche Existenz. Der Kanon wird als solcher dadurch legitimiert, daß er uns in jene durch Christus und die Rechtfertigungsbotschaft bestimmte Wirklicl:tkeit stellt und sie durch die frühchristliche Oberlieferung exemplarisch verdeutlicht. Es ist nicht die Wirklichkeit allein des rechten Glaubens, die es in dieser Isolation irdisch nie gegeben hat und geben kann. Es ist die Wirklichkeit, in welcher Glaube angefochten bleibt und sich ständig dem Aberglauben zu widersetzen hat, in welcher es deshalb auch echte Predigt und Lehre nur in der Auseinandersetzung mit tmangemessener und falscl:ter gibt, in welcher es schließlich das Evangelium nicht ein für alle Male als Destillat aus Sätzen und Texten, sondern nur in der viva vox evangelii quer durch den Raum anderer Heilslehre gibt. Wenn wir auf den Gedanken kämen, die Schrift auf das Evangelium reduzieren zu wollen, würde zuletzt von der Schrift nichts mehr übrig bleiben. Theologisch aber wäre der Himmel zum Ort des Evangeliums gemacht, während es doch die Erde sein muß. Das Recht des Kanons besteht gerade darin, daß er uns in irdische Wirklichkeit zurückstößt, wenn wir wie die Glossolalen allein auf das Vernehmen himmlischer Stimmen und ihre reine Wiedergabe bedacht sind. Weil die irdische Wirklicl:tkeit der Ort des Evangeliums ist, sind Kanon und Evangelium nicht identisch, aber zusammengehörig. Der Kanon gibt das Evangelium so wieder, wie es in die Geschichte eingegangen ist. Er bezeichnet den Raum des Evangeliums exemplarisch in ausgewählter urchristlicher überlieferung. Dazu hat die Reformation mit ihrem Sola Scriptura jagesagt. An dieser Stelle mag man sich nochmals an Mareion erinnern. Auch er hat den urchristlich qualifizierten Raum des Evangeliums anzeigen wollen. Er hat es jedoch unter dem Gesichtspunkt der unvermischten reinen Lehre getan und konnte deshalb nicht einmal die Paulus-Uberlieferung unkorrigiert aufgreifen. Er ragt aus seiner Zeit hinaus, weil es ihm um das unverfälschte Evangelium ging. Gerade das verführte ihn aber dazu, dem Evangelium den Lebensraum zu nehmen, die Wirklichkeit und die Geschichte. So gehen diesem zugleich die Freiheit und die Angefochtenheit verloren. Evangelium und Kanon dürfen sich nicht decken, wie Mareion es wollte. Denn das Evangelium bleibt nicht länger es selbst, wenn es allein auf dem Plan steht. Es wird zur lebensfremden und lebensfeindlichen Doktrin.
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wenn es den Ort in der Welt nimt mehr innehat, von dem aus es der Welt widersprimt. Die Alte Kirche hat mit Remt den Kanon Mareions durm ihren ersetzt, obgleich dieser das Evangelium viel tiefer in irdische und geschichtlime Problematik zog. Genau das ist nimt nur historisch, sondern auch theologisch notwendig, weil die viva vox evangelii nimt irdischer Widerhall himmlismer Stimmen, sondern Gottes Herausforderung an Mensmen und Welt ist, jeden irdischen Platz und jede neue Zeit angreifend und durchdringend, darum kein depositum fidei, das selber unangreifbar wäre, sondern von glaubenden Menschen nach ihrem Verständnis und Vermögen bezeugt, vom Unglauben verworfen, vom Aberglauben verfälsmt. Das Evangelium entreißt nicht dem Kampffeld der Erde, sondern stellt in es hinein, und der Kanon bekundet das, wahrt insofern den Charakter des Evangeliums, das eben nicht eine Summa theologica ist. Grundsätzlim gesehen war es nimt notwendig, den Kanon auf das Zeugnis der Urdtristenheit zu beschränken. Jede Zeit bietet den Kontext zum Evangelium. Doch war es weise, solme Begrenzung vorzunehmen, weil kirchliche Tradition immer komplexer und undurchsmaubarer wird, je weitere Kreise das Evangelium zieht, und alles Leben aus der Rückbesinnung auf das Vorgegebene seiner selbst bewußt wird. Der abgegrenzte Kanon ist das Zeichen dafür, daß wir ständig zwar aufs neue und für uns persönlich zu glauben lernen müssen, unser Glaube jedoch nimt durch uns und unsere Situation begründet wird, sondern sich am vorgegebenen Evangelium und jenem Christus orientiert, welcher der gekreuzigte Nazarener ist. Dessen Bedeutung für die verschiedenen Generationen wird auf verschiedene Weise je nach der Situation verkündigt werden, wie es smon die Variationsbreite des urchristlimen Kerygmas erkennen läßt. Anders käme es nicht zur viva vox evangelii, die durdt Schallplatten, Formeln der Theologie und Gemeindefrömmigkeit, dogmatische Doktrinen nimt zu ersetzen ist. Christi Bedeutung für Mensmen und Welt wird aum angemessener und unangemessener heraustreten, je nachdem wir mehr durch überkommenes Erbe oder Bedrängnis der Gegenwart bestimmt werden, unsere Sendung durch private oder institutionelle Introvertiertheil bedroht ist, die Gegner wechseln. So ist die verkündigende Gemeinde nicht bloß Werkzeug des Evangeliums, sondern steht ihm immer auch im Wege, weil sie das corpus permixturn bleibt. So kommt es endlich dazu, daß diese Gemeinde, die in der Welt lebt, sich von ihrer Umwelt Formen und Inhalte der Verkündigung aufzwingen läßt, welche den Glauben faktisch zum Aberglauben werden lassen. All diese Möglichkeiten werden bereits im uns vorgegebenen Kanon als einer geschichtlimen Dokumentation simtbar. Sie müssen es werden, wenn er nicht das vom Himmel gefallene Buch, die durm
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ihn sprechende und ihn akzeptierende Gemeinde die Schar der Angefod:ltenen und noch nicht Vollendeten ist. Historische Analyse und theologische Kritik sind darum der Bibel gegenüber erforderlich. Sie werden beide auf ihre verschiedene Weise zu einem Kanon im Kanon führen, wie es selbst die antithetisch verwandte Losung tota scriptura ist. Es gibt kein Verstehen eines geschichtlichen Zusammenhangs, das nicht von einer Mitte aus erfolgen müßte. Es gibt keine historische Analyse und theologische Kritik, die sich nicht stets neue Oberprüfung gefallen lassen müßten. Doch ändert das darin nichts, daß beide nicht zum Verstehen führen, wenn sie über dem Detail kein Zentrum mehr anzugeben wissen. So vollzieht sich Interpretation historisch, indem sie die Gewichte richtig einschätzt und verteilt, theologisch dem Neuen Testament gegenüber, indem sie Kanon und Evangelium sowohl unterscheidet wie beieinanderhält. Oberspitzt zusammengefaßt läßt sich sagen, daß über dem d:uistlichen Kanon die Oberschrift stehen könnte: Dem unbekannten Gott. Mareion hat das richtig gesehen, daraus nur falsche Folgerungen gezogen. Die lukanische Areopagrede andererseits beweist, daß der in dem gekreuzigten Nazarener offenbarte unbekannte Gott in christlicher Predigt und so schon im biblischen Kanon oft genug die Züge und das Wesen der Juden und Heiden durchaus bekannten Gottheiten erhielt, weil sich das Evangelium in Welt und Geschichte einließ und so von seiner jeweiligen Umwelt her interpretiert werden konnte, auf die es bezogen werden mußte. Der Kanon ist die durch frühchristliche Zeugnisse begrenzte Dokumentation des Widerstreites zwischen Evangelium und Welt, kein Lehrbuch der pura doctrina, nicht bloß oder vomehm.lim die Zusammenfassung apostolischer Tradition und insofern wimtigste dogmengeschichtliche Urkunde, erst remt nicht primär privates oder kirchliches Erbauungsbuch. Er ist die Dokumentation jener Geschimte, in welcher das Evangelium vom unbekannten Gott erstmalig in die Welt der Götter stieß.