Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 521 Die Mausefalle
Das neue Ziel von Horst Hoffmann
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 521 Die Mausefalle
Das neue Ziel von Horst Hoffmann
Die letzten Tage im Bann des Zugstrahls
Alles begann eigentlich im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Seit dieser Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Und das ist auch dringend notwendig. Doch bevor er das an Bord herrschende Chaos beseitigen kann, gilt es erst zu verhindern, daß die in einem Traktorstrahl gefangene SOL von den Robotern des Planeten Osath demontiert wird. Atlan schafft es schließlich nach einer wahren Odyssee auf Osath, das Generationenschiff vor der Vernichtung zu retten. Doch bei den Solanern selbst – auch in der Führungsspitze der SOLAG – ist die Lage nach wie vor ziemlich desolat. Man ist sich noch uneins über DAS NEUE ZIEL …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide kämpft um ein neues Ziel für die SOL. Chart Deccon ‐ High Sideryt der SOL. Palo Bow ‐ Der Magnide unterstützt Atlan. Gavro Yaal ‐ Der ehemalige Schläfer kümmert Nahrungsmittelproduktion. Bjo Breiskoll ‐ Der Katzer wird für ein Monster gehalten.
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1. »Das ist …« Joscan Hellmut lachte gequält und breitete die Arme aus. »Wenn ichʹs nicht selbst sehen würde!« »Abwarten«, sagte Atlan. Nach außen hin kehrte er wieder den ewigen Skeptiker heraus, während er mit Hellmut und Bjo Breiskoll durch die endlos erscheinenden Korridore marschierte. Gavro Yaal hatte sich unmittelbar nach der Rückkehr abgesetzt, und das war augenblicklich für alle Beteiligten zweifellos das Beste. Innerlich aber wurde der Arkonide zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Nicht nur das, was er hier an Bord der SOL sah, die fast schon ungewohnt freie Atmosphäre, die auffällige Zurückhaltung der SOLAG und die Art und Weise, wie die Roboter von Mausefalle VII sich überall nützlich machten, schien dazu angetan, vielleicht gefährlichen Optimismus in ihm aufkommen zu lassen. Schon beim Anflug auf den Fernraumer hatte er Zufriedenheit empfunden, als er sah, daß die Wiederherstellungsarbeiten zwar große Fortschritte machten, dennoch aber noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen würden. Dies war einerseits durchaus positiv zu werten, erhielten doch so die auf dem Planeten zurückgebliebenen Auswanderer noch eine Frist, ihre Entscheidung zu überdenken. Andererseits brannte ihm die Zeit auf den Nägeln. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Die Kosmokraten erwarteten von ihm, daß er
die SOL in einen ganz bestimmten Raumsektor brachte. In Varnhagher‐Ghynnst sollte er dann eine Ladung an Bord nehmen, über die er erst an Ort und Stelle erfahren würde. Nur das Ziel, an das er sie anschließend bringen sollte, war ihm ebenfalls bekannt. Die sich hinschleppenden Arbeiten der Roboter bedeuteten eine weitere Verzögerung für ihn. Und durfte er hoffen, daß der Herr in den Kuppeln sein Versprechen hielt und den Zugstrahl abschalten würde, sobald er ihm das vereinbarte Zeichen dazu gab? Selbst dann, wenn die SOL diesen Ort verlassen konnte, standen ihm Schwierigkeiten bevor, die es noch zu beseitigen galt. Diesmal würde er mit neuen Vorschlägen zu Chart Deccon kommen. Wie standen die Aussichten dafür, daß Deccon und die Magniden auf sie eingingen? Wieviel Zeit hatte er wirklich um den Auftrag der Kosmokraten auszuführen? Hätten sie sich gemeldet oder in die Entwicklung eingegriffen, falls er ihnen zu langsam vorankäme? Atlan verscheuchte die Gedanken daran. Was er auf dem Weg zur Zentrale im Mittelteil der SOL sah, bewegte ihn tief. Bjo Breiskoll war auffallend schweigsam. Er wirkte so, als lauschte er in sich hinein. Dafür war Hellmut um so aufgeregter. »Nun seht euch das an!« rief er aus und deutete auf drei junge Solaner, die einer Gruppe von Robotern dabei halfen, die Abdeckplatten über einer Schalteinheit wieder anzubringen. Die Solaner, zwei Mädchen und ein Heranwachsender aus einer der vielen kleinen Gruppen an Bord, behinderten die Maschinenwesen dabei eher, als daß sie ihnen von Nutzen sein konnten. Doch die Roboter vertrieben sie nicht, sondern schienen sie sogar noch zu ermuntern. Eines der Mädchen lachte! Atlan fragte sich betroffen, wann er zum letztenmal ausgelassenes Gelächter auf der SOL gehört hatte. »Mißgebaute«, murmelte der Arkonide. »Und wenn schon! Man sollte fast glauben, daß sie … daß sie den Menschen Mut machen.«
Überall entlang der Hauptkorridore und im Einzugsbereich teilweise demontierter Zonen waren die Roboter von Mausefalle VII – oder Osath, wie die ausgestorbenen intelligenten Bewohner ihre Welt genannt hatten – am Werk. Die meisten waren viereckige Kästen unterschiedlicher Größe und auf vier kurzen Beinen. Diese führten mehr oder weniger stur ihre Arbeiten aus. Im Gegensatz zu ihnen waren die sogenannten »Mißgebauten«, die fühlen und eigene Entscheidungen treffen konnten, in der Regel nur an Stellen anzutreffen, denen eine gewisse Bedeutung zugemessen werden durfte – an den Grenzen zwischen den Gebieten rivalisierender Solaner‐Gruppen, in den nun verlassenen Quartieren von Vystiden oder Ferraten oder bei den Wohnunterkünften der Buhrlos. Und sie gaben sich allem Anschein nach nicht damit zufrieden, stur ihre Befehle zu befolgen. Ungefragt mischten sie sich in die Belange der Solaner ein – hier, um einigen jungen Leuten das völlig neue Gefühl zu vermitteln, zu etwas nützlich zu sein, dort, um Pufferzonen zwischen der SOLAG und von ihr unterdrückten Bewohnern des Schiffes zu schaffen. »Ich glaube«, sagte der Arkonide, als er und seine beiden Begleiter sich einem Antigravschacht anvertrauten, »daß Y´Man einiges wiedergutmachen will.« »Du meinst, er steuert die Roboter?« fragte Hellmut. Atlan zuckte die Schultern. Er schwang sich aus dem Schacht. Hellmut und Breiskoll folgten ihm. Ein halbes Dutzend Ferraten kam über den Korridor und verschwand in einer Tür. Die Rostjäger schienen es eilig zu haben, den dreien aus dem Weg zu gehen. »Mehr oder weniger, Joscan. Es ist bestimmt kein Zufall, daß die Mißgebauten an diesen und jenen Brennpunkten arbeiten. Y´Man führte uns lange an der Nase herum und stellte uns vor allerlei Rätsel. Jedenfalls dürfte der Gerechtigkeitssinn der Mißgebauten sich für die SOLAG fatal ausgewirkt haben.« Vystiden hockten ziemlich niedergeschlagen in einem Bereitschaftsraum und warfen den drei Heimkehrern finstere Blicke
zu. Natürlich war die SOLAG durch die Niederlage geschockt, die sie im Kampf gegen die Demontageroboter erlitten hatte. Atlan ahnte, daß mehr hinter ihrer Zurückhaltung steckte. Aber würde dieser Zustand auch anhalten, nachdem sich die Roboter aus der SOL zurückgezogen hatten? Vor einem Nebenkontrollraum blieb Atlan stehen. Der Raum war verlassen, doch auf mehreren Monitoren waren verschiedene Ausschnitte des Schiffes zu sehen. Früher oder später würden Vystiden erscheinen, um ihn und seine Begleiter zu Deccon zu bringen. Es war schon mehr als verwunderlich, daß man sie nicht gleich im Hangar in Empfang genommen hatte, aber mit Sicherheit wurden sie beobachtet. Atlan wollte sich soviel an Informationen wie nur eben möglich verschaffen, bis sie geholt wurden. Er betrat den Kontrollraum und setzte sich vor die Schirme. Nach Minuten wußte er, daß die Veränderung an Bord noch viel tiefgreifender waren, als er bislang geglaubt hatte. Die Buhrlos genossen Freiheiten wie nie zuvor. Wenn sie an Bord zurückkehrten, brauchten sie kein E‐kick abzugeben. Niemand kontrollierte sie. Die Roboter von Osath sabotierten jeden solchen Versuch mit derart durchschlagendem Erfolg, daß die Resignation großer Teile der SOLAG nur zu verständlich wurde. Und überall bewegten sich Menschen über die Korridore, die aus ihrer Lethargie gerissen worden waren. Sie waren übertrieben vorsichtig, als trauten sie dem Frieden nicht. Marschschritte näherten sich über den Korridor. Atlan stand auf und nickte den beiden anderen zu. »Ich schätze, Deccon hat sich endlich entschlossen, uns sein Begrüßungskommando zu schicken«, sagte er. »Es wird hart werden. Aber jetzt bin ich noch zuversichtlicher, daß er mich anhören wird.« Sie verließen den Nebenkontrollraum und sahen sich von Soldaten umringt. Gleich drei Offiziere befanden sich bei ihnen. Einer von
ihnen trat vor, die rechte Hand auf der Waffe. »Der High Sideryt will euch sehen«, knurrte der Vystide. »Besser ihr macht keinen Ärger.« * Chart Deccon wollte nicht »sie« sehen, sondern vorerst nur Atlan. Kurz vor der Zentrale warteten andere Vystiden und nahmen die drei in Empfang. Joscan Hellmut und Bjo Breiskoll wurden fortgeführt, während der Arkonide allein in einen komfortabel eingerichteten Raum gebracht wurde. Die Tür des Raumes wurde von außen bewacht. Atlan hörte Stimmen der Vystiden und konnte ihrer Unterhaltung entnehmen, daß sie hier auf Deccon warteten. Es war nicht schwer zu erraten, weshalb der High Sideryt sich zunächst allein mit ihm unterhalten wollte. Er stand unter Zugzwang. Die Magniden erwarteten bald eine Entscheidung von ihm. Manches von dem, was Atlan ihm zu berichten hatte, mochte sich dann als für ihn günstig herausstellen. Atlan beneidete Deccon nicht. Sein Mitleid ging allerdings nicht soweit, daß er auch nur in einem Punkt von seinen Plänen abzurücken bereit gewesen wäre. Er glaubte, mittlerweile die Motive des im Grunde einsamen und müden Mannes am Schalthebel der Macht einigermaßen gut zu verstehen. Deccon mußte der SOL wieder ein Ziel geben – und genau darauf spekulierte er. Die Vystiden vor der Tür verstummten. Gleich darauf war Chart Deccons Stimme zu hören. Schritte entfernten sich. Als die Tür geöffnet wurde, stand Deccon allein vor Atlan. »Komm mit«, sagte der High Sideryt nur. Atlan begriff. Er folgte ihm auf einem der geheimen Wege in seine Klause. Deccon schien die Preisgabe dieses Weges nichts mehr
auszumachen. Immerhin hatte er schon einmal ungebetenen Besuch von Atlan erhalten, als er sich im Zustand der Überladung mit E‐ kick befand. Er wußte also, daß der Arkonide zumindest diesen einen Schleichweg kannte. Atlan bezweifelte nicht, daß Deccon jeden dieser Wege durch einige einfache Schaltungen blockieren konnte. Aber daran dachte der Herrscher über nun noch gut 90.000 Bewohner der SOL augenblicklich nicht. Ihm ging es darum, hinter dem Rücken der Magniden mit Atlan zu reden. Die beiden so ungleichen Männer, denen im Grunde so vieles gemeinsam war, betraten die Klause, jene kleinere Zentrale neben dem eigentlichen Nervenzentrum des Schiffes, die Deccon ganz allein gehörte. Der 120 Quadratmeter große Raum mit den sieben stufenförmigen Podesten, dem thronähnlichen Sessel, den Bildschirmen und der Schlafkabine war Atlan fast schon vertraut. Die sieben Kampfmaschinen der Robotleibwache hatten alles Erschreckende weitgehend verloren. Nur die düstere und Einsamkeit vermittelnde Grundstimmung der Klause legte sich dem Arkoniden wieder auf den Magen. Deccon wies ihm einen der Sessel aus schwerem, schwarzem Holz an. Atlan setzte sich und beobachtete den klobigen Hünen dabei, wie er sich zu einem der Bildschirme begab und eine Taste berührte. Augenblicklich waren die Stimmen der Magniden zu hören, die auf dem Monitor von Deccon überwacht wurden. Alle neun saßen beieinander und diskutierten heftig. Deccon hörte ihnen eine Minute lang zu, winkte fast verächtlich ab und schaltete den Ton aus. Er setzte sich Atlan gegenüber. Die hellgrauen Augen in seinem massig aufgedunsenen, roten Gesicht kaum zu sehen, richteten sich auf den Arkoniden. »Nun?« fragte er. »Ich warte.« Atlan lehnte sich zurück, nickte und begann mit seinem Bericht. Er schilderte die unfreiwillige Landung mit der Space‐Jet auf dem Raumhafen von Osath, seinen Abtransport in die Stadt, wo er zu
Joscan Hellmut, Gavro Yaal und Bjo Breiskoll gesperrt worden war, YʹMans Auftauchen und die Erklärungen, die der Mißgebaute ihm über den Herrn in der Kuppel gegeben hatte. Nichts, das Chart Deccon wissen mußte und sollte, verschwieg er. Anderes sparte er aus. Er berichtete von der Begegnung mit den von Bord der SOL gegangenen Monstern – den neuen Bewohnern von Assygha – schließlich von seiner Unterhaltung mit dem Robotgehirn. »Ich muß zugeben«, sagte er, »daß es vielleicht nicht zu dieser Unterredung und deren Ergebnis gekommen wäre, hätte mich Y´Man nicht über das Gehirn aufgeklärt. Der Herr in den Kuppeln darf nur friedliche Zwecke verfolgen. So wurde er programmiert. Da er nicht in der Lage war, nach dem Willen seiner Erbauer in den Weltraum hinaus zu wirken, errichtete er schließlich den Zugstrahl. Wenn er andere Intelligenzen schon nicht in der Ferne erreichen und beeinflussen konnte, wollte er es hier tun, auf Osath. Außerdem hoffte er, auf diese Weise organisches Leben zu finden, das in der Lage sein sollte, ihm die Befehle zu geben, die seine Erbauer ihm nicht mehr geben können. Es war die ganz spezielle Art des Robotgehirns, seine Einsamkeit zu bekämpfen.« Atlan machte eine Pause, nachdem er das Wort »Einsamkeit« über Gebühr betont hatte. Deccon zeigte keine Reaktion. »Weiter!« sagte er nur. »Schließlich und endlich unterhielt der Herr in den Kuppeln den Zugstrahl, um auf diese Weise manche kriegerische Handlung zu unterbinden. Die Intelligenzen aber, die er so zu sich holte, waren fast alle aggressiv und uneinsichtig. Unser eigentliches Problem bestand darin, dem Robotgehirn klar zu machen, daß es längst sein eigenes Leben führte, das nicht im Sinne seiner Konstrukteure sein konnte. Wir mußten einen Weg finden, ihm die alten Gesetze wieder in Erinnerung zu rufen, es zu der Einsicht zu bringen, daß es verhängnisvolle Irrtümer beging und Schaden anrichtete, wo es im Sinne des Guten zu wirken glaubte.«
Atlan stand auf und legte die Arme auf den Rücken. Vor Deccon blieb er stehen. »Ich konnte es schließlich davon überzeugen, daß auch Weicos und die neuen Bewohner von Assygha sich als seine Partner verstanden, daß es nun Leute gefunden hatte, die bereit waren, mit ihm zusammen all die in vielleicht Jahrtausenden aufgehäuften Probleme zu bewältigen. Nach langem Zögern akzeptierte es dies. Sobald die SOL vollkommen wiederhergestellt ist, werde ich ihm ein Signal geben, und es wird den Zugstrahl ausschalten. Die SOL wird frei sein, Chart Deccon. Wer nicht mit uns zurückkam oder sich noch dazu entschließen mag, den Planeten zu verlassen, wird dem Gehirn dabei helfen, die eingefangene Intelligenzen in ihre Heimat zurückzubringen.« Deccon schwieg lange. Dann nickte er und erhob sich ebenfalls. »Die Frage ist, ob wir diesen Versprechungen glauben dürfen, Atlan.« »Ich denke schon. Zumindest bleibt uns gar nichts anderes übrig. SENECA wäre jetzt wertvoller denn je für uns, doch …« Deccon winkte ab. Das Thema SENECA schien für ihn nicht mehr zu existieren. »Die Frage ist nun«, sagte der Arkonide gedehnt, »was du mit der neugewonnenen Freiheit anfangen willst. Die SOL braucht ein Ziel, das ihre Bewohner vor Augen haben können. Du weißt es so gut wie ich.« Deccon wandte sich den Bildschirmen zu und starrte finster vor sich hin. »Ein Ziel«, murmelte er. »Ich biete dir eines an«, sagte Atlan. * Atlan hatte nicht erwartet, daß der High Sideryt ihn freudestrahlend
als Retter in der Not begrüßen würde. Er war darauf vorbereitet gewesen, lange Diskussionen führen zu müssen, einem Widerstand zu begegnen, der im Grunde nur vorgetäuscht war, ein langsames Rückzugsgefecht Deccons, das ihm erlaubte sein Gesicht zu wahren. Schon einmal war er von diesem Mann bitter enttäuscht worden. Diesmal hatte er geglaubt, ihm seine Pläne viel eher schmackhaft machen zu können, eben weil er die Motive Deccons recht gut durchschaut zu haben glaubte. Deshalb war er nun wie vor den Kopf geschlagen, als Deccon zwar nicht rigoros ablehnte, aber auch keine Erbauung zeigte. Deccon nahm in seinem Thronsessel Platz, wie um seine Überlegenheit zu demonstrieren, während Atlan gebannt auf seine Entscheidung wartete. Bald wurde klar, daß er durch allerlei Phrasen hingehalten werden sollte. Was wollte Deccon denn noch? Er zählte sich zu den Fortschrittlichen. Atlans Vorschlag bot ihm die Gelegenheit, deren Position gegenüber den Traditionalisten unter den Magniden zu stärken – und damit seine eigene. »Varnhagher‐Ghynnst«, sagte Deccon. »Warum gerade dorthin?« Schon einmal war der Arkonide ihm die Antwort darauf schuldig geblieben. Sollte er eine Lüge erfinden? Er gab sich so, als wüßte er, weshalb er nach Varnhagher‐Ghynnst wollte, als sei diese Mission nicht nur für ihn, sondern für die ganze SOL von eminenter Wichtigkeit. Hatte er wirklich erwarten dürfen, Deccon damit zu überzeugen? Er war erregt. Er mußte ans Ziel. Führte der Weg dorthin nun doch nur über einen erbitterten Machtkampf, den er noch nicht gewinnen konnte? »Hör zu«, machte er einen weiteren Versuch, Deccon zu überzeugen. »Wir brauchen uns gegenseitig nichts vorzumachen. Ich glaube, dich in etwa zu verstehen. Du sitzt in einer verdammt bösen Klemme. Du siehst tagtäglich, was die Freiheit, die eure Vorfahren vor zweihundert Jahren erkämpften, den Solanern
gebracht hat: Not und Elend, ein Leben ohne Sinn. Ich will mich jetzt nicht darüber streiten, ob ihr vor der Übergabe der SOL durch Perry Rhodan in Unfreiheit lebtet. Du kennst meine Meinung dazu. Ich biete dir eine Lösung deines Problems an. Du hast es in der Hand, den Menschen und Extras an Bord ein neues Ziel zu geben, an dem sie sich aufrichten können, einen neuen Lebensinhalt, einen Sinn ihrer Existenz. Du weißt, wozu Menschen fähig sind, die ein solches Ziel vor Augen haben. Du siehst es, wenn du einen Blick auf die Bildschirme wirfst. Die Wiederherstellung der SOL ist ein solches Ziel. Solaner, die bislang dahinvegetierten und an nichts Anteil nahmen, die nur in Angst und Verzweiflung lebten, blühen auf. Ich hörte ein Mädchen lachen, Chart! Du kannst die Solaner wieder dazu bringen, zu arbeiten, etwas aufzubauen. Du weißt, welche materiellen Verbesserungen erreicht werden können. Aber du hast Angst vor einer neuen Unfreiheit.« »Ist diese Angst etwa unbegründet?« fragte Deccon heftig. »Wer garantiert mir, daß die SOL nicht erneut zu einem Instrument einiger sendungsbewußter Narren werden wird, wieder von einem kosmischen Brennpunkt zum anderen jagt, und daß ihre Bewohner nur Werkzeuge werden? Du glaubst mich also gut zu kennen, Arkonide. Dann weißt du, daß ich nichts anderes will, als Ruhe und Frieden für die Solaner, ein menschenwürdiges Dasein!« »Dann sieh dich in der SOL um!« Atlan war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. »Ist dies ein menschenwürdiges Dasein? Nennst du es Ruhe und Frieden, wenn die Angst vor der SOLAG und ihrem High Sideryt die Seelen der Solaner zerfrißt?« »Eine Kontrolle ist nötig!« fuhr Deccon auf. »Du machst mir verlockende Angebote und malst eine rosige Zukunft! Aber dieses Schiff ist unsere Welt, Atlan! Ich werde nicht zulassen, daß sie wieder und wieder in Gefahr gebracht wird!« »Niemand hat diese Absicht!« »Beweise mir, daß ich dir und deinen Freunden trauen darf!« »Gib mir die Möglichkeit dazu! Laß die SOL nach Varnhagher‐
Ghynnst fliegen!« Deccon erhob sich, kam zu Atlan herab und ließ ihn durch eine Geste wissen, daß er das Gespräch für beendet hielt. Der Arkonide sah ein, daß es sinnlos war, jetzt weiter in ihn zu dringen. Beide waren sie dazu zu erregt. Aber Deccon hatte etwas, über das er nachdenken würde. Vielleicht bestand doch Hoffnung. Atlan mußte Geduld aufbringen. »Ich bringe dich zu deinen Freunden«, verkündete Deccon finster. »Es liegt in deinem Interesse, nichts gegen mich und die SOLAG zu unternehmen. Du wirst von mir hören.« »Gib uns eine Chance«, sagte Atlan, nun wieder ruhiger. »Mir und dir.« Deccon führte ihn aus seiner Klause und über den gleichen Weg, den sie gekommen waren, zurück dorthin, wo er ihn von den Vystiden übernommen hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, übergab er ihn den Soldaten der SOL. Die Brüder der zweiten Wertigkeit führten ihn ab. Allein in seiner Klause, stand Chart Deccon lange vor den Bildschirmen und hörte sich schweigend die Diskussionen der Magniden an. Es wurde Zeit für ihn, sich ihnen zu zeigen. Er würde Atlan gerne glauben. Aber die überlieferte Vergangenheit wog zu schwer. Sobald er einmal das Zepter aus der Hand gab, würde es nicht lange dauern, bis der Arkonide die Macht völlig an sich riß. Selbst dagegen hätte Deccon im Prinzip nichts einzuwenden gehabt, wenn er hätte sicher sein können, daß Atlan wirklich das Beste für die SOL wollte und sie nicht nur als sein Werkzeug zur Erreichung seiner Ziele ansah. 2. Weiterhin hielten die Mitglieder der SOLAG sich weitgehend
zurück. Vystiden und Pyrriden saßen gelangweilt und von Stunde zu Stunde gereizter in ihren Quartieren und warteten auf neue Befehle. Mit den Robotern wollten sie nichts mehr zu tun haben, und der High Sideryt hielt es ohnehin für besser, wenn die Solaner die Maschinenwesen gewähren ließen. Einige Ahlnaten sahen die Chance, ihr Wissen zu vervollkommnen, und schauten den Robots auf die »Finger«. Nur jene Gruppen von Rostjägern, die sich, ungeachtet der Wiederherstellungsarbeiten, um die Wartung technischer Anlagen zu kümmern hatten, verrichteten ihre Arbeit. Solaner, die ihre Gebiete seit Jahren nicht mehr verlassen hatten, wagten sich nun plötzlich daraus hervor. Kämpfe zwischen einzelnen Gruppen wurden eingestellt. Es kam zu Verbrüderungsszenen. Etwas hatte die Menschen erfaßt, das sie sich nicht erklären konnten. Aber es gab auch andere unter ihnen, die die momentane Ruhe für ihre Zwecke zu nutzen versuchten. Noch waren die Roboter an Bord. Noch war die SOL nicht frei. Aber neue Hoffnung keimte in ihnen, die sich fast schon mit dem Verlust ihrer Welt und damit ihrer Zukunft abgefunden hatten. Regelrechte Blitzkriege wurden ausgetragen und Grenzen verschoben. Diejenigen, die die Unaufmerksamkeit ihrer Nachbarn ausnutzten, befanden sich weit in der Minderzahl. Aber es gab sie. Sobald die Lage an Bord sich wieder normalisiert hatte, würden sie besser dastehen als je zuvor. Es kam zu vereinzelten Raubzügen. Einige Solaner rotteten sich zusammen und griffen Ferraten an. Die SOLAG griff nur in den seltensten Fällen ein, wenn ihre Mitglieder direkt betroffen waren. Dafür sorgten die Roboter an ihrer Stelle dafür, daß solche Ausschreitungen ein schnelles Ende fanden. Lange aufgestauter Haß brach durch. Haß, der nur schwer zu zügeln war. Und obwohl die große Mehrheit der Solaner besonnen war und versuchte, schlichtend zu wirken, hatten die wenigen
schwarzen Schafe oft leichtes Spiel. Zu ihnen gehörten Stedt Conlee, Hole Borgson und Marei Juuka. Alle drei waren sie von ihrer Gruppe verstoßen worden, nachdem sie andere Gruppenmitglieder bestohlen hatten. Das war lange her, und seitdem hatten sie sich von einem Versteck zum anderen durchgeschlagen, immer auf der Flucht vor der SOLAG, wenn sie schlecht bewachte Verteilerstationen überfallen hatten. All das sollte nun anders werden. Die drei hatten eine Kabinenflucht gefunden, in der allem Anschein nach bis vor kurzem eine größere Anzahl von Monstern Schutz gesucht hatte. Hier, in der Nähe der Beiboothangars im Mittelteil der SOL, wußte mittlerweile fast jeder vom Exodus der Monster. Die bisherigen Bewohner der Kabinen würden nicht zurückkehren. Hier war Platz für die drei Solaner. Hier ließ sich ihre lange gehegte Absicht verwirklichen, eine eigene Gruppe nach ihren Vorstellungen um sich zu versammeln. Die Kabinenflucht war schwer zugänglich. Daß die Monster die Korridore um sie herum regelrecht verbarrikadiert hatten, kam ihnen nur gelegen. »Hier läßt sichʹs aushalten«, sagte Marei, als sie sich mit den beiden anderen in der Kabine wiedertraf, die sie zu ihrem provisorischen Wohnraum erkoren hatten. »Natürlich werden wir auf Ausweichquartiere nicht verzichten können. Aber wennʹs einmal hart auf hart kommt, sollten wir selbst den Vystiden die Zähne zeigen können.« Sie war mit 67 Jahren die älteste der drei. Conlee war erst 27, Borgson 55. Borgson sagte: »Wir werden Fluchtwege brauchen, für alle Fälle.« Conlee winkte nur ab. »Ich bin sicher, auch die haben uns die Monster hinterlassen. Was jetzt wichtiger ist: Nicht alle Monster gingen von der SOL, wenn die Gerüchte zutreffen. Einige werden Verbindung zu denen gehabt haben, die hier hausten, und sich vielleicht an dieses Versteck erinnern. Wir sollten uns überlegen, was wir tun, falls sie hier
aufkreuzen.« »Was schon?« Marei Juuka lachte rauh. Sie klopfte auf der Thermostrahler in ihrem Gürtel. »Das!« Conlee sah sie unsicher an. »Sie töten? Marei, wir hatten nie Schwierigkeiten mit ihnen. Im Gegenteil. Sie haben noch mehr Grund als wir, die SOLAG zu …« »Ach, hör auf.« Borgson nickte der Solanerin zu. »Wenn wir unsere Pläne verwirklichen wollen, können wir uns keine Großzügigkeit leisten. Es gibt zwei Dutzend Leute, die zu uns stoßen werden, wenn wir ihnen erst einmal etwas bieten können. Dann brauchen wir den Platz für uns.« Mit einer barschen Geste beendete Marei die Diskussion. Sie hatte das Sagen. Conlee zog sich in eine Ecke zurück und blickte sie mißmutig an. Andere bestehlen oder eine Verteilerstation plündern, wenn sie gerade nicht bewacht war, war eine Sache – jemanden erschießen eine andere. Er wurde das Gefühl nicht los, daß es den beiden Komplizen nicht nur um den Lebensraum ging. Borgson jedenfalls machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Monster. »Es bleibt dabei«, sagte Marei. »Wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Die Kabinen müssen ausgeräumt werden. Mit dem Müll verstärken wir die Barrikaden bis auf die eine, die unser einziger Zugang hierher sein wird. Einer von uns muß dort Wache halten, während die anderen beiden arbeiten. Conlee, du übernimmst die erste Wache. Dabei werden dir deine romantischen Ideen schon vergehen.« »Romantisch?« fragte Borgson. »Ach, sei still!« rief Conlee aus. Er warf der Frau einen bösen Blick zu. »Dummes Geschwätz!« Verärgert ging er davon. Seine Bewegungen waren schlaksig. Die Hose flatterte ihm um die Beine. Am Ende der Kabinenflucht zwängte er sich durch einen engen Gang, der nach etwa zehn Metern auf einen ebenfalls nicht sehr
breiten, dafür um so schmutzigeren Korridor mündete. Dieser Teil des Schiffes hatte einmal nur aus Wohnquartieren bestanden, mit allem, was dazugehörte. Conlee hatte auf dem Weg hierher einen Blick in einen der uralten, längst verwilderten ehemaligen Freizeitparks geworfen. Früher einmal hatte er drei, vier Treffen von Terra‐Idealisten besucht. Mit einem Mädchen aus dieser Gruppe war er ein gutes halbes Jahr zusammen gewesen. Von diesen Leuten wußte er auch, daß es in anderen Teilen der SOL noch viel größere Parks gegeben hatte. Nun lagerte dort Müll und anderes. Wo noch etwas wuchs, waren die Pflanzen zum Teil mutiert. Es gab dort Orte, an die sich nur Lebensmüde heranwagten. Romantische Ideen! Marei zog ihn damit auf, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Sicher erzählte sie jetzt Borgson von seinen geheimen Träumen. Er mußte verrückt gewesen sein, mit ihr darüber zu reden. War es romantischer Unsinn, sich nach einem Schiff zurückzusehnen, in dem die Korridore sauber, die Anlagen grün und die Menschen glücklicher waren? Nach einer Welt, in der keiner mehr gezwungen war, den Nachbarn zu bekämpfen und auszurauben? Conlee erreichte die Barriere, zog einige Eisenstangen und Teile von zertrümmerten Möbeln aus einer Ecke und setzte sich hinter dem Müllwall auf den schmutzigen Boden. Er holte ein Instrument aus der Tasche des viel zu weiten Overalls und betrachtete es, drehte es in den Fingern und polierte die beiden schmalen Holzflächen sauber. Eine Welt, wie er sie sich erträumte, gab es nicht. Er war in Elend aufgewachsen und hatte zu kämpfen gelernt. Wer sich nicht selbst half, dem half niemand an Bord der SOL. Sicher, manchmal war er mit Mareis und Borgsons Ansichten nicht einverstanden, vor allem dann nicht, wenn es um Andersartige ging. Aber wenn es ums Überleben ging, würde er nicht zögern, zu schießen. Er war jung, verdammt! Und niemand sollte ihm das bißchen
Leben nehmen, das er besaß! Borgson hatte ja Recht. Nur wenn sie zusammenhielten, hatten sie eine Chance. Die SOLAG übte die Gewalt aus. Stehlen, sabotieren, selbst töten war nur Notwehr! Conlee redete sich das ein, und er fühlte sich elend dabei. Er legte die Mundharmonika an die Lippen und begann, eine Melodie zu blasen, leise nur, damit die beiden anderen oder in der Nähe befindliche Gegner ihn nicht hörten. Mit der Linken hielt er das alte Instrument, das vielleicht das einzige war, von dem er sich nie trennen würde. In der Rechten lag der Strahler. Conlee hoffte, daß es keine Monster mehr gab, die diesen Ort kannten. Er ahnte nicht, daß ihm die vielleicht härteste Bewährungsprobe seines jungen Lebens bevorstand, noch bevor dieser Tag zu Ende ging. 3. »Mach ein anderes Gesicht, Atlan«, sagte Joscan Hellmut. Er versuchte, aufmunternd zu lächeln. »Wenn du auch nicht gleich das erreicht hast, was du dir vorstelltest, das«, er machte eine umfassende Bewegung mit den Armen, »ist immerhin schon etwas.« Atlan sagte nichts darauf. Er nickte nur. Tatsächlich hatte sich zumindest ihr Status innerhalb der SOL allem Anschein nach verbessert. Nur Deccon konnte ihnen die Kabinen in der Nähe der Zentrale zugewiesen haben. Ob die Magniden dies guthießen, war eine andere Sache. Die Kabinen, das hatte einer der Vystiden erklärt, die sie hierhergebracht hatten, waren einmal die von Magniden gewesen und dementsprechend ausgestattet. Es gab Bildschirme in jeder von ihnen, komfortable Möbel und Lesegeräte. Atlan, Hellmut und Bjo Breiskoll konnten von hier aus viele Gebiete der SOL übersehen.
Inwieweit durch blockierte Verbindungen eine »Zensur« ausgeübt wurde, ließ sich schwer feststellen. Sicher war dagegen, daß der Arkonide und die beiden ehemaligen Schläfer überwacht wurden. Sie konnten die Kabinen verlassen und sich frei bewegen. Atlan zweifelte nicht daran, daß er selbst die Zentrale ungehindert betreten könnte, wenn er es für richtig hielt. Aber Deccon war über jeden ihrer Schritte informiert. Für Atlan stellte sich nun die Frage, was sie mit den Freiheiten, die man ihnen zugestand, anfangen sollten. Er spielte mit dem Gedanken, sich tatsächlich an die Magniden zu wenden, sollte Deccon sich nicht bald melden und ihm seine Entscheidung mitteilen. Auch die beiden Gefährten drängte es, etwas zu tun. Hellmuts zur Schau getragene Gelassenheit täuschte. Wie Bjo Breiskoll, hatte er sich vor den Bildschirmen während Atlans Abwesenheit ein Bild von den Zuständen in der SOL machen können. Nach ihrem Erwachen hatten sie ja kaum Gelegenheit dazu gehabt, sich mit den neuen Gegebenheiten vertraut zu machen. Nun sahen sie all das bestätigt, was Atlan ihnen in diversen Gesprächen berichtet hatte, und der Schock saß tief. Bjo war noch immer schweigsam. Zwar war der Katzer nie ein Freund vieler Worte gewesen, doch sein Verhalten nun zeigte deutlich, was in ihm vorging. Hellmut gab sich überhaupt keine Mühe, zu verbergen, was ihn außer dem Elend, das er beobachten mußte, beschäftigte. Er konnte nicht glauben, daß SENECA weder auf Kontaktversuche reagierte noch die schiffsinternen Vorgänge richtig zu steuern in der Lage war. Er sah es und glaubte es nicht. Von Gavro Yaal gab es keine Spur. Atlan hoffte, daß Yaal sich ausrechnen konnte, wo er ihn, Hellmut und Bjo fand, wenn seine Laune sich erst einmal gebessert hatte – und daß er in der Zwischenzeit nicht leichtsinnig wurde. Bjo Breiskoll erhob sich. Er blickte Atlan an, und er stellte keine
Fragen. Wenn Bjo etwas »spürte«, das mit der SOL und dem Geschehen im Weltraum zusammenhing, so würde er es von sich aus sagen, wenn es wichtig genug wäre. Er überraschte Atlan mit einer anderen Nachricht, die sein Verhalten während der letzten Stunden halbwegs erklärte. »Ich habe schwachen telepathischen Kontakt zu Sternfeuer und Federspiel«, verkündete der Katzer. »Schwach, weil irgend etwas zu stören scheint.« »Vielleicht sind beide noch nicht auf der Höhe ihrer Kräfte«, gab Atlan zu bedenken, der sich natürlich nach ihrer Rückkehr an Bord gefragt hatte, was inzwischen aus den Zwillingen geworden sein mochte. Daß sie offenbar wohlbehalten waren, ließ ihm einen Stein vom Herzen fallen. »Ich weiß in etwa, wo ich sie finden kann«, sagte Bjo. »Wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich versuchen, zu ihnen zu gelangen. Der Kontakt ist schwach, aber Sternfeuer und Federspiel wissen, daß wir leben und wieder an Bord sind. Sie haben ein Versteck gefunden und Solaner um sich versammelt, die sich ›Basiskämpfer‹ nennen – Menschen, Extras, Halbbuhrlos und Monster.« »Basiskämpfer?« fragte Atlan verwundert. Bjo nickte zögernd. »Sie bekämpfen die SOLAG und helfen Verfolgten. Sie haben eine Reihe von ziemlich sicheren Verstecken in den sogenannten Verbotenen Zonen gefunden. Ihr Hauptquartier, die Basis, liegt ebenfalls in einer solchen Zone. Vielleicht beeinträchtigen die dortigen mutierten Lebensformen den Kontakt zwischen den Zwillingen und mir. Ich müßte zu ihnen, um es zu wissen.« »Die Basis …« Atlan lächelte. Steckte eine Art Nostalgie dahinter, daß Sternfeuer und Federspiel ihrem Hauptquartier gerade diesen Namen gegeben hatten? Unwillkürlich mußte er an das Schiff denken, auf dem er an Rhodans Seite die Kosmischen Burgen gesucht und sich selbst bis in den Vorhof einer Materiequelle vorgewagt hatte, bevor er
schließlich als Botschafter der Menschheit zu den Kosmokraten ging. Wo mochte sich die BASIS jetzt befinden? Gab es sie noch? Was war aus all den alten Freunden geworden? Durfte er hoffen, Perry während seiner Mission in diesem, seinem Universum zu begegnen? Wieder drohten seine Gedanken abzuschweifen. War dies bereits ein erstes Anzeichen einsetzender Resignation? Der Arkonide gab sich einen Ruck. Er trat auf Bjo zu und legte dem Katzer eine Hand auf die Schulter. »Geh nur«, sagte er. »Aber paß auf dich auf und komm bald zurück. Besser noch, du meldest dich in regelmäßigen Abständen über Interkom.« Atlan deutete auf den Interkom‐Anschluß der Kabine, und Breiskoll verstand, was er meinte. Zwar war kaum damit zu rechnen, daß SOLAG‐Mitglieder ausgerechnet jetzt auf ihre unmenschlichen Monsterjagden gingen, aber ausschließen konnte es niemand. »Ich melde mich«, versprach Bjo, nickte Joscan Hellmut zu und ging. Sternfeuer würde ihn früh genug abfangen, um der SOLAG nicht durch ihn den Weg zur Basis zu zeigen. Natürlich war er sich darüber im Klaren, daß die Magniden mithören konnten, was er gesagt hatte. Aber seine Worte über die Basis waren allgemein gehalten gewesen und konnten der SOLAG nicht mehr verraten, als sie durch Wajsto Kölsch ohnehin schon wußte. »Ich würde mir wünschen, Yaal meldete sich auch«, murmelte Atlan, der sich allmählich nun doch um den Verschwundenen zu sorgen begann. »Joscan, ich weiß, was dir auf den Nägeln brennt. Ich will sehen, was sich tun läßt. Vielleicht gibt Deccon dir die Möglichkeit, an SENECA heranzutreten. Ich habe lange genug gewartet.« Er begab sich zum Interkom‐Anschluß und versuchte, eine Verbindung zum High Sideryt zu bekommen – ohne Erfolg. Entweder befand Deccon sich nicht in seiner Klause, oder er wollte
nicht mit ihm reden. Atlan biß die Zähne zusammen. »Dann eben nicht«, knurrte er. »Ich möchte wetten, er hat den Magniden kein Wort von dem weitergegeben, was ich ihm vorschlug.« »Was willst du jetzt tun?« fragte Hellmut. »Zu den Magniden gehen. Herausfinden, was wir von ihnen zu erwarten haben. Vielleicht sind die Fortschrittlichen unter ihnen eher zu überzeugen als Deccon.« Hellmuts Miene verriet, wie er die Erfolgsaussichten dafür einschätzte. »Ich versuche inzwischen, von hier aus an SENECA heranzukommen.« Hellmut lachte gequält und deutete auf die Bildschirme. »Ein überwältigendes Instrumentarium, oder? Aber ich muß es wenigstens versuchen.« Atlan nickte. Kurz überlegte er, ob er sich nicht besser von hier aus mit den Magniden in Verbindung setzen sollte. Dann entschied er sich dagegen. Einmal in der Zentrale, würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als ihn anzuhören. Und gab es einen besseren Weg, Deccon aus der Reserve zu locken? »Vielleicht sollten wir doch zusammenbleiben«, sagte Hellmut. »Vielleicht war es ein Fehler, Bjo einfach gehen zu lassen.« Atlan, schon beim Ausgang der Kabine, blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Naja«, meinte Hellmut. »Es ist eben so ein dummes Gefühl, das ich habe.« Atlan hatte es auch, aber er sprach nicht darüber, um Joscan nicht noch mehr zu beunruhigen. Aber wie lange sollten sie warten? Bis die Roboter von Bord waren und die SOLAG wieder erstarkte? Wenn er eine Chance hatte, etwas zu erreichen, dann jetzt. Und zumindest, was Yaal anging, waren seine Sorgen unbegründet.
Gavro Yaal sträubten sich die Haare, nicht etwa wegen der Zustände in der SOL im allgemeinen, denn an die hatte er sich inzwischen gewöhnen müssen. Was er sah, ließ ihn seinen Zorn auf Atlan, Breiskoll und Hellmut ebenso vergessen wie die Roboter, mit denen er auf dem Weg hierher aneinandergeraten war. Lange Zeit war er ziellos durch die Korridore geschlendert, hatte sich von einem Deck aufs andere tragen lassen und seinen Ärger an so ziemlich allem ausgelassen, das ihm in den Weg kam. Er hockte mitten auf einem mit kleinen, buschigen blauen Pflanzen bewachsenem Feld. Bis zu den Knöcheln versank er mit den Füßen in der weichen, dunklen Erde. Er grub seine Hände hinein und formte die Erde zu Klumpen, die er dann mit einer Verwünschung fortschleuderte. Das Gemüsefeld – es konnte sich nur um Gemüse handeln, wenngleich er solche Pflanzen noch nie im Leben gesehen hatte – wurde von einer niedrigen Hecke zur einen und von einem Palmenhain zur anderen Seite begrenzt. Vor und hinter Yaal lagen aus Plastik gegossene Wege für die kleinen Wagen, die er beim Betreten der Farm gesehen hatte. Und dies war eine SOL‐Farm! Es war eine Farm, kein Erholungspark und kein privates Freizeitparadies, das sich eine besonders große Solaner‐Gruppe angelegt hatte. Die Halle war riesig. Yaal konnte nur die Wand sehen, durch die er gekommen war. Unter der hohen Decke waren fünf kleine Kunstsonnen verankert. Hinter der Hecke aus Distelgewächsen waren die Dächer von Baracken zu erkennen. »Kein Wunder, daß die Solaner verhungern«, brummte der Botaniker. Er konnte es einfach nicht glauben. Sicher, auf der SOL hatte sich vieles verändert, seit er von Cleton Weisel in den Kälteschlaftank geschickt worden war. Die Solaner hatten fast schon vergessen, was ein Raumschiff überhaupt war. Aber daß sie alle Prinzipien der Nahrungsproduktion vergessen hatten und zum
Ackerbau zurückgekehrt waren, konnte doch nicht wahr sein! Yaal grub weiter und fand bald die Bestätigung für seine Vermutung. Unter der etwa fünfzig Zentimeter dicken Schicht aus Erde befand sich zu Matten gegossener Plastikschaum, eine Schicht, die gerade noch den Wurzeln der Pflanzen zugänglich war – aber auch nur, wenn die Pflanzen so lange Wurzeln hatten wie dieses blaue Gemüse. Yaal kannte natürlich diese Methode der »gemäßigten Hydrokultur«. Und er konnte sich daher vorstellen, welcher Aufwand erforderlich war, um hier überhaupt etwas wachsen zu lassen. In der Regel war der Plastikschaum mit Nährlösung getränkt. Yaal grub weiter und fand auch entsprechende Röhren mit kleinen Öffnungen an beiden Seiten. Diese Nährstoffe nahmen die Pflanzen mit ihren Wurzeln auf. Doch bis es soweit war und die Wurzeln erst einmal in die Schicht hineingewachsen waren, mußten sie von oben her mit Wasser versorgt werden. Außerdem mußte die obere Erdschicht zur Durchlüftung des Bodens regelmäßig aufgelockert werden. Yaal setzte sich und schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf. Sah es überall, wo Nahrungsmittel für die Solaner produziert werden sollten, so aus wie hier? Gab es überhaupt noch hydroponische Tanks im Schiff? Yaal versuchte sich vorzustellen, wie SOL‐Farmer mit Harken über die Felder gingen und die Erde aufkratzten. Sicher hatten sie dafür Roboter, die auch die Berieselung übernahmen. Yaal ballte die Fäuste. Er blickte zu den Dächern der Baracken hinüber. Duldete die Schiffsführung diesen Unsinn etwa? Falls sein schlimmer Verdacht zutraf und es überall in den SOL‐Farmen so aussah wie hier – hielten der High Sideryt und seine Magniden die Solaner dann mit Absicht kurz, um sie besser beherrschen zu können?
Er wollte mit den Burschen reden, die er in den Baracken vermutete. Es wurde Zeit, daß ihnen jemand sagte, daß sie verrückt waren. Yaal verwarf den Gedanken, daß die Schiffsführung für diese Zustände verantwortlich war. Eine verhungernde Besatzung nützte ihnen nichts. Viel wahrscheinlicher erschien ihm, daß die Farmer von einer unsinnigen Sehnsucht befallen waren, die schon an Schizophrenie grenzte. Leben auf einem Planeten war ihnen ein Greuel, etwa das Schlimmste, das sie sich überhaupt vorstellen konnten. Gleichzeitig mochten sie sich insgeheim nach grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern zurücksehnen. Yaal erhob sich und erstarrte, als er die Stimme in seinem Rücken hörte: »So, Freund. Bleib nun so stehen und streck die Hände von dir. Mach keine Dummheiten!« Yaal rührte sich nicht. Zwei Männer kamen um ihn herum und stellten sich vor ihn. In ihren Händen hatten sie lange Stangen aus Eisen. »Nie gesehen, den Kerl!« rief einer der beiden demjenigen zu, der sich noch hinter Yaal befinden mußte. »Sieht nicht so aus, als gehörte er zu den Rostjägern!« »Er hat den ganzen Boden aufgekratzt!« rief der andere. »Henn, ein Plünderer ist das nicht, eher ein Saboteur!« Der Farmer starrte Yaal durchdringend an. »Was hast du in den Boden getan, eh? Gift?« Gift! Yaal schloß die Augen. Entweder träumte er, oder dies war keine SOL‐Farm, sondern eine Irrenanstalt. »Ich habe nach Regenwürmern gesucht«, versetzte er, als er die Augen aufschlug und die Solaner immer noch vor ihm standen. »Was sonst? Und jetzt hört ihr mir zu! Ich …« Etwas drückte sich in seinen Rücken. Ganz dicht an seinem rechten Ohr sagte eine rauhe Stimme: »Du wirst gar nichts tun, sondern jetzt schön brav mit uns
kommen. Hast du verstanden? Wennʹs nach mir ginge, machten wir mit einem wie dir kurzen Prozeß. Aber ich schätze, Traverte wird sich mit dir unterhalten wollen.« »Traverte?« Yaal wägte kurz seine Chancen ab, seine Gegner zu überwältigen. Es war sinnlos. Er konnte nicht wissen, wie viele andere noch hinter ihm waren. »Euer Chef?« »Unser Chef.« Yaal nickte. Zu dem wollte er. Lug Traverte war groß, ein Baum von einem Mann. Langes, schwarzes Haar hing ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Zwei ebenfalls schwarze Augen unter dichten Brauen starrten den Eindringling an. Yaal saß Traverte an einem großen Holztisch gegenüber. Die drei Männer, die ihn in die Baracke gebracht hatten, standen abwartend vor der Tür. Derjenige, der ihm den Strahler in den Rücken geschoben hatte, hielt die Waffe noch auf ihn gerichtet. »So«, sagte Traverte mit dunkler Stimme. »Du bist also rein zufällig hier hereinspaziert und hattest überhaupt nicht die Absicht, etwas mitgehen zu lassen oder etwas in unsere Kulturen zu geben.« Yaal schob sich im Stuhl nach vorne und legte die Ellbogen auf den Tisch. Er musterte sein Gegenüber, bevor er ihm antwortete, betrachtete die Tabellen an den Wänden, die Strichlisten und die Bilder von exotischen Pflanzen, unter denen sich Vermerke über ihre Herkunft, ihre Verwertbarkeit und anderes befanden. »Kulturen«, sagte er schließlich. »Ihr nennt das da draußen Kulturen? Mein lieber Freund, ich könnte dir sagen, was Pflanzenkulturen sind.« »So, das kannst du?« Traverte grinste die drei anderen an. Dann lehnte auch er sich über den Tisch und kniff die Augen zusammen. »Dann bist du ein Farmer? Vielleicht ein Spion von einer der anderen Farmen?« Yaal fand zunächst keine Worte. Er starrte Traverte an, versuchte sich vorzustellen, wie der Mann mit einem Pflanzerhut und
Schnauzbart aussehen würde, im Sattel eines Pferdes oder eines vergleichbaren Tieres von einer der angeflogenen Welten. Dann ließ er seinem Zorn freien Lauf. Er wußte, daß er hier kaum mit heiler Haut herauskommen würde, wenn es ihm nicht gelang, diese Verrückten zur Räson zu bringen. »Wenn ich ein Spion wäre«, fuhr er den Farmer an, »wäre ich verdammt schlecht beraten, mich ausgerechnet hier umzusehen! Ich bin auch kein Farmer, sondern Botaniker und Spezialist für Hydrokulturen, falls du noch weißt, was das ist!« Traverte reagierte gelassen. »Du meinst die großen Tanks? Natürlich weiß ich, daß es sie gibt.« »Und warum benutzt ihr sie nicht?« Traverte schien nicht zu verstehen, was er meinte. Yaal begriff. Seit Generationen mußte sich die gemäßigte Hydrokultur in der SOL eingebürgert und durchgesetzt haben. Diese Männer und Frauen hier und auf anderen Farmen hatten nie etwas anderes kennengelernt. »Ihr laßt sie verkommen. Stattdessen plagt ihr euch auf euren Feldern ab. Und damit nicht genug. Wenn es auf der SOL Hunger und Elend gibt, habt ihr die Schuld daran!« Yaal redete sich in Eifer. Die Wachen an der Tür sahen sich an und kamen näher. Auch Traverte grinste nicht mehr. »Die Algentanks habt ihr also verkommen lassen? Sie allein wären schon in der Lage, die gesamte Bevölkerung zu ernähren!« »Das ist lächerlich«, knurrte Traverte. »Wir ernähren die Solaner. Wir liefern der SOLAG alles was sie braucht.« »Und das genügt? Ihr wißt, was mit euren Produkten geschieht? Wie sie verteilt werden?« »Nein. Wir produzieren und liefern. Alles weitere ist Sache der SOLAG.« Yaal schüttelte verzweifelt den Kopf. An sich selbst und das, was ihm blühen mochte, dachte er kaum noch. Eine Idee nahm von ihm Besitz. Zu lange war er hinter Atlan und den anderen her gelaufen.
Jetzt sah er ein Ziel vor Augen. Sollte der Arkonide auf seine Weise glücklich werden. Er, Gavro Yaal, würde ihm zeigen, wer den Solanern wirklich helfen konnte. »Hör zu, Traverte«, sagte er mit erzwungener Geduld. »Mir ist egal, wen oder was ihr in mir seht. Tut, was ihr wollt, doch vorher hört ihr mich an.« Er ließ Traverte gar nicht erst wieder zu Wort kommen, vertraute darauf, daß selbst diese Verrückten an ihrer Arbeit hingen und, wenn er es geschickt anstellte, für »Neues« zu begeistern waren. Schaffte er das, hatte er nicht nur seine eigene Haut gerettet. »Ihr legt Plastikschaumbeete an und deckt Erde darüber, in die ihr eure Gewächse pflanzt. Ihr lockert die Erde und bewässert die Pflänzchen, bis sie ihre Wurzeln in die Schaumschicht getrieben haben. Dann wartet ihr auf die Ernte. Wieviel holt ihr aus dem Boden heraus? Sagʹs nicht. Es ist zu wenig. Du meinst, die Ferraten bekommen, was sie wollen. Dann haben Sie euch noch nie gedrängt, eure Produktion zu erhöhen?« »Natürlich haben sie das!« Traverte lehnte sich zurück. Etwas unsicher blickte er die anderen drei an, die sich Stühle herangezogen und ebenfalls an den Tisch gesetzt hatten. »Sie tunʹs immer wieder. Aber mehr, als sie von uns bekommen, ist nicht drin!« »Eben!« versetzte Yaal. Befriedigt registrierte er, daß die Farmer ihm nun die Worte förmlich vom Mund abzulesen schienen. »Und ihr fragt euch nicht, warum das so ist, weil ihrʹs nicht anders kennt. Kommt ihr überhaupt jemals aus eurem Glashaus heraus? Hast du die Menschen und Extras an Bord gesehen, wie sie sich um ihre Nahrung prügeln, Traverte? Ich schon.« Yaal zählte erfundene Beispiele auf und übertrieb schamlos. »Wie ich schon sagte: Ein Algentank allein kann fast die Hälfte der Bevölkerung ernähren. Eure Vorfahren wußten, was sie taten, als sie diese Tanks installierten. Für die Raumschiffahrt gilt, mit möglichst wenig Arbeitsaufwand und Platzverschwendung soviel Nahrung wie möglich produzieren zu können. Die Pflanzen wurden ohne Erde
oder Plastikschaum nur auf Wasserbasis gezüchtet.« Yaal war auf dem besten Wege, einen Vortrag über »intensive« Hydrokultur zu halten, über etwas, das für jeden, der sich an Bord eines Schiffes Farmer nannte, selbstverständlich sein sollte. Aber Traverte hörte zu, und allein darauf kam es an. »Den nötigen Halt gaben ihnen Plastikflocken, die mit der Nährlösung in die Tanks gegeben wurden. War ein solcher Tank geflutet, so trieb die obere Schicht dieser Flocken an die Oberfläche und blieb trocken, damit die Wurzeln der ebenfalls oben schwimmenden Pflanzen atmen konnten. Die Pflanzen konnten dann, soweit es ihre Größe zuließ, ungleich dichter als bei normaler Feldkultur eingesetzt werden. Durch genaue Steuerung des Nährstoffgehalts des Wassers konnten alle fruchttragenden und blühenden Pflanzen so gezogen werden, daß sie ein Minimum an nicht verwertbaren Teilen ausbildeten. Und ich rede jetzt nur von Pflanzen, wie ihr sie hier anbaut, nicht von Algenkulturen.« Offensichtlich hatte es sich mittlerweile herumgesprochen, daß einige Farmer auf den Feldern einen seltsamen Vogel aufgegriffen hatten. Mehrere Männer und Frauen hatten die Baracke betreten und lehnten an den Wänden und Schränken. »Weiter!« sagte Traverte. Yaal holte Luft. Er hatte bewußt die Vergangenheitsform gewählt, in der Hoffnung, diesen Leuten dadurch das Gefühl vermitteln zu können, er spräche von etwas, das lange zurücklag. Von etwas, das vielleicht eine Herausforderung an sie darstellte, das »wiederzuentdecken« sich lohnte. »Die intensive Hydrokultur, von der ich rede, fand unter Ausschluß aller Störfaktoren statt. Das heißt, die betreffenden Räume waren ausschließlich auf die Bedürfnisse der Pflanzen eingerichtet, was von der Temperaturregelung bis hin zur Luftzusammensetzung und Beleuchtung reichte. Hier ist das nicht möglich, weil neben den Bedürfnissen der Pflanzen in mindestens gleichem Maße die der Menschen berücksichtigt werden müssen.
Allein aus diesem Grund sind die Wachstumsbedingungen hier nicht optimal.« Yaal sprach weiter, von den Möglichkeiten, der Befruchtung in intensiven Hydrokulturen und der gesteuerten Manipulation des Pflanzenerbguts, um noch ertragreichere und von äußeren Einflüssen unabhängigere Arten heranzuzüchten. Kein einziges Mal wurde er unterbrochen. Als er endete, sagte für fast eine Minute niemand etwas. Traverte starrte ihn nachdenklich an. Yaal begriff, daß er das unverschämte Glück hatte, hier auf einen Mann getroffen zu sein, der sich von der Eröffnung »neuer« Möglichkeiten gefangennehmen ließ – und nicht in erster Linie darauf bedacht war, vor seinen Untergebenen den Überlegenen herauszuspielen. Ganz kampflos aber wollte auch Traverte nicht aufgeben. Er beugte sich wieder über den Tisch und sagte gedehnt: »Das hört sich alles wunderbar an, mein Freund. Die Frage ist, ob du uns Märchen erzählst, um deine Haut zu retten.« »Es gibt eine einfache Möglichkeit, dies herauszufinden.« »So? Welche?« »Ich sehe dir an, daß du weißt, was ich meine. Ich schlage dir einen Wettbewerb vor, Traverte. Du sagtest, du weißt von den jetzt wahrscheinlich lange unbenutzten Tanks. Weißt du, wo sie zu finden sind?« »Ich weiß, wo einer liegt«, sagte der Farmer. Yaal nickte zufrieden. »Der sollte uns genügen. Traverte, gib mir eine Handvoll deiner Leute mit und genügend Sämlinge, um diesen Tank zu füllen. Die gleiche Anzahl Sämlinge der gleichen Pflanze pflanzt ihr hier, zur gleichen Zeit. Nach einer Woche betrachten wir gemeinsam das Ergebnis. Es müssen Sämlinge von einer Pflanzenart sein, die schnell wächst.« »Ich würde es tun, Lug!« rief eine Frau aus dem Hintergrund. »Ich kann mir nicht helfen, aber was der Kerl erzählt, klingt
einleuchtend.« »Botaniker, sagst du?« fragte Traverte. »Spezialist für Hydrokulturen?« Yaal nickte. »Und du redest, als wärest du älter als die SOL. Einverstanden. Wir werden sehen, wer schneller Erfolg hat und die bessere Ausbeute. Wir können gleich damit beginnen.« Yaal hob abwehrend die Hände. »Immer langsam, Traverte. Zuerst muß ich den Tank sehen und herrichten. Da dürfte eine Menge Arbeit vor uns liegen. Aber ich glaube, ich weiß, wer uns dabei helfen wird.« Er dachte an die Roboter von Osath. Yaal war schon ganz in seinem Element. Er konnte es selbst kaum abwarten, sich an die Arbeit zu machen. Fast mußte er laut auflachen, als er sich seiner neuen Rolle als Wohltäter der Solaner bewußt wurde – er, der ewige Querulant in den Augen gewisser Personen. Noch war es nicht soweit. »Linda.« Traverte stand auf und machte der jungen Solanerin ein Zeichen, die sich für Yaals Vorschlag begeistert zeigte. »Du und drei andere führt ihn zu diesem Tank und tut, was er euch sagt. Henn«, er nickte dem Mann mit dem Strahler zu, »geht ebenfalls mit zur Sicherheit, du verstehst schon.« Yaal verstand. »Nur eines noch«, sagte Traverte. »Wenn ich mich schon auf etwas einlasse, das mir möglicherweise nichts als das Gelächter meiner Leute einbringen wird, will ich wenigstens wissen, wer mein Herausforderer ist.« Yaal stand ebenfalls auf und nannte seinen Namen. Die Solanerin stieß einen Laut der Überraschung aus. Sie starrte ihn aus großen, blauen Augen an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Der Gavro Yaal?« stieß sie hervor. Travertes Miene verhärtete sich.
»Was bedeutet das?« wollte er wissen. »Linda, wer ist er? Kennst du ihn?« Travertes scharfer Ton verwirrte sie. Zögernd gab sie zur Antwort: »Den Namen kenne ich. Aber der Mann, dem er gehörte, dürfte gar nicht mehr leben. Er müßte tot sein, seit über hundert Jahren, wenn er alt wurde.« Traverte baute sich drohend vor dem ehemaligen Schläfer auf. Henn hob die Waffe. »Sei über hundert Jahren tot«, wiederholte Traverte Lindas Wort. »Nun, Botaniker? Wie willst du uns das nun erklären?« Yaal verfluchte die Solanerin und die Quelle, aus der sie über ihn Bescheid wußte. Drohend näherten sich ihm die SOL‐Farmer von allen Seiten. 4. Atlan stand in der Zentrale. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, als er die anwesenden Magniden der Reihe nach musterte. Sie saßen an ihren Plätzen und starrten ihn an. Nur einer hatte gegen sein Eindringen protestiert: Gallatan Herts, der ewig streitsüchtige, nur anderthalb Meter große Hundertjährige. »Laß ihn uns sagen, was er hier will!« hatte Palo Bow den »Giftzwerg« zum Verstummen gebracht. Bow gehörte zu den Fortschrittlichen, die der SOL wieder ein Ziel geben wollten. Aus dieser Gruppe waren noch Lyta Kunduran und Ursula Grown anwesend. Von den Traditionalisten, nach deren Vorstellungen die SOL bis in alle Ewigkeit einfach weiter durchs Universum vagabundieren sollte, sah Atlan neben Herts nur Nurmer, Curie van Herling und Wajsto Kölsch. Chart Deccon fehlte ebenfalls, doch Atlan war sicher, daß er jetzt in seiner einsamen Klause hockte und gebannt verfolgte, was sich in
der Zentrale tat. Atlan nickte und trat an den großen runden Tisch heran, um den die Männer und Frauen in den weiten weißen Gewändern mit dem Atomsymbol aus Brillanten auf der Brust saßen. Er stützte sich leicht mit gespreizten Fingern auf. »Ich hoffe«, begann er, »euch nicht bei wichtigen Gesprächen gestört zu haben.« Der Spott in seiner Stimme war kaum zu überhören. »Um es kurz zu machen. Ich hoffte auf Nachricht von Chart Deccon, nachdem ich ihm Bericht über unsere Mission auf Mausefalle VII erstattete und Vorschläge für den weiteren Weg der SOL machte.« »Der weitere Weg der SOL?« Gallatan Herts lachte schrill. Er blickte Curie von Herling, Wajsto Kölsch und Nurmer der Reihe nach an. »Was habe ich gesagt? Er kommt zu uns und redet, als gehörte das Schiff ihm!« »Laß ihn doch reden!« Das war erneut Palo Bow. Der 78 Jahre alte, mittelgroße Neger nickte Atlan aufmunternd zu. Fast schien es diesem, als hätte Bow nur auf sein Eindringen gewartet – wenn nicht alle Fortschrittlichen. Hier herrschte eine Atmosphäre tiefer Zerstrittenheit. Atlan vermutete, daß die Magniden momentan kein anderes Thema kannten als das Ende der äußeren Krise und die Zukunft des Schiffes. Erwarteten die Fortschrittlichen sich Unterstützung von ihm? Konnte er sie für sich gewinnen? »Deccon sagte uns nichts von diesen Vorschlägen«, kam es von Ursula Grown. »Bitte, wir hören.« Bow bedeutete dem Arkoniden, daß er sich zwischen ihn und Lyta Kunduran in den freien Sessel setzen sollte. Das war ganz offensichtlich eine gewollte Provokation der Traditionalisten. Atlan nickte dankbar und kam der Aufforderung nach. Bevor Herts erneut auffahren konnte, sagte er: »Vorher habe ich eine Bitte. Bjo Breiskoll ist im Schiff unterwegs.
Nach den Maßstäben der Solaner ist er ein Monster und somit gefährdet. Würdet ihr …?« »Breiskolls Bild und eine entsprechende Warnung ging an alle SOLAG‐Dienststellen!« schallte es aus einem Lautsprecher. Das war Deccon Stimme. »Für seine Sicherheit ist im Rahmen des Möglichen gesorgt.« Atlan blieb ruhig sitzen. Deccon gab sich also nicht einmal die Mühe, zu verbergen, daß er mithörte. Warum kam er dann nicht selbst? Nur ein Grund erschien dem Arkoniden einleuchtend: Der High Sideryt hatten den Magniden gegenüber seine Vorschläge mit keinem Wort erwähnt und von Anfang an erwartet, daß er sich an sie wenden würde, wenn er nichts mehr von ihm hörte. Was er damit bezweckte, war offensichtlich. Ohne selbst Stellung nehmen zu müssen, konnte er die Magniden testen und durch ihre Reaktionen auf Atlans Pläne wertvolle Aufschlüsse für seine eigene künftige Politik erhalten. Er soll sie bekommen! dachte Atlan grimmig. Keineswegs völlig beruhigt, was den Katzer anging, legte er den Magniden seine Vorstellungen auseinander. Das Ergebnis war ernüchternd, aber er hatte nichts anderes erwarten dürfen. Die vier Traditionalisten wehrten sich strikt dagegen, die SOL dazu zu »mißbrauchen«, auch nur irgendein festgelegtes Ziel zu erreichen, ob es nun Varnhagher‐Ghynnst hieß oder anderswie. Die Fortschrittlichen zeigten sich im Grunde bereit, auf Atlans Forderungen einzugehen, wenngleich auch sie Fragen nach dem Zweck des Fluges stellten, die er nicht beantworten konnte. Die beiden Abwesenden würden ihre Seite verstärken – Arjana Joester die Traditionalisten, Brooklyn die Fortschrittlichen. Und die Traditionalisten waren in der Überzahl. Selbst falls Deccon sich auf die Seite der Fortschrittlichen stellen sollte, bestand allenfalls eine Patt‐Situation.
Und doch war Atlan nicht völlig unzufrieden. Er war mit wenig Erwartungen in die Zentrale gekommen. Im Grunde war es ihm darum gegangen, sich einen Überblick über die Einstellung der Brüder der ersten Wertigkeit zu verschaffen und Deccon unter Druck zu setzen. Beides hatte er, wenn auch in Grenzen, erreicht. Die drei Fortschrittlichen gaben durch ihr Verhalten zu erkennen, daß sie ihn fast schon als Gleichwertigen akzeptierten. Auch das war mehr, als er hatte erwarten dürfen. Wenn es ihm gelang, den einen oder anderen von ihnen auf seine Seite zu bringen … Seine Hoffnungen schienen sich zu erfüllen, als er aufstand, sich mit sarkastischen Worten verabschiedete und dem Ausgang zustrebte. Palo Bow folgte ihm. * Bow nickte Joscan Hellmut freundlich zu, als dieser beim Anblick des Magniden aufsprang. Hellmut hatte sich in die ihm zugewiesene Kabine begeben und offenbar von dort aus versucht, mit SENECA Kontakt aufzunehmen. Eine bekritzelte Folie deutete weiterhin darauf hin, daß er sich den Kopf darüber zerbrach, wie er mit den simpelsten Tests den Grund für das Fehlverhalten der Hyperinpotronik herausfinden konnte. Atlan und der Magnide setzten sich. Hellmut sank ebenfalls wieder in seinen Sessel. Atlan stellte die beiden Männer einander vor und sagte wie beiläufig, daß Hellmut wie auch Bjo Breiskoll und Gavro Yaal die ziellose Herumfliegerei im All ebensowenig billigten wie das gleichermaßen ziellose Dahinvegetieren der Solaner. Bow nickte wieder. Allen dreien war bewußt, daß Deccon auch jetzt alles, worüber sie sprachen, mithören konnte. Vielleicht lauschten auch die Magniden. Für die Traditionalisten hatte Bows Verhalten ein Schlag vor den Kopf sein müssen.
Atlan sah ein, daß es sinnlos war, gegen Mauern anzurennen. Er mußte sich wohl oder übel mit der Suche nach Kompromissen zufriedengeben – vorerst jedenfalls. Gegen den erbitterten Widerstand der Traditionalisten war sein Ziel nur Schritt für Schritt zu erreichen. Dabei fragte er sich erneut, wie lange die Kosmokraten noch Geduld mit ihm haben mochten, wie dringend die Erledigung seines Auftrags überhaupt war. Palo Bow ließ sich von Atlan noch einmal genau darlegen, wie dieser die nahe Zukunft der SOL sah. Immer wieder nickte er. An den gezielten Fragen, die er stellte, konnte der Arkonide erkennen, wie sehr es diesen Magniden danach drängte, einen Wechsel in der Politik der Schiffsführung herbeizuführen. Es schien, als hätte er einen Verbündeten gefunden. Bow fragte nicht mehr, was Atlan in Varnhagher‐Ghynnst wollte. Er schien zu akzeptieren, daß die Mission wichtig war. Andererseits mochte er den Flug dorthin nur als Vorwand sehen, der SOL überhaupt wieder ein Ziel zu geben. Atlan zählte ihm all die Verbesserungen für das Leben an Bord auf, die er sich im Zusammenhang damit erwartete. Er tat es geduldig, wie in Deccons Klause, wie in der Zentrale. »Meine Zustimmung hast du«, sagte Bow schließlich. »Was die anderen angeht …« Er brauchte es Atlan nicht noch einmal klarzumachen. Augenblicklich konnten sie nichts tun, als auf Veränderungen zu hoffen, die ihre Position stärken würden. Ebensogut aber konnte das Gegenteil eintreten. Es galt also, die sich durch Zusammenarbeit mit den Fortschrittlichen bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen. »Palo«, sagte Atlan. »Ein Problem ist, daß wir nicht wissen, wo sich die SOL überhaupt befindet. Uns wäre geholfen, wenn wir die derzeitige Position des Schiffes in Bezug auf ein übergalaktisches System feststellen und die Entfernung zu Varnhagher‐Ghynnst ermitteln könnten.«
»Ich verstehe«, sagte Bow. »Allerdings brauchten wir Deccons Hilfe und Zustimmung. Wir haben das entsprechende Instrumentarium, auch ohne SENECA einschalten zu müssen. Deccon allerdings kann es blockieren. Ich werde sehen, was ich tun kann, Atlan.« »Danke, Palo.« Atlan sah Hellmut an, was dieser auf dem Herzen hatte. »Und noch etwas. Joscan versucht, soviel wie möglich über die Fehlerquelle herauszufinden, die für SENECAs Fehlverhalten verantwortlich ist. Allein und nur mit dem ihm hier zur Verfügung stehenden Instrumentarium ist nichts zu erreichen.« »Tests scheiden aus«, sagte Hellmut schnell. Er deutete auf die Folie. »Ich bin auf Beobachtungen, Mutmaßungen, Berechnungen und reine Intuition angewiesen. Aber das reicht nicht.« Resignierend zuckte er die Schultern. »Ich müßte mehr über die Vergangenheit wissen, über das, was geschah, als ich im Kälteschlaf lag.« »Lyta Kunduran«, überlegte Bow laut. »Ja, sie könnte dir vielleicht helfen. Ich werde sie bitten, dich zu unterstützen.« Das war mehr, als Hellmut erwartet hatte. Dankbar ergriff er die Hand des Magniden und schüttelte sie. Bow verließ die beiden Männer mit dem Versprechen, sich wieder zu melden, sobald er bei Deccon etwas er reicht hatte. Als sie allein waren, fragte Atlan: »Hast du etwas von Bjo und Gavro gehört?« Hellmuts Kopfschütteln war Antwort genug. Atlan zog sich in seine eigene Kabine zurück und schaltete einige Bildschirme ein. Er sah, daß die Roboter von Osath immer noch emsig bei der Arbeit waren, sah das längst vertraute Bild des Weltraums mit dem Planeten und den vom Zugstrahl wie die SOL eingefangenen kosmischen Trümmern, Schiffen und Stationen in unterschiedlichem Zustand der Demontage, sah Buhrlos die SOL umschwärmen wie tänzelnde Mücken – doch nichts, das ihm einen Hinweis auf Bjos Verbleib hätte geben können.
* Bjo Breiskoll hatte Kontakt mit Sternfeuer und Federspiel. Die Störungen, die zu einer Ab Schwächung der telepathischen Sendungen führten, waren nur zeitweilig. Auch Sternfeuer vermutete, daß sie mit den Kristallgewächsen zusammenhingen, die von der monströsen Lebensform geblieben waren, die einst in der jetzigen Basis entstanden war. Allerdings glaubte Sternfeuer, daß diese Störung auch nur vorübergehend war. Weshalb es dazu kam, konnte sie sich nicht erklären. Aber bisher hatten sie sich nicht bemerkbar gemacht. Der Katzer hatte etwa die Hälfte des Weges zum telepathisch vereinbarten Treffpunkt zurückgelegt. Ein Korridor folgte dem anderen. Überall, wo sie vorgedrungen waren, arbeiteten die Roboter, und immer häufiger sah Bjo Solaner, die ihnen zur Hand gingen und mit ihnen redeten. Dann wieder folgten verlassene Gänge – so wie jetzt. Bjo war vorsichtig, hielt Augen und Ohren offen und esperte, wenn er nicht gerade mit der Basis in Kontakt stand. Wenn er Gedanken von SOLAG‐Mitgliedern auffing, machte er einen Bogen um deren Standort. Esperte er einfache Solaner, zog er seine geistigen Fühler sofort wieder zurück. Von ihnen war keine Gefahr zu erwarten – glaubte er. Er ging weiter? Die Stille in diesem Teil des Schiffes war fast unheimlich. Nur die gewohnten Geräusche der SOL selbst waren zu hören. Bjo kam zügig voran. Er konnte keine Ferraten, Vystiden oder Pyrriden in seiner Nähe aufspüren. Aber es wurde Zeit, sich bei Atlan zu melden. Eine Nachricht an ihn war eigentlich längst schon überfällig. Bjo begann, nach einem Interkom‐Anschluß zu suchen. Vor ihm türmten sich Haufen von Unrat und allerlei Gerumpel auf, ganz offensichtlich eine Barrikade, die Solaner oder Monster
errichtet haben mußten, die auf der Flucht vor der SOLAG waren. Bjo blieb stehen und blickte sich um. Hinter ihm war nur der Korridor. Um die nächste Abzweigung zu erreichen, hätte er zweihundert Meter zurückgehen und einen langen Umweg in Kauf nehmen müssen. Schulterzuckend ging er auf die Barrikade zu, um sich den Weg freizuräumen. * Conlee sah den Fremden kommen, und dieser Fremde war ein Monster. Der junge Solaner hockte geduckt hinter dem Müllwall. Durch eine kleine Lücke in der Barriere konnte er den Fremden beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Bis zuletzt hatte er geglaubt, einen einfachen Solaner vor sich zu haben, einen Mann in einer lindgrünen, einfachen Kombination, keinesfalls in einer Uniform der SOLAG‐Leute. Dann aber, als er schon den Lauf des Strahlers durch die Lücke geschoben hatte, mußte er seinen Irrtum erkennen. Selbst die Kombination des Fremden verbarg nicht völlig die rotbraungefleckten Haarbüschel an einigen Stellen seines Körpers. Dazu kam, daß seine Augen schrägstehend waren, fast wie bei einer Katze. Diese wenigen Merkmale genügten Conlee, um den Fremden zu klassifizieren. Und wer konnte schon wissen, was sich an Abnormalem noch unter seiner Kleidung verbarg. Zu allem Überfluß war er bewaffnet. Conlee hatte den Finger am Auslöser, aber er konnte nicht schießen. So wie der Fremde sich bewegte, kannte er sich in dem Teil der SOL nicht aus. Er blieb stehen und blickte sich um. Verschwinde! dachte Conlee. Mach, daß du wegkommst! Er tat genau das Gegenteil. Offensichtlich zu einem Entschluß
gelangt, kam der Fremde auf die Barrikade zu. Conlee zog den Strahler zurück und kroch aus seinem Versteck. Er machte keinen Laut, bis er vom Korridor herunter und im engen Gang war, der zu den Kabinen führte, von wo nun schwach Mareis und Borgsons Stimmen zu hören waren. Conlee überlegte fieberhaft. Es widerstrebte ihm, das ahnungslose Monster aus dem Hinterhalt zu erschießen, und doch blieb ihm kaum eine andere Möglichkeit, wenn er nicht wieder fliehen wollte, wieder ein neues Versteck suchen, vielleicht wegen seines Versagens von Marei und Borgson verstoßen. All das hatte er zu oft mitgemacht. Nicht noch einmal! Das Monster hatte den Müllwall erreicht und machte sich daran, sich einen Durchgang freizuräumen. Conlee fluchte in sich hinein, stand an die Wand des engen Ganges gedrückt. Sollte er einen Warnschuß abgeben? Alles, was er damit erreichen würde, war, die Aufmerksamkeit und Neugierde des Monsters zu erregen, das sich ganz offensichtlich hierher nur verirrt hatte. Oder es warf sich hinter der Barriere in Deckung und eröffnete seinerseits das Feuer. Was dann? Es gewähren lassen in der Hoffnung, daß es einfach weiterzog? Aber sobald es in die Nähe der Kabinen kam, würden die beiden anderen es sehen und nicht so lange fackeln wie er. Es war so einfach. Er brauchte nur zu feuern. Was hinderte ihn daran? Verdammt, das Monster war fast an der Sperre vorbei! Conlee wurde die Entscheidung abgenommen, als er Borgsons Stimme hinter sich hörte. Borgson kam durch den Gang, grinste, als er ihn sah und rief: »Schießübungen, Stedt? Steck die Knarre weg. Das kannst du später machen. Ich komme, um dich abzulö …« Viel zu spät reagierte er auf Conlees heftiges Winken. Borgson verstummte. Das Monster schrak auf, sah Conlees um die Ecke geschobenen Kopf und warf sich augenblicklich in Deckung.
Borgson kniff die Augen zusammen, war heran und drängte sich an Conlee vorbei. Hart stieß er den jungen Solaner von sich und machte einen Satz auf den Korridor. Noch im Fallen zog er den Strahler und schoß, als das Monster den Kopf vorsichtig über den Müllwall schob. »Hör auf!« schrie Conlee. »Hole, das ist …!« Borgson feuerte weiter. Der Strahl seiner Waffe setzte einen Teil der Barriere in Brand und zerschmolz Plastik. Beißender, dunkler Rauch erfüllte den Korridor. Marei tauchte auf und schob Conlee einfach auf den Korridor, als er sie aufhalten wollte. Er stolperte und schlug der Länge nach hin. Marie kniete neben ihm, stützte den rechten Arm mit der linken Hand ab und feuerte in die Barriere in die Flammen und den Qualm. Conlee hörte ein eigenartiges Geräusch, das ihm durch Mark und Bein ging – ein Maunzen, einen Laut höchster Qual. Es löste etwas in ihm aus. Conlee sprang auf und stürzte sich auf Borgson, versuchte, ihm die Waffe zu entreißen. Er hörte Mareis Flüche und sah sie herankommen. Sie packte ihn von hinten, während Borgson sich von ihm losmachte und ihm den Arm umdrehen wollte. Plötzlich stand das Monster vor ihnen. Seine Gestalt schälte sich aus dem Rauch. Es hatte einen Strahler in der Rechten, hob nun aber beide Arme und rief: »Hört auf! Ich will nichts von euch! Ich bin …!« Borgson stieß Conlee zu Boden. Noch im Fallen sah der junge Solaner, wie er und Marei die Waffen wieder auf das Monster richteten. Der Fremde ging blitzschnell in die Hocke. Alles geschah nun viel zu schnell. Borgsons und Mareis Schüsse fuhren über das Monster hinweg, das nun keinen Ausweg mehr fand. Bevor Borgson und Marei wieder schießen konnten, starben sie im Feuer des Gegners. Sie sanken zu Boden. Aus Borgsons Waffe löste sich noch ein Schuß und schlug in die rechte Schulter des Monsters.
Conlee hörte wieder das qualvolle Maunzen, sah, wie das Monster sich an die Schulter griff, und schlug beide Hände vor die Augen. Er wollte nichts mehr sehen, wartete auf den letzten, tödlichen Schuß. Er blieb aus. Conlee hörte leise Schritte und fühlte, wie eine Hand seinen Kopf berührte. Er schrie und schlug danach. Das Monster stand vor ihm, bewegte die Lippen, ohne ein Wort hervorzubringen. Fast lautlos brach es neben Conlee zusammen. Der Solaner starrte fassungslos auf die reglose Gestalt, auf Borgsons und Mareis Leichen, dann auf den Strahler, den seine Finger immer noch umklammert hielten. Langsam, wie in Trance, richtete er ihn auf das Monster. 5. Als die Lichter in der SOL heruntergeschaltet wurden, hatte Atlan noch immer keine Nachricht von Breiskoll oder Yaal. Inzwischen glaubte er nicht mehr daran, daß Bjo über den Kontakt mit den Zwillingen lediglich vergessen hatte, sich zu melden. Irgend etwas war dem rotbraungefleckten Katzer zugestoßen. Sich etwas anderes vormachen zu wollen, wäre Selbstbetrug. So stellte der Arkonide auch als erstes die Forderung, die Warnung an alle SOLAG‐Dienststellen zu wiederholen und überdies aktiv nach Breiskoll suchen zu lassen, als Palo Bow ihn zu Chart Deccon führte. Deccon kam der Aufforderung nach. Atlan war Zeuge, als er die entsprechenden Anweisungen von dem Nebenkontrollraum aus gab, in dem er auf ihn und Bow gewartet hatte. Aus verständlichen Gründen fand das Zusammentreffen diesmal nicht in Deccons Klause statt. Atlan war alles andere als beruhigt. Er war nahe daran, sich selbst auf die Suche nach Bjo zu machen, getrieben von Selbstvorwürfen. Doch er kannte weder die Richtung, in die der Katzer gegangen
war, noch durfte er den Kontrollraum jetzt verlassen. Wenn du mich hörst, Bjo, dachte er intensiv, dann melde dich! Irgendwie! »Meine Leute werden tun, was sie können«, sagte Deccon. Atlan blickte ihn prüfend an, fragte sich, ob dem High Sideryt wirklich daran gelegen sein konnte, Bjo zu helfen. Deccon lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Folien, die ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lagen. Bow hatte Wort gehalten, nicht nur, was sein Versprechen anging, sich bei Deccon für Atlan einzusetzen. Während Atlan hier um Bjo bangte und gespannt auf das Ergebnis der Positionsbestimmung wartete, war Lyta Kunduran bei Joscan Hellmut und versuchte, ihm bei seiner so aussichtslos erscheinenden Arbeit zu helfen. Atlan hatte Deccon von seiner Kabine aus die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst mitgeteilt, wie er sie von den Kosmokraten erfahren hatte. Die von Ahlnaten in den astronomischen Abteilungen der SZ‐1 daraufhin vorgenommenen Beobachtungen, Messungen und Analysen hätten nur Sekunden gebraucht, wären sie von SENECA angestellt worden. So hatte es mehrere Stunden gedauert. Doch das Ergebnis lag nun vor. Atlan beugte sich über die Folien und studierte sie. Was er sah und las, war niederschmetternd und versetzte ihm einen gelinden Schock. Er hatte nicht damit rechnen dürfen, daß es lediglich ein kosmischer Katzensprung bis nach Varnhagher‐Ghynnst war, doch nie hatte er die ungeheure Entfernung erwartet, die die SOL von seinem Ziel trennten. Mehrere Galaxien lagen zwischen der Welteninsel, zu der Mausefalle VII gehörte, und Varnhagher‐Ghynnst. »Nun?« fragte Deccon. Er verzog keine Miene, ließ sich nicht anmerken, ob ihn Atlans Reaktion befriedigte oder nicht. Der Arkonide setzte sich und überhörte die Frage.
Er starrte ins Leere. Seine Gedanken waren in Aufruhr. Er vergaß völlig, daß er nicht allein war. Wieso hatten ihn die Kosmokraten ausgerechnet an Bord der SOL geschickt? Nicht zum erstenmal zermarterte er sich den Kopf darüber. Doch das Ergebnis der Positionsbestimmung ließ die Handlungsweise seiner Auftraggeber noch rätselhafter und unverständlicher erscheinen. Nicht nur, daß die SOL sich in mehr als besorgniserregendem Zustand befand – mit ihr hatte er auch keine Chance, so schnell zum Einsatz zu kommen, wie er sich das bisher vorgestellt hatte, selbst, falls Deccon und die Magniden doch noch auf seine Forderungen eingingen. Wäre es denn nicht viel zweckmäßiger gewesen, ihm ein anderes, schnelleres Transportmittel zur Verfügung zu stellen? Atlan konnte nicht glauben, daß die Kosmokraten diese Möglichkeit nicht gehabt hätten. Im Grunde sah er nur zwei Möglichkeiten, sich ihre Handlungsweise zu erklären. Entweder war die SOL selbst für die Durchführung seines Auftrags viel wichtiger, als er sich dies zur Zeit vorstellen konnte, oder aber ihm blieb tatsächlich mehr Zeit als bisher angenommen. »Atlan!« Er hob den Kopf. Deccon und Bow standen ihm gegenüber und blickten sich an, bevor sie sich wieder ihm zuwandten. In Bows Miene war Mitgefühl zu erkennen – und sogar Enttäuschung? Deccon hingegen ließ nach wie vor keine Gefühlsregung erkennen. »Meine Absicht hat sich nicht geändert«, sagte Atlan. »Auch wenn das Ziel nicht so schnell zu erreichen ist, wie ich hoffte.« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stand er auf, nickte Bow noch einmal dankbar zu und verließ den Raum. Vor Joscan Hellmuts Kabine hörte er die Stimmen des ehemaligen Schläfers und die von Lyta Kunduran. Er verzichtete darauf, Hellmut das niederschmetternde Ergebnis der Positionsbestimmung
sofort mitzuteilen, und erkundigte sich nur danach, ob Bjo Breiskoll sich mittlerweile gemeldet hatte. Joscans Antwort trug nicht dazu bei, seine düstere Stimmung zu heben. Atlan begab sich in sein eigenes Quartier und ließ sich müde in einen Sessel fallen. Was nun? Die Probleme türmten sich haushoch vor ihm auf. Zu viele Fragen verlangten eine Antwort. Er hatte sich auf eine Gratwanderung begeben und wußte im Augenblick nicht mehr weiter. War es richtig gewesen, einen Keil zwischen die ohnehin verhärteten Fronten innerhalb der Schiffsführung treiben zu wollen? Konnte es ihm wirklich viel nützen, die Fortschrittlichen auf seine Seite zu bringen, wenn die Traditionalisten in der Überzahl waren und Deccon Angst um die »Freiheit« der Solaner hatte? Wie konnte er ihm beweisen, daß er nicht die geringsten Absichten hatte, den Solanern ihr Schiff wieder zu nehmen? Atlan war niedergeschlagen und enttäuscht wie seit dem ersten Betreten der SOL nicht mehr – dieser SOL. Er spürte die belebenden Ströme des Zellaktivators, doch auch dadurch ließ sich seine Depression nicht lindern. Atlan fühlte sich im Stich gelassen. Er wußte, daß es unsinnig war, sich dies einzureden. Die Kosmokraten hatten ihre Gründe für ihre Handlungsweise. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Welche Rolle aber spielte die SOL in ihrem Kalkül? Was machte das Schiff so wichtig? Der Gedanke, daß sie ihn durch die Schwierigkeiten, die ihm in den Weg gelegt wurde, auf irgendeine Probe stellen wollten, erschien ihm absurd. Er kam nicht weiter, und je länger er sich mit solchen Gedanken quälte, desto auswegloser erschien ihm seine Lage. Er biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Er hatte Zeit! Er stand erst am Anfang und hatte es in relativ kurzer Zeit vom Gehetzten zum Geduldeten gebracht. Er durfte
seine klare Linie nicht verlieren und sich nicht selbst verrückt machen. Atlan verbrachte die ganze Nacht in seiner Kabine, saß vor den Bildschirmen und wartete bis zum Morgen. Der neue Tag begann mit völlig unerwartetem Besuch. Atlan hörte das Türsignal und rief: »Komm schon!« Er erwartete, Hellmut zu sehen, und war überrascht darüber, daß Joscan sich nicht vorher über Interkom gemeldet hatte. Doch es war nicht Joscan Hellmut, der die Kabine betrat. Atlan sprang aus dem Sessel auf und rief ungläubig: »Y´Man, Akitar! Wie kommt ihr hierher?« * Der nur 1,33 Meter große, nach humanoidem Vorbild geformte Roboter und der 1,90 Meter große, muskulöse und schlanke Chailide boten nebeneinander ein Bild, das Atlan unter anderen Umständen ein Schmunzeln entlockt hätte. So aber starrte er sie nur verblüfft an und deutete auf die Sessel. Keiner der beiden machte Anstalten, sich zu setzen. Atlan spürte sofort, daß sie nicht ohne Grund an Bord und speziell zu ihm gekommen waren. Vor allem Akitar wirkte ungewohnt nervös. »Die SOL wird dieses System bald verlassen«, begann Y´Man übergangslos. »Ich möchte, daß du mich und Akitar auf der Reise mitnimmst, Atlan.« Die Verwunderung des Arkoniden wuchs noch. Diese Eröffnung hatte er am allerwenigsten erwartet. Was war das nun wieder? Ein neues »Spiel« des Mißgebauten? Was konnte ihm daran liegen, an Bord der SOL zu bleiben? Was veranlaßte Akitar zu diesem Wunsch? »Die Solaner«, sagte Y´Man auf die entsprechende Frage, »haben den Mißgebauten und dem Herrn in der Kuppel geholfen,
wobei du die Hauptarbeit getan hast. Ich halte es nur für logisch, daß ich nun meinen Teil dazu beizutragen versuche, den Solanern und dir ebenfalls zu helfen.« »Helfen!« Atlan lachte trocken. »Du möchtest mir helfen, Y´Man? Ich danke dir für die gute Absicht. Aber was weißt du schon von meinen Problemen!« »Berichte mir darüber«, forderte der Roboter ihn auf. Das selbstsichere Auftreten Y´Mans verwirrte den Arkoniden nun völlig. Unsicher blickte er Akitar an, von dem er den Eindruck hatte, daß er unbedingt etwas sagen wollte, als läge eine schwere Last auf seiner Seele, die herunter mußte. »Du wirkst verändert«, sagte Y´Man. »Bitte, erzähle mir von deinen Sorgen.« Verändert? dachte Atlan. War es schon soweit, daß ein Roboter, wenn auch einer mit dem Einfühlungsvermögen der hochentwickelten Mißgebauten, ihm seine Frustration ansehen konnte? Er setzte sich und erzählte. Als er geendet hatte, fragte er: »Willst du unter diesen Umständen immer noch an Bord bleiben, Y´Man?« »Ich bin fest entschlossen. Das gleiche gilt für Akitar. Es kann sein, Atlan, daß du anders über unseren Wunsch denkst, wenn du ihn angehört hast.« Worauf spielte der Mißgebaute an? Atlan war voller Ungeduld. Zwar freute er sich über das unverhoffte Wiedersehen und hatte im Grunde auch nichts gegen den Wunsch des Roboters einzuwenden. Doch er dachte an Bjo, an Yaal, um den er sich nun ebenfalls größte Sorgen machte, an Deccon und die Magniden. Er spürte, daß er endlich etwas unternehmen mußte, und wußte doch nicht, was. An vielen Stellen hatten die Roboter sich schon aus der SOL zurückgezogen und auch alle gefangenen Solaner waren inzwischen zurückgekehrt. Bald würde er dem Herrn in den Kuppeln das verabredete Signal geben müssen.
Bitte! schienen Akitars Blicke sagen zu wollen. Atlan betrachtete den Chailiden, das schmale und knochige Gesicht mit der kupferfarbenen Haut, das immer hart und streng wirkte. Nun stand ein stummes Flehen darin. Atlans Blicke glitten an dem schlanken Körper herab, dessen Arme und Beine unverhältnismäßig lang waren. Dann sah er wieder in die extrem weit auseinanderstehenden, rauchgrauen Augen, deren Iris so groß war, daß man das Weiße nicht sah. Akitar war humanoid, entsprach aber ganz und gar nicht den herkömmlichen Vorstellungen von Schönheit. Auf den ersten Blick wirkte er sogar häßlich. Seine Nase war klein und krumm, der Mund breit mit nur andeutungsweise vorhandenen Lippen und einem raubtierhaften Gebiß. Akitars Haar war stahlblau und reichte, im Nacken durch ein ledernes Band zusammengehalten, bis zur Hälfte des Rückens hinab. Endlich nickte Atlan ihm auffordernd zu. Was er dann hörte, ließ ihn seine eigene Lage vorübergehend vergessen. »Ich fühle«, begann der Chailide, »daß ich nach meiner Heimatwelt Chail zurück muß.« Er stockte, als erwartete er eine Reaktion Atlans. Erst als der Arkonide ihm nochmals zunickte, sprach er weiter. Und nun redete er, ohne sich auch nur ein einzigesmal zu unterbrechen. »Ich weiß, daß ich zurückkehren muß zu meinem Volk. Aber ich kann und darf nicht damit rechnen, bald schon als einer der ersten von Osath fortgebracht zu werden, denn ich bin der einzige Chailide unter den ehemaligen Gefangenen des Herrn in den Kuppeln. Ich fürchte, daß meinem Volk eine ernste, schreckliche Gefahr droht.« Aber die SOL? dachte Atlan, während Akitar weitersprach. Erwartet er diese Hilfe von mir? »Damit du mich besser verstehst, Atlan, muß ich weiter ausholen. Mein Volk verzichtete schon frühzeitig auf jede Form der technologischen Entwicklung, so wie ihr sie betrieben habt. Meine Vorfahren konzentrierten sich stattdessen ausschließlich auf geistige Dinge. Nur die jungen Chailiden trainieren ihre körperlichen Kräfte,
denn sie sind für die Sicherheit der anderen verantwortlich. Sobald sie jedoch ein bestimmtes Alter erreicht haben, geben auch sie sich den Meditationen hin, deren wichtigstes Ziel es ist, auf geistigem Wege fremde Welten und deren Bewohner zu erreichen. Unsere Vorfahren zweifelten nie daran, daß ihnen dies gelingen würde. Und sie hatten Erfolg. Viele von ihnen konnten von Begegnungen mit Wesen auf unvorstellbar weit entfernten Welten berichten, die sich allein auf geistiger Ebene vollzogen. Während dieser Kontakte waren sie stets darum bemüht, diesen anderen die Idee der geistigen Raumfahrt nahezubringen. Sie ließen sich auch dadurch nicht irritieren, daß sie dabei das vage Gefühl gewannen, fast alle anderen Völker entwickelten sich in anderen Bahnen. Sie glaubten fest daran, daß auch jene, die die technologische Entwicklung wählten, die geistige Raumfahrt erlernen könnten. Wo sie ein technisches Wissen vorfanden, das ein bestimmtes Maß überschritt, gingen sie deshalb dazu über, diese fremden Intelligenzen, die mit ihren Raumschiffen die Abgründe von Raum und Zeit zu überwinden gelernt hatten, um einen Besuch auf Chail zu bitten.« Atlan nickte versonnen. Y´Man stand reglos hinter dem Chailiden, den Blick der gelblichen Kristallaugen war starr auf den Arkoniden gerichtet. »Eines Tages dann hatten sie Erfolg. Ihre Mühe wurde, wie es schien, belohnt, als ein Raumschiff über Chail auftauchte und landete. Die Freude meines Volkes war groß, bestätigte das Auftauchen der Fremden doch allem Anschein nach die Richtigkeit unserer Ansichten. Und diese Fremden behaupteten auch sogleich, geistigen Kontakt zu uns gehabt zu haben. Mein Volk glaubte ihnen das ebenso wie ihre Behauptung, daß sie daran interessiert seien, die Idee der Raumfahrt, sei sie nun geistig oder technisch durchführbar, immer weiter zu verbreiten, damit ein Kontakt vieler Sternenvölker untereinander möglich würde.« Akitar lachte humorlos und schüttelte den Kopf. »Mein Volk war sofort eingenommen von
diesem Plan. Es war für uns nichts Neues, zu hören, daß zahlreiche Völker gar nicht in der Lage seien, jemals eine Raumfahrt in eurem Sinn, also durch technologische Bewältigung der anfallenden Probleme, zu erreichen. Die Roxharen hatten viel Geduld mit meinem Volk, oh ja. Sie zählten uns Beispiele für solche Lebensformen auf, berichteten von Wesen, die in einem Medium lebten, das die Raumfahrt erschwerte, wenn nicht völlig unmöglich machte, von wasserbewohnenden Intelligenzen und solchen, die auf Planeten mit aggressiver Luft oder extremen Temperaturen lebten. Oh ja, sie hatten Geduld und verstanden es, den Verstand ihrer Zuhörer zu lähmen. Sie ebneten den Boden, und als sie erwähnten, daß diese durch die Natur ihrer Umwelt benachteiligten Intelligenzen aber durchaus in der Lage sein sollten, die geistige Raumfahrt zu erlernen, wenn ihnen nur jemand dabei half, hatten sie mein Volk schon gewonnen.« Erst jetzt machte Akitar eine Pause, um seine Worte auf Atlan wirken zu lassen. Der Arkonide stand auf und ging einige Male in der Kabine auf und ab. Er schüttelte den Kopf, blieb vor dem Chailiden stehen und fragte: »Roxharen? So nannten sich die Fremden?« »So ist es, Atlan. Mein Volk griff den Gedanken, diese anderen Völker die Methode der geistigen Raumfahrt zu lehren, begeistert auf. Schließlich folgte es dem Vorschlag der Roxharen, einen ersten Versuch zu unternehmen. Ein Chailide sollte auf einem angelegenen Planeten als Lehrer wirken. Und die Wahl fiel auf mich.« Atlan hatte es sich gedacht. »Du hast diesen Planeten nie erreicht«, sagte er halblaut. »Die Wahl fiel auf mich«, fuhr Akitar fort, als hätte er die Bemerkung nicht gehört, »weil ich einerseits noch jung und aktiv genug war, um die zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme mit meinen künftigen Schülern meistern zu können, zum anderen aber zu den begabtesten jungen Männern meines Volkes gehörte. Ja, Atlan. Ich verließ Chail an Bord des
Raumschiffs der Roxharen, aber ich erreichte mein Ziel nie. Das Schiff geriet in den Sog, der von Osath ausging. Die Roxharen ließen im Kampf gegen die Roboter ihr Leben. Aber bevor sie starben, konnte ich herausfinden, daß sie nie die Absicht gehabt hatten, uns Chailiden als Lehrer der geistigen Raumfahrt zu anderen Sternenvölkern zu bringen. Die Roxharen trieben von Anfang an falsches Spiel mit uns. Sie glaubten nicht daran, daß mein Volk auf geistigem Wege fremde Welten erreichen konnte. Ihre Behauptung, Kontakt mit uns gehabt zu haben, war eine Lüge. Vielmehr gingen sie davon aus, daß mein Volk einer Irrlehre zum Opfer gefallen sei – und diese Irrlehre sollte sich nach ihrem Willen weiter ausbreiten. Es war ein schwerer Schock für mich, zu erfahren, welches Ziel sie damit verfolgten. Ein Volk, das dieser vermeintlichen Irrlehre zum Opfer fiel, würde ihrer Überzeugung nach bald träge und inaktiv werden, sich nur noch auf unerreichbare Träume konzentrieren und darüber jede Art von technischer Entwicklung vernachlässigen. Die bittere Wahrheit war: Mein Volk sollte dazu mißbraucht werden, andere Sternenvölker regelrecht lahmzulegen, wehrlos und stupide zu machen. Aus welchen Gründen dies so sein sollte, kannst du dir sicher denken, Atlan.« »Allerdings«, knurrte der Arkonide. Wieder sah er von Akitar zu Y´Man, der sich weiterhin völlig passiv verhielt. Atlan hatte allerdings den starken Verdacht, daß dies nur Fassade war. In Y´Man »arbeitete« es. Nicht umsonst hatte er seine geheimnisvollen Anspielungen gemacht. »Und nun glaubst du, daß deinem Volk von den Roxharen Gefahr droht«, sagte Atlan zu Akitar. »Ich meine, du fürchtest nicht nur, daß die Roxharen dabei sind, weitere Chailiden an Bord ihrer Schiffe zu nehmen und ihre üblen Absichten zu verwirklichen?« »Ich habe Angst um Chail«, entgegnete Akitar, nur äußerlich ruhiger. »Ich fühle, daß ich zurück nach Chail muß, und sei es nur, um meinem Volk die Wahrheit über die Roxharen zu eröffnen.« Das war nun deutlich genug. Atlan setzte sich wieder und nickte
mit grimmiger Miene vor sich hin. »Akitar und Y´Man – wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird die SOL weder Kurs auf mein Ziel, noch auf Chail nehmen.« »Chail liegt auf dem Kurs, den die SOL nehmen müßte, um Varnhagher‐Ghynnst zu erreichen«, sagte YʹMan überraschend. Auch er brauchte nicht mehr deutlicher zu werden. Atlan starrte ihn an, erkannte, welche Hoffnung er und Akitar in ihn setzten, und die neue Chance, die sich ihm hier bot. Den Magniden und Deccon ein konkretes, faßbares Ziel zu bieten war etwas anderes, als ihnen von der Dringlichkeit einer Mission zu erzählen, eines Fluges zu einem Raumsektor, über den er ihnen absolut nichts sagen konnte. Aber bevor er dazu kam, sich seine Chancen genauer auszurechnen, geschah etwas anderes. Ein junger Solaner meldete sich bei ihm über den Interkom und behauptete, Bjo Breiskoll sei bei ihm. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, erklärte er noch, und er würde bald schon zu seinen Freunden zurückkehren können. Dann, als Atlan seine Überraschung überwunden hatte und danach fragte, wo er sich denn befinde, unterbrach der Solaner die Verbindung. Atlan starrte auf den dunklen Bildschirm, rief die Zentrale an und hatte nach Sekunden Palo Bow auf dem Schirm. »Bitte, laß feststellen, woher der Anruf kam, den ich gerade erhielt, Palo!« sagte er hastig. »Bjo Breiskoll befindet sich dort, und er braucht Hilfe! Ich komme in die Zentrale!« Bow nickte und versprach, sofort nach Ermittlung des Standorts des Anrufers Vystiden dorthin in Marsch zu setzen. Atlan schaltete ab und wandte sich an Akitar. Er legte dem Chailiden die Hand auf die Schulter. »Du wirst deine Geschichte noch einmal erzählen müssen, Akitar«, sagte er. »Diesmal den Magniden.«
Obwohl Bjos Schicksal noch ungeklärt war, fiel dem Arkoniden eine Last von den Schultern. Bjo lebte, und wer immer dieser völlig verunsichert wirkende junge Solaner war – Bjo hatte ihn dazu bringen können, sich für ihn zu melden. Die Dinge schienen endlich ins Rollen zu geraten – in vielerlei Hinsicht. 6. Gavro Yaal war fürs erste mit sich zufrieden. Als er gemeinsam mit Linda Falking, den vier anderen Farmern und zehn Robotern zu Lug Traverte zurückkehrte, konnte er ihm berichten, daß der Tank, zu dem Linda ihn geführt hatte, geflutet und nach den vielen Jahren des Brachliegens wieder in Betrieb genommen worden war. In der obersten, trockenen Schicht der Plastikflocken steckten die Sämlinge. Vorher hatte der Tank gesäubert, hatten Leitungen erneuert und einige Elemente der Beleuchtungs‐ und Temperaturregelungsanlagen neu installiert werden müssen. Mit dem gleichen Eifer und Geschick, mit dem die Roboter bei den Säuberungsarbeiten zu Werke gegangen waren, hatten sie auch die benötigten Teilen aufgespürt. Noch jetzt wunderte Yaal sich darüber, wie schnell er sie dazu bringen konnte, ihm zu helfen. Er hatte Glück gehabt und auf Anhieb diese Zehnergruppe aufgespürt, die kurz zuvor ihre eigentlichen Arbeiten an Bord beendet hatte. Traverte blickte ihn immer noch mißtrauisch an. Nachdem Yaal ihm seine Geschichte wohl oder übel erzählen mußte und Linda das meiste davon bestätigen konnte (wobei sie natürlich nichts über den Kälteschlaf wußte), war dem Chef der SOL‐Farm gar nichts anderes übriggeblieben, als ihm zu glauben. Insgeheim mochte er sich ausrechnen, mit Hilfe des Mannes, der
noch über das gesamte, fast vergessene Wissen vergangener Generationen verfügte, anderen SOL‐Farmen gegenüber einen Vorteil zu erlangen. Traverte konnte sich nicht gut genug verstellen. Er war begierig, zu lernen, und im Grunde ein Mann, der in seiner Arbeit seinen Lebensinhalt sah. Darauf spekulierte Yaal. Nachdem Traverte ihm die Beete gezeigt hatte, in denen seine eigenen Sämlinge nun steckten, überraschte ihn der ehemalige Schläfer damit, daß er die Absicht habe, die Algenfarmen wieder in Betrieb zu nehmen, die, bis auf wenige Ausnahmen, ebenso vergessen waren wie die hydroponischen Tanks für andere Nährpflanzen. »Das war nicht abgemacht«, protestierte Traverte, doch das war nicht viel mehr als ein Scheingefecht, ein vorsichtiger Rückzug. Bei aller Neugier und allem Ehrgeiz achtete Traverte darauf, daß er der Chef der Farm blieb und Yaal ihm nicht den Rang ablief, was er bei Linda und den anderen, die mit ihm am Tank gearbeitet hatten, offenbar schon erreicht hatte. »Was heißt schon abgemacht?« Yaal zuckte die Schultern. »Ich weiß, du traust mir noch nicht über den Weg, Lug. Wir können es auch bleiben lassen, wenn du kein Interesse daran hast, voranzukommen. Die Algenfarmen stehen uns offen. Ich weiß, wo sie sich befinden. Niemand ist da, der uns daran hindern könnte, sie in Betrieb zu nehmen. Denk auch daran, wie du vor der SOLAG dastehen kannst, wenn die Ferraten wiederkommen und eure Erzeugnisse abholen wollen. Sie werden das Doppelte und Dreifache bekommen, Lug. Das kann ich dir mit gutem Gewissen versprechen.« »So, und du hast gar keine Hintergedanken dabei?« Traverte saß ihm wieder gegenüber und kniff die Augen zusammen. Die Baracke war überfüllt. Linda, die sich für Yaals Idee längst begeistert hatte, ließ ihn die Verhandlungen führen. »Keine Hintergedanken, Lug. Verdammt, welche auch?« Er lehnte
sich zurück. »Wenn duʹs genau wissen willst: Es geht mir darum, der SOLAG zu beweisen, daß sie versagt hat, was die Versorgung der Solaner betrifft, und euch zu beweisen, daß eure Methode der Nahrungsmittelproduktion uneffektiv ist. Moment, Lug! Nicht aufregen! Letztendlich kommt das euch zugute und allen Bewohnern der SOL. Ich will bei niemandem Anerkennung für mich einheimsen. Du bist der Chef.« Traverte musterte ihn durchdringend. Yaal verzog keine Miene und gab sich gelassener, als er war. Der Ehrgeiz nagte an ihm. Es kostete ihn große Mühe, hier den Bescheidenen zu spielen. Aber mit barsch vorgebrachten Forderungen erreichte er überhaupt nichts. Natürlich würde es auf die Dauer nicht reichen, nur Travertes Leute in den Algenfarmen einzusetzen, sollte schnell eine optimale Versorgung aller Solaner erreicht werden. Außerdem war es mit der Algenzucht allein nicht getan. In den Laboratorien, die zu diesen Farmen gehörte, fand sich mit ziemlicher Sicherheit noch genug konserviertes Brutmaterial. Das also war nicht das Problem. Aber die Algen mußten in den entsprechenden Robotfabriken zu genießbaren Lebensmitteln verarbeitet werden, und diese Fabriken waren vermutlich in ebenso schlechtem Zustand wie die Farmen selbst. Weitere Roboter mußten heran, um sie instand zu setzen. Traverte erhob sich, nahm einige seiner Leute beiseite und besprach sich flüsternd mit ihnen. Von Linda hatte Yaal auch erfahren, daß noch vor kurzem viele SOL‐Farmer selbst der SOLAG den Zutritt zu ihren Farmen verwehrten, weil sie sich unter dem Eindruck der bevorstehenden Zerstörung der SOL in geradezu schizophrener Weise dagegen wehrten, daß ihr kleines Reich verwüstet oder geplündert würde. Traverte gehörte nicht zu diesen Hitzköpfen. Nichtsdestoweniger aber war auch er nicht besonders gut auf die SOLAG zu sprechen. Lug Traverte kam auf ihn zu und nickte. »Also schön, Yaal. Ich gebe dir so viele Männer und Frauen mit, wie ich hier entbehren kann. Wir bleiben in Verbindung
miteinander. Und vergiß nicht – unser Wettbewerb wird nicht in den Algenfarmen ausgetragen.« Ein Wettbewerb, der inzwischen einiges an Bedeutung verloren hatte. Traverte wußte dies so gut wie Yaal. Die Erwähnung des Wettstreits um die bessere Methode der Pflanzenzucht diente lediglich als Hinweis darauf, daß die Männer und Frauen, die er Yaal mitgab, nicht nur seine Helfer waren, sondern in erster Linie Aufpasser. »Du wirst es bestimmt nicht bereuen, Lug«, versicherte Yaal aufatmend. »Wir begeben uns sofort an die Arbeit.« * Linda hielt sich an Gavro Yaals Seite. Außer ihr waren noch zwölf Farmer mit von der Partie, unter ihnen natürlich auch Henn, Travertes Wachhund. Linda war wißbegierig. Sie erklärte, daß sie, bevor sie zu den SOL‐ Farmern stieß, ein Verhältnis mit einem Ahlnaten gehabt habe, von dem sie alles erfahren hatte, was sie über Yaal und die Zustände an Bord der SOL Jahre nach der Übergabe des Schiffes an die Solaner wußte. Gavro mußte ihr mehr über diese Zeit erzählen. Ihre Bewunderung für ihn wuchs. Yaal schilderte aus seiner Sicht und verschwieg tunlichst die Rolle, die er damals in Wirklichkeit gespielt hatte, und die erfahrenen Demütigungen. Linda war auf dem besten Weg, sich in ihn zu verlieben, und Yaal verspürte auf einmal ganz eigenartige Regungen. Traverte hatte ihnen drei kleine Wagen überlassen, mit denen sie schnell vorankamen. Sie jagten über die breiten Korridore und benutzten Lastenschächte, um sich von Deck zu Deck tragen zu lassen. Die Roboter saßen auf den Ladeflächen der Fahrzeuge. Unterwegs konnte Yaal noch sechs weitere aufladen. Sie schlossen sich der Gruppe mehr als bereitwillig an. Fast hatte Yaal den
Eindruck, als warteten sie darauf, aufgelesen zu werden. Nach nur einer halben Stunde machte die Kolonne Halt. Yaal stellte den Motor seines Wagens ab und stieg aus. Vor ihnen lag eine der Algenfarmen, und sie war verlassen. Yaal, die Farmer und die Roboter betraten die große Halle mit dem Tank in der Mitte. Die langen Leitern, die zu der runden Öffnung hinaufführen sollten, lagen am Boden. Unrat bedeckte große Teile der Halle und deutete darauf hin, daß hier bis noch vor kurzem Solaner gehaust hatten. »Und hier soll etwas wachsen?« fragte einer derjenigen, die Traverte Yaal noch zugeteilt hatte. Der Mann war klein und dick und wirkte nicht gerade sehr intelligent. Er zog eine Grimasse. »In diesen Dingern?« »Du wirst es schon sehen«, brummte Yaal. »Jetzt …« »Ohne Erde?« »Du wirst es sehen, Mann! Jetzt warte ab und …« Der Dicke grinste ihn an. »Du willst dir einen Spaß mit uns machen, was? Ich verstehe. Ist gut, Gavro. So warʹs auch in dieser anderen hydroponischen Farm, eh? Aber wenn du Lug hereinlegen willst, bin ich dabei. Die anderen sicher auch. Wir schlagen die Zeit hier tot, und wenn wir zurückgehen, sagen wir Lug einfach, daß …« »Eric!« Linda seufzte, zuckte entschuldigend die Schultern und schaffte Yaal den Plagegeist vom Hals. Gavro knurrte etwas und winkte die Roboter heran. Unter seiner Anleitung stellten sie die Leitern auf und stiegen umständlich in den Tank, nachdem Yaal einen Blick hineingeworfen hatte. »Ihr wißt ja Bescheid!« rief er ihnen zu. »Macht es wie bei dem anderen: säubern, desinfizieren, und so weiter. Und ihr kommt mit mir.« Er gab den Farmern ein Zeichen. Sie folgten ihm durch eine Schleuse aus der Halle und in die sich anschließenden Laboratorien. Nach kurzer Suche fand Yaal, was er zu finden gehofft hatte. Die an Bord der SOL verwendeten Algen waren auf hohe
Wachstumsgeschwindigkeit und Produktivität gezüchtet. Mit etwas Glück konnten aus dem reichlich vorhandenen Brutmaterial schon in vier, fünf Tagen genügend Algen geerntet werden, um eine der weiterverarbeitenden Robotfabriken wieder in Betrieb zu nehmen. Dann noch ein paar Tage, und die Solaner konnten in einigen der teils verwahrlosten, teils zweckentfremdeten Messen wieder Konzentrate und erste Mahlzeiten erhalten. Er wollte das erreichen. Gavro Yaal, der ewige Querulant, wollte das ganz allein schaffen. Das ließ ihn kurz an Atlan, Hellmut und Breiskoll denken. Flüchtig überlegte er, ob er sich nicht bei ihnen melden sollte, um ihnen wenigstens mitzuteilen, was er hier vollbrachte. Dann verwarf er den Gedanken. Erst wollte er selbst Erfolge sehen. Und außerdem wußte er nicht, wo sie sich zur Zeit aufhielten. Die Roboter arbeiteten im Tank. Die Farmer halfen Yaal, das Brutmaterial aufzutauen und aufzubereiten. Seine und Lindas Begeisterung steckten alle anderen an – bis auf Eric, den Dicken. »Ohne Erde wächst nichts!« behauptete er steif und fest. »Auch keine Algen!« »Eric!« seufzte Linda. »Algen leben im Wasser!« Sie setzte sich zu Yaal, der an einem Tisch mit dem Zeigefinger die auf einer Karte eingezeichneten Standorte der anderen Algenfarmen und Robotfabriken nachging. »Es ist nicht zu fassen«, beklagte sie sich. »Dieser Mensch weiß nicht einmal mehr, was Algen sind!« »Sicher nicht nur er«, murmelte Yaal. Leise, ohne aufzublicken, fragte er: »Ich möchte mir eine der Fabriken ansehen, Linda. Glaubst du, du kannst uns Henn vom Hals schaffen?« »Uns?« »Natürlich: Ich dachte, du möchtest mit mir gehen.« »Schon verstanden, Gavro«, sagte sie mit Verschwörermiene. Er blickte ihr nach, als sie zu Henn hinüberging und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Dann sah er die beiden Gestalten in einem Eingang des Laborraums. Der Solaner war mittelgroß, grauhaarig und wirkte völlig unscheinbar. Yaal schätzte sein Alter auf hundert Jahre, wenn nicht mehr. Neben ihm stand ein Wesen auf zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen, das auf den ersten Blick an eine krumme Banane erinnerte. Nur war diese »Banane« einen Meter lang und hatte am nach oben geschwungenen Vorderende einen dreieckigen Kopf mit vier Knopfaugen und zwei hauchdünnen, zwanzig Zentimeter langen Fühlern. »Oh!« rief der Solaner, als er Yaals Blick bemerkte. »Wir wollen euch nur etwas zuschauen. Ihr habt doch nichts dagegen, oder?« »Wennʹs euch Spaß macht und ihr uns nicht an der Arbeit hindert«, gab Yaal zurück. »Von mir aus bleibt hier.« Er hörte Eric etwas von »Spion« sagen und verdrehte gequält die Augen. Linda machte ihm ein Zeichen, als Henn aus dem Raum stampfte. »Ich habe ihm gesagt, die Roboter hätten im Tank etwas gefunden, daß du dort versteckt hast, um uns alle hereinzulegen«, flüsterte sie ihm zu. »Wir müssen uns beeilen, bevor er …« Yaal war schon aufgestanden und hatte sie bei der Hand genommen. Als er einen letzten Blick in den Raum zurückwarf, nachdem er den Farmern knapp erklärt hatte, was sie tun mußten, hatte er den Eindruck, daß die beiden merkwürdigen Gestalten im gegenüberliegenden Eingang sich leise unterhielten und ihm dabei verstohlene Blicke zuwarfen. Er zuckte die Schultern und machte sich auf den Weg. »Warte!« rief Linda. »Nicht so schnell, Gavro!« 7.
Stedt Conlee fand den Katzer wieder so vor, wie er ihn verlassen hatte. Bjo Breiskoll lag ausgestreckt auf einem aus alten Decken bereiteten Lager in einer der Kabinen und blickte ihn fragend an. »Ich habʹs getan«, sagte Conlee. »Dein Freund Atlan ist benachrichtigt. Er weiß, daß du lebst. Aber … mehr kannst du nicht von mir verlangen!« »Mehr will ich auch gar nicht. Du hast mir geholfen, obwohl ich deine Freunde erschoß. Du hättest mich dafür töten können!« »Und das hätte ich verdammt fast getan«, knurrte Conlee. Er setzte sich neben das Lager, hatte eine noch heftigere Entgegnung auf der Zunge. Aber dann sah er wieder den Ausdruck auf Breiskolls Gesicht, der nicht allein vom Schmerz in der Schulter herrührte. Dieses Monstrum, das keines war, machte sich Vorwürfe. Es litt darunter, daß es Marei und Borgson getötet hatte. Das entwaffnete Conlee mehr, als hätte der Katzer seine Unschuld beteuert und sich darauf berufen, nur in Notwehr gehandelt zu haben. Was er getan hatte, hatte ihm einen schweren Schock versetzt, unter dessen Nachwirkungen er immer noch stand. Conlee konnte nicht anders, als Mitleid zu empfinden. Er wollte Bjo Breiskoll helfen, aber er besaß keine Medikamente. Die Schußwunde war schlimmer, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Der Strahl war tief in die Schulter eingedrungen. Haut, Fleisch und möglicherweise Knochen waren verbrannt. Conlee vertraute nicht sehr darauf, daß der Katzer von alleine wieder auf die Beine kam und es bis zu seinen Freunden schaffte. Himmel, was sollte er tun? Breiskoll traf keine Schuld am Tod Mareis und Borgsons. Conlee durfte gar nicht mehr daran denken, wie nahe er daran gewesen war, ihn in seiner ersten Wut und Verzweiflung einfach zu erschießen. Warum mußten die beiden auch wie besessen auf ihn feuern! Sie hatten ihm gar keine Gelegenheit gegeben, etwas zu sagen. Im
Grunde waren sie selbst an ihrem Tod schuld. Conlee begriff jetzt, daß er sich über kurz oder lang von ihnen getrennt hätte. So wie sie sich ihre Zukunft vorstellten, war für ihn kein Platz in ihrer Gruppe. Aber er war wieder allein. Er würde wieder von Gruppe zu Gruppe ziehen müssen, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwo aufgenommen zu werden. Was sollte er tun? Breiskoll zu seinen Freunden bringen? Er würde ihm damit das Leben retten. Aber was geschah dann mit ihm? Schon diesen Atlan zu benachrichtigen, war im Grunde ein unvertretbares Risiko gewesen. »Du konntest nichts dafür«, hörte er sich zu Breiskoll sagen. »Du mußtest schießen, sonst hätten sie dich erwischt.« »Ich hätte … aufmerksamer sein müssen«, sagte der Mann mit den Katzenaugen kaum hörbar. Conlee verstand nicht, was er damit meinte. »Du hast mich als erster gesehen. Warum hast du nicht auf mich geschossen?« Conlee zuckte die Schultern. »Ich hab ʹs eben nicht. Sei froh darüber.« Das Sprechen bereitete dem Katzer Mühe und Schmerzen. Dennoch fragte er weiter: »Vor wem hattet ihr Angst?« Conlee begann, ihm seine Geschichte zu erzählen. Es kam ganz plötzlich über ihn. Er mußte es tun. Bjo blickte ihn dabei an, und Conlee wurde das Gefühl nicht los, daß er schon wußte, was er als nächstes sagen würde, bevor er es aussprach. »Jaja«, knurrte er schließlich. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Der Junge ist auf die schiefe Bahn geraten, und es gibt andere Möglichkeiten, zu überleben, als zu rauben und zu betrügen. Zeig mir eine, Bjo! Und überhaupt – was soll das Ganze? Von dir weiß ich ja überhaupt nichts, außer, daß du ein paar Freunde an Bord hast und kein Monster sein willst.« »Macht das … einen Unterschied für dich, Stedt?«
»Was? Ob du ein Monster bist oder nicht? Du siehst aus wie eins, und ich bin wohl zu dumm, um zu verstehen, warum du keines sein solltest. Ich hasse die Monster nicht, wenn du das wissen willst. Ich habe überhaupt nichts gegen sie.« Wieso redete er wie ein Wasserfall und ließ sich über solche Dinge ausfragen? Er sollte zusehen, daß er so schnell wie möglich von hier verschwand. Er konnte nichts für Bjo tun, und allein mit ihm hier herumzusitzen, trieb ihn noch in den Wahnsinn. Gerade, als er überlegte, ob er nicht Atlan noch einmal anrufen sollte, ihm genau sagen, wo er seinen Freund fand, und sich dann schnell aus dem Staub machen, hörte er die Geräusche. Conlee sprang auf und fuhr herum. Blitzschnell lag der Strahler in seiner Hand, aber er konnte ihn nicht benutzen. Sein Finger ließ sich nicht mehr bewegen, und etwas drückte ihm die Hand nach unten. »Ganz ruhig«, sagte die etwa dreißig Jahre alte, schlanke Solanerin mit der samtbraunen Haut und dem kurzgeschnittenen, weißblonden Haar. »Ganz ruhig, Stedt Conlee. Wir wollen nichts von dir.« Fassungslos starrte er sie an, dann ihre beiden Begleiter. Der Katzer hob den Kopf leicht an. Er lächelte zum erstenmal. »Hallo, Bjo«, sagte die Fremde. »Sternfeuer …!« * Sternfeuer schickte Ivor Chan und Dan Jota zu den beiden Zugängen dieser Kabinenflucht, um dort die Augen offen zu halten – dorthin, von wo sie selbst gekommen waren, und zu dem Wall aus geschmolzenem Plastik und Asche, hinter dem noch die beiden Toten lagen. Conlee ließ sich den Strahler abnehmen. Ein Blick in seine Gedanken zeigte Sternfeuer, daß von ihm kein Widerstand mehr zu
erwarten war. Conlee tat ihr leid. Er war am Ende. Sternfeuer ging neben Bjo in die Hocke und legte ihm sanft die Hand auf die Wange. »Hallo, Bjo«, sagte sie wieder. »Sie haben dich böse erwischt, hm?« »Ich überlebʹs«, antwortete der Katzer. Er zwang sich zu einem Lächeln, zeigte für einen Augenblick seine Freude über das Wiedersehen mit der Mutantin. Dann wurde er wieder ernst. »Aber ich … habe zwei Menschen getötet.« »Das war Notwehr, Bjo. Du hast dir nichts vorzuwerfen.« Sie drehte sich zu Conlee um, der mit dem Rücken an die Wand gelehnt stand und sie aus glasigen Augen anstarrte. »Nein«, sagte er. »Nichts.« Aber sie las die Vorwürfe, die er sich selbst machte, in Bjos Gedanken. Sie hatte sie die ganze Zeit über, nachdem sie mit Chan und Jota die Basis verlassen hatte, empfangen und wußte, daß der Katzer seine Zeit brauchen würde, um über das Vorgefallene hinwegzukommen. Am eigenen Leibe erlebt zu haben, was es an Bord dieses Schiffes hieß, ein »Monster« zu sein, hatte ihm einen zusätzlichen Schock versetzt. Es war bittere Ironie, daß er nicht von SOLAG‐ Angehörigen angegriffen worden war, sondern von Menschen, die ebenso unter dem Joch dieser Organisation zu leiden hatten wie die Andersgearteten. »Es kommt alles in Ordnung, Bjo«, versuchte sie Breiskoll aufzumuntern. »Wir nehmen dich mit in die Basis und flicken dich zusammen.« Sie lächelte und boxte ihn leicht in die unverletzte Seite. »Uns wirft so schnell nichts um. Draußen haben wir eine Antigravscheibe. Du hast Conlee Atlan benachrichtigen lassen? Dann wirdʹs höchste Zeit für uns. Wir müssen verschwunden sein, bevor die Vystiden hier sind.« Bjo wollte widersprechen. Sie legte ihm einen Finger über den Mund und drehte sich halb zu Conlee um. »Und du kannst dir überlegen, ob du hier auf die Vystiden warten
willst oder mit uns kommst. Du hast Bjo geholfen, dafür helfen wir dir.« Conlee zuckte zusammen. Kopfschüttelnd fragte er: »Aber woher weißt du, wer ich bin? Wer seid ihr überhaupt?« »Das erfährst du schon noch. Freunde, wenn du Freunde suchst und bereit bist, einen neuen Anfang zu machen. Kannst du mit einer Antigravscheibe umgehen?« Er starrte sie nur an. Sie seufzte. »Also schön. Dann geh zu Chan und sage ihm, er soll sie hierher bringen. Chan ist der von meinen Begleitern, der immer so aussieht, als hätte ihm etwas den Magen verdorben. Der Große.« Conlee nickte und stolperte fast über die eigenen Beine, als er die Kabine verließ, ohne den Blick von Sternfeuer abzuwenden. Als er fort war, sagte Bjo: »Er ist ein braver Bursche. Er weiß es nur noch nicht.« »Darum nehmen wir ihn mit. Jetzt sei ruhig. Zum Plaudern haben wir immer noch Zeit.« Ivor Chan brachte die Antigravscheibe. Zusammen mit Sternfeuer legte er Bjo vorsichtig darauf. Jota erschien und machte ihnen Zeichen. »Wir beide könnten versuchen, sie aufzuhalten«, knurrte Chan. »Ivor, wir brauchen euch noch. Eure Juka‐Do‐Künste könnt ihr wieder beweisen, wenn eure Gegner nicht bis an die Zähne bewaffnet sind. Wir schaffen es auch so. Wie nahe sind sie, Dan?« »Ich konnte sie nur hören, noch nicht sehen.« »Dann hoffen wir, daß sie nur von einer Seite kommen.« Sie nickte den Basiskämpfern zu. Chan und Jota beeilten sich, aus der Kabinenflucht herauszukommen. Chan dirigierte die Scheibe mit Bjo darauf, die einen halben Meter über dem Boden schwebte. Conlee stand unschlüssig im Gang. »Na, komm schon.« Sternfeuer klopfte ihm auf die Schulter und stieß ihn leicht an.
Sie rannten hinter Chan und Jota her. Es dauerte keine Minute, bis es in den Kabinen von Vystiden und ihren Haematen wimmelte. Palo Bow hatte gleich zwei Trupps in Marsch gesetzt. Sie stießen ins Leere. Auch als sie die Haematen ausschwärmen und systematisch die Umgebung absuchen ließen, fanden sie nichts mehr außer den deutlichen Hinweisen darauf, daß sich bis kurz vor ihrem Eintreffen noch jemand hier aufgehalten hatte. Als das ganze Deck hermetisch abgeriegelt wurde, war es zu spät. »Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben«, fluchte einer der Offiziere. Es schien aber so. Diejenigen, die sich selbst »Basiskämpfer« nannten, hatten in den vergangenen drei, vier Wochen Mittel und Wege gefunden, sich »unsichtbar« zu machen. Ihre Kundschafter waren ständig unterwegs und hatten längst vergessene Belüftungsschächte, Rohrsysteme zum Teil stilliegender Umwälzanlagen, und ähnliches wiederentdeckt und sich nutzbar gemacht. Dazu kamen noch drei weitere als Verstecke geeignete Verbotene Zonen, in die laufend schutzsuchende Solaner gebracht wurden. Die Gefahr einer Überfüllung der Basis selbst bestand nicht mehr. Ivor Chan und Dan Jota brachten Bjo Breiskoll sicher durch den Giftwall, den an einigen Stellen dreihundert Meter breiten Gürtel um die Basis herum, der für Uneingeweihte absolut tödlich sein konnte. Die vor langer Zeit hier gegen eine gefährliche, fremdartige Lebensform angewendeten Gifte wirkten immer noch. Nur einige wenige Pfade führten sicher ins Hauptquartier der Widerständler. Sternfeuer betrat mit Stedt Conlee als letzte die achtzig Meter breite, hundert Meter lange und zehn Meter hohe Halle. Conlee blickte sich überrascht um, sah die hydroponischen Anlagen, die provisorisch errichteten Unterkünfte der hier lebenden Solaner, Halbbuhrlos, Monster und Extras, die etwa mannshohen, kristallinen pflanzlichen Gebilde mit den auf langen Stielen
schwankenden, tellerförmigen »Blättern« – und den jungen Solaner, der seiner Führerin zuwinkte und sich nun über den Verletzten beugte. Er glich Sternfeuer bis aufs Haar. »Federspiel«, erklärte diese. »Mein Zwillingsbruder.« »Aha«, sagte Conlee, wobei er sich reichlich dumm vorkam. Er hatte alles mögliche erwartet, aber nicht dies hier. Daß sich viele der Bewohner dieser Halle jetzt auf Bjo Breiskoll stürzten und ihn freudig begrüßten, konnte nicht von der Betriebsamkeit ablenken, die hier herrschte. »Ein Neuer?« Ein ziemlich kränklich aussehender, blutjunger Solaner kam auf Sternfeuer und Conlee zu und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Bist uns willkommen, äh …?« »Conlee«, sagte Sternfeuer schmunzelnd. »Stedt Conlee. Stedt, das ist Hirvy, aber laß dich durch sein Aussehen nicht täuschen. Hirvy hatʹs faustdick hinter den Ohren.« Conlee starrte den Jungen an, sah die ausgestreckte Hand und ergriff sie zögernd. Was hier geschah, kam ihm vor wie ein Traum. Hier lebten Leute, die ihn nicht mißtrauisch anblickten und fortjagten. Sternfeuer legte Hirvy die Hand auf die Schulter. »Zeig ihm hier alles, ja? Ich glaube, Stedt wird bei uns bleiben.« »Du glaubst es?« »Ich bin mir ziemlich sicher.« Sie lächelte Conlee noch einmal an, als wollte sie sagen: »Na, komm schon! Gib dir einen Ruck!« Dann ging sie zu Federspiel und Bjo hinüber. Federspiel wußte längst aus ihren Gedanken, was dem Katzer zugestoßen war. »Das kriegen wir hin«, gab er sich zuversichtlich. »Kopf hoch, Bjo. Wir haben einen guten Medizinmann hier. Er holt schon alles, was wir brauchen, um dich die Wunde in zwei, drei Tagen vergessen zu lassen.«
Auch Breiskoll sah sich um. Er schien überwältigt. Zufrieden registrierte Sternfeuer, daß er auf dem besten Weg war, den erlittenen Schock zu überwinden. Chetnagel erschien. Er hatte vor einiger Zeit in einem Medo‐ Center gelebt. Das Wissen, das er sich dabei angeeignet hatte, war für die Basiskämpfer ebenso unverzichtbar geworden wie die Medikamente, die er sich dort hatte beschaffen können. Die Zwillinge überließen ihm Bjo und zogen sich in ihre Quartiere zurück. »Wie viele von uns sind draußen?« fragte Sternfeuer, nachdem sie sich gesetzt und die Berichte einiger Kundschafter durchgesehen hatte. »Im Moment nur fünfzehn«, sagte Federspiel, »darunter auch Malcish und CptʹCarch.« »Das ist nichts Ungewöhnliches. Wieso erwähnst du die beiden extra?« »Weil sie, liebe Schwester, Gavro Yaal gefunden haben.« Sie pfiff durch die Zähne. »Und?« fragte sie. »Was macht er? Eine Revolution anzetteln?« Während des Kontakts mit Bjo Breiskoll, bevor er sich auf den Weg zu ihnen machte, hatte Sternfeuer von ihm erfahren, daß Yaal zwar mit ihm, Atlan und Hellmut an Bord der SOL zurückgekehrt, dann aber plötzlich verschwunden war. Und da Yaals Extratouren ihr nur zu gut bekannt war, hatte sie vorsichtshalber alle Kundschafter, die die Basis verließen, gebeten, die Augen nach ihm offenzuhalten. Auch Malcish hatte seine Beschreibung erhalten. »Ich fürchte, du tust ihm diesmal unrecht«, sagte Federspiel schmunzelnd. »Malcish beobachtet ihn jetzt. Vorher übermittelte er die Nachricht an Dopestiere, der gerade als Relais fungierte.« Sternfeuer verstand. Hirvy, der ein ungeahntes Talent als Sprachschöpfer an den Tag legte, hatte die Bezeichnung »Relais« für jene Basiskämpfer geprägt, die sich außerhalb der Basis in der Nähe von unbewachten Interkom‐Anschlüssen aufhielten, um dort
Nachrichten von Kundschaftern entgegenzunehmen, die sich aus gutem Grund nicht direkt an die Basis wenden durften. Wenn diese Nachrichten wichtig waren, verließ das Relais augenblicklich seinen Posten und überbrachte sie mündlich. Die Richtigkeit dieser, wenn auch etwas umständlichen Methode hatte sich bereits zweimal darin gezeigt, daß kurz nach dem Aufbruch der Kuriere Vystidentrupps am betreffenden Interkom‐ Anschluß erschienen. Selbstverständlich waren die Botschaften so abgefaßt, daß die SOLAG mit den abgehörten Gesprächen nicht viel anfangen konnten. »Es sieht ganz danach aus«, fuhr Federspiel fort, »daß unser guter Gavro Yaal ausnahmsweise einmal etwas Nützliches zuwege bringt. Er hat eine Gruppe von SOL‐Farmern dazu bringen können, ihm bei der Säuberung und Inbetriebnahme eines Algentanks zu helfen. Außerdem hat er sich ein Dutzend Roboter geholt.« »Alle Achtung«, sagte Sternfeuer. Sie stand auf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Du solltest dich endlich für ein paar Stunden aufs Ohr legen.« »Wahrscheinlich hast du Recht. Federspiel, vermutlich weiß Atlan über Yaals Verbleib ebensowenig wie über Bjo. Einer der Kuriere muß hinaus und ihn benachrichtigen. Er soll ihm sagen, daß Bjo in Sicherheit ist und er sich keine Sorgen zu machen braucht. Übernimmst du das?« »Natürlich.« »Dann versuche ich jetzt zu schlafen. Sollten sich wider Erwarten doch Komplikationen ergeben …« »… wecke ich dich. Beruhigt?« »Und kümmere dich auch um Conlee. Er ist noch in einer ziemlich labilen Verfassung, verbittert und unsicher. Aber er wird gut zu uns passen, denke ich.« »Ja, auch das tue ich. Und jetzt ab!«
8. Diesmal waren die Magniden vollzählig in der Zentrale versammelt. Nach den üblichen anfänglichen Protesten der Traditionalisten konnte Akitar reden. Chart Deccon erschien, als der Chailide gerade damit begonnen hatte, seine Geschichte noch einmal in allen Einzelheiten zu erzählen. Deccon warf Y´Man einen undefinierbaren Blick zu. Offenbar machte er den Mißgebauten insgeheim für das verantwortlich, was ihm in seiner Klause widerfahren war. Deccon hielt sich im Hintergrund. Atlan beobachtete ihn und fragte sich, ob es lediglich Zufall war, daß der High Sideryt eine Position ihm genau gegenüber eingenommen hatte. Welche Rolle spielte das schon? Wichtiger waren die Reaktionen der Magniden auf Akitars Bericht. Einige der Traditionalisten schüttelten immer wieder die Köpfe, blickten sich bezeichnend an und gaben sich auch sonst keine Mühe, offen zu zeigen, was sie von den Schilderungen des Chailiden hielten. Andere waren ernster. Besonders Wajsto Kölsch fiel dem Arkoniden auf. Kölsch, der sich eines zweifelhaften Rufes als Monsterjäger erfreute, saß weit nach vorne gebeugt am Tisch, die Ellbogen auf die Platte gestützt und das Kinn auf den Zeigefingern, die mit den Daumen seiner Hände ein Dreieck bildeten. Dann und wann nickte er leicht. Die vier Fortschrittlichen hörten Akitar ruhig zu. Als dieser geendet hatte, sagte eine Zeitlang niemand etwas. Deccon hielt sich weiterhin zurück. So wie er hinter Palo Bow und Arjana Joester stand, erinnerte er Atlan an eine Spinne, die die Fliegen beobachtete, die sich in ihrem Netz verfangen hatten. Nurmer, der älteste der Magniden, lehnte sich schließlich im Sessel zurück und sagte: »Das ist eine böse Geschichte, die wir da zu hören bekamen. Es hat wirklich den Anschein, als hätten diese Roxharen deinem Volk übel
mitgespielt, Akitar. Was mich betrifft, so würde ich dir gerne helfen. Aber ein Einsatz der SOL steht nicht zur Debatte.« »Kommt gar nicht in Frage!« kommentierte Curie van Herling. »Du und deine Rasse, ihr tut uns leid, Akitar. Aber es wäre besser für dich, nach Osath zurückzukehren und dort darauf zu warten, daß man dich nach Hause bringt.« Provozierend blickte die untersetzte, stark geschminkte Magnidin Atlan an. »Ich bin sicher, unser Freund wird beim Herrn in den Kuppeln ein gutes Wort für dich einlegen können.« »Selbst wenn dies der Fall wäre«, antwortete Atlan mühsam beherrscht, »würden wir uns allen ein Armutszeugnis ausstellen.« »Lächerlich!« »Das ist es allerdings. Ein lächerliches Dokument der Hilflosigkeit von Menschen, die über ein Raumschiff und damit ein Machtinstrument verfügen, das weit und breit seinesgleichen sucht.« »Paß auf deine Worte auf!« fuhr Gallatan Herts ihn an. »Hör zu, Arkonide, du solltest nie vergessen, daß du hier nur geduldet bist!« »Du solltest nicht vergessen«, schaltete Palo Bow sich ein, bevor Atlan sich zu einer heftigen Entgegnung hinreißen lassen konnte, »daß wir es ihm allein zu verdanken haben, wenn die SOL bald wieder frei sein wird! In erster Linie seinem Wirken auf dem Planeten ist es zuzuschreiben, daß das Schiff nicht in alle Einzelteile zerlegt wurde!« »Wir honorieren das«, sagte Wajsto Kölsch. Arjana Joester fuhr herum und starrte ihn an. »Ausgerechnet du mußt das sagen, Wajsto? Hast du plötzlich die Fronten gewechselt?« Kölsch winkte ab. Arjana wandte sich an Atlan. »Schön, er mag Recht haben. Du hast uns geholfen. Willst du uns nun die Rechnung dafür präsentieren? Glaubst du, uns in der Hand zu haben?« Atlan gab keine Antwort. Sie redete Unsinn, und sie wußte das.
Dabei hätte er ein viel effizienteres Druckmittel gegen die Magniden und Deccon zur Hand gehabt, ginge es ihm darum, die Schiffsführung mit Gewalt zu ihrem Glück zu zwingen. Noch hatte er dem Herrn in den Kuppeln das Signal zum Abschalten des Zugstrahls nicht gegeben. Er allein bestimmte, wann es soweit war. »Ich bin dafür, den Chailiden zu helfen«, meldete sich Ursula Grown zu Wort. »Nach Akitars Angaben ist sein Heimatplanet nur etwa vierhundert Lichtjahre von unserer derzeitigen Position entfernt – ein Katzensprung für die SOL. Und was haben wir zu verlieren? Atlans Forderung, uns auf die Reise in ungleich weiter entferntere, unbekannte Raumregionen zu machen, mit einem Ziel, über das er uns nichts sagen kann oder will, ist etwas anderes. Hier aber wissen wir, was vor uns liegt. Ich glaube nicht, daß wir uns vor einer Rasse zu fürchten haben, die darauf angewiesen ist, andere Völker zu lähmen, um sie schließlich zu besiegen oder unterdrücken zu können.« »Die Solaner brauchen ein Ziel«, stimmte Palo Bow ihr zu. »Ihr habt euch alle davon überzeugen können, wie sie in den letzten Tagen quasi zu neuem Leben erwachten. Und dazu reichte es schon, ihnen das Gefühl zu geben, daß sie überhaupt zu etwas zu gebrauchen sind. Machen wir den Versuch! Geben wir auch der SOL wieder ein Ziel und verbinden damit die Hilfeleistung für ein in Not befindliches Volk! Ein wenig mehr Selbstvertrauen anstelle von Selbstgenügsamkeit kann uns allen nicht schaden.« Bow blickte Deccon an. Der High Sideryt verzog keine Miene, aber seine Augen hingen an den Lippen eines jeden Sprechers. »Dafür!« rief Lyta Kunduran. »Nein, nein!« Gallatan Herts sprang auf und deutete anklagend auf Atlan. »Wir dürfen die bitteren Lehren niemals vergessen, die wir aus der Vergangenheit gezogen haben! Aus einer Vergangenheit, in der Leute wie er und sein Freund Perry Rhodan die SOL von einer Gefahr in die andere brachten!« »Vielleicht«, gab Wajsto Kölsch zu bedenken, »haben wir die
falschen Lehren gezogen und sind nur von einem Extrem ins andere verfallen.« Diesmal entrüstete sich nicht nur Arjana Joester, deren intime Beziehungen zu Kölsch kein Geheimnis waren. Sämtliche Traditionalisten beschimpften den Magniden, der es nach dem von ihm zu verantwortenden Tod einer Ferraten‐Gruppe nur den besonderen Umständen an Bord verdankte, daß er überhaupt noch an seinem Platz saß. Atlan hörte sich die Streitereien eine Weile an. Dann trat er vor und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Schluß jetzt!« sagte er hart. »Ich sagte es euch und dem High Sideryt, und ich sage es noch einmal: Ich beanspruche nichts für mich! Ich stelle keine Forderungen, sondern ich richte eine Bitte an euch. Ich bitte euch in Akitars Namen um Hilfe für das Volk der Chailiden. Hört auf, euch wie kleine Kinder zu benehmen und zu streiten. Wenn ichʹs nicht besser wüßte, müßte ich daran zweifeln, daß ich die fähigsten Männer und Frauen der SOL vor mir habe. Jetzt geht es nicht um mich. Meine Person steht überhaupt nicht zur Debatte. Es gab eine Zeit, in der es für Menschen etwas Selbstverständliches war, in Not geratenen Völkern beizustehen, wenn es in ihrer Macht stand. Und es steht in unserer Macht! Die SOL ist eure Welt, und niemand denkt daran, sie euch zu nehmen oder sie zu gefährden. Aber die SOL ist auch ein Produkt genialen menschlichen Geistes. Sie ist etwas, auf das es sich lohnt, stolz zu sein. Seid also stolz auf euer Schiff und laßt es nicht noch weiter verkommen! Ich frage euch, ob es einen besseren Beweis dafür gibt, daß die Lebensweise der Solaner der der planetengebundenen Völker überlegen ist, als wenn man mit der SOL erfolgreich einem bedrängten Volk zu Hilfe eilt. Ihr habt gehört, was Ursula Grown sagte. Zweifelt ihr daran, daß die SOL in der Lage ist, den Chailiden Hilfe zu bringen? Ihr kennt nichts anderes mehr als das Herumvagabundieren im Kosmos. Gebt euch einen Ruck und lernt wieder kennen, was es heißt, etwas Sinnvolles zu vollbringen und
Freunde zu finden! Ihr könnt nur gewinnen!« Palo Bow, Lyta Kunduran, Ursula Grown und Brooklyn klopften Beifall auf die Tischplatte. Chart Deccon ließ für einen Augenblick seine undurchdringbare Maske fallen und zeigte sich beeindruckt. Gallatan Herts lachte verächtlich und winkte ab. Arjana Joester wirkte verunsichert und blickte sich unter den übrigen Traditionalisten wie hilfesuchend um. Nurmer saß mit auf der Tischplatte gefalteten Händen da und starrte auf die Fingerspitzen. Curie van Herling wollte auffahren, um Atlan etwas ins Gesicht zu rufen. Doch sie brachte nur eine Verwünschung heraus und schüttelte den Kopf. Wajsto Kölsch schließlich sagte: »Es scheint hier einige Mißverständnisse zu geben, meine Einstellung zu dieser Frage betreffend. Mir liegt daran, klarzumachen, daß ich nach wie vor gegen alle Bestrebungen bin, unsere SOL wieder zu einem Spielball von Mächten zu machen, die wir, ginge es nach dem Willen derjenigen, die sich selbst als fortschrittlich bezeichnen, unweigerlich wecken und auf uns aufmerksam machen müßten.« Kölsch stand auf und ging um den Tisch herum, warf Deccon einen Blick zu und verschränkte die Arme über der Brust. »In einem Flug über nur 400 Lichtjahre hinweg zur Welt der Chailiden jedoch kann ich keine unkalkulierbare Gefahr für uns und das Schiff erkennen. Wir haben keine Roxharen zu fürchten, die sich in ihrem Expansionsdrang solcher Praktiken bedienen, wie sie uns hier geschildert wurden. Wir sind überlegen. Zeigen wir unsere Macht!« »Soll das heißen, du bist dafür?« fragte Arjana. Kölsch nickte. »Für diesen Flug, und nur für diesen. Man bat uns um Hilfe, die wir leisten können. Verweigern wir sie, gestehen wir uns eine Schwäche ein, die wir nicht haben.« Atlan verfolgte gebannt die Reaktion der übrigen Traditionalisten. Eine Stimme mehr! dachte er. Aber das reicht nicht!
Er hatte auf den Stolz aller Magniden auf ihr Schiff gesetzt. Kölsch schlug in die gleiche Kerbe, wobei Atlan sich unwillkürlich fragen mußte, ob der Magnide seine Absicht nicht durchschaut hatte. War es so, eröffneten sich vielleicht ganz neue Perspektiven. Von Kölsch hatte er am allerwenigsten Unterstützung erwartet. Nurmer sagte: »Wir vergeben uns nichts, wenn wir nach Chail fliegen. Wir sollten es tun.« Das gab endlich den Ausschlag. Zögernd stimmte nun auch Arjana Joester zu. Curie van Herling enthielt sich der Stimme. Nur Herts fluchte und erging sich in wüsten Beschimpfungen auf Atlan und die Fortschrittlichen. Kölsch zeigte keine Reaktion, als er als Verräter bezeichnet wurde. Sieben Stimmen zu zwei. Und Deccon? Alle wandten sich zu ihm um und blickten den High Sideryt an, der nun aus seiner Reserve heraus mußte. – »Laßt uns allein«, sagte Deccon zu Atlan, Akitar und YʹMan. Der Arkonide erfüllte ihm diesen Wunsch nur widerstrebend. Er machte Akitar und dem Mißgebauten ein Zeichen. Sie verließen die Zentrale. Akitar stellte keine Fragen. Nur seine Blicke verrieten, wie aufgewühlt er innerlich war. In Atlans Kabine angekommen, setzte er sich und starrte finster vor sich hin. YʹMan gab sich zuversichtlich. »Deccon kann gar nicht anders, als den Willen der Magniden zu erfüllen«, sagte er überzeugt. »Er will sich keine Blöße geben.« Damit wir nie erfahren sollen, welche Position er selbst einnahm, fügte Atlan in Gedanken hinzu. Der High Sideryt würde ihnen mitteilen, daß die SOL nach Chail fliegen würde, um einem bedrohten Volk Hilfe zu bringen. Er würde nicht sagen, wie er selbst dazu stand. Das Versteckspiel würde weitergehen. Von allen geheimen Ängsten, die den mächtigen, einsamen Mann an der Spitze der SOLAG quälten, mochte die die stärkste sein, jemanden in sein Innerstes blicken zu
lassen, sich offenbaren zu müssen, berechenbar zu werden. Chail lag auf dem Weg nach Varnhager‐Ghynnst. Es war Atlan ein echtes Anliegen, den Chailiden Hilfe zu bringen. Aber ein Flug nach Chail war auch ein Kompromiß, ein erster Schritt auf einem viel längeren Weg. Die Magniden mußten sich dazu überwinden. Doch sobald sie sich einmal wieder ein echtes Ziel gesetzt hatten und erlebten, was es bedeutete, eine sich selbst gestellte Aufgabe zu bewältigen, würden sie einen guten Teil ihrer Vorbehalte aufgeben müssen. Vielleicht kamen sie sogar auf den Geschmack. Du übersiehst eines, meldete sich Atlans Extrasinn. Du glaubst, Chail sei nur eine Etappe auf deinem Weg. Du weißt so gut wie nichts über den Gegner. Aus einer Gefahr konntest du die SOL befreien. Unterschätze nicht die nächste! * Wieder dauerte es Stunden, bis Chart Deccon sich meldete. Atlans Geduld wurde auf eine weitere, harte Probe gestellt. Die Entscheidung mußte längst gefallen sein. Daß Palo Bow sie ihm nicht mitteilte, verdeutlichte, daß Deccon sich diese selbst vorbehielt. Aber was versprach er sich davon, Atlan, Akitar und YʹMan zappeln zulassen? Der Interkom sprach an, als ein weiterer Tag an Bord der SOL zu Ende ging. »Wir brechen auf, sobald die letzten Roboter von Osath das Schiff verlassen haben«, verkündete der High Sideryt. »Wir werden die Hilfe leisten, um die wir gebeten wurden.« Er blickte Atlan aus seinen kleinen Augen an, als wollte er in seinem Gesicht lesen. Der Arkonide zeigte mit keiner Regung, was in ihm vorging. »Zufrieden, Atlan?« »Ich danke euch in Akitars Namen«, sagte Atlan.
»Nur in seinem?« Deccon schaltete sich aus, ehe er eine Antwort erhalten konnte. »Ein interessanter Mann«, kommentierte YʹMan Deccons Art und Weise, die lange erwartete Entscheidung bekannt zu geben. »Ein faszinierender Mann.« Akitars Züge entkrampften sich. Der Chailide stand auf und reichte Atlan die Hand. Der ergriff sie zögernd. Die Warnung des Extrasinns war nicht ohne Wirkung geblieben. Atlan mußte sich fragen, ob er tatsächlich vor lauter Eifer, seinen Auftrag zu erfüllen, den Blick für andere Realitäten verlor. »Wir haben noch nichts gewonnen, Akitar«, sagte er leise. Der Interkom‐Anschluß sprach erneut an. Diesmal erschien das Gesicht eines Solaners auf dem Schirm, den Atlan ebensowenig kannte wie den jungen Mann, der ihm Bjos Nachricht übermittelte. »Bjo Breiskoll befindet sich in Sicherheit«, erklärte der Fremde. »Er ist unter Freunden und wird zu dir zurückkehren, sobald wir es für richtig halten.« »Wo?« fragte Atlan schnell. »Wer sind diese Freunde?« Er ahnte es. Wenn der Solaner die Wahrheit sagte, wußte er es. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Atlan«, fuhr der Solaner fort, ohne auf die Fragen einzugehen. »Auch nicht um Gavro Yaal. Er befindet sich in einer Algenfarm und ist dabei, diese in Betrieb zu nehmen. Zwei von uns beobachten ihn.« Der Mann teilte noch mit, wo sich diese Algenfarm befand. Dann wurde der Schirm dunkel. Atlan hatte die Hand auf der Ruftaste, um Palo Bow abermals zu bitten, von der Zentrale aus den Standort des Anrufers ermitteln zu lassen. Er tat es nicht. Als er mit Akitar und YʹMan die Zentrale betrat, hatte ihn Bow kurz zur Seite genommen und ihm mitgeteilt, daß die von ihm ausgeschickten Vystiden ins Leere gelaufen waren. So würde es auch diesmal sein.
Wer anders als die »Basiskämpfer«, von denen Bjo im Zusammenhang mit Sternfeuer und Federspiel gesprochen hatte, konnten auch um Yaal wissen – und darum, daß Atlan sich um ihn sorgte? Die Magniden auf sie aufmerksam zu machen, auch wenn der Anrufer mit ziemlicher Sicherheit längst nicht mehr am Interkom‐Anschluß war, von dem aus er gesprochen hatte, war absolut unnötig. Aber sie konnten das kurze Gespräch belauscht haben und ihre Leute schon zur genau bezeichneten Algenfarm schicken. Atlan schob diese Bedenken zur Seite. Sicher waren die Basiskämpfer schlau genug, um ihre Freunde dort nicht durch solcherlei Hinweise in Gefahr zu bringen. Atlan war erleichtert. Er spürte, daß er dem Fremden vertrauen durfte. Bjo war in Sicherheit. Yaal schien endlich etwas gefunden zu haben, wobei er sich nützlich machen konnte. Dem Aufbruch der SOL nach Chail stand nichts mehr im Weg als der Zugstrahl von Mausefalle VII. Atlan verschaffte sich einen Überblick über den Stand der Wiederherstellungsarbeiten überall in der SOL. Viele Roboter hatten das Schiff bereits verlassen. Andere schienen kurz davor zu stehen. Das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es noch Tage dauern würde, bis auch der letzte von Bord war. So lange wollte der Arkonide mit dem Signal an den Herrn in den Kuppeln noch warten. Er quartierte Akitar und Y´Man in leerstehende Kabinen ein und begab sich zu Joscan Hellmut, den er arg vernachlässigt hatte. Hellmut war allein. Er wirkte übermüdet. Unter seinen Augen waren rote Ränder zu erkennen. »Es ist zwecklos, Atlan!« beklagte er sich, nachdem der Arkonide ihm alles berichtet hatte, was er wissen mußte. »Lyta Kunduran hat wirklich alles versucht, um mir zu helfen. Ich hätte von einer Magnidin nie ein solches Entgegenkommen erwartet. Aber was nützt das alles, wenn es keine Möglichkeit gibt, an diese sture
Hyperinpotronik heranzukommen? Im Vergleich zu früher hat sich nahezu alles zum Schlechten hin verändert. Was ich an Schlußfolgerungen ziehen konnte, ist so mager, das es nicht lohnt, nur ein Wort darüber zu verlieren. Ich komme nicht weiter, Atlan. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Eine Lösung des Problems SENECA liegt in weiter Ferne, falls wir überhaupt eine finden.« Ein Wermutstropfen – für Atlan einer, den er angesichts des anderweitig Erreichten und der beruhigenden Nachricht über Bjo und Yaal verschmerzen konnte, jedenfalls im Augenblick. Hellmut dagegen war verzweifelt. Nicht nur, daß SENECA sich sperrte, sich geradezu übertrieben ablehnend gegen alle Versuche stellte, die Ursache seines Fehlverhaltens zu ergründen – es schien, daß Hellmut an sich selbst zu zweifeln begonnen hatte. Gerade ihn, für den SENECA einmal fast sein Lebensinhalt gewesen war, traf die Ablehnung des Gehirns hart. »Leg dich hin und versuche zu schlafen«, riet Atlan ihm. »Vielleicht kommt SENECA von ganz allein wieder zu sich, wenn die SOL erst einmal auf Kurs ist.« Das war kein Trost und zudem unrealistisch. Atlan wußte dies ebensogut wie Hellmut, der aber wenigstens die gute Absicht erkannte. »Versuchen«, murmelte er. »Versuchen kann ich es. Aber …« Er zuckte die Schultern und bediente sich an der Kabinenbar. Atlan nickte Joscan zu und schickte sich an, in seine eigene Kabine zurückzukehren. Schon in der Tür, wurde er noch einmal von Hellmut gerufen. Er drehte sich um. »Romeo«, sagte der Kybernetiker, »können wir fürs erste vergessen. Aber was ist mit Julia?« 9.
Gavro Yaal und Linda Falking sah man fast nur noch zusammen. Gemeinsam machten sie sich von der Algenfarm auf den Weg zum Tank, in dem sich aus den von Traverte zur Verfügung gestellten Sämlingen bereits prächtige Pflänzchen entwickelt hatten. Gemeinsam begaben sie sich jeden Tag nach dieser Inspizierung auf den Weg zur SOL‐Farm, in der Traverte begierig auf Ergebnisse wartete. Und das Gesicht des Farmers wurde jeden Tag etwas länger. »Noch habt ihr nicht gewonnen«, sagte er, als gehörte Linda gar nicht mehr zu seinen Leuten. »Meine Pflanzen wachsen auch, und sie sind viel weniger auf künstlich aufrechterhaltene Umweltbedingungen angewiesen als eure. Ich gebe zu, im Augenblick habt ihr die Nasen vorn. Aber ein einziger Fehler in eurem komplizierten System genügt, um die ganze Kultur absterben oder verkümmern zu lassen. Die Woche ist noch nicht vorüber.« »Lug«, seufzte Linda. »Nun gib endlich zu, daß Gavros Methode die bessere ist. Du weißt es doch längst, und ich sehe dir an, daß du es gar nicht abwarten kannst, einen der anderen Tanks selbst in Betrieb zu nehmen. Du bist in deiner Wette gefangen. Gib diese Farm auf und züchte alles, was sich hier anzubauen lohnte, in den Tanks. Du wirst der erste sein, Lug, ein Pionier. Andere SOL‐Farmer werden dir folgen, aber du … wir waren die ersten. Gavro erzählte mir, daß die meisten heutigen SOL‐Farmen zu seiner Zeit einmal Erholungsstätten für Solaner waren. Es gab die großen Freizeitparks, aber in erster Linie für Menschen, die unter Neurosen und ähnlichem litten, schuf man diese grünen Inseln, aus denen sich dann die Farmen entwickelten. Was weiß ich, wie. Irgendwo tief in den Leuten verborgen mochte noch eine Sehnsucht der grünen, fruchtbaren Oberfläche von Planeten verankert gewesen sein, die sie nie zu betreten wagten. Also schufen sie sich hier, was sie brauchten.« Traverte setzte sich auf die Tischkante. Yaal fiel auf, daß einige der Strichlisten von den Wänden genommen worden waren.
»Linda«, sagte Traverte mürrisch. »Deine psychologische Berieselung kannst du dir sparen. Außerdem leben wir nicht mehr in Yaals Zeit. Nehmen wir an, ich spielte wirklich mit dem Gedanken, die Farm hier aufzugeben. Was glaubst du, was die SOLAG dazu sagt? Die Ferraten werden kommen und mich zu meinem Entschluß beglückwünschen. Fein gemacht, Lug Traverte! Da hattet ihr eine wirklich gute Idee! Oh, Linda, wie einfach stellst du dir das alles vor?« »Sie werden einsehen müssen, daß wir eine effektive Art und Weise der Pflanzenkultivierung gefunden haben. Ihnen kann es gleich sein, wo sie sich unsere Produkte holen. Hauptsache, sie bekommen mehr und bessere Nahrungsmittel.« Traverte blickte sie durchdringend an, dann Yaal. »Was machen die Algen?« fragte er dann. »Fortschritte«, erklärte der Botaniker. »In zwei Tagen können wir die Robotfabrik in Betrieb nehmen.« »Und du verbuchst einen Erfolg nach dem anderen. Gavro, ich habe dir keine Fragen nach deiner Vergangenheit und deinen Zielen mehr gestellt, obwohl ich dich nicht verstehen kann. Dich nicht und die Tatsache nicht, daß du überhaupt hier vor mir stehen kannst. Aber was hast du wirklich vor?« »Was ich dir sagte. Daß die Solaner genug zu essen bekommen. Ich will keine Lorbeeren für mich, obwohl …« »Obwohl was?« Yaal grinste breit. »Einige Leuten will ich schon einen Denkzettel verpassen. Aber das hat nichts mit uns zu tun. Deine Lorbeeren, Lug.« »Was sind Lorbeeren?« Wollte Traverte wissen. »Eine deiner Algenarten? Früchte von anderen Farmen? Was bezahlt die SOLAG dafür?« »Lorbeeren gabʹs mal auf der Erde, Lug. ʹLorbeeren erntenʹ ist eine uralte Redensart, abstrakt wie vieles, das die Menschen noch in den Mund nehmen, wovon sie aber keine Ahnung mehr haben. Was ich
meinte, Lug: Ich will keine Erfolge für mich verbuchen. Ich gebe bei Euch nur ein kurzes Gastspiel und versuche, euch dies und das begreiflich zu machen. Seht euch die Ergebnisse meiner Arbeit an und überlegt selbst, ob es nicht lohnender wäre, auf diese meine Weise weiterzumachen. Ihr könnt den Anfang machen, Lug. Andere werden euch folgen, und den Vorteil werden alle Solaner haben. In zwei, drei Tagen verlasse ich euch. Tut, was Linda sagt. Gebt diese Farm auf. Arbeitet mit den Tanks. Ich zeige Linda, wie die Robotfabriken funktionieren. Sie kann es euch erklären, wenn ich fort bin. Überlegʹs dir, Lug.« Er zuckte die Schultern. »Aber natürlich kann ich auch anderen SOL‐Farmern diese Chance bieten. Sicher werden nicht alle so lange zögern wie du.« »Gavro Yaal, du bist ein raffinierter Lump!« »Das mag sein. Für manche bin ich noch ganz etwas anderes.« Linda nahm Yaals Hand und zog ihn vom Stuhl hoch. »Es wird Zeit, Gavro. Wir müssen uns um die Algen kümmern.« Yaal blickte sie lächelnd an. Sie war nicht nur jung und hübsch. Sie war auch verständnisvoll und anpassungsfähig – eine Eigenschaft, die bei einem Menschen, der mit Yaal zusammenleben wollte, von eminenter Bedeutung war. Aber er machte sich gar keine Illusionen. Sicher, sie gefiel ihm, aber wie lange würde das gutgehen? Noch sah sie den Gavro Yaal in ihm, von dem sie lernen konnte, den sie als Relikt bewunderte – auch wenn sie sich selbst nicht darüber im Klaren war. »Noch eines«, sagte er zu Traverte. »Findest du es nicht selber mittlerweile lächerlich, mich überwachen zu lassen? Bitte, tu mir den Gefallen und schaff mir diesen Henn vom Hals. Sonst könnte es passieren, daß er eines Morgens in einem Algentank gefunden wird.« *
Henn verschwand im Lauf des Tages. Er war plötzlich einfach nicht mehr da, ohne daß Yaal einen von Traverts Männern hätte auftauchen sehen. Immerhin konnte er es als weiteren Beweis dafür sehen, daß Traverte längst überredet war. Nicht verschwunden waren hingegen die beiden »Beobachter«. Der Solaner und sein merkwürdiger Begleiter verließen die Algenfarm am Abend, um am Vormittag des nächsten Tages wieder aufzutauchen. Wohin sie gingen, wenn in der SOL die Lichter heruntergeschaltet wurden, wußte niemand. Farmer munkelten schon, die beiden seien womöglich Spitzel der SOLAG. Aber sie trugen nicht nur keine Uniformen, Yaal hatte auch noch nichts davon gehört, daß es Extras in den Reihen der SOLAG gab. Solange die beiden sich still verhielten, sollte er sich über sie nicht den Kopf zerbrechen. Sollten sie Spitzel sein, so hatten sie der Schiffsführung bislang noch nichts berichtet, das diese zu einem Eingreifen veranlaßte. Man ließ Yaal und die Farmer in Ruhe arbeiten. Einmal hatten tatsächlich einige Ferraten die Köpfe in den Tank gesteckt und Yaal allerlei Fragen gestellt. Eine Ahlnatin, die sich bei ihnen befand, wollte vieles wissen und zeigte sich am Ende beeindruckt. Aber das war eine Ausnahme gewesen. Die Schwester der dritten Wertigkeit hätte noch mehr gestaunt, hätte sie jetzt einen Blick in den Tank werfen können. Aus dem konservierten Brutmaterial hatten sich kräftige Algenkulturen gebildet, die bei optimalen äußeren Bedingungen hervorragend gediehen. Yaal sah all seine Erwartungen übertroffen. Die Roboter von Osath hatten die Fabrik, die für die Verarbeitung der Algen aus dieser Farm zuständig war, in besten Zustand versetzt. Früher als ursprünglich erwartet, konnten die ersten Transporte dorthin durchgeführt werden. Yaal saß vor den Kontrollen des Tanks, las Feuchtigkeits‐ und Temperaturwerte ab und korrigierte dann und wann die Nährstoffzufuhr. Ein kleiner Bildschirm zeigte das Innere des riesigen Tanks mit der dicken, grünen Schicht, die das stark
angereicherte Wasser nun schon zentimeterdick bedeckte. Wieder vermißte er etwas, diesmal seinen Schreiber. Er sagte es Linda, die nur die Schultern zuckte. »Broom sucht seine Pfeife«, berichtete sie. »Jak fehlt sein Taschenmesser, und ich vermisse seit vorgestern mein Armband.« Sie deutete auf einen der Labortische. »Dort lag es.« Yaal erzählte ihr, was ihm alles fehlte. »Dann haben wir einen Dieb bei uns.« Sie blickten unauffällig zu den beiden »Gästen« hinüber. »Du meinst, einer von ihnen …?« »Oder einer von uns. Sicher ist nur, daß hier einer klaut.« »Zwei Farmer sind immer wach. Wir arbeiten zwar in Schichten, doch meistens in der Robotfabrik. Zwei von uns sind immer hier bei den Kontrollen. Mittlerweile hatte jeder von uns Wache. Also ist auch jeder verdächtig.« »Machen wir keinen Kriminalfall daraus. Vielleicht haben wir auch vieles nur verlegt. Ich will mir noch einmal die Fabrik ansehen, Linda. Vor allem brauchen wir jetzt Transportmittel. Es wird noch eine Weile dauern, bis das reguläre Transportsystem von hier dorthin völlig ausgebessert ist. Dazu brauchen wir Spezialroboter. Unsere Freunde von Mausefalle VII sind zu groß dazu. Sie können nicht in die Röhre kriechen oder zwischen die Filter steigen.« Linda begleitete ihn, wie immer. »Du willst wirklich fort?« fragte sie unterwegs. Yaal hatte bange auf diesen Augenblick gewartet. Er nickte. »Und ich dachte, du würdest bleiben. Ich meine, es gibt noch so vieles zu tun, viele andere Algenfarmen und hydroponische Anlagen, die wieder hergerichtet werden müssen.« »Linda, die SOL ist zwar groß, aber nicht so groß, daß wir uns für immer aus den Augen verlieren. Mag sein, daß ich schon bald zurückkommen kann, um mich um die Inbetriebnahme dieser anderen Anlagen zu kümmern. Vorerst aber sollte das deine Aufgabe sein. Lug ist überredet. Er würde lieber heute als morgen die Farm aufgeben.«
»Was wird aus ihr?« wollte sie wissen. »Ich denke, das gleiche wie früher. Viele Solaner haben ihre Elendsquartiere verlassen, um den Robotern bei der Arbeit zu helfen. Es tut ihnen gut, sich nützlich zu machen. Sicher werden sich genügend Leute finden, um aus eurer Farm wieder ein Erholungszentrum zu machen.« Rein zufällig sah er sich um und erblickte am Ende des Korridors den älteren Solaner und seinen kleinen Begleiter. »Sie folgen uns«, flüsterte er Linda zu. »Paß auf, wir werden sie überraschen. Tu gleich genau das, was ich tue.« Eine willkommene Gelegenheit, das gefährliche Thema zu wechseln, bevor Linda die Katze aus dem Sack ließ und sagte, warum sie wirklich wollte daß er hier blieb. Yaal wartete, bis sie das Ende des Korridors erreicht hatten. Dann gab er Linda ein Zeichen und begann zu rennen. Der Gang zu ihrer Linken führte zu einer kleineren Kabinenflucht. Yaal hatte sich hier umgesehen, als er von der ersten Inspizierung der Robotfabrik zurückkehrte, und kannte die Gegend. Die meisten Türen standen offen. Bevor die beiden Verfolger um die Ecke kamen, zog Gavro Linda in eine der Kabinen und drückte sich mit ihr hinter den Eingang. »Was hast du vor?« fragte sie flüsternd. »Wirst du gleich sehen. Den beiden einige Fragen stellen. Jetzt sei still.« Die Schritte des Solaners waren auf dem Gang zu hören. Er unterhielt sich leise mit seinem Begleiter, von dem nur ein kaum verständliches Quieken zu hören war. Die beiden betraten die Kabine. Yaal ließ die Tür zufahren und trat auf sie zu. »Gavro«, flüsterte Linda ihm zu, bevor er etwas sagen konnte. »Die beiden konnten unmöglich sehen, in welchem Raum wir uns versteckten. Aber sie haben unterwegs nirgendwo anders angehalten. Sie kamen direkt hierher …«
»Ihr macht euch viele Umstände«, tönte es aus einer Membrane auf dem glatten Rücken des Extras. Das Wesen besaß keinen Mund – zumindest keinen, den man auf Anhieb hätte erkennen können. Unwillkürlich fragte sich Yaal, wie es Nahrung aufnahm. »Viele Umstände«, sagte nun auch der Solaner. »Carch hat recht, Gavro Yaal. Warum hast du so lange gewartet, wenn du mit uns reden wolltest? Wir wären ohnehin gleich auf dich zugekommen.« Yaal starrte ihn unsicher an. »So? Ich glaube eher, ihr wärt hinter uns hergeschlichen bis zur Robotfabrik, um euch dann wieder so völlig unauffällig irgendwo hinzustellen und …« »Du kommst nicht mehr in die Fabrik«, unterbrach ihn der Extra. Der Solaner nickte bekräftigend. »Darum wollten wir mit dir reden, aber nicht in der Algenfarm. Es ist absolut unnötig, die Farmer zu verängstigen.« Linda legte die Hand auf Yaals Arm. Der Botaniker wußte nicht recht, was er von diesen Eröffnungen zu halten hatte. Ihm war das Heft aus der Hand genommen. Er hatte gute Lust, den beiden etwas an den Kopf zu werfen. Doch er tat es nicht. »Was soll das heißen, wir kommen nicht mehr in die Fabrik?« »Ganz einfach das, daß sie mittlerweile von der SOLAG besetzt sein dürfte.« »Dann seid ihr doch Spitzel!« rief er wütend aus. »Gott bewahre! Wir erlaubten uns nur, uns letzte Nacht bei der Robotfabrik umzusehen. Es war mein kleiner Freund, der die Rostjäger feststellte.« »Was tat er?« entfuhr es Linda. »Er tat was?« »Da siehst du es!« drang es erneut aus der Membrane. »Sie können es nicht verstehen. Warum versteht mich eigentlich niemand? Chan will nicht glauben, daß ich noch nicht richtig geboren bin. Du glaubst nicht, daß ich kein Wort über deine kleinen …« Der Solaner legte schnell eine Hand auf die Membrane, so daß das Folgende kaum mehr zu verstehen war. Aber auch gedämpft, klang
es verdächtig nach »Diebstähle«. »Folgendes«, beeilte sich der Solaner zu sagen. »CptʹCarch hat die Gabe, andere Wesen spüren zu können. Nein, er ist kein Telepath, aber er spürt, wenn andere in der Nähe sind, und ob sie ›Freunde‹ sind oder solche, denen man besser aus dem Weg geht. Bitte fragt nicht lange, warum das so ist. Es ist einfach so. Letzte Nacht also sahen wir uns in der Nähe der Robotfabrik um, und Carch spürte SOLAG‐Leute, die sich in unmittelbarer Nähe verbargen. Es waren zu viele, um dort zufällig versammelt zu sein.« »Und?« fragte Yaal. »Sie haben uns auch schon einen Besuch in der Algenfarm abgestattet und uns in Ruhe gelassen.« »Mein Freund glaubt«, fuhr der Solaner ruhig fort, »daß sie nur darauf warteten, daß die Roboter abzogen. Das ist mittlerweile geschehen. Die Mißgebauten sind von Bord gegangen, nachdem nun die Fabrik soweit ist, daß ihr sie übernehmen könnt.« »Woher willst du das wissen?« fragte Linda. »Auch von deinem … deinem Freund?« Der Solaner schien sich seine nächsten Worte lange zu überlegen, bevor ersagte: »Ihr werdet sehen, daß ich Recht habe. Ich kann euch nicht viel über uns und unsere Möglichkeiten erzählen. Bitte, akzeptiert das. Du, Gavro Yaal, wirst es verstehen, wenn du erst wieder bei Atlan bist. Jetzt nur soviel: Wir gehören zu einer Gruppe, die der SOLAG den Kampf angesagt hat und deshalb auch euch unterstützen wird, sollte dies hier und da notwendig werden. Wir begrüßen eure Bemühungen, die Nahrungsversorgung an Bord der SOL wieder zu gewährleisten. Deshalb sahen wir uns um, während ihr anderes zu tun hattet. Die Roboter haben die Fabrik und die SOL verlassen. Andere arbeiten noch im Schiff. Aber diejenigen, die euch halfen, sind fort.« »Das klingt alles sehr merkwürdig«, brummte Yaal. »Überzeugt euch selbst.« »Das werden wir tun. Aber ihr kommt mit uns.«
Sie verließen die Kabine und setzten den Weg fort. Yaal ließ den Solaner und seinen Begleiter vorausgehen – mit dem Erfolg, daß das bananen‐förmige Wesen sich bei der ersten Gelegenheit aus dem Staub machte. Es rannte so schnell davon, daß Yaal nur einen Schemen sah, der davonschoß wie von einem Katapult abgefeuert. »Wie ich schon sagte«, erklärte der Solaner schmunzelnd. »Wir sind nicht die Freunde der SOLAG. Carch möchte den Rostjägern nicht begegnen. Seine Beschreibung ist leichter zu übermitteln als meine, wenn ihr versteht, was ich sagen will. Ich sehe aus wie … eben wie ein ganz normaler Solaner. Carch nicht.« »Aber du würdest jetzt auch gern so schnell rennen können wie er … oder sie?« »Dann wäre ich nicht mehr bei euch. Stimmt, Gavro Yaal. Den Rostjägern ginge ich lieber aus dem Weg. Aber zur Not habe ich das.« Er schlug sich gegen die Jacke, etwa in Höhe des Hosengurts. »Ein Paralysator. Später erzähle ich euch, wie ich ganz allein zwei Dutzend Rostjäger lähmte und dadurch fünfzig Buhrlos das Leben rettete.« Linda seufzte. Yaal wiederholte seine Frage von vorhin. »Ob Carch männlich oder weiblich ist, meinst du?« Der Solaner kicherte albern. »Keine Ahnung. Keiner weiß das. Keiner weiß, was sein Geschwätz davon soll, daß er noch nicht ganz geboren sei. Aber vielleicht erfahren wirʹs bald. Carch hat mir gestern erst gesagt, daß bald schon etwas mit ihm passieren wird.« »Schlimmer kannʹs kaum werden«, brummte Yaal. »Bei Gelegenheit gibst du mir meine Sachen zurück. Ich nehme an, der Paralysator …« »Gehört ausnahmsweise mir. Aber jetzt still. Wir sind gleich da.« »Gleich da«, das hieß: fünf Decks höher. Als Gavro Yaal, Linda Falking und Malcish den Antigravschacht verließen, sahen sie die Männer und Frauen in den dunkelblauen Kombinationen.
* Die Ferraten hatten alle Zugänge zur Robotfabrik besetzt. Mehrere von ihnen standen vor jedem Schott. Yaal holte tief Luft, zwang sich zur Ruhe und trat auf die Gruppe am Ende des kurzen Korridors zu. Eine Frau trat vor und hob die Hand. »Hier gehtʹs nicht weiter«, sagte sie barsch. »Wenn ihr von der Algenfarm kommt, kehrt ihr besser gleich wieder um. Eure Spielereien in der Fabrik sind vorbei.« »So!« brauste Yaal auf. Drei der Ferraten waren bewaffnet. »Und warum? Wen stört unsere Arbeit hier?« »Uns«, antwortete sie überheblich. »Hör zu, du verschwendest deine Zeit, wenn du glaubst, dich mit uns streiten zu müssen. Niemand hat euch befohlen oder erlaubt, die Fabrik in Betrieb zu nehmen. Wir haben uns euer Treiben eine Zeitlang angesehen. Jetzt ist Schluß damit. Verschwindet, ehe es hier für euch unangenehm wird.« »Deccon?« fragte Yaal. »Hat Deccon euch geschickt?« Bevor die Ferratin antworten konnte, drängte sich Linda an Gavros Seite. Mühsam beherrscht, sagte sie: »Macht uns doch keinen Ärger, Schwester. Was wir tun, geschieht doch auch für euch. Oder hängt ihr so sehr an dem Zeug, das ihr als Nahrung zugeteilt bekommt?« »Harlan, Isaac, Willi!« rief die Ferratin nur. Die drei Bewaffneten zogen ihre Strahler und richteten sie auf Gavro und Linda. »Komm!« knurrte Yaal und zog Linda mit sich. Sie wollte sich losreißen, sich nicht so ohne weiteres geschlagen geben. »Es hat keinen Sinn«, zischte er ihr zu. »Du rennst gegen Mauern an. Wir kriegen das auch anders hin!« »Vernünftig«, rief die Ferratin. »Wir verstehen uns!« Vom Solaner war nichts mehr zu sehen.
»Aus dem Staub gemacht«, sagte Linda verächtlich. »Ein feiner Helfer. Gavro, ich verstehe dich nicht!« Erst als sie den Schacht fünf Decks tiefer wieder verließen, ließ er sie los. Sie rieb sich den Arm und warf ihm grimmige Blicke zu. »Wir kriegen das wieder hin«, wiederholte er sich. »Sie fühlen sich jetzt stark, weil die Roboter fort sind. Die ganze Zeit über wagten sie nicht, etwas zu unternehmen. Aber warte, bis wir uns wieder ein paar Mißgebaute geholt haben und sie ihnen auf den Hals schicken.« »Mißgebaute?« Er erklärte ihr, was darunter zu verstehen war. Aber sie fanden keine mehr, nicht auf dem Weg zur Algenfarm und nicht dort, wo noch am Vortage mehrere Gruppen der Osath‐ Roboter gearbeitet hatten. Es war, als hätten sie alle die SOL verlassen. Yaal machte seiner ganzen aufgestauten Wut durch wüste Beschimpfungen Luft. Innerhalb kürzester Zeit schaffte er es, daß selbst Linda sich gegen ihn stellte. Er nahm nicht viel Rücksicht auf ihre Gefühle. Die Algen waren fast soweit, daß sie verarbeitet werden konnten. Aber was nützte ihm das, wenn ihnen der Zugang zur Fabrik verwehrt war? Eine andere Robotfabrik instand zu setzen, würde Tage, ohne die Hilfe von Robotern sogar Wochen dauern. Selbst daß Lug Traverte sich höchstpersönlich in der Algenfarm einfand und sich »geschlagen« gab, konnte Yaals Laune nicht bessern. Nachdem er sich bereits mühsam erworbene Sympathien verscherzt hatte, schickte er die Farmer aus dem Labor und schloß sich ein. Er war nun wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. So viele Hoffnungen hatte er sich gemacht, endlich einmal gezeigt, was in ihm steckte, daß auch er etwas Nützliches zustande bringen konnte. Und was blieb ihm jetzt davon? »Nur wegen der verdammten Borniertheit dieser uniformierten
Affen!« schrie er die Wände an. Aber das half ihm nicht. Ihm nicht und den Solanern nicht, die weiterhin hungern oder ungenießbare Konzentrate zu sich nehmen würden. Die SOL‐Farmer würden über ihn lachen und auf ihre Äcker zurückkehren! Zumindest darin täuschte er sich gewaltig. 10. Am 20. Juni 3791 verließen die letzten Roboter die SOL und kehrten nach Mausefalle VII zurück. Alle von ihnen verursachten Schäden waren behoben. Dem Aufbruch der SOL stand nichts mehr im Weg. Als Atlan diesmal die Zentrale des Fernraumschiffs betrat, geschah dies unter völlig neuen Vorzeichen. Zwar war der offizielle Status der Schläfer nach wie vor ungeklärt, doch er selbst war auf Drängen der Fortschrittlichen formell in den Kreis der Magniden aufgenommen worden. Daß er sich ungehindert in der Zentrale bewegen und von den dortigen technischen Möglichkeiten wie jeder andere Magnide Gebrauch machen konnte, täuschte indes nicht darüber hinweg, daß er ein Fremdkörper in dieser elitären Gruppe war. Atlan gab sich dementsprechend auch keine Mühe, dies zu vertuschen. Er trug weiterhin eine einfache, lindgrüne Bordkombination ohne Rangabzeichen, was nicht ausschloß, daß er sich später, wenn es zur Durchsetzung seiner Pläne dienlich sein sollte, vorübergehend auch äußerlich den Magniden anpassen konnte. Der High Sideryt befand sich ebenfalls wieder in der Zentrale und beobachtete den Arkoniden kommentarlos. Niemand sprach jetzt. Einige der Traditionalisten mochten es nun im Stillen bereuen, ihre Zustimmung zum Flug nach Chail gegeben zu haben. Aber die Entscheidung war gefallen. Alle spürten, daß hier und jetzt Weichen gestellt wurden. Die
Blicke der Magniden hefteten sich auf Atlans Rücken, als er vor dem Bildschirm stand, auf dem das Gesicht einen mittlerweile allen bekannten »Monsters« zu sehen war – Weicos. Nach der knappen, aber herzlichen Begrüßung konnte Weicos, der sich über die große Verantwortung im klaren war, die er übernommen hatte, als er die Monster aus der SOL führte, Atlan die Mitteilung machen, daß bereits eine Reihe von Roboterschiffen umgerüstet wurden. Der Rücktransport der auf Mausefalle VII gefangenen Intelligenzen zu ihren Heimatplaneten konnte bald beginnen. Zu seiner Erleichterung hörte der Arkonide, daß die Zusammenarbeit mit dem Herrn in den Kuppeln nun reibungslos funktionierte. »Ich hatte es gehofft«, sagte Atlan. Und er wünschte denjenigen, die sich dazu entschlossen hatten, auf Osath zu bleiben, daß sie das fanden, was ihnen auf der SOL versagt geblieben war. Auch Weicos machte sich keine Illusionen über die Bewährungsproben, und den steinigen Weg, der noch vor ihnen lag. Aber der Anfang war gemacht, und mit der Begeisterung, mit der die neuen Bewohner von Assygha daran gingen, ihr neues Leben zu meistern, ließen sich auch die noch vor ihnen liegenden Probleme meistern. Auch Weicos wünschte den Solanern alles Gute – und Atlan, daß er das fand, wonach er suchte. Atlan zögerte nun nicht mehr länger. Er gab das vereinbarte Signal an den Herrn in den Kuppeln. Und nur Sekunden später erhielten die in der Zentrale Versammelten die Nachricht, daß der Zugstrahl nicht mehr existierte. Die SOL war frei. Atlan trat zu den Magniden und lehnte sich auf den Sessel, der vormals Homer Gerigks Platz gewesen war. Er blickte in Gesichter, in denen Tatendurst stand – doch auch in solche, die Unsicherheit und Unbehagen verrieten. Gallatan Herts stand auf und verließ demonstrativ die Zentrale.
»Nun?« Die Frage war an Chart Deccon gerichtet. Ohne erkennbare Gefühlsregung sagte der High Sideryt: »In wenigen Stunden wird die SOL dieses System verlassen. Ich halte mein Wort. Die genauen Koordinaten von Chail sind gespeichert.« Fünf Magniden standen auf und machten sich daran, die Systeme der SOL zu überprüfen und das Schiff für den Aufbruch vorzubereiten. Atlan erkannte daran, daß sie es erst jetzt taten, daß sie bis zum letzten Moment gezweifelt hatten. Unwillkürlich verglich er sie mit anderen Piloten, die das Schiff geflogen hatten. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Solche Maßstäbe anzulegen, war sinnlos. Er verließ die Zentrale, in der es jetzt nichts für ihn zu tun gab, und kehrte in seine Kabine zurück, wo ihn eine Überraschung erwartete. * »Endlich!« Joscan Hellmut sah tatsächlich so aus, als hätte er geschlafen. Und zumindest für den Augenblick schien er das Problem SENECA vergessen zu haben. Er stand hinter Bjo Breiskoll und präsentierte ihn, als handelte es sich um ein von einer Hand geschaffenes Kunstwerk. »Wir glaubten schon, du kämst gar nicht mehr zurück. Willst du Bjo nicht ›Guten Tag‹ sagen?« Atlan war nicht darauf vorbereitet gewesen, ausgerechnet jetzt den Katzer wiederzusehen. So oft er in den letzten Tagen an ihn gedacht hatte – im Moment waren seine Gedanken woanders gewesen. Mit weit ausgestreckten Armen ging er auf Bjo zu und begrüßte ihn überschwenglich. Bjo ergriff seine Hände und drückte sie.
»Fein, dich wiederzusehen, Bjo. Alles in Ordnung?« »Ich fühle mich wie neugeboren«, sagte der Katzer lächelnd. »Unsere Freunde verstehen ihr Handwerk.« Er trug eine neue Kombination, öffnete das Oberteil und fuhr sich leicht über die fast völlig verheilte Schulterwunde, über die sich noch ein Biomolfilm spannte. Atlan hatte viele Fragen, aber da er damit rechnen mußte, selbst jetzt noch überwacht zu werden, bezwang er seine Neugier. Auch Bjo schwieg über das, was er in der Basis gesehen und erlebt hatte. Stattdessen sagte er: »Es ist wirklich alles in Ordnung mit mir, Atlan. Ich geriet mit Solanern aneinander, die es offensichtlich einmal so machen wollten wie die Monsterjäger in Reihen der SOLAG.« Seine Miene verfinsterte sich etwas. »Zwei von ihnen mußte ich töten.« »In Notwehr«, ergänzte Hellmut. »Er hat mir schon alles erzählt.« Atlan nickte. »Außerdem«, fuhr Bjo fort, »habe ich Nachrichten, die dich interessieren dürften.« »Von Gavro Yaal?« erriet der Arkonide. Er setzte sich Bjo gegenüber und entspannte sich. »Gavro hat Schwierigkeiten bekommen, nachdem er eine Gruppe von SOL‐Farmern offenbar dafür gewinnen konnte, ihre Felder mit hydroponischen Tanks zu vertauschen. Er nahm sogar eine Algenfarm wieder in Betrieb und ließ eine Robotfabrik von Mißgebauten zur Verarbeitung der Algen herrichten. Nur, daß er jetzt, nachdem die Arbeit getan ist, nicht mehr an sie herankommt.« Atlan zog fragend eine Braue in die Höhe. »Ferraten«, sagte Bjo. »Zwei unserer … unserer Freunde haben beobachtet, wie die Rostjäger die Fabrik besetzten, nachdem sich die Mißgebauten zurückzogen. Sie lassen niemanden hinein. Wir bekamen die Nachricht, kurz bevor ich aufbrach.« Atlan schüttelte den Kopf. »Und Yaal sitzt nun vermutlich irgendwo und gibt sich ganz
seinem Gram hin. Wir können von ihm halten, was wir wollen, aber hier hat er guten Willen gezeigt und gute Arbeit geleistet. Wenn er es tatsächlich geschafft hat, einige Farmer zur intensiven Hydrokultur zu bekehren, eröffnen sich für die SOL ganz neue Perspektiven. Sobald die anderen Farmer sehen, welchen Erfolg man in den Tanks erzielen kann und wieviel weniger Arbeit ihnen das macht, werden sie sich ebenfalls überlegen, ob sie nicht auch umsteigen sollten. Sie werden es schließlich tun.« Er stand auf und wandte sich dem Interkom‐Anschluß zu. »Wir müssen Gavro zu uns holen. Auch möchte ich, daß jeder Solaner, der sich dazu bereitfindet, sich an den Säuberungsarbeiten weiterer Tanks und an der Instandsetzung auch anderer Robotfabriken beteiligen darf.« Er grinste. »Wir wollen sehen, welche Möglichkeiten einem Magniden offenstehen …« Er bat Palo Bow, zu ihm zu kommen. * Atlan schickte YʹMan aus, um Yaal zu holen, nachdem Bow dafür gesorgt hatte, daß die Ferraten die Robotfabrik räumten. Er selbst bat Bjo Breiskoll, ihn auf einem kurzen Streifgang zu begleiten. Die Startvorbereitungen liefen nun auf Hochtouren. Nach ihrem anfänglichen Zögern schienen die Magniden jetzt von einem unerklärlichen Eifer gepackt zu sein. Vielleicht, dachte Atlan, weil sie über ihren Schatten gesprungen sind. Aber das war kein Grund, sich irgendwelchen falschen Hoffnungen hinzugeben. Chail würde ein Testfall sein. Erst danach konnte er weitersehen. Überall stießen Atlan und Bjo nun wieder auf Ferraten‐ und Vystidentrupps. Mit dem Rückzug der Roboter hatte der erneute Vormarsch der SOLAG begonnen. Bald, so fürchtete der Arkonide, würden die alten Zustände völlig wiederhergestellt sein.
Als er glaubte, einigermaßen frei reden zu können, fragte er Bjo Breiskoll nach der Gruppe um Sternfeuer und Federspiel. Sie befanden sich allein in einer alten, vergammelten Werkstatt, die allein wegen ihrer Größe ein Abhören ziemlich unmöglich machte. Vorsichtshalber flüsterten die beiden. »Wie ich schon sagte«, erklärte Bjo, »nennen sie sich ›Basiskämpfer‹. Das hat weniger damit zu tun, daß sie sich als reine Kämpfer verstehen, sondern eher damit, daß sie den an Bord herrschenden Zuständen und dem ganzen Herrschaftssystem der SOLAG den Kampf angesagt haben. Einige von ihnen beherrschen eine Kampftechnik, die sie Juka‐Do nennen. Die anderen versuchen sie zu erlernen. Es ist schwierig, denn bevor man hoffen kann, diese Technik zu beherrschen, muß man die Philosophie begreifen, die dahintersteckt. Es ist quasi die Philosophie dieser Menschen, Extras, Monster und Halbbuhrlos selbst. Man könnte sie als gewaltlosen Widerstand bezeichnen. Zum Äußersten greifen die Rebellen nur, wenn sie und ihr Leben bedroht sind, und auch dann nur, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt.« »So wie es für dich keinen Ausweg gab«, flüsterte Atlan, als Bjo verstummte und für Sekunden den Blick in die Ferne richtete. »Dieser eine, der, der nicht auf mich schoß und dir die kurze Nachricht zukommen ließ – er gehört nun zu der Gruppe. Es mag viele wie ihn an Bord dieses Schiffes geben; Verzweifelte, die nie etwas anderes als Gewalt kennenlernten. Allein deshalb ist die Existenz der Basiskämpfer so wichtig, Atlan. Um ihnen ein neues Ziel zu geben, eine neue Heimat.« Bjo erzählte von den Verstecken und Ausweichquartieren, die die Basiskämpfer für Verfolgte gefunden hatten, all jene Inseln inmitten Verbotener Zonen. Er überbrachte Atlan Sternfeuers Botschaft, daß er jederzeit mit ihrer Unterstützung rechnen konnte. »Ansonsten aber werden sie in ihren Verstecken bleiben. Ich habe mir lange überlegt, ob mein Platz nicht an ihrer Seite wäre.« »Und?« fragte der Arkonide.
Bjo schüttelte den Kopf, und er wirkte etwas traurig dabei. »Es ist für uns alle besser, wenn ich bei dir bleibe. Ich stehe in telepathischem Kontakt mit Sternfeuer und kann ihnen Nachrichten von dir übermitteln und umgekehrt, ohne daß wir befürchten müssen, dabei belauscht zu werden. Die Störungen in diesem Kontakt existieren nicht mehr.« Atlan nickte zufrieden. Er blickte auf sein Chronometer. »Ich denke, das ist die beste Lösung, Bjo. Aber es wird Zeit für uns, wenn wir den Start nicht verpassen wollen.« Zurück in seiner Kabine, nahm er Verbindung mit Palo Bow auf. Der Magnide teilte mit, daß es bis zum Aufbruch noch dreizehn Minuten dauern würde. »Hast du schon mit ihm geredet?« fragte er dann. »Mit wem?« »Mit diesem Kerl, der uns hier fast zum Wahnsinn trieb, weil ihm einige Ferraten …« Bow winkte ab. »Gavro Yaal«, sagte er nur noch. * Yaal befand sich in der YʹMan zugewiesenen Kabine. Als er Atlan und Breiskoll eintreten sah, drehte er sich zur Seite. »Hallo, Gavro«, sagte der Arkonide. »Du warst in der Zentrale? Ein Wunder, daß du überhaupt eingelassen wurdest. Die Startvorbereitungen …« »Hör auf!« knurrte Yaal. »Das habe ich jetzt schon zehnmal gehört! Jaja, ich weiß: Ich bin lästig! Sagʹs ruhig. Tu dir keinen Zwang an!« Atlan seufzte und wechselte einen bezeichneten Blick mit Bjo. Er sah auf die Zeitanzeige. Noch zehn Minuten. »Gavro, ich fürchte, ich muß dich enttäuschen. Ich habe gehört, was du in letzten Tagen erreicht hast. Das war großartig.« »Ha! Großartig! Dieser Meinung waren sicher auch die Rostjäger!« »Sie sind abgezogen worden. Die Fabrik steht dir wieder zur
Verfügung.« »Bis zum nächsten Nackenschlag. Nein, Atlan. Nicht mehr mit mir!« »Vielleicht kommen die SOL‐Farmer auch allein zurecht«, kam es von YʹMan. »Die Gruppe, die Gavro Yaal für sich und seine Ideen gewinnen konnte, ist dabei, eine zweite Algenfarm in Betrieb zu nehmen. Die Algen aus der Anlage, die Yaal im Stich ließ, werden bereits zur Robotfabrik transportiert und dort bald verarbeitet.« Yaal fuhr auf wie von der Tarantel gestochen. »Im Stich? Ich ließ sie im Stich?« »Eine Solanerin namens Linda Falking leitet die Arbeiten gemeinsam mit Lug Traverte, dem Chef der SOL‐Farmer.« YʹMan überging Yaals Bemerkungen. »Es gibt bereits Kontakte mit anderen Farmer‐Gruppen.« »Und ich werde dafür sorgen, daß sie Unterstützung bekommen.« Unterstützung von unerwarteter Seite! dachte Atlan zufrieden. Er war sicher, daß Yaal bald schon wieder vom Ehrgeiz gepackt würde und zu den Farmern zurückkehrte. Er hätte gerne weiteres von YʹMan gehört, aber das mußte warten. Der Aufbruch der SOL stand unmittelbar bevor. Er erlebte ihn in der Zentrale mit. Auf dem Panoramabildschirm war der Planet Mausefalle VII zu sehen, wie er allmählich zu schrumpfen begann, nachdem die Triebwerke des mächtigen Schiffes gezündet worden waren. Die NUG‐Kraftwerke und Energieumwandler arbeiteten. In diesen Augenblicken dachte der Arkonide an Weicos und an den Herrn in den Kuppeln, an alle, die die SOL hier verlassen hatten, um ein neues Leben zu beginnen. An die Gefangenen, die nun darauf hoffen durften, ihre Heimatwelten bald wiederzusehen. An die Roboter von Osath, an die verrückten Abenteuer mit ihnen, an die Mißgebauten. Welche Gefühle mochten YʹMan jetzt bewegen? Konnte auch er so
etwas wie Abschiedsschmerz empfinden? Wer oder was war er wirklich? Der Planet schrumpfte weiter auf den Schirmen, wurde zur Scheibe, zum Stern. Eine Station auf Atlans Weg nach Varnhagher‐ Ghynnst lag nun hinter ihm. Die nächste sollte Chail sein. Was erwartete ihn dort? Wie ernst waren die Roxharen zu nehmen? Steuerte er die SOL nicht vielleicht in eine noch weitaus größere Gefahr hinein, als sie von Mausefalle VII ausgegangen war? Dies hätte ein Moment des Triumphs sein sollen. Stattdessen fühlte Atlan leichtes Unbehagen in sich aufsteigen. Es war zu spät zur Umkehr. Für ihn hatte es nie die Möglichkeit zur Umkehr gegeben. Die Waringschen Ultrakomp‐Triebwerke nahmen die Arbeit auf. Die SOL glitt in den Linearraum. Sie war auf dem Weg. Eine Hand legte sich auf Atlans Schulter. Langsam drehte er den Kopi und sah Akitar. »Danke«, sagte der Chailide nur. ENDE Die Geschehnisse, die im nächsten Atlan‐Band geschildert werden, werfen Schlaglichter auf die miserablen Zustände an Bord der SOL. Eine tödliche Seuche droht sich auszubreiten – und die Schiffsführung steht praktisch hilflos den Gefahren gegenüber. Mehr darüber berichtet H. G. Francis im Atlan‐Band 522. Der Roman erscheint unter dem Titel: DIE HEILERIN