Martin Ebner S~n Schreiber (Hrsg.)
Kohlhammer Studienbücher Theologie Herausgegeben von Gottfried Bitter Ernst Dassmann Hans-losef Klauck Herbert Vorgrimler Erich Zenger
Band 6
Martin Ebner Stefan Schreiber (Hrsg.)
Einleitung in das Neue Testament
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2008 W. Kohlhamrner GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert. Neuendettelsau Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG. Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-018875-4
Inhalt Vorwort
7
A. Einführung I.
11.
Der christliche Kanon (Martin Ebner) .................................... .. Der Text des Neuen Testaments (Stefan Schreiber) ................ .
9 53
B. Die vier Evangelien I. 11. III. IV. V. VI. VII.
Die synoptische Frage (Martin Ebner) ...................................... Die Spruchquelle Q (Martin Ebner) .......................................... "Evangelium" (Martin Ebner) .................................................. Das Matthäusevangelium (Martin Ebner) ................................. Das Markusevangelium (Martin Ebner) ................................... Das Lukasevangelium (Dietrich Rusam) .................................. Das Johannesevangelium (Joachim Kügler) .............................
C. Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
67 85 112 125 154 184 208
229
D. Die Briefe I. 11.
Briefliteratur im Neuen Testament (Stefan Schreiber) ............. Chronologie: Lebensdaten des Paulus (Stefan Schreiber)
250 265
Paulusbriefe III. IV.
V. VI.
VII. VIII. IX.
Der Römerbrief (Stefan Schreiber) .......................................... . Der erste Korintherbrief (Thomas Schmeller) ........................ .. Der zweite Korintherbrief (Thomas Schmeller) ..................... .. Der Galaterbrief (Michael Theobald) ..................................... .. Der Philipperbrief (Michael Theobald) ................................... . Der erste Thessalonicherbrief(Stefan Schreiber) .................... . Der Philemonbrief (Martin Ebner) ......................................... ..
277 303 326
347 365
384 397
Deuteropaulinen X. XI.
Der Epheserbrief (Michael Theobald) ...................................... Der Kolosserbrief (Michael Theobald) .....................................
408 425
6 XII. XIII. XIV.
Inhalt
Der zweite Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber) ................. . Die Pastoralbriefe (l Tim/2 TimITit) (Gerd Häfner) ............... . Der Hebräerbrief (Martin Karrer) ............................................ .
440 450 474
Katholische Briefe
XV. XVI. XVII. XVIII. XIX. XX. XXI.
Der Jakobusbrief(Matthias Konradt) ....................................... Der erste Petrusbrief (Marlis Gielen) ........... ............................. Der zweite Petrusbrief (Marlis Gielen) ..................................... Der erste Johannesbrief (Joachim Kügler) ................................ Der zweite Johannesbrief (Joachim Kügler) ............................. Der dritte Johannesbrief (Joachim Kügler) ............................... Der Judasbrief (Marlis Gielen) .................................................
496 511 522 530 543 548 552
E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber) I. 11.
Apokalyptische Literatur .......................................................... Die Offenbarung des Johannes .................................................
559 561
Anhang I: Abkürzungen ........................................................................ Anhang 2: Glossar .................................................................................. Anhang 3: Karten ...................................................................................
586 588 593
Vorwort
Die "Einleitung in das Neue Testament" möchte grundlegende Fragen klären, die sich vor der Lektüre eines neutestamentlichen Buches stellen, z. B. nach dem Verfasser oder der Zeit der Abfassung. Daher orientiert sich die vorliegende Einleitung weitgehend an der kanonischen Reihenfolge der Bücher: Auf eine Einführung zu.K~Q.I.U.l11d TextJTeii A) folgen die~.vangelien (Teil B), die Apostelgeschichte (Teil C), die Br~~:.reil D) und die Qi~)!~l!~_ll!lg (Teil E). Übergreife~4~_Er.~C?~_~~Il~!!!.~_~~~.J)iL~Ae..n. Anf~g gestellt. Die Behandlung der einzelnen Schriften gliedert sich grundsätzlich in drei Abschnitte, so dass man rasch die Antwort auf spezielle Fragen finden kann: (1) Struktur: Bei narrativen Texten wird die innere Struktur der Erzählung (plot), bei diskursiven Texten die Struktur der Argumentation analysiert. (2) Entstehung: Darunter werden nicht nur die Abfassungszeit, sondern auch verarbeitete Quellen und Traditionen, Vorstufen des Textes bzw. Teilungshypothesen diskutiert. (3) Diskyr.§.;. Die Perspektive wird dargestellt, unter der die christliche Botschaft profiliert wird: in welches kulturelle Milieu sie spricht, wogegen sie sich absetzt, welche Inhalte sie daftir einsetzt. Es wird gezeigt, wie sich "Theologie" in geschichtlichen Situationen entwickelt. Die Gestaltung des Druckbildes liefert Lesehilfen: In Kleindruck gesetzte Passagen enthalten vertiefende Informationen, die beim ersten Durchgang durchaus ausgelassen werden können. Literatur, auf die im Text durch Autorennamen (und, wo zur Eindeutigkeit nötig, Kurztitel) verwiesen wird, ist am Ende jedes Beitrags aufgelistet, wobei wir vier Rubriken unterscheiden: Kommentare, Einzelstudien, Forschungsüberblicke und sonstige Literatur. Drei Anhänge am Schluss des Bandes bieten eine Auflösung wichtiger Abkürzungen, ein Glossar einschlägiger Fachbegriffe sowie einige Karten zur geographischen Welt des Neuen Testaments. Unser Dank gilt zuerst der Kollegin und den Kollegen, die Beiträge zu diesem Werk übernommen und ihr Expertenwissen eingebracht haben. Viele fleißige Köpfe und Hände haben im Hintergrund bei der Entstehung dieser Einleitung mitgewirkt, haben Bücher geschleppt, Manuskripte geschrieben und Korrekturen gelesen; namentlich danken wir dafür sehr herzlich Frau Elfriede Bruning und Frau Angelika van Dillen, Markus Lau, Eva Rünker und Thomas Schumacher, Hanna Mehring, Michael Hölscher und Manuel Verhufen. Für die Mühen der formalen Endredaktion mit diversen Abgleichungen und Vereinheitlichungen der Manuskripte bedanken wir uns sehr bei Annedore Wilmes und Anika Thockok. Dem Reihenherausgeber, Herrn Kollegen Hans-losef Klauck, sagen wir Dank fiir die unkomplizierten Gespräche im Vorfeld und die Durchsicht des Manuskripts. Schließlich gilt unser Dank dem Verlag W.
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Vorwort
Kohlhammer für die kompetente und interessierte Begleitung und Betreuung der Einleitung, besonders dem Lektor Herrn Jürgen Schneider und Herrn Florian Specker. Frau Andrea Siebert hat mit großer Sorgfalt die Druckvorlage erstellt; auch ihr herzlichen Dank. Münster, im März 2008
Marlin Ebner SIe/an Schreiber
A.1. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
I. Dein Buch verrät dich! Bis auf den heutigen Tag verrät die Bibelausgabe ihren Benutzer. Ein geübtes Auge kann allein am Inhaltsverzeichnis erkennen, welcher konfessionellen Richtung der Leser angehört oder sich zugehörig fUhlt.
1.1 Moderne Bibelausgaben
Gibt es zwischen den atl und ntl Büchern eine eigene Rubrik "Die apokryphen Bücher des Alten Testaments", handelt es sich um eine Bibelausgabe aus den Kirchen der Reformation. Präziser: Werden lediglich 1/2 Makk, Jud, Tob, Sir und Weish aufgelistet, ist es die Zürcher Bibel (reformierte Kirche), finden sich zusätzlich Bar, Zusätze zum Buch Ester und zum Buch Daniel sowie das Gebet des Manasse, ist es die Lutherbibel (Lutheraner). In seiner ersten Vollbibel von 1534 hat Martin Luther nur diejenigen Bücher des AT als kanonisch gelten lassen, deren hebräische Überlieferung (damals) fest stand (veritas hebraica). Alle anderen atl Bücher, die nur in griechischer Sprache überliefert waren, hat er dagegen in die Rubrik "Apokryphe" ("Verborgene" [Bücher]) gestellt: "das sind die Bücher, so der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind." Im Unterschied zu den Lutheranern haben die reformierten Kirchen die Apokryphen förmlich aus dem Kanon ausgeschlossen. Auf dem aktuellen Büchermarkt finden sich gewöhnlich Alternativausgaben mit und ohne Apokryphen. Die neue Ausgabe der Zürcher Bibel (2007) verzichtet jedoch (wieder) vollends auf die Apokryphen.
Werden die atl Apokryphen dagegen eingeordnet unter die Bücher der Geschichte (Tob, Jud, Zusätze zu Est, 1/2 Makk), der Weisheit (Weish, Sir) sowie der Prophetie (Bar, Zusätze zu Dan), so handelt es sich um eine Bibelausgabe, wie sie für den katholischen Raum typisch ist. Auf der Linie des tridentinischen Konzils (1546) werden die von den Reformatoren in die zweite Reihe gestellten Apokryphen zwar als "deuterokanonisch" ("zu einem zweiten Kanon gehörig") bezeichnet, aber vom Offenbarungscharakter her gleichwertig behandelt. Etwas subtiler sind die Unterschiede bei den ntl Büchern. Hier kommt es auf die Reihenfolge unter den Briefen an. Testfälle sind Jak und Hebr. In einer katholischen Bibelausgabe fUhrt Jak die "Katholischen Briefe" an. In einer Lutherbibel dagegen hat er die vorletzte Position unter den Briefen insgesamt. Die Rubrik "Katholische Briefe" wird vermieden. Der Hebr, der in katholi-
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A. Einfiihnmg
sehen Ausgaben die Paulusbriefsammlung abschließt, ist in Lutherausgaben ebenfalls nach hinten gerückt; er steht vor Jak. Die Zürcher Bibel stimmt zwar mit der Reihenfolge der katholischen Ausgaben überein, nimmt jedoch Hebr aus den Paulusbriefen heraus und stellt ihn an den Anfang der "übrigen Briefe" (Ausgabe 1955; Ausgabe 2007 ohne jegliche Untergliederungen). Zürcher Bibel (1955)
Einheitsübersetzung
Lutherbibel
...
...
...
DIE PAULINISCHEN BRIEFE Röm, 1 Kor, 2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1 Thess, 2 Thess, 1 Tim, 2 Tim, Tit, Phlm, Hebr
BRIEFE
BRIEFE DES PAULUS
Röm,1 Kor, 2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1 Thess, 2 Thess, 1 Tim, 2 Tim, Tit, Phlm
Röm, I Kor, 2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1 Thess, 2 Thess, 1 Tim, 2 Tim, Tit, Phlm
KATHOLISCHE BRIEFE Jak 1 Petr 2 Petr 1 Joh 2 Joh 3 Joh Jud
OFFENBARUNG
1 Petr 2 Petr I Joh 2 Joh 3 Joh Hebr Jak Jud OFFENBARUNG
DIE ÜBRIGEN BRIEFE Hebr Jak 1 Petr 2 Petr I Joh 2Joh 3 Joh Jud
OFFENBARUNG
Für diese unterschiedliche Reihenfolge sind theologische Entscheidungen verantwortlich: Für Luther ist Jak eine "stroherne Epistel", weil er - im Gegensatz zu den pln Briefen - die Werke gegenüber dem Glauben zu stark betont (Jak 2,14); Hebr kann rur Luther, rur den die Sündenvergebung rur Glaubende aus Gnade allein zum Herzstück seiner Theologie gehört, schon deswegen nicht sympathisch sein, weil er in 6,4-8 die sog. zweite Buße verweigert.
Ein untrügliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den konfessionellen Lagern ist schließlich die Schreibweise der Eigennamen. Findet man "Kafarnaum" (anstelle des vertrauten "Kapharnaum"), so hat man die sog. Einheitsübersetzung in der Hand, ein 1963 unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von katholischer Seite aus begonnenes Übersetzungswerk, dessen ursprüngliches Ziel eine ökumenisch verantwortete Bibelübersetzung war. Eine tatsächliche Mitwirkung von Beauftragten der evangelischen Kirche in Deutschland und des Deutschen Evangelischen Bibelwerks ließ sich jedoch nur für das Psalmenbuch, Röm, Gal und die Lesungen der Sonn- und Feiertage erreichen. Immerhin ist ein gemeinsames Richtlinienwerk hinsichtlich der
A.l. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
II
biblischen Eigennamen und Ortsbezeichnungen erstellt worden ("Loccumer Richtlinien"), das "die bisherige konfessionelle Unterschiedenheit künftig" überwinden sollte (Einführung der Einheitsübersetzung 1972). Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Während im katholischen Bereich die Einheitsübersetzung Eingang in die liturgischen Bücher gefunden hat und damit die gottesdienstliche Praxis prägt, ist das im protestantischen Raum auch rur die gemeinsam verantworteten Passagen nicht der Fall. Völlig parallel dazu steht es mit der tatsächlichen Anwendung der Loccumer Richtlinien: Ziemlich treffsicher lassen sich unter diesem Kriterium die Verfasser von wissenschaftlichen Beiträgen einem bestimmten konfessionellen Lager zuordnen. Bereits ein Spatium markiert den Unterschied: Wer - gemäß den Loccumer Richtlinien ,,1 Kor" schreibt (und "Eins Korinther" sagt), outet sich als Katholik, wer dagegen ,,1 Kor" schreibt (und "Erster Korinther" sagt), als Protestant - und zwar unabhängig von den spezifischen theologischen Positionen, die längst quer über die Konfessionsgrenzen hinweg vertreten werden. Dass die Zürcher Bibel 2007 die Loccumer Richtlinien rur die Schreibweise der Eigennamen übernommen hat, ist im Blick auf die formale Gestaltung von Bibelübersetzungen ein demonstratives Zeichen ökumenischer Annäherung. Aus diesen Beobachtungen hinsichtlich der Reihenfolge der biblischen Bücher, ihrer drucktechnischen Vereinheitlichung sowie des gottesdienstlichen Gebrauches von Übersetzungen lässt sich einiges für das Phänomen Kanon als Spiegel fiir Gruppenformationen lernen: (I) Obwohl der Kanon festgelegt scheint, ist er doch ständig in Bewegung, sofern sich die Gruppen, die sich über den Kanon definieren, verändern. Ihre Abgrenzungs- bzw. Verständigungsaktionen schlagen sich auf die Gestaltung (Reihenfolge der Bücher, drucktechnische Vereinheitlichungen) sowie den Einsatz der als kanonisch erachteten Bücher (gottesdienstlicher Gebrauch) nieder. An "kanonischen Veränderungen" lassen sich demnach Gruppenformationen ablesen. (2) Erst neue Akzentsetzungen, Ausschluss bzw. Degradierung bestimmter Bücher, Veränderung der Reihenfolge - wie in der Reformationszeit - fordern dazu heraus, das bisher Übliche präzise zu definieren (Trient). (3) Die kanonischen Bücher neu oder anders zu gruppieren, ist eine Konsequenz aus zuvor getroffenen theologischen Entscheidungen. Die theologische Kritik der Reformatoren an der Werkgerechtigkeit der Papstkirche schlägt sich u. a. in der Neupositionierung von Jak und Hebr nieder; das sola scriptura-Prinzip - in Absetzung vom Traditionsprinzip der Papstkirche - in der Beschränkung allein auf die hebräischen Bücher des AT als offenbarungsrelevant. (4) Die augenfälligste Markierung von Gruppengrenzen geschieht - im Blick auf den Kanon über Formalia. wie an den Loccumer Richtlinien zu beobachten war. Was als ein Schritt hin zu größerer ökumenischer Verständigung gedacht war, hat sich zum Signal gegenseitiger Unterscheidbarkeit entwickelt, so dass anstelle eines angezielten einheitlichen Benennungssystems von Namen und Büchern klar unterscheidbare Sozioskripte (I KorlIKor) bzw. Soziolekte (Erster KorintherfEins Korinther) entstanden sind.
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A. Einftlhrung
Mit diesen Erkenntnissen wollen wir nun an die frühchristlichen Bibelausgaben herangehen und fragen entsprechend nach fonnalen Auffälligkeiten (--+ 1.2), nach der Abfolge der Bücher sowie nach möglichen Analogien und Alternativen (--+ 2.) und nach den Gruppenprozessen, die hinter der Kanonbildung stehen (--+ 3.).
1.2 Frühchristliche Bibelausgaben Auch die frühen Christen verraten ihre religiöse Orientierung durch das Buch, in dem ihre heiligen Schriften zu lesen waren. Das gilt sowohl gegenüber der paganen Umwelt (1.2) als auch innerhalb der christlichen Gruppierungen (1.3). Gegenüber der paganen Buchkultur spielen vor allem drei Faktoren eine Rolle: Christen verwenden den Kodex als Buchfonn; sie verwenden ein eigenes Abkürzungs- und Buchbenennungssystem.
1.2.1 Der Kodex als Buchfonn Die Auswertung der 172 griechischen Bibelhandschriften und Fragmente aus den ersten vier Jahrhunderten hat folgendes ergeben: 158 stammen aus Kodizes, also der uns heute geläufigen Buchfonn, und nur 14 aus Buchrollen (C. H. ROBERTSff. C. SKEAT, Birth 38-44). Was ist daran auffällig? Bis ins 3. Jh. n. Chr. war die Rolle die Buchfonn für literarische Texte schlechthin. Der Kodex dagegen, ab dem 1. Jh. n. Chr. nachweisbar, steht für die Verbreitung von Gebrauchsliteratur. Erst im 4. Jh. n. Chr. halten sich beide Formen die Waage, bevor im 5. Jh. n. Chr. der Kodex - vermutlich unter christlichem Einfluss - zur bestimmenden Buchfonn für literarische Texte wird. Buchrollen sind lange Bänder, die aus aneinander geklebten Papyrusblättern oder Pergamentseiten bestehen. Der Text wird in Spalten nebeneinander geschrieben. Beim Lesen zieht man die Rolle auseinander und wälzt in parallelen Handbewegungen jeweils ein Stück der Rolle von links nach rechts, um mit den Augen von einer Textspalte zur nächsten zu kommen. Die längste Rolle, die aus der Antike erhalten ist, stammt aus Ägypten (1150 v. Chr.) und ist 40,5 m lang, die Tempelrolle aus der Bibliothek von Qumran am Toten Meer 8,2 m. Platons "Symposion" ließe sich auf einer Rolle von etwa 7 m unterbringen (H. BLANCK 75-86). Ganz anders der Kodex (von lat. codex = Baumstamm). Einzelne Papyrusblätter, ab dem 4. Jh. auch Pergamentseiten, werden gefaltet und in der Falzlinie mit einem Faden vernäht (Fadenheftung). Solche "Bögen" können in beliebiger Anzahl am Rücken miteinander vernäht werden. Das so entstandene "Buch" wird - anders als die Buchrolle - durch einen festen Einband geschützt (H. BLANCK 86-96).
A.l. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
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Vorläufer des Kodex sind die so genannten membranae, eine Art Notizbücher, die nur aus wenigen- zusammengehefteten Papyrusbögen bestanden. Sie waren vor allem im römischen Kulturraum verbreitet (vgl. Quint., Inst Or X 3,31 f.) - im Griechischen gibt es dafiir keine eigene Bezeichnung (vgl. 2 Tim 4,13) - und wurden im Schulunterricht, fiir Tagebuchnotizen sowie im öffentlichen und privaten Aktenwesen eingesetzt. Werden mehrere dieser Notizbücher zusammengeheftet und mit einem Einband versehen, haben wir einen Kodex vor uns, also die Form, die mit der Zeit auch fiir literarische Texte Verwendung fand. Erste Vorstöße in diese Richtung lassen sich Ende des I. Jh. beobachten. Allerdings war das eine Art Revolution im Buchwesen, vergleichbar den Reclam-Bändchen als Alternative rür die kostbar gebundenen Klassikerausgaben Ende des 19. Jh. Auch in diesem Fall hat es eine Weile gedauert, bis die neue Form des Taschenbuchs rur literarische Texte gesellschaftsfiihig wurde. Der römische Dichter Martial (38/41-I03/l04 n. Chr.) hat einen ausgesprochenen - und offensichtlich nötigen - Werbetext verfasst, als seine Gedichte in Neuauflage (84-86 n. Chr.) in Kodexform erschienen sind. Vor allem durch den Verweis auf die Handlichkeit und die Reisetauglichkeit des Kodex wi\l er zum Kauf reizen (Ep I 2). Aber es hat bis ins 5. Jh. gedauert, bevor der Kodex zur selbstverständlichen Buchform auch für literarische Texte geworden ist. Die christlichen Schriften erscheinen von Anfang an in Kodexform. Die Spuren der Fadenheftung in den Papyri sind bis heute dafür das Zeugnis. Über die Gründe, weshalb Christen - im Unterschied zu den Buchkonventionen ihrer Zeit - zur Kodexform für ihre heiligen Schriften gegriffen haben, wurde viel gerätselt. "Big Bang"-Theorien (G. N. STANTON, Jesus 167) machen Prototypen daflir verantwortlich: Das MkEv (C. H. ROBERTS, Codex), die vier Evangeliensammlung (T. C. SKEAT, Origin) bzw. die Paulusbriefe (H. Y. GAMBLE 58-65) seien als Kodex erschienen und hätten mit dieser Form dann flir die Ausgabe auch der anderen christlichen Schriften Schule gemacht. Ökonomische Gründe werden genannt: Bei einem Kodex werde das teure Schreibmaterial besser ausgenutzt, weil- im Unterschied zur Buchrolle - Vorder- und Rückseite beschriftet werden können. Allerdings konnten die Kosten nur dann niedriger gehalten werden, wenn Kodizes in höherer Auflage hergestellt wurden. Denn die Textaufteilung musste im voraus genau berechnet werden, damit am Ende nicht freie Seiten übrig blieben, ganz abgesehen von der Fadenheftung und vom Einband, deren Kosten desto niedriger gehalten werden konnten, je mehr identische Exemplare auf einmal produziert wurden (D. TROB1SCH, Endredaktion 116). Andere verweisen auf den Vorteil des Kodex gegenüber Buchrollen insbesondere flir Wandermissionare und Wanderprediger (E. J. Epp; M. MCCORMICK).
Vielleicht sind die Gründe viel einfacher und sagen zugleich etwas aus über den soziologischen Ort der Buchproduktion: Das Schriftbild vieler christlicher Handschriften, so urteilen Spezialisten, sei weniger professionell als in den meisten Rollen griechischer Literatur. Fast alle frühchristlichen Manuskripte "sind das Werk von Männern, welche - wenngleich mit dem Schreiben vertraut - so doch nicht gewohnt sind, Bücher zu schreiben. Und trotz ihrer Be-
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A. Einführung
mühungen, so ,literarisch' wie möglich zu sein, verraten sie die dokumentarische Praxis, die ihnen geläufiger ist" (C. H. ROBERTS, Book 26). Dazu gehört, dass Zahlen durch Buchstaben mit Überstrich zum Ausdruck gebracht werden, also Ä = 1; 13 = 2 usw. So ist es in juristischen Dokumenten und amtlichen Schriftstücken üblich. In Abschriften von klassischen Literaturtexten dagegen werden Zahlen in Worten ausgeschrieben (A.R. MILLARD, Pergament 67). Anders gesagt: Die Produktion der christlichen Bücher verweist auf Personen, die in der Verwaltung tätig sind, seien es öffentliche Büros der Stadtverwaltung oder die privaten Kontore von Großhändlern oder Juristen. Für die VervieWiltigung der christlichen Schriften greifen sie auf die Praxis (----> 1.2.2) und das Material zurück, wie es ihnen geläufig ist: eben die Notizhefte, die man wie es ab Ende des 1. Jh. gelegentlich auch rur literarische Texte Usus wird zu Kodizes zusammenheften kann (G. N. STANTON, Jesus 178f.). Vermutlich wurde der Materialunterschied erst im Nachhinein wahrgenommen, dann aber als bewusstes Unterscheidungsmerkmal eingesetzt - sowohl gegenüber den heiligen Schriften des Judentums, die bis auf den heutigen Tag auf Buchrollen geschrieben sind, als auch im Blick auf pagane Texte, insbesondere mit kultischem Inhalt (L. W. HURTADO, Artifacts 80). Diesbezüglich ist es überaus aufschlussreich, dass auch im christlichen Literaturbetrieb des 2. und 3. Jh. n. Chr. Buchrol1en verwendet wurden, aber nicht rur die Texte, die Christen als ihre heiligen Schriften betrachteten, sondern z. B. rur patristische Traktate (Irenäus, Adversus Haereses) oder liturgische Texte (Belege bei L. W. HURTADO, Artifacts 55.57). 1.2.2 Ein eigenes Abkürzungssystem: nomina sacra Quer über al1e christlichen Handschriften lässt sich von Anfang an ein bestimmtes Abkürzungssystem beobachten. Es betrifft vor allem die Wörter Gott, Herr, Jesus und Christus. Deshalb spricht man auch - im Blick auf die Abkürzung - von nomina sacra. Ausgeschrieben wird jeweils nur der erste und letzte Buchstabe - und mit einem Überstrich versehen. In den ältesten Handschriften, die nur Großbuchstaben verwenden (----> A II.1.), sieht das dann folgendermaßen aus: (Gott) (Herr) Erstaunlich ist: Auch die deklinierten Formen werden entsprechend abgekürzt, also: eE(~ (Dativ von Gott) = 8n, 1T]ooü (Genitiv von Jesus) = IY. Natürlich gibt es Randunschärfen. In einigen Handschriften werden weitere Begriffe abgekürzt, in pM etwa ävepwiTo~lMensch und ulo~/Sohn, in p46 zusätzlich iTvEü~/Geist, oTaupoc;/Kreuz und iTaT"pNater. Insgesamt handelt es sich um etwa 15 Wörter (außerdem: Retter, Mutter, Himmel, Israel, David, Jerusalem). Auch leichte Variationen in der Art der
A.I. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
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Abkürzung lassen sich feststellen: Für die Abkürzung werden drei Buchstaben verwendet (IlRP flir Vater in p 46) oder die ersten beiden Buchstaben des jeweiligen Wortes (IR flir Jesus in p45). Gelegentlich werden nomina sacra auch einfach ausgeschrieben; es kann sogar vorkommen, dass in ein und derselben Handschrift der gleiche Begriff einmal ausgeschrieben wird, während er an anderen Stellen als nomen sacrum abgekürzt erscheint (Standardwerke flir den generellen Befund: L. TRAUBE; A. PAAP).
Trotzdem bleibt der Befund insgesamt erstaunlich einheitlich: Die vier Begriffe Gott, Herr, Jesus und Christus werden in nahezu allen ntl Handschriften regelmäßig als nomina sacra notiert (D. TROBISCH, Endredaktion 16-31; Zweifel am einheitlichen System äußert C. M. TuCKETT; kritische Replik von C. E. HILL; L. W. HURTADO, Artifacts 124-133). Was ist an diesem Befund so auffallig? Ganz abgesehen davon, dass in Texten klassischer Autoren Abkürzungen stets vermieden werden, entspricht das für die christlichen Manuskripte beschriebene Abkürzungssystem in keiner Weise der Abkürzungspraxis, wie sie in der griechisch-römischen Antike geläufig ist. Man findet Abkürzungen z. B. auf Ostraka und in Inschriften. Aber da werden Begriffe normalerweise dadurch abgekürzt, dass man das Ende der entsprechenden Wörter weglässt, nicht den Mittelteil. Die Kennzeichnung der Buchstabenauslassung geschieht durch Hoch- oder TiefsteIlung der letzten Buchstaben oder durch ein Sonderzeichen am Ende, etwa einen waagerechten Strich, nicht durch einen Überstrich. Die Abkürzungen sind nicht auf bestimmte Begriffe festgelegt und die Art der Abkürzungen ist viel variantenreicher als in christlichen Texten. Schließlich besteht die Hauptfunktion von Abkürzungen in nichtliterarischen Texten in der Platzersparnis. Dafür hätte man in christlichen Texten andere Wörter wählen müssen. Hinter der Abkürzungspraxis in christlichen Handschriften scheint also ein eigenes System zu stecken. Gelegentlich wird auf Analogien zur Schreibweise des Gottesnamens in jüdischen Schriftrollen verwiesen (Referat: L. W. HURTADO, Artifacts 101-110). Aber: Das Tetragramm in hebräischen Texten (;nöl') ist keine Abkürzung, sondern der voll ausgeschriebene Gottesname, der allerdings beim Vorlesen nicht ausgesprochen, sondern durch eine andere Gottesbezeichnung ersetzt wird. In griechischen Übersetzungen der hebräischen Bibel, wie Qumranhandschriften zeigen, werden die hebräischen Buchstaben des Gottesnamens, teils in althebräischer Schrift, beibehalten oder in ein analoges griechisches Schriftbild übertragen (1IL1IL).
Weiterruhrend dagegen ist die Beobachtung, dass der Überstrich, den christliche Schreiber zur Kennzeichnung einer Abkürzung benutzen, dem Querstrich entspricht, den man in Rechnungen und Dokumenten über Buchstaben setzt, um sie als Zahlen zu markieren. Wir stoßen also auf das gleiche Milieu, das wir schon rur die Wahl der Kodexform verantwortlich gemacht haben (~ 1.2.1): auf christliche Schreiber aus dem Bereich der privaten bzw. öffentlichen Verwaltung. Sie haben offensichtlich auf den Überstrich aus dem ihnen vertrauten Markierungssystem zurückgegriffen, um die ,,heiligen Namen" in
A. Einfiihrung
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den christlichen Schriften zu kennzeichnen - um damit bereits im Schriftbild vor allem einen theologischen Trennstrich zur profanen Literatur und Religiosität zu ziehen. Besonders eindrucksvoll kommt das in p 46 zum Ausdruck, wenn in 1 Kor 8,~ auch mit Hilfe des Schriftbildes der eine Gott und Herr den vielen Göttern und Herren gegenübergestellt wird: ... kein GT außer einem einzigen. Und wenn es auch viele so genannte Götter gibt ... wie es viele Götter und viele Herren gibt, fiir uns: ein einziger GT und VR, aus dem alles ist und wir auf ihn hin, und ein einziger HR IES CRS durch den alles ist und wir durch ihn ... (den griechischen Text bietet L. W. HURTADO, Artifacts 130). Wenn man bedenkt, dass die ältesten Handschriften den Text in Großbuchstaben ohne Zwischenraum bieten, dann ist der Überstrich über den nomina sacra eine ausgesprochene Lesehilfe rur eventuell nicht besonders geübte Vorleser in den christlichen Gemeinden (M. HENGEL 41f.; vgl. D. TROBISCH, Endredaktion 30). Dass jeweils mit dem letzten Buchstaben des nomen sacrum zugleich der korrekte grammatische Fall angegeben wird, könnte einen weiteren Vorleser-Service darstellen. W. HURTADO (Origin) versucht, den Ursprung des christlichen Abkürzungssystems mit der Funktion des Überstrichs als Markierungszeichen für Buchstaben als Zahlen zusammenzubringen: Bei der Notierung des Jesusnamens durch IH ergibt sich ein Zahlwert von 18 (I = 10; H = 8), was dem Zahlenwert des hebräischen Wortes für "Leben" ('n) entspricht. Aber das prägende System arbeitet mit den Anfangs- und Endbuchstaben der abgekürzten Begriffe - und nicht mit den ersten beiden Buchstaben, was eher der gängigen Abkürzungspraxis entspräche. Eine tatsächliche Analogie hat dagegen A. R. MILLARD (Abbreviations) ausfindig machen können: Verkürzungen von Eigennamen, vor allem von Städten, auf ihre ersten und letzten Buchstaben finden sich auf phönizischen und palästinischen Münzen aus der hellenistischen Periode (auf diese Weise gelingt es z. B., Aschkelon und Aschdod auseinander zu halten) und auf Graffiti aus den punischen Städten Nordafrikas.
L.
Ein ausgesprochenes Manko der gängigen griechischen Ausgaben des NT, Nestle/Aland genauso wie Greek New Testament, besteht darin, dass sie die nomina sacra weder im Volltext noch im Apparat berücksichtigen.
1.2.3 Ein abweichendes Buchbenennungssystem Vom "Evangelium nach Johannes" zu sprechen ist uns geläufig. Das entspricht auch den "Überschriften" (inscriptiones) der ältesten Handschriften (p66/um 200 n. Chr.; p7S/3. Jh. n. Chr.: EYArrEAION KATA lQANNHN). Die Kurzformvariante "nach Johannes" (KATA IOANNHN) setzt die übergeordnete Rubrik "Evangelien" in den Kodizes voraus (im Codex Sinaiticus aus dem 4. Jh. sogar als Kopfzeile verwendet) und dürfte deshalb jünger sein (S. PETERSEN 253f.). Allerdings stellt diese Art der Benennung im Rahmen der antiken Konven-
A.I. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
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tionen eine Kuriosität dar. Denn normalerweise gibt man den Titel eines Werkes im Nominativ und den Autor im Genitiv an, etwa "des AristoteIes Poetik". Unter den ntl Büchern ist das fiir die Katholischen Briefe (z. B. "des Jakobus Brief") oder die Offenbarung ("Offenbarung des Johannes") auch der Fall. Die 14 Paulusbriefe sind zwar nach den Briefadressaten benannt, also "an die Römer", "an Timotheus", setzen aber - ganz in der Linie der antiken Konvention - dabei als Ergänzung "des Paulus Brief" voraus. Also: Ausgerechnet diejenigen Bücher, die in den christlichen Sammlungen am Anfang stehen, fallen aus dem antiken Benennungssystem heraus. Wenn man nach möglichen Analogien sucht, so wird gewöhnlich darauf verwiesen, wie christliche Autoren der Väterzeit verschiedene Übersetzungen der hebräischen Bibel ins Griechische zitieren. Auch in diesem Fall wird der Name des "Autors" durch Klna/nach eingeführt: z. B. "nach Aquila", "nach Symmachos", "nach den Siebzig" (gemeint sind die legendären 70 Übersetzer der hebräischen Bibel) usw. (M. HENGEL 9f.). Mit diesen Titelangaben, die eine Nennung des Autors im Genitiv vermeiden, verbindet sich offensichtlich die Intention, den Text als Übersetzungs- und Deutungsvariante ein und derselben Sache, eben der hebräischen Bibel, auszuweisen. Der Name steht in diesem Fall nicht für den Autor - der Text liegt ja längst vor -, sondern für den Übersetzer (und Deuter) des alten Textes für eine andere Zeit in einem anderen Kulturraum. Diese Nuance dürfte auch bei der auffälligen Benennung der Evangelien im Vordergrund stehen: Es liegen vier Versionen ein und derselben Sache vor, die für eine spätere Zeit in unterschiedlichen Kulturräumen übersetzt und gedeutet wird: eben die Gestalt Jesu.
1.2.4 Ein Buch, das aus dem Rahmen fällt Durch verschiedene buchspezifische Merkmale, die sozusagen auf den ersten Blick wahrgenommen werden können, fallen Christen mit ihrem Buch, das eigentlich aus einer Schriftensammlung besteht, im Rahmen der antiken Konventionen auf: (1) Anstatt ihre identitätsstiftenden Schriften in Buchrollen festzuhalten, benutzen sie dafür Notizhefte, wie sie in der Schule oder der Verwaltung üblich sind, die zu einem Kodex zusammengefiigt sind. (2) Sie verwenden - für Texte, die als "Literatur" eingestuft werden sollen, undenkbar - ein Abkürzungssystem, dessen Form (Markierung von Buchstaben als Zahlen durch Überstrich) ebenfalls dem Verwaltungswesen abgeschaut ist. (3) Ausgerechnet die Schriften am Anfang der Buchsammlung entsprechen nicht den üblichen Buchtiteln, sondern lassen den Autor als Interpreten eines ihm selbst vorausliegenden Stoffes erscheinen. Um welche Einzelschriften handelt es sich? Inwiefern setzen sich durch Auswahl und Anordnung der Schriften christliche Gruppierungen intern voneinander ab?
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A. Einfllhrung
2. Die christliche Büchersammlung: Analogien und Alternativen Die ersten vollständigen Buchausgaben des NT stammen aus dem 4. Jh. (Codex Sinaiticus = ~ 01; Codex Vaticanus = B 03) und dem 5. Jh. (Codex Alexandrinus = A 02; Codex Ephraemi Syri Rescriptus = C 04). Die meisten Handschriften aus dem 2. und 3. Jh. n. Chr. bezeugen eine einzige Schrift (vgl. die Übersicht bei D. TROBISCH, Endredaktion 44f.), was aber mit deren Erhaltungszustand zusammenhängen kann. Immerhin hat T. C. SKEAT (Manuscript; kritische Replik: S. D. CHARLESWORTH) die These aufgestellt, dass p 64, p 67 und p 4 Fragmente ein und des gleichen Kodex sind. Damit ergäbe sich bereits rur ca. 200 n. Chr. ein Beleg fiir einen Vier-Evangelien-Kodex. Dass die ntl Schriften vor und neben den vollständigen Ausgaben als Teilsammlungen in einem Kodex überliefert worden sind, scheint üblich gewesen zu sein. Diese Teilsammlungen sind in ihrer Schriftenzusammenstellung offensichtlich derart konstant, dass die modernen Urtextausgaben mit vier Kürzeln auskommen, um den Umfang der jeweiligen Handschrift zu kennzeichnen: e a
P
= = =
r
=
Evangelien (Mt, Mk, Lk, Joh) Praxapostolos (Apg;, Jak, 1/2 Petr, 1-3 Joh, Jud) Paulusbriefsammlung (Röm, 1/2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1/2 Thess, Hebr, 1/2 Tim, Tit, Phlm) Offenbarung des Johannes (Offb)
Erstaunlich ist die Kombination von Apg und den sog. Katholischen Briefen (von Jak bis Jud), die in unseren modernen Bibelausgaben immer getrennt voneinander zu finden sind: die Apg im Anschluss an die Evangelien und vor den Paulusbriefen, die Katholischen Briefe im Anschluss an die Paulusbriefe. Für diese Reihenfolge hat sich Erasmus von Rotterdam entschieden und damit unsere modernen Ausgaben geprägt - eigentlich gegen den Befund. Denn diese Anordnung wird nur von einer Minderheit der Handschriften bezeugt (K. AlANDIB. ALAND 91). Die Mehrheit steht in frühchristlicher Tradition: Apg und Katholische Briefe bilden eine Sammlungseinheit, Praxapostolos genannt. Das belegen sowohl die großen Gesamtausgaben des 4.15. Jh. n. Chr. als auch kleine Fragmente (vgl. D. TROBISCH, Endredaktion 48 mit Abb. 3). Lediglich die Anordnung des Praxapostolos innerhalb der Schriftengruppen kann variieren: Er kann vor oder nach der Paulusbriefsammlung platziert sein. Unter den vier ältesten Gesamtausgaben ist das aber lediglich beim Codex Sinaiticus der Fall. Alle anderen zeigen folgende Anordnung: 1 Evangelien (4) 11 Apg 1 Kath. Briefe (7) 11 Paulusbriefe (14) 11 Offb I Auch im Blick auf die Stellung des Hebr zeigen die vier ältesten Gesamtausgaben eine eindeutig andere Positionierung, als wir sie von unseren modernen Ausgaben her gewohnt sind: Hebr steht am Ende der pln Gemeindebriefe, also im Anschluss an 2 Thess und vor
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A.I. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
den Mitarbeiterbriefen 1/2 Tim, Tit und Phlm, also mitten in der Paulusbriefsammlung. Auch in diesem Fall war es die byzantinische Tradition, die auf die modemen Ausgaben durchgeschlagen hat.
Die Teilsammlungen des NT stellen jeweils Schriften der gleichen Gattung zusammen. Zahlenmäßig am stärksten vertreten sind die Briefe (7 + 14). Es folgen die Evangelien, die jeweils eine fortlaufende Jesuserzählung bieten (4). Apg und Oftb stellen jeweils das Unikat der Gattung Geschichtsschreibung bzw. Apokalypse dar. Die Anordnung dieser gattungsmäßig zusammengestellten bzw. kombinierten Sammlungen folgt nicht der Zeit ihrer Entstehung, sondern dem Prinzip der erzählten Zeit: Am Anfang stehen die Evangelien, die in unterschiedlichen Versionen von Jesu Worten und Taten erzählen. Die Apg nimmt in den Blick, wie das Wirken Jesu durch die Apostel fortgesetzt und seine Botschaft "bis an die Grenzen der Erde" (Apg 1,8) verbreitet wird. In den sich anschließenden Briefen kommen die Apostel, von denen die Apg erzählt, selbst zu Wort. Sie richten sich mit ihren Belehrungen und Ratschlägen an Gemeinden und Einzelne. Am Ende steht die Oftb, die visionär von der Vollendung der Welt, also von der Durchsetzung der Gottesherrschaft, die Jesus verkündet hatte, erzählt. Gibt es fur eine derartige Anordnung von Büchergruppen Analogien oder Vorbilder?
2.1 Die entscheidende Analogie für die ntl Büchersammlung: die Septuaginta (LXX)
Wie schon im Blick auf die in der Antike ungewöhnliche Titelformulierung der Evangelien erweist sich auch im Blick auf die Anordnung der Teilsammlungen als naheste Analogie die Septuaginta (LXX), also die im Christentum benutzte griechische Übersetzung der auf hebräisch überlieferten jüdischen Bibel. Auch die LXX zeigt einen vierteiligen, nach Gattungen geordneten Aufbau (N. LOHFINK 79), wobei aber tatsächlich in jeder Rubrik eine größere Anzahl von Schriften gesammelt ist:
IL.._T_o_r_a_ _ _.....1 (Gen -Dtn)
I
Geschichte
(los - 2 Makk)
I
I Weisheit (Ijob - Sir)
II
Prophetie
(Ies- Mal)
So ist die Anordnung im Codex Vaticanus, wobei hier im Unterschied zu unseren modemen Ausgaben die Psalmen am Anfang der Weisheitsbücher und das Zwölfprophetenbuch am Anfang der Prophetenbücher stehen. Die Anordnung der Buchgruppen Tora - Geschichte - Weisheit - Prophetie wird bereits durch Melito v. Sardes bezeugt, der Ende des 2. Ih. eigens in den Orient gereist ist, um
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A. Einfiihrung
präzise Erkundigungen über Zahl und Reihenfolge der atl Bücher einzuziehen. Den Brief, in dem Melito seinem Bruder die Bücher präzise auflistet, hat Eusebius in seiner Kirchengeschichte zitiert (Hist Eccl IV 26,13f.). Völlig gleich strukturierte Listen bieten der 39. Osterfestbrief des Athanasius (367 n. Chr.) oder die Synode von Laodizea im Kanon 59 (um 363 n. Chr.). Allerdings zeigen diese frühen Kanonlisten, dass - bis auf die Tora, die konstant aus den Büchern Gen, Ex, Lev, Num und Dtn besteht - sowohl innerhalb als auch zwischen den Gruppen Umstellungen möglich sind bzw. Ergänzungen vorgenommen werden: die Bücher Esr/Neh, die Melito ganz am Ende seiner Liste auffuhrt, sind in den beiden anderen Kanonlisten "richtig" in der Gruppe "Geschichte" eingeordnet. 1/2 Makk und Weish, die von vornherein in Griechisch verfasst wurden, sowie Sir tauchen erst in späteren Kanonlisten bzw. in den ersten Kodizes auf, die als christliche Gesamtausgaben konzipiert sind (Codex Valicanus: Weish; Sir; Codex Sinailicus: 1/2 Makk, Weish; Sir). Nur ein kleiner Teil der Zeugen stellt die Weisheitsbücher hinter die Prophetie (so allerdings Codex Sinailicus).
Im Spiegel der LXX gesehen, bilden die at! Schriftengruppen den VerständnisUnterbau für die Konstruktion des NT: Das Fundament bilden die Evangelien mit dem Schwerpunkt auf der Verkündigung Jesu - in Analogie zur Gesetzgebung des Mose. Die beiden mittleren Schriftengruppen, Geschichte und Weisheit bzw. Apg und Briefe behandeln die Konkretisierung dieses Fundaments in der weiteren Geschichte, während im Abschnitt Prophetie bzw. Offb der Ausblick auf die Zukunft geschieht. Dabei löst die Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde am Ende der Offb nicht nur die Erwartung Jesu von der kommenden Gottesherrschaft ein, sondern greift auch auf den paradiesischen Uranfang von Gen 1 zurück. Umgekehrt bilden - jedenfalls aus der Sicht der nt! Schriften - die at! Propheten die Brücke zur Figur Jesu. Tora
Evangelien
II I
Geschichte
II
Weisheit
Apg
I
Briefe
I
II Offb I I
Prophetie
Analog zur Korrelation zwischen Apg und den Briefen zeigt sich auch in der LXX eine enge (personale) Verbindung zwischen der Rubrik Geschichte und Weisheit: Ähnlich wie in der Apg wird auch in den Geschichtsbüchern der LXX ausführlich vom Leben und den Taten derjenigen Personen erzählt, deren Gotteslob und Lebensweisung - analog zu den nt! Briefen - dann in den Büchern der Weisheit zu hören ist, nämlich David und Salomo, die in den Psalmen ("Davidspsalter") bzw. im Buch der Sprichwörter, der Weisheit Salomos sowie im Hohelied zu den Lesern sprechen.
A.1. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
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2.1.1 Vorgabe eines jüdischen Bibelkanons in griechischer Sprache? Inwieweit lässt sich diese großartige Vorgabe bereits auf jüdischer Seite belegen? Anders gesagt: Konnten die Christen der ersten Jahrhunderte auf einen in griechischer Sprache verfassten jüdischen Bibelkanon zurückgreifen? Zu Recht wird das in der neueren Forschung in Frage gestellt: "Eine genuinjüdische. vorchristliche Schriftensammlung in griechischer Sprache von kanonischer Geltung, die - auch im Bereich der Geschichtsbücher und Weisheitsschriften - eindeutig und klar abgrenzbar ist und sich durch ihren größeren Umfang von dem hebräischen Bibelkanon unterscheidet, lässt sich nicht nachweisen, und erst Recht nicht, daß ein derartiger ,Kanon' im vorchristlichen Alexandrien ausgebildet worden sei" (M. HENGELIR. DEINES 183). Spätestens gegen Mitte des 3. Jh. v. Chr. werden in Alexandrien die fünf Bücher Mose (Gen - Dtn) ins Griechische übersetzt, vor allem als Verständnishilfe tur diejenigen Juden, die in der hellenistischen Metropole aufgewachsen sind und kein Hebräisch mehr verstehen ("alexandrinische Übersetzung"). Damit wurde ein Übersetzungs prozess angestoßen, der völlig unsystematisch verlief. Je nach lokalen Interessen und Bedürfnissen wurden weitere Bücher in Alexandria (große Propheten und Zwölfprophetenbuch), im Mutterland Judäa (Rut, Hld, Klgl, Koh, Est) und an anderen Orten der Diaspora übersetzt und teils verbreitet. Aber: Nachdem jüdische Schriften - auch deren griechische Übersetzungen - auf Rollen geschrieben werden und gewöhnlich für jedes Buch eine separate Buchrolle vorgesehen ist (Josephus allerdings scheint davon ausgegangen zu sein, dass die fünf Bücher Mose auf eine einzige Buchrolle passen: Bell VII 150), konnte es - anders als beim Kodex - zu einer technisch verifizierbaren Reihenfolge der Einzelbücher überhaupt nicht kommen (M. TILLY 54f.). Deshalb bleiben frUhe kanonische Abgrenzungsversuche auf die Angabe der Bücherzahl beschränkt, womit dann wahrscheinlich die Anzahl der Buchrollen gemeint ist. 22 Bücher gibt Josephus an (Jos., Ap I 38), 24 sind es nach 4 Esr 14,44-46. "Die Anzahl 24 wird dadurch erreicht, dass 1/2 Sam, 1/2 Kön, 1/2 ehr, EsrlNeh, die 12 ,kleinen' Propheten als je ein Buch gerechnet werden; die Reduktion auf 22 nimmt darüber hinaus Ri und Rut, Jer und Klgl als je ein Buch zusammen. Beide Zahlen betonen die Idee der Vollständigkeit und der Vollkommenheit: 22 ist die Anzahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets; 24
ist die doppelte Anzahl der 12 Monate bzw. der 12 Stämme Israels" (E. ZENGER, Einleitung 21).
Allerdings lässt sich in den frühen verbalen Beschreibungen des jüdischen Kanons sehr deutlich eine Einteilung in drei Schriftengruppen feststellen: das Gesetz, die Propheten und die anderen Bücher der Väter (so im Vorwort zur griechischen Übersetzung von Sir; vgl. Jos., Ap I 39f.; vgl. Lk 24,44). Nachdem alle Bücher in Rollenform vorliegen, kann damit nicht eine bestimmte Reihenfolge gemeint sein, sondern ist auf eine bestimmte Rangfolge abgehoben. Sie gibt die Wertigkeit der drei Schriftengruppen für die Gestaltung des
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A. Einfiihrung
jüdischen Lebens an, die sich auch im liturgischen Gebrauch spiegelt: Die Tora, also die fiinf Bücher Mose, bilden im synagogalen Sabbatgottesdienst die lectio continua. Aus den "Propheten", die als Kommentar zur Tora gelten, werden jeweils nur solche Abschnitte ausgewählt, die diesen KommentarCharakter besonders unterstreichen. Die "anderen Bücher", gewöhnlich "Schriften" genannt, also die Weisheitsbücher, dienen dem Hausgebrauch. AlIenfalls die Psalmen finden fiir das gemeinsame Gebet in der Synagoge Verwendung. Wie insbesondere das Vorwort zur griechischen Übersetzung von Sir zeigt, gilt die Rangfolge der jüdischen Schriften fiir die hebräischen Originale genauso wie fiir die griechischen Übersetzungen - mit dem einen Unterschied, dass die Übersetzungen an die Präzision der Ursprache natürlich nicht heranreichen können. Anders gesagt: Was die Rangfolge der Schriften angeht - und das ist das einzige Ordnungskriterium, das sich jüdischerseits ausmachen lässt - wird im Judentum kein Unterschied zwischen griechischen Übersetzungen und den hebräischen Originalrollen gemacht. Auf zwei Einzelheiten muss noch hingewiesen werden: Unter "Propheten" wird jüdischerseits stets die Kombination aus Geschichtsbüchern (Jos - 2 Kön) und großen (Jes, Jer, Ez) sowie den zwölf kleinen Propheten verstanden (vgl. die Übersicht bei E. ZENGER, Einleitung 22). Nur so macht die Interpretation des jüdischen Schriftenkanons, wie sie Josephus (Ap I 39-41) vorlegt, Sinn. Danach geben Gesetz und Propheten einen geschichtlich fortlaufenden Duktus wieder, der von der Entstehung des Menschengeschlechts bis hin zu Artaxerxes reicht. Diese an der erzählten Zeit orientierte Perspektive auf die Schriften ist auch rur die Christen leitend geworden.
2.1.2 Die christliche Konstruktion der Septuaginta (LXX) Die Christen haben für die Konstruktion ihres Kanons nur eine Wertigkeitsvorgabe der heiligen Schriften des Judentums, keine Vorgabe fiir deren Reihenfolge. Das heißt aber: Die Zusammenstellung der ins Griechische übersetzten Schriften aus der jüdischen Tradition in der präzisen Reihenfolge der später so genannten LXX ist ihr Werk. Rein technisch gesehen hat die fiir Christen typische Kodexform sie zur Fixierung der Reihenfolge gezwungen. Wahrscheinlich ist die FestIegung bereits im Vorausblick und d. h. in Kombination mit der Zusammenstellung der ntl Schriften vorgenommen worden.
A.l. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
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jüdische Schriftrollen (drei Gruppen)
christliche LXX im Kodex (vier Gruppen)
ntI Schriften im Kodex (vier Gruppen)
Tora
~
IEvangelien ~
Geschichte
Apg
~
Weisheit
HProphetie
H Briefe ~
Offb
Mit der Tora am Kopf der Büchersammlung respektieren auch Christen deren Fundamentalcharakter. Die entscheidende Veränderung gegenüber der typisch jüdischen Einteilung in drei Schriftengruppen besteht darin, dass der Block "Propheten" gattungsmäßig säuberlich sortiert wird: Die "wirklichen" Geschichtsbücher bleiben stehen, die "wirklichen" Prophetenbücher werden ausgelagert und ans Ende der Büchersammlung gestellt. Damit entstehen im jüdischen Bücherteil vier Gruppierungen. Im ntl Bücherteil bekommen damit sowohl die Apg als auch die Offb - jeweils Unikate ihrer Gattung - ein gewichtiges Pendant. Außerdem wird die Inszenierungsstruktur zwischen Apg und den sich anschließenden Briefen (die Personen, von denen erzählt wird, sprechen selbst) durch die jetzt im jüdischen Schriftenteil neu entstandene Abfolge der beiden Schriftengruppen Geschichte und Weisheit vorgeprägt. Sowohl gemäß den allerersten Kanonlisten als auch gemäß den ältesten Kodizes besteht der christliche Kanon aus diesen beiden aufeinander bezogenen und offensichtlich aufeinander abgestimmten Teilen, die bereits gegen Ende des 2. Jh. (z. B. von Melito) "Altes" und "Neues Testament" genannt werden. Durch die Endstellung der Prophetie in beiden Sammlungen bekommt die Gesamtausgabe einen besonderen Drive. Beide Schriftenteile sind über die Figur Jesu verbunden: Die atl Propheten schlagen eine Brücke zu Jesus. Seine Verkündigung von der Gottesherrschaft wird am Ende der Gesamtsammlung
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A. Einführung
visionär eingeholt (Offb) und realisiert sich in einer paradiesischen Neuschöpfung, die ihr Spiegelbild im Anfang (Gen 1) hat.
2.2 Alternativen Die vorgestellte zweiteilige Schriftensammlung, die wir heute als christliche Bibel (ta ßtßlLa/die Bücher) kennen, war nicht der einzige Versuch, die für Christen verbindliche Tradition festzuschreiben, also zu kanonisieren. Es gab im 2. Jh. im Milieu der christlichen Gemeinde von Rom zwei weitere Versuche, aus dem Strom der von Christen gebrauchten Literatur bestimmte Schriften auszuwählen und als - ausschließlich - verbindlich zu erklären. Und das bedeutet: Nur sie dürfen in den Gottesdiensten vorgelesen werden. Nur auf sie darf man sich im Blick auf die eigene (religiöse) Identitätsbestimmung berufen. Die Zusammenstellung eines Kanons (KavwvlMaßstab) im Sinn einer Liste von Schriften, die für das Selbstverständnis einer Gruppe als verbindlich geiten, hat immer mit einem Ausschluss- bzw. einem Fixierungsverfahren zu tun (J. ASSMANN 103-129; G. G. STROUMSA 11). Bestimmte Schriften, die Akzente einbringen, mit denen man sich nicht identifizieren möchte, werden ausgeschlossen. Diejenigen Schriften, auf denen das eigene Selbstverständnis aufbauen soll, werden gesammelt und als einzig verbindlich erklärt. Damit wird aber zugleich der bis dahin fließende Traditionsstrom eingefroren: Jegliche Literatur, die nach diesem Zeitpunkt entsteht, kann sich nur als Interpretation des festgelegten Maßstabs (= Kanon) verstehen und muss sich durch entsprechende Bezugnahmen als "orthodox" ausweisen. Und: Viele Schriften, die bis zum Datum der Kanonisierung noch als gleichwertige Ursprungstradition gehandelt werden konnten, verlieren ab sof01t diesen Anspruch, wenn sie nicht in den "Kanon" aufgenommen worden sind. Das gilt auch für den Kanonisierungsprozess der vorgestellten, orthodox gewordenen christlichen Bibel. Als dieser Kanon zusammengestellt wurde, gab es noch viel mehr christliche Schriften, die aber nicht berücksichtigt wurden; ganz einfach kontrollierbar ist das an der (vermuteten) Entstehungszeit. Das jüngste Dokument der ntl Schriften ist 2 Petr, vermutlich um 120 n. Chr. (-+ D.XVII.2.6; meistens noch später datiert) entstanden. Viel früher entstandene und inhaltlich durchaus gewichtige Schriften wurden dagegen nicht aufgenommen, z. B. der erste Clemensbrief, der die Vorstellung einer apostolischen Sukzession von Christus über die Apostel hin zu den Bischöfen (1 Clem 42) erstmals belegt (Ende des I. Jh.), oder das Thomasevangelium, eine Sammlung von Jesussprüchen (frühe Fassung evtl. um 120-140 n. Chr.) - um nur zwei prominente Vertreter zu nennen, die später zu den "apostolischen Vätern" bzw. zum gnostischen Schrifttum gerechnet werden. Der Schnitt, den der Kanon macht, ist offensichtlich nicht chronologischer, sondern sachlicher Natur. Wenn wir die Entscheidungs- und Absetzungsprozesse, die auch bei
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A.I. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
der Kanonisierung der orthodox gewordenen Schriftensammlung abgelaufen sind, historisch angemessen beurteilen wollen, dürfen wir nicht vorschnell Kriterien aus heutiger Sicht einführen, sondern müssen versuchen, im Vergleich mit tatsächlich vorliegenden Alternativen diejenigen Akzente herauszuschälen, die sich im Gegenüber zu anderen christlichen Identitätsentwürfen zeigen. Es gab zwei entscheidende Alternativen zum orthodox gewordenen christlichen Kanon. Beide betreiben mit gleicher Vehemenz Selektionsarbeit im Sinn eines Identitätsfindungsprozesses - aber ganz anders: Markion mit seinem zweiteiligen Schriftenkanon und Tatian mit seiner Evangelienharmonie.
2.2.1 Der Kanon des Markion Auch Markion legt einen zweiteiligen Kanon vor. Aber er sieht ganz anders aus als der orthodoxe. Er besteht aus einem einzigen Evangelium - wir kennen es heute unter dem Namen "Lukasevangelium" - und aus zehn Paulusbriefen, die unter Voranstellung des Gal der Länge nach angeordnet sind (Gal, 1/2 Kor, Röm, 1/2 Thess, Eph [bei Markion Laodizeerbrief genannt], Kol, Phil, PhIrn). Evangelium
Apostolikon
(Lukasevangelium)
(zehn Paulusbriefe)
Wie kommt Markion auf diese Idee? Welche Kriterien sind für ihn leitend? Darüber gibt die Einleitung Auskunft, die er seiner Ausgabe vorangestellt hat (Tert., Mare IV 6,1; vgl. 1,1: "Beigabe"), bekannt unter dem Titel "Antithesen". Darin setzt er den Gott, den Jesus verkündigt hat, von dem Gott ab, von dem die Schriften der Juden - von ihm "Altes Testament" (vetus testamentum) genannt - erzählen. Zwei Götter mit je unterschiedlichen "Werken" stehen sich also gegenüber: auf der einen Seite der Gott der Liebe, der sich der Menschen aus reiner Güte erbarmt, und auf der anderen Seite der Schöpfergott, der die Welt geschaffen hat, sie nach seinen Gesetzen regiert und dessen Prinzip Gerechtigkeit heißt. Das ist der Gott der Juden, während Jesus der Gesandte des ganz anderen Gottes ist. Mit höchst eindrucksvollen Beispielen gelingt es Markion, diesen Gegensatz zu illustrieren: Gemäß dem Gesetz des Gottes der Juden gilt "Auge um Auge", aber Jesus hat diese Regel durch die Feindesliebe außer Kraft gesetzt. Elischa als Prophet des Judengottes hat Kinder von Bären fressen lassen, aber Jesus sagt: "Lasst die Kinder zu mir kommen!" usw. In Konsequenz dieser antithetischen Gegenüberstellung hat Markion das AT, also alles, was rur Christen als "die Schrift" schlechthin galt, rundweg abgelehnt. Auch die zwölf Güdischen) Apostel haben nach Markion Jesus
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A. Einfiihrung
völlig missverstanden. Sie halten ihn fUr den Messias des jüdischen Gottes und verfalschen, d. h. judaisieren seine Worte. Nach Markion hat einzig und allein Paulus Jesus korrekt rezipiert. Dabei liest Markion die ersten beiden Kapitel des Gal als Dokument des leidenschaftlichen Kampfes, den Paulus fUr die Durchsetzung des einen und einzigen Evangeliums fUhrt, das er verkündet (Gal 1,6-8) - wogegen die jüdischen FalschbrUder in Galatien dieses Evangelium verfälschen wollen, indem sie eine Rejudaisierung durch Werbung fUr die Beschneidung einzufiihren versuchen. Urtypen dieser Verfälschungskampagne sind ihm die jüdischen Apostel, gegen die Paulus schon in Jerusalem (Jakobus, Petrus, Johannes: Gal 2,9) und in Antiochien (Petrus; Jakobusleute: Gal 2,11-14) zu kämpfen hatte. Kurz: Nur ein Einziger hat Jesus kongenial verstanden: der Apostel Paulus. Seine Kampagne will Markion fortsetzen: Ausschließlich die Briefe des Paulus deklariert er als authentisches Glaubensgut. Dieser einzig richtigen Umsetzung der Botschaft Jesu stellt er folgerichtig ein einziges Evangelium voran, das sozusagen den Originalton der Verkündigung Jesu wiedergibt. Dass er ausgerechnet das LkEv daflir auswählt, wird oft damit in Verbindung gebracht, dass Lk ihm als Paulusbegleiter aus Ko14,14 bekannt gewesen sein muss (8. M. METZGER 97). Das aber setzt die Namenskenntnis voraus. Dass er den Autor des Evangeliums, den Menschen "Lukas", nicht hätte identifizieren können, wird ihm jedoch zum Vorwurf gemacht (Tert., Mare IV 2). Insofern wird eher ein sachlicher Grund zutreffen: Nur im LkEv konnte er eine Abendmahlserzählung vorfinden, die wie der Abendmahlsbericht des Paulus in 1 Kor 1l,23-26 den Anamnesisbefehl enthält (vgl. Lk 22,19f.; Idee von U. SCHMID, Evangelium 74-77).
Markion bleibt seinem Antithesen-Grundsatz derart treu, dass er sogar die von ihm auserwählten Schriften von judaisierenden Bemerkungen befreit: Die Kindheitsgeschichte des LkEv, die im Jerusalemer Tempel spielt und von allerlei jüdischen Bräuchen erzählt, passt nicht in sein Programm. Markion lässt "sein" Evangelium mit Lk 3,1 beginnen und springt - unter Auslassung der Botschaft des Täufers, der Vorfahren Jesu, seiner Versuchung und seiner Ablehnung in seiner Heimatstadt - sofort nach Lk 4,31. Auch spezifische Texteingriffe nimmt er vor: Im Logion vom neuen Wein und den alten Schläuchen streicht er dessen letzten Teil: "Und niemand, der alten Wein getrunken hat, will neuen; denn er sagt: Der alte Wein ist besser" (Lk 5,39). Aber auch aus den Paulusbriefen streicht Markion judaistische Anklänge, die er fiir nicht-pln Interpolationen hält, z. B. Gal 3,16-4,6, wo Paulus versucht, die Abrahamskindschaft auf Christen zu übertragen, oder 2 Thess 1,6-8, weil der Gott des Markion mit "Feuerflammen" und "Vergeltung" nichts zu tun hat (eine Liste der wichtigeren Auslassungen und Änderungen bietet E. EVANS 643-646; detaillierte Untersuchung im Blick auf die Paulusbriefe: U. SCHMID, Marcion). M. KLINGHARDT (Markion) lässt die alte These wieder aufleben, das von Markion verwendete Evangelium sei für die großkirchlich-kanonische Ausgabe erweitert und um die Apg, die dann auf die Mitte des 2. Jh. gesetzt wird (D. TROBISCH, Welt 13), ergänzt worden.
A.I. Der christliche Kanon (Martin Ebner)
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Leider ist von Markion selbst keine Originalschrift erhalten. Dafiir besitzen wir über ihn die "reichste antihäretische Literatur" (8. ALAND, Art. MarcionIMarcioniten 89) überhaupt. Hauptquelle ist das fiinfbändige Werk von Tertullian (ca. 150-230 n. Chr.), in dem er sich mit Markion ausfiihrIich auseinandersetzt (Adversus Marcionen). Im Spiegel der Auseinandersetzung mit Markion müssen also seine Thesen und Zitate herausgefiltert werden. Wann und unter welchen Umständen hat Markion seine Thesen entwickelt und seinen Kanon zusammengestellt? Markion stammt aus Sinope am Schwarzen Meer (geboren um 85 n. Chr.). Er ist einflussreicher und vennögender Reeder - und von daher viel auf Reisen (Tert., Marc Praescr 30, I). Er tritt der römischen Gemeinde bei und beehrt sie, wohl aus diesem Anlass, mit einer großen Geldspende von 200.000 Sesterzen. 144 n. Chr. kommt es zum Bruch mit der römischen Gemeinde, die ihm sein Geldgeschenk zurückerstattet. Der Grund für diese Trennung werden die theologischen Thesen des Markion gewesen sein. Der geht fortan seine eigenen Wege und wirbt mit großem Erfolg für seine Variante des Christentums. Im Westen wie im Osten findet er Anhänger. Er grundet eine eigene Kirche, die in den nicht-griechischsprachigen Gebieten Syriens und Armeniens bis ins 6. Jh. n. Chr. Bestand hat. Ende des 2. Jh. war der Markionismus eine ernst zu nehmende Alternative zu der Variation von Christentum, die sich dann durchgesetzt hat und deren Kanon wir bis heute lesen. Ein wesentlicher Grund für den großen Erfolg des Markion war, dass er zu seinen theologischen Thesen eine entsprechende Schriftensammlung vorgelegt hat, sozusagen das Buch zur Theologie, das in seinen Gemeinden als Basisbuch der Verkündigung fungierte. Vermutlich wurde es als Kompaktkodex verbreitet. Vielleicht hat Markion seiner Büchersammlung sogar den Titel "Neues Testament" gegeben (W. KINZIG 534-542; ablehnend: B. M. METZGER 102; für eine patristische Herkunft des Titels plädiert W. C. VAN UNNIK). Das läge ganz im Horizont seiner Antithesen und seines Lieblingswortes "neu", das dort so oft wie kein anderes Wort verwendet wird (A. VON HARNACK 87f.). Vor allem aber ist eine Stelle aus Tertullian aufschlussreich: ... Gewiss, das ganze Werk, das er geschaffen hat, einschließlich der vorangestellten Antithesen, zielt darauf ab, eine Opposition zwischen Altem und Neuem Testament zu etablieren (ut veteris et novi testamenti diversitatem constituat) und von daher seinen Christus vom Schöpfer zu separieren, als gehöre er zu einem anderen Gott und habe mit Gesetz und Propheten nichts zu tun (Marc IV 6, I). Wenn Tertullian die Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament nicht selbst erfunden hat (neben Tertullian ist die Bezeichnung "die Bücher des Alten Testaments" [fIX fije; 1HxÄauxe; lha9tlKTJe; ßLßÄLa] so früh nur noch im Brief des Melito von Sardes [-+ 2.] belegt: Eus., Hist Eccl IV 26,14), dann hat er diese Begriffiichkeit von Markion übernommen. Und bei Markion können sich diese evtl. durch 2 Kor 3,14 inspirierten Begriffe - analog zu seiner Theorie in den "Antithesen" - nur auf die entsprechenden jüdischen bzw. markionitischen Schriftensammlungen beziehen.
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A. Einführung
Die Konzeption von zwei Göttern, die konträre Qualitäten aufweisen und unterschiedliche Prinzipien vertreten ("Dualismus"), ist typisch gnostisch. Im Blick auf Markion ist umstritten, ob es bereits diese gnostische Voreinstellung, also eine dogmatische Brille, war, die ihn in den Paulusbriefen eine kongeniale Sicht hat finden lassen, während er in den jüdischen Schriften den Kontrast dazu fand (W. SCHNEEMELCHER 36), oder ob es die Lektüre des Paulus selbst war, die diese dualistische SpezialeinsteIlung in ihm provoziert hat (G. MAY). Jedenfalls werden in der neueren Forschung die gnostischen Züge im System des Markion stärker betont (B. ALAND, Versuch; im Gegenüber zu A. VON HARNACK). C. MARKSCHIES (Gnosis) hat sogar die These aufgestellt, das stark mit Schwarz-Weiß-Malerei arbeitende System des Markion habe andere gnostische Richtungen, u. a die Valentinianer, dazu herausgefordert, auf Markion zu reagieren und auf eine größere "Bewahrung der Einheit Gottes bei aller Differenzierung im Gottesbild" zu achten (174).
2.2.2 Tatians Diatessaron Wiederum ganz anders ist die zweite Alternative zum orthodox gewordenen Kanon konzipiert. Sie besteht aus einer einzigen Schrift, in der allerdings alle vier Evangelien zu einem einzigen zusammengefasst und miteinander harmonisiert sind. Wir sprechen deswegen von einer Evangelienharmonie. Gemäß einer Notiz bei Eusebius - der ersten Erwähnung überhaupt - hieß der Verfasser Tatian, sein Werk nannte er Diatessaron (Hist Eccl IV 29,6). Der Begriff öUl "tEooapwvldurch vier stammt aus der Musiktheorie und bezeichnet eine Folge von vier harmonischen Tönen. Insofern ist "Evangelienharmonie" eine adäquate Übersetzung. Alle Widersprüche und Unstimmigkeiten unter den Evangelien, also alle "Missklänge", werden ausgemerzt und zu einer harmonischen Einheit verbunden. Das JohEv bildet den groben Erzählrahmen, die anderen Evangelien werden eingepasst; bestimmte Einzelheiten können weggelassen (z. B. die Genealogien) oder geändert werden (im Sinn seiner enkratitischen Einstellung ändert Tatian den "Weintrinker" in Mt 11,19 zu einem schlichten "er trinkt"). Zum Teil wird auch Material übernommen, das in den vier kanonisch gewordenen Evangelien nicht zu finden ist (z. B. die Notiz, bei der Taufe Jesu habe ein großes Licht den Ort erhellt; zu Einzelheiten vgl. W. L. PETERSEN, Diatessaron 1994; DERS., Diatessaron 2004). Am Beispiel der Aussendungsrede seien Technik und Intention der Harmonisierung verdeutlicht: Während Mt und Lk den Stock verbieten, erlaubt ihn Mk: Mt 1O,9f.:
Mk6,8f.
'Nicht erwerbt Gold, auch nicht Silber, auch nicht Kupfer(geld) in eure Gürtel, IOnicht eine Tasche fiir (den) Weg, auch nicht zwei Gewänder, auch nicht Schuhwerk, auch nicht einen Stock; denn wert (ist) der Arbeiter seiner Nahrung.
Sund er gebot ihnen, daß sie nichts tragen auf (dem) Weg, außer einen Stock nur, nicht Brot, nicht Tasche, nicht im Gürtel Kupfer(geld), 'sondern untergebunden Sandalen; und: Nicht zieht an zwei Gewänder!
Lk9,3 er sprach zu ihnen: Nichts tragt auf dem Weg, weder Stock noch Tasche, noch Brot, noch S ilber(geld), noch [je] zwei Gewänder (sollten sie) haben.
3 und
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Die Evangelienharmonie im Diatessaron lautet folgendermaßen (Rekonstruktion aus dem Kommentar von Ephraem Syrus, 4. Ih.): Nehmt nicht Gold noch Silber oder Kupfer in eure Gürtel, keine Tasche fur den Weg oder zwei Gewänder, sondern nur einen Stecken (shabta), nicht einen Stab (hutra), und kein Schuhwerk, sondern Sandalen. Das Problem des Widerspruchs hinsichtlich der Ausrüstung mit einem Stab wird dadurch gelöst, dass im Syrischen zwei verschiedene Termini fur das griechische pli!3öovlStab verwendet werden: Angeraten wird ein shabta, womit ein Wanderstab gemeint ist, verboten wird dagegen ein hutra, womit im übertragenen Sinn weltliche Autorität und Macht gemeint sind. Abgeschaut hat sich Tatian diesen Ausweg durch Differenzierung von Begriffen in diesem Fall vielleicht bei den synoptischen Evangelien selbst. An unserer Stelle werden nämlich unterschiedliche Termini fur "Schuhe" eingesetzt, was Tatian eins zu eins übernimmt: "Schuhwerk" (llllOOtif.UXtCX) wird mit Mt 10,10; Lk 10,4 verboten, während "Sandalen" (OCXVMALCX) mit Mk 6,9 erlaubt werden (W. L. PETERSEN, Diatessaron 2004, 58f.). Ziel des Diatessarons ist es also, Widersprüche zwischen den einzelnen Evangelien so geschickt wie möglich auszuräumen. Dadurch kreiert Tatian - nach innen gerichtet - eine eindeutige Lesart der Evangelien und schafft auf seine Weise - eben durch Auswahl, Ausschluss und sogar Abänderung bestimmter Textversionen - einen eigenen de facto-Kanon, in dem über die strittigen Punkte bereits entschieden ist. Nach außen hin kann er der süffisanten Kritik eines Kelsus (ca. 180 n. Chr.) begegnen, der aufgrund der Inkonsistenzen in den christlichen Schriften deren Wahrheitsgehalt anzweifelt (vgl. Orig., Contra Celsum V 52). Tatian hat sicher die erfolgreichste Evangelienharmonie verfasst, aber er war nicht der Erste. Das Modell hat er vermutlich bei Justin, seinem Lehrer, kennengelemt, dessen Schüler er wurde, als er, geboren in Syrien, auf der Suche nach der "wahren Philosophie" nach Rom kam. Nach dessen Tod (163/167 n. Chr.) hat er dort eine eigene Schule gegründet, kam aber in Schwierigkeiten mit der christlichen Gemeinde, die sich wegen häretischer Tendenzen vermutlich gegen 172 n. Chr. von ihm trennte. Tatian kehrte in seine Heimat nach Syrien zurück, gründete dort eine Schule und begann - vermutlich gegen 175 n. Chr. -, sein Diatessaron (vermutlich auf Syrisch) zu verfassen. Es wird ein ungeheurer Erfolg. Bis 425 n. Chr. bleibt das Diatessaron der Standardevangelientext der syrischen Kirche. Erst Theodoret, Bischof von Cyrrhus 423-457 n. Chr., lässt auf einer Visitationsreise alle Exemplare (mehr als 200) einziehen und durch das "Evangelium der Getrennten" (damit ist der Vierevangelienkanon gemeint) ersetzen. In gut einem Viertel seiner griechischsprachigen Pfarreien war das Diatessaron im liturgischen Gebrauch (W. L. PETERSEN, Diatessaron 2004, 56). Es hängt sicher mit diesem radikalen Trennstrich zusammen, dass keine einzige syrische Kopie des Diatessaron erhalten geblieben ist. Der Text ist uns nur in Übersetzungen und Zitaten überliefert. Das älteste Papyrusfragment mit dem Text der Grablegung in griechischer Sprache stammt aus Dura Europos und ist - die Stadt wurde 236 oder 237 von den
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Persern zerstört - deshalb weniger als 80 Jahre von der Urschrift entfernt. Die Übersetzungen ins Arabische, Lateinische, Althochdeutsche und Persische zeigen, dass kaum ein anderes Dokument der frühen Christenheit - außer den kanonischen Evangelien - soviel Verbreitung gefunden hat.
2.3 Akzentsetzungen und theologische Markierungen des orthodox gewordenen Kanons Im Gegenüber zu den tatsächlichen Alternativen ergeben sich flir den orthodox gewordenen christlichen Kanon deutliche Akzentsetzungen und theologische Markierungen. Sie lassen sich mit drei Stichworten charakterisieren: Pluralität, Dialog und jüdische Traditionsbasis. (1) Dem einen Evangelium bei Markion und der Evangelienharmonie bei Tatian stehen im christlichen Kanon die vier Evangelien gegenüber. Durch die völlig gleich strukturierten Überschriften werden sie als gleichwertige Versionen der einen Urbotschaft gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Exklusivitätsanspruch des einen Evangeliums bei Markion und dem Vereinheitlichungsprinzip in der Evangelienharmonie kommt damit ein klares pluralistisches Prinzip zum Ausdruck. (2) Im christlichen Kanon sind nicht nur Paulusbriefe zu lesen wie bei Markion, sondern auch die Briefe der jüdischen Apostel: Jakobus, Petrus, Johannes und Judas (Katholische Briefe). Als Leseanweisung stellt der Kanon die Apg voran, also diejenige Schrift, die von den vielen Aposteln erzählt und sie alle in Kontinuität zu Jesus stellt. Durch die Brille der Apg gelesen profitieren die jüdischen Apostel allerdings von einem zeitlichen Vorrang vor dem später dazugestoßenen Paulus, was in der Antike automatisch immer auch einen sachlichen Vorrang bedeutet. Das ist ein ausgesprochener Gegenakzent zu Markion. Entsprechend werden in den Handschriften vor dem 9. Jh. die Briefe des Paulus denen der jüdischen Apostel gewöhnlich nachgeordnet. Stellt Markion seiner (Paulus)Briefsammlung den Gal voran als Kampfschrift flir das einzige Evangelium, flihrt im Kanon der Röm die Paulusbriefsammlung an, also genau die Schrift, die um die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden besorgt ist, aber auch flir gegenseitigen Respekt plädiert und um ein gelingendes Neben- und Miteinander ringt. (3) Das dialogische Prinzip kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass die Katholischen Briefe genau in der Reihenfolge angeordnet sind wie die Gesprächspartner des Paulus auf dem Jerusalemer Treffen in Gal 2,9: Jakobus, Petrus, Johannes (ergänzt durch Judas, der als Bruder des Jakobus, des Herrenbruders, vorgestellt wird und insofern die Briefsammlung rahmt). Was Markion ein flir alle Mal ad acta legen wollte, die Auseinandersetzung mit der jüdischen bzw. judenchristlichen Seite, das wird über die Bücher des Kanons für immer festgeschrieben. Die theologische Diskussion und das Ringen um die gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Wege, also genau die Ge-
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sprächssituation, die Paulus in GaI2,1-10 referiert, werden sozusagen über die Bücher des Kanons als Dauereinrichtung installiert: Die jüdischen Apostel sprechen in ihren Briefen genauso zum Leser wie Paulus in seinen Briefen. Das Gespräch über die unterschiedlichen theologischen Ansätze muss auf der Ebene der Rezipienten weitergeruhrt werden. Das wird zum Programm erhoben. (4) Auf Grund seines antithetischen Prinzips wi\l Markion den guten Gott Jesu, rur den nach seiner Sicht ausschließlich Paulus und das eine Evangelium einstehen, vom jüdischen Schöpfergott und damit der jüdischen Tradition ein für alle Mal trennen. Im christlichen Kanon dagegen bleiben die Schriften des Judentums handgreifliche Basistradition. Sie bilden den ersten Teil des christlichen Kanons. Nachdem die ntl Schriften in ihrer Anordnung auf die Gruppierungen der atl genauestens abgestimmt sind, erscheint die ntl Tradition nach den Vorgaben dieser Basistradition geformt, die jüdische Schriftenreihe als Bauplan für die Anordnung ntl Bücher. Schließlich dürfte von besonderer symbolischer Programmatik sein, dass in beiden Teilen des christlichen Kanons gleichfOrmig abgekürzte nomina sacra zu finden sind: Der Gott Jesu ist der gleiche Gott, von dem auch die jüdischen Schriften sprechen.
3. Die Entstehung des christlichen Kanons Die präzise zeitliche Ansetzung, die ausschlaggebenden Impulse genauso wie die eigentlichen Akteure des christlichen Kanons sind mehr denn je umstritten. Daran ist vor aIlem das spärliche Datenmaterial schuld, das eindeutige Schlussfolgerungen kaum zulässt. Es handelt sich um Kanonlisten, in denen die maßgeblichen christlichen Bücher katalogartig aufgezählt werden, um Handschriften, die eine frühe Kombination und Zusammenstellung von christlichen Texten belegen, sowie um Texte von frühen christlichen Schriftstellern, in denen der tatsächliche Gebrauch von atl bzw. ntl Schriften bezeugt wird. Angesichts der schmalen Dokumentationslage werden Äußerungen verständlich, in denen die Kanonbildung auf die providentia dei (K. ALAND 17) bzw. auf den Zufall (W. MARXSEN 290) zurückgeruhrt wird. Meistens sind die Exegeten jedoch rekonstruktionsfreudiger. Die Altväter der Kanonforschung setzten die Entstehung des christlichen Kanons rur die Mitte des 2. Jh. n. Chr. an. Gestritten haben sie vor allem darum, ob es Markion war, auf dessen Kanonvorgabe die Kirche reagiert hat (A. VON HARNACK) oder ob Markion bereits auf eine festumrissene Schriftengruppe, die in den Gemeinden verlesen wurde, zurückgreifen konnte (T. ZAHN). Der heutige Mainstream der Forschung dagegen verlegt den "maßgeblichen Abschluss" (U. SCHNELLE 399) des Kanons in das 4. Jh. (K. ALAND 139; E. LOHSE, Entstehung 15-17; A. C. SUNDBERG; K. GRESCHAT 60). Für das 2. Jh. n. Chr. konzediert man sehr wohl die Anlaufstrecke zu einer ersten Formierung, worur vor allem "intrinsic factors" angenommen werden. Für den definitiven
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Abschluss jedoch macht man die autoritative Entscheidung der Bischöfe verantwortlich, wobei Bischof Athanasius von Alexandria als Modellfall angefilhrt wird (H. VON UPS, Kanon 92). In seinem Osterfestbrief des Jahres 367 hat er - außer der üblichen Bekanntgabe des Ostertermins und des Beginns der Fastenzeit - auch die Bücher, die als "Quellen des Heils" gelten, verbindlich definiert: Nach der Auflistung der atl Bücher in der LXX-Anordnung (-+ 2.1) erscheinen die 27 Schriften des NT in der uns vertrauten Reihenfolge; die sieben Katholischen Briefe schließen - entsprechend der Ordnung vor dem 9. Jh. - unmittelbar an die Apg an. Gewöhnlich wird filr derartige Vereinheitlichungstendenzen, wie sie dann auch auf Synoden im Westen (Hippo Regius: 393 n. Chr.; Karthago: 397 n. Chr.) zu beobachten sind, der neue politische Rahmen verantwortlich gemacht: Die konstantinische Reichskirche dulde die alte Vielfalt nicht mehr und verlange eindeutige Festlegungen (W. SCHNEEMELCHER 43). Entsprechend steigt auch die Buchproduktion des nun endgültig festgelegten Kanons an, wofür der Großauftrag Kaiser Konstantins, der über Eusebius von Caesarea im Jahr 332 rür seine neue Hauptstadt Konstantinopel 50 Exemplare anfordert, als anschauliches Beispiel dient (Eus., Vita Const IV 36). Folgt man T. C. SKEAT (Codex), dann stehen die beiden ersten großen Kodizes der Christenheit, Codex Sinaiticus und Codex Alexandrinus, mit diesem Auftrag im Zusammenhang. Ende des 20. Jh. jedoch wurde die Kanonforschung aufgerüttelt, und zwar durch eine These, die das Datenmaterial völlig gegen den Strich gelesen und ausgewertet hat: Die erstaunliche formale Einheitlichkeit, die sich bis in die frühen Handschriften zurückverfolgen lasse, von den nomina sacra über die Benennung der einzelnen Schriften bis hin zur Form des Kodex, rührt D. TROBISCH auf die Tätigkeit einer Endredaktion (so auch der Buchtitel) zurück, die Mitte oder Ende des 2. Jh. n. Chr. anzusetzen sei. Der Kanon ist weder durch eine autoritative Entscheidung noch durch die allmählich sich verfestigende Akzeptanz bestimmter Bücher entstanden, sondern als Buch präsentiert und propagiert worden. Dieser Sicht der Dinge sind bisher zwar nur wenige gefolgt (M. KLINGHARDT, Veröffentlichung; mit leichten Abstrichen G. THEISSEN 277-308), aber sie hat viel filr sich - und hat vor allem die Diskussion und die Forschungsarbeit durch entscheidende Fragestellungen neu angekurbelt. Immerhin gibt es einen gewichtigen Störfaktor rür den Mainstream-Konsens, der sich filr die Spätdatierung der "maßgeblichen Durchsetzung" vor allem auf die Kanonlisten des 4. und 5. Jh. beruft: das sog. muratorische Fragment (Canon Muratorz), eine Kanonliste aus dem 2. Jh., die bereits Reflexionen über die Konstruktion der ntl Büchersammlung anstellt (-+ 3.1.3). Dieses Phänomen wird dann entweder als "letztlich nicht erklärbare Anomalie" (K. GRESCHAT 59) ausgewiesen oder kurzerhand ins 4. Jh. datiert (G. M. HAHNEMAN). Es gibt aber weitere Indizien, die auf einen maßgeblichen Kanonisierungsprozess im 2. Jh. n. Chr. hindeuten.
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Das muratorische Fragment (Canon Muratori) wurde von Ludovico Antonio Muratori 1740· veröffentlicht. Der Text ist in einer Handschrift des 8. Jh. erhalten. Es handelt sich um die Übertragung eines ursprünglich griechischen Textes in ein ziemlich barbarisches Latein. Nachdem von der Schrift "Hirt des Hermas" gesagt wird, er sei erst" vor kurzem" in Rom verfasst worden, muss der Text - falls der Bezug nicht eine pseudepigraphische Irreführung ist - noch vor Ende des 2. Jh. entstanden sein.
3.1 Indizien fir die Kanonbildung im 2. Jh. n. ehr.
"Die Schrift" schlechthin bestand für die ersten Christen aus den Büchern der jüdischen Bibel. Was dagegen die Lehre Jesu und der Apostel angeht, bevorzugt noch Papias von Hierapolis in seiner Schrift "Auslegung der Herrenworte" (um 125 n. Chr.) die mündlichen Nachrichten, denen er begierig nachforscht: "Denn ich war der Ansicht, dass aus Büchern geschöpfte Berichte für mich nicht denselben Wert haben können wie das lebendige und beständige mündliche Zeugnis" (Eus., Hist Eccl III 39,4). Aber dann lässt sich plötzlich ein entscheidender Shift feststellen. 3.1.1 Jesusworte als "Schrift" und christliche Literatur in der Außenwahrnehmung Mitte des 2. Jh. n. Chr. werden erstmals Jesusworte aus den Evangelien genauso eingeleitet wie Zitate aus atl Büchern: "wie geschrieben steht" (Mt 22,14 in Bam 4,14), oder: "und eine andere Schrift sagt" (Mt 9,13 in 2 Clem 2,4). Umgekehrt wird das Christentum in dieser Zeit erstmals über seine Literatur von außen wahrgenommen. Bester Zeuge dafür ist der Philosoph Kelsos. In seiner Streitschrift gegen die Christen (ca. 176/180 n. ehr.) bezieht er sich nicht nur auf die vier Evangelien (nicht ganz sicher: MkEv), sondern setzt sich auch mit dem kanonischen Faktum auseinander, dass die Geschichte Jesu in unterschiedlichen Versionen erzählt wird: "dreifach und vierfach und vielfach" (Orig., Cels II 27). Das lässt ihn an der Zuverlässigkeit der Überlieferung zweifeln. Außerdem hat er auch Paulus gelesen (Zitat: GaI6,14). Christliche Literatur ist also nicht nur für Außenstehende prinzipiell zugänglich, sondern trägt bereits den Charakter der Selbstdarstellung dieser Bewegung, wobei die unterschiedlichen Versionen der Jesusdarstellung einen typischen Akzent ausmachen, der zugleich Angriffspunkte liefert. 3.1.2 Die Begründung der Vierzahl der Evangelien (Irenäus) Die erste Begründung der Vierzahl der Evangelien findet sich bei Irenäus von Lyon in seiner Schrift Adversus Haereses (ca. 180 n. Chr.). Schöpfungstheologisch führt er als Analogie die vier Winde und die vier Himmelsrichtungen
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an, heils geschichtlich die vier Lebewesen an Gottes Thron sowie die vier Bundesschlüsse (III 11,8). Im griechischen Original der Schrift werden die ungewöhnlichen Evangelienüberschriften (KIX"CIX mit Autorennamen) bezeugt; im Kurzkommentar zu den Autoren, den Eusebius überliefert (Hist Eccl V 8,2-4), fUhrt Irenäus die Evangelisten in der Reihenfolge Mt - Mk - Lk - Joh an. Was die Lebewesen an Gottes Thron angeht, bezieht sich Irenäus bereits auf die Rezeption von Ez 1,10 Gedes Lebewesen hat vier Gesichter) in Ofib 4,7, wo die Lebewesen als solche einem Löwen, Stier und einem Adler gleichen bzw. das Gesicht eines Menschen tragen.
Bei Irenäus liegt die Idee des Kanons vor: Er setzt sich - wie es der Gesamtintention seiner Schrift entspricht - ausdrücklich von all jenen Gruppen ab, die sich auf mehr oder auf weniger Evangelien berufen: " ... es sind lauter Toren, schlecht belehrt und dreist obendrein, die das Bild des Evangeliums nicht wahr sein lassen wollen und entweder mehr oder weniger Gestalten von Evangelien als die besprochenen (vier) einfUhren. Die einen tun das, damit es so aussieht, als hätten sie mehr als die Wahrheit herausgefunden, die anderen in der Absicht, Christi Anordnungen zum Heil aufzuheben" (1II 11,9). Markion wird als Beispiel für das Letztere ausdrücklich genannt. Dabei scheint Irenäus selbst die Rede von den vier Evangelien nicht ganz so leicht von der Hand zu gehen. Nur ganz selten ist bei ihm von Evangelien im Plural die Rede (Haer 11 22,3; III 11,7-9). In weitaus den meisten Fällen spricht er vom Evangelium im Singular (A. Y. REED 19f.), zweimal allerdings mit der BeifUgung "viergestaltig" (Haer III 11,11.47). Tatsächlich hätte ein einziges Evangelium die Einheit der Kirche symbolisch viel besser darstellen können (S. PETERSEN 251), passend zum Grundsatz: " ... ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller ... " (Eph 4,5f.). Die Vierzahl der Evangelien ist eine ausgesprochene Setzung der frühen Christenheit: "Die Kirche besitzt vier Evangelien, die Häresie zahlreiche" (Orig., Horn Lk 1,1). Auch die Drei-, Sieben- oder Zwölfzahl hätte sich gut begründen lassen.
3.1.3 Die Begründung fUr den Ausschluss des Laodizeerbriefes (Canon Muratori) Die kanonische Präsentation der pln Briefe in Kombination mit der Oftb wird im sog. muratorischen Fragment begründet. Die sieben Gemeindebriefe in Oftb 2f. werden in Analogie zu den sieben Gemeinden gestellt, an die Paulus seine Briefe schreibt. Diese Beobachtung ist die Basis dafUr, einen Brief an die Laodizeer und einen an die Alexandriner, die für die Sekte des Markion geflilscht worden seien, von den offiziellen Bezugstexten der Kirche auszuschließen. Wie gekünstelt und zugleich zielgerichtet diese Argumentation ist, zeigt sich daran, dass weder mit der Gesamtzahl der Paulusbriefe operiert wird noch die
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Briefe an die Mitarbeiter berücksichtigt werden. Die Fokussierung auf die Gemeindebriefe zielt eindeutig auf die Ablehnung einer alternativen Paulusbriefsammlung ab. Dafiir wird ein ganz bestimmter Aspekt aus dem bereits bestehenden Schriftenkonvolut herausgegriffen, in diesem Fall der Bezug auf die Gemeindebriefe der Oftb. In seiner Aufzählung der einzelnen Schriften, die jeweils kurz kommentiert werden, zählt das muratorische Fragment die Evangelien bereits durch und trennt die Apg vom LkEv. Von den Katholischen Briefen werden nur Judas sowie 1/2 Joh genannt. Ganz unabhängig davon, ob die weiteren Katholischen Briefe bekannt oder anerkannt werden, hätte sich die Siebenzahl, die argumentativ an die Anzahl von Gemeinden gebunden ist, auf die sieben Katholischen Briefe, die von vier Autoren verfasst sind, ohnehin nicht übertragen lassen. Sowohl die subtilen Reflexionen des Irenäus als auch diejenigen im muratorischen Fragment setzen die klare Vorstellung von einem christlichen Schriftenkonvolut - bereits im 2. Jh. - voraus. Sie belegen insofern die typischen Kennzeichen eines Kanonisierungsprozesses, als sie anders gestaltete Schriftensammlungen ausschließen.
3.2 Der Sammlungsprozess: Wachstum und Bevorzugung von Schriften
Wenn vom Mainstream der Kanonforschung die "intrinsic factors" betont werden, die im 2. Jh. zu einer gewissen Formierung des Kanons gefiihrt hätten, so ist daran sicher richtig, dass der Kanonisierungsprozess nicht bei Null anfängt, sondern auf Material zurückgreifen kann, das bereits in Sammlungseinheiten vorliegt. Das ist aber bereits im 2. Jh. der Fall - und zwar für diejenigen Schriften, die offensichtlich besonders große Akzeptanz genießen: die Paulusbriefe und die Evangelien. Vor dem Kanonisierungsprozess ist also ein Sammlungsprozess anzusetzen (S. PETERSEN 266). Er ist im Sinn eines Wachstumsprozesses zu verstehen. Abgrenzung und Absetzung von anderen Positionen geschieht über die inhaltliche Auseinandersetzung, evtl. über die Produktion weiterer Schriften, in denen die eigene Position geklärt wird, nicht aber über den Ausschluss bestimmter Schriften oder die Verweigerung gegenüber bestimmten Schriftensammlungen; die Selbstdefinition läuft entsprechend über die Bevorzugung bestimmter Schriften, nicht über die Definition eines fest umrissenen Schriftenkorpus.
3.2.1 Die Paulusbriefsammlung Paulus selbst hat die Weitergabe seiner Briefe zwischen den einzelnen Gemeinden angeordnet: Unter den Gemeinden Galatiens (Gal 1,2) bzw. in Korinth und Umgebung (2 Kor 1,1). In 2 Thess 2,2 wird vor gefiUschten Paulus-
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briefen gewarnt. 2 Petr, die jüngste Schrift des NT, setzt ein fest umrissenes Korpus der pln Briefe voraus (3,15). Genetisch betrachtet dürfte dieses Schriftenkorpus im Sinn einer Weiterschreibung der pln Theologie innerhalb der pln Gemeinden entstanden sein. Dabei finden Relectureprozesse statt, wobei neue, pseudepigraphische Briefe entstehen (vg!. Kol; Eph; 2 Thess). In mindestens einem Fall wird ein echter Paulusbrief mit einer Glosse versehen, weil die Position der sekundären Weiterschreibung nicht mehr als reine Selbstkorrektur des Paulus ("fiktive Eigentextreferenz": A. MERZ) ausgegeben werden kann. Das Lehrverbot für Frauen, wie es von den Pastoralbriefen ausgesprochen wird (vg!. 1 Tim 2,9-15), wird in der Briefsammlung durch die Glosse in 1 Kor 14,33-36 "vorbereitet" (-+ D.lV.2.2). Es handelt sich also um interne theologische Denkbewegungen, deren Legitimierung darauf beruht, dass die authentischen Paulusbriefe (Röm; 1/2 Kor; Gal; Phil; 1 Thess; Phlm) die Basis sowohl für die Weiterentwicklung von pln Ideen (EphIKol) als auch die Autorisierung von Personen (Pastoralbriefe) bilden. Insofern ist die Zusammenstellung der Schriften Voraussetzung für ihren Anspruch. D. TROBISCH (Entstehung) hat die These aufgestellt, dass das pln Schriftenkorpus in drei Teilsammlungen sukzessive entstanden sei. An der in den Handschriften durchweg konstant bezeugten Reihenfolge (Ausnahme: p 46 ) fällt auf, dass die Briefe nach zwei Ordnungsprinzipien angeordnet sind: nach Adressaten (GemeindebriefelMitarbeiterbriefe) und nach der Länge. Allerdings setzt dieses Ordnungsprinzip innerhalb der Gemeindebriefe ein zweites Mal neu ein: mit Eph, der länger ist als Ga!. Nach Trobisch stellt deshalb Eph den Kopfbrief einer neuen Teilsammlung dar, die der Ursammlung sekundär hinzugefügt wurde. Die Pastoral briefe (vermehrt um den Mitarbeiterbrief an Phlm) bilden den zweiten Anhang. Die Zahlen in der folgenden Skizze geben jeweils die Buchstabenmenge des griechischen Textes an: Röm 1 Kor 2 Kor Gal
34410 32767 22280 11091
Eph Phil Kol 1 Thess 2 Thess
12012 8009 7897 7423 4055
1 Tim 8869 2 Tim 6538 3733 Tit Phlm 1575
Hebr ist vermutlich erst sekundär in die Paulussammlung aufgenommen worden. Seine Spuren hat das insofern hinterlassen, als seine Stellung innerhalb der ansonsten sehr konstanten Reihung auffällig variabel ist: entweder am Ende der Gemeindebriefe oder am Ende des gesamten Korpus. Als Ort für die Sammlung ist Ephesus, das Zentrum der Paulusschule, prä-
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destiniert; diskutiert werden auch Korinth oder Rom (Übersicht über die Theorien der Paulusbriefsammlung: S. E. PORTER). Als Akteure kommen nur die Paulusschüler in Frage, wobei die Verfasser der Pastoralbriefe rur die Endredaktion zuständig sind. Nach D. TROBISCH (Entstehung) soll Paulus die Sammlung seiner Briefe (I. Sammlungseinheit) selbst veranlasst haben. J. MURPHY O'CONNOR (123f.) weist darauf hin, dass in der Antike die Länge eines Textes nach den Zeilen (stichoi) berechnet wurde. Unter diesem Gesichtspunkt verliert das Argu-
ment filr die Zweiteilung der Gemeindebriefe an Gewicht: denn Gal und Eph, deren Länge sich Ge nach Textvarianten) durch 700-900 Buchstaben unterscheidet, haben gemäß bestimmten antiken Traditionen die gleiche Stichenzahl. p46 ordnet Eph vor Gal ein. Konsequenterweise plädiert S. E. PORTER (125) lediglich filr eine Zweiteilung der pln Schriftensammlung.
3.2.2 Eine Vier-Evangeliensammlung oder Trend zu Evangelienharmonien? Der älteste uns erhaltene Evangelienkodex, in dem alle vier Evangelien (samt Apg) enthalten sind, der Chester Beatty Papyrus (p45 ), wird ins 3. Jh. datiert. Wenn p64, p67 und p4 zu einem einzigen Kodex gehören, hätten wir sogar ein Zeugnis rur etwa 200 n. Chr. (T. C. SKEAT, Manuscript). Um zeitlich weiter nach vorne zu stoßen, wird gewöhnlich auf Justin (Mitte des 2. Jh.) verwiesen, der von "Evangelien" (im Plural) spricht. Er reiht sie in die Memoirenliteratur ein und nennt als deren Verfasser "die Apostel Jesu und deren Nachfolger" (Dial 103,8). Nachweislich kennt er die synoptischen Evangelien, wahrscheinlich auch das JohEv (vgl. Joh 3,3-5 in I Apol 61,4), das er allerdings kaum benutzt. Auch der sekundäre Markusschluss (Mk 16,9-20; ~ B. V.I.2) setzt die Kenntnis von (mindestens) vier Evangelien voraus (J. A. KELHOFFER, Miracle 121 f.227f.): Hier werden die Ostererscheinung vor Maria von Magdala (JohEv) mit der Erscheinung vor den Emmausjüngern (LkEv) und die Aussendung der Jünger in alle Welt (MtEv) mit ihrer Mission in der ganzen Welt (Apg) kombiniert. Nachdem Mk 16,20a von Justin bereits zitiert wird (I Apol 45,5), muss der Text spätestens um 150 n. Chr. vorliegen (J. A. KELHOFFER, Book 10). Mit der Suche nach möglichst frühen Belegen für die vier (später) kanonischen Evangelien ist eine zentrale Streitfrage der Kanonforschung verbunden: Haben unabhängig und vor Markion unsere vier Evangelien bereits eine kanonische Stellung (T. K. HECKEL, Evangelium 284, im Blick auf den sekundären Markusschluss: "abgrenzende Komponente gegen weitere Schriften ... , die von Erscheinungen berichten"; G. N. STANTON, Gospel 329-332, speziell im Blick auf Justin) oder hat das eine Evangelium des Markion erst zur Aufstellung eines Gegen-Vier-Evangelienkanons provoziert (H. VON CAMPENHAUSEN). U. SCHMID (Evangelium) versucht einen Kompromissvorschlag und spricht (mit Blick auf die erwähnte Handschriftenkombination) anstelle von einem Vier-Evangelien-Kanon von einer VierEvangelien-Sammlung bereits vor Markion, die allerdings noch keine kanonische Geltung beanspruche.
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Genau besehen jedoch belegen weder der sekundäre Markusschluss noch Justin einen Vier-Evangelien-Kanon oder eine Vier-Evangelien-Sammlung, sondern vielmehr die Tendenz zur Evangelienharmonie. Die Evangelienzitate Justins tragen harmonisierenden Charakter und gehen vermutlich auf die gleiche Evangelienharmonie zurück, die dann auch Tatian für sein Diatessaron verwendet hat - mit dem einen Unterschied, dass bei Justin bis auf eine Ausnahme das JohEv nicht berücksichtigt wird, während es bei Tatian das Rückgrat der Erzählung bildet. Außerdem sucht man bei Justin einen klaren Trennstrich zu außerkanonischen Evangelienstoffen vergeblich. Auch bei einer so prominenten Erzählung wie der Taufgeschichte kann er problemlos Elemente aufgreifen, die aus den kanonischen Evangelien nicht bekannt sind ("großes Licht"; --+ 2.2.2; W. L. PETERSEN, Diatessaron 1994, 14-16.27-29; H. KOESTER 36ü-402). Sozusagen auf der Produzentenseite belegen die in dieser Zeit bereits vorliegenden Evangelien, die nicht kanonisch geworden sind, das Verfahren, wie es sich beim Anwender Justin im Spiegel zeigt: Sie inkorporieren, kombinieren und variieren Stoffe unserer Evangelien, ohne sich jedoch auf die (später) kanonischen Traditionen zu beschränken (vgl. Petrusevangelium, Egertonevangelium, Epistula Apostolorum). Es handelt sich also um Weiterschreibungen vorliegender, evtl. auch mündlich überlieferter Evangelienstoffe, die in ein je neues Erzählgerüst eingespannt werden. Sicher ist eine gewisse Bevorzugung der vier kanonisch gewordenen Evangelien zu erkennen. Aber: Die synoptischen Evangelien und das JohEv hatten im Osten bzw. im Westen eine unterschiedlich hohe Akzeptanz, so dass eine Vier-Evangelien-Sammlung schon auf einen Kompromiss beider Seiten schließen lässt (--+ 3.4). Von ihrer eigenen Intention her wollen sowohl das LkEv als auch das MtEv das MkEv ersetzen. Eine parallele Geltung ist durchaus nicht beabsichtigt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich neben der vereinheitlichenden und die Traditionen vermischenden Fortschreibung für die Evangelien eine zusätzliche Variation der Weiterentwicklung im Wachstumsprozess beobachten lässt, die den Intentionen der Vier-Evangelien-Sammlung zwar genauso zuwider läuft, aber bestens zu den Charakteristika der Sammlungsphase (vor dem Kanonisierungsprozess) passt.
3.2.3 Cluster Mehrfach lässt sich in der christlichen Literatur des 1. und 2. Jh. die Tendenz beobachten, ein vorliegendes Evangelium durch eine weitere Schrift zu ergänzen. Das geschah unabhängig voneinander an mehreren Stellen (G. THEISSEN 297-300). Das bekannteste Cluster ist das lukanische Doppelwerk. Das LkEv wird durch die Apg fortgeführt. Sie erzählt, was im Evangelium unerfüllt bleibt: die verheißene Geistsendung (Lk 3,16). Nachdem es neben dem "Pfingsten der Jünger" (Apg 2) auch ein ,,Pfingsten der Heiden" (Apg 10) gibt, wird dadurch gleichzeitig die im Urchristentum umstrittene Heidenrnis-
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sion in Kontinuität mit der lesusintention gestellt. Das Corpus Johanneum besteht aus Evangelium und Briefen. Während 2/3 loh einen Blick in die Geschichte der Gemeinde werfen lassen, ist 1 loh inhaltlich unmittelbar mit dem Evangelium verknüpft: als Sicherstellung der orthodoxen Lesart des Evangeliums. G. THEISSEN möchte schließlich auch rur das MtEv eine Clusterbildung erkennen: Die Didache bezieht sich mehrmals auf "das Evangelium" (8,2; 11,3; 15,3.4), womit nur das MtEv gemeint sein kann (T. K. HECKEL, Evangelium 276f.). Inhaltlich führt die Didache die Tauflehre aus, formuliert also Anweisungen für die praktische Durchfilhrung des letzten Auftrags lesu auf dem Berg, mit dem das Evangelium schließt (Mt 28,16-20; vgl. G. GARLEFF). Dass die Ergänzungsschrift des MtEv dann doch nicht in den Kanon aufgenommen wurde, ist nach Theißen dadurch begründet, dass die judenchristlichen Gruppen Syriens, die hinter dem MtEv und der Didache stehen, nicht stark genug waren, um ihre Ergänzungsschrift durchzusetzen, und außerdem außerhalb des Einzugsgebietes lagen, in dem der Kanon verhandelt worden ist: Kleinasien und Rom.
3.3 Die Kanonisierung: Neustrukturierung der Cluster Schaut man auf die Wachstumstendenzen der urchristlichen Schriften bis Mitte des 2. lh., dann muss man sagen: Im Kanon wird Vorhandenes aufgegriffen (Paulusbriefsammlung) und zugleich ergänzt (Katholische Briefe); es fällt eine Entscheidung gegen den Trend zur Evangelienharmonie und für die Cluster. Aber sie werden neu strukturiert: (1) Bereits bestehende Cluster werden auseinander gerissen. Durch die Trennung der johanneischen Briefe vom lohEv entsteht der Grundbestand der Katholischen Briefe. Die Apg wird nicht als Fortführung des LkEv, sondern als nan'ative Einleitung zu den apostolischen Briefen eingesetzt. (2) Durch die Kombination von Apg und apostolischen Briefen wird künstlich ein neues Cluster geschaffen, das allerdings einer einzigen Grundschrift gleich zwei Anhänge hinzurugt: die Katholischen Briefe und die Paulusbriefe. Als Sammlungseinheit bleibt die Kombination von Apg und Katholischen Briefen in den Handschriften bis in die byzantinische Zeit erhalten (Praxapostolos). (3) Die in der Wachstumsperiode ntl Schriften entstandene Form des Clusters greift der Kanon als Strukturform auf - im Kleinen (Apg in Kombination mit apostolischen Briefen) wie im Großen: Insgesamt präsentiert der Kanon das Cluster "Evangelium mit Brief', allerdings stark erweitert und ergänzt. (4) Dabei lassen sich die Erweiterungen und Ergänzungen unmittelbar als Reaktion auf Markion verstehen - und gleichzeitig als Kurskorrektur gegenüber den Tendenzen zur Evangelienharmonie: Diese in der Sammlungsphase prominente Form wird nicht aufgegriffen. Anstelle eines einzigen Evangeliums stellt der Kanon vier Evangelien an den Anfang, die z. T. aus urspTÜng-
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lichen Clustereinheiten separiert werden mussten. Der Kanon bietet nicht nur eine einzige Briefsammlung wie Markion (nämlich die des Paulus), sondern zwei Briefsammlungen, wobei die Apg als narrativer "Kopftext" der Briefe den chronologischen - und gemäß dem antiken Kriterium der Anciennität auch den sachlichen Vorrang der jüdischen Apostelbriefe (Katholische Briefe) garantiert. (5) Im Kanon sind sozusagen zwei Cluster ineinander geschichtet. Die Großstruktur "Evangelien mit Briefen" wird durch die Substruktur "Apostelgeschichte mit Brietkorpora" durchkreuzt und außerdem durch die Offb am Ende ergänzt. (6) Die Anordnung dieser vier Einheiten "Evangelium - Apostelgeschichte - Briefe - Offenbarung" orientiert sich an der (vermutlich von Christen über die Kodexform festgeschriebenen) Anordnung der Bücher der LXX (--> 2.1): "Tora - Geschichte - Weisheit - Prophetie". Diese prinzipielle Orientierung an der LXX könnte auch ein Grund dafilr sein, weshalb der Hebr, der als theologischer Traktat - wie Apg und Offb - eigentlich eine eigenständige Gattung innerhalb der ntl Schriften darstellt, in die pln Briefsammlung eingereiht worden ist: Die Buchrollen der LXX, die offensichtlich bereits mit einem Seitenblick auf die zukünftig kanonischen Schriften des NT geordnet worden sind, boten keine gattungsmäßig analoge Schriftengruppe an.
Insgesamt ergibt sich: Die typischen Merkmale des christlichen Kanons, sein viergestaltiges Evangelium, die Kombination von zwei Briefsammlungen unter Voranstellung der Apg, die Endstellung der Offb sowie die BeifUgung der jüdischen Bibel in griechischer Übersetzung, lassen sich inhaltlich als Gegenentwurf zu Markions Kanon verstehen - und zugleich als Absage an die Tendenzen zur Evangelienharmonie. Von der Struktur her jedoch wird die im 2. Jh. bereits mehrfach vorliegende Form des Schriftenclusters aufgegriffen, das in seiner Grundform jeweils das Evangelium durch eine weitere Schrift ergänzt. Im Kanon ist jedoch bereits die Kopfschrift "viergestaltig", zusätzlich wird die Weiterschreibung in Katholischen Briefen und Paulusbriefen mehrspurig weitergeführt, aber durch die Apg an den Ursprung zurückgebunden. Inhaltlich wird damit die differenzierte Weiterschreibung einer bereits differenziert ausgeprägten Urtradition zum Paradigma erhoben. Sowohl dem Aussortieren aus der Vielfalt urchristlicher theologischer Ansätze, also der Vereinseitigung, wird Einhalt geboten (Mark ion) als auch der Versuchung, durch Vereinheitlichung unterschiedliche Ansätze schlichtweg einzuebnen (Evangelienharmonie). Diese typischen Charakteristika des christlichen Kanons werden bereits gegen Ende des 2. Jh. bezeugt, so dass die eigentliche Konstruktionsarbeit vor Ende des 2. Jh. geschehen sein muss. Für die deutliche Verweigerung gegenüber der prominenten Form der Evangelienharmonie und zugleich JUr den Gebrauch der Cluster ist der sekundäre Markusschluss selbst ein Beleg: Diese Evangelienharmonie fehlt in den ältesten Kodizes durchgängig (--> B.lV.1.2),
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wurde also in die frühesten "kanonischen" Ausgaben nicht aufgenommen. Der Text seinerseits greift dagegen auf das Ik Doppelwerk zurück (vgl. Mk 16,17 mit Apg 2,4.1\) und macht damit keineswegs einen Trennstrich bei den (später kanonischen) Evangelien (1. A. KELHOFFER, Mirac\e 227f.).
3.4 Katalysatorenjür die Kanonbildung 3.4.1 Markion und der Exklusivitätsanspruch für seine Imitationscluster Angesichts der tur die urchristliche Traditionsentwicklung entscheidenden Fonn des Schriftenclusters muss man sagen: Markion hat mit seinem Kanon keineswegs etwas Neues erfunden. Er klinkt sich vielmehr in die urchristliche Tendenz zur Clusterbildung ein und wählt eine dem Corpus Johanneum analoge Form: Evangelium in Kombination mit Briefen. Markion greift also auf eine vorhandene Strukturvorgabe zurück, benutzt sie aber anders. Im Unterschied zu den bestehenden christlichen Clustereinheiten bleibt Markion nicht bei der Bevorzugung des eigenen Clusters stehen, sondern beansprucht Ausschließlichkeit. Dieser Anspruch resultiert aus der Gewichtung derjenigen Schriften, die mit dem Evangelium kombiniert werden. Bei Markion sind es die Ergänzungsschriften, also die Briefe des Paulus, von denen her das Evangelium akzentuiert und beweltet wird - und schließlich der Anspruch begründet wird, neben dem vorangestellten Evangelium dütfe es kein anderes geben. In den anderen vorhandenen christlichen Clustereinheiten fällt die Gewichtung der bei den Teile umgekehrt aus: die jeweiligen Zusatzschriften stellen eine tatsächliche Ergänzung bzw. Weitertuhrung des Evangeliums dar, so dass das Evangelium die Basis für die weitere Traditionsentwicklung bleibt, ohne dass ein Ausschließlichkeitsanspruch gestellt würde. Die alte Streitfrage der Urväter der Kanonforschung (-+ 3.) - setzt Markion den christlichen Kanon voraus oder reagiert der christliche Kanon auf Markions Vorlage? - kann damit von ihrer ausschließlichen Zuspitzung befreit werden: Markion greift ein urchristlich vorliegendes Traditionsmodell (Cluster) in veränderter Gewichtung auf und setzt es exklusiv. Daraujreagiert der christliche Kanon. Mit gutem Grund kann man Markion in diesem Sinn als Katalysator tur die Herausbildung des christlichen Kanons bezeichnen. 3.4.2 Das geistige Klima beim Osterfeststreit Lässt sich im 2. Jh. n. Chr. noch eine Situation ausfindig machen, die die theologische Intention des christlichen Kanons beflügelt haben könnte: Vielfalt statt Ausschließlichkeit (Markion) oder Vereinheitlichung (Evangelienharmonie)? Mit anderen Worten: Gibt es einen weiteren Katalysator im Sinn eines geistigen Klimas, der zur Entstehung des christlichen Kanons beigetragen haben könnte?
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Irenäus ist es, der von einer Begebenheit um 155 n. Chr. in Rom berichtet, bei der Vertreter des kleinasiatischen Christentums und Vertreter des westlichen Christentums den Frieden und die Einheit der christlichen Bewegung dadurch bewahren können, dass sie unterschiedliche religiöse Praktiken, die sich auf jeweils unterschiedliche apostolische Traditionen berufen, als gleichwertig nebeneinander gelten lassen. Es geht um den Ostertermin. Kleinasiatische Christen feiern unter Berufung auf das JohEv Ostern gleichzeitig mit dem jüdischen Passafest - unabhängig davon, auf welchen Wochentag der 14.115. Nisan fallt (im JohEv wird Jesus zur Zeit der Schlachtung der Passalämmer im Tempel gekreuzigt, wobei die Kreuzigung mit der Erhöhung gleichgesetzt wird: Joh 3,14f.). Im Westen wird Ostern - nach der Chronologie der Synoptiker - jeweils am Sonntag danach begangen. Entsprechend dauert die Fastenzeit kürzer oder länger. Etwa 155 n. Chr. kommt es unter anderem wegen dieser unterschiedlichen Festtermine zu einer Begegnung des Polykarp von Smyrna und des Anicet von Rom. Sie können jedoch keine Einigung erzielen. Irenäus schreibt: Weder vermochte Anicet den Polykarp zu überreden, jenen Brauch nicht mehr festzuhalten, den dieser mit Johannes, dem Jünger des Herrn, und mit den übrigen Aposteln, mit denen er verkehrte, ständig beobachtet hatte; noch überredete Polykarp den Anicet, ihn zu beobachten, da dieser erklärte, er müsse an der Gewohnheit der ihm vorangegangenen Presbyter festhalten. Trotz dieser Differenzen blieben beide in Gemeinschaft. Und Anicet gestattete aus Ehrfurcht dem Polykarp in seiner Kirche die Feier der Eucharistie (Eus., Hist Eccl V 24, 16f.; zur Quellenauswertung vgl. N. BROX).
Dieser Kompromiss erscheint wie ein Paradigma für den Kanon. Und es ist ausgerechnet präzise diese Zeit, in der Markion in Rom seine Blütezeit hat: unter Anicet (Iren., Haer 1II 4,3), und viele Anhänger gewinnt (Just., I Apol 58,2). Es kommt zu einer ersten literarischen Auseinandersetzung: durch Justin (vgl. Eus., Hist Eccl IV 18,9). Besonders wichtig: Auch Polykarp, der Vertreter Kleinasiens, muss mit Markion zusammengestoßen sein. Jedenfalls ist ein vernichtendes Urteil des Polykarp über Markion überliefert: "Ich erkenne den Erstgeborenen Satans" (Iren., Haer 1II 3,4). Diese Situation der gemeinsamen Herausforderung im Kontext des Klimas gegenseitiger Kompromissbereitschaft dürfte die Idee eines pluralistisch strukturierten Kanons - als Antwort auf Markion - begünstigt haben. Dabei kommen zunächst alle Schriften in Frage, die vor allem in Rom und in Kleinasien gelesen wurden. Aber auch all diejenigen, die nur in einem der beiden Bereiche bevorzugt wurden - besonders dann, wenn sie sich anboten, gleichzeitig argumentativ gegen Markion ausgewertet werden zu können. Das war vor allem für das JohEv der Fall. Im Osten besonders beliebt, diente es u. a. als Traditionsgrundlage fiir den abweichenden Ostertermin. Ganz anders im Westen. In Justins Schriften bleibt es praktisch unbeachtet. Es gibt sogar eine Gruppe um einen gewissen Gaius in Rom, die das JohEv der Gnosis verdächtigt. Innerhalb von höchstens 20 Jahren hat sich die Wertschät-
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zung des JohEv im Westen schlagartig geändert: Im Diatessaron des Tatian (ca. 175 n. Chr.), eines Schülers des Justin, fungiert das JohEv als narratives Gerüst (-+ 2.2.2). Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Markion konnte gerade der Johannesprolog als besonders wirksam erscheinen: Wie kaum ein anderer Text des Kanons verbürgt er die Zusammengehörigkeit, ja Einheit Jesu mit dem Schöpfergott. Zwar wurde bei der Konstruktion des Kanons das Cluster des Corpus Johanneum auseinander gerissen, aber dafur seine Grundfonn "Evangelium mit Briefen" rur dessen Großstruktur übernommen. Auch das lukanische Doppelwerk wurde zerschlagen, aber dafür die Apg von einer Ergänzungsschrift zur Kopfschrift rur die Briefe aufgewertet. Die Pastoralbriefe, die den Abschluss der wohl in Ephesus entstandenen Paulusbriefsammlung bilden - in der Paulusbriefsammlung des Markion sind sie nicht zu finden, vielleicht einfach deshalb, weil er sie noch nicht gekannt hat -, waren insofern höchst willkommen, als sie eine Selbstkorrektur des Paulus darstellen und zudem das leere Geschwätz und die "Antithesen" (!) der fälschlich so genannten "GnosislErkenntnis" ablehnen (vgl. I Tim 6,20).
3.5 Eine Endredaktion des christlichen Kanons 3.5.1 Der Kanon - als Kodex verbreitet? Was Form und Verbreitung des Kanons angeht, hat D. TROBISCH (Endredaktion) die These aufgestellt, dass er als Buch, also in der Form eines Kodex, präsentiert wurde, der bereits durch seine editorischen Eigentümlichkeiten technisch als Werk einer Endredaktion erklärt - die zentrale Gegenbotschaft verkörpert: Über die durchweg einheitliche Abkürzung der nomina sacra wird der Gott des AT als der gleiche Gott ausgewiesen, von dem auch im NT die Rede ist bzw. als dessen Gesandter Jesus erscheint. Durch die einheitliche Benennung aller vier Evangelien, die wegen ihrer unkonventionellen Form (-+ 1.2.3) zugleich in die Augen stechen muss, werden sie als gleichwertige Variationen der einen Urbotschaft ausgewiesen. Ein Manko dieser Sicht besteht allerdings darin, dass die ersten Gesamtkodizes erst fur das 4. Jh. belegt sind; davor finden sich nur Teilsammlungen. Vor allem finden sich in alten Papyri kaum Spuren dafür, dass die Teilsammlungen miteinander kombiniert worden wären. Nirgends wird ein Evangelium zusammen mit einem Brief bezeugt, wohl aber Evangelien zusammen mit der Apg (p45/3. Jh.; p 53/3. Jh.); nirgends findet sich eine Kombination der Katholischen Briefe mit denen des Paulus, wohl aber Papyri, in denen einige (p36/3. Jh.; p 92/300 n. Chr.) oder alle Paulusbriefe (p46/ca. 200 n. Chr.) bzw. einige der Katholischen Briefe (112 Petr + Jud: P72/3.14. Jh.) überliefert werden. Wenn also die These Trobischs von einer Endredaktion gehalten werden soll, so ist auf jeden Fall mit (Nonnal)Ausgaben des christlichen Kanons in Teilsammlungen zu rechnen.
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3.5.2 Schriften, denen widersprochen wird, als Beleg für den Kanon? In 2 Petr sieht D. TROBISCH so etwas wie das Editorial der Gesamtausgabe (neben Joh 21; Apg; 2 Tim: Endredaktion 125-154). Diese Schrift, inhaltlich eher ein Duplikat zu Jud, bezieht sich auf alle Kanonteile: auf die Verklärungsgeschichte in den synoptischen Evangelien (1,16-18); auf die Weissagung des Petrusmartyriums im JohEv (1,14); auf eine abgeschlossene Paulusbriefsammlung (3,15f.); die Katholischen Briefe werden bereits benutzt: Jud als Vorlage, aus der aber bereits weggelassen wird, was nicht durch jüdische Schriften gedeckt ist (Jud 9.14f.); vielleicht lässt sich in der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde sogar ein Querverweis auf die Oftb erkennen (3,13) und im Blick auf das Verständnis der Apostel als Augenzeugen ein Bezug zur Apg. Gerade wegen seiner herausragenden Funktion für die Gesamtsammlung ist es merkwürdig, dass ausgerechnet diesem Brief die Anerkennung lange versagt geblieben ist. Sowohl Origenes (185-253 n. ehr.) als auch Eusebius (264/65-339/40 n. ehr.) listen 2 Petr unter den Schriften auf, die "umstritten" sind bzw. denen "widersprochen" wird (Eus., Hist Eccl IV 25,8; III 25,1-7). Oder muss man den Spieß umdrehen und sagen: Gerade die Tatsache, dass eine Schrift umstritten ist, zeigt, dass eine Vorstellung von Kanonizität im Raum steht, gegen die man sich zu wehren versucht? In der Phase der Sammlung und des Wachstumsprozesses bevorzugt man bestimmte Schriften, während man andere nicht beachtet. Erst wenn der Geltungsgrad der Kanonizität erhoben wird oder im Raum steht, muss man sich gegen eine Schrift wehren. Auffälligerweise haben außer 2 Petr auch Jak, 2/3 Joh, Jud, Hebr und Oftb mit der Anerkennung zu kämpfen, also gerade diejenigen Schriften, die neben den ohnehin etablierten neu in den Kanon aufgenommen worden sind und - was speziell die Katholischen Briefe angeht - als Frontstellung gegen Markion gedacht waren. Sobald man einer de-facto-Kanonbildung im 2. Jh. zustimmt, wird man deshalb die späteren Diskussionen und Kanonlisten neu bewerten müssen: Als Auseinandersetzung mit der bereits fest umrissenen Größe des christlichen Kanons bzw. als Versuch, diese Größe in den christlichen Gemeinden auch wirklich durchzusetzen (vgl. die Interpretation des Osterfestbriefs des Athanasius durch D. BRAKKE).
3.5.3 Die Benutzeroberfläche: Harmonie unter den Verfassern bei unterschiedlicher Theologie Die zweite Hauptthese des Beitrags von Trobisch wird meistens übersehen: Die unterschiedlichen und zum Teil sich widersprechenden theologischen Richtungen, die in den einzelnen Schriften des Kanons vertreten werden, können deshalb nebeneinander gleichwertig bestehen bleiben, weil deren Autoren
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- wie die biographischen Notizen vor allem in der Apg, aber auch in den Paulusbriefen zeigen - trotz theologischen Streits und harter Auseinandersetzung (vgl. GaI2,1-14; Apg 15) wieder Wege zueinander suchen und letztlich, auch wenn die Positionen unausgeglichen bleiben, in persönlicher Harmonie zueinander stehen. Wie kommt es zu dieser These? Für die 27 Schriften des NT gibt es insgesamt nur acht unterschiedliche Verfassernamen: Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Paulus, Jakobus, Petrus und Judas. Weil auch ursprünglich anonym überlieferte Schriften des NT, vor allem die Evangelien, in allen Handschriften und Ausgaben von Anfang an und durchgängig (vgl. p 66/ca. 200 n. Chr.; p4/64/67/ca. 200 n. Chr.; p 7s/3. Jh.) nach dem gleichen Verfasser benannt werden, ohne dass die Texte von sich aus einen deutlichen Hinweis auf einen möglichen Verfassern amen freigeben würden, geht D. TROBISCH (Endredaktion 73-94) davon aus, dass diese Verfassernamen ebenfalls im Zuge der Endredaktion - bewusst vergeben wurden, um dieses Bild der zwar miteinander streitenden, aber sich wieder versöhnenden Apostel und Apostelschüler zu erreichen. Besonders eklatant ist das für die Benennung der Evangelien. Auf der Benutzeroberfläche des NT, also aufgrund der internen biographischen Angaben, ergibt sich: Dem einzigen Evangelium, für das der Markion-Apostel Paulus kämpft und das die kanonische Ausgabe dem Paulusbegleiter Lukas (vgl. Ko14, 14; Phlm 24; ~ B.VI.2.4; C.2.4) zuschreibt, stehen die Evangelien der jüdischen Apostel Matthäus und Johannes gleichberechtigt gegenüber. Markus steht zwischen beiden Seiten. Teils wird er im Zusammenhang mit Petrus (Apg 12,12), teils im Zusammenhang mit Paulus (Apg 12,25) genannt. Ausgerechnet wegen Markus kommt es allerdings zwischen Paulus und Barnabas zum Streit, weil er sie in Pamphylien im Stich gelassen hatte. Paulus lehnt Markus als Reisebegleiter ab (Apg 15,37-41). Aber es bleibt nicht bei diesem Zerwürfnis. Aufgrund von Kol 4,10 muss es zu einer Versöhnung zwischen beiden gekommen sein, was durch 2 Tim 4,11 ("denn er wird mir ein guter Helfer sein") bestätigt wird. Markus wird nicht nur von Paulus als Mitarbeiter anerkannt (Phlm 24), sondern auch von Petrus als dessen "Sohn" bezeichnet (I Petr 5,13). Auf der Benutzeroberfläche gelesen ist das Evangelium "nach Markus" so etwas wie ein Bürge für die persönliche Verständigung zwischen Paulus und Petrus, die im antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,1 1-14) zunächst nicht gelungen ist (~ D.II.3.[6]). Auch über die z. T. fiktiv vergebenen Verfassernamen kommt also das Programm des Kanons zum Ausdruck. Gegenseitiger persönlicher Respekt ermöglicht das gleichwertige Nebeneinander unterschiedlicher theologischer Einstellungen und liturgischer Praktiken. Damit wird - wenn man der These von Trobisch folgt - im Grunde das Paradigma der Übereinkunft zwischen Polykarp und Anicet bezüglich des Osterfesttermins von den für den Kanon Verantwortlichen rückprojiziert auf die Verfasser der ntl Schriften und gleichzeitig als Gegenmodell aktiviert gegen Markions Absolutheitsanspruch einer einzigen Position einerseits bzw. der VereinheitIichungstendenz, wie sie in den Evangelienharmonien propagiert wird, andererseits.
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A. Einfiiluung
Im Blick auf die Entstehung der Evangelienüberschriften sind in der Mainstreamforschung vor allem folgende beiden Hypothesen etabliert: (I) Das MkEv, das den Begriff "Evangelium" in seinem Anfangssatz führt, bilde das Modell. Für die ersten Kopien dieses Evangeliums, die an andere Gemeinden versandt wurden, sei zur Kennzeichnung des Textes die Überschrift "Evangelium nach Markus" hinzugefügt worden (evtl. bereits im Krisenjahr 69 n. Chr.). Das habe formbildend gewirkt (M. HENGEL 48-51). (2) Es sei Markion gewesen, der als Erster den pln geprägten Evangeliumsbegriff, der eigentlich eine mündliche Botschaft assoziieren lässt (-+ B.lII), auf eine Jesuserzählung bezogen habe, eben diejenige, die er seinen Paulusbriefen voranstellt (H. VON CAMPENHAUSEN 187). Er selbst habe diesen Text, den der Kanon als "Evangelium nach Lukas" ausgibt, in der Fährte des Paulus schlicht und einfach als "Evangelium" betitelt (A. VON HARNACK 39.184*; vgl. Tert., Marc IV 2,3f.). Eine Ausdifferenzierung nach Verfasserangaben findet erst in der kanonischen Ausgabe statt. (3) S. PETERSEN (271-274; vgl. T. K. HEcKEL, Evangelium 192) hat eine neue Variante hinzugefiigt, die zeitlich zwischen den beiden genannten Hypothesen anzusetzen ist: Joh 21,25, evtl. eine spätere Hinzufiigung zum Text, eröffne mit dem Hinweis auf "vieles andere, das Jesus getan hat" die Möglichkeit, dass mehrere Jesuserzählungen nebeneinander kursieren, ohne dass sie auf einen gemeinsamen Erzählstrang hin redigiert werden müssten. Die Überschriften seien dann eine Konsequenz aus dem Zusammentreffen verschiedener Evangelien und der entsprechenden Reflexion in Joh 21,25 (Anfang des 2. Jh.). Keine dieser Theorien kann jedoch die konkrete Namensvergabe fiir die Evangelien plausibel machen. Ebenfalls findet die Tatsache keine Erklärung, dass die unkonventionelle Form der Benennung der Evangelien ("Evangelium nach"; -+ 1.2.3) auf die vier kanonischen Evangelien beschränkt bleibt - im Unterschied zu anderen Evangelien, die bereits vorlagen (-+ 3.2.2), aber nicht in den Kanon aufgenommen wurden. In der bisher aufgezeigten Linie scheint folgende Genese am plausibelsten: Der Evangeliumsbegriff als Gattungsbezeichnung fiir eine Jesuserzählung wurde von Markion geprägt (Hypothese 2) und im Kanonisierungsprozess (Endredaktion) fiir vier Jesuserzählungen differenziert aufgegriffen: Sachliche Gleichwertigkeit verbürgt die Formulierung "Evangelium nach ... " (-+ 1.2.3). Die Wahl der Autorennamen zielt auf das Harmoniekonzept auf der Benutzeroberfläche.
3.6 Kriterien der Kanonizität Die Frage nach den Kriterien für die Kanonizität einer Schrift wird bewusst am Ende - im Rückblick auf Struktur und Geschichte des Kanons - gestellt. Gemäß der Mainstreamforschung sind die apostolische Verfasserschaft einer Schrift und die Übereinstimmung mit der regula fidei ("Glaubensmaßstab"), also ein personales sowie ein sachliches Prinzip, ausschlaggebend dafür gewesen, einer Schrift Kanonizität zuzusprechen (H. VON LIPS, Kanon 114-116). Im Blick auf die Geschichte des Kanons zeigt sich aber, dass weder der Inhalt allein noch die Zuschreibung an einen Apostel oder Apostelschüler einer Schrift kanonische Qualität verliehen haben. De facto waren es ganz andere Kriterien, die im Kanonisierungsprozess des 2. Jh. ausschlaggebend geworden sind. Sie hängen mit der Benutzung der jeweiligen Schriften durch bestimmte Gruppen bzw. Theologen zusammen: (1) Die Wertung der (bevorzugten) Schriften im Verhältnis zu anderen. Markion ist das beste Beispiel dafür: Er hat in seiner Paulusbriefsammlung zwei-
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[eisfrei apostolische Schriften zusammengestellt. Auch seinem Evangelium verbürgt der spätere Kanon die Autorität eines Apostelschülers und Paulusbegleiters, eben des Lukas. Alle Schriften des Markion werden in den Kanon integriert - und damit als kanonisch abgesegnet. Markions Schriften entsprechen inhaltlich also durchaus der regula fideL Was Markions Schriftensammlung suspekt macht, ist nicht der Inhalt der von ihm gesammelten Schriften, sondern: einerseits der Exklusivitätsanspruch, den Markion auf seinen Kanon erhebt - und damit zugleich anderen Schriften die Kanonizität abspricht; andererseits, dass er nur eine einzige Interpretationsrichtung, ausgehend von den pln Briefen, fiir die christliche Urbotschaft zulässt - und von daher bereits innerhalb der von ihm gesammelten Schriften bestimmte Textpassagen selektiert. Damit ist im Blick auf den orthodoxen Kanon ein (formales) Negativkriterium gewonnen: Kanonizität wird verweigert, wenn fiir eine bestimmte Schriftenauswahl und einen bestimmten Interpretationsansatz der Urbotschaft Exklusivität beansprucht wird. (2) Texte und Gruppen. Die (behauptete) apostolische Verfasserautorität ist bei weitem keine Garantie fiir die Anerkennung einer Schrift als kanonisch. Entscheidend sind letztlich die Gruppen, die ihre Formation in Theologie und Praxis mit einer bestimmten Schrift begründen. Wird die theologische Richtung bzw. Praxis dieser Gruppe nicht akzeptiert, dann gerät automatisch auch die evtl. "apostolische" Schrift in Verruf. Beispiel 1: Serapion, um 200 n. Chr. Bischof von Antiochia, kommt bei einer Visitationsreise in eine Gemeinde, die das Petrusevangelium liest. Er akzeptiert das. Erst als er erfährt, dass auch gnostische Gruppen dieses Evangelium lesen, verbietet er seiner Gemeinde die Lektüre (Eus., Hist Eccl VI 12,2-6; vgl. E. JUNOD). Beispiel 2: Sogar das JohEv konnte in Verruf kommen. Gewisse Kreisevon Bischof Epiphanius von Salamis (4. Jh.) werden sie "Aloger" (Menschen ohne Verstand) genannt - schreiben es dem Gnostiker Kerinth zu und halten es für den liturgischen Gebrauch nicht für würdig. Die eigentlichen Ursachen dafiir sind nicht ganz klar. Vordergründig wird die Diskrepanz zu den synoptischen Evangelien hochgespielt (Epiph., Haer 51,3f.). Hintergründig geht es um die Ablehnung der montanistischen Gruppen, die den im JohEv versprochenen Parakleten unter sich wirken sehen. In Rom wird die Kampagne von einem gewissen Gaius (198-217 n. Chr.) geführt (-+ 3.4.2; differenzierte Darstellung: A. MARJANEN). Damit ist ein Rezeptionskriterium gewonnen: Es ist nicht in erster Linie der Inhalt einer bestimmten Schrift, der über deren Kanonizität entscheidet, sondern vielmehr der Gebrauch dieser Schrift durch bestimmte Gruppen. Eine gnostisierende Interpretation wird nicht akzeptiert. Die Abwehr gegen gnostisierende Tendenzen zeigt sich zwar bereits in den Spätschriften des NT (vgl. 1 Tim 4,2f.; 1 Joh 4,2f.). Während der Sammlungsphase der christlichen Schriften jedoch findet Auseinandersetzung und inhaltliche Abgrenzung statt.
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Während der Kanonisierungsphase dagegen kommen die Schriften derjenigen Gruppen in Verdacht, die gnostisierende Tendenzen zeigen. Oder es werden die Schriften, auf die sich missliebige Gruppen besonders beziehen, entsprechenden Häretikern zugeschrieben und damit die Gruppen in die gleiche Ecke gestellt. Beide Kriterien hängen also mit Gruppenformationen und deren Begründung durch einen bestimmten Schriftgebrauch zusammen. Es ist der tatsächliche Gebrauch der jeweiligen Schrift, der ihre "Apostolizität" verbürgt bzw. ihre Konformität mit der regula jidei bestätigt. Dabei bewährt es sich, dass nach neuesten Forschungen mit regula jidei nicht einfach die Vorform von späteren Bekenntnissen gemeint ist, sondern das in der Kirche Maßgebliche und Normative (H. OHME). Sowohl das formale wie das inhaltliche Kriterium lassen sich nur negativ formulieren. Beide markieren die äußerste Grenze des Tolerierbaren: (1) Inhaltliches Kriterium: Wer die gute Schöpfung leugnet und damit den Schöpfergott des AT als Gott Jesu und wer das wahre Menschsein des von Gott gesandten Logos leugnet, kann nicht im Rahmen des Kanons sein. (2) Wer - innerhalb dieses inhaltlich abgesteckten Grenzzauns - die eigene Schriftenauswahl oder den eigenen Interpretationsansatz absolut setzt und sich dem Nebeneinander verschiedener theologischer Ansätze verschließt, kann keine Kanonizität fur sich beanspruchen. Anders gesagt: Der Kanon, so wie er im 2. Jh. konstruiert wurde, garantiert über seine Struktur das mögliche Nebeneinander verschiedener Gruppen, die sich ftir ihre eigene Gruppenformation auf bestimmte Texte stützen - allerdings mit der Verpflichtung, andere Gruppen, die ihre Gruppenformation auf andere Texte stützen, ebenfalls gelten zu lassen. Dabei ist entscheidend, dass bei der Adaption der Schriften auf die eigene Praxis - in Analogie zum AT, wo die Tora Basis jeder weiteren Traditionsentwicklung bleibt - jeweils die Evangelien die Ausgangsbasis bilden, dagegen eine Selektion auf Grund einer der "Weiterschreibungen" der Evangelien in den Briefen nicht geduldet wird. Im Blick auf den fixierten Kanon als Ausgangskriterium ftir die Feststellung der Kanonizität späterer theologischer Entwürfe, die sich auf den Kanon berufen, ergibt sich konsequenterweise: Die Glaubensgemeinschaft bewacht selbst die Kanonizität ihrer einzelnen Gruppen. Mit der Entscheidung fur das Clusterprinzip (Evangelium plus Fortschreibungstext) wurde die Entscheidung ftir eine plurale Fortschreibung einer in sich pluralen Urbotschaft getroffen. Solange dieser Richtungssinn beim Schriftgebrauch ftir die eigene Gruppenformation beachtet wird, stehen alle Möglichkeiten offen. In Treue zu diesem "Kanonprinzip" können nur diejenigen Gruppen ftir nicht kanonisch erklärt werden, die beim Gebrauch der Schriften am Schöpfungsprinzip bzw. an der wahren Menschheit des gottgesandten Jesus rütteln oder nicht zulassen, dass andere Gruppen andere Schriften bevorzugen als sie selbst, und sich damit der Vielfalt der möglichen theologischen Ansätze verweigern. Der Kanon stellt die Plattform fur ein differenziertes Christentum bereit, das auf der kulturell
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unterschiedlich geprägten Wirkungsgeschichte der Verkündigung Jesu und der ersten Gemeinden aufbaut. Die Differenzierungen, die sich in diesem Prozess entwickelt und in konkreter Praxis niedergeschlagen haben, wurden durch den Kanon sanktioniert - unter der Bedingung, dass es zu keinem gegenseitigen Ausschluss kommt. Literatur Einzelstudien: B. ALAND, Marcion. Versuch einer neuen Interpretation, in: ZThK 70 (1973) 420-447. B. ALAND, Art. MarcionlMarcioniten, in: TRE XXII (1992) 89-101. K. ALAND, Das Problem des neutestamentlichen Kanons, in: Ders., Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes (ANTT 2), Berlin 1967. DERS.lB. ALAND, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modemen Textkritik, Stuttgart 21981. G. ARAGIONF/E. JUNoo/E. NORELLI (Hrsg.), Le canon du Nouveau Testament. Regards nouveaux sur l'histoire de sa formation (Le monde de la Bible 54), Genf 2005. 1. AsSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 42002. T. BAARDA, Tbe Diatessaron of Tatian. Source for an Early Text at Rome or Source of Textual Corruption?, in: C.-B. AmphouxlJ. K. Elliott (Hrsg.), The New Testament Text in Early Christianity. Proceedings of the Lilie Colloquium, July 2000 (Histoire du Texte Biblique 6), Lausanne 2003, 93-138. J. BARTONIM. WOLTER (Hrsg.), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons I Tbe Unity of Scripture and the Diversity of the Canon (BZNW 118), Berlin 2003. H. BLANCK, Das Buch in der Antike (Beck's Archäologische Bibliothek), München 1992. D. BRAKKE, Canon Formation and Social Conflict in Fourth-Century Egypt. Athanasius of Alexandria's Thirty-Ninth Festal Letter, in: HTbR 87 (1994) 395419. N. BROX, Tendenzen und Parteilichkeiten im Osterfeststreit des zweiten Jahrhunderts, in: Ders., Das Frühchristentum. Schriften zur Historischen Theologie, Freiburg i. Br. 2000, 107-141. H. CANCIK, Kanon, Ritus, Ritual - Religionsgeschichtliche Anmerkungen zu einem literaturwissenschaftlichen Diskurs, in: M. Moog-GrUnewald (Hrsg.), Kanon und Theorie (Neues Forum fiir Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 3), Heidelberg 1997, 1-19. H. VON CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel. Mit einem Nachwort von Christoph Markschies (BHTh 39), unver. ND Tübingen 2003. S. D. CHARLESWORTH, T. C. Skeat, p 64 + 67 and p 4, and the Problem of Fibre Orientation in Codicological Reconstruction, in: NTS 53 (2007) 582-604. E. J. Epp, The Codex and Literacy in Early Christianity and at Oxyrhynchus. Issues Raised by Harry Y. Gamble's Books and Readers in the Early Church, in: Critical Review of Books in Religion 10 (1997) 15-37. E. EVANS (Hrsg.), Tertullian. Adversus Marcionern. Books 4 and 5, Oxford 1972. W. R. FARMERID. M. FARKASFALVY, The Formation ofthe New Testament Canon. An Ecumenical Approach (Theological Inquiries. Studies in Contemporary Biblical and Theological Studies), New York (NY) 1983. H. Y. GAMBLE, Books and Readers in the Early Church. A History of Early Christian Texts, New Haven (CT) 1995. G. GARLEFF, Urchristliche Identität in Matthäusevangelium, Didache und Jakobusbrief(Beiträge zum Verstehen der Bibel 9), Münster 2004. M. D. GROOTE, Die Johannesapokalypse und die Kanonbildung im Osten, in: ZKG 116 (2005) 147-160. G. M. HAHNEMAN, The Muratorian Fragment and the Development ofthe Canon (OTM), Oxford 1992. A. VON HARNACK, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche (TU 45), Leipzig 21924. T. K. HECKEL, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999. M. BENGEL, Die Evangelien-
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A. Einfiihrung
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A.II. Der Text des Neuen Testaments (Stefan Schreiber)
Wer mit einiger Mühe das klassische Griechisch erlernt hat, mag sich freuen, nun das NT "im Original" lesen zu können. Doch der Sachverhalt ist komplizierter: Wir besitzen keine einzige Originalhandschrift eines urchristlichen Autors wie Paulus oder "Lukas". Das entspricht übrigens auch dem Befund für alle anderen Werke der klassischen antiken oder frühkirchlichen Literatur. Das Beschreibmaterial war nur bedingt haltbar, und die ersten Leserinnen und Leser eines Schriftstücks, das später Bestandteil des NT werden sollte, dachten nicht an eine gezielte Sammlung; der Wert eines Textes lag in der konkreten Benutzung als Antwort auf existentielle Fragen - und nicht in einer materialen Dignität. Die Schwierigkeiten mit der ntl Textüberlieferung gründen in der Tatsache, dass eine Vielzahl späterer Abschriften erhalten ist, die mehr oder weniger große Unterschiede untereinander aufweisen. Die Ausgaben des griechischen Textes des NT, die uns heute vorliegen und die :zumindest mittelbar das kirchliche Leben prägen, enthalten alle einen von Wissenschaftlern rekonstruierten Text. Dieser Text ist durchaus zuverlässig, aber doch immer wieder kritisch zu prüfen und zu diskutieren.
I. Bestand: die Ordnung der Handschriften Im Vergleich zur sonstigen Literatur aus der Antike, wo meist nur wenige und oft späte Abschriften eines Werkes erhalten sind, erweist sich die Textbasis für das NT als wesentlich günstiger: Wir besitzen eine große Zahl verschiedener Handschriften, viel mehr als von jedem anderen Werk der antiken literatur. Die älteste ist wahrscheinlich ein kleines Papyrusfragment (p S2), das Teile von loh 18,31-33.37f. enthält und wohl aus der ersten Hälfte des 2. Jh. stammt. Heute kennen wir etwa 5500 einzelne Handschriften, die zum großen Teil nur wenige Fragmente, teilweise aber auch das vollständige NT umfassen. Die Einteilung der Handschriften folgt keiner strengen Logik, sondern ist durch den wissenschaftlichen Usus geprägt. Sie orientiert sich am Beschreibstoff (Papyri), an der Schreibweise (Groß-/Kleinschreibung: MajuskelnlMinuskeln) und der Buchsorte (Lektionare). Faktisch sind auch Papyri in Großbuchstaben und die Lektionare in Kleinbuchstaben geschrieben, Pergament dient als Beschreibstoff bei allen genannten Kategorien außer den Papyri.
Üblich ist folgende Einteilung der griechischen Handschriften: • Papyri werden mit P und Hochzahl bezeichnet. Meist sind sie sehr alt und besitzen hohen Textwert; sie sind aber alle nur fragmentarisch erhalten. Der
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A. Einführung
Name verweist auf das Beschreibmaterial: aus den Stängeln der Papyruspflanze gewonnene Blätter. Hohes Alter und größerer Textumfang zeichnen die Chester-Beatty-Papyri (p45 p 46 p47 ) und die Bodmer-Papyri (p 66 p 72 p 73 p 74 p 75 ) aus; die ältesten sind p 46 und p 66 (um 200 n. Chr.), von p 75 sind 27 fast vollständige Blätter erhalten. Ebenfalls alt sind p 90 (enthält Joh 18,36-19,1; 19,2-7), pl04 (Mt 21,34-37.43-45) und evtl. p98 (Offb 1,13-20), alle aus dem 2. Jh. (!), um 200 p64+67, Ende 2. Jh./Anfang 3. Jh. p77 (Mt 23,30-39) und pl03 (Mt 13,55f.; 14,3-5). Ein beträchtlicher Teil aller erhaltenen Papyri stammt aus der ägyptischen Stadt Oxyrhynchos, wo sie (mit tausenden anderer Texte) auf den antiken Müllhalden die Jahrhunderte überdauerten - so traten zuletzt pIOO_pIlS zum Bestand der ntl Papyri hinzu (heute alle in Oxford). Die Zählung ist nun bei pll6 angekommen, einem kleinen Fragment aus dem 6./7. Jh., das Hebr 2,9-11; 3,3-6 enthält (dazu A. PAPATHOMAS; S. SCHREIBER).
Einige Realien zum Beschreibmaterial: Die Stängel der Papyruspflanze, die in Ägypten in der Umgebung des Nils stark verbreitet war, wurden in feine Schichten geschnitten, diese quer übereinander gelegt und verleimt, so dass nach dem Pressen, Trocknen und Glätten einzelne Papyrusblätter entstanden. Etwa 20 solcher Blätter verband man zu einer Rolle, wobei üblicherweise nur die Innenseite einer Rolle beschrieben wurde, da dort die horizontale Richtung der Papyrusfasern das Schreiben erleichterte. Geschrieben wurde in mehreren senkrechten Kolumnen. Papyrus als Beschreibstoff dominierte bis ins 4. Jh., dann setzte sich Pergament durch, das aus Tierfellen hergestellt und damit haltbarer war; erst ab dem 12. Jh. wird Papier üblich. Eine Besonderheit der christlichen Handschriften stellt die Form des Codex dar (vergleichbar dem heutigen Buch): Als einfachste Ausführung faltete man einen Papyrusbogen in der Mitte, legte einige Bögen ineinander und vernähte sie im Falz. Berühmt geworden sind die ältesten erhaltenen Exemplare - Papyrus Chester Beatty II (p46 , um 200, heute teilweise in Dublin, Chester Beatty Library) und Papyrus Bodmer XIVfXV (p 75 , 3. Jh., seit 2006 im Besitz der Vatikanischen Bibliothek). Meist wurden mehrere Einzellagen verbunden, wobei sich die bis heute im Buchdruck gängige Zahl von vier Bögen (= 16 Seiten) pro Lage durchgesetzt hat. Die Lagen wurden dann am Rücken vernäht, so dass ein "Buch" entsteht. Rätselhaft bleibt die Frage, warum die frühen Christen diese Form wählten. Neben äußerer Unterscheidung von der Umwelt, praktischerer Handhabung (z. B. auf Reisen) oder wirtschaftlichen Gründen (das teure Material war vorne und hinten beschreibbar) spiegelt die Form des Codex, die v. a. für Alltagstexte wie Notizen und Rechnungen gebraucht wurde, vielleicht schlicht das soziale Milieu der frühen Christen wider. • Majuskeln sind durch eine arabische Zahl mit vorangestellter Null bezeichnet (03), teilweise zusätzlich durch einen hebräischen, lateinischen oder griechischen Großbuchstaben (B). Ihr Name verdankt sich der Schreibweise ausschließlich in Großbuchstaben, wobei sie keine Wortzwischenräume setzen (scriptio continua). Beschreibmaterial ist Pergament. Sie bieten größere Text-
A.1I. Der Text des Neuen Testaments (Stefan Schreiber)
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komplexe, teilweise sogar das vollständige NT. Die rur die Textrekonstruktion bedeutendsten Majuskeln sind: Codex Sinaiticus (It 01)
4. Jh., vollständiges NT
heute in London (British Library)
Codex Alexandrinus (A 02)
5. Jh., vollständiges NT mit Lücken
London (British Library)
Codex Vaticanus (B 03)
4. Jh., vollständiges NT, bricht mit Hebr 9,14 ab 5. Jh., vollständiges NT mit großen Lücken
Vatikanische Bibliothek in Rom
5. Jh., Evangelien und Apg, mit Lücken
seit 1581 im Besitz der Universität Cambridge
Codex Ephraemi Syri rescriptus (C 04)
Codex Bezae Cantabrigiensis (D 05)
Paris (Nationalbibliothek)
von Tischendorf (vgl. unten) 1844/1859 im Katharinenkloster auf dem Sinai entdeckt; hoher Textwert (steht aber hinter dem Codex Vaticanus zurück) Textwert bei den Evangelien niedrig, sonst hoch (basiert offenbar auf unterschiedlichen Vorlagen} sehr hoher Textwert, bedeutendste Majuskel (mit p 7S verwandt) ein Palimpsest: eine Handschrift des NT wurde abgewaschen und im 12. Jh. mit Traktaten Ephraems des Syrers überschrieben; mittels Ultraviolettfotografie ist der ursprüngliche Text wieder lesbar nach dem früheren Besitzer Theodor Beza (vgl. unten) benannt; Bilingue (Iateinisch-griechische Ausgabe); begrenzter Textwert: eigenwillige Zufilgungen, aber auch Streichungen und Änderungen im Ik Doppelwerk (nicht zu verwechseln mit dem Codex CIaromontanus D 06: enthält Paulusbriefe)
Zu den Majuskeln zählt übrigens auch das in Dura Europos gefundene Diatessaron-Fragment (- A.I.), das als Majuskel 0212 (aus dem 3. Jh.; heute in New HavenlUSA, Yale Universität) zu den ältesten Textzeugen gehört, die wir besitzen; es enthält nur Mt 27,56f.; Mk 15,40.42; Lk 23,49-51.54; Joh 19,38 . • Minuskeln werden mit arabischen Ziffern bezeichnet. Sie begegnen ab dem 9. Jh. und sind in Kleinbuchstaben mit Wortzwischenräwnen, Satzzeichen und Akzenten geschrieben. Zahlreiche Abbreviaturen (Abkürzungen) und Ligaturen (Verbindungen von Buchstaben), besonders in den Vor- und Endsilben, erschweren das Entziffern. Bekannt sind über 2.800 Minuskeln, von denen die meisten (ca. 80%) den byzantinischen Text bieten. Einige Minuskeln bewahren aber auch alten, wertvollen Text, z. B. die Minuskeln 33, 1739 und 2427. In den Minuskelfamilien j' und j/3 sind etliche Minuskeln, die entstehungs-
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A. Einführung
geschichtlich voneinander abhängen, also alle eine Vorlage repräsentieren, zusammengefasst. • Lektionare werden mit I und einer Zahl bezeichnet. Es handelt sich um Bücher für den Gottesdienst, die Perikopen aus dem NT in der Reihenfolge zusammenstellen, die den kirchlichen Leseordnungen entspricht. Daher existieren viele verschiedene Typen: Lesungen für Sonntage, für Wochentage etc. Die Lektionare enthalten fast ausschließlich den byzantinischen Text, besitzen damit eher geringe textkritische Bedeutung. Erhalten sind auch alte Übersetzungen, v. a. in die lateinische, syrische und koptische Sprache, daneben auch armenische, georgische, äthiopische und weitere Übersetzungen. Sie können zum Vergleich herangezogen werden.
2. Entstehung: der Prozess der Textüberlieferung Erste Abschriften von Paulusbriefen wurden nötig, als unter den Gemeinden der Wunsch nach einem Austausch der Briefe erwachte (vgl. Kol 4,16). So kannte z. B. I Clem um 96 n. Chr. Röm, I Kor und Hebr, die wohl in Rom in Abschriften als kleine Sammlung vorhanden waren. Ab der Mitte des 2. Jh. stieg die Nachfrage stärker an, weil das Vorlesen urchristlicher Schriften in der Versammlung, im Gottesdienst üblich wurde. Jede neu gegründete Gemeinde benötigte dazu Abschriften der Evangelien und der Briefe. So entstehen die ersten ntl Handschriften, ganz zu Anfang als "Kopien" des Originals, bald als Abschriften von Abschriften. Aus der Zeit, in der solche frühen Sammlungen von urchristlichen Schriften, v. a. der Paulusbriefe, entstanden, stammen auch die ältesten Textzeugen: meist auf Papyrus (selten Pergament) geschriebene Handschriften aus dem 2. bis 4. Jh. Fast alle haben sich in Ägypten erhalten, denn der trockene, heiße Wüstensand bewirkte eine Konservierung des empfindlichen Papyrus. Diese Handschriften bezeugen einen frühen Text des Neuen Testaments und sind bei der Rekonstruktion des Urtextes von hohem Wert, da sie sehr alt sind. Die weitere Entwicklung vollzieht sich am Übergang vom 3. zum 4. Jh. mit der 40-jährigen Friedenszeit zwischen dem Ende der decisch-valerianischen (250/260) und dem Beginn der diocletianischen (303) Verfolgung von Christen, und dann endgültig mit der sog. Konstantinischen Wende (313), die die staatliche Anerkennung des Christentums brachte. Nun nahm die Zahl der Christengemeinden erheblich zu, zugleich waren die meisten Handschriften während der Verfolgungen, teilweise in öffentlichen Verbrennungen, vernichtet worden, so dass eine große Nachfrage entstand. In eigens dafür eingerichteten christlichen Skriptorien wurden Handschriften des NT jetzt planmäßig und in größerem Umfang kopiert, d. h. manuell abgeschrieben, und verbreitet; in diese Zeit fällt auch die Abfassung der großen Pergamenthandschriften ~, A, B. Das hatte zur Folge, dass der Text einer einflussreichen Ortskirche mit großen Skriptorien eine vergleichsweise weite Verbreitung fand.
A.II. Der Text des Neuen Testaments (Stefan Schreiber)
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Bis vor kurzem ging die Forschung davon aus, dass sich (zumindest ab etwa 300 n. Chr.) Textformen durchsetzten, die fLir einzelne Kirchenregionen prägend wurden: Der alexandrinische Text
aus Ägypten
Der byzantinische (Reichs-)Text oder Koine-Text aus Antiochia (und Konstantinopel)
Der D-Text (früher: westlicher Text)
besitzt großen Textwert wegen seines hohen Alters und der sorgfältigen Überlieferung; Grundlage u. a. p46 und p66 (um 200) eine Abwandlung dieser Textform mit geringfugigen Veränderungen bildet den ägyptischen Text allgemeine (koine = allgemein), d. h. weite Verbreitung: beherrschte ab dem 9. Jh. die byzantinische Kirche stärkere Textveränderung: stilistische Verbesserungen, Ausgleich verschiedener Lesarten, Erleichterungen des Verständnisses Textwert im Vergleich zum alexandrinischen Text an etlichen Stellen geringer, an anderen Steilen aber alter Text zuverlässig überliefert unbekannte Entstehung (im Osten des römischen Reiches) basiert auf ausgezeichneter Textvorlage, aber besonders an LkEv und Apg starke Veränderungen und Hinzufugungen (Apg wird deutlich länger!) Textwert nur dort hoch, wo Übereinstimmung mit dem alexandrinischen Text
dazu gehören p75 (Anfang 3. Jh.) und die wichtigen
Majuskeln Kund B, auch A (ab Apg), sowie die Minuskeln 33 (ab Apg) und 1739 (bei den Paulusbriefen) die meisten heute bekannten Handschriften zählen zu dieser Textform
Vertreter: Codex Bezae Cantabrigiensis (D 05); frühe lateinische Kirchenschriftsteller wie Tertullian und Cyprian und alte lateinische Übersetzungen
E. J. Epp (Issues 660f.) unterscheidet ZUSätzlich einen C-Text (speziell fur das MkEv), der durch p 45 und W repräsentiert ist, aber nicht weiter überliefert wurde (früher sprach man von einem cäsareensischen Text); sein Profil verorte den C-Text zwischen alexandrinischem Text (Epp: B-Text) und D-Text. Umstritten ist das Alter dieser Textformen. Nach K. ALAND/B. ALAND (vgl.
J. H. PETZER) lässt sich innerhalb des frühen Textes, also vor 300 n. Chr., ein relativ fester Text, der von zahlreichen Papyri in großer Übereinstimmung bezeugt wird, von freien TextüberIie[erungen unterscheiden; erst ab 300 bilden sich angesichts der Vervielfachung von Abschriften allmählich die verschiedenen Textformen heraus. E. J. EpP (Issues 662--666) und andere, v. a. amerikanische, Forscher hingegen sehen die Entstehung und Entwicklung der Textformen B-Text und D-Text bereits im 2. Jh., weil sie die an den großen
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A. Einftlhrung
Majuskeln des 4.15. Jh. erkennbaren Textfonnen bereits in den frühen Papyri angelegt finden. Der fragmentarische Überlieferungszustand vieler Papyri erschwert dabei freilich sichere Aussagen. Die Existenz der großen Textformen ist bei beiden Modellen prinzipiell anerkannt. Doch genau diese Einteilung in wenige große, lokal eingeordnete Textformen, die lange den Konsens der Forscher bestimmte, ist heute fraglich. Derzeit bahnt sich ein grundlegender Umbruch an, weil neueste Forschungen in Deutschland und den USA erstmals in der Lage sind, von einer vollständigen Kenntnis der Gesamtüberlieferung auszugehen; erste Auswertungen zeigen, dass die Abgrenzung dieser Textfonnen auf immer größere Schwierigkeiten stößt (mündliche Mitteilung des Leiters des Instituts für Neutestamentliche Textjorschung in Münster, H. Strutwolf; erste Ansätze in Bezug auf die Papyri bei E.1. EpP, Issues 682-691, der unter Verzicht auf lokale Zuordnung von B/CID-Text spricht). Stattdessen geht man zu einer streng genealogischen Sichtweise über: Man konzentriert sich auf die inhaltliche Verwandtschaft der einzelnen Handschriften, ohne dass dabei der Ort der Abschriften und die Zuordnung zu einem Texttyp entscheidend wären; die Stellung der individuellen Handschriften und des in ihnen gebotenen Textes im Fluss der Überlieferung tritt in den Vordergrund. Die Existenz einiger weniger fester Textfonnen wird fraglich. Ein einfaches Modell lässt sich dann nicht mehr zeichnen. Die Abhängigkeitsverhältnisse sind viel komplexer und werden die Forscherarbeit der nächsten Generation bestimmen. 3. Forschung: eine kleine Geschichte der modemen Textkritik am NT Nachdem in den Kirchen des Westens bis in die Neuzeit hinein die lateinische Vulgata die Bibelrezeption dominierte (der Osten kennt eine kontinuierliche griechische Texttradition), erwachte im Humanismus neues Interesse an den eigentlichen Quellen des NT in der Ursprache Griechisch. So gab Erasmus von Rotterdam (t 1536) das erste griechische NT in einer Druckausgabe 1516 bei Froben in Basel heraus, das freilich auf einer zufälligen und sehr engen Auswahl an griechischen Handschriften (und einer recht willkürlichen Arbeitsweise des Meisters) basierte, nichtsdestotrotz dem Editor und dem Verleger Ruhm und Gewinn der Erstausgabe sicherte. Es war weitgehend die byzantinische Textfonn (Koinetext), die dadurch zugänglich wurde. Das änderte sich auch in der Folgezeit nicht wesentlich, so dass diese Textform für über 300 Jahre zum Standard wurde und nahezu "kanonische" Bedeutung gewann (sog. Textus receptus). Einflussreich waren die Ausgaben des Franzosen Robert Estienne (Stephanus, 1503-1559) von 1550/51, wo auch zum ersten Mal innerhalb der einzelnen Kapitel der nt! Bücher eine Verszählung vorgenommen wurde. Großen Einfluss und hohe Akzeptanz erfuhren die neun Ausgaben des Genfer Theologen und Kirchenleiters Theodor Beza (1519-1605) zwischen 1565 und 1604.
A.II. Der Text des Neuen Testaments (Stefan Schreiber)
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Zugleich jedoch begann die Suche nach weiteren griechischen Handschriften, die man in verschiedenen Bibliotheken Europas vermutete. Und da man häufig fündig wurde, konnten z. B. Johann Saubert 1672 diverse Varianten zum Textus receptus sammeln, John MiJI 1707 in Oxford eine Bibelausgabe mit zahlreichen Varianten drucken und der Franzose Richard Simon (1638-1712) seinen Text auf philologische VergLeiche aller ihm erreichbaren griechischen Manuskripte stützen. Mit ihm beginnt die wissenschaftlich fundierte Textkritik, die in der Folgezeit ihre Methode schrittweise verbessern konnte. So gelang es Johann Albrecht Bengel in Tübingen (1687-1752), die Menge der Handschriften genealogisch in Gruppen und Familien einzuteilen und bestimmte Textformen bestimmten geographischen Gebieten zuzuordnen - was sich über Generationen als Konsens etablierte, der erst gegenwärtig wieder infrage gestellt wird. Eine Bewertung der Varianten und damit eine wissenschaftliche Begründung des Textes wurden möglich. In größere Kreise Eingang gefunden hat ein auf diese Weise rekonstruierter Text gegenüber dem beherrschenden Textus receptus nach den wichtigen Ausgaben von Johann Jakob Wettstein (1693-1754) von 1751/52 und Johann Jakob Griesbach (17451812) von 1775/77 freilich erst mit der Arbeit des Klassischen Philologen Karl Lachmann in Berlin (1793-1851). Neue Handschriften entdeckte Constantin von Tischendorf (1815-1874) bei Expeditionen in Palästina, v. a. den wertvollen Codex Sinaiticus im Katharinenkloster auf dem Sinai; im Codex Ephraemi Syri rescriptus, einem Palimpsest, konnte er den ausgelöschten und überschriebenen Text des NT mittels einer Galläpfeltinktur sichtbar machen und entziffern. Wichtige neue Ausgaben konnten entstehen, die jedoch bei ihren Entscheidungen das Gewicht auf unterschiedliche Handschriften(gruppen) legten, so dass die Texte durchaus verschieden ausfielen: Tischendorf 1869/72 (übrigens 1965 noch einmal nachgedruckt!), B. F. WestcottIF. J. A. Hort 1881, Bemhard Weiss 1894-1900, dann Hermann von Soden 1902-1913, der sich freilich wegen problematischer Texttypen und des komplizierten Apparats nicht durchsetzte.
Als bahnbrechend erwies sich das 1898 in Stuttgart veröffentlichte Novum Testamentum graece von Eberhard Nestle, das auf dem einfachen Prinzip des Vergleichs dreier Ausgaben basierte (Tischendorf, WestcottIHort, seit der 3. Auflage 1901: Weiss), damit aber die Ergebnisse der bisher geleisteten textkritischen Arbeit auf geniale Weise kombinierte. Das Endprodukt war ein bemerkenswert zuverlässiger Text, der dem heute anerkannten auf weiten Strecken entspricht. Mit der 13. Auflage von 1927, die der Sohn Erwin Nestle besorgte, erfolgte eine Revision des Textes und v. a. die Zufügung eines textkritischen Apparats, dem die Varianten der griechischen Handschriften, alten Übersetzungen und Kirchenväter zu entnehmen waren. Eine wissenschaftliche Handausgabe entstand, die schnell zum Standard der nt! Wissenschaft avancierte. Seit der 21. Auflage von 1952 erscheint Kurt Aland als Mitherausgeber, und
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A. EinfUhrung
seit dieser Zeit findet eine systematische, auf Nachprüfungen basierende Berücksichtigung aller bekannten Handschriften am Münsteraner Institut für ntI Textforschung statt. Das Ergebnis ist die 26., neu erstellte Auflage von 1979, die im neu organisierten textkritischen Apparat ausführliche, an den in Kopien vorliegenden Handschriften selbst geprüfte Informationen über Varianten in den einzelnen (bedeutsamen) Handschriften liefert. Die Stabilität des so gewonnenen Textes zeigt sich darin, dass auch die 27. Auflage von 1993 diesen Text übernehmen kann und nur im Apparat einige Veränderungen vornimmt. Der "Nestle-Aland" in der 27. Auflage (NA 27) ist derzeit die wissenschaftliche Text- und Arbeitsgrundlage fiir die ntl Exegese. Parallel dazu existiert das "Greek New Testament" (in der 4. Auflage: GNT'), dessen Text mit dem von NA27 identisch ist, das aber ein anderes Apparat-System bietet: Die Bezeugung weniger ausgewählter, bedeutsamer Varianten wird umfassend dargestellt, und ein vierstufiges Bewertungssystem erleichtert dem Nichtfachmann die Einschätzung der Bedeutung einer Variante; das GNT' ist besonders rur die "praktische" Arbeit mit dem griechischen Text, z. B. rur Übersetzer in die Landessprachen, konzipiert. Verantwortlich fUr den Text beider Ausgaben zeichnet heute ein internationales und interkonfessionelles Herausgeberteam. Die textkritische Arbeit geht übrigens weiter: Am Münsteraner Institut entsteht eine große kritische Ausgabe des NT (Editio critica maior) mit vollständiger Erfassung aller Varianten, von der von 1997-2003 einige Lieferungen von Band IV zu den Katholischen Briefen erschienen sind (Jak, 1/2 Petr, I Joh).
Man darf die Etablierung eines neuen Standard-Textes durchaus als Gewinn ansehen, weil dieser Text, anders als der einstige Textus receptus, auf sorgfaltigem Vergleich aller griechischen Handschriften basiert und weil er den Benutzern durch den aussagekräftigen Apparat die Möglichkeit zur Kontrolle des Textes und ggf. abweichender Entscheidung offenhält. 4. Aufgaben: Rekonstruktion der Textgeschichte und des ältesten Textes Die Fülle und die Verschiedenheit der heute bekannten Handschriften bringt es mit sich, dass an etlichen Stellen wesentliche Differenzen im Wortlaut auftreten; daneben sind viele kleine Abweichungen zu verzeichnen. Den meisten dieser Varianten oder Lesarten kommt keine nennenswerte inhaltliche Bedeutung zu, z. B. wenn es sich um Verschreibungen oder Umstellungen handelt. Das häufige Abschreiben erwies sich als unvermeidliche Fehlerquelle. Unabsichtliche Fehler beim Lesen konnten vorkommen und, da häufig nach Diktat abgeschrieben wurde so konnten von einer Vorlage zeitgleich mehrere Kopien angefertigt werden -, auch Schreib- und Hörfehler. Typische Lese- bzw. Hörfehler (dazu K. ALAND/B. ALAND 286293) entstehen v. a. durch Itazismus (im späteren Griechisch wurden die VokalelDiphthonge I, U, 1'\, BI, Ol gleichermaßen wie l ausgesprochen, was Verwechslungen provozierte, z. B. zwischen ~IlEl~ und Ü\lEl~), durch Buchstabenverwechslungen (die griechischen Majuskeln C E e 0, r n T, AA M, /l A erscheinen im Schriftbild jeweils ähnlich), durch Homoioteleuton ("gleiches Ende" von Wörtern oder Satzteilen fUhrt zum Überspringen
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eines Wortes, einer Zeile), durch Dittographie ("Doppeltschreibung" eines Buchstabens, Wortes, Satzteils, weil das Auge zurückspringt) oder Haplographie ("Einfachschreibung" eines doppelten Buchstabens), durch die scriptio continua (verschiedene Wortabtrennungen sind möglich: AAAOII: als aAÄ' OL~ oder ä.AÄOL~ in Mk 10,40). Aber auch bewusste Änderungen sind erkennbar: stilistische oder inhaltliche "Verbesserungen" oder Verdeutlichungen schwieriger Texte, Angleichungen eines synoptischen Textes an den Wortlaut anderer Synoptiker, absichtsvolle Veränderungen aus theologischen bzw. dogmatischen Gründen (vgl. B. D. EHRMAN; D. C. PARKER, Living Text).
Die Vielzahl der Handschriften rordelt aber auch die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass an irgendeiner (vielleicht abgelegenen) Stelle der Textüberlieferung sehr alter Text bewahrt wurde. Man spricht vom Prinzip der Tenazität, der "Hartnäckigkeit", mit der einmal existierender Text sogar gegen überwältigende Varianten festgehalten wird. Aus diesen Einsichten ergibt sich die Aufgabe der Textforschung: Die Rekonstruktion des Textes, der allen Handschriften letztlich zugrunde lag und der dem Original ("Autograph") möglichst nahe kommt. Konkret bedeutet dies den Vergleich aller Handschriften zu einer Stelle (Kollation) und die methodisch geleitete Abwägung, welche Lesart eher ursprünglich ist und was als spätere Verbesserung, Hinzufligung oder allgemein Veränderung deutlich wird. Die Durchflihrung dieses Vergleichs erfordert einen komplexen Arbeitsprozess, der umfangreiche sprachliche und historische Kenntnisse über Alter und Wert der einzelnen Handschriften voraussetzt und letztlich nur noch von hoch spezialisierten Fachleuten zu leisten ist. Daher gründete Kurt Aland 1959 an der Universität Münster/Westfalen das Institutfür Neutestamentliche Textjorschung, dessen Leitung nach seinem Tod an seine Frau Barbara Aland überging und seit 2004 in den Händen ihres Nachfolgers Holger Strutwolfliegt. Dort können die Vergleiche der Handschriften durchgeführt werden, weil eine Sammlung (nahezu) aller bekannten Handschriften (auf Mikrofilm oder Foto) zur Verfügung steht.
Bei der Rekonstruktion des "Urtextes" lassen sich die Forscher von einem Raster an methodischen Regeln, d. h. möglichen Argumenten, leiten, die prinzipiell in der gesamten Philologie Gültigkeit besitzen. Das Verfahren unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen der äußeren Bezeugung, d. h. Alter, Verwandtschaft und Textwert der Handschriften (Regel 1-5), und inneren Kriterien, die eine Abwägung unter inhaltlichen Gesichtspunkten erlauben (Regel 6-9). Dabei ist stets zuerst die äußere Bezeugung zu klären, bevor innere Kriterien heranzuziehen sind. Neun Regeln der Textkritik lassen sich formulieren: I.
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Die bestbezeugte Lesart ist ursprünglich. Es zählt nicht die Menge der Handschriften, sondern ihre Textqualität. K. ALAND/B. ALAND haben dazu eine Einteilung der Handschriften in fünf Kategorien (I-V) entwickelt, die auch dem Nichtfachmann eine Einschätzung erlauben. Die Verwandtschaft der Handschriften ist zu berücksichtigen. Kopien besitzen gegenüber ihrer Vorlage keinen eigenen Textwert. Ist also nachweisbar ~mittels des Kriteriums gemeinsamer Fehler), dass von einer Handschrift
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A. Einfiihrung mehrere Kopien gefertigt wurden, zählen diese zusammen nur so viel wie die Vorlage-Handschrift. Auf diese Weise unterscheidet man z. B. zwei Minuskelfamilien (j'1 und! 13) und den so genannten "Mehrheitstext" (!DI), in dem immer eine große Zahl an Handschriften zusammengefasst ist (u. a. der byzantinische Text). Zeugengruppen sind gegeneinander abzuwägen. Das betrifft die Textformen alexandrinischer, ägyptischer, byzantinischer und DText, wobei ersterer besonders wertvoll ist. Die Wahrscheinlichkeit fiir eine Lesart erhöht sich, wenn sie in mehreren Textformen vorkommt. Freilich wird hier in Zukunft die Verwandtschaft der einzelnen Handschriften stärker zu berücksichtigen sein. Paralleleinfluss und (bei AT-Zitaten) Einfluss der Septuaginta ist zu berücksichtigen. Besonders bei den Synoptikern geschieht es häufig, dass ein Evangelium mit Blick auf eine Parallelstelle "korrigiert" wird. Zusammenhängende Lesarten müssen beachtet werden. In zusammenhängenden Sätzen oder wiederholten Satzteilen kann eine Veränderung_ weitere nach sich ziehen, z. B. ein Wechsel des Tempus. Die schwierigere Lesart (lectio difficilior) ist ursprünglich. Grundgedanke: Die Erleichterung eines schwer verständlichen Textes ist wahrscheinlicher als die Verkomplizierung eines einfachen. Mechanisch zu handhaben ist diese Regel freilich nicht. Die kürzere Lesart (lectio brevior) ist ursprünglich. Grundgedanke: Eine Erweiterung, Ergänzung, Erklärung etc. eines Textes, besonders wenn es sich um einen wichtigen "Basistext" einer Gemeinschaft handelt, ist wahrscheinlicher als eine Auslassung oder Verkürzung. Auch diese Regel darf nicht mechanisch gehandhabt werden; bei den frühen Papyri trifft sie faktisch nicht zu 1v~1. E. J. Epp, Issues 650-6531Es muss Einklang mit dem Kontext bestehen. Eine Variante, die im Widerspruch zu ihrem unmittelbaren Kontext steht oder zu den Gedanken der Schrift, in der sie vorkommt, kann kaum ur~rünglich sein. Aus der bevorzugten Lesart müssen sich die Varianten erklären lassen. Man versucht, quasi als Gegenprobe, eine kleine Textgeschichte einer bestimmten TextsteIle zu rekonstruieren: Wenn sich aus einer Lesart die anderen Lesarten plausibel ableiten und erklären lassen, ist sie wahrscheinlich ursprünglich.
Konjekturen sind ultima ratio und spielen faktisch tUr die ntl Textkritik heute keine Rolle mehr. Eine Konjektur ist eine hypothetische Textrekonstruktion, tUr die kein Textzeuge vorliegt - sie wird von einem Forscher erschlossen. Dies ist nur dann gerechtfertigt, wenn die zur Verfilgung stehenden Handschriften überhaupt keinen sinnvollen Text ergeben. Eine Konjektur kann nötig werden, wenn nur sehr wenige Handschriften eines antiken Werkes vorliegen. Bei der Fülle der Handschriften zum NT sind Konjekturen nicht mehr gerechtfertigt.
Wichtig ist die Faustregel: Eine textkritische Entscheidung ist umso zuverlässiger, je umfassender sie von der Anwendung der einzelnen Regeln getragen wird, d. h. je mehr Regeln für sie sprechen. Dabei können innere Kriterien allein eine textkritische Entscheidung schwer begründen. Aufgabe der Textforschung bleibt natürlich auch in Zukunft die Suche nach dem ältesten Text des NT, doch lässt sich diese Aufgabe angesichts des For-
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schungsstandes als Untersuchung der frühen Textüberlieferung im 1./2. Jh. konkretisieren. Zunehmend entdeckt die Textforschung aber auch ein weiteres Arbeitsfeld: Die Entwicklung des NT-Textes als Indikator für Entwicklungen in der Geschichte christlichen Denkens und Lebens zu verstehen und die Wechselwirkungen von Textgeschichte und Kirchengeschichte näher zu analysieren (z. B. B. ALAND, Rolle; D. C. PARKER, Living Text).
5. Einige Ergebnisse: Beispiele
(1) Der kanonische Mk-Schluss: Die bedeutendsten Handschriften (N, B) beenden das MkEv mit Mk 16,8 (Regel 1). Damit liegt auch die kürzere Lesart vor (Regel 7). Von den übrigen Handschriften bietet eine altlateinische Übersetzung einen kürzeren Schluss, die große Mehrheit ("Mehrheitstext") einen längeren Schluss, den "kanonischen" Markusschluss Mk 16,9-20 (vgl. Regel 2 und 3), und einige wenige Handschriften beide Schlüsse; die verschiedenen Varianten erklären sich am besten aus dem ursprünglichen Fehlen eines Schlusses, das später als Defizit empfunden und korrigiert wurde (Regel 9). Beim (sekundären) Schluss Mk 16,9-20 ist überdies der Einfluss der Erscheinungserzählungen aus den anderen Evangelien sichtbar (Regel 4). Zudem kann man das abrupte Ende und das irritierende Schweigen der Frauen in 16,8 als schwierigere Lesart verstehen (Regel 6). Fazit: Das MkEv endete ursprünglich mit 16,8. (16,9-20 zählt zum katholischen Kanon, den das Konzil von Trient am 8. April 1546 als Antwort auf die Bibelausgaben der Reformation definierte: Basis ist der Bestand der Vulgata.) (2)Jesus und die Ehebrecherin Joh 7,53-8,11: Die äußere Bezeugung ist hier sehr deutlich (Regel 1-3): Eine ganze Reihe der besten Handschriften enthält die Perikope nicht (p66 .7S N B 33 und viele andere griechische Handschriften, auch etliche Übersetzungen), andere Handschriften ordnen sie an verschiedenen Stellen ein - nach Joh 7,36; 21,25; Lk (!) 21,38; 24,53; manche markieren die Perikope mit textkritischen Zeichen als sekundär. Dazu tritt die Beobachtung, dass sich die Perikope in Vokabular und Stil vom Rest des JohEv abhebt und den Zusammenhang von Joh 7,52 und 8,12 eher unterbricht (Regel 8). Weil die Perikope in der christlichen Tradition große Bedeutung besitzt, ist sie in NA 27 im Text belassen, aber durch doppelte eckige Klammem als eindeutig sekundär bezeichnet. Damit ist übrigens keineswegs ausgeschlossen, dass es sich um ein altes (mündliches) Überlieferungsstück handelt, das vielleicht sogar Einblick in das Wirken des historischen Jesus gibt. (3) Das Gespräch Jesu mit den Mitgekreuzigten Lk 23,42: Kommt Jesus "in seine Königsherrschaft (Etc; "ti)v ßaoLA.dav)" (lokal; in den "Himmel") oder "in seiner Königsherrschaft (EV "tu ßaoLA.EI.~)" (modal; auf die Erde)? Die äußere Bezeugung erlaubt keine sichere Entscheidung: Für erstere Lesart stehen p 7S B L (und einige Übersetzungen), für die zweite N A C u. v. a. Innere Kriterien sprechen eher für die lokale Aussage: (a) Die Parallele zum "Paradies" in
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A. Einfilhrung
23,43 weist auf einen himmlischen Ort (keinen Modus des Kommens) (Regel 8). (b) Die Variante erklärt sich als Deutung auf die verbreitete Erwartung der Parusie Jesu (unter dem naheliegenden Einfluss von Mt 16,28) (Regel 9). (4) Das Ende des Röm (detaillierte Darstellung --+ D.II1.2.2). (5) Das Apostelpaar Andronilcus und Junia(s) in Röm 16,7: Ob der Männername "Junias" ('Iouvuxv) oder der Frauenname "Junia" ('IouvLav) zu lesen ist, hängt an einem kleinen griechischen Akzent auf der Akkusativform. Die ältesten Handschriften helfen nicht weiter, da sie (als Majuskeln) keine Akzente enthalten. Die jüngeren Handschriften bezeugen einhellig den Frauennamen (u. a. die wichtigen Minuskeln 33 und 1739) (Regel 1-5). Bedenkt man, dass zur Zeit der Entstehung der Handschriften angesichts der amtstheologischen Entwicklungen in der Kirche eine Apostelin Junia eher als problematisch geIten musste, scheint damit die schwierigere Lesart vorzuliegen (Regel 6). Ein Einklang mit dem Kontext könnte darin bestehen, dass in Röm 16,3f. in paralleler Formulierung (Grußauftrag, Angabe der Beziehung zu Paulus, erklärender Relativsatz) ebenfalls ein Paar gegrüßt werden soll; dann ist eine Frau Junia in 16,7 eher wahrscheinlich (Regel 8). Schließlich lassen sich von "Junia" her die anderen Lesarten gut entwickeln: Die Lesart als Frauenname "JuIia" (P 46 u. a.) kann durch Hör- oder Abschreibfehler bzw. Anwendung eines geläufigeren Namens zustande gekommen sein, der Männername hat kirchenpolitische Gründe (Regel 9). Zudem ist der Männername "Junias" in der Antike bislang nicht belegt, während der Frauenname "Junia" bisweilen begegnet. Im 8. Druck (2001) von NA 27 ist nun Junia endlich als Frau akzentuiert. (6) In 1 Kor 14,341 bietet die Textkritik der Exegese wichtige Hinweise. Inhaltlich fallt auf, dass das Gebot an die Frauen, in der Gemeindeversammlung zu schweigen und sich ihren Männern unterzuordnen, den Gedanken zwischen 14,33 und 14,36 unterbricht und im Widerspruch steht zu der selbstverständlichen Annahme in 11,5.13, dass Frauen in der Versammlung sprechen. Stellt man zusätzlich fest, dass eine solche Übernahme von Sozialstrukturen, wie sie in der antiken Gesellschaft üblich waren, auch in den christlichen Gemeinden der nach-pln Zeit bezeugt ist (vgl. die z. T. wörtlichen Parallelen in Eph 5,22-24; 1 Tim 2,llf.; Tit 2,5; 1 Petr 3,1.5), legt sich der Verdacht nahe, dass hier die Randbemerkung eines frühen Abschreibers in den Text geraten ist. Die Textkritik kann eine solche These insofern unterstützen, als einige griechische Handschriften (D F G) und lateinische Übersetzungen 14,34f. hinter 14,40 bringen, worin sich Unsicherheiten in der Platzierung zeigen; in den frühen Handschriften werden V. 34f. als eigener Absatz dargestellt (u. a. p 46 N A B 33); in einer Vulgata-Handschrift (Codex Fuldensis) verweist ein Siglum nach V. 33 auf V. 36-40 und deutet so an, dass V. 34f. nicht zum ursprünglichen Text gehören; und in B, der wohl bedeutendsten Majuskel, sind V. 34f. durch Siglen als textkritisches Problem markiert (dazu P. B. PAYNE). (7) Bezeichnet Paulus in 1 Thess 2,7 die Missionare von Thessaloniki als T]1TLOL (mild, freundlich) oder metaphorisch als V~1TLOL (Unmündige)? Die
A.\1. Der Text des Neuen Testaments (Stefan Schreiber)
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äußere Bezeugung (Regel 1-3) spricht klar für Letzteres (P6S tt B C D F G u. a.; gegenüber A, Korrekturen in tt C D, 33 u. a.). Zudem handelt es sich bei V~1TLOL um die lectio difficilior (Regel 6): "Unmündige" steht in einer gewissen Spannung zum vorhergehenden Bild der Amme, dreht dieses Bild quasi um; und: TrrrLOL würde als Synonym zu "menschenfreundlich" besser in den Kontext popularphilosophischer Terminologie in 1 Thess 2,1-12 passen. Der Begriff VlTrrLOL begegnet (anders als ~1TLOL) auch sonst bei Paulus (Röm 2,20; 1 Kor 3,1; 13,11; Gal 4,1.3) und könnte im Kontext einer pln Haltung des Angewiesenseins auf Gott stehen (J. WEIMA) (Regel 8). Vielleicht lässt sich der Ausfall des v als Hörfehler (Haplographie) erklären (Regel 9). (8) Als letztes Beispiel will die Parabel von den beiden Söhnen in Mt 21,2832, die nach dem Willen des Vaters im Weinberg arbeiten sollen, zeigen, wie manche Stellen textkritisch unsicher bleiben. Drei grundlegende Textformen sind in 21,29-31 erkennbar: (a) Der erste Sohn sagt zuerst Nein, geht aber dann doch; der zweite sagt zu, arbeitet aber nicht; den Willen des Vaters tut "der erste" (M CL W[133 u. a.). (b) Das Verhalten der Söhne entspricht (a), den Willen des Vaters jedoch tut "der letzte" (0). (c) Der erste Sohn sagt Ja, tut aber nichts; der zweite sagt Nein, geht aber doch; den Willen des Vaters tut "der spätere" bzw. "der letzte" (B e [ 13 700 u. a.). Die äußere Bezeugung spricht klar gegen (b). Man könnte erwägen, ob (b) als schwierigste Lesart anzusehen ist, doch ist diese letztlich unsinnig (erfüllt der, der trotz Zusage die Arbeit verweigert, den Willen Gottes?) und so kaum das Anliegen einer Erzählung. Ob D hier eine antipharisäische Lesart entwickelt die Pharisäer als die, die nur vorgeben, Gottes Willen zu erflillen? Bleiben (a) und (c), zwischen denen die Entscheidung schwerfällt. Zu beachten ist in jedem Fall der Zusammenhang der Lesarten (Regel 5). Das Übergewicht der Zeugen für (a) ist nur sehr gering (Regel 1). Für (a) könnte die bessere Erzähllogik sprechen, denn hätte der erste Sohn bereits bejaht, bräuchte der zweite nicht mehr gefragt zu werden. Die Umstellung in (c) ließe sich mit der Absicht erklären, auf den zweiten Sohn als den gehorsamen durch chronologische Steigerung das erzählerische Gewicht zu legen (Regel 9). Daher steht (a) auch im Text von NA 27 (vgl. B. M. METZGER, Textual Commentary 44-46; K. ALANDIB. ALAND 316-320). Dass dabei Fragen offen bleiben, unterstreicht die Notwendigkeit weitergehender Arbeit der Textkritik und ihrer Zusammenarbeit mit der Exegese der Texte. Literatur Textausgaben: Novum Testamenturn Graece, 27. Auflage (Nestle-Aland), Stuttgart 1993 u. ö. (NA27) (8. Druck 2001). The Greek New Testament, 4. Auflage, hrsg. von B. ALAND u. a., Stuttgart 1993 u. ö. (GNT'). Novum Testamenturn Graecum Editio Critica Maior, hrsg. vom Institut rur neutestamentliche Textforschung MUnster, Bd. 4: Die katholischen Briefe, hrsg. von B. ALAND u. a., Stuttgart 1997-2005 (einzelne Lieferungen).
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A. Einfiihrung
Kommentar: B. M. METZGER, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994 (2. Druck 1998). Eirifiihrungen: K. ALAND/B. ALAND, Der Text des Neuen Testaments. Einfiihrung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie wie Praxis der modemen Textkritik, Stuttgart 21989. K. ALAND, Das Neue Testament - zuverlässig überliefert. Die Geschichte des neutestamentlichen Textes und die Ergebnisse der modemen Textforschung, Stuttgart 1986. B. M. METZGERlB. D. EHRMAN, The Text ofthe New Testament. Its Transmission, Corruption, and Restoration, New York 42005. E. J. Epp, Issues in New Testament Textual Criticism. Moving From the Nineteenth Century to the Twenty-First Century (2002), in: Ders., Perspectives (vgl. unten) 641-697. M. EBNERIB. HEININGER, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch fiir Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn 2005, 25-51. T. SÖDING, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament, Freiburg LBr. 1998, 86-10 1.
Einzelstudien: B. ALAND, Welche Rolle spielen Textkritik und Textgeschichte fiir das Verständnis des Neuen Testaments? Frühe Leserperspektiven, in: NTS 52 (2006) 303-318. B. ALAND/J. DELOBEL (Hrsg.), New Testament Textual Criticism, Exegesis, and Early Church History. A Discussion of Methods (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 7), Kampen 1994. C.-B. AMPHOux/J. K. ELLIOTT (Hrsg.), The New Testament Text in Early Christianity (Histoire du Texte Biblique 6), Lausanne 2003. B. D. EHRMAN, The Orthodox Corruption of Scripture. The Effect of Early Christological Controversies on the Text ofthe New Testament, New York 1993. B. D. EHRMANIM. W. HOLMES (Hrsg.), The Text ofthe New Testament in Contemporary Research (FS B. M. Metzger) (StD 46), Grand Rapids (MI) 1995. E. J. Epp, Perspectives on New Testament Textual Criticism. Collected Essays 1962-2004 (NT.S 116), LeidenIBoston 2005. DERS., Textual Criticism in the Exegesis ofthe New Testament (1997), in: Ders., Perspectives (ebd.) 461-495. G. MINK, Eine umfassende Genealogie der neutestamentlichen Überlieferung, in: NTS 39 (1993) 481-499. A. PAPATHOMAS, A New Testimony to the Letter ofHebrews, in: Journal ofGreco-Roman Christianity and Judaism I (2000) 18-24. D. C. PARKER, A New Oxyrhynchus Papyrus of Revelation P 115 (P.Oxy. 4499), in: NTS 46 (2000) 159-174. DERS., The Living Text of the Gospels, Cambridge 1997. P. B. PAYNE, Fuldensis, Sigla for Variants in Vaticanus, and 1 Cor 14.34-5, in: NTS 41 (1995) 240-262. J. H. PETZER, The History of the New Testament Text. Its Reconstruction, Significance and Use in New Testament Textual Criticism, in: B. Aland/J. Delobel (Hrsg.), Textual Criticism (vgl. oben) 11-36. S. SCHREIBER, Eine neue varia lectio zu Hebr 3,4b?, in: BZ 44 (2000) 252f. T. C. SKEAT, The Codex Sinaiticus, the Codex Vaticanus and Constantine, in: JThS 50 (1999) 583-625. J. A. D. WEIMA, "But We Became Infants Among You". The Case for NHIIIOI in 1 Thess 2.7, in: NTS 46 (2000) 547-564.
B.1. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
Es ist kein Geheimnis: Die drei ersten Evangelien, das Matthäus-, das Markusund das Lukasevangelium, zeigen in Aufbau und Abfolge ihrer Jesusstory frappante Übereinstimmungen - ganz im Gegensatz zum vierten Evangelium, dem Johannesevangelium, das geradezu eine eigene erzählerische Welt aufbaut (-+ B. VII.2.1.3). Die Übereinstimmungen der drei ersten Evangelien, oft bis in den Wortlaut hinein, fallen besonders in die Augen, wenn man sie nebeneinander schreibt und in der "Zusammenschau", also in der "Synopse" (von griech. ouvoljnc;/synopsis), betrachtet. Deshalb werden auch die Bücher, in denen der Text der ersten drei Evangelien nebeneinander abgedruckt ist, "Synopsen" und die drei ersten Evangelien entsprechend "synoptische" Evangelien genannt. Liest man die drei ersten Evangelien synoptisch nebeneinander, fallen jedoch nicht nur die großen Übereinstimmungen, sondern zugleich auch die großen Unterschiede in die Augen. Die sog. "synoptische" Frage, die sich aus diesem auffälligen Textbefund ergibt, lautet deshalb: Wie sind diese großen Übereinstimmungen bei gleichzeitig erheblichen Unterschieden erklärbar? Hatten alle drei Evangelien die gleiche Vorlage? Oder gibt es Verbindungslinien zwischen den drei ersten Evangelien, haben sie also eine miteinander verwobene Geschichte?
1. Ein authentischer Fingerzeig: Lk 1,1-4 Dass unsere Evangelien nicht als fertige Texte vom Himmel gefallen sind, sondern auf eine lange mündliche und schriftliche Vorgeschichte zurückschauen, bezeugt Lk im Vorwort zu seinem Evangelium: INachdem es schon viele unternommen haben, eine Erzählung (öL'liYT]aL~) auf die Reihe zu bringen über die Ereignisse (llpa:YJ.Ul1:a.), die sich unter uns erfilllt haben, 2wie sie uns diejenigen, die von Anfang an Augenzeugen (Il'.U1:01l1:Il'.L) und Diener des Wortes geworden sind, überliefert haben, 3schien es auch mir gut, nachdem ich allem von vorn akribisch (cb
Lukas unterscheidet vier Traditionsstufen: Am Anfang stehen Ereignisse, die (l) von "Augenzeugen" wahrgenommen und dann (2) mündlich verkündigt werden ("Diener des Wortes"). Die unmittelbare Vorstufe für Lk sind jedoch (3) schriftlich vorliegende "Erzählungen", in denen die Einzelereignisse bereits zu einer Ereignisfolge aneinandergereiht sind. Lk selbst legt, nach gründlicher Revision dieser Traditionskette, erneut eine eigenständig organisierte
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B. Die vier Evangelien
Erzählung vor, die das Ziel verfolgt, dem Adressaten "Gewissheit" über das zu geben, was er - vermutlich in der mündlichen Katechese der Gemeinde gehört hat. Ereignisse ~ Augenzeugen ß\) Diener des Wortes
Wahrnehmungen
Q\
Erzählungen ~ LkEv
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III
IV
mündliche Überlieferungen
schriftliche Überlieferungen
Version des Lk
Lk legt Wert darauf, dass er sich in eine lange Traditionskette einreihen kann. Das ist ein ausgesprochenes Gütesiegel in der Antike. Sie hat ein ganz anderes Verständnis von "Originalität" als wir heute. Dem absolut Neuen, dem noch nie Dagewesenen, also dem "Originellen" in unserem Sinn, fehlt die Patina der Würde einer langen Tradition - und damit die Legitimation. Wertvoll ist allein das "Originale" (von lat. origo = Ursprung), also das Alte, das in eine lange Vergangenheit zurückreicht und auf den Ursprung zurückgeht - und, über eine lange Traditionskette, trotzdem mit der Gegenwart in Verbindung steht. Im Sinn des Lk und der Antike mit den Mitteln der Modeme nach der Entstehungsgeschichte der Evangelien zu fragen, bedeutet deshalb gerade nicht, ihre "Originalität" in ihrem Wert zu mindern, sondern diesen Texten die Würde einer langen Tradition zu bescheinigen. Die Frage ist nur: Wo und wie sind diese Vorstufen greifbar? Gehören auch das MkEv und das MtEv zu den "Erzählungen", auf die sich Lk stützt? 2. Der Textbefund 2.1 Übereinstimmungen zwischen den drei ersten Evangelien (1) Alle drei synoptischen Evangelien zeigen prinzipiell den gleichen Aufriss: Nach Taufe und Wüstenaufenthalt beginnt Jesus seine öffentliche Tätigkeit in Galiläa mit Wundertaten und Reden in der Öffentlichkeit. Im Unterschied zum JohEv erzählen die Synoptiker von einer einzigen Reise nach Jerusalem (vier im JohEv: 2,13; 5,1; 7,10; 12,12). Die entscheidenden Stationen dort sind: Einzug, Streitgespräche im Tempel, Abendmahl, Prozess, Kreuzigung, Grablegung sowie der Grabgang der Frauen. (2) Innerhalb der Gesamterzählung werden in allen synoptischen Evangelien thematisch verwandte Stoffe zu Blöcken zusammengestellt: Gleichnisse (Mt 13; Mk 4; Lk 8), Streitgespräche (Mt 9,1-17; 12,1-14; Mk 2,1-3,6; Lk 5,176,11), Wundergeschichten (Mt 8,18-9,26; 14,13-33; Mk 4,35-5,43; 6,32-52; Lk 8,22-56; 9,10-17), die Passionserzählung (Mt 26f.; Mk 14f.; Lk 22f.). (3) Gleiche Abfolge findet sich teilweise auch bei inhaltlich durchaus nicht selbstverständlich zusammengehörigen Stoffen, z. B. bei folgender Sequenz:
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B.l. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
Messiasbekenntnis des Petrus, erste Leidensankündigung mit anschließender Jüngerbelehrung, Verklärung Jesu, Gespräch beim Abstieg vom Berg (fehlt bei Lk), Heilung eines besessenen Knaben sowie zweite Leidensankündigung (Mt 16,13-17,23; Mk 8,27-9,32; Lk 9,18-45). Im Rahmen der Jüngerbelehrung werden sechs Spruche in völlig gleicher Reihenfolge aneinandergereiht: Spruch Nachfolge und Kreuztragen Leben retten Welt gewinnen Gegenwert rurs Leben Bekenntnis zu Jesus Verheißung für die Augenzeugen
Mt 16,24 16,25 16,26a 16,26b 16,27 16,28
Mk 8,34 8,35 8,36 8,37 8,38 9,1
Lk 9,23 9,24 9,25
9,26 9,27
(4) Übereinstimmender Wortlaut ganzer Perikopen, lässt sich feststellen z. B. bei der Heilung eines Aussätzigen (Mt 8,1-4; Mk 1,40-44; Lk 5,12-14); der bereits genannten Jüngerbelehrung (Mt 16,24-28; Mk 8,34-9,1; Lk 9,23-27); der Frage nach der Vollmacht Jesu (Mt 21,23-27; Mk 11,27-33; Lk 20,1-8); Teilen der Endzeitrede (z. B. Mt 24,3-8; Mk 13,4-8; Lk 21,7-11). (5) Besonders eklatant ist es, dass sich der gleiche syntaktische Fehler bzw. der gleiche ZitationsJehler in allen drei Evangelien findet. Als die Pharisäer sich wundem, warum Jesus dem Gelähmten die Sünden vergibt, sagt er zu ihnen: Mt 9,6
Mk2,IO
Lk 5,24
... damit ihr aber wisst, dass Vollmacht hat der Menschensohn auf der Erde Sünden zu erlassen, da sagt er dem Gelähmten:
... damit ihr aber wisst, dass Vollmacht hat der Menschensohn Sünden zu erlassen auf der Erde, sagt er dem Gelähmten: Dir sage ich, steh auf, trag deine Pritsche und geh fort in dein Haus ...
... damit ihr aber wisst, dass Vollmacht hat der Menschensohn auf der Erde Sünden zu erlassen, sprach er zum Gelähmten: Dir sage ich, steh auf, trag deine Liege und geh fort in dein Haus ...
Steh auf, trag deine Liege und geh fort in dein Haus
... Es handelt sich um einen Anakoluth, also um einen nicht vollständig zu Ende gefiihrten Satz. Was Jesus den Pharisäern sagt ( ... damit ihr aber wisst ... ) bleibt als Halbsatz stehen und wird von der Erzählung ( ... sagt er dem Gelähmten ... ) unterbrochen. Während in Jes 40,3 zu lesen ist: " ... Gerade macht die Pfade unseres Gottes", zitieren alle drei synoptischen Evangelien: " ... Gerade macht seine Pfade" (Mt 3,3; Mk 1,3; Lk 3,4) - bezogen auf Jesus als Herrn. Wenn Fehler im Wortlaut übernommen werden, so ist das ein deutliches Zeichen auf schriftliche Abhängigkeit der entsprechenden Autoren.
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B. Die vier Evangelien
2.2 Unterschiede zwischen den drei ersten Evangelien (1) Das Stoffquantum: das MkEv ist mit etwa 1500 Druckzeilen mit Abstand das kürzeste Evangelium gegenüber dem MtEv mit 2400 bzw. dem LkEv mit 2600 Druckzeilen. (2) Im Unterschied zum MkEv finden sich im MtEv und im LkEv Vorgeschichten und Nachgeschichten. Im MkEv betritt Jesus als Erwachsener die Bühne der Erzählung bei seiner Taufe (Mk 1,9). Im MtEv und im LkEv werden davor die sog. Kindheitsgeschichten erzählt (Mt 1f.; Lk 1f.), die jeweils aber einer völlig anderen Handlungsstruktur folgen. Im LkEv sind die Hirten die ersten beim neugeborenen Jesus an der Krippe (Lk 2,1-20), bei Mt sind es die Magier aus dem Osten (Mt 2,1-12). Sie finden ihn in dessen Wohnort Betlehem, in einem Haus. Erst im Anschluss an die Flucht nach Ägypten ziehen die Eltern Jesu wegen ihrer Furcht vor dem Herodessohn Archelaus nach Nazaret in Galiläa um, sozusagen ins Exil (Mt 2,13-23). Im LkEv dagegen zieht Josef mit der schwangeren Maria aus ihrem Wohnort Nazaret nach Betlehem, um sich in die Steuerlisten eintragen zu lassen. Hier ist Betlehem der Exilsort. Dort wird Jesus geboren (Lk 2,1-7). Kurz: Die Geschichte, die wir mit dem Heiligen Abend verbinden, steht im LkEv, diejenige, mit der wir den Dreikönigstag assoziieren, im MtEv. Wie das MkEv erzählen auch das LkEv und das MtEv vom Gang der Frauen zum Grab (Mt 28,1-8; Mk 16,1-8; Lk 24,1-10), aber nur Mt und Lk erzählen auch von Erscheinungen des Auferstandenen ("Nachgeschichten"), allerdings inhaltlich ebenfalls sehr unterschiedlich. Mt schildert eine Erscheinung Jesu vor den Frauen noch am Grab in Jerusalem (Mt 28,9f.) und eine weitere Erscheinung speziell vor den männlichen Jüngern auf dem Berg in Galiläa (28,16-20). Dazwischen liegt ein unbestimmter Zeitraum. Nach dem LkEv dagegen finden alle Ostererscheinungen an einem einzigen Tag in Jerusalem und seiner näheren Umgebung statt. Am Ende dieses Tages wird die Himmelfahrt vom Ölberg aus erzählt (Lk 24,13-53). (3) Abweichungen in der Reihenfolge im Einzelnen. Ein Beispiel: Nach Mt und Mk ist die erste Tat Jesu die Jüngerberufung (Mt 4,18-22; Mk 1,16-20). Anders im LkEv: Jesus ist hier als Wanderprediger zunächst alleine unterwegs und beruft seine Jünger (Lk 5,1-11) erst nach seinem öffentlichen Wirken und vielen Wundertaten in Galiläa und Judäa (Lk 4,14-44). Als erste Aktion Jesu erzählt Lk dagegen die programmatische Predigt Jesu in seiner Heimatstadt Nazaret (Lk 4,16-30). Nach Mk und Mt tritt Jesus in seiner Heimatstadt als Prediger (Mt 13,53-58; Mk 6,1-6) erst dann auf, nachdem er bereits am See Genesaret bekannt geworden ist. (4)Abweichungen im Inhalt. Signifikant sind die letzten Worte Jesu am Kreuz. Nach Mt 27,46 und Mk 15,34 schreit Jesus die Anfangsworte des Klagepsalms 22, nach Lk 23,46 dagegen betet er Worte aus Ps 31, die als jüdisches Abendgebet üblich sind:
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B.I. Die synoptische Frage (Martin Ebner) Mt 27,46 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Mk 15,34 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Lk 23,46 Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.
(5) Lk und Mt haben gemeinsamen Stoff, den das MkEv nicht kennt. Es ist vor allem Redestoff, z. B. die Predigt Johannes des Täufers (Mt 3,7-10; Lk 3,79), die sog. Bergpredigt, innerhalb derer wiederum die Sprüche von der Feindes liebe zu finden sind (Mt 5,38-48; Lk 6,27-36), das Vaterunser (Mt 6,7-15; Lk 11,2-4); aber auch Erzählstoffe finden sich, z. B. die Parabel vom verlorenen Schaf (Mt 18,10-14; Lk 15,3-7), die Femheilungsgeschichte mit dem Hauptmann von Kafamaum als Bittsteller (Mt 8,5-13; Lk 7,1-10) sowie das berühmte Rededuell Jesu mit dem Teufel bei der Versuchung in der Wüste (Mt 4,3-10; Lk 4,3-12). Insgesamt handelt es sich also um äußerst prominente und für das Christentum wichtige Stoffe, so dass es eigentlich keinen Grund dafür gibt, weshalb Mk diese Stoffe nicht überliefert haben soll, wenn er sie denn gekannt hätte. Mt und Lk überliefern diese Stoffe, von denen nur die allerwichtigsten genannt worden sind (--+ B.II.), z. T. in ähnlicher Reihenfolge, besonders was die Stoffe der "Bergpredigt" betrifft, und oft bis in den Wortlaut hinein völlig übereinstimmend: Mt 3,7-10
Lk 3,7-9
... Brut von Nattern, wer zeigte euch, zu fliehen vor dem kommenden Zorn? 8Bringt also Frucht, würdig der Umkehr, 9und meint nicht, sagen zu (können) bei euch: Als Vater haben wir den Abraham. Denn ich sage euch: (Es) kann Gott aus diesen Steinen erwecken Kinder dem Abraham. IOSchon aber ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum nun, nicht bringend gute Frucht, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen.
... Brut von Nattern, wer zeigte euch, zu fliehen vor dem kommenden Zorn? 8Bringt also Fruchte, würdig der Umkehr; und beginnt nicht zu sagen bei euch: Als Vater haben wir den Abraham. Denn ich sage euch: (Es) kann Gott aus diesen Steinen erwecken Kinder dem Abraham. 9Schon aber ist auch die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum nun, nicht bringend gute Frucht, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen.
(6) In jedem Evangelium gibt es Sondergut, also Einzellogien oder Erzählungen, die nur ein einziges Evangelium überliefert. Im MkEv ist es auf etwa 30 Verse beschränkt (drei Erzählungen: 4,26-29; 7,32-36; 8,22-26 sowie verschiedene Einzellogien und Notizen: 2,27; 3,20f.; 9,29; 9,48; 9,49.50b; 14,51f.; 15,44). Wesentlich umfangreicher ist das Sondergut im MtEv (etwa 228 Verse) und im LkEv (559 Verse). Auch darunter finden sich prominente Stoffe. Außer den bereits erwähnten Vor- und Nachgeschichten seien exemplarisch genannt: Das Gleichnis vom Schatz und der Perle (Mt 13,44-46), die
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B. Die vier Evangelien
Szene mit Petrus auf dem Meer (Mt 14,28-31) sowie das Felsenwort (Mt 16,17-19), die Geschichte von der Tempelsteuer (Mt 17,24-27), das Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1-13), die Weltgerichtsrede (Mt 25,31-46) und die Geschichte von den Grabwächtern (Mt 27,62-66; 28,11-15). Oder im LkEv die Erzählung vom barmherzigen Samariter (10,30-35), vom reichen Kornbauern (12,13-21), die Heilung eines Wassersüchtigen (14,1-6), die Gleichnisse von der verlorenen Drachme (15,8-10) und vom verlorenen Sohn (15,11-32), die Erzählungen von Zachäus (19,2-10), vom Schächer am Kreuz (23,39-43) und den Emmausjüngem (24,13-35) (vollständige Übersicht: R. MORGENTHALER, Synopse 262f.).
2.3 Das Phänomen der Dubletten Eine Dublette ist ein Text, den ein Evangelium zweimal überliefert. Im MkEv findet sich eine einzige Dublette, der Spruch von den Ersten und Letzten (Mk 9,35 = 10,44). Häufig dagegen tritt das Phänomen im MtEv (34 Fälle) und im LkEv (15 Fälle: R. MORGENTHALER, Synopse 156f.) auf. Das LkEv hat sogar zwei Textblöcke in Dublette: zwei Aussendungsreden (Lk 9,1-6 und 10,1-16) sowie zwei Endzeitreden (Lk 17,22-37 und 21,5-36). Aufgrund des dargelegten Textbefundes kann man die synoptische Frage nun zugespitzt folgendermaßen formulieren: Wie lässt sich das literarische Verhältnis der drei ersten Evangelien zueinander erklären - bei den gegenseitigen Übereinstimmungen und gleichzeitigen Abweichungen?
3. Ältere Lösungsversuche - und ihr Körnchen Wahrheit Die älteren Lösungsversuche, die im Zuge der Aufklärung ab Mitte des 18. Jh. vorgelegt wurden (vgl. W. SCHMITHALS, Einleitung 44-233) und zum Teil bis heute vertreten werden (vgl. U. Luz, EKK I/15, 49), sind nicht nur aus historischen Gründen interessant, sondern vor allem deshalb, weil sie jeweils ein Körnchen Wahrheit über den Überlieferungsprozess zum Vorschein bringen. Die Idee ist jeweils mit einem iIIustren Namen verbunden.
3.1 Urevangeliumstheorie Für G. E. Lessing ("Neue Hypothesen über die Evangelisten ... ", 1778) ist eine verloren gegangene aramäische Apostelschrift die Grundlage aller Evangelien. Die Unterschiede rühren daher, dass unsere Evangelien verschiedene Übersetzungen dieses Urevangeliums seien. Aber: Das behauptete Phänomen ist an den vorliegenden Texten nicht verifizierbar. Die Unterschiede müssten ja in Übersetzungsvarianten bestehen. Gerade der griechische Text ist aber an
8.1. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
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vielen Stellen völlig übereinstimmend, bis hin zu syntaktischen Fehlern (~2.1). Die Unterschiede dagegen betreffen vor allem die Stoffanordnung bzw. das Fehlen von Stoffen (~ 2.2). Für den Überlieferungsprozess zu bedenken ist die Sprachenfrage: Jesus und seine Jünger haben als Muttersprache aramäisch gesprochen. Das UrevangeIium Jesu ist aramäisch unter die Menschen gekommen. Alle uns erhaltenen Überlieferungen jedoch sind auf Griechisch verfasst. Der Übersetzungsprozess kann sehr früh eingesetzt haben und wurde vielleicht von den Augenzeugen selbst initiiert: Diejenigen Jesusjünger, die außer Aramäisch zumindest rudimentär Griechisch verstehen und sprechen konnten, wie etwa Petrus, Andreas und Philippus, die aus der hellenistisch geprägten Residenzstadt des Herodes Philippus (4 v. Chr. - 34 n. Chr.) Julias/Betsaida stammen (vgl. Joh 1,44), könnten die Jesusbotschaft an den Stefanuskreis (vgl. Apg 6,1-6) weitervermittelt haben, also an eine Gruppe von Diasporajuden, deren Muttersprache auch in Jerusalem Griechisch geblieben ist (M. EBNER, Von den Anfängen 22-27; M. HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus 165-181).
3.2 Traditionstheorie Nach J. G. Herder ("Von Gottes Sohn ... ", 1797) gehen alle synoptischen Evangelien unabhängig voneinander auf eine gemeinsame mündliche Tradition zurück. Das mündliche Urevangelium bestand aus einem Vorrat von Stoffen, die frei ausgewählt und je nach Situation anders zusammengestellt werden konnten. Aber: Wie lässt sich dann erklären, dass die Reihenfolge von Einzelstoffen auf weite Strecken hin in allen drei synoptischen Evangelien völlig identisch ist, auch wenn die Zusammengehörigkeit und Abfolge der Stoffe aus sachlichen Gründen überhaupt nicht zwingend ist (vgl. die Abfolge von Messiasbekenntnis bis zur zweiten Leidensankündigung; ~ 2.1)? Immerhin ist fLir den Traditionsprozess bedenkenswert, dass die allererste Überlieferung mündlich verlaufen ist, vielleicht 40 Jahre lang, eben so lange die Augenzeugen am Leben waren (J. ASSMANN, Gedächtnis 48-56). Das wäre die Phase der "Diener des Wortes" (vgl. Lk 1,2).
3.3 Diegesen- oder Fragmententheorie Zugeschrieben wird die Theorie F. D. E. Schleiermacher, dem es aber zunächst nur um die Entstehung des LkEv ging ("Über die Schriften des Lukas ... ", 1817), wobei er sich offensichtlich von dessen Angabe im Vorwort Lk 1,1 inspirieren ließ, es hätten ihm "Diegesen" ("Erzählungen") vorgelegen. Schleiermacher stellt folgende These auf: Lk hätte in seinem Evangelium eine Reihe von "Aufsätzen" verarbeitet, die ihrerseits Einzelerzählungen enthielten, die aber nicht aus biographischem Interesse zusammengestellt seien, sondern
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B. Die vier Evangelien
aus rein sachlichem Interesse: "Und so sammelte vielleicht wol (!) der eine nur Wunder geschichten, der andere nur Reden, einem Dritten waren vielleicht ausschließend die letzten Tage Christi wichtig oder auch die Auftritte der Auferstehung" (Einleitung [1845] 9f.; vgl. W. SCHMITHALS, Einleitung 68). Rezipiert wurde die Theorie für die drei ersten Evangelien insgesamt (L. J. Rhesa, Dissertatio critica ... , 1819): Die Evangelisten greifen auf schriftliche Sammeleinheiten zurück, die unter rein inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengestellt worden sind, "Diegesen" bzw. "Fragmente" genannt. Aber: Wie kommt es dann bei allen drei Synoptikern doch zu einem fast identischen Aufriss einer unter biographischen Gesichtspunkten zusammengestellten Gesamtgeschichte? Immerhin ist im Blick auf den Traditionsprozess zu bedenken: Für das MkEv werden schriftlich vorliegende Sammlungseinheiten (Streitgespräche, Wundergeschichten, Gleichnissammlung, Passionsgeschichte) ernsthaft diskutiert (-+ B.V.2. 1. 112).
3.4 Die Benutzungstheorie Die Grundthese besagt, dass die Synoptiker sich gegenseitig "benutzt" haben. Damit werden die uns vorliegenden Evangelien in einen internen Traditionszusammenhang gebracht. Im Blick auf dasjenige Evangelium, das jeweils als ältestes und damit als Grundvorlage für die anderen bestimmt wird, gibt es unterschiedliche Varianten: (1) Die Matthäuspriorität. Ursprünglich und erstmals von J. J. Griesbach vertreten ("Commentatio ... ", 1789), ist Mt das älteste Evangelium. Es bildet die Vorlage für das LkEv, während das (wesentlich kürzere) MkEv ein Exzerpt aus beiden darstellt. Die Hauptanfrage liegt sofort auf der Hand: Warum lässt Mk so viel und so wichtigen Redestoff einfach weg, obwohl er ihn sowohl im MtEv als auch LkEv gelesen hat? Im Blick auf den Textbefund (-+ 2.) wird diese Theorie immerhin dem Tatbestand gerecht, dass unter den synoptischen Evangelien derart viel Übereinstimmung sowohl in der Reihenfolge der Stoffe als auch im Wortlaut bis hin zur Übernahme von Fehlern besteht. Mt (ältestes Ev.)
1
Mk (== Exzerpt aus beiden)
Lk
Die Idee, das MtEv an den Ursprung der Traditionsentwicklung zu setzen, hatte schon Augustinus von Hippo - und zwar, als er sich gegen heidnische Anfeindungen zur Wehr setzen musste, die sich über soviel Widersprüchliches und GegenSätzliches in den Evange-
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8.1. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
lien lustig machten. In seiner Schrift "Oe consensu Evangelistarum" erklärt er das unbestreitbare Phänomen damit, dass die Evangelisten ihre Schriften gegenseitig kannten, allerdings ihre eigenen Erzählungen je anders gestalteten. Dabei setzt er die kanonische Reihenfolge mit der zeitlichen identisch und erklärt Mk zum brevialor des MtEv.
(2) Die Markuspriorität. Es ist C. G. Wilke ("Der Urevangelist ... ", 1838), der das MkEv zum ältesten Evangelium erklärt (Vorarbeit: C. Lachmann, "De ordine narrationum ... ", 1835). Mt hat das MkEv benutzt, aber zusätzlich noch eine zweite Quelle: das LkEv. So sei es erklärbar, weshalb alle drei Evangelien den prinzipiell gleichen Aufriss haben (er ist durch das MkEv vorgegeben) und weshalb das MkEv bestimmte, sehr wichtige Stoffe nicht hat, obwohl sie in den beiden anderen Evangelien zu finden sind. Die Lösung der sog. vollständigen Benutzungstheorie von Wilke lautet: Mk hat diese Stoffe überhaupt nicht gekannt. Aber: Die Frage bleibt offen, woher das LkEv diese Stoffe kennt. Diese Frage wird in der Zwei-Quellen-Theorie gelöst. Aufgestellt wurde sie erstmals von C. H. Weisse, ebenfalls im Jahr 1838 ("Die evangelische Geschichte ... ").
i
~Mt MI< (Allesles Ev.)
------------. Lk (zweite Quelle für Mt)
4. Die Zwei-Quellen-Theorie Die Zwei-Quellen-Theorie nimmt für den Redestoff, den Mt und Lk gemeinsam über das MkEv hinaus bezeugen, eine zweite schriftliche Quelle an, die gemäß ihrem hauptsächlichen Inhalt "Spruchquelle", "Logienquelle" oder einfach auch "Q" (für "Quelle") genannt wird. Im Unterschied zum kanonisch vorliegenden MkEv handelt es sich um eine hypothetische Quelle, die aus dem Vergleich der Stoffe bei Mt und Lk rekonstruiert werden muss (-+ 8.11.). Die drei Hauptbestandteile der Zwei-Quellen-Theorie sind demnach: (1) Markuspriorität: Das MkEv ist das älteste Evangelium. Mt und Lk benutzen es unabhängig voneinander als ihre erste Quelle. (2) Eine zweite Quelle: Das Material, das Mt und Lk gemeinsam über den Markusstoff hinaus bieten, entstammt einer zweiten, ebenfalls schriftlich vorliegenden Quelle, einer Sammlung von Sprüchen und Reden Jesu sowie einiger Erzählungen, die beide ebenfalls unabhängig voneinander benutzen. (3) Sondergut: Über die bei den schriftlich vorliegenden Quellen hinaus verarbeiten Mt und Lkje eigenes Sondergut (SM! bzw. SLk).
76
B. Die vier Evangelien
4.1 Plausibilität für die Textphänomene (I) Der Redestoff, der im MkEv fehlt: Diese Tatsache "verdankt" sich einem Überlieferungsproblem. Mk hat diese Stoffe nicht einfach ausgelassen (so die These der Matthäuspriorität), sondern er hat sie schlicht und einfach nicht gekannt (zu Differenzierungen ~ B.II.2.6). (2) Die Reihenfolge ("Akoluthie" von aKoAougeLv/nachfolgen): Mt und Lk stimmen nur dann in ihrer Reihenfolge überein, wenn sie dem Erzählfaden des MkEv folgen. Verlassen sie die Markusakoluthie, gehen sie in der Darbietung der Stoffe getrennte Wege. (3) Regie- und Kompositionsfehler des MtEv bzw. LkEv werden erklärbar. Dafür einige Beispiele: Nach Lk 4,39 bedient die von Jesus geheilte Schwiegermutter des Simon Petrus eine Mehrzahl von Personen: " ... sie diente ihnen". Dabei hat Jesus gemäß Lk 4,38 das Haus al/eine betreten. Das entspricht dem Aufriss des LkEv, wonach Jesus zunächst ganz alleine als Wanderprediger unterwegs ist, bevor er in 5, I-li seine Jünger beruft, die dann mit ihm ziehen. "Sie diente ihnen" hat Lk gemäß der Zwei-Quellen-Theorie aus Mk 1,31 übernommen. Dort macht die Angabe Sinn: Nach dem Aufriss des MkEv ist Jesus nämlich mit den vier erstberufenen Jüngern (vgl. Mk 1,16-20) unterwegs. Dass er zusammen mit ihnen das Haus der Schwiegermutter betritt, wird in Mk 1,29 eigens hervorgehoben. Gemäß Mt 8,4 verbietet Jesus dem von ihm geheilten Aussätzigen, mit irgendjemandem über die Sache zu reden. Das ist aber gemäß der in Mt 8, I f. geschilderten Situationsangabe unmöglich: "Als er aber vom Berg herabstieg, folgten ihm viele Volksmengen. Und siehe, es kam ein Aussätziger hinzu ... " Was der Aussätzige niemandem sagen soll, haben bereits alle gesehen! Gemäß der Zwei-Quellen-Theorie kommt der Regiefehler dadurch zustande, dass Mt das Schweigegebot aus Mk 1,44 übernimmt. Dort macht es auch Sinn, weil Jesus mit dem Aussätzigen offensichtlich alleine ist. In zwei Kapiteln seines Evangeliums stellt Mt (fast alle) Wundergeschichten aus seinen beiden Quellen, dem MkEv und Q, zusammen: Mt 8f. (vgl. Skizze). Aber gerade bei dieser systematisch anmutenden Zusammenstellung fallen drei Fremdlinge besonders in die Augen: eine Berufungsgeschichte und zwei Streitgespräche. Aufgrund der Zwei-QuellenTheorie wird das insofern einfach erklärbar, als Mt im Anschluss an die Heilung des Gelähmten (Mt 9,1-8 vgl. Mk 2,1-12) auch die im MkEv folgenden Texte mit übernommen hat (Berufung des Levi: Mt 9,9 vgl. Mk 2,14; Streit um das Zöllnergastmahl: Mt 9,10-13 vgl. Mk 2,15-17; Streit um das Fasten: Mt 9,14-17 vgl. Mk 2,18-22), obwohl sie seine Wundergeschichtenfolge stören, die Mt nach diesem "Ausreißer" allerdings mit der Auf-
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B.1. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
erweckung des lairustöchterleins bzw. der Heilung der blutflüssigen Frau sofort wieder aufnimmt (Mt 9,18-26 vgl. Mk 5,21-43). Mt
Mk 1,29-31 1,32-34 1,40-45 2,1-12 2,13f. 2,15-17 2,18-22
4,35-41
Schwiegermutter Heilungen abends Aussätziger Gelähmter Berufung des Levi Zöllnergastmahl Fastenfrage
,\
8,1-4
Aussätziger
8,5-13 8,14f. 8,16f.
Hauptmann Schwiegermutter Heilungen abends Seesturm
Q
~
8,18-27
Seesturm
7,1-10
Hauptmann
5: i=-io· ---G~~~~~~~ ------ -i - ~-8,28~34---G~~~~~~~----- --.; 5,21-43
: ,~------------------~
lairustochter : und blutflüssige ~ Frau :\ ---- -- -- - -- ----- -- - -- --- -- _.. ,
9,1-8 9,9
,,
9,10-13 9,14-17
,,
Gelähmter Berufung des Levi Zöllnergastnzahl Fastenfrage
\'----------------------' , \: 9,18-26
" ~
Jairustochter und blutjlüssige
!. ___________ !..~'!.'L ___________ 1
9,27-34
2 Blinde! I Stummer
In Lk 4,23 fordern die Leute in der Synagoge von Nazaret lesus auf, auch in seiner Heimatstadt solche Wunder zu tun, wie er sie dem Hörensagen nach in Kafarnaum gewirkt hätte. 1m LkEv wird aber erst in den folgenden Perikopen von Wundern in Kafarnaum erzählt (Lk 4,31-37.38f.40f.). Zumindest der Leser ist erstaunt! Der Kompositionsfehler wird erklärbar, wenn Lk - gemäß der Zwei-Quellen-Theorie - (noch) ganz im Aufriss des MkEv denkt. Hier ist es so: Lange bevor Jesus in seine Heimatstadt Nazaret zurückkehrt (Mk 6,16), wirkt er in Kafarnaum verschiedenste Wunder (Mk 1,21-34 vgl. Lk 4,31-41). Gemäß dieser Dramaturgie können die Leute von Nazaret sehr gut auf die Wunder in Kafarnaum zurückverweisen.
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B. Die vier Evangelien
Mi< 1,14f. 1,16-20 1,21-28 1,29-31 1,32-34 1,35-38
4, 14f. 4,16-30
Jesu Auftreten in Galiläa Berufung der ersten Jünger Synagoge von Kafarnaum: Besessener Schwiegermutter des Petrus Heilungen abends Aufbruch von Kafarnaum
4,31-37 4,38f. 4,40f. 4,42f. 4,44 5,1-11
6,1-6
Lk Jesu Auftreten in Galiläa Nazaret Synagoge von Kafarnaum: Besessener Schwiegermutter des Petrus Heilungen abends Aufbruch von Kafarnaum Synagogen Judäas Berufung der ersten Jünger am See Genesaret
Nazaret
(4) Erklärung der Dubletten. Das insbesondere im MtEv und LkEv häufig vorliegende Phänomen der Dubletten, vor allem die auffällige Doppelung von Einzelsprüchen, erklärt sich aufgrund der Zwei-Quellen-Theorie ziemlich einfach. Der Stoff stammt einmal aus dem MkEv, das andere Mal aus der Quelle "Q". Die Zuordnung zu den Quellen erfolgt durch die Analyse des Kontexts: Steht der bei Mt bzw. Lk doppelt überlieferte Spruch im Kontext weiterer Stoffe aus dem MkEv, so stammt er aus dieser Quelle, steht er im Kontext weiterer Stoffe aus der Quelle Q, so stammt er von dort. Der Spruch vom Kreuztragen Mk Mt 16,24 8,34 10,38
Lk 9,23 14.27
Quelle Mk
Der Spruch vom Lebenretten Mt Mk 16,25 8,35 10,39 -
Lk 9,24 17,33
Quelle Mk
Q
Q
Insgesamt ergibt sich aufgrund der Zwei-Quellen-Theorie: Mt und Lk nehmen das MkEv als narratives Rückgrat ihres eigenen Evangeliums und schieben jeweils den Redestoff aus der zweiten Quelle in diesen Handlungsablauf ein. Zusätzlich bereichern sie ihr Evangelium durch Sonderguttraditionen. 4.2 Die große Schwäche der Zwei-Quellen-Theorie: die" minor agreements" Unter "minor agreements" versteht man "kleinere Übereinstimmungen" zwischen Mt und Lk gegen Mk, aber innerhalb des Markusstoffes. Kannten Mt und Lk sich also doch gegenseitig? Zum Textbefund: In den allermeisten Fällen handelt es sich um "Überein-
B.I. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
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stimmungen", die als stilistische oder sachliche Verbesserungen des Markusstoffs, also redaktions geschichtlich erklärt werden können: als bewusster Eingriff in den vorliegenden Markustext, den Mt bzw. Lk völlig unabhängig voneinander vorgenommen haben können. Ein Beispiel filr eine stilistische Verbesserung: Anders als in Mk 9,19 ("der aber antwortend sagt ihnen ... ") lesen wir in der Parallelstelle Mt 17,17 genauso wie in Lk 9,41: "antwortend aber sagte Jesus ... ". Sowohl die Wortstellung ("aber") als auch die Zeitstufe des Hauptverbs ("sagt"/"sagte") sind verändert. Nun ist es generell eine Eigenart des Mt, ein mk "sagt" in die griechische Erzählzeit des Aorist "sagte" zu versetzen. Er tut dies an vielen Stellen gemeinsam mit Lk (vgl. Mt 9,2.4.12; Lk 5,20.22.31); er geht aber genauso vor, wenn es keine Lukasparallele gibt (vgl. Mt 15,16.27.32; 16,2.8.23) bzw. wenn Lk sich filr eine andere Lösung entscheidet (vgl. Mt 21,27 mit Lk 20,7 gegenüber Mk 11,33; oder Mt 26,63 mit Lk 22,67 gegenüber Mk 14,61; vgl. die Tabelle bei F. NEIRYNCK, Cumulative List 224f.). Das LkEv oder eine andere Quelle als Vorlage braucht Mt für diese stilistischen Veränderungen sicher nicht! Eine eindeutige sachliche Verbesserung liegt vor, wenn Mt genauso wie Lk filr Herodes (Antipas) anstelle des Titels "König" (so Mk 6,14) den historisch zutreffenden Titel "Tetrarch" (so Mt 14,1; Lk 9,7) setzen. Anders liegt der Fall jedoch, wenn Mt und Lk übereinstimmend "diese Generation", über die sich Jesus im Rahmen der Heilung des besessenen Knaben beschwert, nicht nur wie Mk als "ungläubig" (Mk 9,19), sondern auch als "verkehrt" beschimpfen (Mt 17,17; Lk 9,41). Oder wenn sie in der Verklärungsgeschichte - über Mk 9,2f. hinausgehend - speziell die Veränderung des Gesichtes Jesu betonen (Mt 17,2; Lk 9,29). Auffallig ist der übereinstimmende Eingriff in den narrativen Duktus des vorliegenden Markustextes, wenn es von Petrus in Mt 26,75 und Lk 22,62 über Mk 14,72 hinausgehend heißt: "Und er ging hinaus und weinte (Aor.) bitterlich"; oder wenn in der Verspottungsszene vor dem Hohen Rat die Schlagenden - in Mt 26,68 und Lk 22,64, nicht aber gemäß Mk 14,65 - Jesus raten lassen: "Wer ist es, der dich schlägt?"
Von diesen positiven minor agreements sind die sog. negativen zu unterscheiden. Gemeint sind diejenigen Worte und Texte, die Mt und Lk übereinstimmend aus dem Markustext weglassen, vornehmlich also all die Texte, die unter 2.2 als mk Sondergut aufgefiihrt wurden. Für die meisten Fälle finden sich redaktionsgeschichtIiche Überlegungen, die rur diese übereinstimmenden Auslassungen sachliche Gründe geltend machen, die beide Evangelisten unabhängig voneinander dazu bewogen haben können, die entsprechenden Markusstoffe nicht zu übernehmen. Dass die Verwandten Jesus filr verrückt halten (Mk 3,20f.), war vielleicht zu anstößig, der Salzspruch (Mk 9,49f.) unverständlich, das Sabbatlogion (Mk 2,27) christologisch zu steil, die Erzählung von der Flucht des nackten Mannes (Mk 14,51 f.) filr Christen desavouierend, die Heilungswunder in Mk 7,32-36; 8,22-26 zu stark hellenistisch magisch erzählt. Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29) könnte von Mt filr seine Alternativversion des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24-30) bruchstückhaft verwendet worden sein, um das Missverständnis einer möglichen Propaganda filr die Tatenlosigkeit (gemäß Mk 4,27 schläft der Bauer bis zur Ernte und nach V. 28 bringt die Erde "automatisch" ihre Frucht) erst gar nicht aufkommen zu lassen (vgl. R. H. GUNDRY,
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8. Die vier Evangelien
Mt 261(). Schwer erklärbar bleibt dagegen, weshalb Mt und Lk übereinstimmend die Bestätigung des Todes Jesu durch den Centurio in Mk 15,44 weglassen, das Jesajazitat in Mk 9,48 sowie die Belehrung über den Umgang mit schwierig auszutreibenden Dämonen in Mk9,29.
Insgesamt müsste die textkritische Basis der minor agreements noch einmal gründlich überprüft werden. Denn für Mk 9,19 z. B. wird erwogen, ob der Handschriftenbefund nicht dahingehend zu deuten ist, dass in p 4S bereits die Zusatzqualifikation "und verkehrte Generation" zu lesen war, und ob die Ergänzung in Lk 22,62 "und ging hinaus und weinte bitterlich" nicht als Angleichung an den Matthäustext zu verstehen ist, die dann aber auf das Konto der Manuskriptabschreiber zu verbuchen wäre (C. M. TUCKETT, Agreements 132134). Die Frage "wer ist es, der dich schlägt?" macht im Kontext von Mt 26,68 eigentlich keinen Sinn, weil dort - im Unterschied zu Mk und Lk - die Verhüllung des Gesichtes Jesu nicht erzählt wird (Mt 26,67 anders als Mk 14,65; Lk 22,64). Für F. NElRYNCK handelt es sich deshalb um eine nachträglich in den Matthäustext eingeschobene Glosse (TU; ELTIN). Auch wenn sich durch redaktionsgeschichtliche und textkritische Begründungen die Zahl der minor agreements - die numerischen Angaben schwanken zwischen 175 und 1000 (A. ENNULAT, Agreements 417.472-594), was unter anderem damit zusammenhängt, ob einzelne Wörter oder Phrasen gezählt werden (vgl. die Beispiele bei F. NEIRYNCK, Cumulative List 36f.; C. M. TuCKETT, Agreements 123f. sowie die Evaluation von R. VINSON, Significance 154-161) - stark einschränkt, bleibt ein erheblicher Rest (etwa 50 "significant minor agreements": F. NEIRYNCK, Horizontal-Line Synopsis lOIf.) von frappierenden Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk innerhalb des Markustextes, der durch die Zwei-Quellen-Theorie nicht nur nicht erklärt werden kann, sondern eigentlich gar nicht vorkommen dürfte. Diese offene Flanke ist der Ansatzpunkt für Alternativmodelle. Vom Typ her lassen sie sich danach unterscheiden, ob sie speziell die minor agreements erklärbar machen wollen (5.1) oder bewusst die Quelle Q negieren und im Sinn der Benutzungstheorien das Problem der minor agreements von vornherein ausschalten (5.2/5.3). 5. Alternativmodelle
5.1 Die Deuteromarkushypothese Nach A. FUCHS lag Mt und Lk nicht der Text des MkEv vor, den wir heute in unseren Ausgaben lesen, sondern ein weiterentwickelter Text, sozusagen eine zweite, verbesserte Auflage des Evangeliums, von Fuchs "Deuteromarkus"lzweiter Markus genannt. Alle minor agreements finden sich in dieser Zweitauflage bereits im Markustext und werden deshalb von Lk und Mt gleichermaßen übernommen.
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B.I. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
Mt
Lk
Die Schwäche dieser Theorie besteht darin, dass (I) eine weitere hypothetische Größe - analog zur Spruchquelle - eingeführt wird, eben der verbesserte Markustext, der sich aber handschriftlich nicht nachweisen lässt; dass (2) die negativen minor agreements ebenfalls nicht erklärt werden können und dass (3) bisher zumindest noch nicht geklärt ist, wie die Q-Redestoffe in die synoptische Tradition gelangt sein sollen: ob sie bereits in "Deuteromarkus" integriert waren oder ob dafür doch noch eine eigene Quelle angenommen werden muss (vgl. A. FUCHS, Spuren I 20; V 7f.). Die Nomenklatur für die beiden folgenden Modelle übernehme ich von J. S. KLOPPENBORG (Dispensing 213).
5.2 Two-Gospel-Hypothesis Dieses vor allem von W. R. FARMER und seinen Schülern (D. L. DUNGAN, J. B. ORCHARD; vgl. auch A. J. McNICOL) vertretene Modell lässt die Griesbach-Hypothese wieder aufleben. Das MtEv ist das älteste, Lk greift darauf zurück und verarbeitet zusätzlich anderes schriftliches bzw. mündliches Material, während Mk ein Exzerpt aus beiden Schriften herstellt. Die Anfragen, die unter 3. an das Griesbach-Modell gestellt wurden, gelten auch hier.
5.3 Mark-Without-Q-Hypothesis Dieses in den 30er Jahren in den USA von J. H. ROPES und M. ENSLIN propagierte Modell, ab den 50er Jahren in England flankiert durch A. M. FARRER sowie seinen Schüler M. GOULDER, neuerdings vehement in die Diskussion gebracht durch M. S. GOODACRE, greift auf die vollständige Benutzungstheorie a la Wilke 1838 zurück: Mk ist das älteste Evangelium. Allerdings dient nicht Lk als zweite Quelle rur Mt (so nur noch von M. HENGEL, Gospels 169207, vertreten), sondern umgekehrt: Lk hat sowohl das MkEv als auch das MtEv, das seinerseits auf das MkEv rekurriert, vorliegen. Im Blick auf die im MtEv auftauchenden neuen Stoffe behauptet GOULDER mit bewusster Negierung der Spruchquelle: " ... the Q-Material was to a large extent Matthew's
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B. Die vier Evangelien
own elaboration of Mark ... " (Luke 52). Nach wie vor ist die ungeklärte Herkunft der Q-Stoffe der entscheidende Schwachpunkt dieser Theorie. Nach der neuesten Version, wie sie W. KAm... vorlegt, soll er dadurch minimiert werden, dass parallel zur schriftlichen Überlieferung generell mit einem weiterlaufenden Strang von mündlichen Überlieferungen gerechnet wird, die sowohl von Mt als auch von Mk wie Lk unabhängig voneinander in ihre Evangelien aufgenommen werden. Wie lassen sich dann aber die wörtlichen Übereinstimmungen gerade im Q-Stoff erklären? Im Blick auf die angebliche Kompilation von MkEv und MtEv, wie sie im LkEv nach der Mark-Without-Q-Hypothesis vorliegen soll, ist einerseits nach wie vor mit J. A. FITZMYER zu fragen: "Why would so Iiterary an artist as Luke want to destroy the Matthean masterpiece of the Sermon on the mount?" (74), andererseits nicht angemessen genug zu bewundern, wie es Lk gelungen ist, die Mk-und Q-Traditionen, die Mt gewöhnlich thematisch vermischt, wieder fein säuberlich zu trennen (~B.lI.I.I), ganz abgesehen davon, dass sich typisch redaktionelles Material, das Mt über den Mk-Stoffhinaus bietet, bei Lk nicht finden lässt (P. FOSTER).
5.4 Paradigma Mündlichkeit vs. Paradigma Schriftlichkeit Auf der Basis von Erkenntnissen der Oral Poetry-Forschung (M. PARRY; A. B. LORD) und der experimentellen Gedächtnispsychologie (F. C. BARTLETT) wird verstärkt eingefordert, die kontinuierlich weiterlaufende mündliche Tradierung der Jesusüberlieferungen - S. BYRSKOG (Story) geht sogar von einer "sekundären Mündlichkeit" aus - zur Erklärung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den synoptischen Evangelien heranzuziehen: sei es im Blick auf den gesamten Prozess (alle drei Synoptiker reproduzieren mündlich überlieferte Stoffsammlungen aus dem Gedächtnis: A. D. BAUM, Erwägungen; DERS., Poetry; ~ 3.1-3), sei es im Blick auf die Q-Tradition (Mt und Lk schöpfen die Q-Stoffe aus der mündlichen Tradition: A. D. BAUM, Bildhaftigkeit; vgl. W. KAm...) oder zumindest im Blick auf die minor agreements (mündliche Varianten des Mk-Stoffes: A. D. BAUM, Faktor). In gemäßigter Form wird von J. D. G. DUNN, T. C. MOURNET u. a gefordert, fiir die Erklärung des synoptischen Problems die exklusive Beschränkung auf literarische Prozesse aufzugeben und den Faktor Mündlichkeit mit einzubeziehen - zumindest fiir diejenigen Perikopen, in denen die wörtliche Übereinstimmung auf Kernelemente reduziert ist. Umgekehrt wird es hilfreich sein, die verschiedenen Quellenverarbeitungshypothesen an den empirisch nachweisbaren Vorgehensweisen antiker Autoren zu prüfen. Mehrere Quellen zu verarbeiten ist belegt. Gewöhnlich folgt der Autor dann der Ordnung und dem Wortlaut einer Hauptquelle und fUgt jeweils am Ende von Episoden entsprechende Elemente anderer Quellen hinzu. Eine "micro-conflation", also die Vermischung von Quellen innerhalb von Episoden, lässt sich dagegen nicht belegen (R. A. DERRENBACKER).
B.I. Die synoptische Frage (Martin Ebner)
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5.5 Fazit Insgesamt ergibt sich: Verglichen mit den vorliegenden Altemativmodellen ist die Zwei-Quellen-Theorie "nach wie vor die Hypothese, die mit dem geringsten Schwierigkeitsgrad die meisten Phänomene erklärt" (U. SCHNELLE, Einleitung 217; vgl. A. LINDEMANN, Logienquelle 3; I. BROER, Einleitung 52).
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84
B. Die vier Evangelien
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B.l1. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner)
Gut 160 Jahre nach ihrer hypothetischen Postulierung ist die sogenannte SpruchquelIe, die Mt und Lk gemäß der Zwei-QuelIen-Theorie unabhängig voneinander in ihrem Evangelium verarbeitet haben, handgreiflich geworden: Im Millenniumsjahr 2000 hat ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von J. M. ROBINSON, P. HOFFMANN und J. S. KLOPPENBORG eine Textedition der SpruchquelIe vorgelegt, die vom Titel ("The Critical Edition of Q") und vom Outfit her (textkritischer Apparat) insinuiert, die SpruchquelIe sei nun endlich "gefunden". Kein Wunder, dass sich im Vorfeld dieses Editionsereignisses und in Reaktion darauf Vertreter all derjenigen Theorien lauthals zu Wort gemeldet haben, die meinen, das synoptische Problem ohne eine hypothetische QuelIe lösen zu können, und deshalb provokativ auf Q verzichten (~ B.1.5.2-4). Ist Q doch nur eine wirksam inszenierte ,juggernaut", ein "Popanz" (M. D. GOULDER)? So viel solIte klar sein: Die Texte, die Lk und Mt gemeinsam bezeugen, ohne dass sie im MkEv zu finden sind, lassen sich als eigenes Textkorpus betrachten, ganz unabhängig davon, welcher Theorie über ihre Herkunft man Folge leistet. Zu diesen Texten gehört hochkarätiges und für das Christentum profilbildendes Gut: das Vaterunser, die Seligpreisungen, die Aufforderung zur Feindesliebe, die Sprüche von den Lilien und den Raben, die Spruche vom Splitter und vom Balken, die Parabel vom verlorenen Schaf usw. Wenn nun alI diese Texte tatsächlich, wie die Zwei-QuelIen-Theorie behauptet, eigenständig überliefert worden sind, dann stoßen wir auf ein Dokument - und hinter diesem Dokument auf eine Trägergruppe, die das "Kerygma" (im nichttechnischen Sinn von Wortverkündigung) des irdischen Jesus geradezu im 0Ton zu bewahren und weiterzuschreiben versucht hat (J. M. ROBINSON, Jesus; E. RAU, Q-Forschung).
I. Struktur 1.1 Der Text
Als Grundlage für die Rekonstruktion des Q-Textes bewährt sich nach wie vor die Faustregel: Lk bietet die bessere Reihenfolge der Q-Stoffe, Mt deren besseren Wortlaut. Lk hat den Q-Stoff in zwei großen Blöcken (kleine Einschaltung: Lk 6,20-8,3; große Einschaltung: Lk 9,51-18,14) in sein Evangelium eingebaut, Mt dagegen bindet die Q-Stoffe thematisch in den Mk-Erzählfaden ein (~ B.lV.2.I.l); vermutlich war der Q-Stoff in seiner Gemeinde bekannt, so dass er dessen Wortlaut schlecht verändern, sondern nur in neue Kontexte
86
B. Die vier Evangelien
setzen konnte (~ B.IV.2.4.1). Gemäß der kritischen Edition von 2000 gehören folgende Stoffe sicher zur Spruchquelle (inhaltliche Gliederung nach D. KOSCH 33f.): Q/Lk
Mt
Die Anfänge 3,7-9.16f. 4,1-13
3,7-12 4,1-11
Die programmatische Rede Jesu 6,20b--23 5,3f.6.11 f. 6,27-36 5,38--48; 7,12 6,37--45 7,1-5.16-20; 15,14; 10,24 6,46-49 7,21.24-27
Täuferpredigt Versuchungen Jesu
Seligpreisungen Feindesliebe Nicht richten Vom Tun der Worte Jesu
Der Hauptmann von Kafarnaum 7, I f.6b--10 8,5-10. \3
Hauptmann von Kafarnaum
Jesus und Johannes der Täufer 7,18-23 11,2-6 7,24-28 11,7-11 7,3If. 11,16f. 7,33-35 11,18f.
Anfrage des Täufers Urteil über den Täufer Kinder am Marktplatz Täufer und Menschensohn
Nachfolge und Sendung 9,57-60 8,19-22 10,2-12 9,37f.; 10,7-16 10,13-15 11,21-24 10,16 10,40 10,21 f. 11,25-27 10,23f. 13,16f.
Nachfolge-Kandidaten Aussendungsrede Wehe über galiläische Städte Jeder, der euch hört Jubelruf Seligpreisung der Augenzeugen
Vom Beten 11,2--4 11,9-\3
Vaterunser Gebetserhörung
6,9-\3 7,7-11
Auseinandersetzung mit Gegnern 11,14f. 12,22-24 (9,32-34) 11,17-26 12,25-30.43--45 11,29 (11,16) 12,38 11,29f. 12,39(
Vorwurf des Teufelsbündnisses Rechtfertigung Jesu Zeichenforderung Jona-Zeichen
11,3If. 11,33-36 11,39--44.46-48.52 11,49-51
Südenkönigin und Jona Licht-Spruche Weherufe gegen Pharisäer und Schriftgelehrte Sophia-Wort
12,41 f. 5,15; 6,22f. 23,4.6f.13.23-33 23,34-36
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B.lI. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner) Trost und Ermahnung der Jünger
12,2-12 12,22-31 12,33f.
10, 19f.26-33 6,25-33 6,19-21
Vom Bekennen Sorget euch nicht Schätze sammeln
24,43f. 24,45-51 10,34-36 5,25f. 13,3If. 13,33
Nächtlicher Einbrecher Treuer und böser Knecht Zum Zwiespalt gekommen Rechtzeitiger Ausgleich Senfkorn-Gleichnis Sauerteig-Gleichnis
7,13f. 7,22f. 8,llf. 23,37-39
Enge Pforte Von der Tür abgewiesen Vom Reich ausgewiesen Jerusalem, Jerusalem
Endzeitgleichnisse
12,39f. 12,42-46 12,51-53 12,57-59 13,18f. 13,20f. Drohsprüche
13,23f. 13,25-27 13,28f. 13,34f.
Unsystematische Fortgestaltungen und unsichere Texte
14,5 14,16-24 14,26f.; 17,33 14,34f. 15,4-7 16,13 16,16-18 17,lb 17,3f. 17,6
12,1If. 22,1-14 10,37-39 5,13 18,12-14 6,24 1I,12f.; 5,18.32 18,7f. 18,15.2If. 17,20
Vieh in der Grube Großes Mahl Jüngerschaft und Leiden Salz-Wort Verlorenes Schaf Nicht zwei Herren dienen Geltung des Gesetzes Notwendiges Skandalon Unbegrenzte Vergebung Glaube wie ein Senfkorn
Endzeitrede
17,23f.26f.30.34f.37 19,12-27 22,28-30
24,26-28.37-41 25,14-30 19,28
Endzeitrede Gleichnis von den Talenten Richten über die 12 Stämme
Für die Zitation von Texten aus der Spruchquelle hat sich eingebürgert, Kapitel- und Verseinteilung nach dem LkEv zu wählen, aber durch das vorangestellte Siglum Q anzuzeigen, dass der Q-Text gemeint ist, wie er aus dem LkEv bzw. MtEv rekonstruiert wird. Q 3,7 bedeutet also: der Text, wie er in Lk 3,7 zu finden ist, allerdings in seiner rur Q rekonstruierten Form. Gewisse Probleme bereitet der "Anfang" von Q: Der erste gemeinsame, im Wortlaut völlig übereinstimmende Text, den Mt und Lk gegen Mk bezeugen, ist die Täuferpredigt Q 3,7-9. Vielen erscheint dieser Anfang als zu abrupt. Die Protagonisten werden nicht gebührend eingefilhrt. Folgende Vorschläge wurden deshalb gemacht: einen Anfang analog zu Mk 1,2-5 zu rekonstruieren mit Jes 40,3 als Zentrum (D. R. CATCHPOLE, Quest 75f.; vgl. J. LAMBRECHT, John 364) oder die Versuchungsgeschichte Q 4,1-13 an den Anfang zu stellen (C. M. TuCKETI, Narrative). 1. M. ROBINSON (Incipit 476-485) postuliert als lncipit
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B. Die vier Evangelien
(= Buchtitel) analog zu anderen Spruchsammlungen: OL MSYOL 'l"aoü (die Reden [im Unterschied zu t& MSyur: = die Sprüche] Jesu). Bedenkenswert ist der Vorschlag von A.
LINDEMANN (Fragen 8f.), die Spruchquelle mit den Makarismen Q 6,20-23 beginnen zu lassen. Dadurch ergäbe sich ein unmittelbarer Bogen zum Schluss Q 22,28.30. In bei den Fällen werden die Adressaten unmittelbar angesprochen: "Selig ihr Armen ... " - "Ihr, die ihr mir gefolgt seid ... " Inhaltlich entspricht die Eingangsverheißung (" ... euer ist das Königreich Gottes") dem Gerichtsszenario am Ende: Die Adressaten, die den Weisungen Jesu gemäß der Spruchquelle gefolgt sind, sitzen über die zwölf Stämme Israels zu Gericht. Aber auch über die Gerichtsansage des Täufers Q 3,7-9 wird ein Bogen zum Ende geschlagen. Außerdem ergibt sich mit der Täuferpredigt am Anfang ein in sich sinnvoller und offensichtlich geplanter Aufbau des ersten Teils der Spruchquelle.
1.2 Komposition Der 1. Abschnitt der Spruchquelle, der Täufer-Jesus-Komplex (Q 3-7), ist am klarsten strukturiert und inzwischen am besten erforscht (vgl. E. SEVENICHBAX). Täufer-Ansage (Q 3,16): "Der nacb mir Kommende ist stärker als icb ••. " Programmatische Rede: "Selig ihr Armen ... " (Q 6) Der Hauptmann von Kafamaum (Q 7,1-10) Täuferjünger fragen nacb Jesus (Q 7,19): "Bist du der Kom mende oder sollen wir ••. ?"
Antwort Jesu: Geht und berichtet Johannes, was ihrhörl und seht: Blinde sehen, Lahme gehen und Armen wird das Evangelium verkündet (Q 7,22) Die Ansage des Täufers in Q 3,16: "Der nach mir Kommende ist stärker als ich", wird durch die Frage seiner Jünger in Q 7,19 aufgegriffen - jetzt an Jesus gerichtet: "Bist du der Kommende oder sollen wir auf einen anderen warten?" Die Antwort Jesu in 7,22 verweist auf das zurück, was in den Textblöcken dazwischen zu hören bzw. zu "sehen" war: das durch das Gespräch mit dem römischen Hauptmann initiierte Femheilungsgeschehen (Q 7,1-10) als Beispiel rur weitere Heilungen sowie die programmatische Rede Jesu (Q 6), deren Auftakt die Seligpreisung der Armen bildet. Die Rahmenkomposition, die durch das Signalwort "der Kommende" und die narrative Struktur (Täufer schickt seine JUnger zu Jesus) erreicht wird, wird in der Antwort Jesu bewusst reflektiert.
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B.Il. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner)
Unterschiedlich abgegrenzt werden drei oder vier weitere große Textblöcke. Dabei bilden 11,13 sowie 11,51 gewisse weitere Markierungspunkte, wodurch sich die Jüngerrede (Q 9f.) und die Pharisäerrede (Q 11) als weitere größere Einheiten herausschälen: Manson
Crossan
Täufer und Jesus
Jesus und Täufe (Q 3,1-7,35)
(Q 3,7-7,35) Jünger Jesu (Q 9,57-11,13)
Jünger Jesu (Q 9,57-11,13)
Jesu Gegner
(Q 11,1412,34) Die Zukunft (Q 12,3517,37)
Jacobson
Jesu Gegner (Q 11,14-51) Jesus und Apokalypse (Q 12,2-22,30)
Fleddermann
Hoffmannl Heil Täufer und Jesus Täufer und Jesus Täufer und (Q 3,1-7,35) (Q 3,7-7,35) Jesus (Q 3,2-7,35) Mission und Die Jünger Jesu Die Boten des (Q 9,57-11,13) Menschensohnes Aufnahme (Q 9,57-10,22) I (Q 9,57-11,13) Diese Generation Die Gegner Jesus im (Q 10,23-11,51) (Q 11,14-52) Konflikt (Q 11,14-52) An die Gemeinde Das gegenwärti- Die Jünger in (Q 11,52-22,30) ge Königreich Erwartung des (Q 12,2-13,21) Menschensohnes I (Q 12,2-13,21) Das zukünftige Die Krisis Israels (Q 13,24-14,23) Königreich
(Q 13,24-22,30) Die Jünger in der Nachfolge Jesu
(Q 14,26-17,21) Das Ende (Q 17,23-22,30)
Nimmt man jedoch das Kompositionsprinzip des 1. Teils als Paradigma, nämlich die inhaltliche inclusio der Textteile, so lässt sich der Gesamtstoff in drei große Einheiten gliedern: Gerichtsansage des Täufers (Q 3)
I. Vergangenheit
Jesu programmatische Rede (Q 6) Der Hauptmann von Kafarnaum (Q 7) Jünger des Täufers kommen zu Jesus (Q 7,18-35) Nachfolgebedingungen, Aussendungs- und Bittregeln (Q 9; 10; 11,2-13)
Ir. Gegenwart
Auseinandersetzung mit Gegnern (Q I1, 14--51) Trost und Ermahnung der Jünger (Q 12,2-34)
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III. Zukunft
B. Die vier Evangelien
I I I
Endzeitgleichnisse (Q 12,39-59; 13) Vom Leben der Jünger (Q 14; 15; 16;
17,1~)
Endzeitrede (Q 17,23-37; 19; 22)
Der Jesus-Täufer-Komplex (I) bezieht sich auf die Vergangenheit, der Jüngerkomplex (11) auf die Gegenwart, der eschatologische Komplex (III) auf die Zukunft. Wie in Teil I die Täuferansage durch die Frage seiner Jünger aufgegriffen wird, so werden in Teil 11 Aussendungs- sowie Gebets- bzw. Bittregeln (Q 9,57-11,13) durch Trost und Ermahnung der Jünger (Q 12,2-34) fortgefUhrt. Beide Blöcke flankieren die Thematik der Auseinandersetzung mit Gegnern (Q 11). In Teil III werden die Bilder der Endzeitgleichnisse (Q 12,39f.42-46; 13,18f.20f.) durch die Endzeitrede (Q 17,23-37; 19) und das Gerichtsszenario (Q 22) konkretisiert. Im Mittelteil ist vom Leben der Jünger angesichts des Endgerichts die Rede. Wenn die rekonstruierte Anordnung der Endzeitgleichnisse stimmt, dann sollen diejenigen Gleichnisse, die von der bereits präsenten Gottesherrschaft und deren ständigem Wachstum sprechen (Senfkorn, Sauerteig: Q 13,18-21), von den am Anfang dieses Teils platzierten Gleichnissen her verstanden werden, die von der Zukunft der Gottesherrschaft sprechen. Sie erzählen von der Rückkehr eines Hausherrn und dessen Gericht über seine Sklaven. Der flankierende Schlussblock löst diese rätselhaften Bilder in der Endzeitrede folgendermaßen auf: Der Menschensohn erscheint, und es kommt zum Gericht über die Stämme Israels. Eine inclusio, die sich damit über das gesamte Dokument spannt, ist der Gedanke des Endgerichts: Es wird in der 1. Texteinheit (Q 3,7-9) angekündigt, seine Durchführung im letzten Spruch (Q 22,28.30) verheißen. Die hier vorgeschlagene Gliederung in drei große bzw. neun kleinere Einheiten unterscheidet sich von den meisten anderen dadurch, dass der eschatologische Abschnitt nicht mit Q 12,2 beginnt und dass innerhalb des eschatologischen Abschnittes noch einmal das Leben der Jüngerschaft (Q 14-17) zum Tragen kommt. Genau das wird durch die Kommentierung eines Vertreters der üblichen Textabgrenzung sogar nahegelegt: vor allem durch die Sprüche Q 12,39-59 werde der Blick "nun explizit" auf die Zukunft gelenkt, während es in Q 12,2-34 darum gehe, "sich auf den gegenwärtigen Kairos einzulassen". Mit Q 14,26 wechsle erneut das Thema, es gehe "nochmals um die Jüngerschaft, wobei nun stärker auf gruppeninterne Gefährdungen in der Zeit bis zum Ende Bezug genommen" werde (P. HOFFMANN, Mutmaßungen 287).
1.3 Aktantengerüst
H. T. FLEDDERMANN hat ein erhellendes Aktantengerust herausgearbeitet. Lässt man Einzelauftritte bzw. Einzelbeschreibungen von Figuren weg, treten in Q vor allem folgende vier Charaktere in Erscheinung (Reconstruction 108):
B.II. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner)
Jesus
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~ Johannes der Täufer
Jünger~
Gegner
Im Rückblick auf die vorgeschlagene Gliederung ergibt sich: Teil I portraitiert in Sprecherrollen den Täufer und Jesus. Den Kontakt zwischen beiden stellen die Jünger des Täufers her. Beide Akteure werden von anonymen Gegnern angefeindet (Q 7,31-35). Teil 11 schildert das Bild der Jesusjünger (mit Jesus als Sprecher) - in Auseinandersetzung mit Gegnern, die zum Teil speziell mit den Pharisäern (Q 11,39-52) identifiziert werden. Die Rahmenblöcke von Teil III rechnen mit Israel als Gegner ab, soweit es sich nicht auf die Botschaft der Spruchquelle einlässt (Q I3,34f.; 22), während der Mittelteil das Leben der Jünger angesichts des Endgerichts beleuchtet (Q 14-17) - vielleicht ein Fingerzeig darauf, dass auch die Jünger sich den Anforderungen des Endgerichts zu stellen haben, eine Tendenz, die dann im MtEv im Blick auf die Gemeinde voll ausgebaut wird (~ B.lV.2.1.2[ID.
2. Entstehung 2.1 Entstehungsmodelle Drei unterschiedliche Modelle der Entstehungsgeschichte der Spruchquelle lassen sich unterscheiden: (l) Oral Performance: Das Dokument Q ist das Ergebnis einer kontinuierlichen oral performance. Schlichtweg aus diesem Grund kann man über die präzise Vorgeschichte keine Aussagen machen. Auch nach der Niederschrift bleiben die Texte beweglich, weil sie situationsbedingt zu je unterschiedlichen "Vorfiihrungen" provozieren (R. A. HORSLEY/J. A. DRAPER, Whoever Hears You; R. HORSLEY [Hrsg.], Oral Performance). (2) Dekomposition unter formgeschichtlichen Aspekten: Nach J. S. KLopPENBORG (Formation) bilden sechs weisheitliche Instruktionsreden die älteste Schicht der Spruchquelle (Ql: Grundbestand der programmatischen Rede Q 6, der Aussendungsrede Q 10, der Gebetsunterweisung Q 11, der Mahnungen zur Furcht- und Sorglosigkeit Q 12,2-12.22-34 sowie Belehrungen über den Eingang in die Gottesherrschaft Q 13/QI4; vgl. D. ZELLER, MahnspTÜche 191). In einem zweiten Stadium sei diese Schicht durch apokalyptisch ausgerichtete Texte erweitert und überarbeitet worden, deren Kennzeichen die Gerichtsansage gegenüber Israel ist (Q2: Täuferpredigt Q 3, Hauptmann von Kafarnaum Q 7, Anfrage der Täuferjünger Q 7, Beelzebulstreit und Pharisäerrede Q 11, die eschatologischen Gleichnisse Q 12 sowie die eschatologische Rede Q 17). Auf das Konto der dritten Redaktionsstufe (Q3) gehen gesetzesorientierte Interpolationen (Q 11,42c; 16,17; Präzisierungen durch J. S. KLoPPENBORG VERBIN, Excavating 152f.) sowie vor allem die Tendenz, die Spruchquelle der
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B. Die vier Evangelien
Erscheinungsform einer Vita (~ B.III.l.l) anzunähern, wie das paradigmatisch durch die Einfügung der Versuchungsgeschichte Q 4 geschieht. (3) Konstruktives Modell der Kompositionsgeschichte: H. SCHÜRMANN stellt sich den Wachstumsprozess von kleinsten Mikroeinheiten bis hin zu großen Redekompositionen in vier Schritten vor. (a) Spruchpaare: Ein Einzelspruch wird mit einem weiteren Einzelspruch verknüpft, so dass beide sich gegenseitig interpretieren und eine neue Sinneinheit entsteht. Terminologisch ist von Bezugs- und Kommentarworten (J. WANKE, Kommentarworte) bzw. von Grund- und Zusatzworten (H. SCHÜRMANN, Kompositionsgeschichte) die Rede. (b) Spruchgruppen: Spruchpaare werden kombiniert und evtl. mit einem "Vor-Wort" oder einem "Nach-Wort" versehen. (c) Strukturierte Kompositionen: Spruchgruppen werden zu einer größeren Einheit zusammengefügt. (d) Redekompositionen: Mehrere strukturierte Kompositionen werden, evtl. szenisch eingeleitet, zu Redekomplexen mit übergreifenden Kompositionsstrukturen zusammengebunden, wie etwa die programmatische Rede Q 6. Dieses Modell von einem organischen Wachstumsprozess steht in Analogie zu Entstehungstheorien atl Weisheitsbücher, insbesondere dem Spruchebuch und dem Buch Jesus Sirach, wo ebenfalls (vor allem) Spruchpaare zu größeren thematischen Einheiten zusammengebunden worden sind (C. WESTERMANN, Wurzeln; A. MEINHOLD, Sprüche; R. N. WHYBRAY, Composition). Ein großer Vorzug des SchürInann-Modells liegt sicher darin, dass der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung leicht integriert werden kann: Während die großen Redekompositionen schriftliche Redaktionstätigkeit voraussetzen (vgl. M. EBNERIB. HEININGER, Exegese § 8: Schwelle 3), sind Spruchpaare und Spruchgruppen im mündlichen Raum leicht denkbar, vielleicht sogar noch strukturierte Kompositionen - jedenfalls, wenn man auf die Erkenntnisse von R. A. PIPER (Wisdom) zurückgreift. Er hat herausgearbeitet, dass fünf Sprucheinheiten in Q den gleichen strukturellen Aufbau zeigen: Auf einen weisheitlichen Mahnspruch ("Bittet und es wird euch gegeben ... ") folgt eine allgemein gehaltene Maxime ("Jeder, der gibt, empfängt ... "), die durch Beispiele aus der alltäglichen Erfahrungswelt (meist in Frageform) veranschaulicht wird ("Wer von euch wird seinem Sohn, wenn er ihn um ein Brot bittet, einen Stein geben? ... "). Abschließend kommt es zur konkreten Anwendung (" ... um wie viel mehr wird euch euer Vater Gutes geben"; vgl. Q 11,9-13). In dieser gleichförmigen Struktur wird sozusagen ein rhetorisches Raster erkennbar, das als Rezitationshilfe für mündliche "Aufführungen" gedient haben könnte. Es handelt sich um die Sprüche vom Richten (Q 6,37-42), von der Frucht (Q 6,43-45), vom Bitten (Q 11,9-13), von der Furchtlosigkeit (Q 12,2-9) und der Sorglosigkeit (Q 12,22-31). A. KIRK arbeitet insgesamt zwölf "instructional speeches" mit prinzipiell gleichem Aufbau (Maxime im Mittelpunkt: 152-272) heraus, geht allerdings dezidiert von schriftlicher Redaktionstätigkeit aus (269) und will diese Einheiten keinesfalls zur "Kleinliteratur" gerechnet wissen (270).
BJ!. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner)
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Innerhalb des konstruktiven Kompositionsmodells setzt M. SATO (vgl. A. D. JACOBSON) sozusagen auf höherer Ebene an: Er geht von vornherein von zwei großen Kompositionseinheiten aus (Redaktion A: Jesus-Täufer-Komplex Q 37; Redaktion B: Aussendungskomplex Q 9f.), die dann von einer Redaktion C zusammengebunden und durch weiteres Material erweitert worden seien. Typisch rur diese letzte Redaktionsschicht seien insbesondere die israelkritischen Gerichtsworte (Q 7,31-35; 11,14-52; 13,24-35). Nach diesem Modell kann die Endredaktion nicht besonders stringent gewesen sein; denn gerade der letzte Teil von Q ist am wenigsten klar strukturiert. Es besteht weitgehender Konsens darüber, dass Mt und Lk die Spruchquelle in griechischer Sprache vor sich hatten. Die vielen wörtlichen Übereinstimmungen auch in längeren Passagen (vgl. Q 3,7-9) sind darur Hauptbeleg. Auch atl Zitate verdanken sich griechischen Übersetzungen (vgl. H. T. FLEDDERMANN, Reconstruction 97). Versuche, auf eine ursprüngliche (schriftliche) aramäische Vorstufe zurückzustoßen, bleiben dubios (M. CASEY, Approach; dazu: H. T. FLEDDERMANN, Reconstruction 156f.; generell: J. S. KLOPPENBORG, Formation 51-64). Allerdings lassen sich hinter manchen Aussagen schöne Wortspiele entdecken, wenn man die tragenden Begriffe vom hebräischen Idiom her hört, so z. B. beim Salzspruch (Q 14,34: "Wenn das Salz schal geworden ist, womit wird es gewürzt werden?"), der ursprünglich wohl mit dem Gleichklang von aram. tafal = dumm/schal und aram. taval = würzen spielt (vgl. M. BLACK, Approach 166). Dem Griechisch der Spruchquelle haftet also durchaus noch hebräisches Flair an, was sich zum Teil auch auf die Grammatik niederschlägt. Dass hinter Q ein "Native Greek writer" (H. T. FLEDDERMANN, Reconstruction 156) stehe, bleibt vorerst eine Einzelmeinung.
2.2 Die Gattung Augenblicklich werden hauptsächlich folgende vier Gattungszuweisungen diskutiert: Weisheitliche Spruchsammlung, Prophetenbuch, Biographie, Evangelium. Für die Gattungsbestimmung Evangelium gibt es zwei Begründungsvarianten. In der einen Linie wird fur Q ein bestimmter Anspruch erhoben. Wissenschaftspolitisch soll der theologischen Marginalisierung von Q entgegengewirkt und das Dokument den vier kanonischen Evangelien gleichgestellt werden (A. D. JACOBSON, Gospel 31). Kirchengeschichtlich soll sozusagen rückwirkend der theologische Anspruch, den die Spruchquelle selbst stellt, im Meinungsstreit des Urchristentums - analog zur kämpferischen Aussage des Paulus in Gal 1,6-9 - als ,,(anderes) Evangelium" zur Geltung gebracht werden (1. M. ROBINSON, Sayings Gospel 331). In der anderen Begründungslinie wird die Spruchquelle am MkEv gemessen, also am christlichen Gattungsbegriff "Evangelium" (~ B.ll!.), wie er aus dieser ältesten Jesuserzählung eruiert wird. Je nach Kriteriologie fällt das Urteil anders aus. Stehen strukturelle Kriterien im Vordergrund, also Narrativität und Orientierung am Lebensschicksal der Hauptperson (~ B.ll!.l.I), kann die Spruchquelle keinesfalls als "Evangelium" bezeichnet werden (A. LlNDEMANN, Fragen 14-16). Stehen dagegen inhaltliche Kriterien im
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B. Die vier Evangelien
Vordergrund, also die Beantwortung der Fragen: "Wer ist dieser" (vgl. Mk 4,41; 8,29; vgl. Q 7,19) bzw. "Was bedeutet es, sein Jünger zu sein?" (vgl. Mk 8,34-9,1; Q 14,26f.), so passt die Spruchquelle präzise ins Bild (H. T. FLEDDERMANN, Reconstruction 102-110). Der Mittelweg, das Dokument Q als Spruchevangelium (C. HEIL, Lukas 213-218) zu bezeichnen, bleibt dagegen "halbseiden" (vgl. die Kritik von H. T. FLEDDERMANN, Reconstruction 105f.). Auch Biographie triffi nur für bestimmte Teile des vorliegenden Textes zu, wie bereits die terminologische Einschränkung "Spruch-Biographie" zeigt, die D. DORMEYER (Literaturgeschichte 212-220) vornimmt. Auch die zum Vergleich herangezogenen kynischen Philosophenviten (F. G. DOWNING, Things 95-117), die z. T. aus langen Reihen von Apophthegmen (Ausspruch mit kurzer situativer Einleitung) bestehen, haben einen deutlich narrativen Rahmen und erzählen ausführlich den Tod des Helden (~ B.III.I.I). Die allererste und älteste Gattungsbezeichnung für die Spruchquelle lautet Gnomo!ogie (J. D. MICHAELIS 368). Der Terminus ist der griechischen Literaturgeschichte entlehnt und bezieht sich auf Sammlungen von Aussprüchen (YVWlJl1 = Sinnspruch) eines oder mehrerer als Autoritäten anerkannter weiser Männer, die der Orientierung zur Lebensdeutung und -führung dienen sollen. Mit dem Terminus AOYOL ao<jlwv (= Reden von Weisen) hat in neuerer Zeit vor allem 1. M. ROBINSON unter Rückgriff auf antike Instruktionsreden diese Gattungsbestimmung für die Spruchquelle postuliert. Im Kontrast dazu steht die Bestimmung als Prophetenbuch (M. SATO). Zu Recht wird auf viele Mikrogattungen in Q hingewiesen, die sich auch in Prophetenbüchem finden (Unheilswort: Q 1I,31f.49-51; 13,34f.; Weheruf: Q 6,24-26; 1O,13f.; 11,39-52; 17,1). Die meisten der aufgelisteten Mikrogattungen sind jedoch keineswegs exklusiv für Prophetenbücher in Anspruch zu nehmen (Makarismus, Taliosatz, Botenformel) bzw. stehen eher in weisheitlicher Tradition (Mahnwort, Scheltwort). Die für Prophetenbücher typische Berufungserzählung dagegen fehlt in Q. Außerdem ist das Gerichtskonzept anders: Propheten erwarten innerweltliche Strafgerichte Gottes (Plural!), die Spruchquelle jedoch ein einziges Gericht Gottes am Ende (vgl. B. H. GREGG) - in apokalyptischer Tradition.
Allen Gattungsbestimmungen haftet als Manko an, dass sie nur Teilaspekte des Textkorpus erfassen können. Weiterführend dürfte es deshalb sein, im Rahmen eines Wachstumsprozesses der Spruchquelle auch Gattungsverschiebungen anzunehmen. Das rekonstruierte Textkorpus in seiner Endgestalt zeigt im Label Tendenzen zur Biographie. Das betrifft vor allem den Täufer-JesusKomplex: In narrativ eingeleiteten Szenen wird der Held angekündigt (Q 3) und vor seinem öffentlichen Auftritt getestet (Versuchungsgeschichte Q 4). Im Gesamtdokument kommen vor allem seine Worte zu Gehör, die allerdings in den Teilen 2 und 3 immer seltener szenisch eingeleitet werden. Von seinen Taten ist dagegen wenig zu hören (Ausnahme: Q 7,1-10; 11,14 und die summarische Notiz in 7,22; zur Bedeutung der Wunder vgl. M. HÜNEBURG). Von seinem Tod erfahren wir gar nichts. Vom inhaltlichen Grundgedanken her zeigt die Spruchquelle Kennzeichen eines Prophetenbuchs: Die Hörer werden zum Tun der Tora Gottes ermahnt, ihnen wird bei Nichtbeachtung mit dem Gericht Gottes gedroht, das allerdings - gut apokalyptisch - einmalig am Ende der Geschichte erfolgt. Wie in einer Apokalypse werden die Endereignisse in Q 17 geschildert - aber nur dort! Von der Stoffmasse her ist Q ein Weisheitsbuch mit weisheitlichen Sprü-
RH. Die SpruchquelIe Q (Martin Ebner)
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chen, wie sie auch im Sprüchebuch zu finden sind. In der Spruchquelle sind sie allerdings viel stärker unter inhaltlichen Gesichtspunkten gesammelt und in einen Argumentationszusammenhang gebracht, eine Technik, wie sie sich auch im Buch Jesus Sirach oder in den Instruktionsreden altorientalischer Weisheitsbücher beobachten lässt (1. S. KLOPPENBORG, Formation; D. ZELLER, Grundschrift 400f.: Instruktionsreden von Weisheit und Sirach genügen als Analogien; griechische Gnomologien sind nicht nötig). Allerdings haben in Q eindeutig apokalyptische Gerichtsvisionen weisheitliche Instruktionsreden bereits "infiziert": Wer die Boten Jesu nicht gebührend empfängt bzw. sich nicht zu Jesus und seiner ethischen Botschaft bekennt, dem wird mit dem Gericht gedroht (vgl. Q 10,13-15 am Ende der Aussendungsrede; Q 12,8f. im Rahmen der Sprüche zur Furchtlosigkeit). Das betrifft aber bei weitem nicht alle weisheitlichen Instruktionsreden. In den Sprüchen zur Feindesliebe (Q 6,27-36) und den Sprüchen zur Sorglosigkeit (Q 12,2231) ist von einer apokalyptischen Drohung kein Wort zu hören. Von einer einheitlichen apokalyptischen Redaktion der Stoffe (so aber J. S. KLopPENBORG, Formation; vgl. die Kritik von P. HOFFMANN, Mutmaßungen) kann keineswegs die Rede sein. Die meisten apokalyptischen Gerichtsworte stehen im Dokument Q rur sich. Sie drohen z. B. mit der "Südenkönigin" bzw. mit Jona, die im Endgericht als Zeugen gegen all jene auftreten werden, welche der von der Spruchquelle geforderten Umkehr nicht gefolgt sind (Q 11,31 f.). Sie warnen arglose Müßiggänger vor dem plötzlich eintretenden Endgericht (Q 12,39f.42-46; 17,23-37). Es ist dieser Gerichtsgedanke, der weisheitliche und apokalyptische Stoffe in der Spruchquelle inhaltlich verbindet. Die Weisheit geht von einem innerweltlichen Gericht aus: Wer ihren Ratschlägen nicht Folge leistet, bekommt im eigenen Leben die Folgen zu spüren - vielleicht erst spät, aber sicher. Paradigma ist der Tauschhandel (vgl. Q 6,38; B. JANOWSKI, Tat). Hier wie dort werden Betrügereien zwar nicht sofort, aber auf Dauer gesellschaftlich durch Nichtbeachtung bestraft. Anders die Apokalyptik. Sie legt - ob aus Enttäuschung über die oft fehlende innerweltliche Gerechtigkeit ("Tun-ErgehenZusammenhang") oder wegen des bald bevorstehenden Endes - das Gerichtshandeln in die Hände Gottes. Für die Spruchquelle bedeutet das: Im apokalyptischen Gesamtrahmen, der sich über die Stoffe der Spruchquelle spannt (Q 3,7-9; 22,28.30; -+ 1.2), können ursprünglich innerweltlich gedachte "Gerichtsvorgänge", wie sie innerhalb der weisheitlichen Instruktionsreden formuliert werden, auf das Endgericht am Ende bezogen werden; so z. B. der Sturzregen, der jedes Haus einstürzen lässt, das auf Sand gebaut ist (Q 6,49). Damit ist jeder Mensch gemeint, der nicht auf die Worte Jesu hört, die zuvor in der programmatischen Rede gesprochen worden sind (6,20-45). Für die Gattungsbestimmung ergibt sich insgesamt: Einzelne weisheitliche Instruktionsreden werden in einen apokalyptischen Rahmen gespannt, teils sogar apokalyptisch überschrieben und in der Endphase mit einem biographischen Touch versehen.
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B. Die vier Evangelien
2.3 Trägerkreise Besonders in Europa einflussreich geworden ist die These vom Wanderradikalismus (G. THEISSEN). Menschen, die ihren Besitz (Haus, Äcker) aufgegeben und sich von der Einbindung in ihre Familien gelöst haben (9,57--62; 10,4; 14,26), bezeugen durch ihren Lebensstil die Botschaft, die sie verkünden: von Gottes fiirsorgender Güte (Q 12,22-31) und der Option für gewaltfreie Konfliktbewältigung (6,27-36). Sie reisen von Haus zu Haus bzw. von Stadt zu Stadt und versuchen, Anhänger filr ihre Botschaft zu gewinnen (Q 10,5-12). Von ihnen ist in Q die Rede. Mit ihrer auffälligen "Nicht-Ausrllstung", nur mit einem Mantel bekleidet, aber ohne Geldbeutel, Proviantsack, Sandalen oder Stock mögen sie in hellenistisch geprägten Städten zunächst wie Kyniker erscheinen, die im I. Jh. v. Chr. und im I. Jh. n. Chr. vermehrt durch die Städte ziehen und fiir ihre philosophische Botschaft Anhänger zu gewinnen versuchen. Auch sie verzichten demonstrativ auf Haus und Familie (vgl. die Kynikerdiatribe von Epiktet, Diss III 22). Auch sie setzen sich selbst als Anschauungsobjekt fiir die Praktikabilität und Plausibilität ihrer Botschaft ein ("Seht mich, der ich Haus, Frau und Kinder usw. verlassen habe", sagt Diogenes in der Kynikerdiatribe). Alles, was sie haben, ist auf die konventionelle Reiseausrllstung beschränkt: Mantel, Stock und Ranzen. Darin allerdings werden sie von den christlichen Wandermissionaren noch Ilbertroffen. Überraschend übereinstimmend ist das Eintreten filr gewaltfreie Konfliktlösung auf bei den Seiten - und zwar als Forderung gerade filr die unterlegene Seite. "Schlagen lassen muss er sich wie ein Esel und - geschlagen - auch diejenigen, die ihn geschlagen haben, wie ein Vater aller, wie ein Bruder lieben", fordert Epiktet vom wahren Kyniker (Diss III 22,54). Auch die provokative Verhaltensweise, die den aggressiven Gegner zum Umdenken bewegen will, ist im kynischen Schrifttum belegt (vgl. das Verhalten des Sokrates gegenüber seinem Ankläger; vgl. G. THEISSEN, Feindesliebe; M. EBNER, Feindesliebe). Zu Recht werden Kyniker und kynische Traditionen als sozialgeschichtlich belegbare Analogie filr den Wanderradikalismus in der Jesusbewegung herangezogen (G. THEISSEN, Jesusbewegung). Keineswegs jedoch lassen sich traditionsgeschichtliche Verbindungslinien postulieren (B. L. MACK) oder leichthin voraussetzen (L. E. VAAGE). Die Zentrierung auf die Herrschaft Gottes und das apokalyptische Gericht bleiben die unterscheidenden Kennzeichen (zur Kritik vgl. H. D. BETZ, Jesus; M. EBNER, Jesusinterpretation; C. M. TUCKETI, ACynicQ). Für G. THEISSEN (Wanderradikalismus) sind die Wanderradikalen die eigentliche Überlieferungsinstanz der Spruchquelle. Er leugnet nicht, dass durch die Verkündigung Sympathisantengruppen entstanden sein können, also Menschen, die der Q-Botschaft zwar prinzipiell zustimmen, sich aber selbst nicht auf das radikale Ethos von Familien- und Besitzverzicht einlassen wollen. Mit ihren Häusern bilden sie so etwas wie Stützpunkte fiir die Wanderradikalen. Innerhalb der Texte der Spruchquelle wird auch ihre Situation berücksichtigt: Sie sollen darum beten, dass es weiterhin (noch mehr) Wanderradikale gibt (Q 10,2). Sie sollen denen freizügig geben, die sie (um Geld) bitten (Q 6,30); statt Vorräte auf der Erde, sollen sie lieber Schätze im Himmel sammeln (Q 12,33f.); beides sind Forderungen, die schlecht an die Wanderradikalen ge-
B.II. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner)
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richtet sein können, die doch nichts haben. Im Kontext der Spruchquelle erscheinen beide Forderungen als Übertragungen auf die Situation der Sesshaften bzw. als Weiterschreibungen von Feindesliebe (Q 6,27-36) und Sorglosigkeitsaufforderung (Q 12,22-31), quasi nachgebesserte Anhänge zum Haupttext. Ebenfalls nur bei Sesshaften kann das Gleichnis vom Hausherrn, der sich von einem Dieb nicht überraschen lassen sollte (Q 12,39f.), bzw. vom Hausverwalter, der immer mit dem überraschend zurückkehrenden Hausherrn rechnen sollte (Q 12,42-46), auf einen realen Resonanzboden stoßen. Schließlich bilden nach G. THEISSEN die Sympathisantengruppen so etwas wie eine Kontrollinstanz, denn von ihrer Rezeption hängt ab, was überliefert wird und was nicht (Jesusbewegung 81). Die eigentlich produktiven Träger der Überlieferung jedoch bleiben die Wanderradikalen (zur Kritik vgl. T. SCHMELLER, Brechungen; W. STEGEMANN, Wanderradikalismus). Ganz anders sieht das Paradigma aus, das besonders von der US-amerikanischen Forschung propagiert wird (J. S. KLOPPENBORG VERB IN, Excavating 166-213; W. E. ARNAL; R. A. HORSLEY, Q and Jesus): Träger der Überlieferung seien nicht Wanderradikale, sondern sesshafte Dorfschreiber, also Schriftgelehrte. In einer frühen Phase mag es den Wanderradikalismus gegeben haben, durch die Abfassung der Spruchquelle habe er seine Bedeutung verloren. Aufrufe zu einem radikalen Lebensstil seien eher bildhaft zu verstehen. Schließlich setze die Spruchquelle Häuser und Besitz voraus. Eigentliche Intention sei es, zu einer Gottunmittelbarkeit herauszurufen, die gleichzeitig sozialkritische Akzente trägt, nämlich die Opposition gegen soziale und kultische Hierarchie, konkret gegen Herodes Antipas (4 v. Chr. - 39 n. Chr.) und den Tempel von Jerusalem. Wenn überhaupt noch mit Botengängen und missionarischen Wanderungen zu rechnen ist, so handelt es sich - bei der Siedlungsdichte Galiläas - eher um "morning walks". Einen geschickten Vermittlungsversuch unternimmt T. SCHMELLER (Reflexions). Er geht von der Beobachtung aus, dass die Bitte um Wanderradikale (Q 10,2) und die Instruktion derer, die tatsächlich auf Wanderschaft gehen (Q 10,3-10), an das gleiche Publikum gerichtet sind. Im Text jedenfalls werden die Adressaten (gemäß der gängigen Rekonstruktion) nicht unterschieden. Daraus schließt er: Die Träger von Q sind Sendende und Gesandte zugleich. Tatsächlich gibt es Wanderradikale - aber nur auf Zeit. Es gibt Menschen, die auf Haus und Besitz verzichten - aber nur während der Phase der Missionstätigkeit. Die "Zeit-Wanderradikalen" arbeiten nicht mit vollem Risiko, sondern "im Netz". Zur Kennzeichnung dieses Phänomens greift er auf eine Begrifflichkeit zurück, die C. M. TUCKETI geprägt hat: "itinerancy" - im Gegensatz zu "homelessness" (Wanderradikalenthese von Theißen). Im Blick auf die Entstehungsgeschichte der Spruchquelle Q ist am ehesten mit unterschiedlichen Stadien hinsichtlich der produktiven Überlieferungsträger zu rechnen: In einer ersten Phase waren sicher die Wanderradikalen ausschlaggebend. In einer zweiten Phase gewinnen die lokalen Stützpunkte an Gewicht, ohne die die Wanderradikalen auf Dauer nicht überleben können.
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B.
Die vier Evangelien
Dadurch wird jedoch ihr Einfluss auf die Überlieferung gewichtiger, was sich u. a. in den "Nachträgen" niederschlägt, die speziell für die Situation der Sesshaften formuliert sind. In einer dritten Phase dürften tatsächlich sesshafte Dorfschreiber, also Schriftgelehrte, die ab sofort auf den "Lehrer" Jesus setzten, das Ruder in die Hand genommen und die (bis dahin vielleicht zum großen Teil noch mündlichen) Q-Traditionen endgültig fixiert - und d. h. gleichzeitig: mit ihren eigenen theologischen Ideen bereichert haben. Wenn wir zumindest für das MtEv davon ausgehen, dass die Q-Traditionen von lokalen Schriftgelehrten für die mt Gemeinde bereits weiterentwickelt wurden (~ B.lV .2.4.1), und wenn wir gleichzeitig mit regional unterschiedlichen Überlappungen der Phasen rechnen, dann bekommt die Rede von "unterschiedlichen Rezensionen" der Spruchquelle, wie sie Lk bzw. Mt vorlagen, konkrete Bodenhaftung. H. T. FLEDDERMANN (Reconstruction 166f.) beharrt darauf, dass "a single author" für das Schlussdokument verantwortlich ist. Das mag rur Einzelfälle in Phase 3 vielleicht zutreffen. Aber angesichts des rekonstruierten Überlieferungsprozesses wird dabei jedoch der "soziale Anfang", der Einfluss der Sympathisantengruppen sowie das generell auf Diskussion angelegte Schriftgelehrtenmilieu ausgeblendet, selbst wenn am Ende ein Einziger den Text niedergeschrieben hat.
2.4 Milieu und Adressaten Während die gesamte Q-Forschung sich sicher ist, dass die Spruchquelle von einer intakten jüdischen Matrix aus zu lesen und zu verstehen ist, gelegentlich sogar von "prechristian Jews" (A. D. JACOBSON, Gospel 212) die Rede ist, setzt H. T. FLEDDERMANN (Reconstruction 163-166) einen steilen Kontrapunkt. Er behauptet nicht nur, dass Q sich an Heiden als Adressaten richtet, sondern dass der Background der Schrift selbst inzwischen in einem heidnischen Christentum liege. Als Grunde dafür nennt er: die scharfen Gerichtsworte gegen Israel, die nicht einfach als letzte Warnung zu verstehen seien, sondern als Rückblick auf ein tatsächlich letztes Wort, das aus einer gescheiterten Mission in Israel resultiere; Gott könne Abrahamskindschaft frei kreieren (Q 3,8); der heidnische Hauptmann werde als erster Jünger stilisiert (Q 7,1-10); insgesamt herrsche eine universalistische Perspektive vor (Q 13,18f.20f.); an die Stelle des Tempels (als dem Ort der Gottesgegenwart und seiner Verehrung schlechthin) trete das Haus, das sich allmählich mit Hochzeitsgästen füllen soll (Q 13,35; 14,23). Dass die Spruchquelle bereits die heidnische Welt im Blick hat, lässt sich nicht leugnen. Aber auch in diesem Fall ist ein Entwicklungsprozess zu veranschlagen, dessen Verlauf und Radius sich sehr gut an der Instruktionsrede Q 10 beobachten und abstecken lässt:
B.lI. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner) SenderRegel
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2Er sagte seinen JUngem: Die Ernte ist zwar groß, Arbeiter gibt es aber nur wenige; bittet daher den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter zu seiner Ernte hinausschicke.
AusgesandtenRegel
4Tragt keinen Geldbeutel, keinen Proviantsack, keine Sandalen, auch keinen Stock! sWenn ihr aber in ein Haus hineingeht, sagt als Erstes: Friede diesem Haus. 6Und wenn dort ein Sohn des Friedens ist, soll euer Friede zu ihm kommen; wenn aber nicht, soll euer Friede zu euch zurückkehren. 7Bleibt in diesem Haus, esst und trinkt, was sie euch geben, denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert. Wechselt nicht von Haus zu Haus. 8 Und wenn ihr in eine Stadt hineingeht, und sie nehmen euch auf. esst, was euch vorgesetzt wird. 9Und heilt die Kranken in ihr und sagt ihnen: Nahe zu euch ist die Königsherrschaji Gottes gekommen. fOWenn ihr aber in eine Stadt hineingeht, und sie nehmen euch nicht auf. geht weg aus jener Stadt, lI und schüttelt den Staub eurer Füße ab. flIeh sage euch, Sodom wird es anjenem Tag erträglicher ergehen als Stadt.
Wir können einen Zwei-Stufen-Plan erkennen: An die Hausrnission (10,5-7: fett gedruckt) schließt sich die Stadtmission (10,8-12: kursiv gedruckt) an. Allerdings sind die Verhaltensregeln in beiden Fällen prinzipiell verschieden: Bei der Hausrnission erfolgt der Friedenswunsch unabhängig davon, ob die Bittenden aufgenommen werden oder nicht. Falls ihr Friedenswunsch auf kein gutes Echo stößt, kehrt er zu ihnen zurück, d. h. wer die Gäste abweist, beraubt sich selbst einer Gabe. In der Anweisung rur die Stadtrnission dagegen ist die freundliche Aufnahme Vorbedingung rur die Aktionen der Missionare: ihre Verkündigung und ihre Krankenheilungen. Ansonsten kommt es zu einem mit massiven Gesten zum Ausdruck gebrachten Kommunikationsabbruch (M. TI WALD 167-169). Um diese Anweisungen ist ein weiterer Rahmen gelegt (grauschattiert), der zum einen eine apokalyptische Gerichtsandrohung ausspricht (10,13-15), zum anderen die innere Einstellung der Missionare zeigt (10,3). Sie flihlen sich wie Schafe, die unter die Wölfe geschickt werden. Dieses Kontrastbild ist in der apokalyptischen Literatur belegt, allerdings wird gewöhnlich Israel als Ganzes mit den Schafen identifiziert, während die feind-
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8. Die vier Evangelien
Iiche Heidenwelt im Gewand der Wölfe erscheint. Dass dieses geprägte Bild in der Spruchquelle spezifisch anders aufgegriffen wird, zeigt, dass sich die QLeute in Israel zu gefährlichen Feinden geschickt sehen. Umgekehrt dürfen diejenigen, die sich der Q-Botschaft öffnen, in den Boten Jesus selbst aufnehmen (10,16). Was ergibt sich daraus im Blick auf eine jüdische bzw. heidnische Matrix sowie auf die angezielten Adressaten? Heiden werden lediglich im Rahmen der apokalyptischen Drohung (l 0, 13-15) als virtuelle Motivationsbeispiele genannt. Es handelt sich sozusagen um das äußerste Mittel, um doch noch das zu erreichen, was bisher durch Haus- und Stadtrnission nicht erreicht werden konnte: sich in Israel Gehör zu verschaffen. Dabei könnte die Hausrnission, bei der es zuallererst um Quartiersuche (!) geht, noch die jesuanische Praxis spiegeln. Nach dem Tod Jesu beschleunigen die Q-Leute ihr Missionstempo und ihren Missionsradius, indem sie sofort ganze Städte erreichen wollen. Gerade die Ablehnung, vielleicht besser: Gleichgültigkeit ("apathy": C. M. TuCKElT, History 323) gegenüber der Botschaft der Q-Leute provoziert deren gesteigertes (apostolisches) Sendungsbewusstsein (10,3.16) samt entsprechenden Sanktionsandrohungen (10,13-15). Psychologisierend könnte man darin den Versuch der Reduktion kognitiver Dissonanz sehen. Hand in Hand mit den apokalyptischen Unheilsszenarien Israel gegenüber (neben 10,13-15 vgl. 11,49-51; 13,34f.) sind Komplimente und Verheißungen für ein virtuelles heidnisches Publikum zu lesen (neben 10,13-15 vgl. 13,28f.). In den scharfen Gerichtsandrohungen Israel gegenüber zeigt sich ein verzweifeltes Ringen um die eigentlich angezielten Adressaten, keineswegs dagegen eine Rückschau auf vollendete Tatsachen aus dem inzwischen heidenchristlichen Milieu heraus. Genauso wie die Erzählung vom heidnischen Hauptmann (Q 7,1-10) und die Befreiung von den jüdischen Speisegeboten innerhalb der Aussendungsregeln (Q 10,7) eher als Motivation für die Missionare bzw. als mentale Vorbereitung für den Fall erscheint, dass sie - anders als Jesus, den der Hauptmann selbst davor bewahrt (Q 7,6) - tatsächlich über die Schwelle eines heidnischen Hauses treten, dessen Türe sich ihnen öffnet. Schließlich: Gerade die Tatsache, dass das "Gesetz" im gesamten Dokument nicht zur Disposition gestellt wird, sondern von seiner bleibenden Gültigkeit ausgegangen wird (Q 16,17; vgl. 13,24), zum "FrUchtebringen" (Q 3,8; 6,4345) aufgefordert und um Wichtiges bzw. Unwichtiges im Gesetz (Q 11,42) sowie um die "richtige" Lesart von Gesetzen (16,18) gestritten wird, zeigt, dass die Matrix von Q völlig innerhalb des jüdischen Hauses bleibt. Auch wenn die heidnische Welt als Adressat der Verkündigung bereits im voraus verklärt dargestellt und die Missionare für die konkrete Begegnung mit ihr (im Haus!) präpariert werden, ist diese Sicht theologisch noch längst nicht integriert: Das Gericht am Ende ergeht - nur - über die zwölf Stämme Israels, nicht über alle Völker wie in Mt 25,31-46 (~ B.lV.3.2).
8.11. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner)
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2.5 Ort und Zeit Entsprechend den skizzierten Entwicklungsstadien (~ 2.4) dürfte die erste Phase der Hausrnission in Galiläa zu lokalisieren sein. Die Q-Leute setzen Jesu Aktionen fort. Bezüglich der Lokaltraditionen sind in den Weherufen gegen Chorazin, Betsaida und Kafarnaum (10,13-15) vor allem Erinnerungen an scheiternde Missionsversuche im Stadium der Stadtrnission festgehalten. Im Gegensatz etwa zum MkEv (~B.V.1.2) bleibt Galiläa in der Spruchquelle - bis auf die Begegnung mit dem heidnischen Hauptmann Q 7,1-10 - negativ besetzt. Wenn allerdings ein Strang der Q-Trägerschaft am Ende in der vor-mt Gemeinde in Antiochien am Orontes in Nordsyrien (-) B.lV.2.5), deren Gründungsmissionare sie vielIeicht sogar gewesen sind (~ B.lV .2.4.1), ankommen solI, müssen sich die Q-Missionare in Richtung Norden bewegt haben. Die "Traumstädte" Tyrus und Sidon (vgl. 10,13f.) geben die Richtung vor, auch wenn fraglich ist, ob diese Großstädte tatsächlich Schauplätze der Q-Mission geworden sind (vgl. aber Apg 21,3). Das ist auch gar nicht nötig. Zur Stadt Tyrus gehört wie zu jedem antiken Stadtstaat ein großes ländliches Territorium (pagus vicinalis). In diesem tyrisch-galiläischen Grenzgebiet sind noch bis zum jüdisch-römischen Krieg (66-70 n. Chr.) jüdische Dörfer anzutreffen, die ganz in der jüdischen Kultur verankert sind (G. THEISSEN, Lokalkolorit 69f.). Das könnten erste Anlaufstationen außerhalb Galiläas gewesen sein. Die Tatsache jedoch, dass die Spruchquelle in Griechisch verfasst ist und auch die frühe Traditionsbildung sofort im Griechischen anzunehmen ist - Übersetzungsspuren lassen sich jedenfalls nicht nachweisen (-+ 2.1) -, setzt nicht nur voraus, dass die Missionare zweisprachig (aramäisch/griechisch) waren, sondern auch, dass ihre Adressaten das griechische Sprachidiom eingefordert haben, also Juden (später vielleicht tatsächlich Heiden) in größeren Städten gewesen sind; denn dort ist Griechisch die lingua franca, während die Landbevölkerung den jeweiligen lokalen Dialekt spricht (so etwa in Antiochia; die Sprache der Landbevölkerung im Umfeld der Stadt ist Syrisch). Der Vorlauf zum Sprachenwechsel vom Aramäischen zum Griechischen kann just im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet stattgefunden haben. Dort ist die Zweisprachigkeit (phönikisch/griechisch) der (tyrischen) Bevölkerung belegt, wobei das palästinische Aramäisch und das Phönikische offenbar so eng verwandt sind, dass Josephus die "phönikische Sprache" mit der Sprache der Juden identifizieren kann (Ap 1173; vgl. G. THEISSEN, Lokalkolorit 71-73). Zu Recht wird die fixe Situierung der Q-Gemeinde in Galiläa, wie sie insbesondere von der nordamerikanischen Forschung im Zusammenhang mit der Ortsschreiber-Hypothese (--> 2.3) vertreten wird, als romantische Idee verworfen (vgl. 8. A. PEARSON, Community); eine - oppositionell dazu vertretene - Verortung der Q-Leute ausgerechnet in Jerusalem (M. fRENSCHKowsKI, Galiläa) schießt dagegen über das Ziel hinaus. Im Blick auf die zeitliche Einordnung finden sich extreme Frühdatierungen
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B. Die vier Evangelien
(vgl. G. THEISSEN, Lokalkolorit 215-232, der die Versuchungsgeschichte, speziell die Aufforderung des Teufels zur Proskynese in Q 4,7 mit der Caligula-Krise im Jahr 40 n. Chr. in Verbindung bringt) genauso wie extreme Spätdatierungen (vgl. M. MYLLYKOSKl, History, der rur die Zeit nach dem jüdisch-römischen Krieg plädiert und etwa das Jahr 75 n. Chr. vorschlägt; vgl. P. HOFFMANN, Redaction). Auf dem Hintergrund einer langen Entwicklungsgeschichte von Q besitzen sie einen nur relativen Stellenwert: Terminus post quem ist demnach der Tod Jesu, terminus ante quem die "Übernahme" der Spruchquelle ins MtEv (80er Jahre; ~ B.lV.2.6) bzw. ins LkEv (80er/90er Jahre; ~ B.VI.2.6). Im Unterschied zum Markusevangelium (vgl. Mk 13,lf.; 14,58; ~ B.V.2.4) wird in der Spruchquelle nicht deutlich von der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gesprochen, wohl aber die Gefahr der Einnahme der Stadt im israelkritischen Wort Q 13,35 gesehen: "Siehe, euer Haus wird euch verlassen werden ... " Das könnte mit dem römischen Ritus der evocatio zusammenhängen, wonach vor der Zerstörung einer Stadt die Stadtgötter aufgefordert werden, den Tempel und die Stadt zu verlassen. Nachdem in die mt Version des Q-Gleichnisses vom großen Gastmahl (Q 14,16-23) im Unterschied zur Ik Fassung, die eine andere Intention verfolgt (Lk 14,15-24; vgl. M. EBNER, Symposion), der Rückblick auf die Zerstörung Jerusalems deutlich eingearbeitet ist (Mt 22,7), könnten gegen Ende des jüdisch-römischen Krieges die Traditionen der Spruchquelle schon fest im Griff der vor-mt Schriftgelehrten gewesen sein. 2.6 Q und das MkEv
Obwohl das MkEv die herausragenden Q-Texte wie Vaterunser, Feindesliebe usw. nicht überliefert, gibt es doch gut zwanzig Spruche und vier Kurztexte, in denen sich die beiden Traditionsstränge überschneiden. In der Forschung spricht man von "overlap texts", textlich greifbar in den Dubletten des MtEv und des LkEv (~ B.1.2.3). Die Texte: Der Bote (Mk 1,2; Q 7,27); der Kommende (Mk 1,7f.; Q 3,16f.); Beelzebulkontroverse (Mk 3,22-27; Q 11,14f.17-26); die unvergebbare Sünde (Mk 3,28-30; Q 12,10); die Lampe (Mk 4,21; Q 11,33); das Verborgene (Mk 4,22; Q 12,2); das Maß (Mk (4,24; Q 6,38); vom Haben (Mk 4,25; Q 19,26); Sentkomgleichnis (Mk 4,30-32; Q 13,18f.); Aussendungsrede (Mk 6,7-13; Q 10,2-16); Zeichenforderung (Mk 8,11-13; Q 11,16.29-32); vom Kreuztragen (Mk 8,34; Q 14,27); vom Lebenretten (Mk 8,35; Q 17,33); Jesus und der Menschensohn (Mk 8,38; Q 12,8f.); vom Aufnehmen (Mk 9,37; Q 10,16); Parteigängerschaft (Mk 9,40; Q 11,23); Skandalon (Mk 9,42; Q 17, lf.); das Salz (Mk 9,50; Q 14,34f.); Scheidung (Mk 10,11f.; Q 16,18); Erste und Letzte (Mk 10,31; Q 13,30); Glaube (Mk 11,22f.; Q 17,6); Bitten und Erhalten (Mk 11,24; Q 11,10); erste Plätze (Mk 12,38f.; Q 11,43); Bekennen (Mk 13,11; Q 12,llf.); Zerreißen der Familien (Mk 13,12; Q 12,51-53); Gerüchte über einen Kommenden (Mk 13,21; Q 17,23); Jesu Worte (Mk 13,31; Q 16,17); Ungewissheit der Stunde (Mk 13,35; Q 12,40) (Liste nach H. T. FLEDDERMAN, Mark).
B.II. Die Spruchquelle Q (Martin Ebner)
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Zwei Modelle der Zuordnung von Q-Tradition und MkEv werden in der Forschung diskutiert: Das traditionsgeschichtliche Modell geht davon aus, dass beide Textkorpora aus einem ihnen vorausliegenden gemeinsamen mündlichen Traditionspool schöpfen, die Traditionswege sich aber sehr früh getrennt haben (R. LAUFEN, Doppelüberlieferungen 59-77; J. SCHÜLING, Studien). Das redaktionsgeschichtliche Modell behauptet, das MkEv hätte Q in schriftlicher Form gekannt, die Q-Traditionen wurden von Mk aufgenommen und bearbeitet (H. T. FLEDDERMANN, Mark). Erklärungsbedürftig an dieser Theorie bleibt, weshalb Mk Vaterunser, Feindesliebe usw. nicht übernommen hat. Die Rückantwort darauf, beide Schriften sollten sich gegenseitig ergänzen (J. LAMBRECHT, Q-Influence 304; W. SCHMITHALS, Einleitung 403), löst die Frage der Überschneidungen nicht und bleibt rein hypothetisch.
3. Das ganz andere Spiegelbild vom Anfang Die besondere Bedeutung der Spruchquelle liegt darin, dass sie einen alternativen theologischen Entwurf präsentiert, der in vielen Punkten andere Konturen zeigt, als wir das von den kanonischen Evangelien und den Paulusbriefen her gewohnt sind.
3.1 Zwei Helden des Anfangs: Der Täufer und Jesus
Die Spruchquelle schaut auf zwei Helden des Anfangs zurück: auf den Täufer und auf Jesus - in dieser Reihenfolge (vgl. Q 3-7). Dabei fungiert der Täufer keineswegs nur als Vorbote und Ankündiger wie in den kanonischen Evangelien. In der Komposition der Spruchquelle bildet er vielmehr die beherrschende Rahmenfigur des ersten Blocks (Q 3-7). Im Blick auf das Gesamtdokument gibt der Täufer sogar die Linien der Theologie vor: die Ausrichtung auf das apokalyptische Endgericht (so die allererste Einheit Q 3,7-9), die sich wie ein roter Faden durch das ganze Dokument bis hin zu seiner Schlussvision (22,28.30) zieht. Damit dürfte ein Stück Historizität eingefangen sein. In der historischen Jesusforschung jedenfalls gibt es einen Konsens darüber, dass Jesus sich nicht nur vom Täufer hat taufen lassen, sondern längere Zeit auch sein Schüler gewesen ist (vgl. M. EBNER, Jesus 83-85). Dort hat der "Steinhandwerker" (vgl. Mk 6,3) die apokalyptische Theologie (unmittelbar bevorstehendes Gericht, dem dann die Gottesherrschaft folgt: Q 3,7-9) gelernt, die er dann - vermutlich aufgrund seines "Schlüsselerlebnisses" (vgl. Lk 10,18; dazu: M. EBNER, Jesus 86-92; aufgenommen von M. THEOBALD, Satan) kreativ umgesetzt hat: Er trennt sich vom Täufer, verkündet in Galiläa die bereits angekommene Gottesherrschaft, deren handgreifliche Folgen er in den gelungenen Dämonenaustreibungen erkennt (Q 11,20). In seinen umstrittenen Mählern mit "Zöllnern und Sündern" feiert er bereits in der Gegenwart das tUr
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B. Die vier Evangelien
die Endzeit erwartete große Fest der Gottesherrschaft - und heimst sich entsprechende Vorwürfe ein (Q 7,34; Mk 2,16). Es ist eine offene Frage, ob sich hinter der Selbstvergewisserung des Täufers, d. h. in seiner Frage, die er durch seine Jünger an Jesus ausrichten lässt: "Bist du der Kommende ... " (Q 7,19), nicht eine Selbstvergewisserung von ehemaligen Täuferjüngern verbirgt, die sich nach dem gewaltsamen Tod ihres Meisters (und nach dem gewaltsamen Tod Jesu) fragen, ob die eschatologische Gestalt, die der Täufer erwartet hat und deren Namen er nicht genannt hat (vgl. Q 3,16f.: " ... Der nach mir Kommende ist stärker als ich ... er wird euch im heiligen Geist und Feuer taufen"), nicht vielleicht doch (in Wirklichkeit) Jesus von Nazaret war. In diesem Fall hätten wir im ersten Block der Spruchquelle (Q 3-7) das Dokument eines Verschmelzungsprozesses zweier Jüngergruppen vorliegen, die ihre bei den (von Israel abgelehnten) Helden gemeinsam rechtfertigen (vgl. Q 7,31-35) und ihre Zuordnung heilsgeschichtlich bzw. theologisch abgleichen: Jesus wird als die vom Täufer erwartete Figur geglaubt (heilsgeschichtliche Interpretation der Täuferansage Q 3, 16f.), daflir gibt (wieder) die apokalyptische Perspektive der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Gerichts den Ton an (die Täuferansage Q 3,7-9 bildet die theologische Achse der Spruchquelle). Damit setzen christologische Reflexionen ein - bei gleichzeitiger Re-Apokalyptisierung der Jesusstoffe (die ursprünglich von der Gegenwärtigkeit der Gottesherrschaft ausgehen). 3.2 Keine Passionserzählung und keine Sühnetodvorstellung
In der Spruchquelle gibt es weder eine Passionserzählung noch die Sühnetodvorstellung ("gestorben flir unsere Sünden"). Zwar wird der Tod Jesu vorausgesetzt, aber einerseits im Sinn eines Nachfolgemodells (vgl. Q 14,27; dazu M. EBNER, Weisheitslehrer 101-103), andererseits in der Deutung durch die so genannte Prophetenmordtradition (0. H. STECK, Israel): Jesus ist es ergangen, wie es Propheten, die Gottes Wort ungeschminkt den Menschen verkünden, zu ergehen pflegt. Sie werden abgelehnt und am Ende getötet. Aber Gott lässt das nicht ungesühnt: Er schickt seinem Volk "Gerichte", d. h. er lässt es in die Hände von Feinden fallen, bis es wieder um sein Erbarmen schreit - und er ihm erneut Propheten schickt, die sein Wort verkünden; so das dtn heilsgeschichtliche Schema (vgl. Neh 9,26-30), das nachträglich nationale Katastrophen durch den Ungehorsam des Volkes gegenüber den von Gott gesandten Propheten zu erklären versucht. In der Spruchquelle wird dieses geschichtstheologische Deutungsmuster rur Jesus (und den Täufer) folgendermaßen (funktional) angewandt: Es ist der gewaltsame Tod, der bezeugt, dass Jesus (und der Täufer) wirklich Propheten Gottes waren. Und anstelle immer wiederkehrender "Gerichte" wird Gott alle Schuld "vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der zwischen dem Altar und dem Tempel umgekommen ist", in cumulo im Endgericht einklagen (vgl. Q 11,49-51).
B.II. Die Spruchquelle Q (Martin EbneT)
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Außer der (zu erwartenden) Zentrierung auf das apokalyptische Endgericht flillt zweierlei auf: (I) In dieser theologischen Deutung wirkt nicht der Tod Jesu (oder der des Täufers) sühnend, sondern umgekehrt: Gott selbst sühnt den ungerechten Tod seiner Propheten durch die Bestrafung des ablehnenden Publikums im Endgericht. Zugespitzt formuliert: Nicht Jesu Tod rechtfertigt die Glaubenden, sondern Gott rechtfertigt seinen Propheten Jesus (und seinen Propheten Johannes). (2) Die Aussage in Q 11,49-51 ist namentlich nicht speziell auf Jesus (oder den Täufer) bezogen, sondern allgemein auf "Propheten und Weise". Jesus wird also gerade nicht als Sonderfall herausgehoben, sondern - um seinem Tod überhaupt einen Sinn abgewinnen zu können - in eine lange Reihe von Gotteszeugen eingereiht.
3.3 Statt Auferweckung und Ostererscheinungen: Entrückung zum Menschensohn
In der Spruchquelle ist auch weder von der Auferweckung Jesu noch von Ostererscheinungen die Rede. Dafür ist eine Entrückung angedeutet. Zwei Texte kommen dafür in Frage. Sie greifen unterschiedliche Modelle auf. (l) Anders als in Mk 8,11-13 wird in Q 1I,16.29f. positiv auf die Zeichenforderung reagiert: Das Zeichen für diese Generation wird der Menschensohn sein - in Analogie zum Zeichen des Jona für die Niniviten. Damit kann nur dessen "Ausgespucktwerden" aus dem Bauch des großen Fisches gemeint sein (Jon 2,11). Wie Jona, der in den Augen der Menschen vom großen Fisch verschlungen worden ist und tot schien, von Gott aber den Niniviten (als eschatologisches Zeichen seines Gerichtshandeins) vor Augen gesetzt wird, so auch Jesus: In den Augen von Menschen getötet, wird er durch die Aktion Gottes beim Endgericht als Menschensohn erscheinen. Bei dieser Anwendung der Entrückungsvorstellung zeigt sich die Spruchquelle im Schnittpunkt zwischen jüdischer und hellenistischer Kultur: Gemäß jüdischer Tradition können herausragende Menschen noch zu Lebzeiten in den Himmel entrückt werden (vgl. 2 Kön 2: Elija), um zum Einsatz für eine eschatologische Furiktion im Himmel bereitgehalten zu werden (vgl. die eschatologische Funktion des Elija: Sir 48,10; Mal 3,23; vgl. G. HAUFE). Gemäß der hellenistischen Entrückungsvorstellung ist gerade das Verschwinden des Leichnams ein Zeichen dafür, dass die oder der Betroffene zu den Göttern in den Himmel entrückt worden ist (vgl. den Liebesroman Chaireas und KalIirhoe 3; Anwendung für Q: D. A. SMITH 2003; DERS. 2006). Beide Vorstellungen werden in Q 11,29f. über die Figur des Jona kreativ im Blick auf das Geschick Jesu verknüpft. (2) Das Logion in Q 13,34f. kombiniert die Prophetenmordtradition mit dem jüdischen Weisheitsmythos. Wie die Weisheit höchstpersönlich versucht auch Jesus, seine "Kinder zusammenzuführen, wie ein Vogel seine Jungen zusammenführt" (Q 13,34; vgl. LXX Sir 1,15; 16,16). Aber weil er von den Men-
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schen abgelehnt wird (Prophetenmordtradition in Q 13,34: ,,Jerusalern, Jerusalem, die tötet die Propheten und steinigt die zu ihr Gesandten ... "), verlässt er diese Erde, speziell den Tempel (Q 13,35: "Siehe, euer Haus wird euch verlassen werden. Ich sage euch: Nicht sollt ihr mich sehen ... "), um - so ist zu ergänzen - seine Wohnung im Himmel zu nehmen (vgl. äthHen 42,1-3: " ... die Weisheit kehrte an ihren Ort zurück und nahm ihren Sitz unter den Engeln ... "). Im Endgericht wird diese himmlische Gestalt dann von Gott den Menschen gezeigt und sie zur Anerkennung herausfordern (Q 13,35: " ... bis ihr sagt: Gepriesen sei der Kommende im Namen des Herrn"; vgl. LXX Ps 117,26). Im Unterschied zum Paradigma Auferweckung, wie es insbesondere durch die Paulusbriefe geprägt ist, setzt das Paradigma Entrückung das Schwergewicht gerade nicht darauf, dass die Endzeit partiell - nämlich mit der Auferweckung eines Einzelnen aus den Toten - schon begonnen hat, sondern richtet alle Aufmerksamkeit auf das Endgericht als das eigentliche Eingangstor in die Gottesherrschaft. Alles kommt darauf an, jetzt in dieser Zeit bereits den Weisungen Jesu Gehör zu schenken, um dann beim Endgericht nicht böse überrascht - und wie ein Baum ohne Früchte (vgl. Q 3,7-9) - verbrannt zu werden.
3.4 Variable Christologie - konstante Ethik Mit der Christologie geht es in der Spruchquelle drunter und drüber. Auf der einen Seite ist Jesus einer der vielen Propheten, deren unschuldiger Tod von Gott selbst gerechtfertigt werden muss (Q 11,49-51), auf der anderen Seite spricht und handelt er wie die göttliche Weisheit höchstpersönlich (Q 13,34f.), obwohl er an anderer Stelle (gemeinsam mit dem Täufer) nur als deren Bote bzw. Kind erscheint (11,49; vgl. 7,33-35). Auf der einen Seite gibt er - wie die auf Erden verschmähte Weisheit a la äthHen 42,1-3 - nur seinen Auserwählten göttliche Geheimnisse weiter, andererseits handelt es sich beim nicht ausdrücklich genannten - Inhalt dieses Geheimnisses darum, dass er "der Sohn" ist (Q 1O,21f.). Gemäß Q 11,29f. dagegen wird Jesus als "Menschensohn" zum Endgericht erwartet. Anders als in den kanonischen Evangelien stehen in der Spruchquelle nicht einfach verschiedene Titel nebeneinander, wobei der Titel "Messias" fehlt, sondern es handelt sich um eine ausgesprochen variable Christologie: Die "Hoheit" Jesu kann in ganz verschiedenen Graden zum Ausdruck gebracht werden, und die unterschiedlichen Titel bleiben - auffälligerweise - unausgeglichen nebeneinander stehen. Konstant dagegen erweist sich in der Spruchquelle die Ethik. Die programmatische Rede Q 6 erhebt die gleichen Ansprüche, unabhängig davon, ob sie von einem Boten der Weisheit oder vom "Sohn" eingefordert werden. Lediglich wird das typische Wanderradikalenethos auf die Konditionen von Sesshaften weitergesprochen (-+ 2.3). Mit an-
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deren Worten: In der Spruchquelle kommt alles auf die Ethik an. Die christologischen Reflexionen dienen der göttlichen Legitimierung dieser Ethik. Und diese Legitimierungen müssen desto massiver ausfallen, je weniger den Ansprüchen Jesu Gehör geschenkt wird. Christologie steht in der Spruchquelle im Dienst des ethischen Anspruchs (vgl. I. BROER, Einleitung 70; P. HOFFMANN, Bedeutung 119-122) - als dessen legitimierende Verstärkung. Das wird vollends durch die Konzentration auf das Endgericht klar: Hier wird nach den Taten gerichtet (vgl. Q 3,7-9). Streitpunkt ist lediglich, wer den Maßstab flir die Einschätzung der Taten vorgibt. Die Q-Leute setzen alle persönlichen und theologischen Mittel dafür ein, ihre Adressaten davon zu überzeugen, dass es die Weisungen Jesu sein werden.
3.5 Mann-Frau-Komplementarität Auffiillig an den Traditionen der Spruchquelle ist, dass viele Logien, Bildworte und Gleichnisse den gleichen Sachverhalt einmal in die Lebenswelt des Mannes und zum anderen parallel dazu in die Lebenswelt der Frau projizieren: Von der Funktion der Königin des Südens beim Endgericht ist die Rede - und parallel dazu von derjenigen der Männer von Ninive (Q 11,3If.); von zwei Männern auf dem Feld - und zwei Frauen an der Mühle (Q 17,34f.); von einem Senfkorn wird erzählt, das ein Mann in den Garten wirft - und parallel dazu vom Sauerteig, den eine Frau im Weizenmehl verbirgt (Q 13,18-21); von einer Mutter wird erzählt, die ihrem Sohn doch nicht anstelle von Brot einen Stein, und von einem Vater, der ihm doch nicht anstelle eines Fisches eine Schlange geben wird; sowie von einem Hirten, der sein verlorenes Schaf sucht - und parallel dazu von einer Frau, die ihre verlorene Drachme sucht (Q 15,4-10). Diese Mann-Frau-Komplementarität ist gerade im Vergleich zum Einsatz von Beispielen, wie sie sich in Erzähltexten oder Reden jüdischer bzw. hellenistischer Provenienz finden, äußerst auffiillig. Frauen im Publikum wird gleichwertige Aufmerksamkeit geschenkt wie den Männern, auch wenn von Gleichberechtigung keine Rede sein kann. Denn die Lebensbereiche werden nach patriarchalischem Muster abgesteckt: Die Frau ist für das Haus und die Versorgungsarbeit zuständig, der Mann für die Arbeit draußen (vgl. H. MELZERKELLER, Jesus 331-346, D. FRICKER; G. THEISSEN, Frauen). Aber wir dürfen einen Schritt weitergehen: In den Textbeispielen spiegelt sich zum Teil speziell die Lebenswelt der Wanderradikalen, die alles aufgegeben haben und nicht selten darum gebangt haben werden, ob sie in der Nacht ein Dach über dem Kopf haben bzw. zuvor ein Stück Brot in der Hand halten dürfen. Ihnen wird Vertrauen in Gottes Fürsorge zugesprochen, wenn sie auf die Raben schauen sollen, die (nicht mehr) säen und ernten, doch von ihrem himmlischen Vater ernährt werden (Q 12,24), bzw. wenn sie von den Lilien lernen sollen, die (nicht mehr) weben und spinnen (so die Textkorrektur durch J. M. ROBINSON/C. HEIL, Zeugnisse; DIES., Schreibfehler; J. M. ROBINSON,
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Reading) und trotzdem schöner gekleidet sind als Salomo in al1 seiner Pracht (Q 12,27f.; zur Traditionsgeschichte vgl. J. M. ROBINSON, Pre-Q Text; DERS., Cluster). Der Rückschluss ist unausweichlich: Unter den Wandennissionaren, die als "Apostel" für die Weisungen Jesu fungieren (vgl. Q 10,3.16) und in denen man Jesus selbst empfiingt/hört (vgl. Q 10,16), sind Männer und Frauen. Nimmt man hinzu, dass nach Q 14,26 zwar Eltern und Kinder verlassen werden müssen, nicht aber die Ehefrau (anders Lk 14,26), so kann man davon ausgehen, dass in der ältesten Missionspraxis, die ziemlich sicher auf den historischen Jesus zurückgeht, Männer und Frauen gemeinsam tätig waren, besser: Ehepaare. Diese Praxis spiegelt sich nämlich noch in den Nachrichten, die Paulus im Blick auf diejenigen überliefert, die "vor ihm Apostel waren" (vgl. Röm 16,7). Auffiilligerweise - und ganz im Gegenteil zu seiner eigenen Praxis - handelt es sich dabei um Ehepaare: Andronikus und Junia (die Textüberlieferung hat diesen Frauennamen zu einem Männernamen gemacht: Junias, -+- A.Il.5.), Priska und Aquila (Röm 16,3; 1 Kor 16,19; Apg 18,1-3; vgl. C. G. MÜLLER, Priska). Auch Petrus ist gemäß 1 Kor 9,5 "wie auch die übrigen Apostel und Brüder des Herrn" mit seiner "gläubigen Ehefrau" auf Missionsreise gegangen. Diese früheste Ehepaannission spiegelt sich in den geradezu sprichwörtlich gewordenen Bildworten der Spruchquel1e und verdankt sich höchst wahrscheinlich Jesus selbst als Impulsgeber (vgl. M. EBNER, Weisheitslehrer 105110; DERS., Jesus 120-124).
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B.lII. "Evangelium" (Martin Ebner)
Gemäß unserem Sprachgebrauch sind mit "Evangelien" die vier kanonischen Evangelien gemeint, die am Anfang des Neuen Testaments zu lesen sind. In diesen Evangelien wird - kunstvoll gestaltet - von der Herkunft, den Worten und Taten sowie von Tod und Auferweckung Jesu von Nazaret erzählt und damit seine Bedeutung für die Leser herausgestellt. So eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint, ist die Bezeichnung "Evangelium" jedoch nicht. Denn außerhalb des Neuen Testaments gibt es eine ganze Menge weiterer Schriften, in denen Jesus ebenfalls im Mittelpunkt steht und die sich auch "Evangelium" nennen, aber ohne jeglichen narrativen Plot auskommen, also weder von den Taten noch vom Tod Jesu erzählen (so das Thomasevangelium, eine reine Spruchsammlung, oder das Evangelium der Wahrheit, ein theologischer Traktat). Außerdem finden sich Schriften, die zwar einen Teilaspekt der kanonischen Evangelien entfalten, vor allem die nachösterlichen Gespräche Jesu mit seinen Jüngern (der Dialog des Erlösers, das Apokryphon des Johannes) oder geradezu ein Anti-Evangelium erzählen (Toledot Jeschu), sich aber nicht "Evangelium" nennen. Im Mittelfeld liegen Schriften, die unter dem Titel "Evangelium" lediglich Ausschnitte aus dem kanonischen Evangelienstoff bieten: die Kindheitsgeschichte (Protevangelium des Jakobus, Kindheitserzählung des Thomas, Pseudo-Matthäusevangelium) oder die Passionsgeschichte (Petrusevangelium, Nikodemusevangelium [Pilatusakten), Bartholomäusevangelium) (Übersicht über Entstehungszeit und Inhalt der genannten Schriften: H.-J. KLAUCK, Evangelien). Andererseits versteht man in der gesamten Antike unter einem "Evangelium" - wie das griechische Wort EU-aYYEALOV erwarten lässt - eine von einem Boten (äYYEAoc;/Bote) überbrachte "gute (EU) Nachricht", wobei der Akzent auf Neuigkeit liegt (J. P. DICKSON, Gospel). Auf schriftlich vorliegende Erzählungen vom Leben Jesu wird der Begriff - im Sinn einer Gattungsbezeichnung erstmals eindeutig bezogen von Justin (gest. 165 n. ehr.), der Aufzeichnungen (U1TOj.LVT]j.LOVEUIJ.a'ta.) der Apostel erwähnt "die Evangelien (Eua.yyeho:) genannt werden" (1 Apol 66,3). Weniger sicher ist, ob das bereits etwas früher für Markion (-+ A.1.2.2.1) gilt (so H. KÖSTER., Kerygma-Gospel 381; Kritik: H. FRANKEMÖLLE, Evangelium 46-52). Von diesem Befund her ergeben sich zwei Fragen: (1) Mit welcher Textsorte konnten die kanonischen Evangelien zu ihrer Entstehungszeit von den Erstlesern am ehesten in Verbindung gebracht werden? (2) Wie kommt es, dass ein Begriff, der in der gesamten Antike auf eine mündliche Botschaft bezogen wird, zur spezifischen Etikette eines schriftlich vorliegenden Erzähltextes avancieren kann?
B.II1. "Evangelium" (Martin Ebner)
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1. Die kanonischen Evangelien im Rahmen der antiken Literatur Mit dem Namen F. OVERBECK (1837-1905) ist in der älteren protestantischen Forschung die strikte Trennung zwischen "christlicher Urliteratur" und profanen Formen der Weltliteratur verbunden; mit den Namen R. BULTMANN, M. DIBELIUS und K. L. SCHMIDT, also den Hauptvertretern der formgeschichtlichen Schule (ab 1920), die Einschätzung insbesondere der Evangelien als "Kleinliteratur", die mit der antiken Hochliteratur nicht verglichen werden kann. Auf diesen Säulen ruht die z. T. bis heute (leicht differenziert) vorgetragene Vorstellung, die Literaturgattung Evangelium sei eine Form sui generis (U. SCHNELLE, Einleitung 177.185): letztlich unvergleichbar, zumindest liege bei aller Ähnlichkeit doch größere Unähnlichkeit vor (I. BROER, Einleitung 37). Die Evangelien seien eine einzigartige, wenn auch unbewusst vollzogene Schöpfung der christlichen Gemeinden. Der ganz anderen Botschaft, nämlich dem urchristlichen Kerygma (vgl. 2.2), entspräche eine ganz neue Form. Nach 1945 wird jedoch durch die Redaktionsgeschichte der individuelle Gestaltungswille der Evangelisten herausgestellt. Im Zug der Vernetzung mit der Linguistik wird der Verständnishorizont der Adressaten ins Visier genommen. Die innerhalb der Exegese zeitgeschichtlich orientierte religionsgeschichtliche Forschung hat das Wechselspiel zwischen urchristlichen Gruppen und kaiserzeitlicher Gesellschaft im Blick. Anstelle eines evolutionistischen, von Außeneinflüssen freien Modells tritt das Analogiemodell (W. S. VORSTER). Dabei geht es keineswegs darum, die urchristlichen Schriften (qualifizierend) auf pagan vorliegende Literaturformen zurückzuführen, sondern vielmehr darum, die kreative Aufnahme von gängigen Formen herauszustellen, wobei es auf die spezifischen Veränderungen und neuen Akzentsetzungen innerhalb der bekannten literarischen Muster ankommt. In der neuesten Forschung wird die hellenistisch-römische Biographie als hauptsächliche Referenzgröße für die urchristlichen Evangelien diskutiert (D. FRICKENSCHMIDT, Evangelium 1997; D. DORMEYER, Evangelium 1989) - besser sprechen wir in der Terminologie der griechisch-römischen Antike von BiosiVita (H. SONNABEND).
1.1 Die Evangelien aLs Viten geLesen
Die Vitenproduktion (vgl. die Übersicht bei K. BERGER, Hellenistische Gattungen 1232-1236) erlebt eine ausgesprochene Hochkonjunktur im I. Jh. v. Chr. und im 1. Jh. n. Chr. Der römische Politiker und Schriftsteller Varro (116-27 v. Chr.) soll in seinem bebilderten Sammelwerk Imagines (Bilder) 700 Viten vorgelegt haben. Von den etwa 400 Viten des Cornelius Nepos (100-24 v. Chr.) sind knapp 30 erhalten geblieben. Der griechische Privatgelehrte Plutarch (45-125 n. Chr.) hat gut 50 Viten verfasst. Aus dem Sammelwerk des Sueton (ca. 70-130 n. Chr.) sind vor allem zwölf Kaiserviten erhal-
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B. Die vier Evangelien
ten geblieben. Aus der Feder des jüdischen Religionsphilosophen und Politikers Philo von Alexandrien (20/15 v. Chr. - 42 n. Chr.) stammt eine zweibändige Mose-Vita. Dieser Vitenboom hat auch auf die sogenannte Kleinliteratur abgefarbt. Die bekanntesten, erhalten gebliebenen Viten aus diesem Bereich sind die Vita Aesopi (1. Jh. n. Chr.) und die Vita Homeri (2. Jh. n. Chr.). Dargestellt wird das Lebensbild großer Männer des öffentlichen Lebens: Könige und Feldherrn genauso wie Dichter, Redner, Historiker oder Grammatiker, kurz: Staatsmänner und Geisteswissenschaftier. Viten sind keine Biographien im modemen Sinn. Sie wollen weder die psychologische Entwicklung eines Menschen nachzeichnen noch ihn als Produkt bzw. Gestalter seiner Zeit vor Augen stellen. Antike Viten wollen vielmehr den Charakter eines Menschen aus seiner Herkunft, seinen Taten und vor allem seinem Tod (als dem eigentlichen Test seines Lebens) ablesen lassen. Im Spiegel von historischen Persönlichkeiten stellen sie exemplarische Lebensmodelle vor Augen. Im Unterschied zu philosophischen Ratschlägen zur Lebensführung erzählen Viten von tatsächlich in der Praxis des Lebens erprobten Beispielen, die entweder zur Nachahmung einladen oder abschreckend wirken sollen. In griechischer Tradition wird der Charakter eher aus dem individualethischen Handeln, also an den Tugenden und Lastern eines Menschen erkannt, römische Viten setzen dagegen eher auf Taten und das Verhalten in der Öffentlichkeit, jüdisch geprägte Texte eher auf die Gottesbeziehung. Dieser Differenzierungsvorschlag von D. FRlcKENSCHMIDT (Evangelium 1998, 31f.) müsste auf der gesamten Strecke der überlieferten Literatur noch genauer überprüft werden. Von der Form her werden am Beginn einer Vita sofort Name und Herkunft (Genos) des Portraitierten genannt. Nach einem eher voluntativen Abschnitt über Jugend und Ausbildung folgen im Hauptteil Worte und Taten. Den Abschluss bilden Konflikte, Tod und Nachwirkung. Der MitteIteil kann chronologisch (Plutarch) oder systematisch (Sueton) aufgebaut sein, die Gestaltung eher statistisch, die Fakten aneinanderreihend, oder dramatisch, mit einem erzählerischen Spannungsbogen angelegt sein. Aus der amerikanischen Forschung stammt ein so einfaches wie empirisch unschlagbares Kriterium zum Erkennen einer Vita: Wenn die Mehrheit der Verben auf eine einzige Person bezogen ist, liegt eine Vita vor (R. A. BURRlDGE, Gospels IlOf.234f.). Von ihrer eindeutigen Konzentration auf Jesus als Handlungssouverän und ihrem narrativen Aufbau her dürften die Evangelien, allen voran das MkEv, im 1. Jh. n. Chr. in die Sparte "Viten" eingeordnet worden sein (H. CANCIK, Gattung 96; ebenfalls zustimmend, was die Form angeht, ablehnend aber wegen der unterschiedlichen anthropologischen Konzeption: A. DIHLE, Tradition 48). Worte und Taten sowie Konflikt, Tod und Nachwirkung nehmen in allen Evangelien die Hauptmasse des Textes ein. Name und Herkunft werden im MkEv in der allerersten Zeile sehr knapp angegeben, hinsichtlich der Ausbildung besteht zwar Fehlanzeige, aber das ist z. T. auch in klassischen Viten der Fall (vgl. Nepos, Datames 1). Dagegen wird die göttliche Herkunft (Jesu) im
B.III. "Evangelium" (Martin Ebner)
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MtEv und LkEv durch die Kindheitsgeschichten breit behandelt. Dieser in Viten eigentlich selten anzutreffende Topos von der göttlichen Zeugung dient insbesondere in Herrscherviten dazu, dem Ahnherm einer neuen Dynastie göttliche Legitimierung zuzuschreiben (so rur Alexander: Plut., Alex 2; oder für Augustus: Suet., Aug 94). Gerade durch diese Ergänzung zeigen sowohl Mt als auch Lk, dass sie das MkEv im Sinn einer Vita gelesen und verstanden haben - und im Rahmen des Gestaltungsarsenals spezifisch akzentuieren wollten. Das JohEv hat keineswegs die Fonn "Evangelium" ein zweites Mal erfunden, vielmehr partizipiert es rur die Zusammenstellung und Gestaltung seiner Traditionsstoffe ebenfalls am Muster der Vita (D. FRlCKENSCHMIDT, Evangelium 1998, 35) (zur detaillierten Gattungseinordung vgl. die entsprechenden Abschnitte zu den einzelnen Evangelien). Bei der Einbettung in diesen antiken Rezeptionshorizont ergeben sich erhebliche Konsequenzen für die Lektüre der Evangelien: Jesus wird als Vorbild zur eigenen Lebensorientierung vor Augen gestellt und dabei - verdeckt bei Mk, ganz offen bei Mt und Lk - als herrscherliche Gestalt profiliert. Ein kleiner Mann aus nachweislich einfachsten Verhältnissen (vgl. Mk 6,2-4), der ganz groß herauskommt, weil Gott ihn als König einer neuen Dynastie, eben der Gottesherrschaft, eingesetzt hat. Sein scheinbares Scheitern, das in der Kreuzigung als öffentlicher Brandmarkung und Entehrung gipfelt, ist im Sinne der Gattung Vita als Test seines Lebensprograrnmes zu lesen. Dieser provokative Anspruch ergibt sich, gerade wenn man die Evangelien prinzipiell unter dem Gattungsvorzeichen der Vita rezipiert.
1.2 Feineinstellungen Natürlich sind Feineinstellungen vorzunehmen, zunächst hinsichtlich des Stils: Die dem Alltagsgespräch nahestehenden Dialoge, wie sie insbesondere fUr die synoptischen Evangelien typisch, in der Prosa-Hochliteratur doch geradezu verpönt sind, sind eher ein Zeichen fUr volkstümliche Erzählungen (M. REISER, Stellung 12-15). Das MkEv steht dem Alexanderroman besonders nahe (M. REISER, Alexanderroman), das MtEv und LkEv eher der Lxx-Literatur, insbesondere den von vornherein auf Griechisch verfassten Schriften (M. REISER, Stellung 6). Außerdem werden verschiedene Untergattungen zur Vita als spezifische Pendants insbesondere zum MkEv, dem Prototyp der christlichen Vitenforrn, diskutiert. Jeder dieser Vorschläge pointiert eine partielle inhaltliche oder strukturelle Eigenart dieses Evangeliums. Zunächst aus dem jüdischen Bereich: K. BALTZER (Biographie) extrahiert aus dem Pentateuch, den Geschichts- und Propheten büchern des AT das Schema einer "Idealbiographie" fiir Gesetzgeber (z. B. Mose, Nehemia), Könige (z. B. Saul, David und Salomo) und Propheten (z. B. ElijalElischa sowie die "klassischen" Propheten). Markantestes Element ist der sogenannte "Einsetzungsbericht" (im Sinn einer AmtseinfUhrung), wodurch Legitimation und Programm des Amtes versprachlicht würden. Anschließend wird dann die DurchfUhrung dieses Programms erzählt. Die Schnittstelle zum MkEv bildet dessen abrupter Einsatz mit der Tauferzählung - auf dem atl Hintergrund ebenfalls als "AmtseinfUhrung" verstanden - anstelle einer zu erwartenden Geburtsnotiz. Nachdem in diesem Gat-
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B. Die vier Evangelien
tungsschema der ftlr die Evangelien wichtige Höhepunkt der Passion strukturell keine Rolle spielt, hat D. LÜHRMANN (Biographie) die Vorstellung einer "Biographie des Gerechten" entwickelt: Mk stelle die Geschichte Jesu als das Leben eines leidenden Gerechten dar und zwar als Identifikationsfigur für den Leser. Genau besehen handelt es sich jedoch nicht um ein Gattungsschema, sondern lediglich um ein Motiv (vgl. Weish 2,12-20; Ps 22), das ftlr die Darstellung der Jesuspassion im MkEv zweifellos aufgegriffen wird (M. EBNER, Klage 75-81). Zeitlich und sachlich zutreffender ist der Verweis auf die jüdischen Prophetenviten (Titel: "Namen von Propheten und woher sie sind und wo sie starben und wie und wo sie begraben liegen"; vgl. A. M. SCHWEMER, Studien), wobei deren Akzent auf dem Grab als verehrungswürdigem Ort im NT gerade nicht anzutreffen ist (H. CANCIK, Gattung 96-98). Aus dem hellenistischen Bereich werden die sogenannten Aretalogien genannt, Schriften, die von den Wundem eines "göttlichen Menschen" (9Eio~ ä.v9PW1TO~) handeln vornehmlich festgemacht an der Apolloniusvita des Philostrat aus dem 3. Jh. n. Chr. Damit sollten die Wundergeschichtenzyklen der Evangelien (-+ B. V .2.1.2; B. VII.2.1.2) als strukturierendes Element der Evangelien postuliert werden (P. J. ACHTEMEIER, Origin; M. SMlTH, Prolegomena). Aus der Sicht der klassischen Philologie ist jedoch weder "Aretalogie" als Gattung belegbar (D. ESSER, Studien), noch die Vorstellung von einem "göttlichen Menschen" im Sinn eines Wundermannes haltbar (0. S. DU TOIT, Theios anthropos). K. BERGER (Diskussion) dagegen hat auf das relativ unbekannte Textkorpus der "Viten der zehn Redner" hingewiesen, das Plutarch untergeschoben worden ist (832B-852E). Außer den gattungsgemäß zu erwartenden strukturellen Ähnlichkeiten im Aufbau sei eigens hervorgehoben das Phänomen von Schülerlisten, die Verwendung der Kleingattung "Summarium" sowie die Betonung des Nachruhms anhand der Werke der Redner (am Ende des Textes). Eine innovative Klassifizierung von Philosophen- und Herrscherviten legt C. H. TALBERT (Biographies) als Raster ftlr die ntl Evangelien vor. Gattungskritisch betrachtet ist es (1) überhaupt nicht verwunderlich, dass keine Textgruppe auffindbar ist, die in allen Einzelheiten hinsichtlich des Aufbaus und der inhaltlichen Schwerpunktsetzung mit den Evangelien übereinstimmt. Es zeichnet ja das Phänomen von Gattungen aus, dass kulturell geprägte virtuelle Muster je neu aufgegriffen und fiir den jeweiligen Verwendungszweck adaptiert werden (M. EBNERIB. HEININGER, Exegese § 5/§ 6). (2) Solange das Grundmuster für die Rezipienten erkennbar bleibt, wären Hinweise auf "Unähnlichkeiten" (vgl. z. B. 1. BROER, Einleitung 37; T. ONUKI, Sammelbericht 83-120) konstruktiv dergestalt aufzugreifen, dass nach den Ursachen und Intentionen dieser "Abweichungen" zu fragen wäre. Schließlich (3) mussten im MkEv als Prototyp der christlichen Verwendung einer Vita fiir Jesus von Nazaret bereits vorliegende Traditionen verarbeitet werden, die sich erst sekundär in die Makrostruktur Vita einpassen ließen.
2.
Vom mündlichen Evangelium zum "Evangelium" als Buch
Wenn das MkEv am ehesten von der Gattung Vita her verstanden werden kann, warum kündigt der Autor diesen Erzähltext als "Evangelium" an (Mk 1,1: "Anfang des Evangeliums von Jesus Christus ... "), obwohl zur Zeit des Mk der Begriff "Evangelium" eine mündliche Nachricht assoziieren lässt und
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mit der Darstellungsform einer Vita nichts zu tun hat? Und doch ist dieses Stichwort bereits in der frühen Wirkungsgeschichte des 2. Jh. n. Chr. Ausgangspunkt dafür geworden, Erzählungen der Vita Jesu "Evangelien" zu nennen (~ 1.). Drei Eckdaten sind entscheidend: (1) Selbst innerhalb des MkEv und - lange vor ihm - in den Paulusbriefen steht "Evangelium" tatsächlich für eine mündlich vorgetragene Botschaft. Ihr Inhalt ist der universale Herrschaftswechsel, durch den die Gottesherrschaft zum Durchbruch kommt. In der Erzählung des MkEv wird diese geschichtliche Wende von Jesus selbst als "Evangelium Gottes" angesagt (Mk 1,14f.). Paulus versteht sie als von Gott initiiertes Geschehen ("Evangelium Gottes": Röm 1,1), dessen Repräsentationsfigur der von Gott durch die Auferweckung erhöhte und zum Christus/Sohn Gottes eingesetzte Jesus von Nazaret ist ("Evangelium von Christus/seinem Sohn": Röm 1,3f.9). Paulus selbst ist der VerkUndiger dieses "Evangeliums" (Röm 1,1.9.15). Paulus verwendet den Begriff "Evangelium" ganz selbstverständlich und erklärt ihn an keiner Stelle. Er scheint ihn also aus der urchristlichen Missionssprache Ubernommen zu haben und geht davon aus, dass er auch seinen Hörern bekannt ist. (2) Von der LXX aus führt zu dieser spezifischen Bedeutung "Evangelium" im Sinn einer mUndIich vorgetragenen Botschaft von einem Herrschaftswechsel keine BrUcke (korrekt: G. FRlEDRICH 723). Der Terminus EUO:YYEALOV kommt dort ein einziges Mal vor, und zwar in der Plural form mit der Bedeutung "Botenlohn" (LXX 2 Sam 4, 10). (3) Erst ab spätrepublikanischer Zeit und vor allem in der römischen Kaiserzeit bekommt der Terminus EUO:YYEALOV die Bedeutung "gute Botschaft", inhaltlich vor allem in politischen Zusammenhängen, insbesondere mit der römischen Kaiserideologie. 2.1 Vom "Botenlohn" zur "guten Nachricht" (Wortgeschichte) Seit Homer hat EUIXYYEALOV in der griechischen Welt die Bedeutung von "Botenlohn" (Od XIV 152.166), die geprägte Wendung EUa.yyEA.LIX 9UeLV/Evangelien opfern speziell den Sinn von "den Botenlohn den Göttern schenken" (Aristoph., Eq 656; verspottend: PI 765; gegen G. FRIEDRICH 719). Der Bezug auf die "gute Botschaft", die ja der Anlass fUr die Opfer ist, wird in diesen Fällen verbal ergänzt (Eq 655: EllL OUI-L$OPIl1.~ aY1l91X1.oLV ELOTJYYEÄ~EvIlL~/fUr die Ankündigung guter Ereignisse; PI 766: TOLIlÜT' allllYYELÄlXvTa./für das, was du berichtet hast). Für die Tätigkeit des Boten steht ein eigenes Verb zur VerfUgung: EUa.YYEH(o~IlL (Aristoph., Eq 643). Informationen, fUr die man gern einen Botenlohn entrichtet, können sowohl aus dem privaten (Geburt eines Kindes, Ankündigung einer Hochzeit) wie öffentlichen Bereich (billigere Preise: Aristoph., Eq 643-645; gerechte Weltordnung: PI 727-767) stammen, betreffen vornehmlich jedoch die Nachrichten vom Sieg in einer Schlacht (1. SCHN1EWIND, Euangelion 130-144). Dieser Bezug wird in hellenistischrömischer Zeit derart bestimmend, dass es zu Missverständnissen kommen kann: Als Boten dazu auffordern, Nero, "dem dreifachen Sieger von Olympia, Evangelien zu opfern", meinen einige Städte, Nero habe einen militärischen Sieg errungen und Leute aus Olympia gefangen genommen. Dabei war er zum Sieger der Olympischen Spiele erklärt worden (Philostr., Vit Ap V 8).
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In dieser Tradition steht auch die LXX. Abgesetzt von der einmaligen Verwendung des Begriffs EUa.yyEALOV im Plural im Sinn "von Botenlohn" (LXX 2 Sam 4,10) findet sich viermal der feminine Begriff EUIXYYEAilX im speziellen Sinn von "gute Botschaft" (LXX 2 Sam 18,20.25.27; 2 Kön 7,9; einmal rür "Botenlohn": 2 Sam 18,22). In a11 diesen Fällen geht es um Siegesnachrichten auf dem Schlachtfeld. Insofern kann man von einern geradezu technischen Gebrauch sprechen, nicht aber von einem theologischen. Nicht anders verhält es sich mit dem Verbum EUa.YYEAL(oI1lXL. Alle Belegstellen (Ausnahme: LXX Jer 20,15 fiir die Geburt eines Kindes) beziehen sich auf den öffentlichen Bereich, wiederum geht es um den Sieg in der Schlacht (LXX I Sam 31,9; 2 Sam 1,20; 4,10; 18,19.20.26.31; I Chr 10,9; vgl. Ps 67,llf.), aber auch um die Einsetzung zum König (1 Kön 1,42; vgl. LXX Ps 95,2). Speziell auf diesem Bedeutungsterrain zeichnet sich im prophetischen Schrifttum eine spezielle Theologisierung ab: die Botschaft davon, dass Gott als König herrschen wird (les 52,7: PIXlHAEUOEL), weil er sich gegen die Feinde, die Israel bedrängen, durchgesetzt hat (Nah 2,1). Die Gestalt, die diese Botschaft ausrichtet, ist "der Freudenbote" (0 EUIXYYEAL( 6IlEVO~: Jes 52,7; Nah 2, I), der mit ZioniJerusalem identifiziert werden kann (les 40,9). In der weiteren theologischen Reflexion wird mit dem Verbum die Anerkennung des Königtums Gottes durch die Heiden zum Ausdruck gebracht (Jes 60,6) bzw. die Botschaft des Freudenboten als auf Israel selbst bezogene soziale Botschaft verstanden (les 61, I). Erst in römischer Zeit nimmt EUIXYYEALOV die Bedeutung von "gute Nachricht" an. In Cicerobriefen finden sich die ersten Belegstellen (Att II 3, I: EUIXYYEALIX: Valerius absolutus est ... ; XIII 49 [40], I). Der Kontext ist ein politischer: Parteienstreitigkeiten im republikanischen Rom. Mit Beginn des Prinzipates erfährt der Begriff eine Engfiihrung auf das Kaiserhaus: "Evangelien" betreffen die Geburt sowie die Mündigkeitserklärung des Thronfolgers, die Thronbesteigung des Kaisers und evtl. seine Genesung nach langer Krankheit. Es ist die Person des Kaisers, die Frieden und Ordnung im römischen Reich gewährleistet. Die unangefochtene Ausübung seiner Herrschaft (samt den zu erwartenden positiven Auswirkungen) sind Anlass filr "Evangelien". Insbesondere in der Inschrift von Priene (OGIS 458; 9 v. Chr.; vgl. C. ETfL, Anfang 122-139) kommt die Propagandasprache dieser Kaiserideologie publikumswirksam zum Ausdruck: " ... da filr die Welt der Geburtstag des Gottes (sc. Augustus) den Anfang der durch ihn veranlassten Evangelien (EUIXYYEALIX) darstellte ... " (Z. 40f.). Gemeint ist Kaiser Augustus, auf dessen Geburtstag künftig der Jahresanfang in der Provinz Asia verlegt werden soll. Für die Gewichtung dieser Aussage sind drei Komponenten mitzubedenken, die den konzeptuellen Hintergrund bilden: (I) Eine religiöse Komponente: Es ist die göttliche Vorsehung, die den Kaiser Augustus als Retter des Menschengeschlechts auf die Erde schickt (Z. 32-35). (2) Die Vorstellung eines neuen Zeitalters, das alles Vorangegangene in den Schatten stellt (Z. 5f.9f.48f.; vgl. die Inschrift von Halikarnass: CAGI IV/894, sowie die Typisierung der augusteischen Zeit als saeculum aureum: Verg., Ecl4; Aen VI 791-823; dazu vgl. A. BRENT, Luke-Acts 414-437). (3) Ein militärischer Sieg: Der entscheidende Einschnitt geschah de facto durch den militärischen Sieg des Augustus über die rivalisierenden Gegner im Bürgerkrieg, was die Inschrift als Beendigung des Krieges und Anfang einer geordneten Friedenszeit darstellt (Z. 6-9.36). Insgesamt ist bemerkenswert: Bereits mit der Geburt des Kaisers beginnen die "Evangelien", obwohl Augustus erst als Erwachsener die Zeitenwende herbeifilhren wird, was Anlass filr je neue "Evangelien" sein wird. Diese neue Normierung des Sprachgebrauchs ist nicht ohne Auswirkung auf das hellenistische Judentum geblieben. Einschlägig sind die Belege bei Philo und Josephus. Neben meist unspektakulärem Gebrauch des Verbums, teils mit der typisch hellenistischen Bedeutung "verheißen", klinkt sich Philo zweimal in die feierliche Propagandasprache ein: Thronbesteigung (Leg 231) sowie Genesung (Leg 18f.) des Kaisers Gaius (Caligula) werden "als Evangelien verkündet". Besonders interessant, weil gleichzeitig ein Zeugnis filr
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den kritischen Gebrauch der Sprachregelung, ist Leg 99-10 I: In der Schilderung des Gottes Hermes meint man den Freudenboten aus Jes 52,7 wiederzuerkennen, jetzt aber bezogen auf die Selbstdarstellung Caligulas, die Philo demontiert: In Wahrheit ist er ein Unglücksrabe, der Schreckensnachrichten verbreitet und überallhin Krieg und Unfrieden bringt. In seinem Werk Bellum Judaicum bezieht Josephus das gesamte Wortfeld EUIlYYE}.- ausnahmslos auf das Verhalten und die politischen Pläne (I 607; 11 420: /)EWOV EUocYYEALOV) sowie militärischen Siege (111 503) von römischen Klientelfiirsten bzw. Statthaltern - nicht zu vergessen die Erhebung Vespasians zum Kaiser (IV 618.652: EUocYYEALIl; -- B.V.3.1). Aber es gibt auch den kritischen Gebrauch: Die Nachricht vom Tod des Tiberius ist fUr den jüdischen König Agrippa eine "gute Nachricht" (Ant XV1I1229: EUIlYYE}.LIl).
2.2 Das mündliche Urevange/ium des Urchristentums
Die urchristliche Missionssprache, erhalten vor allem in den pln Briefen (-+ 1.), knüpft, ähnlich wie Philo und Josephus, an der kaiserlichen Sprach-
regelung an und verbindet mit "Evangelium" - in erstaunlicher Analogie zum Konzept der Kaiserideologie - ebenfalls den Beginn eines neuen Zeitalters, dessen Anbruch von göttlicher Hand initiiert wird, die sich dabei jedoch einer menschlichen Figur bedient, durch deren Lebenseinsatz sich der Herrschaftswechsel, der den Menschen Wohltaten und Frieden bringen soll, auf Erden vollzieht. Im christlichen Raum heißt das neue Zeitalter: "Gottesherrschaft", die menschliche Figur: Jesus von Nazaret; die Unterwerfung der widergöttlichen Mächte beginnt mit seinem Tod am Kreuz; denn dessen geglaubte Auferweckung ist - im apokalyptischen Denkmuster - der Auftakt rür das große Gericht Gottes über die Welt. Durch die geglaubte Auferweckung Jesu von Nazaret als Anfang der universalen Totenauferweckung werden die apokalyptisch erwarteten Endereignisse (K. MÜLLER) in Gang gesetzt: die Unterwerfung aller weltlichen Machthaber genauso wie der mythischen Gegenkräfte Gottes (vgl. I Kor 15,24-28). Akteur dieser Unterwerfungskampagne ist der gekreuzigte Jesus von Nazaret, der von Gott zu seinem Sachwalter bzw. Mandatar eingesetzt worden ist, was - analog zur Königsinstallation (vgl. Ps 2) - durch die Titel "Sohn Gottes" bzw. "Gesalbter (König)" (vgl. J. MAlER, Messias) zum Ausdruck gebracht wird. Am Ende der Kampagne steht die Parusie Christi (1 Thess 4,13-18) bzw. das Endgericht, das Gott "durch" Christus durchfUhren lassen wird (Röm 2,16). Damit beginnt das endgültige Leben in der Gottesherrschatt. Die Besiegelung des Herrschaftswechse1s besteht darin, dass alle Macht wieder in die Hände Gottes zurückgelegt wird (I Kor 15,28) (G. DAUTZENBERG, Posaune 8-15).
Das ist das "Urevangelium" des Urchristentums - ein kühner Kontrastentwurf zur römischen Reichsideologie. Terminologisch wird der Unterschied dadurch gekennzeichnet, dass urchristliche Missionare "den Evangelien" aus Rom (immer im Plural!) das eine Evangelium aus ihrem Mund (immer im Singular!) entgegensetzen. Gegenüber dieser traditionsgeschichtlichen Ableitung aus dem "Kaiserkult" (vgl. G. STRECKER) wird - auf der jüdischen Schiene - eine traditionsgeschichtliche Verbindungslinie
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vom Verb eUcxyyd.iCeoelXL und dem Freudenboten aus LXX Jes 52,7 nach Mt 11,2-6; Offb 14,6; 10,7 zu ziehen versucht (P. STUHLMACHER, Evangelium 207-225). Eine additive These vertritt H. F'RANKEMÖLLE (Evangelium 254): Urchristliche Missionare hätten den Inhalt des Verbs aus der LXX auf das im paganen Kulturraum geläufige Substantiv "Evangelium" übertragen. 2.3 Die" Evangelien" als narrative Ausfaltung des mündlichen" Urevangeliums"?
Insbesondere die ältere Forschung (Referat: H. FRANKEMÖLLE, Evangelium 204-222) hat versucht, das Verhältnis vom mündlichen Urevangelium, wie es durch Paulus bezeugt wird, und dem MkEv, der ältesten Jesuserzählung, die
das Stichwort "Evangelium" in der Kopfzeile des Textes platziert hat, evolutionistisch zu erklären (--+ I.): das Urevangelium, insbesondere die Ansätze zu "biographischen Details", wie sie in den alten Glaubensformeln im Blick auf Geburt, Tod und Auferweckung (vgl. Röm 1,3f.; 1 Kor 15,3-5) zu finden sind, seien im MkEv erstmals narrativ entfaltet worden. Dagegen spricht, dass bei Paulus keinerlei Ansätze zur biographischen Ausfaltung vorliegen, ja, dass er sich sogar dagegen sträubt: Er hat weder Interesse an der Figur Jesu "dem Fleisch nach" (2 Kor 5,16), noch an seinen Worten (die "Herrenworte" in seinen Schriften lassen sich zählen: I Kor 7,10; 9,14; I Thess 4,15). Paulus ist an dem von Gott zum endzeitlichen Machthaber erhobenen Gekreuzigten interessiert, das MkEv dagegen an der (durch die Brille von Ostern gesehenen) menschlichen Figur Jesu von Nazaret und seiner irdischen Mission. Die "biographischen" Hinweise auf Geburt, Tod und Auferweckung im "Urevangelium" des Paulus dienen lediglich als Bausteine dafur, die Paradoxie der göttlichen Inthronisation gerade dieses Menschen Jesus zum (vorübergehenden) Universalherrscher zu pointieren. Das MkEv dagegen ist an nichts anderem interessiert als an Einzeltraditionen über das Verhalten, die Taten und die Worte gerade dieses Menschen lIor seiner göttlichen Inthronisation. Allerdings ist alles, was Jesus sagt und tut, in den Gesamtrahmen einer von Gott initiierten Aktion gestellt (Mk 1,1-15; H.-J. KLAUCK, Vorspiel). Erst in diesem Horizont kommt in seinen Worten und Taten der Anfang der Gottesherrschaft auf Erden zum Ausdruck. Pointiert gesagt, behauptet das Urevangelium des Paulus, dass Jesus von Nazaret als Gekreuzigter von Gott zum Universalherrscher eingesetzt worden ist - und formuliert die Konsequenzen für die Gemeinden. Das MkEv dagegen erzählt die Vorgeschichte und lässt den von Gott zum Herrscher auserkorenen Jesus auf Erden als Lehrer und Heiler agieren. Also: Das pln Urevangelium und das MkEv treffen sich in dem Sachpunkt, dass beide den Anbruch eines neuen Zeitalters, eben der Gottesherrschaft, behaupten. Aber sie tun dies mit unterschiedlichen Perspektiven, verfolgen andere Ziele und verarbeiten andere Traditionen, so dass ihre literarischen Produkte nicht evolutionistisch aufeinander bezogen werden können.
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2.4 Das Markusevangelium als .. neues" Paradigma
Auf tatsächlich gebrauchte Gattungen und konkrete Textkorpora des I. Jh. bezogen könnte man sagen: Die naheste Analogie für das mündlich vorgetragene Urevangelium des Christentums bilden die kaiserlichen Inschriften, in denen die kaiserliche Ideologie vom neuen Zeitalter - zum Teil unter dem Sammelbegriff "Evangelien" gefasst - diskursiv vorgetragen wird. Eine Analogie für die von Mk erstmals zusammengestellten Jesuserzählungen dagegen bilden die - diese Ideologie flankierenden - Propagandaerzählungen für römische Kaiser, wie sie insbesondere in der Flavierzeit in Umlauf gebracht (-+ B.V.3.2) und nachträglich in Viten zusammengestellt werden (M. EBNER, Viten). Neu und insofern tatsächlich ein Paradigma ist das MkEv deshalb, weil es erstmals Geschichten von Jesus, die schon längst im Umlauf sind, in das literarische Konzept einer Vita spannt und den Kampfbegriff .. Evangelium" in dessen erste Zeile schreibt - gar nicht zu sprechen davon, dass Jesus außer der jüdischen Königsbezeichnung "der Christus"/der Gesalbte dort zusätzlich die übliche römische Kaisertitulatur erhält; denn die typisch biblische Königstitulatur ("der Sohn des [einen] Gottes") erscheint in Mk 1,1 ohne Artikel: "ein Sohn eines Gottes" - genau so, wie man es von den Legenden römischer Kaisermünzen her kennt (M. EBNER, Kreuzestheologie 153-158). Kurz: Das MkEv adaptiert die Form der propagandistischen Kaiservita auf Jesus von Nazaret. Schule gemacht hat dieses inhaltliche Konzept bei Mt und Lk, die ihrerseits Jesus als Gegenherrscher zur römischen Imperialherrschaft zeichnen. Allerdings greifen sie in der Gesamtstruktur bzw. im Label ihrer Schrift auf Modelle jüdischer bzw. hellenistischer Geschichtsschreibung zurück. Lk nennt seine Schrift nicht mehr "Evangelium", sondern ÖL~YlloLqErzählung, womit er - im Zusammenhang mit dem Proömium Lk 1,1-4 - seine Schrift zumindest dem Etikett nach in die Rubrik der hellenistischen Historiographie einreiht (-+ B.VI.2.3). Mt spannt den Mk-Stoff samt Ergänzungen in einen Aufriss, der dem der Chronikbücher, einem heilsgeschichtlichen Neuentwurf der Geschichte Israels, verblüffend ähnlich ist (-+ B.lV.3.I). Entsprechend bezeichnet er seinen Text als ßi.ßA.oc;/Buch. Umstritten ist, ob bereits Mk das Signalwort "Evangelium" als Gattungsbezeichnung gebraucht (so D. DORMEYER, Kompositionsmetapher; D. FRICKENSCHMIDT, Evangelium 1997,355) bzw. Mt den Verweis auf "dieses Evangelium vom Reich" (Mt 24,14; 26,13) als Gattungsbezeichnung im Blick auf seine eigene Schrift verstehen wollte (H. FRANKEMÖLLE, Evangelium 177-180; G. N. STANTON, Jesus 56f.). Auch die Belegstellen der Didache (8,2; 11,3; 15,3.4: "dieses Evangelium") beziehen sich eher konkret auf das MtEv (T. K. HECKEL 276), als dass sie als Gattungsbestimmung gelesen werden könnten (Kompromissvorschlag von R. H. GUNDRY: der Terminus bezieht sich auf Schriften, die später zu kanonischen "Evangelien" avancieren). Erst wenn von "Evangelien" im Plural die Rede ist (P. VIELHAUER, Geschichte 254), ist die Stufe der christlichen Gattungsbezeichnung erreicht, also sicher bei Justin. Wenn aus heutiger Sicht als apokryph bezeichnete Texte, also nicht in den Kanon aufgenommene Schriften, sich ebenfalls als "Evangelium" bezeichnen, ob-
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wohl sie dem durch das MkEv geprägten Texttyp nicht entsprechen (vgl. Einleitung), dann steht dahinter offensichtlich der Versuch, über die Partizipation am inzwischen christlich etablierten Normbegriff "Evangelium" für die Inhalte der eigenen Schrift die gleiche Geltung zu beanspruchen, wie sie den vier Evangelien zugestanden wird.
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B.lIl. "Evangelium" (Martin Ebner)
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B. Die vier Evangelien
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B.lV. Das Matthäusevangelium (Martin Ebner)
1. Struktur
1.1 Plot Das MtEv erzählt die Jesusgeschichte folgendennaßen: Obwohl Jesus durch seine Genealogie als Nachkomme des Königs Davids ausgewiesen ist (1,1-25) und mit seiner Geburt ein neuer Höhepunkt der Geschichte Israels erwartet werden darf (1,17), stößt er, als er in Israel öffentlich auftritt, auf erbitterte Ablehnung: allerdings nur bei den religiösen und politischen Autoritäten, den Schriftgelehrten und Pharisäern, den Hohenpriestern und Ältesten. Im Gegensatz dazu beginnen die Volksmengen, Jesus als "Sohn Davids" anzuerkennen (9,27.33f.; 12,23f.; 21,9.15), einzelne Notleidende rufen ihn mit diesem Titel um Hilfe an (9,27; 15,22; 20,30f.). Da ziehen die Hohenpriester und Ältesten einen Schlussstrich: Mit der Stimme des Volkes von Jerusalem fordern sie seinen Tod (27,20.25). Er wird gekreuzigt. Aber: Von Gott auferweckt, stellt sich Jesus auf dem Berg in Galiläa, auf dem er bereits seine programmatische Rede, die Bergpredigt (5-7), gehalten hat, seinen Schülern als Universalherrscher vor, dem von Gott "alle Vollmacht über Himmel und Erde gegeben worden ist" (28,18). Er fordert seine Schüler dazu auf, was er ihnen zu Lebzeiten streng verboten hat: zu allen Völkern, also auch zu den Heiden zu gehen und sie ebenfaIls zu seinen Schülern zu machen, d. h. sie zu taufen und sie zu lehren, "alles zu befolgen, was ich euch aufgetragen habe" (28, 19f.). Damit wird das "Evangelium vom Königtum", wie es Jesus selbst verkündet hat (4,23-9,35) weiterverkündet, aIlerdings über die Grenzen Israels hinaus, aber streng entlang der Ethik, wie sie Jesus zu Lebzeiten gelehrt hat und wie sie das MtEv in fünf Reden präsentiert.
1.2 Gliederungstypen Grob lassen sich drei Gliederungstypen unterscheiden. Sie sind jeweils auf bestimmte Textphänomene fokussiert. 1.2.1 Das MtEv als Kompendium von fünf Büchern Ausgangspunkt für diesen Gliederungstyp sind die fünf Redekomplexe, die jeweils durch die gleiche fonnelhafte Wendung abgeschlossen werden: "Und es geschah, als Jesus (diese Worte) beendet hatte ..... (7,28; 11,1; 13,53; 19,1;
B. Die vier Evangelien
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26,1). Diese Wendung findet sich am Ende der Bergpredigt (Mt 5-7), der Aussendungsrede (Mt 10), der Gleichnisrede (Mt 13), der Gemeinderede (Mt 18) sowie der eschatologischen Rede (Mt 23-25). Für die letzte Rede sind zwei Besonderheiten zu verzeichnen: (1) Die leicht variierte Abschlussformel schaut auf alle Redekomplexe wie auf ein Kompendium zurück (" ... als Jesus alle diese Worte beendet hatte ... "). (2) Beim letzten Redekomplex handelt es sich eigentlich um zwei Reden, die sich an ein jeweils unterschiedliches Publikum wenden und an verschiedenen Orten gehalten werden: die Weherede gegen die Pharisäer vor der Volksmenge und den Schülern innerhalb des Tempels sowie die Gerichtsrede vor den Schülern allein außerhalb des Tempels. Nachdem die Abschlussformel nur ein einziges Mal erscheint, sollen die bei den Redeteile offensichtlich als zusammengehöriger Komplex verstanden und aufeinander bezogen werden (anders: J. GNILKA, HThK 1/2,522). BERGPREDIGT (5-7)
Adressaten: Volk und Schüler
7,28: Und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte ...
AUSSENDUNGSREDE (10)
Adressaten: Schüler
11,1: Und es geschah, als Jesus beendet hatte, den zwölf Schülern Anweisungen zu geben ...
GLEICHNISREDE (13)
Adressaten: Volk und Schüler (teilweise im Separe)
13,53: Und es geschah, als Jesus diese Gleichnisse beendet hatte ...
I GEMEINDEREDE (18)
Adressaten: Schüler
I
19,1: Und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte ...
GERICHTSREDE (23-25)
Adressaten: Volk und Schüler
26,1: Und es geschah, als Jesus alle diese Worte beendet hatte ...
Der erste Gliederungstyp ordnet nun diesen Redekomplexen jeweils narrative Textteile zu. Teils werden sie vorangesteIIt (B. W. BACON), teils nachgestellt (H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund 342), auch die Mischform wird vorgelegt (P. GAECHTER). Damit entstehen in unterschiedlichen Abtrennungen, aber jeweils gerahmt von einer Einleitung (Mt 1f.) und einem Schluss (Mt 26-28), runf große Einheiten, die jeweils aus der Kombination von Erzähl- und Redetext bestehen und teils als "Bücher" bezeichnet werden. B. W. BACON und viele nach ihm haben sie zu den runf Büchern des Pentateuch in Analogie gesetzt. Das ist jedoch keineswegs zwingend. Denn auch die Psalmensammlung be-
B.lV. Das Matthäusevangelium (Martin Ebner)
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steht aus fünf Büchern, genauso das Geschichtswerk des hellenistischen Juden Jason von Kyrene (vgl. 2 Makk 2,23). Der eigentliche Schwachpunkt dieses Gliederungstyps jedoch besteht darin, dass eine inhaltliche Zuordnung von narrativen Teilen zu den jeweiligen Redekomplexen nicht eindeutig möglich ist. Das zeigen bereits die unterschiedlichen Abgrenzungen der einzelnen "Bücher".
1.2.2 Das MtEv als "Story" Die entscheidenden Textsignale sind in diesem Fall die fast gleichlautend beginnenden Verse in 4,17 und 16,21, die den Erzählverlauf des MtEv zeitlich gliedern und jeweils eine Art zusammenfassende Vorausschau bieten: auf die Wirksamkeit und Verkündigung in Galiläa sowie auf den Gang ins Leiden nach Jerusalem. 4,17: Von da an begann Jesus zu verkündigen und zu sagen: Kehrt um! Nahe gekommen nämlich ist die Herrschaft der Himmel. 16,21: Von da an begann Jesus seinen Schülern zu zeigen, dass er nach Jerusalem gehen und vieles leiden müsse ...
Dieser Gliederungstyp wurde von Forschern eingebracht, die im Sinn des "narrative criticism" nach dem "Plot" des MtEv fragen (J. D. KINGSBURY; D. 8; HOWELL; M. A. POWELL). Ein Stück weit ist sie dem mk Aufriss nachempfunden, weshalb etwa U. Luz vom "mk Gliederungsmodell" (EKK I/l s, 24) spricht. Das trifft jedoch erst dann zu, wenn auch rur das MtEv die geographischen Angaben als Ausgangspunkt für eine runfteiIige Gliederung (- B.V.1.2) genommen werden (vgl. die Übersicht bei F. NEIRYNCK 58f.). Varianten dieses Modells lösen den Erzählstoff in weitere gleichberechtigte Einheiten auf: W. CARTER bestimmt sechs Schlüsselszenen (1,18-25; 4,17-25; 11,2-6; 16,21-28; 21,127; 28,1-10), die in den anschließenden narrativen Blöcken entfaltet werden. H. FRANKEMÖLLE (Matthäus) gliedert in vierzehn Erzähleinheiten.
1.2.3 Das MtEv als konzentrisch aufgebauter Text Ein drittes, in der Diskussion weniger stark vertretenes Modell nimmt die konzentrischen Strukturen des MtEv zum Ausgangspunkt für dessen Gliederung. Um ein Zentrum herum, meistens handelt es sich um die Gleichnisrede Mt 13, werden einzelne Textteile in konzentrischen Kreisen einander zugeordnet. Gemäß dem Prototyp dieses Modells (J. C. FENTON; vgl. D. C. ALLISON, Structure) wechseln sich Erzähl- und Redeteile dabei jeweils ab. Damit wird das Fünf-Bücher-Modell aufgegriffen und zugleich die schwierige Zuordnung von Erzähl- und Redeteilen vermieden. Gemäß dem konzentrischen
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B. Die vier Evangelien
Aufbaumodell entsprechen sich Einleitung (Mt 1-4) und Schluss (Mt 26-28), Bergpredigt (Mt 5-7) und eschatologische Rede (Mt 23-25) usw. Das Manko dieses Gliederungstyps besteht darin, dass die tatsächlich nachweisbaren Entsprechungen der einzelnen Textteile an den Rändern des Evangeliums stärker sind als in dessen Mitte. Das zeigt sich auch daran, dass einzelne Varianten dieses Gliederungsmodells die Mitte des Evangeliums in Mt 11 (H. B. GREEN) bzw. zwischen Mt 13 und 14 (X. LEON-DUFOUR) ansetzen. Prinzipiell ist mit dem Hinweis auf konzentrische Strukturen im MtEv jedoch eine wichtige Beobachtung gemacht. Wirklich prägend sind sie aber nicht im großen Aufriss, sondern in kleineren Untereinheiten, insbesondere im Komplex 4,23-9,35.
1.3 Die Ringkomposition 4,23-9,35 und "das Evangelium vom Königtum"
Das MtEv hat eine Vorliebe für Inklusionen (vgl. 24,42125,13; 7,16.20; 15,2.20) und Ringkompositionen (vgl. 27,62-66/28,1-10/28,11-15; 9,18f.1 9,20-22/9,23-26). Das stilistisch am meisten ausgefeilte TextstUck des Evangeliums erzählt den Auftakt des öffentlichen Wirkens Jesu in konzentrisch angelegten Strukturen: Den Rahmen spannt der Programmsatz 4,23, der fast gleichlautend in 9,35 wiederholt wird: "Und Jesus ging in ganz Galiläa (in allen Städten und Dörfern) umher, lehrend in ihren Synagogen und verkündigend das Evangelium vom Königtum und heilend jede Krankheit und jedes Gebrechen (im Volk)." Der eingeschlossene Textteil konkretisiert diese summarische Notiz: die Lehre in der Bergpredigt (5-7) und die Heilungen in den Wundergeschichten (8f.). In dieser Kombination von Wort und Tat besteht offensichtlich "das Evangelium vom Königtum".
1.3.1 Die Bergpredigt Die Bergpredigt ist eine einzigartige Ringkomposition, sowohl hinsichtlich der Szenerie (4,25-5,2; 7,28-8,1) al~ auch im Blick auf die Struktur der eigentlichen Rede (5,3-7,27). Viele Menschenmengen folgen Jesus nach (4,25/8,1). Jesus besteigt den Berg (5,1) und steigt nach seiner Rede wieder herunter (8,1). Er öffnet seinen Mund (5,2) und beschließt die Worte seiner Rede (7,28). Der Notiz, dass Jesus die Volksmengen belehrt (5,2) entspricht deren Reaktion auf seine Lehre (7,28).
B.IV. Das Matthäusevangelium (Martin Ebner)
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es folgten ihm nach viele Volksscharen (4,25) er stieg auf den Berg hinauf(5,1) er öffnete seinen Mund und lehrte sie (5,2)
Bergpredigt (5,3-7,27)
und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte, waren die Volksscharen außer sich über seine Lehre (7,28) nachdem er den Berg herabgestiegen war (8,1) folgten ihm nach viele Volksscharen (8,1) Der Redekomplex ist noch einmal in sich konzentrisch gegliedert: Mit Einleitung (5,3-16) und Abschluss (7,13-27), Programm (5,17-20) und Zusammenfassung (7,12), zwei mal drei Antithesen (5,21-48) und Weisungen zu Besitz, Richten und Bitten (6,19-7,11), sowie der dreiteiligen Frömmigkeitslehre zur Gerechtigkeit vor Gott im Almosengeben, Gebet und Fasten (6,1-18). Im Zentrum steht das Vaterunser (6,9-13). Die Forderungen der Bergpredigt werden also von der reziproken Vergebungsbitte (6,12: und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern) aufgefangen (U. Luz, EKK IlI s, 253-255).
1.3.2 Die Wundergeschichtensammlung Schwieriger ist die Gliederung der Wundergeschichtensammlung 8f. (I) Ein eher formal bestimmter Gliederungsvorschlag weist drei Wundergeschichtentriaden aus. Nachdem insgesamt zehn Wundergeschichten erzählt werden, die Heilung des Iairustöchterleins jedoch mit der Erzählung von der blutflüssigen Frau (9,20-22) verschachtelt ist (9,18f.2326) und somit als eine einzige Einheit gezählt werden kann, ergeben sich drei Gruppen mit jeweils drei Wundergeschichten (W. D. DAVIESID. C. ALLISON; E. J. VLEDDER). Alle Textteile, die gattungsmäßig nicht den Wundergeschichten zugerechnet werden können, also summarische Notizen (8,16f.; 9,33b-35), Streitgespräche (9,10-13.14-17) sowie die Berufungsgeschichte des Zöllners Matthäus (9,9) werden als Einleitungen bzw. Abschlüsse den Wundergeschichtentriaden zugeordnet. (2) Ein stärker inhaltlich bestimmter Gliederungsvorschlag sieht im narrativen Ablauf der Wundergeschichtensammlung exemplarisch dargestellt, was das Evangelium insgesamt erzählen will (vgl. K.-C. WONG; U. Luz, EKK 112, 64-68): wie Jesus als ausgewiesener König seines Volkes ("Messias") sich Israel zuwendet, aber zugleich Anziehungskraft auf Heiden ausübt (vgl. 8,5-13), wobei er insgesamt bei den Volksmengen auf Bewunderung, bei den jüdischen Führern, den Pharisäern, dagegen auf Ablehnung stößt (9,33f.). Im Zentrum (8,18-9,17) wird die Entstehung der Schülerge-
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B. Die vier Evangelien
meinde Jesu mitten in Israel erzählt. Sie entscheidet sich an der Frage, ob man bereit ist, mit Jesus ins Boot einzusteigen (8,18-22) und sich im Vertrauen auf Jesus an unbekannte Ufer treiben zu lassen (8,23-27). Ihre Konturen gewinnt Jesu Schülergemeinde durch ihre eigene Praxis hinsichtlich der Sündenvergebung, der Tischgemeinschaft sowie in der Fastenfrage. In drei Streitgesprächen verteidigt Jesus diese Praxis gegenüber den jeweils zuständigen Gruppen: die Sündenvergebung gegenüber den Schriftgelehrten (9,1-8), die Tischgemeinschaft mit Sündern gegenüber den Pharisäern (9,9-13) und das Fastenverhalten gegenüber den Johannesschülern (9,14-17). Manche Ausleger wollen in den zehn Wundergeschichten des MtEv eine Kontrastanalogie zu den zehn Plagen sehen, die Gott beim Exodus seines Volkes über Ägypten hereinbrechen lässt (Ex 7-12) (0. C. ALLISON, Moses 207-213).
1.3.3 Die Zuordnung von Rede- und Erzähltexten Der stringent gestaltete Abschnitt 4,23-9,35 wirft Schlaglichter auf die schwierige Zuordnung von Rede- und Erzählteilen im MtEv: (I) Es sind die Textsignale innerhalb des Erzähltextes (4,23; 9,35), die in unserem Fall die "Rede auf dem Berg" mit der anschließenden Wundergeschichtensammlung zusammenbinden. (2) Der Zusammenhang bei der Teile ist auf der Oberflächenstruktur nicht erkennbar. Hermeneutischer Schlüssel dürfte in diesem Fall Dtn 7,12.15 sein: Wenn ihr diese Rechtsvorschriften hört, auf sie achtet und sie haltet, wird der Herr, dein Gott, dafllr auf den Bund achten und dir die Huld bewahren, die er deinen Vätern geschworen hat ... Und es wird wegnehmen der Herr von dir jedes Gebrechen, und alle schlimmen Krankheiten" Ägyptens, die du kennst, wird er nicht dir auflegen, sondern über all deine Hasser wird er sie bringen.
Die Weisungen Jesu im Sinn des Programms von 5,17 als Erfüllung von Gesetz und Propheten verstanden, sind also die Basis dafür, dass dann auch Heilung geschehen kann. Das seltene griechische Wort für "Gebrechen" ().LaA-aKLa) steht sowohl in Dtn 7,15 als auch in Mt 4,23; 9,35. Im Unterschied zur Aussage von Dtn 7 ist es gemäß der Ringkomposition 4,23-9,35 nicht die Umsetzung der Rechtsvorschriften, sondern die treffsichere, also mit dem Willen Gottes übereinstimmende Weisung selbst, die im Volk heilend wirkt, sofern denn Jesus als im Namen Gottes Sprechender anerkannt wird (vgl. 8,2.6.8; 9,27.28). (3) Insgesamt bleibt der narrative Duktus bestimmend. Der Programmsatz 4,23 wird in 9,35 nicht einfach wiederholt, sondern treibt an beiden Stellen eine fortlaufende Handlung voran. In 4,23 ist das summarisch erzählte Wirken Jesu Auslöser für den Zustrom von Heiden aus Syrien (4,24) und Juden aus Israel, das in seinen klassischen Grenzen unter König David beschrieben wird (4,25; N. LOHFINK). Die Rahmennotiz in 9,35 dagegen hat diejenigen Volksmengen vor Augen, die Jesus bei seiner weiteren (!) Tour durch "alle Städte und die Dörfer" vor sich sieht, was ihn dazu motiviert, diesem hirtenlosen Volk neue Hirten zu geben (9,36-38). Das geschieht in 10,1
B.lV. Das Matthäusevangelium (Martin Ebner)
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mit der Übergabe der Vollmacht zum Heilen an die zwölf Apostel, deren Namen in 10,2-4 genannt werden, sowie durch den Auftrag zur Verkündigung, deren Inhalte exemplarisch in der Aussendungsrede (10,5-42) zu Gehör gebracht werden. Im Gesamtduktus des Evangeliums gesehen knüpft die Einsetzung der Zwölf zu Hirten des Volkes an die Berufung der ersten Schüler in 4,18-22 an, die unmittelbar nach dem narrativen Gliederungsmerkmal 4,17, mit dem die Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu einsetzt, erzählt wird. Die von Jesus Berufenen (4,18-22), die zunächst Zuhörer der Worte und Zuschauer der Taten Jesu sind (4,23-9,35), sollen nach seinem Vorbild selbständig agieren (9,36-1 0,5a). Für den Gesamtaufriss des Evangeliums ist der Erzählfluss also doch maßgebend. Die Redeteile bleiben ihm untergeordnet.
1.4 Gesamtgliederung Der letzte Vers des Evangeliums greift mit dem Auftrag an die Schüler: "Lehrt sie alles halten, was ich euch aufgetragen habe ... " (28,20) auf die Abschlusswendung in 26, I zurück, womit die Worte Jesu in den Redekomplexen als Kompendium präsentiert werden: " ... als Jesus alle diese Worte beendet hatte ... " Inhaltlich wird damit die Lehre der Schüler zurückgebunden an die Worte Jesu, die im Evangelium in den Redekomplexen festgehalten sind. Strukturell markiert 26,1 mit dieser Brückenpfeilerfunktion einen deutlichen Einschnitt, der im narrativen Duktus präzise am Übergang zur Passionserzählung steht. Nehmen wir 4,17 und 16,21 als weitere narrative Gliederungsmerkmale hinzu, ergibt sich folgender Aufbau: Hauptteil JESU WIRKEN IN ISRAEL Prolog JESU HERKUNFT
1,1-4,16
I. Abschnitt: Die Entstehung einer Schülergemeinde in Israel (4,17-16,20) 2. Abschnitt: Das Leben der Schülergemeinde (16,21-25,46) 4,17-25,46
Epilog JESU TOD UND ZUKUNFTSVISION 26,1-28,20
Im Hauptteil (4,17-25,46) wird vom öffentlichen Wirken Jesu in Israel erzählt. Der "Prolog" (1,1-4,16) hat die Herkunft Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftreten in Israel zum Inhalt. Der "Epilog" (26,1-28,20) steckt das neue Ziel fiir die Schüler Jesu, das ihnen von Jesus aufgetragen wird, der durch das
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B. Die vier Evangelien
Betreiben der Führer Israels hingerichtet wurde, aber von Gott auferweckt und zum Weltherrscher inthronisiert worden ist. Der große Spannungsbogen, der sich über das gesamte Evangelium zieht, ist die Emmanuel-Verheißung. Sie ist in 1,23 mit der Geburtsankündigung verbunden ("Rufen werden sie seinen Namen Emmanuel, das heißt übersetzt: Mit uns ist Gott"). Eingelöst wird sie gemäß 28,20 in der Person Jesu selbst ("Ich bin mit euch"), sofern seine Schüler seinen Auftrag erfüllen, nämlich alle Völker zu Schülern seiner Lehre zu machen. Die Einlösung der EmmanuelVerheißung steht also mit einer Missionspraxis in Verbindung, die die ethnischen Grenzen Israels übersteigt. Das ist insofern erstaunlich, als sich Jesus im Hauptteil allein zu Israel gesandt weiß und den Weg zu den VölkemlHeiden, ja sogar in eine Stadt der Samariter ausdrücklich verbietet (l0,5f.; 15,24). Genau das wird im Mund des Weltenherrschers positiv zum Gebot erhoben (28,18-20). Dieser Umschwung ist auf Gott selbst zurückzuführen. Denn es ist der von ihm auferweckte und zum Weltenherrscher inthronisierte Jesus, der die neue Zielrichtung vorgibt. Andererseits will der Plot des Hauptteils diesen Umschwung zumindest erklärbar machen. Der erste Abschnitt erzählt die Mission Jesu zu Israel und seine Ablehnung durch die Führer Israels (9,33f.), wodurch der Rückzug Jesu aus Israel und die Entstehung der Jesus-Schülergemeinde in Israel provoziert wird (12,1-16,20). Der zweite Abschnitt nimmt konsequenterweise das Leben der Schülergemeinde in den Blick und überführt die Abrechnung mit Israels Führern (23) in Gerichtswarnungen an die Schülergemeinde selbst (24f.). Der erste Abschnitt gipfelt im Petrusbekenntnis als dem Höhepunkt der Entstehung der Schülergemeinde in Israel. Es wird beantwortet mit der Übergabe der Schlüssel des Königreichs der Himmel (16,13-20). Am Ende des zweiten Abschnitts wird dieser Schülergemeinde in einer fiktiven Vorausschau auf das Gericht des Menschensohnes am Ende der Zeit vor Augen gestellt, was die entscheidenden Kriterien für den tatsächlichen Einlass in das Königreich der Himmel bzw. für den Ausschluss daraus sein werden: das Verhalten gegenüber den Notleidenden (25,31--46). Reflektiert also der Plot des MtEv einerseits die Öffnung der durch Gott initiierten Mission Jesu über die Grenzen Israels hinaus, wobei die Schülergemeinde mit dieser Mission, die in der Weitergabe der Lehre Jesu besteht, beauftragt wird, so wird andererseits die entstehende Schülergemeinde selbst den Regeln Jesu unterstellt und daran gemessen, ob sie seine Lehre befolgt. Die Veränderung im Blick auf die Grenzüberschreitung zu begründen, ist Sache des Plots; die inhaltliche Präzisierung des Programms, das Jesus innerhalb der Grenzen Israels begonnen hat, das seine Schüler aber über diese Grenzen hinaustragen sollen, geschieht in den Redekomplexen. 1.5 Die Redekompositionen im Plot
Die fünf Redekompositionen, die jeweils durch die immer gleiche floskelhafte Abschlusswendung beendet werden, haben eines gemeinsam: Sie treiben die
B.IV. Das Matthäusevangelium (Martin Ebner)
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Handlung nicht voran. Besonders auffällig ist das für Mt 10. Obwohl die SchUler von Jesus ausgesendet werden, machen nicht sie sich anschließend auf den Weg, sondern Jesus (11,1). Dabei gibt es im MtEv durchaus Reden, die in den Handlungsablauf verflochten sind, z. B. 12,25-37, worauf eine Reaktion der Schriftgelehrten und Pharisäer folgt (12,38), oder 21,2~4, eine Rede, die als Antwort auf die Anfrage der Hohenpriester und Ältesten fungiert (21,23) und deren Ärger provoziert (21 ,45f.). Im Gegensatz dazu sind die durch die Schlussfloskein markierten Redekomplexe sozusagen "durchs Fenster" gesprochen (u. Luz, EKK V1 5, 38). Mit ihren Inhalten wendet sich der Sprecher Jesus (auch) an die Hörer und Leser des Evangeliums. Typischerweise sind für alle fünf Redekomplexe die SchUler die Hauptadressaten. Bei der Bergpredigt stehen sie sozusagen als künftige Multiplikatoren in der unmittelbaren Nähe Jesu auf dem Berg, während die Volksmengen in der Ebene platziert werden (5, I). Alle fünf Redekomplexe finden sich innerhalb des zweiteiligen Hauptteils. Kompositorisch sind sie wie ein Gitter über den Plot gelegt. Dabei ergeben sich gewisse Analogien: Die erste und die letzte Rede sind die jeweils umfangreichsten. In der typischen Position des autoritativen Lehrers werden Jesus (5,1: setzt sich) und die SchriftgelehrtenlPharisäer (23,2: sitzen auf der Kathedra des Mose) entgegengestellt. Die beiden kürzesten Reden, die Aussendungsrede (Mt 10) und die Gemeinderede (Mt 18), flankieren die Gleichnisrede im Zentrum (Mt 13), die zugleich das übergreifende Thema fur alle Reden vorgibt: das Königtum des Himmelreiches. Die einzelnen Redekomplexe betonen je unterschiedliche Facetten: das Verhalten (Bergpredigt), die Verkündigung (Aussendungsrede), die Umsetzung auf Gemeindeebene (Gemeinderede) sowie die eschatologische Ratifizierung (Gerichtsrede). Die Verschränkung dieser Redekomplexe mit dem durchlaufenden Handlungsstrang ist die eigene Leistung des Evangelisten. Sie soll im Blick auf die Genese durchleuchtet (--> 2) und im Blick auf die theologische Zielsetzung diskutiert werden (--> 3). 2. Entstehung
2.1 Quellen Die auffällige Durchsetzung des Erzählfadens mit fünf Redekomplexen hat mit den beiden Hauptquellen des MtEv zu tun, dem MkEv und der Logienquelle Q. Das MkEv bildet das narrative Rückgrat, die Logienquelle liefert die Stoffe für die Reden. Allerdings bekommt der mk Plot einen neuen Anfang und ein neues Ende. Die mk Erzählung setzt mit dem Auftreten Johannes des Täufers ein (Mk 1,4 vgl. Mt 3,1). Das MtEv stellt einen genealogischen Vorbau voran. Hier werden die Herkunft Jesu (1,1-17.18-25) und die Orte seiner Kindheit (2,1-23) dokumentiert. Anders als im MkEv flüchten die Frauen nicht vom Grab, ohne irgendjemandem etwas zu sagen (Mk 16,1-8), sondern führen den Auftrag des Engels, die Auferweckungsbotschaft den SchUlern Jesu zu übermitteln, sofort aus und begegnen dabei Jesus selbst (Mt 28,1-10).
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B. Die vier Evangelien
Umgekehrt geht auch die Verheißung des Engels, Jesus in GaliLäa zu sehen, in Erfüllung: mit der Abschlussszene am Berg in Galiläa (28,16-20). Außerdem wird der Grabgang der Frauen durch die beiden Grabwächterperikopen (27,62--66; 28,11-15) gerahmt. Über das MkEv und die Logienquelle hinaus sind im MtEv weitere Stoffe zu finden, die als "Sondergut" bezeichnet werden. In der (älteren) angelsächsischen Forschung wurde dafiir eine eigenständige, schriftlich vorliegende Sonderquelle ("M") postuliert (B. H. STREETER; erhebliche Differenzierung: S. H. BROOKS). Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Zu einem großen Teil besteht das Material aus Ergänzungen zur mk Überlieferung (z. B. Mt 4,\3-16; 8,17; 12,5-7; 27,3-9.19.24f.62-66; 28,11-15) bzw. aus deren bewusster Umarbeitung (zu Mt 13,36-43 vgl. Mk 4,26-29). Teils handelt es sich um größere selbständige Stoffblöcke (2,13-23; 6,2-6.16-18), zum größten Teil aber um Einzelüberlieferungen, unter denen viele, zum Teil längere Gleichnisse auffallen (18,23-35; 20,1-15; 21,28-32; 22,1-13; 25,1-30). Die behandelten Problemkreise sind sehr unterschiedlich. Der Rekurs auf Bibelzitate bzw. die Polemik gegenüber Pharisäern und der Jerusalemer Führungsschicht (Mt 23; 27,62-66; 28,11-15) verweisen in ein schriftgelehrtes Milieu. Aus einem anderen Blickwinkel scheinen diejenigen Gleichnisse erzählt, die fiir einen bannherzigen Umgang miteinander werben (18,23-35) bzw. mit der verblüffend anderen Gerechtigkeitsvorstellung Gottes geradezu schockieren (20,1-15) und zur Wachsamkeit angesichts des unangemeldet eintreffenden Richters mahnen. Ihnen ist ein gruppenspezifisches Denken fremd. Beim letzten Gericht sind fiir alle "die Stöcke gleich lang". Melden sich hier "die Kleinen" (10,42; 18,10.14) in der Gemeinde zu Wort bzw. übernimmt ein Schriftgelehrter ihre Position? Nachdem die Sondergutstoffe in überdurchschnittlich hohem Maß von redaktionellen Spracheigentümlichkeiten durchsetzt sind, hat sie der Evangelist vermutlich erstmals verschriftlicht. Er kennt sie aus der mündlichen Tradition seiner Bezugsgemeinde. Nur dort, wo sich die nachträgliche Durchbrechung klar vorliegender Kompositionsstrukturen erkennen lässt, ist mit einem bereits vorliegenden schriftlichen Text zu rechnen (U. Luz, EKK Ul s, 50f.). Das ist etwa der Fall bei der Trias der Frömmigkeitsregeln (6,2-6.16-18), in deren Mitte Mt das Vaterunser setzt und mit kommentierenden Warnungen rahmt (6,7f.9\3.14f.), oder auch filr die Trias der Umzugsgeschichte von Jerusalem über Ägypten nach Nazaret (Mt 2,13-21.23), in die der Verfasser die Begründung filr die Umgehung Judäas einfilgt (2,22), oder gilt auch fiir die Ergänzung der Trias der sogenannten primären Antithesen (5,21-24.27f.33-37), die Mt durch weiteres Material aus der Logienquelle bzw. dem MkEv (Q 12,57-59 = Mt 5,25f.; Mk 9,43-48 = Mt 5,29f.) zur Doppeltrias erweitert (Mt 5,31 f.38-48). Nachdem die Gliederung der Genealogie (1,17) zwar gematrisch auf König David verweist (der Zahlwert der hebr. Buchstaben des Namens David ergibt 14), arithmetisch aber nicht aufgeht, scheint Mt eine ursprüngliche 40er Reihe aufgegriffen, neu strukturiert und evtl. durch die heidnischen Frauennamen gerade im genealogischen Vorfeld des Königs Davids und seines Sohnes Salomon (Tamar, Rahab, Rut sowie Batseba als Frau des Urija) ergänzt zu haben (K.-H. OSTMEYER).
2.1.1 Synchronisierung von Mk und Q Die kompositorische und theologische Leistung des Evangelisten besteht darin, seine beiden Hauptquellen miteinander synchronisiert zu haben. Das geschieht zum einen dadurch, dass die im MkEv bereits angelegten Lehrpas-
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B.IV. Das Matthäusevangelium (Martin Ebner)
sagen ausgebaut und durch Q-Stoffe ergänzt werden bzw. an den Stellen des MkEv, an denen nur pauschal auf die Lehre Jesu verwiesen wird, im MtEv tatsächlich explizite Lehrpassagen folgen. Den Stoff dazu nimmt der Evangelist jeweils aus der Logienquelle (samt Sondergut). Andererseits ordnet er die Stoffe z. T. völlig neu an bzw. verbindet die beiden Quellen unter thematischen Gesichtspunkten. Mt 12-28 hält sich ziemlich streng an den Erzählfaden Mk 2,23-16,8, wobei aber die Redeteile stark ausgebaut werden: Die Gleichnisrede Mk 4 wird in Mt 13 durch Q-Stoffe und Sondergut erheblich elWeitert. Die SchUlerbelehrung Mk 9,33-35 bildet den Ausgangspunkt filr die Gemeinderede Mt 18. Die "Lehre Jesu im Tempel", in der Jesus das Volk vor den Schriftgelehrten warnt (Mk 12,38-40), nutzt der Evangelist als Ansatzpunkt filr die letzte große (Doppel)rede Mt 23-25, filr die er auf die Weherufe Q 11 rekurriert bzw. die apokalyptische Rede Mk 13 mit Elementen aus der eschatologischen Rede Q 17 verbindet. Anders verhält es sich mit Mt 3-11, wo der Erzählfaden Mk 1,2-2,22 aufgegriffen, aber kompositorisch stark verändert wird. Mt 3 Mt4
12,22-31.33f.57-59 11,2-4.9-13.33-36
Mt 5-7
Mt 10
1~~Bi• •m~1 11~Br.4J]'illli~~ IKt*~~~~r.~~~f~~*f~1 1~:ii}J~~~t~X~;0;b}ilil t);~;~M{(:(@1.:Yi'!';~Zt!qN +
Q 10,2-12 Q 12,2-9
Mt 11
Q 7,18-35 Q 10,13-15.21f.
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B. Die vier Evangelien
Am stärksten ist die kompositorische Gestaltung des Evangelisten in der Passage des "Evangeliums vom Königtum" (4;23-9,35) zu spüren. An der Stelle, wo im MkEv von der Lehre Jesu in der Synagoge von Kafamaum erzählt wird (Mk 1,21), über die alle Zuhörer in großes Erstaunen geraten (Mk 1,22), ohne dass jedoch der Inhalt der Lehre expliziert würde, schiebt der Evangelist die Bergpredigt ein (Mt 5-7). Dabei kombiniert er folgende Q-Stoffe: die programmatische Rede (Q 6), die Spruchreihe von der Sorglosigkeit (Q 12,22-31) sowie Logien zum Gebet (Q 11,2-4.9-13). Für das Wunderkapitel Mt 8f. stellt der Evangelist die Wundergeschichten aus Mk 1,29-45 sowie aus dem mk Wunderzyklus 4,35-5,43 zusammen, ergänzt durch die einzige ausfiihrlichere Wundergeschichte der Logienquelle Q 7,1-10 (Hauptmann von Kafarnaum). Vom leitenden Gesichtspunkt her, in Israel aufgrund des "Evangeliums vom Königtum" eine Schülergemeinde entstehen zu lassen, werden Fragen der Nachfolge bzw. Konturen dieser SchUlergemeinde durch entsprechende Texte aus Mk (Nachfolge: 2,14; Streitgespräche: 2,1-22) bzw. Q (Nachfolge: 9,57~0) problematisiert. Prinzipiell bleibt in Mt 3-11 auch die Ordnung der Q-Stoffe erhalten, sie werden allerdings besonders intensiv mit thematisch vergleichbaren Stoffen aus Mk auch außerhalb der Redekomplexe vermischt: die Täuferpredigt Mk 1,4-8 wird durch die entsprechenden QStoffe ergänzt (Q 3,7-9.16f.). Die mk Versuchungsgeschichte (1,12f.) bildet im MtEv den Rahmen (Mt 4, I f.ll) fiir die drei Testrunden, von denen Q 4,3-12 (vgl. Mt 4,3-10) erzählt. Die Notiz der mk Speisungsgeschichte 6,34, wonach in Jesu Augen das Volk ohne Hirten ist (vgl. Mt 9,36), so dass Jesus sie sofort "vieles lehrt", bildet im MtEv den Auftakt fur die Aussendungsrede. Dazu fiihrt der Evangelist nicht nur Auswahl und Installation der Zwölf, die bei Mk getrennt erzählt werden (3,13-19; 6,7-13), zusammen, sondern ergänzt bzw. kombiniert die mk Anweisungen fiir die Mission durch die entsprechenden Logien der Aussendungsrede in Q 10 (samt einigen Schülersprüchen zur Furchtlosigkeit aus Q 12,2-10), so dass z. T. ein ausgesprochener Mischtext aus Mk und Q entsteht (vgl. Mt 1O,9f. = Mk 6,8f. + Q 10,4). Im Blick auf die Reihenfolge in Q werden lediglich die Täuferstoffe (Q 7,18-35 = Mt 11,2-19) in ihrer Abfolge vertauscht. Außerdem stellt Mt die Weherufe gegen die galiläischen Städte, die in Q den Abschluss der Aussendungsrede bilden (Q 10,13-15), an das Ende der Täuferpassage (Mt 11,20-24).
2.1.2 Theologische Justierung der Quellen Mt hat seine beiden Hauptquellen nicht nur kombiniert, sondern auch in seinem Sinn theologisch justiert. (1) Gerichtsaussagen. Für die Logienquelle ist der Gerichtsgedanke leitend. Er spannt sich als Bogen über das gesamte Dokument: von der Gerichtsansage des Täufers (Q 3,7-9) bis zur Ankündigung, dass die Nachfolger Jesu auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten (Q 22,28.30); und er bildet den Höhepunkt der einzelnen Abschnitte: des 1. Täuferblocks (Q 3,16f.), der programmatischen Rede (Q 6,46-49), des 2. Täuferblocks (Q 7,31-35), der Aussendungsrede (Q 10,2-15), des Wunderblocks (Q 11,3If.), der Weherufe (Q 11,49-51), der Schülerparänese (Q 13,28f.34f.), und gipfelt schließlich in der eschatologischen Rede (Q 17,24-30; 22,28.30). Der Evangelist greift diesen Leitgedanken auf, aber er gibt ihm im doppelten Sinn eine andere Richtung, sowohl im Blick auf die Kommunikationsstruktur als auch im Blick auf das Kriterium des Gerichts. In der Logienquelle sind die Gerichtsdro-
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hungen nach außen gerichtet, an Israel als Adressat der Botschaft. Das Gericht wird denjenigen in Israel angedroht, die sich gegen Jesus und seine Boten entscheiden. Im MtEv sind die Gerichtsdrohungen nach innen gerichtet, gerade an die Schüler Jesu; sie sind die Adressaten der Gerichtsworte. Kriterium des Gerichts ist deshalb auch nicht mehr die Annahme bzw. Ablehnung Jesu, sondern das "Fruchtbringen". Es geht also darum, ob die Worte Jesu in Taten umgesetzt werden. Für diese theologische Justierung des Gerichtsgedankens nimmt der Evangelist entscheidende redaktionelle Änderungen an seinem überlieferten Stoff vor: Gerichtsaussagen, die in der Logienquelle an ganz Israel gerichtet sind und sich auf die Ablehnung der von Gott geschickten Boten beziehen, adressiert der Evangelist an die Pharisäer (zu Q 11,29-32 vgl. Mt 12,38-42; zu Q 11,49-51; 13,34f. vgl. Mt 23,34-39). Auch die Weherufe über die galiläischen Städte werden historisierend nur auf die Ablehnung Jesu bzw. des Täufers bezogen (11,16-19.20--24) und nicht wie in der Logienquelle auf die Ablehnung auch seiner Boten ausgedehnt (vgl. Q 10,2-12.\3-15). Das Gericht fiir die "Untaten" der galiläischen Städte und speziell der Einwohner JerusaIems, die sich von den Führern Israels zum "Blutruf' (Mt 27,25) verleiten lassen, ist gemäß Mt 22,7 in der Zerstörung Jerusalems durch die Römer bereits ergangen. Diese Schuld ist gesühnt. Als Kriterium fiir das ausstehende Weltgericht bleibt das "Fruchtbringen" bestehen; im Mund des Täufers sogar speziell an die Pharisäer und Sadduzäer (Mt 3,7-10 vgl. Q 3,7-9), im Mund Jesu an alle seine Adressaten und zugespitzt natürlich an seine Schüler gerichtet. Entscheidend ist das Tun der Worte Jesu (Mt 7,24-27 vgl. Q 6,47-49). Wachsamkeit bedeutet ständiges Praktizieren der Gebote Jesu (Mt 24,42-51 vgl. Q 12,39-46). Dieser Akzent wird vom Evangelisten durch seine Sondergutgleichnisse verstärkt, denen er z. T. eine neue Wendung gibt: Es reicht nicht, sich zum großen Festmahl einladen zu lassen (Mt 22,1-10), es kommt vielmehr darauf an, dass man mit einem der Feier entsprechenden Hochzeitsgewand erscheint (Mt 22,11-14). Es reicht nicht, im Haus auf den Bräutigam zu warten, man muss vielmehr bei seiner Ankunft Öl in den Lampen vorweisen können (Mt 25,1-12). Es reicht nicht, das anvertraute Talent sorgfältig zu bewahren, indem man es in der Erde verbirgt, sondern man muss damit wuchern (Mt 25,14-30). Ansonsten droht das unerbittliche Gericht. Man wird hinausgeworfen in die Finsternis: "Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein" (Mt 22,13; 25,30; vgl. Mt 8,12), wie im MtEv reftainartig zu hören ist. Die Erwartung der Logienquelle, dass die treuen Nachfolger Jesu zu Richtern über Israel bestellt werden (Q 22,28.30 vgl. Mt 19,28) problematisiert der Evangelist durch das von ihm angeschlossene Lohnpächtergleichnis (20,1-16), wonach die Ersten die Letzten sein werden und gerade die Ersten von der Gerechtigkeit Gottes am wenigsten verstehen. Der Höhepunkt der eschatologischen Rede macht mit dem Weltgerichtsszenario (25,31-46) unzweideutig klar, wer der Richter am Ende ist: niemand anders als der Menschensohn selbst. Er sitzt nicht nur über Israel, sondern über alle Völker zu Gericht. Im Duktus des Gesamtevangeliums gelesen sind die Schüler einbezogen. Und es ist ein Kennzeichen der von Gott als "Gerechte" Eingestuften, dass sie über dieses Urteil erstaunt sind. Für die Schüler Jesu, die seine Lehre verkünden, geIten im Extremfall die gleichen Maßstäbe wie fiir diejenigen, die die Lehre Jesu überhaupt nicht angenommen haben. Beide Gruppen werden nach dem Maßstab elementaren humanen Verhaltens beurteilt. Weil diese universale Perspektive so erstaunlich und geradezu atemberaubend ist, wird im Gegenzug ein exklusiver Deutungsvorschlag gemacht: Der Weltenrichter wende sich nur an Nichtchristen und beurteile sie danach, wie sie sich gegenüber den Christen (= Brüder) verhalten haben. Die christlichen "Brüder" ständen an der Seite des Weltenrichters und
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würden nicht gerichtet. Nach dem Gericht über die Gemeinde, wovon das Jungfrauengleichnis erzähle (25,1-12), würde mit 25,14-30 das Gericht über die Welt geschildert. Der klassische Interpretationstyp beschränkt die Aussagen des Weltgerichts auf den Rahmen der christlichen Gemeinde. "Alle Völker" sind "alle Christen". Es gehe um den Umgang miteinander innerhalb der christlichen Schülergemeinde (Übersicht: U. Luz, EKK I/3, 521530).
(2) Gesetz. Das heidenchristIich ausgerichtete MkEv hat sich vom jüdischen Ritualgesetz frei gemacht. Spitzensatz diesbezüglich ist die Aussage in 7,19, wo Jesus alle Speisen fiir rein erklärt. Genau diesen Satz streicht Mt. Das Ritualgesetz bleibt für ihn voll in Geltung. Zwar lässt er Jesus über die Ausführungsbestimmungen der Gebote diskutieren (Reinheitsgebote: 15,1-20; Sabbatgebote: 12,1-14) und eine Gewichtung vornehmen (23,23), aber prinzipiell gilt: "Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vom Gesetz vergehen ... " (5,18). Diesen Spitzensatz hat Mt aus der Logienquelle übernommen (Q 16,17). Aber er belässt es nicht dabei, dass Jesus, wie in der Logienquelle, das jüdische Gesetz neu akzentuiert, sondern macht zum eigentlichen Programm Jesu die "Erfiillung von Gesetz und Propheten" (5,17). Damit ist nicht nur die beste und der momentanen Lebenssituation adäquateste Auslegung des Gesetzes gemeint, sondern zugleich die beste und zugleich vorbildhafte Praxis. Dieses Ineinander von jesuanisch ausgelegtem Gesetz (vgl. 24,35: Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte werden gewiss nicht vergehen) und dessen Praktizierung kann der Evangelist durch die Kombination von Redekomplexen (Lehre Jesu aus der Logienquelle) und Erzähltexten (Tun Jesu gemäß dem MkEv) veranschaulichen. Wie die "Erfüllung von Gesetz und Propheten" durch die Tat geschieht, ist am Lebensweg Jesu ablesbar. Die sogenannten "Erfüllungszitate" tragen diesen Gedanken explizit in den Erzähltext ein. Aber auch außerhalb der Erfüllungszitate soll am Verhalten Jesu die Erfüllung des Gesetzes abgelesen werden können, beginnend bei der Taufe, wo sich Jesus demütig dem Täufer unterstellt, "um zu erfüllen jede Gerechtigkeit" (3,15), bis hin zu seiner Kreuzigung, bei der der Hirte geschlagen und die Schafe zerstreut werden (26,31). Etwas überspitzt könnte man sagen: Im MtEv übernehmen die Erfiillungszitate die Funktion, die im MkEv das "Messiasgeheimnis" hat, das durch die diversen Schweigegebote an unterschiedliche Gruppen zum Ausdruck gebracht wird (~ B.V.3.2). In einem Fall ersetzt Mt sogar ein Schweigegebot (Mk 3,12) durch ein Erfiillungszitat (Mt 8,17). Wird im MkEv die Bedeutung Jesu und seiner Titel erst vom Kreuz her verstehbar, so im MtEv nur über die Schrift. Wird im MkEv das Programm Jesu vom Statusverzicht am Kreuzestod ablesbar und damit eingelöst (vgl. Mk 10,45), so im MtEv das Redeprogramm von der "Erfiillung von Gesetz und Propheten" am gesamten Lebenslauf Jesu. Anders gesagt: das "Frucht bringen" Jesu kann an seinen Taten abgelesen werden. Unter den Erfüllungszitaten, auch Reflexionszitate genannt, versteht man die zehn Zitate aus Prophetenbüchern im MtEv, die jeweils am Ende einer Erzählung mit folgender ste-
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reotypen Wendung eingeleitet werden: ,,(Dies alles aber ist geschehen), damit sich erfilllte das Gesagte vom Herrn durch N., den Propheten, der sagt" (1,22; 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4; 27,9). Inhaltliches Kennzeichen dieser Erfilllungszitate ist, dass sie die voranstehende Erzählung mit einem Prophetenzitat in Verbindung bringen. Darin liegt der Unterschied zur sogenannten Peschertechnik, wie sie z. B. filr Qumran belegt ist: In fortlaufender Kommentierung werden Aussagen aus Prophetenbüchern mit momentanen Zeitereignissen in Verbindung gebracht. Im Unterschied dazu schauen die Erfilllungszitate zurück und setzen Erzählereignisse des MtEv mit Prophetenworten in Zusammenhang. Besonders häufig finden sie sich im Prolog. Dort stehen sie mit dem Verhalten von Menschen in Verbindung, die durch ihr (gutes oder verwerfliches) Tun Jesus, der in der Königsstadt Betlehem geboren wird, auf Umwegen nach Nazaret in Galiläa führen. Im Hauptteil ist es dagegen das Verhalten Jesu selbst, in dem sich die Vorstellung eines friedlichen jüdischen Königs (= Messias = Christus) schriftgemäß verwirklicht, während das einzige Erfiillungszitat im Schlussteil sich auf das Verhalten dessen bezieht, der darüber Reue empfindet, dass er unschuldiges Blut ausgeliefert hat, aber dafiir eine schändliche Abfuhr von den Hohenpriestern und Ältesten hinnehmen muss (27,3-10). Zwei Details: (I) Während bereits die Schriftgelehrten in der mt Gemeinde zeitlich vor dem Evangelisten atl Zitate mit vorliegenden Sonderüberlieferungen verbunden haben (z. B. 2,13-23; 27,3-10), scheint es seine Hand gewesen zu sein, welche die stereotype, in 2 Chr 36,21 "gefundene" Einleitungsformel an bestimmten Punkten bewusst platziert hat (Diskussion bei U. Luz, EKK 111 5, 189-199). (2) In einem Fall wird ein Sacharjazitat flilschlicherweise dem Propheten Jeremia zugeschrieben (27,9 = Sach 11,13), in einem anderen Fall ein Sacharjazitat nicht identifiziert (21,5 = Sach 9,9). Im Blick auf die vorhandene Textgrundlage ließe sich daraus folgern, dass die Schriftgelehrten der mt Gemeinde weder eine Dodekaprophetenrolle noch eine Jeremiarolle zur Verfügung hatten, vermutlich nur eine Jesajarolle.
(3) Heidenmission. In diesem Fall lässt sich Mt vom MkEv inspirieren, zähmt jedoch dessen allzu forsche Erzähltradition von seinem Sondergut her: Jesus weiß sich allein zum Haus Israel gesandt und verbietet den Weg zu den Heiden bzw. Samaritanern ausdrücklich (Mt 10,5f.). Im MkEv kommt Jesus zu Lebzeiten extensiv mit Heiden in Berührung (Mk 5,1-20; 7,24-30.31-37) und wirbt bei seinen Schülern flir die Sorge um die Heiden (Mk 8,1-3; - 4 B.V.I.3.3). In der Bearbeitung dieser Stellen betont Mt dagegen z. B. in der Gerasenergeschichte die feindselige Haltung der gesamten heidnischen Stadt und unterdrückt sowohl den Verkündigungsauftrag an den geheilten Besessenen als auch dessen Verkündigungspraxis in der Dekapolis (Mt 8,34). Im Gespräch mit der heidnischen Frau lässt Mt Jesus die Exklusivität seiner Sendung zu Israel betonen (Sondergut: 15,24). Er streicht die Berührung mit dem Taubstummen und verlegt die zweite Speisungsgeschichte, die im MkEv im Heidenland spielt, ins jüdische Kernland (Mt 15,29-31.32-39 vgl. Mk 7,31-37; 8,1-10). Dagegen greift er die Vision einer zukünftigen Heidenrnission, die das MkEv proleptisch erzählt (Mk 13,10; 14,9), in der Schlussszene Mt 28,1620 als Auftrag des zum Universalherrscher eingesetzten Jesus an seine Schüler ausdrücklich auf. Er kann damit an die Logienquelle anknüpfen, die eine prinzipielle Offenheit Heiden gegenüber zeigt, sofern die Heiden im Sinn der Völ-
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B. Die vier Evangelien
kerwallfahrt nach Israel kommen (Q 7,1-10; 13,28f. vgl. Mt 8,5-13) bzw. als fiktive Vorbild figuren Israel als Ansporn vor Augen gehalten werden (Q 10,13-15 vgl. Mt 11,20-24). In der Kombination der judenchristlich geprägten Logienquelle mit dem heidenchristlich geprägten MkEv sowie deren Justierung spiegelt sich einerseits etwas von der Geschichte der Gemeinde (- 2.4), andererseits lassen sich daraus Ansatzpunkte rur die neue Profilierung der überkommenen Tradition erkennen (- 3.).
2.3 Verfasser Die Kennzeichnung ,,(Evangelium) nach Matthäus", die unsere Schrift in den Kodizes zur Unterscheidung von den anderen Evangelien erhält (N B), greift auf den Apostelnamen zurück (10,3). Dass der Apostel Mt tatsächlich dieses Evangelium geschrieben hat, ist sehr unwahrscheinlich. Wie sollte ein Augenzeuge auf das Werk eines Nichtaugenzeugen, eben das MkEv, zurückgreifen, um die Ereignisse zu beschreiben, die er selbst miterlebt hat? Auch die Papiasnotiz, wonach Mt die Überlieferungen (ta AOYLa) in hebräischer Sprache zusammengestellt habe (Eus., Hist EccI III 39,16), ist historisch unwahrscheinlich: Sowohl die Logienquelle als auch das MkEv waren von vornherein in griechischer Sprache verfasst. Textintern gelesen wird der Name "Matthäus" allerdings höchst interessant: So heißt nämlich - im Unterschied zur Vorlage im MkEv - der Zöllner, der von Jesus nach 9,9 (= Mk 2,14) berufen wird. Nun sind nicht alle Texte des MtEv sehr freundlich gegenüber Zöllnern. In 5,46f. werden sie mit Heiden auf eine Stufe gestellt, von deren Verhalten sich die wirklichen Schüler Jesu positiv absetzen sollten! Gemäß 18,17 lautet die endgültige Ausschlussformel rur ein Gemeindeglied, das in einem präzise geregelten dreistufigen Verfahren auch nach vielen Gesprächen nicht zur Einsicht kommen will: " ... dann sei er dir wie der Heide und der Zöllner". Im narrativen Duktus des Gesamtevangeliums gelesen, macht allerdings Jesus vor, wie man mit einem solchen Zöllner umzugehen hat: Er hat den Mt nicht nur berufen, sondern ihn sogar mit dem Apostelamt betraut. Mit der Benennung ,,(Evangelium) nach Matthäus" wird ein Zöllner zur Programmfigur. Hinsichtlich der religiösen Identität des Verfassers bzw. der Gemeinde, hinsichtlich ihrer Stellung imlzum Judentum und der Praxis der Heidenrnission ist die Matthäusforschung geradezu konträren Trends unterlegen. Musste man in den 80er Jahren des 20. Jh. noch begründen, dass der Verfasser ein geset· zestreuer, christgläubiger Jude sei, weil ausgemacht galt, dass es sich um einen Heidenchristen handelte (W. TRILLING, J. P. MEIER, G. STRECKER), bedarf es 30 Jahre später einer Begründung, wenn man behauptet, dass Mt mit der Synagoge gebrochen habe. Denn der "new consensus" geht davon aus, dass die mt Gemeinde eine deviante Gruppe sei, die ganz und gar innerhalb des Judentums agiere (A. J. SALDARINI) und - so die Extremposition der Heidenmission reserviert gegenüber stehe (0. C. SIM). Die andere Extremposition
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vertritt R. DEINES, der behauptet, dass Mt und Paulus auf einer Linie liegen. Im Blick auf die Heidenmission schlägt das Pendel teilweise zurück: Mt motiviere nicht zur Heidenmission (U. Luz, EKK 111, 67), sondern müsse an die inzwischen strittige Sendung zu den Juden erinnern (H. FRANKEMÖLLE, Matthäus ll, 76.545f.) bzw. die bereits begonnene Heidenmission rechtfertigen (U. Luz, EKK 1/1 5, 91 in Korrektur seiner früheren Position).
Wir gehen davon aus, dass der Verfasser ein judenchristlicher Autor ist, der für eine judenchristliche Gemeinde schreibt, die allerdings an einem Wendepunkt steht, genauer: in einer Krise, aus der die Schrift des Evangeliums herausführen soll. Anhand der unterschiedlichen Positionen, die in der Gemeinde vertreten werden und im Text des Evangeliums noch greifbar sind, soll die Stellung zur örtlichen Synagogalgemeinde bzw. zur Heidenrnission skizziert werden.
2.4 Adressaten Verf. wie Gemeinde kennen sich mit dem Judentum aus: Die Erläuterung von jüdischen Bräuchen, wie sie im Text des MkEv zu finden sind, werden vom Verf. gestrichen (Mk 7,3f.; 14,12). Die für jüdische Ohren gehässig klingende Frage, ob es erlaubt sei, am Sabbat Böses zu tun (vgl. Mk 3,4) wird ebenfalls ersatzlos getilgt (vgl. Mt 12,12). Stattdessen wird auf der typisch jüdischen Argumentationslinie, dass nämlich Lebensgefahr Sabbatgebote außer Kraft setzt (vgl. 2 Makk 2,41), das auch aus der frühjüdischen Diskussion bekannte Beispiel vom Schaf, das in die Grube fällt, eingeführt (Mt 12,11 vgl. CD 11,l3f.; bShab 128b) und daraus gefolgert: "Deshalb ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun" (Mt 12,12). Die Gemeinde hält sich offensichtlich an das Reiseverbot am Sabbat (24,20) und vernachlässigt auch die weniger gewichtigen Vorschriften des Gesetzes nicht, wie etwa die Verzehntung von Minze, Dill und Kümmel (23,23; vgl. K. MÜLLER, Rückbesinnung). 2.4.1 Die Geschichte der Gemeinde im Spiegel ihrer Traditionen Das Verhältnis zur Logienquelle ist nicht nur ein literarisches, es lässt sich auch eine soziologische und geschichtliche Kontinuität feststellen. Vermutlich ist die mt Gemeinde von Q-Wandennissionaren, also den Trägern der Logienquelle, gegründet worden und steht weiterhin mit ihnen in Kontakt (U. LUz, EKK 1/1 5, 90). Konkret: Die Botschaft der Q-Leute hat unter bestimmten Mitgliedern der örtlichen jüdischen Synagoge Anklang gefunden, auch unter einigen ihrer Schriftgelehrten. Diese greifen die Logientradition auf, ergänzen sie und schreiben sie selbständig fort. Die Gründungsmissionare kommen ab und zu in ihren neuen Stützpunkt, den sie gewonnen haben, zurück. 1m Text schlägt sich das folgendennaßen nieder: Neben den "Propheten" und "Weisen", wie sich die Q-Wandermissionare bezeichnen, erscheinen als
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dritte Gruppe die Schriftgelehrten (Mt 23,34 vgl. Q II ,49; Mt 8,19 vgl. Q 9,57). Vor Ort partizipiert also eine weitere Gruppe am gleichen Sendungsauftrag, den die Q-Wandermissionare aufsieh beziehen (23,34: " ... Siehe, ich sende zu euch Propheten, Weise und Schriftgelehrte ... "), die ihrerseits aber die Gemeinde nur noch gelegentlich besuchen (10,41; vgl. 7,15). Die theologische Durchdringung der Q-Traditionen leisten die Schriftgelehrten vor Ort. In erster Linie geht es darum, die zum Teil alltags weisheit lieh geprägten Sprüche Jesu mit typischen Diskursfeldern der Tora in Verbindung zu bringen, also darum, die "Lehre Jesu" für die theologische, d. h. schriftgelehrte Diskussion als relevant auszuweisen. Das geschieht zentral in den so genannten Antithesen (5,21-48). Sowohl die Bezeichnung ("Antithesen") als auch die Form ("ihr habt gehört ... ich aber sage euch") trügen: Es geht keinesfalls um Stellungnahmen gegen das Gesetz, sondern vielmehr um den Versuch, die Alltagsratschläge Jesu Sachfeldern der Tradition ("ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist ... CO) zuzuordnen und sie als neuen Beitrag ("ich aber sage euch ... ") auf diesem Diskussionsfeld auszuweisen (H. FRANKEMÖLLE, Matthäus I, 225-235; K. MÜLLER, Beobachtungen). Sich bei einer Wallfahrt nach Jerusalem genau zu überlegen, ob man nicht mit irgendjemandem zuhause im Streit liegt, bevor man feierlich und fromm seine Gabe zum Altar in Jerusalem bringt (Mt 5,23), dieser Ratschlag Jesu wird über die Antithesenform "ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: ,Du sollst nicht töten' ... " (Ex 20,13; Dtn 5,17) dem Dekaloggebot zugeordnet und soll damit als neuer, spezifizierender Beitrag zu dessen Ausfiihrungsbestimmungen verstanden und gewertet werden. Damit wird Jesus in die Kette der gelehrten Traditionsträger Israels eingeordnet und selbst zu einem Schriftgelehrten stilisiert.
Die Schriftgelehrten der kleinen Gruppe, die sich durch die Q-Wandermissionare für die Botschaft Jesu gewinnen ließ, eröffnen ihrerseits in der Traditionslinie des "einzigen Lehrers" Christus ein neues Lehrhaus, das sich, um deutliche Konturen zu gewinnen, vom Lehrhaus der Heimatsynagoge, aus der sie selbst stammen, absetzen muss (23,1-7.8-11). Weil die sachlichen Unterschiede gering sind - für praktisch alle Ratschläge Jesu gibt es im breiten Traditionsstrom des Judentums Parallelen -, müssen polemische Verzerrungen der Gegnerpositionen die eigenen Konzepte als die besseren erscheinen lassen (W. REINBOLD). Die Schriftgelehrten der mt Jesusgruppe können dabei an die Q-Tradition der Weherufe (Q 11) anknüpfen, die sie sachlich verschärfen und mit persönlichen Verunglimpfungen der Gegner garnieren, wenn sie die Schriftgelehrten und Pharisäer der ehemaligen Synagogenheimatgemeinde als "Heuchler" und "blinde Führer" beschimpfen (23,15-22). Aus dieser Konfliktlage heraus ist die pointierte Rede von "ihren Synagogen" (4,23; 9,35; 12,9; 13,54; 23,34) bzw. "ihren Schriftgelehrten" (7,29) zu verstehen. Die Schriftgelehrten der mt Jesusgemeinde sehen sich also insofern extra muros, als sie ihr eigenes Lehrhaus behaupten: mit einer eigenen Versammlung, im MtEv EKKATJol:aNersammlung genannt (18,15-17; vgl. 16,18),
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und einer eigenen Lehrtradition. Es handelt sich also um einen Schriftgelehrten-Autoritätenstreit, der auf die zugehörigen Gruppen abfärbt, insofern sie sich entweder der einen oder anderen Schriftgelehrtengruppe und deren "Lehrhaus" unterstellen. Überspitzt könnte man sagen: Auf Schriftgelehrtenebene werden gegenseitig die Positionen schlecht gemacht (23,13-32), auf der Anhängergruppenebene verweigert man sich dem Gruß (5,47). Aber all das spielt sich auf dem gemeinsamen Boden des Ringens um die Fortführung der jüdischen Tradition, so gesehen also intra muros ab. Soziologisch ausgedrückt: Die mt Jesusgruppe hat sich räumlich und personell von ihrer Synagogenheimatgemeinde getrennt, sachlich kämpft sie um das gleiche Erbe (C. ETTL).
2.4.2 Gruppenformation in Abgrenzungen Für die entstehende kleine Ekklesia vor Ort, die sich von der Heimat-Synagoge getrennt hat, entwickeln die eigenen Schriftgelehrten dieser Gruppe abgrenzend-elitäre Regulierungen. Dazu gehören die Frömmigkeitsregeln 6,16.16-18, in denen die "Heuchler", also die Führungsautoritäten der Ortssynagoge und deren Verhalten, als dunkle Kontrastfolie dienen, um das angezielte eigene Verhalten auf den üblichen Frömmigkeitsfeldern Almosen, Gebet und Fasten umso leuchtender abheben zu können. Geradezu rigorose Züge trägt das Ausschlussverfahren tur uneinsichtige "Sünder", denen die Zugehörigkeit zur Ekklesia gekündigt wird, wenn sie sich ihrem Normenkodex verweigern (I 8, 15-18). Ist das Verhältnis zur jüdischen Muttergemeinde abgrenzend elitär, so nimmt das Außenverhältnis im Blick auf die pagane Bevölkerung, die ftir eine jüdische Gemeinde in der Diaspora das normale Umfeld bildet, geradezu exklusive Züge an. Abgesehen von negativen Bewertungen von "Zöllnern und Heiden" (5,46f.; 18,17) ist das ausdrückliche Verbot zu nennen, sich auf die Wege zu den Heiden und in die Städte der Samaritaner aufzumachen (lO,5f.). Diese Sondertradition wird innerhalb der mt Jesusgemeinde von den Schriftgelehrten formuliert. Sie steht im Widerspruch zur Haltung der Q-Gründungsmissionare und soll vermutlich auch als Warnung an sie verstanden werden: Die Q-Wandermissionare stehen nämlich Heiden aufgeschlossener gegenüber (Q 7,1-10; 13,28f.) und sehen in ihren Traditionen bereits Ausnahmeregeln vor, falls ihnen in einem heidnischen Haus Speisen vorgesetzt werden, die ein Jude normalerweise nicht isst: " ... esst und trinkt, was sie haben'" (Q 10,7), eine Aussage, die in der mt Version der Aussendungsrede unterdrückt wird (vgl. Mt 10,10). Es könnte also sein, dass die Heidenrnission - gerade im syrischen Raum - von den Q-Wandermissionaren, die auch die mt Jesusgemeinde auf ihren Wanderungen immer wieder besuchen, bereits betrieben wurde, während die Schriftgelehrten vor Ort sich dem heftig widersetzen.
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2.4.3 Das Ringen um Identität und die Intervention des Evangelisten Die mt Gemeinde ringt also um ihre Konturen: in Absetzung von den Autoritäten ihrer Herkunftsgruppe, der örtlichen Synagogengemeinde ("Heuchler"), in der Gestaltung der eigenen Innenstrukturen (Ekklesia) und im Streit um die Außenstrukturen (Heidenmission). Dabei geraten verschiedene Führungsgruppen in einen sachlich bzw. personell bestimmten Konkurrenzkampf: Die Propheten der Grundungsgruppe mit den Schriftgelehrten der Ekklesia im Blick auf die Praxis der Heidenmission, die Schriftgelehrten der beiden Lehrhäuser im Blick auf die Anerkennung einer eigenen Lehrtradition in der Ekklesia. Der Evangelist versucht nun, mit Hilfe der Fremdtradition des MkEv aus diesem Dilemma herauszuführen. Literarisch ordnet er sowohl die ortseigenen Sondertraditionen als auch die ursprüngliche "Bekehrungstradition" (Logienquelle) dem narrativen Duktus der mk Jesusgeschichte zu. Sachlich eröffnet er durch die neue Kontextualisierung der vorhandenen Traditionen, seinen bewussten Eingriffen und zum Teil Neuschöpfungen weiterführende Perspektiven. (I) Im Spiegel der mk Jesusgeschichte durchleuchtet Mt den Konflikt der beiden Lehrhäuser: Es sind die Pharisäer und Schriftgelehrten, die der sich etablierenden Jesusschule - und insbesondere ihrem Grunder - ablehnend gegenüberstehen. Die Volksmengen dagegen zeigen neugieriges Interesse. Diese Diskrepanz wird in den Schilderungen des MtEv eindrücklich herausgearbeitet (9,33f.; 12,22f.). Lediglich das Volk von Jerusalem lässt sich von den Hohenpriestern dazu verleiten, das verderbliche Urteil über Jesus zu sprechen (27,20.25). Durch diese gezielten narrativen Differenzierungen wird der Blick weg vom Lehrhausstreit hin auf die potentiellen Adressaten gelenkt, die unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum einen oder anderen Lehrhaus für die Jesuslehre offen erscheinen: die Volksmengen (J. R. C. COUSLAND; M. KONRADT 387). (2) Was die Heidenrnission angeht, schlägt sich der Evangelist sachlich auf die Seite der Q-Wanderpropheten, allerdings nicht mit der Betonung auf der Anerkennung der Person Jesu (Q 7,1-10), sondern der Praktizierung der ethischen Botschaft Jesu in Anbindung an die jüdische Tradition. Die Missionare sollen alle VölkerlHeiden zu Schülern Jesu machen, die getauft und darin belehrt werden, "alles zu halten, was ich euch aufgetragen habe" (28, 19f.; -- 3.2). Den gleichen Maßstab legt Mt (1-8) an die Wanderpropheten selbst an. Es reicht nicht, "Herr, Herr!" zu rufen und sich mit vielen Wundertaten zu brüsten, das Kriterium im letzen Gericht wird vielmehr sein, ob die Weisungen Jesu in die Tat umgesetzt wurden (7,21-23). An den Taten ("Fruchten") wird man erkennen, ob die Propheten der Logienquelle diesen Namen verdienen oder "Pseudopropheten, reißende Wölfe in Schafspelzen sind" (7,15-23; 24,10-12; zu anderen Identifizierungsversuchen der "Pseudopropheten" vgl. S. VON DOBBELER 175f.). (3) Was die Innenraumgestaltung der Ekklesia angeht, fordert der Evangelist
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von den Schriftgelehrten eine Gerechtigkeit, die im Sinn von Barmherzigkeit das Gesetz erfüllt. Dazu stellt er das jesuanische Gleichnis, das bei Mt vom verirrten Schaf erzählt (18,10-14 vgl. Q 15,3-7), sowie das Schalksknechtgleichnis (18,23-35) samt dem Spruch von der endlosen Vergebungsbereitschaft (18,2If.) als Rahmen und kontrastreichen Verständnishorizont um die Ausschlussregel (18,15-18). Paradigmatisch schaut das erste Erfüllungszitat des Evangeliums (I,22f.) auf eine derartige barmherzige Gerechtigkeit zurück: Statt wegen des vermeintlichen Ehebruchs seine Frau anzuklagen und steinigen zu lassen (Dtn 22,20-22; Jos., Ant IV 246-248), will Josef ihr heimlich die Entlassurkunde geben, und ihr damit die Möglichkeit einer Verbindung ohne Komplikationen eröffnen (1,18f.). Nach Auskunft des Engels im Traum nimmt er Maria wie seine Frau zu sich und adoptiert durch die Namensgebung den Sohn, den sie gebärt (1,20-25). Für Mt kommt es nicht darauf an, wer die bessere Lehre hat, sondern wer die bessere Lehre im Sinn der Gerechtigkeit als Barmherzigkeit praktiziert (~ 3.3). Die mt Gemeinde ist eine sesshafte Gemeinde. Jesus selbst bezieht (nach mehreren Umzügen) im MtEv einen festen Wohnsitz (4,13). Aber die Ekklesia, die Mt vor Augen hat, ist eine Gemeinde in Bewegung. Er portraitiert sie mit dem Boot, das bei der Überfahrt ans andere Ufer in den Sturm gerät (8,1827). Entscheidend ist, ob man in dieses Gemeindeboot einsteigt, das von Gott an ein neues Ufer getrieben wird. Symptomatisch ist, dass Mt diese Entscheidung durch zwei Streitgespräche problematisiert, die er aus der Q-Tradition übernimmt (8,19-22 vgl. Q 9,57-60). Allerdings debattieren bei ihm nicht zwei anonym bleibende Interessenten mit Jesus über die Nachfolge (so Lk 9,57-60), sondern ein Schriftgelehrter und ein Schüler, also Vertreter der beiden Autoritätsgruppen, die bisher das Leben der mt Jesusgemeinde bestimmt haben. Nach Mt fallt und steht alles damit, ob diese bei den Führungsgruppen sich auf die Gemeinde im Boot einlassen und sich - mit Jesus im Boot - von Gott an neue Ufer treiben lassen. Insofern ist die Schrift, die der Evangelist vorlegt, eine inklusive Jesusgeschichte (D. B. HOWELL; U. LUZ, Jesusgeschichte): Mt erzählt die Fremdtradition des MkEv durch spezifische Anreicherungen und Veränderungen so, dass sich darin exemplarisch die eigene Gemeindegeschichte mit ihren widerstrebenden Positionen und Konflikten widerspiegelt, aber auf eine neue Gesamtperspektive hin eingespurt wird. Dazu legt er sein "Buch" (1,1) für einen neuen Aufbruch vor (~3.1), durch das ein neuer Lehrkörper installiert wird (~ 3.3), dessen Aufgabe es ist, eine universal ausgerichtete, an der Lehre Jesu orientierte und in den Traditionen des Judentums verankerte Ethik rür die "Kleinen" zu formulieren - und vor allem selbst zu praktizieren (~ 3.2). Wo (~2.5) und wann (~2.6) ist das geschehen?
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2.5 Ort Ein breiter Konsens in der Forschung plädiert für Syrien als Entstehungsraum des MtEv. Folgende textinterne Indizien sprechen dafür: Der Evangelist lässt den Ruf Jesu bis nach Syrien dringen und von dort die ersten Heilungssuchenden kommen (4,24), noch bevor er den Zustrom aus dem jüdischen Kerngebiet erzählt (4,25). Durchgängig und im Unterschied zur Markusvorlage wird Jesus "Nazoräer" (Na(wpo:loc;) genannt (2,23; 26,71). Das ist eine typische Christenbezeichnung im syrischen Raum (U. Luz, EKK 111 5 , 102.188). Nähere Spezifizierungen sind schwierig. J. ROLOFF (Einführung 162) möchte aus 4,25; 19,1 herauslesen, dass der Verfasser aus dem Osten Syriens auf Judäa schaut. Auf jeden Fall ist ein städtisches Umfeld vorauszusetzen. Nur dort ist die linguafranca Griechisch, auf dem Land spricht man syrisch, einen aramäischen Dialekt. Konkret wird Antiochia, die Provinzhauptstadt Syriens, favorisiert (U. Luz, EKK 111 5, 10If.). Dort wäre die mt Jesusgruppe eine neben anderen Hausgemeinden. Sowohl das religiöse Milieu als auch die spezielle Christentumsgeschichte dieser Stadt würden passen: Anders als in Alexandria in Ägypten gibt es in Antiochia keine zentrale Synagoge. Die Problematik des "gesetzesfreien" Heidenchristentums im Sinn der Freiheit von jüdischer Beschneidungsvorschrift und Speisegeboten ist in Antiochia z. Zt. des Paulus durchkämpft und pluralistisch entschieden worden, und zwar durch Absonderung der judenchristlichen von den heidenchristlichen Hausgemeinden (vgl. GaI2,11-14). Das wäre ein sehr guter Anknüpfungspunkt für den erneuten Vorstoß in das heidnische Milieu, den Mt mit seiner Schrift vorschlägt, aber ohne die rituellen Besonderheiten des Judentums in den Vordergrund zu rücken (--+ 3.2).
2.6 Zeit Der terminus post quem ist durch zwei Fixpunkte bestimmt: Sowohl die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. (22,7) als auch das MkEv (evtl. in einer späteren Version; vgl. --+ B.I.) werden vorausgesetzt. Das MtEv kann also frühestens Mitte der 70er Jahre entstanden sein. Der terminus ante quem ist weniger eindeutig. Das MtEv wird in den 19natiusbriefen zitiert, und zwar mit seinem redaktionellen Endtex.t, so dass mündliche Jesusüberlieferung (so H. KOESTER 24f.) als Quelle "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" (W.-D. KÖHLER 95) ausscheidet (Sm 1,1 = Mt 3,15; Phld 3,1 = Mt 15,13). Das "Evangelium (unseres Herrn)", auf das sich die Didache mehrmals beruft (Did 11,3; 15,3f.), ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit das MtEv, jedenfalls wird das Vaterunser in der mt Fassung zitiert (Did 8,2 = Mt 6,9-13 diff Lk 11,2-4). Leider ist die Datierung sowohl der 19natiusbriefe (Frühdatierung ca. 110 n. Chr.) als auch der Didache (Anfang 2. Jh. n. Chr.) äußerst ungesichert.
Vennutlich ist das MtEv nicht viel später als 80 n. Chr. entstanden.
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3. Diskurs Für den zeitgeschichtlichen Rahmen des MtEv sind zwei Entwicklungen entscheidend: Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. formiert sich das Judentum neu, und zwar unter pharisäischer Führung. Innerhalb der christlichen Bewegung ist die Heidenrnission voll im Gang. Auf der Grundlage der Beschlüsse des Apostelkonvents (GaI2,1-1O) werden Heiden durch die Taufe in das Gottesvolk aufgenommen, ohne dass sie sich beschneiden lassen müssen. Die judenchristliche Seite hat das nicht tatenlos hingenommen. Wie an der judaistischen Gegenmission (vgl. Gal) zu sehen ist, hat man versucht, heidenchristliche Gemeinden nachträglich rituell ins Judentum zu integrieren, indem man für die Beschneidung geworben hat. Mt nutzt den Neuautbruch im Judentum, um sowohl im Blick auf die pharisäische Neukonstituierung des Judentums als auch im Blick auf die judenchristlichen Rettungsversuche im doppelten Sinn einen AIternativvorschlag zu machen: (I) Neukonstituierung des Judentums: ja, aber nicht auf den jüdischen Binnenraum beschränkt, sondern geöffnet für die Heiden. (2) Integration von Heiden ins Judentum aufgrund aktiver missionarischer Bemühungen: ja, aber nicht durch Betonung der rituellen Forderungen, sondern durch Werbung rur die jüdische Ethik. In der Perspektive steht ein reformiertes Judentum. Identitätskennzeichen ist nicht die rituelle Abgrenzung, sondern die völkerübergreifende Ethik, die in den Weisungen Jesu (fünf Reden) als Aktualisierung der jüdischen Tradition präsentiert wird. Mt legt seinen Altemativvorschlag in einem "Buch" (1,1) vor, dessen Form und Zielsetzung an die Chronikbücher erinnert, die als Abschluss der jüdischen Bibel im Rückblick auf die Geschichte das Konzept für einen Neuanfang formulieren wollen (E. ZENGER 46-50).
3.1 Das "Buch "für den Neuanfang Im Zentrum der Chronikbücher wird die "goldene Zeit" unter David und Salomo erzählt (1 Chr 10-2 Chr 9). Die Vorgeschichte wird in Form von geradezu endlosen Genealogien geboten (1 Chr 1-9). Der Epilog (2 Chr 10-36) erzählt den Niedergang der Dynastie bis zur Katastrophe im babylonischen Exil - und schließt mit einer Vision des Neuautbruchs. Das "Buch", das Mt vorlegt, lässt sich analog lesen: Im Zentrum steht das Wirken Jesu in Israel, der von vielen Geheilten als "Sohn Davids" bekannt wird. Seine Vorgeschichte wird in der Genealogie (1,1-17) mit der Geschichte Israels verknüpft, die in drei Perioden gegliedert (1,17) von Abraham über David zum "neuen David" führt, der "Christos" (= "Gesalbter" [König]) genannt wird (1,16). Der Epilog erzählt die Passion Jesu - aber auch die Vision des Neuanfangs. Insbesondere die Parallelität der Schlussszenen in bei den Werken ist verblüffend. In beiden Fällen setzt Gott einen Mandatar ein, der das Programm rur den Neu-
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anfang fonnuliert. In den Chronik büchern ist es König Kyrus, dessen Geist Gott "erweckte" und in seinem ganzen Reich verkündigen lässt: So spricht Kyrus, der König von Persien: Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Reiche der Erde verliehen. Er selbst hat mir aufgetragen, ihm in Jerusalem in Juda ein Haus zu bauen. Jeder unter euch, der zu seinem Volk gehört - der Herr, sein Gott, sei mit ihm -, der soll hinaufziehen (2 ehr 36,23).
Nach der Tempelzerstörung muss dieser frühestens Ende des 4. Jh. v. Chr. verfasste Text ungeheure Aktualität bekommen haben. Das Kontrastprogramm dazu schreibt Mt am Ende seines "Buches". Hier ist es der von Gott auferweckte Jesus, der seinen Schülern auf dem Berg in Galiläa verkündet: Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht hinaus und macht alle Völker zu Schülern, indem ihr sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes tauft und sie lehrt, alles zu halten, was ich euch geboten habe. Und siehe: Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt (28,18-20).
Das Refonnprogramm der Chronikbücher ist zentripetal am Tempel von Jerusalem ausgerichtet. Dorthin werden die Juden geschickt, um die goldene Zeit unter David und Salomo, deren Wirken gemäß 1/2 Chr im Tempelbau und der Errichtung des Kults und der Priesterinstitution gipfelte, wieder neu erstehen zu lassen. Das Refonnprogramm des MtEv ist zentrifugal ausgerichtet: Ein universales Reich entsteht, wo Jesu Weisungen gelehrt und praktiziert werden - ausgerichtet am Vorbild des "Sohnes Davids" selbst, wie es im Hauptteil des "Buches" erzählt wird. Wird den Juden in der babylonischen Gefangenschaft das "Mitsein Gottes" versprochen, wenn sie das lokale Zentrum des Judentums, den Tempel, wiedererrichten, so den Schülern Jesu dessen "Mitsein", wenn sie seine Worte zu den VölkernlHeiden tragen und auf diese Weise einen "Lehrtempel" errichten .. Beide Referenzpunkte dieses Refonnprogramms, der Verzicht auf den Tempel (1) genauso wie die Universalität des Königtums Jesu in der Gegenwart der Gemeinde (2), werden im MtEv reflektiert. (I) Sowohl Mt als auch Jochanan ben Zakkai, der das Lehrhaus in Jabne gründete, von dem etwa zeitgleich zum MtEv eine Erneuerungsbewegung ausgehen sollte, haben das gleiche biblische Leitwort ftir den Neuanfang: "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer" (Hos 6,6). Während Jochanan ben Zakkai damit einen Trost ftir die tempellose Zeit anbieten will und im Tun der Barmherzigkeit einen vorübergehenden Ersatz ftir die Tempelopfer sieht, zeigt das Prophetenwort im MtEv tatsächlich den Ersatz des Tempels durch die Erftillung des Gesetzes im Sinn von Barmherzigkeit an. Zweimal ftigt der Evangelist das Leitwort in seinen Markusstoff ein: ein Mal im Streit darum, ob man mit (unreinen) Zöllnern essen darf (9,9), das andere Mal, als die Pharisäer gegen die Schüler Jesu einschreiten wollen, weil sie am Sabbat - vor Hunger - Ähren zu rupfen und zu essen beginnen (12,7). Unmissverständlich formuliert der Evangelist in diesem Zusammenhang: "Hier ist etwas größeres als der Tempel" (12,6). Gemeint ist der barmherzige Umgang mit den Menschen. Nach dem MtEv besteht darin die "Erftillung des Gesetzes". Völlig konsequent wird mit dem Tod Jesu als Gipfelpunkt der Gesetzeserftillung genau das erwirkt, was normalerweise ausschließlich durch Tempelopfer erwirkt werden kann: Vergebung der SUnden. Erinnert wird daran bei jeder Feier des Herrenmahls. Nur im
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MtEv wird dieser Zusammenhang über das Becherwort hergestellt: "Das ist mein Blut des Bundes, das fUr viele vergossen wird zur Vergebung von Sünden" (26,28). Die soziale Umsetzung geschieht in der Vergebungsbereitschaft, wie sie - in Korrektur des Ausschlussverfahrens 18,15-18 - besonders stark die Gemeinderede betont (-+ 2.4.2[3]). Beides ist, ebenfalls nur gemäß dem MtEv, definitorisch miteinander verknüpft: "Wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen erlasst, wird sie auch euer himmlischer Vater euch erlassen. Wenn ihr sie aber den Menschen nicht erlasst, wird auch euer himmlischer Vater eure Übertretungen nicht erlassen" (6,14f.). Vergebung der Sünden geschieht nicht durch die Taufe als Initiationsritual (28,19; 3,1; vgl. dagegen Mk 1,4), sondern in Umsetzung des ethischen Programms, auf das sich die von den Schülern Jesu gewonnenen Interessenten einlassen. Rituell gefeiert wird sie im Herrenmahl. (2) Eine dem MtEv eigentümliche Vorstellung ist das "Königtum des Menschensohnes" (13,41; 16,28; 20,21). Es beginnt mit der Auferweckung Jesu (28,18). Der Acker, auf den der Menschensohn seinen Wort-Samen sät, ist der Kosmos (13,37f.). Das Königtum des Menschensohnes ist also dadurch gekennzeichnet, dass die Ethik Jesu als Gestaltungsmöglichkeit "ausgesät" wird. Medien dieser "Aussaat" sind die Schüler Jesu, die ihrerseits alle Völker zu Schülern Jesu machen sollen, indem sie sie zu halten lehren, was Jesus aufgetragen hat. Auch die Schüler Jesu bilden also keine abgegrenzte Einheit, sondern sind personale Träger der Ethik Jesu (-+ 3.3). Die Ekklesia entsteht im gesamten Raum der irdischen Welt. Wer wirklich dazugehört, wer "Weizen" im Acker ist (13,24-30), wer also die Weisungen Jesu tatsächlich umgesetzt hat, das wird der Menschensohn am Ende entscheiden (13,24-30.36-43; 25,31-46) und diese "Gerechten" in das "Königtum des Vaters" fuhren (13,41.43; 25,34; G. VANONIIB. HEININGER 103-\05).
3.2 Die universale Ethik Damit die Ethik Jesu aber von allen umgesetzt werden kann, muss sie auch universal rezipierbar sein. Bei der Präsentation der Ethik Jesu in den fünf Reden wird im MtEv dieser Brückenschlag in die pagane Welt bedacht. In der ersten Rede werden "Gesetz und Propheten" mit der goldenen Regel gleichgesetzt (7,12), die in der pagallen Welt so etwas wie eine fundamentalethische Regel darstellt (G. THEISSEN, Regel). In der letzten Rede des Evangeliums bestehen die Kriterien des Richters beim Weltgericht aus sechs Taten der Barmherzigkeit. Dabei werden Barmherzigk.eit und Christologie miteinander verschränkt. Alle Menschen, egal ob sie Juden oder Heiden sind, egal, aus welchem Volk sie stammen, werden daran gemessen, ob sie Notleidenden geholfen haben: Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefllngnis, und ihr seid zu mir gekommen (25,35f.). Als die durch dieses Handeln als "Gerechte" Ausgezeichneten nach dem Grund fragen, warum sie in den Notleidenden dem Richter selbst geholfen haben, erhalten sie als Antwort: "Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan" (25,40). Merkwürdigerweise wird im gesamten Evangelium die Beschneidung nie-
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mals thematisiert. Daraus kann man weder schließen, dass sie automatisch vorausgesetzt sei (D. C. SIM), noch dass sie bedeutungslos geworden sei (R. DEINES). Ausschlaggebend für das MtEv ist die Gewichtung der jüdischen Gebote. Ausdrücklich werden das Doppelgebot der Liebe (22,37-40) bzw. die Trias "Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue" (23,23) in den Vordergrund geruckt, während die Ritualgebote, wie Reinheitsvorschriften (15,1-20) oder die Verzehntung von Speisen (23,23) in die zweite Reihe gestellt werden. Auf keinen Fall hat die Beschneidung für Mt die Qualität eines Unterscheidungs'merkmals (wie für das Judentum typisch). Es könnte also sein, dass in der mt Gemeinde Taufe wie Beschneidung je nach der kulturellen Herkunft als gleichwertige Initiationsriten praktiziert werden, ohne dass damit Aussonderung oder gar Heilsgewissheit verbunden wäre (-+ 3.1[1]). Ob getauft oder beschnitten, es kommt darauf an, die Barmherzigkeit (im Sinn der Gesetzeserfüllung) zu tun.
3.3 Der neue Lehrkörper Jesus als Verkündiger der Ethik wird in der Szenerie der Bergpredigt einerseits Mose angenähert (D. C. ALLISON, Moses). Wie Mose steigt er auf den Berg, um die Vorschriften Gottes dem Volk in der Ebene zu verkünden (vgl. Ex 19f.); andererseits wird er mit den Schriftgelehrten parallelisiert: Er empfängt auf dem Berg keine Tafeln, sondern verkündet selbst - in der Lehrerpose sitzend - den Willen Gottes, genauso wie die Schriftgelehrten, "die sich auf die Kathedra des Mose gesetzt haben" (23,2). Anders als im MkEv, wo die Schüler Jesu stets als Nichtverstehende und sogar Nicht-Glaubende dargestellt werden (-+ B.V.1.3.5), sind die Schüler im MtEv schlimmstenfalls Kleingläubige (6,30; 8,26; 14,31; 16,8; vgl. die Tilgung von Mk 4,13; 6,52; 8,17f.), auf jeden Fall aber Lernende. Sie sind ständig die Adressaten der Lehre Jesu, die sie nach 28,19f. an alle Völker weitergeben sollen. Dadurch, dass die Reden des MtEv "aus dem Fenster gesprochen sind" und sich an die Hörer des Evangeliums richten, entsteht ein Traditionskontinuum. Schließlich überträgt Jesus sozusagen als Auftakt und Grundstein für seine Schülergemeinde die "Schlüssel des Himmelreiches", womit die Binde- und Lösegewalt gemeint ist (16,19), also die Vollmacht, ethische Weisung verbindlich zu erteilen, an Petrus. Konfessionell unterschiedlich wird das als einmalige Beauftragung (evangelisch) bzw. als dauerhaftes Amt (katholisch) gesehen (C. BÖlTRICH; M. EBNER). Als inhaltliche Richtschnur für die Tätigkeit religiöser Gesetzgebung dient die dunkle Kontrastfolie im Weheruf gegen die Schriftgelehrten (23,13): Die ethischen Weisungen sollen den Menschen das Himmelreich öffuen und nicht verschließen, d. h. es sollen den Menschen keine unerträglich schweren Lasten aufgelegt werden (23,4), sondern Weisungen, die ihrerseits barmherzig mit den Menschen umgehen (11,28-30). Auffällig ist: Obwohl der Evangelist die Funktion der Schriftgelehrten für
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die Verbreitung und Aktualisierung der Lehre Jesu hoch einstuft, reguliert und egalisiert er gleichzeitig ihren Führungsanspruch - und zwar sowohl im Blick auf die Amtskollegen in der Heimatsynagoge als auch im Blick auf die Gemeindemitglieder. Gemäß 23,3 ist auch all das zu tun und zu bewahren, was die Schriftgelehrten und Pharisäer der Synagoge entscheiden. Nur als Vorbilder, an deren Tun man die erteilte Weisung ablesen kann, scheiden sie aus. Nach dem MtEv sollen die Schriftgelehrten ihrerseits zu "Schülern des Königtums der Himmel" werden (13,52). Ziel ist nicht die Gründung eines eigenen Lehrhauses (so die Tradition vor Mt), sondern die Generierung und Vermittlung einer Ethik, die im "Acker der Welt" das Königtum, von dem die mt Jesusgeschichte in 4,23-9,35 erzählt, an Konturen gewinnen lässt. Es ist weder ethnisch noch territorial mit dem Land Israel identisch, sondern entsteht dort, wo die Ethik Jesu praktiziert wird. Nicht die Annahme oder Ablehnung der Person Jesu entscheidet über die Zugehörigkeit (Mt 16,27; dagegen Mk 8,38), sondern allein die Annahme bzw. Ablehnung seiner Lehre, die das MtEv in seinen fünf Reden dokumentiert und deren Praktizierung es im narrativen Duktus bezeugt. Es geht nicht darum, wer sich im Streit der Lehrhäuser durchsetzen kann, sondern wer im Konkurrenzkampf um das Tun der Weisung Gottes ("Gerechtigkeit"; vgl. 5,20) mehr Menschen für das Königtum der Himmel anzustecken in der Lage ist. Dann erst wird die Ziel metapher für die Ekklesia erreicht: "Licht für die Welt" bzw. "Salz der Erde" (5,l3f.) zu sein. Das Weltgericht am Ende der Zeit über alle Völker, seien sie Juden oder Heiden, seien sie in der Lehre Jesu unterrichtet oder nicht, entscheidet nicht über ethische Spitzenleistungen, sondern teilt "Gerechte" und "Ungerechte" danach ein, ob sie ein rudimentäres humanes Ethos befolgt haben, das sich zuallererst in der elementaren Hilfe für Menschen in Not zeigt (25,31~6). Der neue "Lehrkörper" des MtEv besteht also aus den Menschen, an deren Lebensführung man die Weisungen Jesu ablesen kann und sie als derart erstrebenswert für die Gestaltung der Welt erkennt, dass man Gott dafür nur loben kann. Oder im Originalton: "So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, dass sie eure guten Taten sehen und euren Vater in den Himmeln preisen" (5,16).
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B.V. Das Markusevangelium (Martin Ebner)
I. Struktur
1.1 Plot Das MkEv erzählt die Jesusgeschichte mit folgendem Profil: Sie spielt an fünf Orten und erstreckt sich über eine Zeitspanne von 50 Tagen. Der Held der Geschichte stammt aus Nazaret in Galiläa, seine Erfolge aber hat er nicht dort, sondern in kleinen Städten rings um das so genannte "Meer von Galiläa". Man bewundert ihn wegen seiner Worte, vor allem aber wegen seiner Taten. Aus der großen Anhängerschar wählt er sich zwölf Männer aus, die ihn ständig begleiten und in seine Fußstapfen treten sollen. Auf der anderen Seite formiert sich aber auch Gegnerschaft: politische und religiöse Führungskreise, deren Ordnung Jesus mit seinem Verhalten durcheinanderbringt. Jesus weiß, dass sie seinen Tod planen. Obwohl er seinen Schülern dreimal sein böses Geschick ankündigt, aber auch von seiner "Auferweckung am dritten Tag" spricht, suchen diese das Weite, noch bevor es zu seiner Kreuzigung in Jerusalem kommt. Lediglich einige Frauen aus seinem Kreis schauen dem traurigen Ende von Feme zu. Am 49. Tag herrscht Grabesstille. Als die Frauen in aller Frühe des 50. Tages zum Grab kommen, werden sie völlig aus der Fassung gebracht, vor allem durch einen Jüngling, der ihnen eine Botschaft an Jesu Schüler aufträgt. Entsetzt und voller Furcht flüchten sie vom Grab und sagen niemandem ein Wort. Allein die Erzählung trägt die Botschaft weiter. Und es bleibt dem Leser überlassen, ob er die "Mission" Jesu fortführt. Das wird aber damit zusammenhängen, ob er sich von der Geschichte überzeugen lässt. Der Verf., den wir mit der Tradition Markus nennen, hat dafür kunstvolle Mittel eingesetzt.
1.2 Gliederung und Komposition Folgt man in den Spuren von B. M. F. VAN IERSEL den topographischen Angaben der Erzählung (Markus 272-292), kristallisieren sich fünf Orte heraus, an denen die Handlung spielt. Als Signale rur die Kopfbühne des Lesers sind entsprechende Regieanweisungen geschickt, aber deutlich in den Text verwoben. Der erste Teil spielt in der Wüste (1,1-13). Viermal hören wir das Stichwort epTlI.l.oc;, das man mit "Wüste", aber einfach auch mit "menschenleere Gegend" übersetzen kann (1,3.4.12.13). Hier tritt Johannes der Täufer auf, um die Taufe zur Umkehr zu verkünden, hier lässt sich Jesus von ihm taufen und
B.V. Das Markusevangelium (Martin Ebner)
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wird sofort anschließend in der Wüste vom Satan in Versuchung gefilhrt. Der zweite Teil führt an das Meer von Galiläa (1,16-8,21). Hier beruft Jesus seine ersten Schüler (1,16-20), am Meer bzw. vom Meer aus spricht Jesus zu der Menge (2,13; 3,9; 4,1f.). Vom Meer (bzw. der Wüste aus) geht er nach Kafarnaum hinein (1,21; 2,1) bzw. versucht, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen (4,lf.35). Von drei Bootsfahrten mit unterschiedlich gutem Erfolg wird erzählt (-+ 1.3.2) - und von einer Landreise: über Tyrus "nach Sidon ans Meer von Galiläa mitten in die Gebiete der Dekapolis" (7,31; -+ Karte I, S. 593). Während Jesus bei seiner ersten Ankunft am gegenüberliegenden Ufer, in Gerasa, trotz der Heilung des Besessenen von den Bewohnern der Stadt des Landes verwiesen wird (5,1-20), findet er dort beim zweiten Mal bereits erwartungsvolle Aufnahme: Wie die Leute in Kafarnaum (1,32-34) oder Gennesaret (6,53-56) ihre Kranken zu Jesus bringen, so tragen auch in der Dekapolis die Menschen einen Taubstummen zu Jesus, damit er ihn heilt (7,31-38). Der dritte Teil der Erzählung spielt auf dem Weg, so die Regieanweisung gleich im ersten (8,27) und - nach mehreren Wiederholungen (9,33.34; 10,32) - im letzten Vers des Abschnittes 8,27-10,52. Der Weg beginnt am nördlichsten Ort Israels, in Cäsarea Philippi, und hat als Zielpunkt Jerusalem ganz im Süden. In 11, I ist Jerusalem erreicht, genauer: Betfage und Betanien am Ölberg. Wie Jesus im GaIiläateii ständig zwischen den beiden Meeresufern hin- und herpendeIt, so im Jerusalemteil (11,1-15,39) zwischen Betanien und dem Tempel. Nur tagsüber hält sich Jesus im Tempel auf, jeden Abend kehrt er nach Betanien zurück. In der einzigen Nacht, die Jesus in Jerusalem verbringt, wird er zum Tod verurteilt. Der letzte Ort unserer Erzählung ist das Grabmal (15,42-16,8). Josef von Arimatäa setzt Jesus in seinem eigenen Grabmal bei,· die Frauen beobachten das - und eilen am Tag nach dem Sabbat dorthin, finden aber nicht den Leichnam Jesu vor, sondern einen jungen Mann, der sie mit seiner Botschaft aus der Fassung bringt. Zwischen die einzelnen "Spielorte" sind Schamierstücke bzw. rahmende Erzählungen geschoben: 1,14f. bildet das Schamierstück zwischen Wüstenund Galiläateil. Es lässt den ersten Akteur der Evangeliumserzählung, den Täufer, abtreten ("nachdem der Täufer überliefert worden war") und schaut mit einer Kurzzusammenfassung auf die Aktivität Jesu in Galiläa voraus ("er verkündete das Evangelium Gottes"). Das Scharnierstück 15,40f. fUhrt die Frauen als neue Figuren für den letzten Erzählteil ein und reicht retrospektiv die Information nach, dass auch sie Jesus schon in Galiläa nachgefolgt und mit ihm den Weg nach Jerusalem heraufgegangen sind. Um den Mittelteil aufdem Weg sind zwei Blindenheilungen gelegt (8,22-26; 10,46-52). Es handelt sich um die einzigen Blindenheilungen des gesamten Evangeliums; mit einer Ausnahme (9,17-32) findet sich im Wegteil keine weitere Wundererzählung; alle anderen sind auf den GaIiläateii konzentriert. Diese Rahmung des Mittelteils ist also bewusst gestaltet. Insgesamt ergibt sich damit folgende Gliederung.
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B. Die vier Evangelien
in der WÜSTE (1,1-13) Scharnier: Täufer tritt ab, Jesus tritt auf(I,14f.)
an beiden Ufern des MEERES von Galiläa (1,16-8,21) Blindenheilung (8,22-26)
auf dem WEG (8,27-10,45) Blindenheilung (10,46-52)
zwischen BERG und TEMPEL von Jerusalem (11,1-15,39) Scharnier: Frauen, die Jesus auf seinem Weg begleitet haben (15,40f.)
im GRABMAL (15,42-16,8) Die hier im Blick auf den Galiläa- und Jerusalemteil weiterentwickelte Gliederung B. M. F. VAN IERSELS vertieft durch semantische und kompositorische Beobachtungen, was die Markusforschung vor ihm eher durch inhaltliche Gesichtpunkte begründet hat. Hauptzäsur ist 8,27. Je nachdem, ob entlang der anderen Zäsuren (1,14 bzw. 1,16 und 11,1) eigenständige Teile abgetrennt werden, entstehen Aufrisse mit zwei (R. PESCH), drei (U. SCHNELLE), vier (I. BROER) oder fUnf Abschnitten (J. MARCUS). Dabei ist die Zuordnung von 1,14f. immer umstritten. Die Grabesgeschichte wird meistens isoliert als Schlussteil abgetrennt (also ohne 15,42-47). Wohl unter dem Einfluss VAN IERSELS werden in neueren Kommentaren die beiden Blindenheilungen eigens ausgewiesen (R. T. FRANCE; 1. R. DONAHUEID. 1. HARRINGTON). Eigenständige Kriterien fUr ihre Feingliederung bringen z. B. P. MÜLLER (Frage nach der Identität Jesu) oder L. SCHENKE (Zeitstruktur) ein. Die großen Zäsuren bleiben aber gleich, was fUr ihre Plausibilität s~richt.
Insgesamt ist ein konzentrischer Aufbau erkennbar, der im Mittelteil auf dem Weg sein Zentrum hat. Galiläa- und Jerusalemteil entsprechen sich etwa von der Textmenge her. Es sind die beiden längsten Teile der Erzählung. Beide Teile haben in ihrem Zentrum eine Rede Jesu stehen, die von der Szenerie her die topographischen Grundelemente des jeweiligen Abschnitts aufgreift: Im Galiläateil ist es die Gleichnisrede (4,1-34). Jesus sitzt (in einem Boot) auf dem Meer, um - wie der Sämann in der Parabel (4,3-9) - seinen Wortsamen auf die Menge "auf der Erde" zu werfen (4,lf.). Im Jerusalemteil ist es die apokalyptische Rede (13,1-36). Jesus steht auf dem Ölberg und schaut auf den Tempel herunter, dessen Zerstörung er ankündigt. Inhaltlich stehen beide Teile im Kontrast zueinander. In Galiläa predigt und heilt Jesus, gewinnt regen Zu-
B.V. Das Markusevangelium (Martin Ebner)
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lauf - und kann auch die skeptische Bevölkerung am gegenüberliegenden Ufer für sich gewinnen. Im Jerusalemteil zerfallt der Anhängerkreis Jesu: seine Schüler fliehen alle (14,50). Im Gegensatz zum Galiläateil kann Jesus in Jerusalem seine Gegner, die Hohenpriester und Schriftgelehrten, nicht rur sich gewinnen. Sie betreiben seine Verurteilung. Allerdings wirft der Jerusalemteil seine Schatten in den Galiläateil voraus:. Zweimal kommen die Schriftgelehrten "aus Jerusalem", um Jesus zu beobachten und ihn zur Rede zu stellen (3,22; 7,1 f.). Auch die beiden Eckteile, Wüste und Grab, entsprechen sich: Es sind die beiden kürzesten Teile. Sie umfassen jeweils nur ein Dutzend Verse. Wüste wie Grab sind beides Orte des Todes. Aber in biblischer Überlieferung setzt Gott gerade in der Wüste seinen Neuanfang mit Israel, indem er einen Weg durch die Wüste (babylonisches Exil) bzw. durch die Chaosmacht Meer (Exodus) bahnt. Wenn der Leser am Ende des Textes ins Grab geführt wird, kann er nur hoffen, dass dort - parallel zum Anfang des Evangeliums - von einem Neuanfang erzählt wird. Und tatsächlich tritt auch dort, wie im Wüstenteil, ein Bote Gottes auf: hier der Jüngling, dort Johannes der Täufer. Sagt Johannes das Kommen Jesu an, so verkündigt der Jüngling, wie man Jesus "sehen" kann, obwohl er nicht mehr da ist. Dass die Frauen die Botschaft nicht ausrichten (16,8), hat von Anfang an die Abschreiber verwirrt. Deshalb haben sie sekundäre Anhänge hinzugefügt. Zwei Versionen lassen sich unterscheiden: der kurze und der lange Schluss. Letzterer hat sogar Eingang in die Verszählung der Evangelien gefunden: 16,9-20. Inhaltlich handelt es sich um eine Aneinanderreihung von Zusammenfassungen der Ostergeschichten vor allem des LkEv und des 10hEv (zu 16,9f. vgl. loh 20,\.11-18; zu 16,11-16 vgl. Lk 24,11-49) sowie einiger Episoden der Apg (zu 16,17f. vgl. Apg 16,16-18; 2,1-11; 28,3-6; vgl. die Tabelle bei 1. A. KELHOFFER 121f.). Der kurze Schluss lässt dagegen dezidiert den Auftrag des Engels ausführen und erzählt eine erneute Aussendung lesu. Die bei den Versionen werden in Handschriften ab dem 5. Ih. wahlweise angefügt bzw. miteinander kombiniert (K. ALAND). Die ältesten Kodizes aus dem 4. Ih. (N B) und auch die Minuskel 304 aus dem 12. Ih. (l) bezeugen dagegen den Abschluss des Textes mit 16,8. Auch die Ausleger der Neuzeit geben sich mit dem Markusschluss nicht zufrieden. Seit dem Anfang des 18. Ih. wird über einen verloren gegangenen bzw. absichtlich vernichteten Abschluss spekuliert oder nach möglichen Ersatztexten Ausschau gehalten (Informationen bei R. PESCH, HThK IIII, 44-46). Angesichts der klaren Textüberlieferung überzeugen diese Versuche nicht.
Der Mittelteil ist das Herzstück des Evangeliums: Er bereitet auf den herben Umschwung von Galiläa nach Jerusalem vor. Stehen sich im Galiläateil als Adressaten Jesu die Menge diesseits und jenseits des Meeres gegenüber, in Jerusalem die Gegnerschaft im Tempel und Jesu Anhängerschaft, mit der er täglich von Betanien aus kommt, so ist Jesus im Wegteil mit seinen Schülern allein. Er geht ihnen voraus - und belehrt sie darüber, was wirkliche Nachfolge bedeutet, was es heißt, den Weg von Galiläa nach Jerusalem hinter ihm herzugehen.
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B. Die vier Evangelien
1.3 Narrative Linien mit theologischer Zielsetzung
1.3.1 Die drei Leidensankündigungen des Mittelteils und das Lernen von "Nachfolge" Der Mittelteil wird durch drei Leidensankündigungen (8,31; 9,31; 10,33f.) gegliedert. Ihnen folgt jeweils ein Schülerunverständnis, auf das Jesus mit einer Schülerbelehrung reagiert. Beim ersten Durchgang ist es Petrus, der Jesus von seinem Leiden in Jerusalem abhalten will (8,32). Jesus ..herrscht Petrus an" - das wird sonst nur vom Umgang Jesu mit Dämonen erzählt (vgl. 1,25; 3,12; 4,39) -, ruft die Menge und seine Schüler zusammen, um ihnen zu sagen: "Wenn einer hinter mir her nachfolgen will, soll er sich selbst verleugnen und sein Kreuz auf sich nehmen - und soll mir nachfolgen" (8,34). Speziell für Petrus hätte das bedeutet, im Hof des Hohenpriesters nicht Jesus, sondern "sich selbst zu verleugnen", also sich zu Jesus zu bekennen. Dann hätte er die Lehre Jesu verstanden (B. M. F. VAN IERSEL, Markus 179). Mit der Textsequenz Leidensankündigung - Schülerunverständnis - Schülerbelehrung, in der Jesus ausdrücklich als Lehrer seiner Schüler auftritt; wird gezeigt: Die Lehre vom Leiden (und der Auferstehung) hat Konsequenzen für das Verhalten der Schüler. Glaubensgut (Leidensankündigung) wird mit Lebenspraxis (Schülerunverständnis bzw. -belehrung) verknüpft. Dabei kommt es zugleich zu einer Korrektur der üblichen Messiasvorstellung. Denn sowohl die erste Leidensankündigung als auch der gesamte Mittelteil stehen unter der Kopfpassage des "Messiasbekenntnisses" des Petrus, durch das der Mittelteil eröffnet wird (8,27-30). Der Titel "Messias" setzt auf dem Hintergrund jüdischer Traditionen die Erwartung eines königlichen Herrschers frei, der seine Feinde vertreibt und demonstrativ in seine Königsstadt einzieht. Diese Vorstellung wird über die Leidensankündigung korrigiert: Jesu Königsweg ist ein Leidensweg, der durch seine Kreuzigung in der Königsstadt besiegelt wird. Und: Dieser Leidensweg hat Konsequenzen für die Schüler Jesu, sofern sie . ihrem Lehrer "nachfolgen" wollen. Warum dreimal diese Prozedur? Das hat zum einen didaktische Gründe. Lernen geschieht durch Wiederholen. Aber es hat auch mit dem Transfer zu tun. Bei gleichbleibender Hermeneutik der Textsequenz (Transfer des Passionsweges für das Leben der Nachfolger) wird bei der zweiten und dritten Leidensankündigung die Übertragung der Glaubenslehre nicht für die erzählte Zeit (Petrus), sondern für die Jetztzeit der Leser formuliert. In 9,32-34 bzw. 10,35-41 besteht das Unverständnis der Schüler nicht darin, dass sie Jesus von seinem Leidensweg abhalten wollen, sondern dass sie untereinander darum streiten, wer der Größte unter ihnen ist (9,34), bzw. Jesus um die Ministerplätze links und rechts von seinem Thron in seinem kommenden Reich bitten (10,37). Damit zeigen sie, dass sie das "Wort" Jesu nicht verstanden haben (9,32). Die Belehrung Jesu, der in 9,35 in der typischen Pose des Lehrers als Sitzender präsentiert wird, lautet entsprechend: "Wenn einer Erster sein
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will, soll er von allen der Letzte und der Diener aller sein" (9,35; vgl. 10,4245). Die Lehre Jesu, die auf dem Weg in drei völlig gleich strukturierten Schülergesprächen vermittelt wird, übersetzt die Kreuzesnachfolge in sozialethische Kategorien. Die Glaubenslehre vom Leidensweg Jesu hat verstanden, wer auf Rangstreben und Prestigesucht verzichtet und stattdessen Statusverzicht praktiziert. Parallel dazu wird der traditionelle Messiastitel in den Horizont des Leidensweges Jesu gestellt: die Lebenshingabe Jesu wird als bewusster Verzicht auf Bedienung, das heißt als bewusste Übernahme der Position eines oU1Kovo<;/Dieners verstanden (10,45). Der Mittelteil des MkEv will für diese Übertragungsvorgänge die Augen öffnen. Das wird durch die beiden Blindenheilungsgeschichten, die diesen Teil rahmen, symbolisch angezeigt. Während die erste Blindenheilung nicht auf Anhieb gelingt, sondern der Nachbesserung bedarf (8,22-26; vgl. die Wiederholung der Schülerbelehrungen), hat die zweite Blindenheilung (10,46-52) sofortigen Erfolg - im doppelten Sinn: " ... und sofort konnte er wieder sehen und folgte Jesus auf seinem Weg", heißt es dort abschließend für den geheilten Bettler Bartimäus. Darin verbirgt sich das Hoffnungspotential der mk Jesusgeschichte im Blick auf seine Leser. Denn Jesu Schüler bleiben innerhalb der Erzählung blind bis zum Ende. 1.3.2 Die drei Bootsfahrten des Galiläateils und die Annäherung an die Heiden Wird der Mittelteil durch drei Leidensankündigungen strukturiert, so der GaliIäateil durch drei Bootsfahrten. Sie haben ein eindeutiges Ziel: das gegenüberliegende Ufer. Aber alle drei werden zu Irrfahrten mit Hindernissen. Zweimal gerät das Boot in einen Sturm (4,35-41; 6,45-52). Das erste Mal kommt es in der Gegend von Gerasa an (5,1), beim zweiten Mal wird der ausdrücklich angegebene Zielort Betsaida (6,45) überhaupt nicht erreicht. Das Boot landet in Gennesare! (6,53). Bei der dritten Fahrt (8,13-21) sind die Schüler völlig mit der Sorge besetzt, dass sie vergessen haben, genügend Proviant mitzunehmen. Die drei Bootsfahrten zum gegenüberliegenden Ufer gestalten sich aber auch rur jeden zu einer Irrfahrt, der versucht, sie auf einer Karte nachzuvollziehen. Denn Gerasa liegt 50 km vom See Gennesaret entfernt. Betsaida dagegen nur wenige Kilometer von Kafamaum und wäre deshalb viel besser zu Fuß zu erreichen gewesen. Wo der Ort "Gennesaret" liegen soll, ist bis heute rätselhaft geblieben. Die Karte, die in der Erzählung rur den Leser entwickelt wird, ist eine religiöse Landschaftskarte. Sie entschlüsselt sich, wenn die Orte und die Aktivitäten, die dort stattfinden, unter dem Gesichtspunkt der religiösen Zugehörigkeit unter die Lupe genommen werden. Während lesus am diesseitigen Ufer des Meeres sich im jüdischen Kernland aufhält, triffi er auf der gegenüberliegenden Seite auf Heiden (..... Karte I, S. 593). Gerasa gehört zur Dekapolis, einem Verbund von zehn heidnischen Städten. In der mythischen Denkwelt der Antike können die widrigen Winde als dämonische Chaosmächte der heidnischen Götter verstanden werden, die die Ankunft des lesusbootes in
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ihrem Gebiet verhindern wollen. Als Jesus nach der zweiten Bootsfahrt, die ihr Ziel total verfehlt, das "gegenüberliegende Ufer" sozusagen auf dem Umweg über das Land zu erreichen sucht, nämlich über die heidnischen (!) Küstenstädte Tyrus und Sidon, landet er tatsächlich wieder am "Meer von Galiläa" - aIlerdings "am anderen Ufer": mitten in der Dekapolis (7,24.31). Soviel ist klar: In der mk Bühnenkarte wohnen "auf dem gegenüberliegenden Ufer" Heiden, auf dem diesseitigen Ufer Juden. Die GegenkontroIle ist schneIl gemacht: Die Rückkehr vom gegenüberliegenden Ufer gestaltet sich immer problemlos. Und Jesus trifft dann auf Menschen, die dem Leser sofort signalisieren, in welchem Teil der religiösen Landkarte er sich befindet. Nach der Rückkehr aus Gerasa tritt ein Synagogenvorsteher an Jesus heran (5,22). Kaum in dem rätselhaften Gennesaret angekommen, machen Jesus die Kontrollblicke der Pharisäer und Schriftgelehrten zu schaffen (7, I).
Der Galiläateil mit seinen Reisen zwischen den beiden Ufern des "Meeres" erzählt also davon, wie Jesus sowohl Juden als auch Heiden mit seiner Botschaft und seinem Handeln zu erreichen versucht. Die Hindernisse, die sich der Begegnung mit den Heiden in den Weg stellen, sind nicht nur mythischer Natur, sondern haben auch mit menschlichen Vorbehalten zu tun; näherhin mit der typisch jüdischen Lebensweise, die zur heidnischen Gesellschaft durch ihre Speise- und Reinheitsvorschriften einen klaren Trennstrich zieht. Das spiegelt sich in der mk Erzählung: Als das Boot in die Gegend von Gerasa getrieben wird, gehen die Schüler nicht an Land, nur Jesus steigt aus (5,2.18). Seinerseits säubert Jesus bei der Dämonenaustreibung das Land von Schweinen, also dem Tier, das die Juden am meisten verabscheuen. Bevor es zu einer wirklichen Begegnung mit Heiden kommen kann, bedarf es der theologischen Auseinandersetzung und Klärung. Sie wird im Streitgespräch über Reinheitsfragen geleistet, das Jesus mit den Pharisäern und Schriftgelehrten in 7,1-15 fiihrt, so dass er anschließend im kleinen Kreis, vor seinen Schülern allein, definitorisch alle Speisen fiir rein erklären kann (7,19). Unreinheit kommt nicht von außen, sondern von innen. Sie wird nicht nahrungstechnisch, sondern ethisch qualifiziert (7,21-23). Während sich Jesus bei seiner ersten Begegnung mit einer wirklich heidnischen Frau in der Gegend von Tyrus erst noch argumentativ bezwingen lassen muss, bevor er ihre Tochter zu heilen bereit ist (7,24-30), hat er bei der zweiten Begegnung mit einem Heiden mitten in der Dekapolis keinerlei Berührungsängste mehr: Er legt seine Finger in die Ohren des Taubstummen und berührt seine Zunge mit Speichel (7,33), so dass er "richtig reden" kann (7,35). Als daraufhin die Heiden den Gott Israels mit biblischen Worten besingen (7,37: vgl. Gen 1,31; Jes 35,5f.) ist der Boden auch fiir die Tischgemeinschaft mit Heiden bereitet, von denen eiriige Jesus seit "drei Tagen" und "schon von weit her" (eben von Sidon und Tyrus) gefolgt sind (8,2f.). Die Speisungsgeschichte, die in 8,1-9 für das Heidenland erzählt wird, steht parallel zur Speisungsgeschichte im jüdischen Land, von der 6,35-44 erzählt. Der Galiläateil stellt also den Weg zu den Heiden vor Augen. Obwohl Jesu Standort, das "Meer", von vornherein der geeignete Ausgangspunkt dafiir ist, um Kontakte nach beiden Ufern aufzunehmen, muss er sich selbst über ver-
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schiedene Anläufe zu einem unbefangenen Umgang mit Heiden durchringen (vgl. R. FENEBERG 145-186).
1.3.3 Die sieben Tage in Jerusalem und die sieben Wochen der Tätigkeit Jesu Dieses Ereignis der Tischgemeinschaft mit den Heiden findet ganz genau in der Mitte der im MkEv erzählten Zeit statt: am vierten Tag der vierten Woche. Darauf kommt man, wenn man der These von L. SCHENKE (13-15) folgt, der hinsichtlich der Zeiteinteilung des MkEv eine Sabbatstruktur vorschlägt, die das öffentliche Auftreten Jesu (ab 1,14) in sieben Wochen gliedert. Denn der lerusalemteil zählt präzise sieben Tage durch. Der Tagesrhythmus wird zunächst parallel zum Ortswechsel von Betanien zum Tempel und zurück vermerkt (11,11f.19f.), sodann in Orientierung am bevorstehenden Paschafest angegeben (14,1.12). Der Tag der Grabesruhe ist ein Sabbat (15,42; 16,1). Rechnet man von hier aus zurück, dann findet der Einzug nach Jerusalem am ersten Tag dieser Woche ("Sonntag") statt - genauso wie die Ankündigung des Jünglings im Grab, dass lesus nach Galiläa vorausgehen werde. Auch der Galiläateil setzt den Leser auf die Fährte des Sabbatrhythmus. An einem Sabbat, also am Ende der ersten Aktionswoche, geht lesus in die Synagoge von Kafamaum (1,21). Wiederum an einem Sabbat, also am Ende der zweiten Aktionswoche, findet die Auseinandersetzung mit den Pharisäern wegen des Ährenraufens der Schüler statt (2,23-28) und in der gleichen Synagoge die Auseinandersetzung wegen der Heilung des Mannes mit der verdorrten Hand (3,1-6). Am dritten Sabbat kommt Jesus in die Synagoge seiner Heimatstadt (6,1-6). Eine weitere Nacht wird fiir die zweite Bootsfahrt erwähnt (6,48). Nach dem Streitgespräch über die Reinheitsfragen beginnt Jesus seine Landreise in die Dekapolis und feiert dort mit den Menschen, die "schon drei Tage lang" bei ihm geblieben sind, ihm also auf seinem Weg über Tyrus (erster Tag), Sidon (zweiter Tag) in die Dekapolis (dritter Tag) nachgefolgt sind, ein gemeinsames Mahl - in der Wochenstruktur gedacht also am Ende des vierten Tages der vierten Aktionswoche. Der nächste einschlägige Hinweis findet sich in 9,2: "Nach sechs Tagen" nimmt Jesus seine Schüler mit auf den Berg, auf dem er verklärt wird. Das deutet darauf hin, dass eine weitere Woche, also die filnfte Aktionswoche verstrichen ist und dieses Ereignis ebenfalls auf einen Sabbat fällt. Bis zum Einzug nach Jerusalem finden sich keine weiteren verwertbaren Zeitangaben. Wenn jedoch der Einzug auf den ersten Tag einer neuen Woche datiert wird, so ist ein weiterer Sabbat (fur die Ankunft in lericho: 10,46-52?) und damit eine weitere, sechste Aktionswoche für die Ereignisse zwischen Verklärung und Ankunft in lerusalem anzusetzen. Zwei Dinge sind bemerkenswert: (1) Durch die Sabbatstruktur des Erzähltextes werden wichtige Ereignisse durch ihre klare Datierung hervorgehoben. Ein besonderes Gewicht fällt dabei auf die Todeswoche in Jerusalem, wobei der Sterbetag Jesu noch einmal einen Höhepunkt bildet: die verrinnende Zeit wird im Dreistundentakt angegeben (15,1.25.33.34). (2) Der Erzähltext verweist auf nicht erzählte Zeit: Der Plan für die Aktionswochen Jesu ist in der Ewigkeit bei Gott verankert. Das wird am Beginn des Erzähltextes angedeutet (1,1-3). Außerdem verweist der Erzähltext auf die weltweite Verkündigung des Evangeliums, die zeitlich jenseits des Erzähltextes stattfindet (13,10; 14,9). Das
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heißt, die von Gott initiierte und von Jesus auf Erden in die Tat umgesetzte Geschichte läuft jenseits seines eigenen Todes und jenseits der im MkEverzählten Geschichte weiter. Voraussetzung dafiir ist, dass die Ankündigung des fiinfzigsten Tages im Grabmal: "Er wird euch nach Galiläa vorausgehen. Dort werdet ihr ihn sehen ... " (16,7) tatsächlich wahr geworden ist, sowohl auf Seiten Jesu als auch auf Seiten der Adressaten, die sich auf diese Ankündigung eingelassen haben.
1.3.4 Das Aktantengerüst und die Suche nach den wirklichen "Nachfolgern" Jesu Was die Rollenverteilung angeht, möchte man meinen, ist alles ganz einfach im MkEv: Jesus ist der Held. Seine menschlichen Helfer/Adjuvanten sind seine Schüler, seine Gegner/Opponenten die Schriftgelehrten und Pharisäer. In der göttlichen Ebene entsprechen dem die Engel bzw. Gott als Helfer und Satan bzw. die Dämonen als Gegner. Aber so einfach ist es nicht. Als Petrus Jesus von seinem Leidensweg abhalten will, gerät er selbst auf die dämonische Gegnerseite (8,33), während der Schriftgelehrte, der mit Jesus in Jerusalem diskutiert, ein Schüler der Gottesherrschaft zu werden scheint - und damit auf die Helferseite rückt (12,28-34). Wer welche Rolle einnimmt, hängt offensichtlich mit der Einstellung zum Sachprogramm zusammen, das Jesus verkörpert und in die Tat umzusetzen versucht: die Gottesherrschaft. Dass Jesus deren Proklamator und Akteur werden soll, entspricht dem Plan Gottes, wie er in 1,2f. entfaltet wird (vgl. H.-J. KLAUCK, Vorspiel): Ankündigung Wie geschrieben ist in Jesaia, dem Propheten: (himmlische Ebene) r-
[
Siehe, ich sende meinen Boten der bereiten wird
vor deinem Angesicht, deinen Weg (1,2).
r-
L-
.
L[
Einlösung
(irdische Ebene)
[ -
Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Pfade! (1,3)
.
.. JOhannes der Täufer in der WUste verkündet eine Taufe der Umkehr (1,4) Er verkündet einen "Stärkeren", der nach ihm kommt (1,7)
Jesus aus Nazaret kommt und wird von Johannes getauft (1,9)
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Der ,,Anfang des Evangeliums" (1,1), das dann von Jesus in Galiläa verkündigt wird (1,14f.), geschieht gemäß dem Plan Gottes, der (in der Vorstellung des Lesers) mit einem Prophetenzitat in 1,2f. belauscht wird. Demnach sagt Gott zu seinem Sohn Jesus: "Ich (Gott) sende meinen Boten vor deinem (Jesu) Angesicht ... " Auf der irdischen Ebene erscheint dann Johannes der Täufer in der Wüste, verkündet eine Taufe zur Umkehr (1,4f.) und sagt das Kommen eines Stärkeren an (1,7). Er ist damit der im Schriftzitat anonym bleibende Bote, der ganz entsprechend der Fortführung des Schriftzitates als "Stimme eines Rufenden in der Wüste" dazu aufruft, "dem Herrn" (also Jesus) den Weg zu bereiten. Plangemäß kann Jesus die Bühne betreten (1,9). Im Blick auf die Rollenanalyse wird Gott damit zum Sender Jesu. Wie Gott einen "Vorläufer" installiert, der die Aktion Jesu vorbereiten soll, so bestellt sich Jesus seinerseits "Nachfolger", die seine Mission weiterführen sollen. Das ist die erste Aktion, die im Galiläateil von Jesus erzählt wird: Er beruft zwei Brüderpaare (1,16-20), denen weitere Berufungen folgen (2,14f.). Aus einem größeren Kreis wählt er in 3,6-12 "die Zwölf" als Helfer aus, "damit sie bei ihm seien" - und installiert sie in 6,7-13 selbst zu Helden: Er stattet sie mit der gleichen "Vollmacht" aus, wie er sie selbst hat, und trägt ihnen auf, das zu tun, was er selbst tut: heilen und lehren. Damit entsteht eine Kette von Helden. Sie alle verbindet die Aktion für die Gottesherrschaft. Wie sie sich realisieli, wird am Tun und Reden Jesu ablesbar: wo (Krankheits)Dämonen weichen, wo den elementaren Bedürfnissen der Menschen Vorrang vor religiösen Vorschriften eingeräumt wird und wo schließlich auf dieser Basis Mahlgemeinschaft gefeiert werden kann, ausgerichtet an den Statusverzicht-Prinzipien, wie sie im Galiläateil bereits antizipiert - die von Jesus mit gleicher Vollmacht delegierten Schüler fungieren als "Diakone" für die hungrige Menge (6,41; 8,6) -, auf dem Weg aber als der eigentliche Transfer der Kreuzesnachfolge ausdrücklich thematisiert werden. Das Problem des MkEv aber ist: Die Schüler Jesu verstehen ihren Lehrer Jesus nicht, weder seine Worte (4,13), noch seine Taten (8,17-21). Ihr Herz ist, wie das der Gegner Jesu (3,5), verstockt (6,52; 8,17). Auch die Aufklärung auf dem Weg öffnet ihnen die Augen nicht wirklich. In Jerusalem fliehen alle (14,50). Zwar treten kurzfristig die Frauen, die nach 15,40f. die gleichen Voraussetzungen mitbringen wie die männlichen Schüler, ersatzweise an ihre Stelle. Aber auch sie fliehen vom Grab, ohne die entscheidende Botschaft, die Grundlage für die Fortführung der Gottesherrschaftsaktion ist, weitergesagt zu haben (16,8). Das ist also das Dilemma, das der Plot des MkEvaufbaut: Wer trägt die Botschaft weiter - und vor allem: Wer folgt der Verheißung, dass Jesus vorausgeht nach Galiläa und sich dort sehen lässt? Die beste Lösung des abrupten Schlusses eröffnet sich in rezeptionSästhetischer Sicht (B. M. F. VAN IERSEL, Markus; P. L. DANOVE): Der Leser ist angesprochen. Er kann Jesus "sehen", wenn er den Text des Evangeliums erneut liest, die sieben Wochen hinter Jesus hergeht - und sich von ihm über die wahre Nachfolge auf dem Weg die Augen öffnen lässt.
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Dabei hat der Leser gegenüber den Figuren in der Geschichte drei Vorteile: (I) Er weiß mehr als die Figuren der Erzählung. Der Wüstenteil, der als Prolog fungiert, weiht ihn in die Hintergründe der Sendung Jesu ein, in den Plan Gottes, der auf die Überwindung des Satans (l, 12f.) durch Jesus als "den Stärkeren" abzielt, was die prinzipielle Voraussetzung für das Kommen der Gottesherrschaft ist und szenisch durch das paradiesische Miteinander von Jesus und wilden Tieren (l,12f) vor Augen geführt wird (U. MELL). (2) Der Leser' kann seinerseits aus den Fehlorientierungen der Zwölf als "falschen Helden" lernen (H.-J. KLAUCK, Rolle). (3) Schließlich findet er bereits innerhalb der Erzählung positive Vorbilder. Das sind die "kleinen" Erzählfiguren, die jeweils partiell einen Aspekt des Gottesherrschaftsprogramms Jesu in die Tat umsetzen (1. F. WILLIAMS; M. EBNER, Schatten), z. B. der Gerasener, der nach seiner Heilung "mit Jesus sein will" (also als Helfer fungieren will) und trotz seiner Abweisung durch Jesus (5,19) und trotz der Ausweisung Jesu im heidnischen Land "überall in der Dekapolis" verkündet - und damit den Boden dafür bereitet, was Jesus bei seinem zweiten Besuch in der Dekapolis (7,3137) an Sympathie erleben darf (~ 1.3.2). Andere herausragende Beispiele sind die Syrophönizierin, die Jesu Parabel versteht, oder der Bettler Bartimäus, der Jesus auf seinem Weg folgt. Auffälligerweise sind diese "Ablösungsfiguren" vor allem Heiden. Sie verstehen und praktizieren die Lehre Jesu. Auf diese Problematik hin, wie aus Schülern Nachfolger werden, die in einer Linie mit Jesus die Strukturen der Gottesherrschaft selbst (lehren und) praktizieren, hat der Autor die ihm überkommenen Traditionen (~ 2.) angesichts der zeitgeschichtlichen Situation (~ 3.) zugespitzt. 2. Entstehung 2.1 Quellen und ihre Bearbeitung
Als Mk sein Evangelium schreibt, ist die Jesustradition noch im Fluss. Mündliche und schriftliche Überlieferung überlappen sich. Beides dürfte Mk in seiner Gemeindetradition vorgefunden haben: mündlich überlieferte Logien oder Einzelerzählungen, wie etwa die Legende vom Tod des Täufers, und schriftlich fixierte, bereits längere Traditionseinheiten, wie etwa die Passionsgeschichte (Mk 14f.) oder die sogenannte apokalyptische Rede (Mk 13). Im Mittelfeld liegen gattungsmäßig geordnete Sammlungen von Einzeigeschichten, die in der Forschung als "vormarkinische Sammlungen" bezeichnet werden (H.-W. KUHN). 2.1.1 Verbindung mit den Wurzeln der Jesusüberlieferung Über seine Quellen steht das MkEv in Kontakt mit dem ältesten Traditionsgut der JesusÜberlieferung. Für knapp 30 Logien lassen sich Parallelen in der Spruchquelle finden (-+ B.l1.2.6). Obwohl von Teilen der Forschung literari-
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sche Abhängigkeit behauptet wird (H. T. FLEDDERMANN), spricht doch das Fehlen entscheidender Textpassagen, etwa der Feindesliebe oder des Vaterunser, und die je eigenständige Weiterverarbeitung und unterschiedliche Kombination von Logien (vgl. Mk 4,21 f. mit Q 11,33 bzw. 12,2) für ein traditionsgeschichtliches Verhältnis (J. SCHOUNG): Sowohl die Tradenten der Spruchquelle als auch die mk Gemeinde partizipieren an einem Pool von Jesuslogien, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgehen. Über die Abendmahlserzählung 14,22-25, die auffällige Analogien zur entsprechenden "Paradosis" in I Kor 11,23-25 zeigt, ergeben sich Verbindungslinien zur vorpaulinischen Tradition. Denn Paulus zitiert bereits ihm überkommenes Traditionsgut. Sofern die joh Passionserzählung nicht auf schriftlicher Abhängigkeit von der mk beruht (~ B. VlI.2.13), steht hinter bei den Versionen ein alter Erzählkern (W. REINBOLD), der wegen seiner zuverlässigen Ortskenntnis ("Vertrautheitsindiz") auf eine Lokaltradition in Jerusalem zurückreichen dürfte (G. THEISSEN, Lokalkolorit 177-211). Zu den vor-mk Sammlungen gehören die galiläischen Streitgespräche (Mk 2f.), eine Gleichnissammlung (Mk 4), eine Wundergeschichtensammlung (Mk 4-6) sowie eine Sprüchesammlung (Mk 9,41-50). Die Sammlung der EinzeIüberlieferungen zeigt, dass sie nicht mehr (nur) als Argumente für die Auseinandersetzung mit typisch jüdischen Gepflogenheiten (Streitgespräche) bzw. als Werbungsgeschichten nach außen (Wundergeschichten) eingesetzt werden, sondern das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde bereits kompendienartig zusammenfassen und für den innergemeindlichen Gebrauch bestimmt sind. Die Sammlungen halten die rituellen Besonderheiten der christlichen Gemeinde fest (Streitgesprächsammlung) bzw. beleuchten die Glaubenshaltung im Spiegel verschiedener Personen (Wundergeschichtensammlung). 2.1.2 Paradigmatische Überarbeitung (Themen) Dass Mk bereits geformte Einheiten bearbeitet hat, erkennt man daran, dass er paradigmatisch seine Themen in diese Sammlungen einträgt und damit ihre ursprünglich formale Geschlossenheit zerstört. Zwei Beispiele: (I) Die Gleichnissammlung in Mk 4,1-34. Auf der Textoberfläche kommt es zu einem Paradox: Den Schülern, die nach dem Sinn der Parabel vom Sämann (4,3-9) fragen (4,10), wird von Jesus zugesprochen, dass ihnen "das Geheimnis der Gottesherrschaft gegeben" sei - ganz im Gegensatz zu den Außenstehenden, denen "alles in Parabeln" (in ungedeuteten Rätselsprüchen) zuteil würde (4, 11: sog. Parabeltheorie). Aber dann gibt Jesus - nicht ohne tadelnden Unterton (4,13) - seinen Schülern doch eine explizite Deutung der Sämannsparabel an die Hand (4,14-20) und erklärt ihnen offensichtlich auch alle anderen Parabeln (4,34). Diese Ungereimtheit lässt sich verständlich machen, wenn man davon ausgeht, dass die Stoffe ursprünglich entsprechend. dem Schema der apokalyptischen Gleichnisauslegung (H.-J. KLAUCK, Allegorie) angeordnet waren und
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Mk dieses Muster bewusst verändert hat. Das Schema: Gleichnisstoffe werden von einem göttlich autorisierten Interpreten (angelus interpres) für die Gegenwart neu gedeutet. Am Abschluss steht eine Privilegierungsaussage. Die Deutung wird als "Geheimnis" mit Offenbarungscharakter qualifiziert, und die Adressaten als von Gott Auserwählte (vgl. 4 Esr 12,36). Mk zieht diese Privilegierungsaussage (4,11) vor die Deutung der Parabel (4,14-20) und lässt damit auch die an sich privilegierten GUdischen) Schüler als belehrungsbedürftig erscheinen. Parallel zur Annäherung Jesu an die Heidenwelt, wie sie in den narrativen Strukturen beobachtet wurde (~ 1.3.2), gelingt es ihm hier auf der Inhaltsebene, die Grenzen zwischen Insidern und Outsidern zu flexibilisieren. Als Kriterium der Dazugehörigkeit gilt die Bereitschaft, sich - trotz evtl. göttlicher Privilegierung - von Jesus belehren zu lassen. (2) Die Wundergeschichtensammlung in Mk 4,35-5,43; 6,35-52. Sie ist doppelt gerahmt: außen durch zwei Seesturmgeschichten, innen durch die Verschachtelung von zwei Frauengeschichten. Die eine erzählt von einer Frau, die bereits zwölf Jahre an Blutfluss leidet (5,25-34), die andere von einem zwölfjährigen Mädchen, das zu sterben droht, bevor sozusagen der Blutfluss überhaupt eingesetzt hat (5,21-24.35-43). Die Geschichte von der blutflüssigen Frau ist in den Erzählfluss der Geschichte vom zwölfjährigen Mädchen eingeschoben und bildet so das Zentrum der Wundergeschichteneinheit.
I
Seesturm (4,35-41)
I
Geresaner (5,1-20)
I ~
Jairustöchterlein I (5,21-24)
I
Blutflüssige Frau (5,25-34)
Jairustöchterlein 11 (5,35-43)
I
Nazaret (6,I--6a) Aussendung der Schüler (6,6b-13)
I
Mahl des Herodes und Tod des Täufers (6,14-29) Rückkehr der Schüler (6,30-34)
I
I Mahl
der Fünftausend (6,35-44)
Seesturm (6,45-52)
I
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Im jetzigen mk Erzählkontext wird diese in sich konzentrisch gestaltete Sammlung durch eine Gegeneinheit unterbrochen, die ebenfalls konzentrische Strukturen aufweist, aber inhaltliche Kontrapunkte setzt. Den Auftakt macht eine Gegenwundergeschichte (in Nazaret kann Jesus keine Wunder wirken: 6,I--6a). Die Legende von der Enthauptung des Täufers, in deren Zentrum das Herodesgastmahl steht (6,14-29), wird ihrerseits durch die Aussendung der Schüler Jesu (6,6b-13) bzw. deren Rückkehr (6,30-34) gerahmt. Inhaltlich wird damit die Passionsthematik in den Galiläateil eingespielt und zwar verknüpft mit dem Nachfolgeparadigma: Die Installation und Aussendung der Nachfolger geschieht im Angesicht der Passionsgeschichte des Vorläufers. Das Herodesgastmahl wiederum bildet die Kontrastfolie fiir die jesuanische Speisungsgeschichte (C. FOCANT, La tete): Herodes feiert mit seinen Großen, unter Ausschluss der galiläischen Öffentlichkeit. Jesus nimmt sich wie ein guter König der Menschen an, die ohne "Hirten" sind (6,34). Er öffnet die ursprünglich für den kleinen Kreis geplante Mahlgemeinschaft (6,31) fiir alle, die sein Wort hören wollen. Seine "Großen" setzt er als Diener fiir die kleinen Leute ein (6,41). Damit wird im Vorfeld narrativ eingelöst, was au/dem Weg als Signum der Kreuzesnachfolge thematisiert wird. 2.1.3 Syntagmatische Zusammensetzung (Anordnung) Für die Zusammensetzung seiner diversen Traditionen zu einer fortlaufenden Geschichte, in der aus den vielen einzelnen Jesuserzählungen die eine Jesusgeschichte wird, hat sich Mk durchaus von seinen Stoffen anregen lassen. Ein Vorbild fiir einen fortlaufenden Erzählzusammenhang bildet die Passionsgeschichte. Die konzentrische Form, in die Mk seine Gesamterzählung gegossen hat, fand er z. T. in den Sammlungen vor. Er hat diese "Sandwichtechnik" auch im Kleinen nachgeahmt (vgl. Aussendung und Rückkehr der Schüler als Rahmen um die Täuferlegende). Indem er Einzelgeschichten sowie Sammlungen durch offene ("und danach") bzw. präzise ("nach sechs Tagen") Zeitangaben verknüpft, scham er die insgesamt symbolische Zeitstruktur von sieben Wochen (~ 1.3.3). Indem er Einzelerzählungen mit spezifischen Ortsangaben (Tyrus, Sidon) verbindet bzw. durch seine Sandwichtechnik alte EinzeIerzählungen in ein neues Gewand kleidet, kann er sie mit Themen in Verbindung bringen, die ihnen ursprünglich gerade nicht inhärent sind. Auch dafiir zwei Beispiele: (I) Indem Mk die Taubstummengeschichte 7,32-37 im Heidenland der Dekapolis spielen lässt (7,3 I), werden aus den diversen Berührungen, die - isoliert gelesen - eher an magische Handlungen erinnern, aussagekräftige Grenzüberschreitungen und aus dem Chorschluss, der aus Bibelzitaten besteht (7,38), ein heidnisches Gotteslob, das intuitiv in den biblischen Glauben einstimmt. (2) Die erste Wundergeschichte des Evangeliums (1,21-28) hat eine Sandwichstruktur: die Erzählung von einer Dämonenaustreibung wird gerahmt vom Thema der Lehre Jesu.
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Die Leute in der Synagoge staunen über die Lehre Jesu, der "mit Vollmacht" lehrt (1,22). Und nachdem Jesus den Dämon ausgetrieben hat (1,23-26), staunen sie nicht über dessen Austreibung, sondern über die "neue Lehre", die das bewirkt hat (1,27). Die Austreibung wird als sinnenfällige Auswirkung der Lehre Jesu erkannt - deren Inhalt aber erst auf dem Weg den Schülern expliziert wird: der Statusverzicht als Praxis der Kreuzesnachfolge. Durch Sandwichtechnik können also nicht nur Einzelgeschichten in einen neuen Horizont gestellt, sondern auch übergreifende Bögen gespannt werden.
2.2 Gattung In der Welt des 1. Jh. n. Chr. wird das MkEv von seinem Aufriss her als Vita (-+ B.III.) wahrgenommen (D. DORMEYER). Name und Abstammung des Portraitierten werden in der ersten Zeile genannt (1,1). Im Zentrum stehen die Worte und Taten des Portraitierten (1-10). Sein Tod und die Umstände, die dazu führen, werden ausführlich geschildert (11-15). Dass am Todestag der Stundentakt durchgezählt wird, steht in auffälliger Analogie zu den späteren Kaiserviten Suetons (vgl. Nero 47-49; H. CANCIK). Für die Bewertung des Sachverhaltes sind zwei Gesichtspunkte entscheidend: (1) Sobald das Gattungsmuster wahrgenommen wird, wird mit der Form zugleich auch eine bestimmte Intention vermittelt. Mit der vorliegenden Schrift wird ein erprobtes LebensmodelI propagiert. (2) In den Abweichungen vom konventionelIen Muster (formal wie inhaltlich), lässt sich die spezielIe Stoßrichtung der Schrift erkennen. Inhaltlich passt sich das im MkEv propagierte Lebensmodell der Mainstreamvorstellung der Kaiserzeit gerade nicht ein. Jesus wird als Aufrührer gegen die römische Ordnung hingerichtet, als jüdischer Gegenkönig (15,2), der - wie die Leser der Schrift erfahren - tatsächlich für ein zur römischen Imperialordnung konträres Herrschaftskonzept einsteht (vgl. 10,42-44; -+ 3.). Was die formale Gestaltung angeht fälIt auf: Mit dem Hinweis auf die Herkunftsfamilie und die Ausbildung des Helden geben Viten normalerweise Signale für sein späteres Wirken in der Öffentlichkeit. Mk hatte diesbezüglich sehr wohl Stoffe und Informationen vorliegen: In der Nazaretperikope 6,1-6 finden sich Angaben über die Mutter und die Geschwister Jesu sowie über sein Handwerk (tEKtwv/Bauhandwerker; vgl. W. BÖSEN 124-127). Aber Mk greift darauf an dem in einer Vita dafür vorgesehenen Ort, nämlich gleich zu Beginn, nicht zurück, sondern stellt Jesus mit 1,1 in eine göttliche Genealogie (-+ 3.1) und autorisiert Jesu Aktion - sozusagen stelIvertretend für seine ,,Ausbildung" - in 1,2f. durch die jüdische Tradition, in der sich wiederum der göttliche Auftragswille versprachlicht (-+ J.3.4). Anders gesagt: Mk nutzt die sinntragenden Formelemente der Vita zur Legitimierung des widerständigen LebensrnodelIs Jesu. Er bewegt sich damit im Rahmen der Plausibilisierungsmöglichkeiten, die ihm die literarischen Konventionen seiner Zeit bieten.
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Die neuerdings diskutierten Bezüge zur Historiographie (Mk als "prähistoriographischer Autor": E.-M. BECKER) sind fiir eine tatsächliche Rezeptionsrelevanz zu schwach und uneindeutig.
2.3 Verfasser Zur Unterscheidung von den drei weiteren im Kanon gesammelten Jesusgeschichten wird unser Erzähltext in den ältesten Handschriften mit "nach Markus" gekennzeichnet (N B; vgl. M. HENGEL, Evangelienüberschriften). Markus ist ein römischer Allerweltsname. Die altkirchliche Tradition hat versucht, diesem Namen ein Gesicht zu geben. Einschlägig ist die sogenannte Papiasnotiz. Der Kirchenhistoriker Eusebius (260-339 n. ehr.) zitiert aus den Werken des Bischofs Papias von Hierapolis (Mitte des 2. Jh.), der sich seinerseits auf den Presbyter Johannes bezieht: Auch das sagte der Presbyter: "Markus. der ein Dolmetscher des Petrus geworden war, schrieb alles, an das er sich erinnerte, genau nieder, freilich nicht der Reihe nach: das, was vom Herrn gesagt und getan worden war. Weder nämlich hörte er den Herrn mit eigenen Ohren. noch war er ihm nachgefolgt; später aber, wie gesagt, dem Petrus. Dieser gestaltete seine Lehrreden im Blick auf die Bedürfnisse (sc. der Hörer), wobei es ihm aber nicht darum ging, so etwas wie eine zusammenhängende Darstellung der Herrenworte zu geben. Deshalb war es keine Verfehlung des Markus, dass er einiges so schrieb, wie er sich erinnerte. Seine einzige Sorge war, nichts von dem auszulassen, das er gehört hatte, oder etwas davon falsch darzustellen." So berichtete Papias über Markus (Eus., Hist Eccl 111 39,15). Übersehen wird dabei oft, dass Eusebius (ebd. 39,17) auch erwähnt, dass sich Papias auf I Petr beruft, wo es in 5,13 heißt: "Es grüßt euch die mit euch auserwählte Kirche von BabyIon und Markus, mein Sohn". Die Verbindung von Markus zu PetlUs kann Papias also aus dieser Notiz herausgesponnen haben. Papias kommt es einerseits darauf an, den Verf. des Evangeliums mit einer apostolischen Autorität in Verbindung zu bringen, andererseits ihn aber gerade wegen der ganz anderen Anordnung seiner Stoffe etwa gegenüber dem MtEv oder LkEv in Schutz zu nehmen. Querverbindungen zu anderen Stellen des NT, in denen der Name "Markus" genannt wird, werden von Papias nicht vorgenommen. Genau darauf aber hebt die Kanontheorie von D. TROBISCH ab, der die Namensgebung der ursprünglich anonym überlieferten Schriften mit der Gesamtedition des Kanons in Verbindung setzt. Er sieht darin den Versuch, die unterschiedlichen theologischen Ansätze der im Kanon zusammengestellten christlichen Schriften über die persönliche Einmütigkeit der (fiktiven) Verf., wie sie der Leser aus den Personalnotizen der ntl Schriften, insbesondere der Apg, erschließen kann, abzugleichen (- A.I.3.5.3). Demnach wäre der Jerusalemer Judenchrist (Johannes) Markus als kanoninterne Verweisfigur für den Verf. des MkEv ein ausgesprochenes Verbindungsglied zwischen Paulus und Petrus.
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Die nt! Personallegende liest sich folgendermaßen: Johannes Markus ist ein hellenistischer Judenchrist., dessen Mutter der Urgemeinde ihr Haus zur Verfiigung stellt (Apg 12,12). Barnabas und Paulus nehmen ihn nach Antiochia mit (Apg 12,25). Er begleitet die beiden auf deren erster Missionsreise (Apg 13,5), trennt sich jedoch von ihnen (Apg 13,13). Nach dem Apostelkonvent kommt es wegen Markus zu einer Auseinandersetzung zwischen Barnabas und Paulus, der sich daraufhin einen eigenen Begleiter wählt und sich vom Duo Barnabasl Markus trennt (Apg 15,36-40). Aber es bleibt nicht bei diesem Bruch. Die Grußliste des Philemonbriefes (Phlm 23t:) sowie Notizen aus den deuteropaulinischen Briefen zeigen eine späte Versöhnung zwischen Paulus und Markus an (Kol 4,10; 2 Tim 4, 11). Wegen des apologetischen Charakters der Papiasnotiz einerseits sowie der vermutlich bewussten Auswahl der Autorennamen für anonym überlieferte Schriften andererseits ist es historisch höchst unwahrscheinlich, einen Vertrauten des Petrus namens Markus bzw. den aus nti Schriften bekannten Jerusalemer Judenchristen Johannes Markus als Verf. des MkEv anzunehmen. Letzterem müsste man doch wenigstens zutrauen, dass er weiß, dass man von Betanien über Betfage nach Jerusalem kommt und nicht umgekehrt (so aber 11, I; katastrophale Landeskunde offenbart sich auch in 5, I; 7,3 I; dazu I. BROER 78f.). Was eine nähere Charakterisierung des Verf. angeht, bleiben wir auf das Autorenkonzept verwiesen (D. N. PETERSEN 158f.), wie es nur aus der Schrift selbst herausgearbeitet werden kann (~ 1.) und im Blick auf Zeit, Ort und EntstehungsmiIieu im Folgenden historisch konkretisiert werden solI (~2.4-7). Das Ergebnis plakativ auf den Punkt gebracht: Der Verf. ist ein Heidenchrist, der die literarischen Überlieferungen des Judentums zwar kennt und schätzt, aber zum jüdischen Kernmilieu auf Distanz steht.
2.4 Zeit Für die zeitliche Bestimmung ist die apokalyptische Rede in Mk 13 entscheidend. Sie thematisiert die Tempelzerstörung von Jerusalem und die damit verbundenen Wirren. Umstritten ist in der Forschung, ob sie auf dieses Ereignis zurückschaut (J. GNILKA, EKK 1111, 34), also eine Prophetie post factum ausspricht (vaticinium ex eventu), oder ob sich in ihr die Wirren des Krieges unmittelbar spiegeln und sie mit einer Zerstörung des Tempels rechnet (L. SCHENKE 35-40). Entsprechend wäre die Abfassung des MkEv vor bzw. nach 70 n. Chr. anzusetzen. Ein entscheidendes Argument rur die Entstehungszeit nach der Tempelzerstörung ergibt sich rur G. THEISSEN (Testament 64) aus dem Vergleich von 13,It: und 14,58, also den beiden Stellen, in denen die Zerstörung des Tempels angekündigt wird, aber je unterschiedlich. In 13,It: ist davon die Rede, dass die großen Gebäude (Plural!) zerstört werden, wobei kein Stein auf dem anderen bleibt. Genau so ist es 70 n. Chr. geschehen: Nicht nur der Tempel selbst., sondern das gesamte Gebäudeensemble rings um den Tempel wurde in Brand gesetzt und dem Erdboden gleich gemacht (vgl. Jos., Bell VI 26\.265t:28lf.). In 14,58 dagegen, im Kontext des Prozesses Jesu als Falschaussage gekennzeichnet, ist von
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der Zerstörung des Tempels und der Errichtung eines neuen Tempels die Rede. Letzteres ist nie eingetroffen, Ersteres ist unspezifisch formuliert. Aber gen au darin dUrfte der Kern der Unheilsprophetie gegen den Tempel bewahrt worden sein, die historisch der Grund filr die Anklage und Verurteilung Jesu gewesen ist. Auch wenn in der apokalyptischen Rede Mk 13 ältere Materialien verarbeitet sind (E. BRANDENBURGER) schaut die mk Einführung der Rede sehr konkret auf die Fakten der Zerstörung des Tempelareals zurück. Wir kommen in die Zeit kurz nach 70 n. ChI'. Der Versuch einer extremen FrUhdatierung des MkEv etwa auf das Jahr 50 stützt sich auf ein in Qumran gefundenes Papyrusfragment (7Q5), in dessen wenigen, zum Teil sogar schwer erkennbaren Buchstaben (ca. zehn sicher, zehn rekonstruiert) manche Forscher ein Zitat aus Mk 6,52f. erkennen woUen, wobei sie zusätzlich Textauslassungen und einen Schreibfehler akzeptieren mUssen (1. O'CALLAGHAN; C. P. THIEDE). Elektronische Versuche haben gezeigt, dass die sicher erkennbaren Buchstaben auch auf mehrere Texte der Septuaginta sowie der paganen Antike (Homer, Thukydides) passen würden (F. ROHRHIRSCH, Markus; S. ENSTE). 2.5 Ort
Was die geographische Verortung angeht, sprechen nach wie vor die meisten Argumente - übrigens in Übereinstimmung mit I Petr 5,13 und der altkirchlichen Tradition - für Rom als Abfassungsort und zugleich Olt derjenigen Gemeinden, an die sich das MkEv zuallererst richtet (M. HENGEL, Entstehungszeit). Unterstützend wird dafiir gewöhnlich auf die vielen Latinismen verwiesen, die vor allem aus dem militärischen (AEYLWV = legio/Legion [5,9. I 5]; 01TEKOUAIX"tWP = speculator/Scharfrichter [6,27]; 1TpCX L"tWP LOV = praetorium/ Feldherrnzelt [15,16]; KEV"touplwv = centuriolHundertschaftenfiihrer [15,39.44.45]) und pekuniären Bereich (Kf]voOC; = census/Zensus [12,14]; ÖTJVapLOV = denariuslDenar [6,37]) stammen, aber auch sprachliche Idiome betreffen (oöov 1TOLELV = iter jacere/reisen [2,23]; EoXa"twc; EXH = in extremis esse/in äußerster Notlage sein [5,43]; OUjlßOUALOV ÖLöOVCXL/1TOLELV = consilium dare/capere/einen Beschluss fassen [3,6; 15, I]; vgI. R. H. GUNDRY, Mark 1044). Dieser Befund könnte allerdings lediglich auf die Nähe zu einem römischen Standort (Militärlager o. ä.) zurückschließen lassen, gäbe es nicht einen Fall, der tatsächlich aussagekräftig ist: In Mk 12,42 wird erklärt, dass zwei Lepta einem Quadrans (KoöpaV"tTJC;) entsprechen. Ein Quadrans ist die kleinste römische Münze, die fast ausschließlich in der westlichen Reichshälfte im Umlauf war - mit einer auffälligen Zentrierung auf Rom, den Prägeort, und Pompeij, wobei die Häufigkeit gegen Ende des I. Jh. abnimmt (C. E. KING). Lepta dagegen sind kleine Münzen, wie sie unter Herodes oder den späteren Prokuratoren geprägt worden sind (NBL 11 852). Der Erzähler erklärt also eine Spezialmünze aus den östlichen Provinzen mit einer Münzform, wie sie eigentlich nur in der westlichen Reichshälfte bekannt ist.
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Noch konkretere Indizien ergeben sich über die Durchleuchtung der beiden "Himmelsspaltungen" in 1,10 und 15,38, also bei der Taufe und beim Tod lesu. Beide Stellen sind terminologisch und erzähltechnisch eng aufeinander bezogen: Nur hier im gesamten Erzähltext findet sich das Verb OXL(ELV ("spalten"), einmal auf die Himmel, das andere Mal auf den Vorhang des Tempels bezogen. An beiden Stellen wird nach der "Spaltung" die Identifizierung lesu als "Gottessohn" ausgesprochen, bei der Taufe durch die Stimme aus dem Himmel, beim Tod durch die Stimme des Hauptmanns. Bei der Taufe geht der Geist in Jesus ein, beim Tod haucht ihn Jesus aus (E~E1TVEuoEv/aushauchen - von llvEüfUX/Geist). Die Analogie der beiden Stellen wird noch frappierender, wenn man die Information hinzunimmt, dass auf dem (äußeren) Vorhang des Tempels der Kosmos abgebildet war, symbolisch dargestellt in unterschiedlichen Materialien und Farben (los., Bell V 214; vgl. D. ULANSEY). Über diese Information kann entweder ein lude verfilgen, der vor 70 im Jerusalerner Tempel gebetet hat (das scheidet fur unseren Verf. aus), oder jemand, der als Zuschauer in Rom den Triumphzug der Flavier nach der Zerstörung lerusalems beigewohnt hat. Denn außer dem siebenarmigen Leuchter und dem Schaubrottisch wurde auch der Vorhang des Tempels unter den Beutestücken gezeigt. Nach dem Triumphzug wurde er im Palast des Vespasian deponiert (los., Bell VII 162). Das bedeutet: Versetzen wir Verf. wie ursprüngliche Adressatengemeinde in das Rom der siebziger Jahre, dann erklären sich nicht nur erzähltechnisch bewusst gestaltete Linien äußerst stringent, sondern zeigt sich zugleich, wie geschickt ein urchristlicher Erzähler überkommene lesustradition mit der zeitgeschichtlichen Erlebniswelt seiner Adressaten zu verknüpfen weiß (-+ 3.). Alternativ zu Rom als Abfassungsort werden in der Literatur nahezu alle Möglichkeiten durchgespielt, vor allem wird Galiläa (W. MARXSEN 148), die Dekapolis (S. SCHULZ 9), besonders prononciert jedoch Syrien (G. THEISSEN, Testament 64f.; L. SCHENKE 41 f.; I. BROER 87) genannt. Als Argumente fur Syrien werden einerseits eine gewisse Entfernung zum Land Israel (Landeskunde!), andererseits die Nähe zu den alten lesusüberlieferungen in Anschlag gebracht. Aber die können auch mit dem Schiff - und den entsprechenden Traditionsträgern - nach Rom gekommen sein.
2.6 Adressaten
Bleiben wir bei Rom als Abfassungs- und Entstehungsort für das MkEv, so ergeben sich weitere Möglichkeiten, das gesellschaftliche und religiöse Milieu der Gemeinde zu charakterisieren. Das MkEv ist auf Griechisch geschrieben. Eigenheiten der mk Sprache weisen nicht auf semitischen Spracheinfluss hin, sondern entsprechen dem Sprachstil der Volksliteratur, etwa des Alexanderromans (M. REISER). [n Rom ist Griechisch die Sprache, die auf den Straßen und Märkten gesprochen wird, von den Händlern und den einfachen Leuten, besonders denjenigen, die aus dem Osten eingewandert sind. In diesem gesellschaftlichen Milieu wird unsere Gemeinde zu verorten sein. Lateinisch spricht in Rom die einheimische Bevölkerung. Zweisprachigkeit wird lediglich in der Oberschicht gepflegt (Quint., Inst Orat I 1,12f.). Dass im MkEv aramäische (5,41; 7,34; 14,36; 15,22.34) bzw. hebräische (7,11) Wörter ins Griechische übersetzt werden, muss nicht bedeuten, dass der Verf. selbst des Aramäischen mächtig war. Anders als die in die Formulierung verwobenen Latinismen können diese Übersetzungen bereits Bestandteile der Traditionen gewesen sein,
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die Mk vorlagen (1. BROER 80-82). Sie besagen eigentlich nur, dass die griechisch sprechende Gemeinde, aus der Mk kommt, einerseits auf diese Übersetzungen angewiesen war, andererseits mit der Tradierung der aramäischen Wortbrocken den Nimbus alter Tradition bewahren wollte. Auch das Verhältnis zum Judentum bzw. zu den Judenchristen (in Rom) lässt sich konkretisieren. Jüdische Bräuche müssen erklärt werden (vgl. 14,12; 15,42). Aufschlussreich ist 7,3f. Was hier über jüdische Reinheitsvorschriften zu lesen steht, offenbart fUr Verf. wie Adressaten den Blickwinkel von Außenstehenden: Mit leicht ironischem Unterton ist vom Eintauchen von Bechern, Krügen, Kupfergeräten und vielleicht sogar Liegen die Rede - und derartige Absonderlichkeiten werden auch noch undifferenziert rür "alle Juden" behauptet. Die Frage, ob es am Sabbat erlaubt sei, Gutes oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu vernichten (3,4), ist ohne Kenntnis und vor allem ohne Respekt gegenüber der Entwicklung der jüdischen Sabbathalacha gesprochen. Nie ging es darum, Leben zu vernichten. Immer wurde darum gerungen, inwiefern mögliche Lebensrettung und Lebenserhaltung die strengen Sabbatvorschriften außer Kraft setzen kann (vgl. I Makk 2,41; L. DOERING). Der Verf. unserer Schrift kann deshalb kaum im jüdischen Milieu aufgewachsen sein. Das gleiche gilt für die Adressaten. Allerdings hat er Zugang zu den Bildungstraditionen des Judentums, also zur griechischen Übersetzung der jüdischen Bibel. Diese Ambivalenz von Abstand zum jüdischen Kernmilieu bei gleichzeitiger Nähe zum literarischen Erbe des Judentums lässt sich gerade für den römischen Standort relativ leicht erklären. Unter Kaiser Claudius wurden 49 n. Chr. "diejenigen Juden, die - von Chrestos aufgehetzt - fortwährend Unruhe stifteten" (Suet., Claud 25,4) aus Rom vertrieben. Damit sind vermutlich nicht einfach alle Juden gemeint, sondern speziell diejenigen Judenchristen gemeint, die in Rom die "gesetzesfreie" Mission praktizierten, also bei der Aufnahme von Römern in die Gemeinde auf die Beschneidung (und die Praktizierung der Speisegebote) verzichteten. Dadurch entstehen, wie überall in den Metropolen der Alten Welt, wo christliche Missionare diese Schranken nicht respektieren, "Unruhen" innerhalb des jüdischen Milieus. Mit seiner Ausweisungsmaßnahme versucht Kaiser Claudius, diesen Unruheherd zu beseitigen. Bekannte Beispiele für die Exilanten sind Priska und Aquila (vgl. Apg 18,2), jenes Ehepaar, das Paulus bei seiner heidenchristlichen Mission kräftig unterstützt (~ D.IIl.2.5). Wir dürfen also davon ausgehen, dass in Rom bereits vor dem Jahr 49 n. Chr. heidenchristliche Mission betrieben wurde, d. h., dass es zumindest einige "gemischte" Hausgemeinden gegeben hat. Nach der Ausweisung der judenchristIichen Missionare entwickeln sich diese Teile selbständig weiter. Als beim Regierungsantritt Neros 54 n. Chr. die Juden bzw. Judenchristen wieder nach Rom zurückkehren dürfen, fUhrt das zu entsprechenden Konflikten, wie man etwa auch aus Röm 14 erkennen kann (~ D.IIl.3. 1[2]).
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2.7 Situativer Entstehungshorizont
Das MkEv bezeugt ein späteres Stadium dieses Ablösungs- und Verselbständigungsprozesses. Die Herkunft aus dem Judentum wird zwar dokumentiert, die ursprüngliche Führungsrolle der Zwölf festgeschrieben und der zeitliche Vorrang der jüdischen Adressaten für die Botschaft festgehalten. Aber die Sympathie des Erzählers gehört eindeutig den Heiden. In Jesus selbst bekommt sie narrative Gestalt (~ 1.3.2). Die Widerstände von jüdischer Seite werden nicht verschwiegen (vgl. Schülerverhalten). Die rituellen Streitigkeiten werden zwar noch tradiert, aber sie sind, wie die Form der Sammlungen zeigt, längst entschieden - und vor allem überholt (7,19). Das MkEv geht von zwei Tischgemeinschaften aus, einer judenchristIichen und einer heidenchristlichen (vgl. die bei den Speisungsgeschichten). Auf beiden Seiten (des "Meeres") isst man zu unterschiedlichen Konditionen, aber in beiden Tischgemeinschaften ist Jesus gleicherweise der Gastgeber. Natürlich können auch Judenchristen am heidenchristlichen Mahl teilnehmen (vgl. 8,1-9), aber nur zu den Bedingungen, die Jesus im Anschluss an das Reinheitsstreitgespräch intern dekretiert hat: Alle Speisen sind rein (7,19). Die eigentlichen Probleme des MkEv liegen in der Gegenwart bzw. in der unmittelbaren Vergangenheitsbewältigung. (1) Da ist einmal der Rückblick auf die Christenverfolgung unter Nero 64 n. Chr. In 13,12 ist davon die Rede, dass "Bruder den Bruder in den Tod ausliefern wird, und der Vater sein Kind, dass Kinder gegen ihre Eltern aufstehen und sie zur Hinrichtung führen werden". Darin spiegelt sich ein typisches Vorgehen der Magistrate während der Christenverfolgung, wie es uns Tacitus überliefert: Man hat versucht, festgenommene Christen als Denunzianten zu missbrauchen (vgl. Tac., Ann XV 44; B. M. F. VAN IERSEL, Followers). Manche sind schwach geworden und haben tatsächlich ihre Brüder verraten. Prototyp innerhalb der Erzählung dafür ist Judas. Andere sind im Prozess schwach geworden und haben ihren Glauben verleugnet. Prototyp dafiir ist Petrus. Wenn in der Oster botschaft des Jünglings im Grab im MkEv - und nur hier - Petrus ausdrücklich genannt wird und auch ihm versprochen wird, dass Jesus ihm, wie den anderen Schülern, nach GaliIäa vorangeht (16,7), dann könnte das ein Plädoyer des Erzählers dafiir sein, denjenigen, die während der Christenverfolgung ihren Glauben verleugnet haben, eine neue Chance zu geben (M. EBNER, Chance). (2) Der zweite Problemkreis des Evangeliums betrifft den Neuanfang auch der Gemeinde unter den Bedingungen des neuen Kaiserhauses, das sich nach den bürgerkriegsartigen Wirren 69 n. Chr. durchgesetzt hat. Davon handeln die Rahmenteile und die Mitte des Evangeliums. Es geht um die Anerkennung der "Vollmacht" Jesu, also die göttliche Autorisierung (Wüste) seiner Lehre vom Statusverzicht (Weg), die als "Evangelium" nach seinem Tod in alle Welt getragen werden soll (Grab).
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3. Diskurs 3.1 Das Evangelium vom Herrschaftsantritt
Mk führt den Begriff "Evangelium" mit einer ganz eigenen Note an die erzählende Jesustradition heran. In der paulinischen Tradition stand er als Kurzformel für Tod und Auferweckung Jesu. Im MkEv wird er programmatisch mit dem Beginn der Gottesherrschaft und dem Auftreten Jesu verbunden. Es geht also um den Herrschaftswechsel, der im Himmel von Gott beschlossen ("Anfang des Evangeliums von Jesus Christus ... wie geschrieben steht ... ": 1,lf.) und auf Erden durch die Person Jesu proklamiert und in Taten umgesetzt wird (" ... verkündete das Evangelium Gottes und sagte: Erfüllt ist die Zeit und angekommen die Herrschaft Gottes ... ": 1,14f.). Diese spezifische Verbindung von Evangelium und Herrschaftsantritt erinnert in der römischen Welt um 70 n. Chr. an ein konkretes politisches Ereignis: an den Herrschaftsantritt von Kaiser Vespasian. Als nach dem Tod Kaiser Neros (68 n. Chr.) das Reich in bürgerkriegsartige Wirren fällt, weil ständig neue Kandidaten ihre Legionen mobilisieren, um den Anspruch auf den Kaiserthron zu erheben (Dreikaiserjahr 69 n. Chr.), treffen "Evangelien" aus dem Osten ein: Der General Vespasian, der mit seinen Truppen in Palästina steht, ist von den Legionen in Ägypten, dann auch von denen in Syrien zum Kaiser ausgerufen worden. Nachdem seine Gegner in Rom vernichtet sind und der Senat seine Wahl anerkannt hat, werden diese "Evangelien" gleichsam wie ein Echo aus dem Westen in den Osten getragen (Jos., Bell IV 618.656). Diesen "Evangelien" vom Herrschaftsantritt Vespasians als römischen Kaiser wird im MkEv das Evangelium vom Beginn der Gottesherrschaft, wie es von Jesus proklamiert wird, entgegengestellt. Das MkEv spielt mit ParaIlelisierungen und Kontrastierungen: Sprungchance zur Macht war rur Vespasian die Niederschlagung des jüdischen Aufstands (ab 66 n. Chr.) und die anschließende Zerstörung Jerusalems, die von seinem Sohn Titus zu Ende gebracht wurde. Nach ersten Säuberungsaktionen in Galiläa ist Vespasian - nach einer Winterpause - von Cäsarea Philippi aus Schritt rur Schritt in den Süden vorgerückt mit dem Ziel: Jerusalem (Jos., Bell III 443-446). Im MkEv ist es Jesus, der nach seinen ersten Auftritten in Galiläa von Cäsarea Philippi aus nach Jerusalem zieht, aber nicht um zu unterwerfen und zu zerstören, sondern um zu heilen, zu lehren und am Ende selbst gekreuzigt zu werden. Völlig zu Recht wird Jesus von den römischen Soldaten als Spottkönig verkleidet und in einer Huldigungsszene der Lächerlichkeit preisgegeben: "Sei gegrüßt, König der Juden!" (15,16-20). Ganz anders die Sicht des römischen Hauptmanns, der im Angesicht des Todes Jesu sagt: "Wirklich, dieser Mensch war (Tjv) ein Sohn eines Gottes (ulb~ geoü)" (15,39). Für christliche Ohren ist das zwar ein defizitäres Bekenntnis: der bestimmte Artikel fehIt ("der Sohn des [einzigen) Gottes"; so 3,7; vgl. 1,11; 9,7), die Vergangenheitsform ("war") irritiert. Für römische Ohren jedoch ist diese Titulatur provozierend. Denn "Sohn eines Gottes" ist der Titel rur den römischen Kaiser zu seinen Lebzeiten, sofern sein Vater vergöttlicht worden ist (divus) und er sich selbst dann entsprechend diviji/ius nennen darf, was in griechischen Inschriften gewöhnlich mit ulb~ geoü ("Sohn eines Gottes": ohne Artikel) übersetzt wird.
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Präzise mit diesem Kaisertitel, der rur den "Ersten" im römischen Reich strickt reserviert ist, stellt der Verf. des MkEv seinen Helden am Anfang seiner Schrift vor (1,1). Innerhalb der Erzählung beansprucht der römische Hauptmann den gleichen Titel nachträglich rur den gekreuzigten Jesus, also rur einen Menschen, der den Tod gestorben ist, der allein rur Aufständische und Sklaven vorgesehen ist und die Betroffenen der Menschenwürde beraubt. Der Hauptmann am Kreuz hat mit seinem "Bekenntnis" die gesellschaftliche Umwertung vollwgen, die den Kernpunkt der Lehre Jesu auf dem Weg ausmacht. Er bringt sie im Kaisertitel zum Ausdruck, den auch Vespasian rur sich beansprucht hat, was bei ihm allerdings mit Anfangsschwierigkeiten verbunden war.
3.2 Keine Propagandisten, sondern Praktizierende der Gottesherrschajt
Anders als Kaiser Augustus und seine Nachfolger aus dem julischen und claudischen Kaiserhaus stammt Vespasian nicht aus dem Hochadel und hat vor allem keinen Vater, der bereits vergöttlicht worden ist. Um ihn für sein Amt zu legitimieren und ihn zu Recht den Gottessohntitel tragen zu lassen, mussten sich Vespasians Propagandisten einiges einfallen lassen: Auf göttliche Zeichen und Orakel wird verwiesen, die bekunden sollen, dass die Götter hinter dem Aufstieg Vespasians stehen. Wundergeschichten werden in Umlauf gesetzt: in Alexandrien habe Vespasian einen Blinden und einen Lahmen durch Berührung geheilt (Tac., Hist IV 81,1-3; Suet., Vesp 7,2f.). Historiker vermuten, dass die ägyptische Priesterschaft anlässlich einer Audienz des Vespasian im Hippodrom von Alexandria diese Wunder inszeniert hat. Es sollte demonstriert werden, dass in ihm göttliche Kräfte wirken. Man raunte sich sogar zu, dass Vespasian in diesem Zusammenhang vom Volk "als Gottessohn" (Ammons Sohn) bejubelt worden sei (PFouad 8; vgl. G. ZIETHEN). Auf diesem Hintergrund bekommt ein auffälliger Erzählzug des MkEv neue Tiefenschärfe: die Schweigegebote, wie sie an Geheilte bzw. an die Zeugen der Wunder (1,44; 5,43; 7,36; 8,26), an die Schüler (8,30; 9,9) und an die Dämonen (1,34; 3,11 f.) erteilt werden, die den (korrekten biblischen) Gottessohntitel Jesu kreischen. Die ältere Forschung hat diese Erzählzüge unter der Bezeichnung "Messiasgeheimnis" erfasst (W. WREDE; maßgebliche Kritik: H. RÄlSÄNEN; "Schutzgeheimnis" mit Entsprechung in der sozialen Welt der Gemeinde: G. THElSSEN, Bedeutungen; völlige Bestreitung des Konstrukts: R. H. GUNDRY, Mark). Traditionsgeschichtlich werde dadurch die Wundertradition und die Passionsgeschichte aufeinander bezogen. Die theologische Spitze bestehe darin, die Gottessohnschaft Jesu unter den Vorbehalt des Kreuzes zu stellen. Auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund betrachtet ergibt sich jedoch eine andere Pointe: Anders als Vespasian braucht Jesus keine Propagandisten. Heilungen dienen nicht dazu, ihn zu legitimieren, sondern um die Auswirkungen der Gottesherrschaft in Erscheinung treten zu lassen. Geheilte werden nicht als Objekte der Demonstration missbraucht, sondern stehen selbst im Zentrum bzw. werden von den Rändern ins Zentrum gerückt: Der Unreine wird in die Gemeinschaft aufgenommen (1,40-45), die Tote kehrt ins
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Leben zurück (5,21-24.35-43), der Heide wird von einem Juden berührt (7,31-37). Kein Wunder, dass Betroffene wie Beteiligte trotz des Schweigegebots von sich aus und selbständig als Propagandisten Jesu auftreten. Im Unterschied zur Propagandastrategie Vespasians ist es Jesu Ziel gerade nicht, dass Menschen aufgrund der Wunder Jesus den Gottessohntitel zujubeln, sondern dass sie ihrerseits seinen Weg gehen. Allerdings scheinen selbst die Schüler Jesu nicht dagegen gefeit zu sein, ihn zu einem Schauwunder zu verführen, um das zu erreichen, was Jesus gegenüber den Pharisäern schroff abgewiesen hat: ein Zeichen vom Himmel (8,11 f.). In 8,22 nämlich fiihren "sie" (und hier scheinen die Schüler gemeint zu sein) einen Blinden zu Jesus, damit er ihn berühre. Jesus heilt den Blinden - aber außerhalb des Dorfes, und er verbietet ihm, ins Dorf hinein zu gehen (8,23-26). Ganz anders bei der zweiten Blindenheilung, wo die Schüler den Bettler am Straßenrand sozusagen nicht zur Audienz vorlassen wollen (10,4652). Der aber bekennt, lange vor der Heilung, Jesus als "Sohn Davids", als in der alten Königstradition Israels stehend, und folgt als Geheilter Jesus aufseinem Weg.
Zweimal ergeht auch an die Schüler ein Schweigegebot: einmal im Blick auf das Petrusbekenntnis (8,29f.) und einmal im Anschluss an die Verklärung (9,2-9). Hier wird das Schweigegebot terminiert und mit der Auferweckungsbotschaft verknüpft (-+ 3.5), dort fehlt dem Petrusbekenntnis "Du bist der Christus" die Rückbindung an die Lehre "auf dem Weg" (-+ 3.3).
3.3 Keine Aufsteigermentalität, sondern Statusverzicht
In der letzten Schülerbelehrung des Abschnitts auf dem Weg wird die christliche Gemeinde als Kontrastgesellschaft portraitiert: Ihr wisst, dass diejenigen, die über die Völker zu herrschen scheinen, auf sie herunterherrschen und dass ihre Großen ihre Macht über sie missbrauchen. Nicht aber so ist es bei euch. Sondern: Wer unter euch groß werden will, soll eurer Diakonos sein. Und wer unter euch der Erste sein will, soll Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um (selbst) zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben (10,42-45).
Auf der einen Seite sehen wir die Machtpyramide, wie sie im Römischen Reich praktiziert wird: der Kaiser als "Erster" (princeps/äpx,wv) gibt seine "Vollmacht" im Sinn unumschränkter Verfügungsgewalt (imperium/E~OOOLa.) an seine "Großen" weiter, die ihrerseits die delegierte "Macht nach unten ausüben" (Kat-E~ouoL(i'oOOLV), d. h. als Statthalter in den Provinzen mit dem Heer im Rücken für Ruhe und Ordnung sorgen sowie die Steuern eintreiben. Auf der anderen Seite, in der christlichen Gemeinde, steht die StatusverzichtPyramide. Anstelle um Herrschaft von oben nach unten geht es um Dienstleistung von unten nach oben - und zwar als Ziel gerade für den, der "groß" sein will. Wohlgemerkt: Vollmacht (E~OUOLa.) ist auch den Schülern Jesu verliehen (6,7), allerdings um die Dämonen, die die Menschen beherrschen, zu
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vertreiben. Und: Mit dem Herrschaftsantritt Vespasians geht ein Ruck durchs Reich: Alle wollen "aufsteigen" wie er. Vespasian und seine Söhne werden zu gesellschaftlichen Trendsettern. Und sie fördern diese Aufsteigermentalität aktiv und bewusst: Gerade aus der Schicht der Ritter, aus der sie selbst stammen, berufen sie ihnen ergebene Anhänger in die höchste Statusgruppe: in den römischen Senat (vgl. Tac., Hist II 82,2). Wer persönliche Loyalität zum Kaiser zeigt, kann Nachfolger auf dessen Aufstiegsweg werden. Dem tritt das MkEv mit dem Kontrastweg Jesu und der "Lehre" von der Kreuzesnachfolge vehement entgegen. Der Tod Jesu wird als Weg des Statusverzichtes (eines Diakons bzw. eines Sklaven) gedeutet, während die Erzählung von der Kreuzigung in das Licht des Triumphzugs getaucht wird.
3.4 Der Kreuzweg als Triumphzug und die Auferweckung als Apotheose Die Erzählung vom Kreuzweg Jesu (15,16-27) ist mit diversen Ungereimtheiten versehen, die den kundigen Leser an die Triumphzüge siegreicher römischer Feldherren bzw. Kaiser erinnern (T. E. SCHMlDT, Crucifixion; DERS., March; C. A. EVANS xc). Die Geißelung Jesu findet in einem Hof statt, der "Prätorium" genannt wird (15,16). Normalerweise ist damit ein Feldherrenzelt gemeint. Die ganze Kohorte, also 600-1000 Mann wird dorthin zusammengerufen (15,16). Ganz genau so formiert sich ein Triumphzug auf dem Marsfeld in Rom. Dem siegreichen Feldherrn, der die Nacht zuvor im Feldherrenzelt verbracht hat, werden sodann die Insignien des Triumphators angelegt: das purpurne Gewand sowie ein Lorbeerkranz. Von den Soldaten nimmt er die Huldigungen entgegen. In der Geißelungsszene 15,17-19 wird dieser Ritus pervertiert (R. AMEDlCK). Am Höhepunkt des Triumphzugs, der sich in feierlicher Prozession durch die Straßen der Stadt schlängelt, wird dem Triumphator Wein angeboten, den dieser aber zu trinken verweigert (vgl. 15,23). Die Darbringung der Dankopfer, Auftakt für das anschließende Fest, beginnt dann, wenn ein Bote den Tod des feindlichen Feldherrn meldet, der im Triumphzug als Schauobjekt mitgeführt worden ist. In der Markuspassion fällt auch diese Rolle dem "Triumphator" Jesus selbst zu. Eine Rollenverkehrung wie sie subtiler und provokativer nicht sein könnte. Gerade wenn wir die Adressatengemeinde in Rom lokalisieren, hat sie den Triumphzug Vespasians noch unmittelbar vor Augen (vgl. Jos., Bell VII 123-157). Ein außergewöhnliches Detail könnte dabei eine besondere Rolle spielen: Vespasian wird auf seinem Triumphzug von seinen beiden Söhnen begleitet, die sozusagen ein Trio der Macht demonstrieren. In der Markuspassion spiegelt sich darin das Trio der Ohnmacht: Jesus gekreuzigt zwischen zwei Räubern (15,27). In diesem Kontrastbild wird deutlich, wie die "Ehrenplätze" rechts und links von Jesus (10,37) für diejenigen aussehen, die Jesus auf seinem Weg folgen. Der "Königsweg" Jesu wird im MkEv im Kontrast zu römisch-imperialer Macht konsequent zu Ende gefiihrt: Im Grab wird die Auferweckung Jesu
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verkündet - mit dem Hinweis: " ... nicht ist er hier. Siehe, der Ort, wo sie ihn hingelegt haben" (16,6). Im römischen Kulturkreis ist dieser Hinweis ein eindeutiges Indiz für die Entrückung in den Götterhimmel. Das Urmodell ist Herakles. Als seine Anhänger nach dessen Selbstverbrennung vergeblich nach Knochen suchen, ist das für sie ein Signal dafür, dass er zu den Göttern entrückt worden ist. Rituell durchgeführt wird eine solche "Apotheose", sofern ein entsprechender Senatsbeschluss vorliegt, bei den Trauerfeierlichkeiten für einen verstorbenen Kaiser. Auf dem Scheiterhaufen wird eine Wachspuppe verbrannt, damit keine Überreste des Verstorbenen gefunden werden können. Offiziell anerkannt wird die Apotheose dadurch, dass für den Kaiser ein Kult eingerichtet, also ein Standbild aufgestellt und eine Priesterschaft etabliert wird. Das MkEv erzählt für Jesus eine Apotheose. Anerkannt wird sie dadurch, dass der Auftrag des Jünglings im Grab in die Tat umgesetzt wird, also der "Weg Jesu", der in Galiläa mit den Schülerberufungen beginnt, immer neu gelernt wird (M. EBNER, Evangelium). 3.5 Nicht die Titel zählen, sondern der Lebensweg Dreimal öffnet sich im MkEv der Himmel. Aber in keinem der drei Fälle kommt es zu einer Weiterverbreitung der himmlischen Botschaft. Bei der Taufe wird die Himmelsöffnung allein von Jesus gesehen und die Himmelsstimme entsprechend allein von ihm gehört (1,1 Of.). Nicht einmal der Täufer kann deswegen wissen, wen er eigentlich tauft. Bei der Verklärung, als die Stimme aus der Wolke zu den Schülern spricht, wird eine Sperrfrist gegeben: "Bis der Menschensohn aus den Toten auferstanden ist" (9,9). Nachdem die Schüler längst vor der Kreuzigung aus Jerusalem geflohen sind (14,50), können sie die Auferweckungsbotschaft im Grab gar nicht hören. Damit fehlt ihnen auch der Schlüssel zum Verständnis der Verklärungsszene. Bei der dritten "Himmelsöffnung" kommt ein Bote des Himmels auf die Erde: Die weißen Kleider zeichnen den Jüngling im Grab als Himmelsbewohner aus. Die Frauen bekommen von ihm die entscheidende Botschaft, durch die das Evangelium vom Beginn der Gottesherrschaft weitergeführt werden könnte. Aber sie richten sie nicht aus. Text I, II
Stimme Gott
Adressat Jesus
9,7
Gott
Schüler
16,6f. junger Mann
Frauen
Inhalt Du bist mein Sohn Dieser ist mein Sohn Er ist auferweckt ...
Kommunikationsauftrag nein
Ausfllhrung
-
ja, aber mit Sperrfrist: nein nach der Auferstehung ja nein
Trotzdem ist die göttliche Botschaft auf Erden angekommen: in der Akklamation des Hauptmanns am Kreuz. Durch die szenische und terminologische Parallelisierung mit der göttlichen Stimme bei der Taufe Jesu wird die Aus-
B. Die vier Evangelien
180
sage des Hauptmanns als Transfer der göttlichen Identifikation gekennzeichnet. Damit wird klargestellt: Nicht der Titel an sich ist das Entscheidende, sondern die mit dem Titel vollzogene Wertung. Jesus als Gekreuzigter, der auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Leiter steht, wird als der "Erste" bekannt. Der Erzähler seinerseits gibt diese Wertung weiter, wenn er im Initium seiner Schrift (l, 1) rur Jesus genau diesen Kaisertitel in Anspruch nimmt: "Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, einem Sohn eines Gottes" (~ 3.1). In seiner dann folgenden Jesusgeschichte erzählt er nichts anderes als den paradoxen Königsweg Jesu, an dem abgelesen werden kann, wie Gottesherrschaft in dieser Welt und dieser Geschichte Gestalt annehmen kann. Der Leser, der vom Erzähler auf diese Fährte gesetzt wird, muss sich am Ende entscheiden, ob er in die Kommunikationslücke, die durch das Schweigen der Frauen entstanden ist, einspringt und sich damit einklinkt in die weltweite Verkündigung des Evangeliums, die Jesus im Erzähltext ansagt und die das MkEv seinerseits praktiziert. Ausgestattet mit dem Verständnisschlüssel, den der Jüngling im Grab an die Hand gibt, wird er in der Verklärungsszene tatsächlich den entrückten Gekreuzigten "sehen": in den weißen Gewändern der Himmelsbewohner, flankiert von Elija und Mose, die gemäß jüdischer Tradition ebenfalls entrückt worden sind. Text 15,39
Stimme Hauptmann
Adressat (Leser)
1,1
Autor
Leser
Kommunikation Inhalt Wirklich, dieser ? Mensch war ein Sohn eines Gottes Anfang des Evange- ? Iiums von Jesus Christus, einem Sohn eines Gottes
Damit hat der Leser gegenüber den Figuren der Geschichte eindeutige Vorteile: Beim zweiten Lesedurchgang kann er die Einlösung der Botschaft des Jünglings in der Verklärungsgeschichte finden. Er erkennt: Der "Größte" bzw. der "Erste" ist tatsächlich derjenige, der den Statusverzicht wie Jesus bis zu Ende geht. Die Plätze links und rechts von Jesus "in seiner Herrlichkeit" werden von Gott vergeben (10,37.40). Dem erhöhten Jesus soll man nicht, wie den Kaisern, einen Kult einrichten; auf ihn soll man hören (9,7), d. h. seine Lehre umsetzen und damit zur subversiven Ausbreitung der Gottesherrschaft beitragen. Das MkEv ist also ein Versuch, am Lebensweg Jesu die Praxis einer Gegengesellschaft abzulesen und diesen Weg als dem Willen Gottes entsprechende und als Konkretion der Gottesherrschaft gekennzeichnete Alternative zum gesellschaftlichen Trend zu präsentieren, wie er unter den flavischen Aufsteigerkaisern virulent wird - und offensichtlich auch auf die christliche Gemeinde Anziehungskraft ausgeübt hat.
B.V. Das Markusevangelium (Martin Ebner)
181
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B.V!. Das Lukasevangelium (Dietrich Rusam)
1. Struktur Das LkEv versteht die Jesusgeschichte als die "unter uns zur Erfüllung gekommenen Ereignisse" (1,1). Gleich am Anfang, in der Kindheitsgeschichte (Lk I f.), werden atl Heilshoffnungen gebündelt und auf Jesus proj iziert, besonders aber in den drei eingestreuten psalmenähnlichen Liedern 1,46-55.6879; 2,29-32. Damit ist klar: Jesus ist der verheißene Messias, der Sohn Gottes, Nachkomme Davids, der Herr (KUpLOC;;). Seine irdischen Taten sind ebenso in den Schriften vorhergesagt (4, 18f.) wie Kreuz und Auferstehung (18,31; 24,44). Trotzdem oder gerade deshalb begegnet ihm von vornherein, d. h. auch in Galiläa, massive Ablehnung. Die von Lukas an den Beginn des öffentlichen Wirkens gestellte Antrittspredigt in Nazaret, die in einem Mordversuch gipfelt (4,29), zeigt dies exemplarisch. Als Messias bzw. Sohn Gottes wird Jesus erkannt von den Dämonen (4,34.41; 8,38) und den gesellschaftlichen Außenseitern (7,9; 18,38), den einfachen Leuten (z. B. Petrus in 5,8; 9,20), den Zöllnern (7,29; 19,1-10) und Sündern (7,39). Gegen ihn stellen sich vor allem die Pharisäer, Schriftgelehrten und Hohepriester (vgl. nur 6, 11). Diese beiden unterschiedlichen Reaktionen auf Jesus zeigen sich ganz deutlich in den beiden redaktionellen Notizen von 7,29 und 30. Der von Lukas geschaffene Reisebericht (9,51-19,27) setzt mit einer Erfüllungsaussage in 9,51 neu ein. Dabei wird der theologische Grund für die Wanderung Jesu von Galiläa über Samaria (17,11) nach Judäa bzw. Jerusalem noch nachgeliefert: Es könne nämlich nicht sein, dass ein Prophet außerhalb von Jerusalem umkomme (13,33). Folgerichtig erwartet Jesus in Jerusalem der Tod am Kreuz. Doch auch am Kreuz bleibt Jesus Souverän seines Schicksals, indem er nicht klagt, sondern seinen Geist in Gottes Hand befiehlt (23,46). Abgeschlossen wird das Evangelium mit drei in und um Jerusalem lokalisierten Auferstehungsgeschichten und .der Himmelfahrtsepisode. Bei der letzten Erscheinung des Auferstandenen erhalten die Jünger den Auftrag, "unter allen Völkern" zu predigen und damit in Jerusalern anzufangen (24,47). Dieser Missionsbefehl ist für Lukas der Grund, seinem Evangelium später die so genannte Apg anzufügen. Vorerst erhält die irdische Geschichte Jesu mit der Himmelfahrt allerdings ihren Abschluss. Die Gliederung des LkEv Neben vielen anderen Besonderheiten unterscheidet sich das LkEv von seinem Vorläufer, dem MkEv, auch durch geographische Einzelheiten: Besonders auffällig ist hierbei die von Lukas selbst gestaltete und durch redaktionelle
B.Vl. Das Lukasevangelium (Dietrich Rusam)
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Notizen (10,1.38; 13,22.33; 14,25; 17,11; 18,35; 19,1.11) immer wieder ins Gedächtnis gerufene Wanderung Jesu von Galiläa nach Jerusalem (9,5119,28). Abgesehen von Lk 18,15-43 findet sich innerhalb dieses Zusammenhangs ausschließlich Material aus Q und dem Sondergut. Die wahrscheinlich auf Mk 10,1.17.32.46 beruhende Fiktion eines Reiseberichts gibt dem dritten Evangelisten die Möglichkeit, eine ganze Reihe von ursprünglich wohl situationslosen Überlieferungsstoffen in seine Jesuserzählung zu integrieren. Die Existenz des sogenannten Ik Reiseberichts ist neuerdings von R. v. BENDEMANN bestritten worden. Er meint, dass eine eigene Texteinheit (9,51-19,27) innerhalb des Ik Makrotextes nicht aufweisbar sei. Vielmehr handele es sich bei dem "Reisebericht" um ein Konstrukt der Interpretation. Hinweis darauf ist die Beobachtung, dass innerhalb des fraglichen Textabschnitts keine klaren geographischen Angaben gemacht würden. Außerdem weise die Notiz 9,51a zurück auf die Verklärung, nicht jedoch nach vorne auf die Passion und das Kreuz. Zusammenfassend meint v. BENDEMANN, die Strategie des Lukas ließe sich auch ohne Annahme eines Reiseberichtes im Rahmen literarischer Konvention der Antike erklären, und erläutert dies anhand der freilich jüngeren und schwer datierbaren vita Aesopi. So richtig überzeugt ist die übelWiegende Anzahl der Forscher damit allerdings nicht. Die Interpretation von 9,51a als auf die Verklärung (9,28-36) zurückweisend schließt jedoch - gerade aufgrund der Notiz in 9,31 b - nicht aus, dass mit 9,51 (vgl. 9,53) ein neuer Abschnitt beginnt, der als Ziel Jerusalem hat. Die Tatsache, dass wir keine klaren geographischen Angaben zwischen 9,51 und 19,27 finden, ist kein Argument gegen die Konzeption eines Reiseberichtes, da Lukas generell in der palästinischen Geographie nicht so recht bewandert zu sein scheint: So liegt fUr ihn Betsaida an oder in der Wüste (Lk 9,10.12), und Nazaret ist auf einem Berg gebaut (Lk 4,29). Besonders auffiillig ist darüber hinaus der Weg Jesu nach Jerusalem. Zufo1ge Lk 17,11 fUhrt er durch Samaria (v gl. 9,52) und Galiläa und später auch noch durch Jericho (Lk 18,35; 19,1). Eine solche Route ist deshalb unwahrscheinlich, weil sie zwei unterschiedliche Wege miteinander kombiniert: Entweder nimmt man von Galiläa den Höhenweg durch das Bergland von Samaria nach Jerusalem oder den durch das Jordantal über Jericho. Gerade aus dieser Unsicherheit des Lukas erklären sich seine bewusst vage gehaltenen Wegangaben (13,22.33). v. BENDEMANN ist vielleicht in der Hinsicht Recht zu geben, dass dem "Reisebericht" im LkEv kein wie immer gearteter "Sonderstatus" zukommt; gleichwohl ist kaum zu bestreiten, dass die ab 9,51 erzählten Geschichten nicht auf einer weitschweifigen Wanderschaft geschehen sind, sondern Jesus seinem Ziel Jerusalem und damit der Passion näher bringen. Diese Wanderung steht von vornherein unter keinem guten Stern, wie die Ablehnung Jesu im Dorf der Samariter zeigt (9,52f.). Von daher ist es auch nicht velWunderlich, dass die Anzahl der Wundertaten Jesu jetzt deutlich abnimmt: Aus Galiläa (4,14-9,50) werden insgesamt dreizehn einzelne Wunder sowie zwei Heilungssummarien (4,40f.; 6,19) überliefert, auf dem langen und ausfUhrlichen Weg ins Leiden nach Jerusalem (9,51-19,27) hingegen nur vier: zwei Heilungen am Sabbat, die im Grunde nur dazu dienen, ein Streitgespräch mit den jüdischen Würdenträgern zu provozieren (13,10-17; 14,1-6), dann die Heilung der zehn Aussätzigen, von denen nur der Samariter vorbildhaft zurückkehrt (17,11-19), und schließlich die aus der mk Tradition übernommene Heilung des Blinden vor Jericho (18,35-43). Diese geringe Anzahl der Heilungswunder zeigt, dass sich mit dem Entschluss, nach Jerusalem zu wandern, die Einstellung des Volkes zu Jesus gewandelt hat. In Jerusalem selbst überliefert Lukas lediglich das Anheilen des bei der Gefangennahme abgeschlagenen Ohres des Hohenpriesterknechtes (22,51).
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B. Die vier Evangelien
Lukas teilt mit Hilfe des Reiseberichts die Geschichte Jesu in die geographischen Räume Galiläa, Jerusalem sowie die Wanderung dazwischen. Rein statistisch gesehen lässt sich sagen - auch dies spricht für die Vorstellung eines lk Reiseberichts mit dem Ziel Jerusalem -, dass diese Stadt im LkEv (insgesamt dreißig Belege) eine wesentlich größere Rolle spielt als etwa im MkEv (sieben Belege) oder im MtEv (elf Belege). Aber auch inhaltlich ist die Bedeutung Jerusalems für Lukas überaus groß: Im Unterschied zu Mk (und Mt) berichtet Lukas nach der Kreuzigung Jesu gerade keine Rückkehr der Jünger nach Galiläa. Während in Mk 16,7 die Frauen von dem weißgekleideten Mann im Grab den Auftrag bekommen, mit den Jüngern nach Galiläa zu gehen, um Jesus dort zu sehen (Mk 16,7), lässt Lukas den gleichen Engel die Frauen an die Worte Jesu erinnern, "als er noch in Galiläa war" (Lk 24,6). Deshalb bleiben die Elf in Jerusalem, wo Petrus offenbar zeitlich noch vor den Emmausjüngern die Ersterscheinung hatte (24,33f.; vgl. 1 Kor 15,5). Dort erscheint ihnen allen noch einmal der Auferstandene, um ihnen ausdrücklich aufzutragen, mit ihrer Verkündigung "in Jerusalem" zu beginnen (24,47). Damit ist für Lukas Jerusalem nicht mehr bloß der Ort des Unglaubens gegenüber Jesus, sondern der - wie in Lk 24,47 angedeutet und in der Apg erzählerisch ausgefUhrt - Ausgangspunkt der weltweiten Mission. Jerusalem und der Tempel spielen darüber hinaus bereits in den Kindheitsgeschichten eine besondere Rolle: So wird die Geburt des Täufers im Tempel angekündigt (1,5-23), Jesus wird im Tempel dargestellt (2,22-38) und kehrt als Zwölfjähriger ein zweites Mal nach Jerusalem in den Tempel zurück (2,41-51). Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Lukas durch die Auslassung der Verfluchung des Feigenbaumes (Mk 11,12-14) den Einzug Jesu in Jerusalem im Grunde zu einem Einzug Jesu in den Tempel darstellt (Lk 19,37-46). Aufgrund dieser besonderen Geographie liegt für das LkEv folgende Gliederungnahe: O. 1. 2. 3. 4.
Proömium Exposition: Kindheitsgeschichten, Vorbereitung Jesu Wirken in Galiläa Jesu Reise nach Jerusalem ("Reisebericht") Jesu Wirken in Jerusalem (Passion, Erscheinungen, Himmelfahrt)
1,1-4 1,5-4,13 4,14-9,50 9,51-19,27 19,28-24,53
B. VI. Das Lukasevangelium (Dietrich Rusarn)
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2. Entstehung 2.1 Quellen und Traditionen
2.1.1 Quellen, die im LkEv genannt werden Lukas ist der einzige Evangelist, der uns beim Schreiben kurz über seine Schulter blicken lässt. In dem an Theophilus gerichteten Proömium (1,1--4) wird deutlich, dass er selbst Jesus nicht persönlich kennengelernt hat. Insofern ist er bei seiner Darstellung auf andere Zeugen angewiesen. Dabei ist sich Lukas im Klaren darüber, dass auch die ihm vorliegenden Berichte (Diegesen) nicht von Augenzeugen geschrieben worden sind, sondern vielmehr ihrerseits auf Augenzeugenberichte zurückgehen (1,1 f.). Seine eigene Leistung besteht zufolge 1,3 darin, die ihm vorliegenden Schriften von Anfang an genau erkundet und alles dann der Reihe nach niedergeschrieben zu haben. Ziel dieser Niederschrift ist die Gewähr bzw. Sicherheit der Lehre, in der Theophilus bereits unterrichtet worden ist. Die Überlieferung des Lukas geht demnach letzten Endes auf "Augenzeugen von Anfang an" zurück, wobei diese darüber hinaus als "Diener des Wortes" bezeichnet werden. Gerade die letztgenannte Bezeichnung ist im NT einzigartig; sie bekommt jedoch ihren Sinn durch die Zusammenordnung: Die Augenzeugen haben nach Lukas weder distanziert über Jesus erzählt noch ihre eigenen Gedanken über Jesus geäußert, sondern sich als Glaubende der Predigt Jesu bzw. der Predigt von Jesus untergeordnet (4,32.36; 5,1.! 5; 7,17; 8,11-15.21;10,39; 11,28; 24,19). Welche Art (Augen-)Zeugenschaft gemeint ist, wird später in Apg 1 bei der Nachwahl des zwölften Apostels deutlich: Lukas versteht darunter Männer, die beginnend mit der Taufe Jesu (Lk 3,21f.) bei den Jüngern und Jesus selbst gewesen und schließlich Zeugen der Auferstehung geworden sind (Apg 1,21f.). Der eigentliche Anfang des Wirkens Jesu ist flir Lukas demnach die Taufe. Und neben der Auferstehung ist auch das irdische Leben Jesu Inhalt der Zeugenschaft. Kurzum: Lukas nennt keinen der bekannten Jünger als Gewährsmann seiner Überlieferung mit Namen, aber er führt seine Quellen auf die von Jesus selbst ausgewählten Apostel (Lk 6,1216) zurück.
2.1.2 Quellen, die wissenschaftlich wahrscheinlich gemacht werden können Natürlich ist auch bei Lukas zunächst die klassische Zweiquellentheorie vorauszusetzen, derzufolge Lukas das MkEv, die Spruchquelle Q sowie Sondergut vorlag (- 8.1.). Setzt man diese Theorie zu dem Proömium (1,1--4) in Beziehung, scheint Lukas der Meinung gewesen zu sein, sowohl das MkEv als auch Q und auch sein ganzes Sondergut seien zwar selbst wohl keine Augenzeugenberichte, aber sie gingen auf diese zurück.
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B. Die vier Evangelien
Theoretisch könnte Lk 1,1 f. auch so interpretiert werden, dass das LkEv - so wie seine Vorgänger-Diegesen - sich direkt auf die Augenzeugenberichte zurückführt (so A. D. BAUM 114f.). Doch diese Interpretation ist kaum vereinbar mit der Tatsache, dass das MkEv, zweifel\os eine der angesprochenen Diegesen, Lukas vorgelegen hat und von diesem kräftig verwendet worden ist.
Nun wird in Lk I, I davon gesprochen, dass es "viele" gewesen seien, die es versucht hätten, die Geschehnisse von Jesus niederzuschreiben. Von daher wird man fragen müssen, welcher Art das Sondergut des Lukas war. In der Tat ist auffällig, dass von den 1149 Versen des LkEv lediglich knapp 400 aus dem MkEv stammen und 235 darüber hinaus mit dem MtEv parallel gehen (d. h. aus Q stammen). Der Rest - und das sind insgesamt rund 500 Verse (also über 45%) - findet sich nur bei Lukas, d. h. er stammt aus dem Sondergut oder ist auf die schriftstellerische Arbeit des Evangelisten zurUckzuführen. Zum Vergleich: Im MtEv finden sich nur rund 200 Verse aus dem mt Sondergut. Also könnte man durchaus fragen, ob nicht für das LkEv eine Drei- oder gar Vierquellentheorie vorauszusetzen sei. Doch angesichts der Disparatheit der Stoffe des Ik Sonderguts ist es bis heute nicht gelungen, einen überzeugenden Nachweis hierfUr zu fUhren.
2.1.3 Der Ik Umgang mit den Quellen Die ZurückfUhrung auf Augenzeugenberichte ist wohl der Grund dafUr, dass Lukas ab 3, I wesentlich treuer dem Markusaufriss folgt als etwa Matthäus. An zwei Stellen "unterbricht" er jedoch die mk Perikopenfolge, um StUcke aus Q und seinem Sondergut in loser Folge einzufUgen. So legt er in Lk 6,20 den mk Faden beiseite, um diesen erst in 8,4 wieder aufzunehmen (die sogenannte "kleine Einschaltung"). Exakt die gleiche Beobachtung lässt sich fast den kompletten Reisebericht hindurch machen, nämlich für die Passage 9,5118,14 (die sogenannte "große Einschaltung"). Doch gerade weil sich Lukas wesentlich strenger als Matthäus an den mk Aufbau und die mk Perikopenfolge hält, sind darUber hinaus neun Perikopenumstellungen gegenüber der Markusvorlage besonders bemerkenswert und bedürfen der Erklärung: (I) Die wichtigste davon ist die Platzierung der Verwerfung Jesu in Nazaret an den Anfang des gesamten Wirkens Jesu und deren massiver Ausbau (Lk 4,14--29). Mit Hilfe dieser Geschichte zeigt Lukas das spätere Geschick Jesu in nuce: Seine Worte und Taten werden durch das Zitat in 4,18f. (les 6,lf.; 58,6) als schriftgemäß erwiesen. Und zugleich wird in Nazaret deutlich, dass Jesus von seiner Vaterstadt (bzw. seinem Vaterland - 4,24) abgewiesen wird. Die Verweise auf die Witwe von Sarepta und den Syrer Naaman lassen das Scheitern der Jesusbotschaft bei den Juden und die spätere Heidenrnission schon erahnen, zumal bereits in Nazaret auf Jesus ein Mordversuch verübt wird (4,29). (2) Ähnlich ausgebaut wie die Verwerfung in Nazaret ist im LkEv die Berufung der ersten Jünger (Mk 1,1620). Diese findet sich - zugespitzt auf die Berufung des Simon (Petrus) und zusammen mit
B. VI. Das Lukasevangelium (Dietrich Rusam)
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dem wunderbaren Fischfang - erst in Lk 5,1-11. Anders als im MkEv wird bei Lukas dadurch vor der Berufung des Simon dessen Schwiegermutter geheilt (Lk 4,38f.). Von daher wird erklärbar, weshalb Simon Jesus mit "Meister" (griech: E1ILotlitT]~) - eine Anrede, die seine autoritative Stellung hervorhebt - anspricht (5,5). Auch seine Bereitschaft, auf Jesu Auftrag hin die Netze noch einmal auszuwerfen, ist aufgrund der vorher von Petrus mit Jesus gemachten Erfahrung in Kafarnaum nachvollziehbar. (3) Die Auswahl der Zwölf (Mk 3,13-19) und das Summarium über den großen Zulauf zu Jesus (Mk 3,7-12) lässt Lukas den Platz tauschen (Lk 6,12-16.17-19). Dadurch macht er die Jünger, deren Gegenwart in 6,17 noch einmal ausdrücklich erwähnt wird, zu Zeugen der Heilungstätigkeit Jesu. Dies ist ihm deshalb wichtig, weil ja die Berufung des Simon erst nach der Heilungstätigkeit in Kafamaum berichtet worden war. (4) Schließlich bringt Lukas die Erzählung von den wahren Verwandten Jesu (Mk 3,30-35) erst nach der Gleichnisrede (Lk 8,19-21). Diese Umstellung ist motiviert durch die im Rahmen des Gleichnisses vom Sämann den Jüngern vermittelte Zusage, es sei ihnen gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu verstehen, den anderen aber nicht (8,10). Damit werden diejenigen, die Gottes Wort hören und tun (8,21) mit den Jüngern Jesu identifiziert. Sie sind - das ist durch die Umstellung unschwer zu erkennen - die wahren Verwandten Jesu. (5) Die Warnung vor der Verfilhrung zum Abfall (Mk 9,41-50) ist bei Lukas stark gekürzt und in den Rahmen der Jerusalemreise (Lk 17,lf.) gestellt worden. Theologische Gründe sprechen rur diese Umstellung: Während in Galiläa überwiegend Zustimmung zur Person Jesu vorherrschte, beginnt mit der Wendung Jesu nach Jerusalem (9,51) die Ablehnung immer deutlicher zu werden. In diesem Zusammenhang haben die Warnungen ihren Sinn. (6) Das Verbot der Ehescheidung (Mk 10,1-12) ist bei Lukas ebenfalls in den Reisebericht gestellt und auf einen Vers zusammengekürzt worden (Lk 16,18). Im Ik Zusammenhang ist es ein Beispiel rur die nach wie vor große Bedeutung des mosaischen Gesetzes (16,17). (7) Die Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28-34) ist bei Lukas - in Angleichung an Lk 18,18 bzw. letzten Endes Mk 10,17 - zur Frage nach der Erlangung des ewigen Lebens verändert und darüber hinaus von Jerusalern an den Beginn der Reise nach Jerusalem verlagert worden. Sie dient dem Ik Jesus jetzt als Anknüpfungspunkt für die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (10,25-37). (8) Die mk Salbung in Betanien (Mk 14,3-9) ist bei Lukas zur Salbung durch die Sünderin (Lk 7,36-50) geworden. Dadurch bekommt die Salbungsgeschichte eine ganz neue Ausrichtung: Sie zeigt jetzt durch die von der Sünderin erfahrene Sündenvergebung Jesu Zuwendung zu den "Verlorenen" (vgl. Lk 19,10). Dass Lukas hier möglicherweise eine neue Tradition aus seinem Sondergut verwendet und deshalb - um eine Dublette zu vermeiden die Salbung in Betanien ausgelassen habe, ist unwahrscheinlich. (9) Nach der Gefangennahme Jesu erzählt Lukas - anders als Markus - zunächst die dreimalige Verleugnung des Petrus (Lk 22,54-62; Mk 14,66-72), ehe er sich dem Prozess Jesu zuwendet (Lk 22,63-71; Mk 14,53-65). Dies ist eher ein erzählerischer Unterschied. Lukas korrigiert mit dem ersten Vers der Verleugnungsperikope ("Petrus aber folgte von ferne" - 22,54c) die Konstatierung in Mk 14,50, derzufolge alle Jünger Jesus verlassen hätten und geflohen wären. Dies ist der Grund, weshalb er erzählerisch noch kurz bei Petrus verweilt und die Verleugnungsgeschichte vorzieht.
Neben diesen neun Umstellungen sind die sieben Perikopen bzw. Abschnitte noch zu nennen, die Lukas aus der Markusvorlage ausgelassen hat: (I) Die Notiz, dass Jesu Angehörige ihn tUr verrückt halten (Mk 3,20f.), fehlt sowohl bei Lukas als auch bei Matthäus. Offenbar war sie Lukas deshalb zu anstößig, da der Herrenbruder Jakobus später in der Jerusalemer Urgemeinde noch eine herausragende Rolle spielt (Apg 15,13-21; 21,18). (2) Auch das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-
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B. Die vier Evangelien
29) findet sich nur bei Markus. Diese Beobachtung ist deshalb auffiillig, weil bis heute kein schlüssiger Grund angegeben werden kann, weshalb dieses Gleichnis von heiden Seitenreferenten keine Berücksichtigung fand. (3) Schließlich fehlt bei Lukas auch die ausfiihrliche Darstellung vom Ende des Täufers (Mk 6,14-29). Dies hängt damit zusammen, dass aufgrund der in Lk 9,7-9 (aus Mk 6,14-16) übernommenen Notiz klar ist: Der Täufer wurde auf Befehl von Herodes Antipas enthauptet. Lukas verzichtet auf die bei Markus nachgeschobene Darstellung der Umstände der Enthauptung, weil fiir ihn mit dem Auftreten Jesu das Wirken des Täufers abgeschlossen ist. Die summarische Notiz in Lk 3,19f., derzufolge Herodes den Täufer gefangengenommen hatte, wird von Lukas ausdrücklich vor der Information über die Taufe Jesu platziert (3,20f.), um genau diesen Abschluss deutlich zu machen. (4) Zwischen Lk 9,17 und 9,18 fehlt der gesamte Markus-Stoffaus Mk 6,458,26 (die sogenannte "große Lücke"). Diese Beobachtung hat mitunter zu der Vermutung gefiihrt, das dem LkEv vorliegende MkEv sei nicht komplett gewesen; vielmehr hätte Mk 6,45-8,26 im Exemplar des Lukas einfach gefehlt. Doch diese These hat sich nicht durchgesetzt, da man fiir jede einzelne von Lukas ausgelassene mk Geschichte Gründe finden kann. So wird zuweilen pauschal vermutet, diese Passagen im MkEv reflektierten den Übergang zur Heidenrnission. Lukas könne auf diese Erzählungen verzichten, da er diesen Übergang in der Apg ausführlich darstellt. Für die Geschichte von der Syrophönizierin (Mk 7,24-30) ist dies durchaus wahrscheinlich. Andere Gründe sind jedoch fiir die übrigen Perikopen anzunehmen: So konnte die Seewandelgeschichte (Mk 6,45-52) als Dublette zur Sturmstillung (Lk 8,22-25) angesehen werden. Gleiches gilt fiir die Speisung der 4000 (Mk 8,1-9), die als Speisung der 5000 bereits in das LkEv aufgenommen war (Lk 9,10-17 par Mk 6,31-44). Die beiden Zwillingsheilungen in Mk 7,31-37 und 8,22-26 sind wohl aufgrund der massiven Darstellung der Heilungspraxis Jesus mit Hilfe von Speichel, die an hellenistische Wundertäter erinnert, nicht nur von Lukas, sondern auch von Matthäus ausgelassen worden. Und schließlich wird das Thema der Reinheit (Mk 7,1-23) bei Lukas im Grunde in Apg 10 verhandelt oder ist - was wahrscheinlicher ist - für die heidenchristlichen Adressaten des LkEv (-> 2.4.2) kein Thema mehr. Die Zeichenforderung der Pharisäer (Mk 8,10-13) mitsamt der daran angeschlossenen Warnung Jesu vor den Pharisäern und Herodes sowie der anschließenden Jüngerschelte wegen ihres Unverständnisses (Mk 8,14-21) konnte Lukas schließlich deshalb auslassen, weil seiner Meinung nach die häufigen Verweise auf die Schriften im LkEv bereits Zeichen genug sind. Zwar verstehen die Jünger auch im LkEv alles erst in Lk 24,45, doch scheint die Zurechtweisung der Jünger durch Jesus dem Lukasevangelisten hier übertrieben gewesen zu sein. Sind doch die Jünger bzw. die Apostel in der Urgemeinde die Garanten der Überlieferung (Apg 1,2If.; 2,1-13)! (5) Der Jüngerstreit in Mk 10,35-45 ist von Lukas deshalb ausgelassen, weil er wie eine Dublette des Streites von Lk 9,46 wirkt und dadurch die Jünger - ähnlich wie in Mk 8,1421 - in schlechtem Licht dargestellt werden (zur Bedeutung der Jünger -> 3.). (6) Durch das Auslassen der seltsamen Geschichte vom verdorrten Feigenbaum (Mk 11,12-14.20-25) wird das eigentliche Ziel des Einzugs Jesu in Jerusalem deutlich: der Tempel - und die damit verbundene Tempelreinigung (19,28-48). (7) Ihre schwere Verständlichkeit ist der Grund filr die Auslassung der Notiz vom nackt fliehenden Jüngling (Mk 14,51 f.).
Da Lukas - abgesehen von diesen Veränderungen - treu dem mk Ablauffolgt, wird ihm in der Regel auch im Hinblick auf die Einarbeitung von Q eher als Matthäus zugetraut, die ursprüngliche Reihenfolge beibehalten zu haben. Für seine Treue zur Perikopenfolge von Q und dem MkEv nimmt Lukas dann aber doch die eine oder andere Dublette in Kauf: So findet sich neben der mk Aussendungsrede (Lk 9,3-5) auch die aus Q (Lk 10,2-11), ebenso neben der apo-
B.V!. Das Lukasevangelium (Dietrich Rusam)
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kalyptischen Rede aus Mk 13 (Lk 21,5-36) die aus Q (Lk 17,20-37). Warum dem dritten Evangelisten gerade diese bei den Jesusreden besonders wichtig sind und deshalb doppelt auftauchen, wird später (-> 2.4; 3.) genauer zu erörtern sein. Eine große Anzahl von Geschichten, Gleichnissen und Jesusworten findet sich nur im LkEv, d. h. sie stammen entweder direkt aus der Feder des Evangelisten selbst oder aus dessen Sondergut. Dazu gehören u. a. die Vorgeschichten (1-2), der Jüngling zu Nain (7,11-17), die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (10,29-37), Maria und Marta (10,38--42), die Heilung der verkrüppelten Frau am Sabbat (13,10-17), das Gleichnis vom verlorenen Groschen (15,8-10), die Parabel vom verlorenen Sohn (15,11-32), die Beispielgeschichten vom reichen Mann und dem armen Lazarus (16,19-31) sowie vom Pharisäer und vom Zöllner (18,9-14), die Heilung der zehn Aussätzigen (17,11-19), der Zöllner Zachäus (19,1-10) sowie einige Elemente innerhalb der Passionsgeschichte, z. 8. das Weinen Jesu über Jerusalem (19,41--44), die breite Darstellung des Gespräches Jesu mit seinen Jüngern anlässlich des letzten Abendmahls (22,24-38), das Verhör Jesu vor Herodes Antipas (23,612), die Emmausgeschichte (24,13-35), die Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern (24,36--49) und die Himmelfahrt (24,50-53). Singuläre Ik Jesuslogien finden sich z.8. in Lk 6,24-26 (möglicherweise aus Q, von Mt übergangen); 10,18-20; 13,31-33; 19,41--44; 22,31f.35-38 u. a. Eine Studie zu diesem Sondergut hat bezeichnenderweise kein schlüssiges Ergebnis. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich sind die Stoffe sehr disparat (8. PITTNER), und eine mögliche literarische Vorlage ist nicht greifbar. Allenfalls lässt sich als leitendes Interesse bei den Erzähltexten zeigen, dass Jesu Gegenwart gemäß dem Programm von Lk 4, 18f. - als heilvoll dargestellt werden soll. Die Frage, ob Lukas bei der einen oder anderen Geschichte bzw. dem einen oder anderen Logion aus der Tradition schöpft oder selbst schriftstellerisch tätig ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Einziges Indiz ist das Kriterium, ob die fragliche Stelle die Existenz des (übrigen) LkEv voraussetzt oder auch als Einzeltradition überlebens- bzw. überlieferungsfähig sein könnte. Im ersten Fall könnte man mit einer Ik Schöpfung rechnen, im zweiten mit einem aus der Tradition, dem Sondergut, übernommenen Text. Ausgehend von der Beobachtung der kleinen und der großen Einschaltung hat B. H. STREETER eine bedenkenswerte Proto-Lukas-Hypothese entwickelt: Seiner Meinung nach hat Lukas ohne Kenntnis des MkEv aus Q und seinem Sondergut den sogenannten ProtoLukas zusammengestellt, und zwar im Wesentlichen die Kapitel 3-24, allerdings ohne den Mk-Stoff. Dabei ist nach STREETER der sechsfache Synchronismus in Lk 3, I f. eindeutig der ursprüngliche Buchanfang gewesen. Das noch unveröffentlichte Manuskript sei dann mit Hilfe des erst später kennengelernten MkEv überarbeitet worden, wobei der mk Stoff in zwei Blöcken eingeschoben worden sein soll. Die Vorgeschichte Lk If. ist seiner Meinung nach erst aufgrund der Abfassung der Apg angeftlgt worden. STREETER zufolge ist also nicht Q- und Sondergutstoff in den Markustext von Lukas "eingeschaltet" worden, sondern
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umgekehrt Markus in Q- und Sondergutstoff. Ob Lukas wirklich aus dem Material von Q und seinem Sondergut einen Proto-Lukas hätte schaffen können, darf bezweifelt werden. Die geographische Anlage seiner Erzählung ist doch deutlich am Aufriss des MkEv orientiert. Von daher konnte sich diese These auch nicht durchsetzen.
2.2 Gattungsfragen Lk übernimmt mit dem Erzählfaden des MkEv auch die Form der Vita, also die narrative Darstellung eines Leitbildes (- B.III.I.I). Ab der ersten Hälfte des 2. Jh. werden solche Jesusviten christlicherseits auch als "Evangelien" bezeichnet. Lk seinerseits verstärkt die gattungstypischen Merkmale gegenüber dem MkEv: Er stellt dem mk Aufriss, der mit der Taufe Jesu beginnt, eine Geburts- und Kindheitsgeschichte voran. Damit löst er das gattungstypische Element, das am Anfang der Vita die Herkunft des Helden bespricht, ausführlich ein. Außerdem wird im LkEv, besonders eklatant in der Kindheitsgeschichte Lk If., die Vita Jesu mit der des Johannes parallelisiert. Damit greift Lk auf den Kunstgriff der Parallelviten zurück, wie sie besonders aus der Feder Plutarchs bekannt sind. Deren Ziel besteht keineswegs darin, eine der beiden Figuren abzuwerten, sondern im Gegenteil darin, durch den gegenseitigen Vergleich beide Figuren in ihren Besonderheiten zu profilieren (vgl. C. G. MÜLLER).
Allerdings setzt Lk in seinem Proömium 1,1-4, in dem er - wie es in der hellenistischen Fachschriftstellerei üblich ist - den Inhalt seines Werkes kurz vorstellt, seine Quellen nennt und vor allem den Vorzug seines Werkes gegenüber vergleichbaren Werken anderer herausstreicht, andere gattungstypische Akzente: Mit dem Stichwort "Erzählung" (öL~YT)aLC;) greift er einen Terminus auf, der sein Werk als Geschichtsschreibung qualifizieren soll. Dazu passt auch der Hinweis darauf, alles "der Reihe nach" anordnen zu wollen. Das ist der Anspruch der antiken Historiographie (vgl. E. PLÜMACHER, Stichwort 2). Dazu passen wiederum - und auch das ist einzigartig in der kanonischen Evangelienliteratur - die Synchronismen und Datierungen im LkEv: 1,5; 2,1; 3,lf. (vgl. auch Apg 11,28; 18,2.12). Es ist also Ziel des LkEv, die Jesusvita im Rahmen einer bestimmten weltgeschichtlichen Situation darzustellen. Wohl nicht zu Unrecht ist das LkEv deshalb als "historische Monographie" bezeichnet worden (E. PLÜMACHER, Testament 117f.).
2.3 Verfasser Der Verfasser des dritten Evangeliums gibt sich nicht zu erkennen. Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil Proömien in der antiken Historiographie normalerweise eine Selbstvorstellung des Autors enthalten. Diese kann eigentlich nur dann entfallen und durch das Personalpronomen "ich" ersetzt werden, wenn der Name des Verfassers bereits in der Inhalts- bzw. Thema-
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angabe des Buches erfolgt ist. So ist damit zu rechnen, dass möglicherweise eine derartige Überschrift im Laufe der Überlieferung verloren gegangen ist (E. PLÜMACHER, Testament 113). Die Vennutung, dass das Evangelium ursprünglich mit Namensnennung des Verfassers in Umlauf gebracht wurde, ist auch deshalb nicht ausgeschlossen, weil im Vorwort auf die Diegesen anderer verwiesen wird, von denen sich das LkEv abheben möchte und von daher auch identifiziert sein will. Der früheste Hinweis auf den Autor findet sich bei Irenäus von Lyon um 180 n. Chr.: Der Verfasser des Evangeliums war der Paulusbegleiter Lukas (Haer III 14,1; vgl. Euseb, HE V 8,3). Dabei wird deutlich, dass Irenäus keinerlei zusätzliche Überlieferungen hatte, auf die er sich hätte stützen können; vielmehr beruft er sich auf die "Wir"-Stellen in der Apg (Apg 16,10-17; 20,515; 21,1-18; 27,1-28,16), die suggerieren, der Verfasser der Apg (und damit auch des LkEv) sei ein Begleiter und Mitarbeiter des Paulus gewesen. In der Tat findet sich auch in dem authentischen Paulusbrief an Philemon der Name Lukas in der Liste derjenigen, die sich offenbar gerade bei Paulus aufhalten und die Philemon grüßen lassen (Phlm 24). Dass der Paulusbegleiter Lukas ein Arzt gewesen sein soll, weiß dann der deuteropaulinische Kolosserbrief (4,14). Eine weitere Erwähnung von Lukas findet sich in 2 Tim 4,11. Diese ist aus folgendem Grund bezeichnend: 2 Tim gibt vor (1,17), von Paulus in Rom geschrieben worden zu sein, d. h. genau an dem Punkt, an dem die Apg abbricht. Zugleich wird in 2 Tim 4, I 1 ein Lukas als der letzte Paulus verbliebene Mitarbeiter genannt. Insofern liegt es nahe, jenen in den Paulusbriefen erwähnten Lukas (den Arzt - Kol 4,14) mit dem Verfasser des Evangeliums (und der Apg) gleichzusetzen. So - wahrscheinlich aufgrund der Kombination der genannten Stellen - sieht auch der Kanon Muratori (ein Verzeichnis von Schriften in kirchlichem Gebrauch - um 200 n. Chr.) in Lukas, dem Arzt, den Begleiter des Paulus und den Verfasser des (nach ihm benannten) Evangeliums. In der Tat könnte die mitunter sehr detaillierte Darstellung der Reiseroute des Paulus - zumindest ab Apg 16 - auf einen Begleiter als Verfasser hindeuten. Doch in der Einleitungswissenschaft sind vielfliltige Gründe angeführt worden, die gegen die Verfasserschaft eines Paulusbegleiters sprechen: Besonders die grundlegenden Differenzen bei der Darstellung des Jerusalemer Treffens zwischen Paulus und Barnabas (sowie Titus - nach Ga! 2,3) auf der einen und dem Herrenbruder Jakobus, Petrus (Kephas) und Johannes auf der anderen Seite mache deutlich, dass Lukas kein Paulusbegleiter gewesen sein könne (vgl. Apg 15,1-29 mit Gal 2,1-10). Eine genauere Diskussion der Argumente für oder wider die Begleitung des Paulus durch den Autor von LkEv und Apg folgt im Abschnitt über den Verfasser der Apg. Deshalb sei diese Frage in diesem Zusammenhang offen gelassen. Leider hilft der Hinweis in Kol 4,14 auf den Beruf des Lukas als Arzt auch nicht weiter, denn es finden sich keinerlei spezifisch medizinische Angaben in der Apostelgeschichte.
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Betrachtet man einzelne Ortsangaben, so kann man feststellen, dass der Verfasser des LkEv nicht immer über die Geographie und Topographie Palästinas richtig informiert ist. Deshalb ist er wohl eher außerhalb von Palästina zu suchen.
Was könnte darüber hinaus positiv über den Verfasser des LkEv (und der Apg) gesagt werden? Wie inzwischen deutlich geworden sein dürfte, ist der Verfasser des LkEv ein literarisch und theologisch überaus gebildeter Historiker. Sein vermuteter heidenchristlicher Hintergrund ist vielfach damit begründet worden, dass Lukas semitische Begriffe (außer "Amen") durch griechische ersetzt hat, so etwa "Rabbuni" (mein Herr) in Mk 10,51 durch "Kyrios" (Herr) in Lk 18,41 bzw. Simons Beinamen "Kananäus" (aramäisch: Eiferer) in Mk 3,18 durch "Zelot" (griechisch: Eiferer) in Lk 6,15, aber auch "Rabbi" in Mk 9,5 durch "Epistates" (Meister) in Lk 9,33. Darüber hinaus lässt er die Gebetsanrede ,,Abba" in Lk 22,42 (vgl. Mk 14,36) weg. Schließlich wird die Auslassung der Reinheitsproblematik in Mk 7,1-23 ebenso als Grund für einen heidenchristlichen Verfasser angesehen wie das Zurücktreten der Sühnetodvorstellung. So ist vom Sterben Jesu "für euch" im LkEv nur in der Abendmahlsparadosis (Lk 22,19f.) die Rede. Das Lösegeldwort Mk 10,45 fehlt bei Lukas ganz. Auch die häufig bei Matthäus zu Recht beobachtete herausragende Bedeutung des Gesetzes, die bei Lukas gerade nicht auftaucht, ist einer der GrUnde, weshalb bis heute die überwiegende Anzahl der Forscher der Überzeugung ist, Lukas sei "mit Sicherheit" (W. G. KÜMMEL 118) ein Heidenchrist gewesen. Doch es wird zu prüfen sein, ob diese Besonderheiten wirklich Rückschlüsse auf den Verfasser zulassen oder ob sie nicht eher auf dem Hintergrund einer besonderen Adressatenorientierung zu Stande kommen. Interessanterweise werden in vielen Einleitungen die genannten Beispiele häufig sowohl zur Bestimmung des Verfassers als auch zur Beschreibung der Adressaten herangezogen. Die Gründe, die für einen judenchristlichen Verfasser sprechen, wiegen demgegenüber wesentlich schwerer: (I) Vor allem in seiner Darstellung der sogenannten Kindheitsgeschichte in Lk If. zeigt der Verfasser, wie gut er sich in den atl Schriften auskennt. Geradezu virtuos verwendet er nicht nur erzählerische Motive aus der Septuaginta (das hochbetagte Ehepaar bekommt ein Kind bzw. die künftige Mutter ist unfruchtbar), sondern ahmt durch Verwendung von charakteristischen Redewendungen deren Sprachstil nach (vgl. F. OFEARGHAIL). Damit deutet sich an, dass sich das LkEv als Fortschreibung der "Schriften", d. h. des Alten Testaments, verstehen möchte. (2) Bereits das Vorwort mit seinem Hinweis auf die zur Erfüllung gekommenen Ereignisse (1TpaYlJ.a1:a) weist darauf hin, dass Lukas das Geschehen unter dem Blickwinkel "Verheißung - Erfüllung" betrachten will. Auf Schritt und Tritt begegnet im lk Doppelwerk die Vorstellung, dass zentrale Punkte des Erzählten in den Schriften (des Alten Testaments) prophezeit sind (vgl. nur Lk 4,17-19). Aber bereits in der Ik Vorge-
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schichte, besonders in den drei eingestreuten Liedern 1,46-55.68-79; 2,29-32, spielt der Verfasser auf ganz unterschiedliche ad Schriftstellen - v. a. Psalmworte - an; diese werden durch den neuen Ik Kontext auf Jesus als Erfüllung ausgerichtet. Die besondere Bedeutung des AT ist für Lukas auch durch seine eingestreuten pauschalen Verweise deutlich. So wird in der dritten Leidensankündigung - gegen die Markusvorlage - darauf verwiesen, die Propheten hätten das Leiden Jesu vorhergesagt (Lk 18,31). Der Auferstandene beginnt seine Schriftauslegung "bei Mose und allen Propheten", um den Emmausjüngern deutlich zu machen, was in den Schriften über ihn gesagt war (24,27). Und schließlich erläutert er gegenüber seinen elf Jüngern, dass alles erfüllt werden musste, was von ihm "im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen" geschrieben sei (24,44) - ein Wort, welches aufLk 1,1 zurückverweist. Der folgende Vers ist aber der Schlüssel zum Ik Verständnis des christlichen Glaubens: "Da öffnete er ihnen das Verständnis, so dass sie die Schriften verstanden." Das Wissen um die Auferstehung Jesu reicht also nach Lk 24,40f. noch nicht zum Glauben; konstitutiv dafür ist, zweitens, das Verstehen der Schriften als auf Jesus hinweisend und in Jesus erfüllt. (3) Schließlich muss der Hinweis darauf, dass Lukas - ganz anders als der Judenchrist Matthäus - die bleibende Geltung des jüdischen Gesetzes nicht betone, ebenfalls nicht gegen seinen jüdischen Hintergrund sprechen; denn auch bei dem Judenchristen Paulus finden sich durchaus vergleichbare Ansichten (-+ C.2.3). Zusammenfassend ist zu sagen, dass es schwer flillt, in Lukas einen Heidenchristen zu sehen, denn nicht nur seine profunde Kenntnis der Schriften, sondern auch sein Interesse, Jesus als den in den Schriften Vorherverkündigten zu erweisen, lassen vermuten, dass es sich bei ihm um einen Judenchristen handelt. Diese Zwischenbilanz wird beim Betrachten des Verfassers der Apg noch zu verifizieren sein.
2.4 Adressaten 2.4.1 Theophilus Erster Adressat des LkEv ist zufolge Lk 1,3 ein Mann namens Theophilus ("Gottesfreund"). Es ist davon auszugehen, dass - wie das Attribut "verehrter" deutlich macht - dieser Name nicht einfach eine Personifikation aller Gottgeliebten ist (so seit Origenes, Scholia in Lucam 17,313,6f., die verbreitete Meinung der Kirchenväter), sondern der Verfasser eine konkrete Person im Blick hat. Man könnte vermuten, Lukas spreche hier einen hochrangigen Freund im römischen Beamtenapparat seiner Zeit an, da in Apg 23,26; 24,2; 26,25 jedes Mal der römische Statthalter als "verehrter" angesprochen wird (ähnlich der Statthalter Vitellius in Josephus, Ant XX 12). Doch das Adjektiv "verehrter" innerhalb eines Vorworts kann auch einfach eine höfliche Anrede sein und wird besonders gern in den Widmungen literarischer Werke verwen-
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det (Josephus, Ap I 1; Diogn I 1; Galenus X 78). Von daher ist "Theophilus" auch auf keinen Fall ein Deckname für einen verborgenen Christen aus dem römischen Kaiserhaus (so B. H. STREETER). Allenfalls kann vermutet werden, dass der Adressat eine Person gehobenen gesellschaftlichen Standes war. Was seinen religiösen Hintergrund betrifft, lassen allerdings weder Attribut (verehrter) noch Name (Theophilus) einen Rückschluss auf einen Juden oder Griechen zu, da wegen des theophoren Elements dieser Name auch unter Diasporajuden gebräuchlich war. In Anbetracht der Tatsache, dass das LkEv keine Privatschrift sein will, ist davon auszugehen, dass der konkrete Theophilus stellvertretend für die Adressaten des LkEv (und der Apg) steht. M. a. W.: Lukas hat sich bei der Abfassung seines Evangeliums einen konkreten Menschen vorgestellt, der - unterrichtet in der Lehre (1,4) - bereits Christ ist, dessen Zutrauen zur christlichen Überlieferung aber angesichts des wachsenden zeitlichen Abstandes zum irdischen Jesus und möglicher gesellschaftlicher Gefährdungen und theologischer Irritationen neu gestärkt werden soll.
2.4.2 Die Gemeinde(n) des Theophilus Wie haben wir uns nun die Gemeinde(n) vorzustellen, innerhalb derer der "verehrte Theophilus" heimisch war? Zunächst bleibt festzuhalten: Als Lukas sein Evangelium schrieb, hatten sich die Christen als eigenständige Größe neben dem Judentum bereits etabliert. Dies spiegelt auch das LkEv wider: die Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. ist bereits Geschichte (Lk 21,20-22; vgl. Lk 13,35; 23,27-31) und wird in Anspielung auf Jes 61,2 und Hos 9,7 als Vergeltung Gottes gegenüber seinem Heilsvolk Israel qualifiziert. Der Verweis auf die Schriftgemäßheit dieser Zerstörung (Lk 21,22b) schlägt die Brücke zur Antrittspredigt Jesu in Nazaret in Lk 4,16-30, wo Jes 61,1f. zitiert worden war und an deren Ende ein Mordversuch an Jesus steht. Durch dieses Verhalten ziehen die Juden Gottes Zorn und Vergeltung auf sich. Für Lukas ist die christliche Gemeinde das wahre Israel, während das Volk der Juden sich selbst durch die Ablehnung Jesu aus der Heilsgeschichte verabschiedet hat. Der Auftrag des Auferstandenen, in Jesu Namen die Buße zur Vergebung der Sünden unter aUen Völkern zu predigen (Lk 24,47), entfaltet die von Jesus selbst in Nazaret angedeutete Richtung (4,25-27) und eröffnet am Ende des LkEv ausdrücklich nicht nur eine universale, sondern auch eine heidenchristliche Perspektive. Diesem Universalismus entspricht auch der Ik Stammbaum Jesu, der bis auf Adam - nicht wie in Mt I auf Abraham - zurückgeführt wird. Von daher kann man mit guten Gründen annehmen, dass bereits das LkEv für eine - zumindest mehrheitlich - heidenchristliche Gemeinde bestimmt war. Dafür spricht auch die oben gemachte Beobachtung, derzufolge Lukas hin und wieder semitische durch griechische Begriffe ersetzt.
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Wie oben bereits festgestellt, bestand ein Anlass filr die Abfassung des LkEv in der Vennittlung des sicheren Grundes der Lehre (1,4). Dieser warso kann man daraus schließen - für Theophilus, und damit für viele Christen, offenbar bedenklich geworden. Tatsächlich können aufgrund mancher Besonderheiten des LkEv die Adressaten noch genauer beschrieben werden: (1) Wie bereits festgestellt, könnte der "verehrte Theophilus" durchaus aufgrund des Attributs einem gehobenen gesellschaftlichen Stand angehören. Dafilr spricht auch die Tatsache, dass die Problematik "Reichtum und Annut" im LkEv eine herausragende Rolle spielt. Bereits im so genannten Magnifikat wird - ähnlich wie in der Beispielerzählung vom reichen Mann und dem annen Lazarus (16,25) - eine Umkehr der Macht- und Besitzverhältnisse angekündigt (1,52f.). In der Feldrede werden materiell Arme, real Hungernde, Weinende und Verfolgte glücklich gepriesen (6,20-23 - anders in Mt 5,3-10); und direkt im Anschluss daran finden sich die Weherufe über die Reichen, Satten, Lachenden und die öffentlich Anerkannten (Lk 6,24-26). Der Ik Jesus warnt die Reichen vor Habgier (12,13-15) und sieht sie in der Gefahr, "keine Frucht" zu bringen und vom Glauben abzufallen (8,14). Wahrscheinlich soll sich gerade an dieser Stelle (8,14) der "verehrte Theophilus" ganz besonders angesprochen filhlen. Tatsächlich scheinen also zur Zeit der Abfassung des LkEv Angesehene und Vennögende zum Kreis der christlichen Gemeinde zu gehören. (2) Ein theologisches Problem der Christen der dritten Generation war das Ausbleiben der Wiederkunft des Herrn (Parusie). Ursprünglich hatte man mit einem schnellen Weitende gerechnet (vgl. noch 1 Thess 4,13-18), in Anbetracht der möglicherweise länger andauernden Weltzeit war die Verschriftung der Jesusüberlieferung notwendig geworden. Dies wird bereits im Proömium angedeutet (Lk 1,4). Deshalb beseitigt Lukas die noch im MkEv spürbare Naherwartung. Schon der Ik Täufer rät seinen Zuhörern nicht einfach bloß zur Taufe angesichts eines möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Gerichts, sondern gibt in der Standespredigt (3,10-14) Tipps, wie man sich in der Zukunft verhalten solle. Er rechnet also damit, dass es wohl noch eine Weile dauern wird. Aber auch die Predigt Jesu ist gegenüber dem MkEv verändert: Die mk Zusammenfassung seiner Verkündigung (Mk 1,15) mit ihrer Ankündigung der unmittelbaren Nähe des Reiches Gottes ist bei Lukas nicht nur ersetzt durch die Antrittspredigt in Nazaret (Lk 4,16-30), sondern sogar implizit kritisiert in dem Jesuswort 21,8. Spekulationen über den bevorstehenden Tennin des Anbruchs des Reiches Gottes wird an anderen Stellen eine deutliche Absage erteilt (17,20f.; vgl. 19,11). Und entsprechend korrigiert Lukas in Lk 9,27 auch die in Mk 9,1 geäußerte Naherwartung. Bei der aus Q übernommenen Parabel von den anvertrauten Pfunden (19,12-27) verhindert schließlich der vorgeschaltete V. 11 eine Interpretation auf einen möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes hin. Die inten-
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dierten Gemeinden haben sich nach Überzeugung des Lukas auf eine noch länger andauernde Zeit in dieser Welt einzurichten. (3) In 12,4-12 fordert Jesus seine "Freunde" (V. 4) zu einem offenen Bekenntnis auf. Zufolge 12,11f. werden sich Christusbekenner sowohl in den Synagogen als auch vor den Herrschenden zu verantworten haben. Und in 6,22 werden diejenigen glücklich gepriesen, die um Jesu willen gehasst, ausgestoßen, geschmäht und verfolgt werden. Dies lässt auf eine nicht ganz einfache Situation der Ik Gemeinde(n) schließen. Von besonderem Interesse ist hier, wie die Rolle der jüdischen Synagogengemeinden aus Ik Sicht eingeschätzt wird. Denn offenbar ging der Anstoß zur Anklageerhebung gegen die Christen in der Regel von der jüdischen Synagoge aus (11,53f.). Der Grund hierfür ist in Distanzierungsbestrebungen von seiten der jüdischen Gemeinden zu sehen, da im Bewusstsein der heidnischen Bevölkerung und ihrer politischen Repräsentanten die Christen zum Bereich des Judentums gerechnet wurden. Die blutige Niederschlagung des jüdischen Aufstandes durch Vespasian und Titus, bei der auch der Tempel im Jahr 70 n. Chr. zerstört worden war, musste aus römischer Sicht nicht bedeuten, dass sich die rebellischen Juden nicht erneut zu einem Aufstand - auch in der Diaspora - hinreißen lassen. Von daher konnten die jüdischen Gemeinden sich gegenüber der römischen Staatsrnacht dadurch als loyal erweisen, indem sie die Anhänger eines Messiasprätendenten als staatsfeindlich denunzierten. Ein weiterer Grund für die Distanzierung der jüdischen Synagogen von den christlichen Gemeinden in der Diaspora war auch die Beeinträchtigung ihrer religiösen Identität. Reklamiert doch die christliche Gemeinde - und das LkEv im Besonderen - die heiligen Schriften des Judentums für sich und interpretiert diese christologisch (vgl. 1,1-2,25; 24,44-47)! Das Verhältnis der Adressatengemeinden zum Judentum ist von daher ein zwiespältiges: Man beruft sich auf den Juden Jesus sowie die Heilige Schrift der Juden, erfährt jedoch gerade von der Synagoge Ablehnung und Ausgrenzung. Von daher dient das LkEv vor allem der Identitätsfindung und -stabilisierung der christlichen Gemeinden.
2.5 Zeit und Ort Das Proömium rechnet mit zwei überlieferungsgeschichtlichen Vorstufen: den Augenzeugenberichten und den darauf basierenden Diegesen der Pragmata (1,lf.), nämlich MkEv und Q. Von daher wird der Evangelist in der Regel als der dritten urchristlichen Generation zugehörig angesehen. Dem entspricht, dass das LkEv zweifellos auf die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. offenbar aus deutlicher zeitlicher Entfernung zurückblickt und sie als Vergeltung qualifiziert (Lk 21,20-24; 13,35). Die christliche Gemeinde hat sich organisatorisch längst vom Judentum gelöst und .ein eigenes heilsgeschichtliches Selbstbewusstsein entwickelt. Die vom Judentum unabhängigen,
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selbstständigen (heiden-)christlichen Gemeinden sind in eine Konkurrenzsituation zu den jeweiligen jüdischen Synagogen vor Ort getreten. Gerade deshalb benötigen sie - zur Selbstvergewisserung - ein Evangelium, das die jüdischen Wurzeln des Christentums deutlich macht und zugleich für die christliche Gemeinde reklamiert. Und genau dies tut das LkEv. Zugleich wird deutlich, dass die christlichen Gemeinden zwar wohl keinen ausdrücklichen Verfolgungen, aber doch Gefährdungen von Seiten der römischen Staatsmacht ausgesetzt sind, wie sie am ehesten in der Regierungszeit Domitians (81-96) denkbar sind. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine Datierung zwischen 80 und 90 n. Chr. Völlig uneins ist sich die Forschung im Hinblick auf den Abfassungsort. Vorgeschlagen wurde die Ägäis ebenso wie Antiochia, Ephesus, Makedonien, Achaia, Cäsarea, Kleinasien oder Rom. Einzig Palästina - und somit wohl auch Cäsarea - kann als Abfassungsort aufgrund der schlechten palästinischen Ortskenntnis ausgeschlossen werden. Da es aber in allen genannten Gebieten um die fragliche Zeit auch jüdische Synagogen - als Gegenüber zur christlichen Gemeinde - gab, ist die Entscheidung für den einen oder anderen Ort sehr hypothetisch und muss zwangsläufig offen gelassen werden.
3. Diskurs 3.1 Die soziale Problematik
Aus der Tatsache, dass im LkEv weitaus mehr Traditionsstoffe überliefert werden, die das Phänomen des Reichtums und der Armut problematisieren, als in den beiden anderen synoptischen Evangelien, wird zu Recht geschlossen, dass es innerhalb der Ik Gemeinde(n) durchaus sozial und materiell hoch stehende Christen gab. Diese sind im Besonderen Adressaten der Botschaft des LkEv.
3.1.1 Das Ideal der Jünger Die Jünger stellt Lukas als besonders vorbildlich in ihrem Umgang mit dem Besitz dar: So fügt er bei den überlieferten Jüngerberufungen stets ein " ... und er verließ alles" in die Markusvorlage ein (5,11.28; vgl. 18,28). Außerdem konstatiert nur Lukas, dass Jüngerschaft zugleich ein Verlassen der Ehefrauen impliziert (14,26; 18,29f.). Dieser freiwillige Verzicht auf Besitz und eheliche Gemeinschaft ist im LkEv konstitutive Voraussetzung für die Nachfolge Jesu als Jünger. Lukas ist dies derart wichtig, dass er dafür sogar eine Dublette in Bezug auf die Aussendungsrede in Kauf nimmt: In beiden Reden an die von Jesus Ausgesandten findet sich das Gebot der Nicht-Ausrüstung (9,3; 10,4). Man kann nicht weniger mitnehmen als das, was Jesus seinen Jüngern hier
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gebietet: keinen Stab, keine Tasche, kein Brot, kein Geld, keine zwei Hemden (9,3) bzw. keinen Geldbeutel, keine Tasche und keine Schuhe (10,4). Damit verzichten die Ausgesandten auf alle Vorsorge und vertrauen dadurch vollständig auf die Fürsorge Gottes. Sie exemplifizieren geradezu das später geäußerte Gebot, sich nicht um das eigene Leben zu sorgen, sondern diese Sorge ganz Gott zu überlassen (12,22-31). Sie, die freiwillig mittellos gewordenen Jünger, sind die Adressaten der Seligpreisungen (6,20-23). Dass diese völlige Besitzlosigkeit das einzig mögliche, der Nachfolge Jesu angemessene Verhalten ist, wird ausdrücklich in dem Jesuswort von 14,33 (Sondergut) festgehalten und illustriert durch die Geschichte von der vergeblichen Berufung des "Oberen" (lipxwv) in 18,18-27. Man könnte vermuten, dass mit diesem Begriff erneut der Adressat Theophilus im Blick ist, zumal Lukas ihn in die Markusvorlage einfügt (Mk 10,17). Reichtum verhindert die Nachfolge Jesu. Die freiwillige Armut der Jesusnachfolger ist kein Selbstzweck, sondern soll zugleich den schicksalhaft Armen zugute kommen: Lk 12,33; 18,22. Nun ist aber diese Forderung, alles zu verkaufen, den Erlös den Armen zu geben und selbst mittellos und predigend durch die Lande zu ziehen, rur die Wenigsten praktikabel. Und vieles spricht dafür, dass dies auch nicht einfach ein direkt in die Gegenwart des Lukas zu übertragender Ratschlag an Theophilus bzw. die intendierte Leserschaft ist. Denn das Gebot der Mittellosigkeit in den Aussendungsreden (9,3; 10,4) wird kurz vor der Gefangennahme Jesu aufgehoben: Wer jetzt noch einen Geldbeutel hat, der soll ein Schwert kaufen; und wer nicht, der solle seinen Mantel verkaufen und sich dafür ebenfalls ein Schwert besorgen (22,35f.). Die Zeit der Entscheidung und v. a. die Zeit der Trennung von Jesus naht für die Jünger. Und genau in dieser Lage befindet sich auch die lk Gemeinde. Jesusnachfolge im strengen Sinn ist den Christen zur Zeit des Lukas nicht mehr möglich, da der Irdische längst in den Himmel aufgefahren ist (24,51). Von daher hat die freiwillige Armut der Jünger bei Lukas den Charakter eines literarischen Ideals (L. SCHOTIROFF/W. STEGEMANN 105). Nur durch die besondere Begegnung mit dem Irdischen kann der völlige Besitzverzicht begründet werden. Diesem Ideal liegt jedoch nicht einfach ein historisches Interesse des Lukas zugrunde, sondern es hat zugleich die Funktion der Kritik an den Reichen innerhalb der lk Leserschaft. Auch wenn völlige Besitzlosigkeit und ein Verlassen der Ehefrauen von den Christen innerhalb der lk Gemeinde nicht gefordert werden kann, so stellt doch die Jüngerexistenz die Frage, inwiefern man selbst an Besitz und Familienbanden hängt und was wirklich wichtig im Leben ist.
3.1.2 Praktikable Ratschläge "Was sollen wir tun?" fragt die zuhörende Menschenmenge schon den Täufer (3,10). Und sie bekommt als Antwort: "Wer zwei Hemden hat, der soll dem geben, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso" (3,11). Dieser Aufruf
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zur Wohltätigkeit wird später von Jesus in der Feldrede noch deutlich unterstrichen (6,30). Wer gibt, soll keinen Dank erhoffen; und wer leiht, soll das Geliehene nicht zurückfordern (6,34f.). Wer reichlich gibt, den wird Gott überreich belohnen (6,38). Das aus Q stammende Wort gegenüber den Pharisäern wird in 11,41 bei Lukas ergänzt durch den Rat, Almosen zu geben. Absolut vorbildlich handelt Zachäus, der gerade nicht seinen ganzen Besitz verkauft, diesen den Armen gibt und mittellos mit Jesus nach Jerusalem zieht. Nein, Zachäus gibt nur die Hälfte seines Besitzes den Armen und entschädigt die von ihm Betrogenen vierfach (19,8). Damit zerstört er seine eigene Lebensgrundlage nicht, sondern verspricht implizit, in Zukunft entsprechend der Forderung des Täufers zu handeln, nämlich nicht mehr zu fordern als das, was ihm zusteht (3,13). Diese Handlungsweise qualifiziert Jesus als Heil, das dem Zachäus widerfahren ist (19,9). Auch die mit Jesus und seinen Jüngern wandernden, wohlhabenden Frauen (8,1-3) werden nicht aufgefordert, ihre Lebensgrundlage zu zerstören und den Besitz zu verkaufen, um diesen den Armen zu geben. Vielmehr ist die finanzielle Unterstützung der mittellosen Jüngerschar um Jesus voll ausreichend (8,3). Generell entspricht die Zuwendung zu den sozial Deklassierten der Botschaft des Irdischen (4,18; 6,20; 7,22). Die Beispielerzählung vom reichen Mann und dem armen Lazarus (16,1931) illustriert die Ik Einstellung zu Besitz und Almosengeben im Besonderen. Ursprünglich will die wohl vor-lk Erzählung 16,19-26 gar nicht ein falsches Verhalten des Reichen darstellen, etwa dass er möglicherweise dem armen Lazarus kein Almosen gegeben habe. Vielmehr geht es in der ursprünglichen Geschichte um die automatische Umwertung des Geschickes nach dem Tod (16,25); d. h. der Reiche wird nicht als schuldig dargestellt, er hat bloß vor dem Tod ein fröhliches, materiell abgesichertes Leben gehabt, während Lazarus vor seinem Tod nur Armut und Krankheit kannte. Mit der Geschichte wird den Armen Aussicht auf einen Ausgleich für das gegenwärtige Elend nach dem Tod eröffnet. Der Ik Fortgang der Erzählung (16,27-31) interpretiert die Lage des Reichen nach seinem Tod als Bestrafung, vor der die noch lebenden fünf Brüder gewarnt werden sollten. Abraham verweist in seiner Antwort auf Mose und die Propheten (V. 29) und meint damit sicher nicht einen freiwilligen völligen Besitzverzicht, sondern die in der Nächstenliebe begründete materielle Unterstützung Bedürftiger (vgl. 10,26-28; 18,20-23). Der Respekt vor der freiwilligen Verzichts leistung der dem irdischen Jesus nachfolgenden bzw. vor Jesus herziehenden (10,1) JUnger und die damit verbundene Freiheit von der Sorge um das Auskommen sowie die Bereitschaft, den Bedürftigen vom eigenen Wohlstand abzugeben, ist die besondere Botschaft des Lukas gegenüber Theophilus und ähnlichen wohlhabenden Christen in der Gemeinde.
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3.2 Das Problem der ausbleibenden Wiederkunft Jesu
Dass Lukas an die Stelle der Zusammenfassung der Predigt Jesu vom unmittelbar bevorstehenden Reich Gottes (Mk 1,15) die Antrittspredigt in Nazaret gestellt hat, ist bereits erwähnt worden. Doch ist dadurch im LkEv der Begriff "Reich Gottes" nicht eliminiert worden, sondern vielmehr signifikant neu interpretiert. Daraufweist bereits die Beobachtung, dass wir nur im LkEv (und in der Apg) den Begriff "Reich Gottes" als Objekt von Verben der Verkündigung finden (Lk 4,43; 8,1; 9,2.60; 16,16). Schlüssel zum Ik Verständnis des Reiches Gottes ist hierbei gleich die erste Belegstelle. Denn zufolge 4,43 muss Jesus "auch in anderen Städten" (d. h. nicht nur in Nazaret und Kafamaum) das Evangelium vom Reich Gottes predigen (euayyeHCew). Dies ist sein Sendungsauftrag. Das heißt aber, dass seine Antrittspredigt in Nazaret (4,1821.23-27) nichts anderes war, als eben eine solche Predigt des Evangeliums vom Reich Gottes (vgl. Mk 1,15). In dieser Predigt wird aber mit den Worten von Jes 61,lf.; 58,6 nichts anderes beschrieben als die im folgenden dargestellten Werke Jesu. Dies bedeutet dann, dass im LkEv das Reich Gottes ganz eng an die Person des irdischen Jesus gebunden wird: "Der Irdische ist dementsprechend ... nicht nur ... Verkündiger, sondern auch Bringer des verheißenen Heils" (M. WOLTER 549f.). Dieser Interpretation entsprechen auch die weiteren Belege. Wenn Jesus durch Gottes Finger die Dämonen austreibt, ist das Reich Gottes da (Lk 11,20). Und die ausgesandten 70/72 Jünger können nur deshalb (scheinbar ähnlich wie im MkEv) die Nähe des Reiches Gottes ankündigen, weil sie von Jesus vorausgesandt wurden und somit im Grunde die Nähe des Irdischen ankündigen. Folgerichtig wird das Reich Gottes mit der Himmelfahrt Jesu zu einer himmlischen Größe. Theophilus, d. h. der Ik Adressat, kann - wie der Schächer am Kreuz - daran nur Anteil bekommen, indem er selbst durch den Tod hindurch zu ihm gelangt (23,42). Die Erwartung der Wiederkunft des Auferstandenen ist damit nicht einfach aufgegeben (12,40; 17,24), vielmehr steht sie und das damit verbundene Kommen des himmlischen Reiches auf die Erde durchaus noch aus (11,2). Deshalb ruft der Irdische die Ik Leser direkt zur Geduld (8,15) und zur Wachsamkeit (12,35f.; 21,34.36) auf. Der Tennin der Wiederkunft bzw. des Anbruchs des Gottesreiches auf der Erde ist aber "unwissbar", denn auch das Eintreten der in 21,911.25-28 beschriebenen Vorzeichen ist nicht vorhersagbar. Zusammenfassend lässt sich sagen: Lukas bindet den Gedanken des Gottesreiches eng an die Person des irdischen bzw. nach der Himmelfahrt himmlischen Jesus. Von daher ist seine Wiederkunft identisch mit dem Aufrichten des Reiches Gottes auf der Erde. Dies geschieht "irgendwann" - allerdings kann dieses "irgendwann" auch schon morgen sein. Deshalb mahnt Lukas seine Adressaten zur Wachsamkeit und Geduld. Zugleich - da die Zeit sich ja durchaus noch hinziehen kann -löst er die Frage nach dem Tennin des Kommens des Reiches Gottes ab durch die Beschreibung seines Wesens (Lk 4, 18f.; 11,20).
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H. CONZELMANN hat in seiner viel beachteten Habilitationsschrift des Jahres 1954 "Die Mitte der Zeit" ausgehend von Lk 16,16 gemeint, drei heilsgeschichtliche Epochen im Ik Doppelwerk unterscheiden zu können, in denen sich Gottes Plan mit den Menschen vollzieht: (I) Die Zeit Israels ist die Zeit des Gesetzes und der Propheten (16,16). (2) Die Zeit Jesu ist die Mitte der Zeit (4,14--22,2); sie ist gekennzeichnet durch die Abwesenheit des Satans (4,\3; 22,3). (3) Die Zeit der Kirche ist die Epoche des Geistes (Apg 2). Es ist das Verdienst CONZELMANNS, auf die heilsgeschichtliche Konzeption des Lukas aufmerksam gemacht zu haben, auch wenn man in der neueren Exegese die CONZELMANNSche zweite und dritte Epoche eher zu einer, nämlich der Zeit der Erfiillung (vgl. Lk 1,1) bzw. der Reich-Gottes-Verkündigung zusammenfasst. Aufgrund der bisher gemachten Beobachtungen lässt sich sagen: Die Zeit des Gesetzes und der Propheten ist für Lukas die Zeit der Ankündigung dessen, was durch Jesus kommen wird. Mit Jesus von Nazaret kommt das Reich Gottes. Wie genau die Zeit der Kirche mit der Zeit des Irdischen zusammenhängt, wird narrativ dann in der Apg entfaltet.
Für die Zeit bis zur Parusie ist man formal auf die Überlieferung der JUnger bzw. Apostel (6,13) angewiesen. Führt sich doch auf ihre Augenzeugenschaft das LkEv selbst zurück! Von daher hat der dritte Evangelist kein Interesse, die Jünger in ungünstigem Licht erscheinen zu lassen. So lässt er die JüngerscheIte (Mk 8,14-21) ebenso aus wie die Bitte der Söhne des Zebedäus um einen Platz an der Seite Jesu in dessen Reich (Mk 10,35-45). Auch Petrus widerspricht bei Lukas der ersten Leidensankündigung nicht und muss deshalb auch von Jesus nicht gemaßregelt werden (Mk 10,32b-33). Und Petrus ist es auch, der Jesus nach dessen Gefangennahme immerhin von ferne folgt (Lk 22,54c), während in der Vorlage Mk 14,50 konstatiert wird, aUe hätten Jesus verlassen und wären geflohen. Diese Korrekturen am Jüngerbild haben ihren Grund darin, dass im LkEv die Jünger Jesu - trotz mancher Fehler, die sie nach wie vor begehen - bereits die kommenden Apostel und Gewährsmänner der Tradition sind. Sie sichern für die Zukunft den historischen Grund der Jesusgeschichte und vermitteln die "Zuverlässigkeit der Lehre" (Lk 1,4). Nicht zufällig ist Petrus - trotz der Erfahrung der Emmausjünger mit dem Auferstandenen (24,13-33) - der erste Empfänger einer Ostervision (24,33f.). Ausgehend von der jüdischen Märtyrertodvorstellung, derzufolge der Verstorbene unmittelbar nach Eintritt des Todes sein Urteil nimmt und entsprechend behandelt wird, findet sich bei Lukas derselbe Gedanke - und auch dies macht rur die Gemeinde das Warten auf die Parusie erträglicher, insofern man nicht (wie noch in 1 Thess 4,18-23 dargesteUt) auf die Wiederkunft zu warten hat. Der Verstorbene wird entweder von den Engeln in Abrahams Schoß getragen oder er wird begraben und kommt in die Hölle (16,22). Auch der reuige Schächer am Kreuz bekommt die entsprechende Zusage: ,,Heute wirst du mit mir im Paradies sein" (23,43).
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3.3 Konflikte mit der römischen Staatsmacht und der jüdischen Synagoge
Im LkEv finden sich einzelne Hinweise, die wohl nicht auf eine Christenverfolgung, aber doch auf eine "Gefährdung" der lk Christen durch staatliche Organe hindeuten (W. STEGEMANN 268). Denn bereits die Tatsache, dass Jesus selbst als Königsprätendent (23,38) hingerichtet wurde, konnte durchaus für seine Anhänger gefährlich werden. Seit dem jüdischen Krieg waren die römischen Kaiser diesbezüglich besonders hellhörig. Die dreimalige Bestätigung der Unschuld Jesu durch Pilatus (23,4.14f.22) und dessen ebenfalls dreimal geäußerte Absicht, Jesus freizulassen (23,16.20.22), lässt auf das Interesse des Lukas schließen, Jesus ausdrücklich nicht als staatsfeindlich darzustellen. Eine besondere Rolle spielen in diesem Geschehen die Juden, die zufolge Lukas die Hauptverantwortlichen für Passion und Kreuz Jesu sind. Hier spiegeln sich die oben ausgeführten Distanzierungsbestrebungen des Judentums gegenüber den christlichen Gemeinden in der Diaspora wieder. Aus Ik Sicht gehen Juden und römische Staatsmacht mitunter eine äußerst bedrohliche Allianz gegen christliche Gemeinden ein - wie die Freundschaft zwischen Herodes und Pilatus (23,12) deutlich macht. Besonders der Aufruf Jesu zum offenen Bekenntnis (12,1-12) zeigt, dass viel für die christliche Gemeinde auf dem Spiel steht. Hierbei kann gezeigt werden: Jesus ist in seinem Verhalten als Vorbild für die Ik Gemeinde dargestellt. Immer wieder - so berichtet Lukas - habe Jesus gebe~et: 3,21; 5,16; 6,12; 9,18.28f.; 11,1. Und auch das letzte Wort Jesu am Kreuz ist ein Gebet und zeugt von der innigen Verbindung zwischen Gott und seinem Sohn (23,46): "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände". Alle diese Stellen gehen auf die Ik Redaktionsarbeit zurück. Darüber hinaus ist das Gleichnis vom Richter und der Witwe (Lk 18,1-8) zufolge V. I als Aufforderung zum anhaltenden Gebet zu verstehen. Vergleicht man Lk 11,13 mit Mt 7,11, so stellt man fest, dass den Bittenden bei Lukas nicht (irdische) Gaben in Aussicht gestellt werden, sondern der Heilige Geist. Dieser ist aber wiederum notwendig, wenn man als Angeklagter vor einem Richter steht (12,12). Schließlich lässt sich die Wirkung des Gebetes auch an Jesus selbst ablesen: Der im Garten Getsemani Furchtsame erfährt nach seinem Gebet auf wunderbare Weise Stärkung durch einen Engel (22,43). Diese Stärkung ermöglicht ihm ein mutiges Auftreten gegenüber seinen Häschern (22,47-53). Ja, im Grunde ist Jesus derjenige, der bei seiner Gefangennahme handelt. Er stellt Judas zur Rede, beschwichtigt seine Jünger (22,Sla) und heilt das Ohr des Hohenpriesterknechtes wieder an (22,51 b). Und folgerichtig bekennt er sich entsprechend seiner eigenen Forderung (12,8-12) - sowohl vor dem Hohen Rat zu seiner Gottessohnschaft (22,70) als auch vor Pilatus zu seinem Königtum (23,3). Am Kreuz hängend bittet er noch für seine Henker (23,34) - ähnlich wie in seiner Nachfolge Stephanus (Apg 7,60). Und der Hauptmann unter dem Kreuz konstatiert angesichts des Todes Jesu nicht dessen Gottessohn-
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schaft (Mk 15,39), sondern dessen Gerechtigkeit (23,47). Damit wird Jesus im LkEv dargestellt als der leidende Gerechte, der erste Märtyrer und damit Vor~ bild rur die Ik Gemeinde. Er ist das beste Beispiel rur ein vorbildliches Ver~ halten gegenüber Synagoge (bzw. Tempel) und römischem Staat. Zugleich ist nach Lukas Jesus weitaus mehr als bloß ein Vorbild: Er ist als genealogischer Sohn Gottes der aus den Schriften geweissagte Messias und Geistträger (1,35; 3,22; 4,1.14.18; 10,21). Die Auferweckung des bereits im Sarg liegenden Jünglings zu Nain (7,11-17) zeigt seine sowohl gegenüber dem MkEv - dieser bietet "lediglich" die Auferweckung der einige Augenblicke zuvor verstorbenen Tochter des Jairus (Mk 5,35-42) - als auch gegenüber dem AT (I Kön 17,23; 2 Kön 4,36) gesteigerte Wunderkraft. Anders als bei Markus (und Matthäus) wird Jesus nicht nur mit "Herr" (KUpLE) angeredet (5,8; 6,46; 7,6; 9,54), sondern auch auf erzählerischer Ebene als "Herr" bezeichnet (22,61). Dieses Wissen um Jesus als Herrn (2,11) der Welt und als Souverän seines eigenen Schicksals korrespondiert der Darstellung Jesu als Vorbild im Leiden, insofern dadurch den immer wieder in ihrer Existenz gefährdeten Ik Christen die Möglichkeit eröffnet wird, ihren Bedrängnissen entgegenzutreten, sich selbst im auferstandenen Herrn gesichert zu wissen und dadurch ihre Angst vor der drohenden Gefahr zu überwinden - so wie Jesus selbst sie überwunden hat. Literatur Kommentare: D. L. BOCK (Baker Exegetical Commentary on the New Testament 3A-B) 1994-1996. F. BOVON (EKK 1II/1-3) 1989-2001. W. ECKEY 2004. H. KLEIN (KEK 1/3) 2006. P.~G. MÜLLER (SKK.NT 3) 51995. J. NOLLAND (Word Biblical Commentary 35A-C) 1989-1993. W. RADL(Lk 1,1-9,50) 2003. W. SCHMITHALS (ZBK 3.1) 1980. G. SCHNEIDER (ÖTBK 3/1-2) 1977. H. SCHÜRMANN (HThK 1II/1-2) 1969-1994. E. SCHWEIZER (NTD 3) 2°1993. Einzelstudien: K. ALAND u. a., Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testaments, Bd. 4/3: Das Lukasevangelium, Berlin 22003 (Teilbd. I: Handschriftenliste und vergleichende Beschreibung. Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 30. Teilbd. 2: Resultate der Kollation und Hauptliste sowie Ergänzungen. Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung 31). L. C. A. ALEXANDER, The Preface to Luke's Gospel. Literary Convention and Social Context in Luke 1.1-4 and Acts 1.1 (MSSNTS 78), Cambridge 1993. A. D. BAUM, Lukas als Historiker der letzten Jesusreise, Wuppertal 1993. R. VON BENDEMANN, Zwischen Doxa und Stauros. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium (BZNW 10 I), Berlin 200 I. S. BIEBERSTEIN, Verschwiegene Jüngerinnen - vergessene Zeuginnen. Gebrochene Konzepte im Lukasevangelium (NTOA 38), Freiburg (CH) 1998. L. BORMANN, Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium (StUNT 24), Göttingen 2001. G. BRAUMANN, Das Mittel der Zeit. Erwägungen zur Theologie des Lukasevangeliums, in: ZNW 54 (1963) 117-145. H. CONZELMANN, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17), Tübingen 71993. M. DIEFENBACH, Die Komposition des Lukasevangeliums unter Berücksichti-
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B. Die vier Evangelien
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B.VII. Das Johannesevangelium (Joachim Kügler)
Das JohEv gibt zwar von jeher Anlass zu theologischen Höhenflügen, aber diese verdanken ihre Schubkraft oft eher der Genialität des Auslegers als der literarischen Qualität des Textes. Beim JohEv handelt es sich um eine Episodenerzählung, die (literaturästhetisch gesehen) nicht zur antiken Hochkultur gehört, sondern eher im Bereich der Populärliteratur anzusiedeln ist.
1. Struktur
1.1 Vorbemerkung Das Evangelium wird in Kommentaren und Einleitungen z. T. sehr unterschiedlich und oft sehr kompliziert gegliedert. Im Unterschied zu modemen Texten fehlen "harte" Gliederungsmittel wie etwa Überschriften, Absätze oder Kapitel. Die Kapitel- und Verseinteilung der Bibel wurde ja erst zwischen dem 13. (Stephan Langton) und dem 16. Jh. (Robert Estienne) eingeführt. Sie ist damit ebenso sekundär wie die Zwischenüberschriften in den modernen Ausgaben! Außerdem handelt es sich beim JohEv nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um einen Erzähltext, der die Lesenden einlädt, dem Erzählfaden linear zu folgen. Für den unten gebotenen Überblick wird deshalb eine Gliederung mit ganz vorsichtiger Hierarchisierung gewählt. Das soll den nonnalen Leseprozess gegenüber dem analytischen Blick traditioneller Exegese stärker berücksichtigen. Als "weiche", narrative Gliederungsmerkmale dienen in Erzählungen normalerweise: Zeit-, Orts-, Personen- oder Themenwechsel und auch Schwankungen im Erzähltempo, also dem Verhältnis zwischen der erzählten Zeit und der Zeit, die das Lesen der betreffenden Textmasse erfordert. Diese Textsignale gliedern aber mit ganz unterschiedlicher Intensität und erlauben oft keine hierarchische Zuordnung. Zwar werden die Perikopen nicht einfach nur aneinandergereiht, sondern durch V or- und Rückverweise narrative und thematische Bögen konstruiert, aber die narrativen Gliederungsmerkmale sind im JohEv besonders "weich": Themenwechsel vollziehen sich oft fließend, Personen können je nach Bedarf ein- oder ausgeblendet werden, und manche Passage wirkt nahezu zeit- und ortlos (vgl. Joh 9,1-10,21), weil die entsprechenden Angaben nachklappen oder fehlen. So verweisen Zeitangaben z. B. auf jüdische Feste: das Laubhüttenfest (Joh 7,2), das Pascha-Fest (2,13; 6,4; 11,55) oder das Tempelweihfest (10,22). Durch solche Angaben erhält das Johannesevangelium ein gewisses Zeitge-
B.VIl. Das Johannesevangelium (Joachim Kügler)
209
rüst. Sie haben aber vor allem eine theologische Funktion, denn sie liefern mit dem Hinweis auf die Feste und ihre theologischen Traditionen einen bestimmten Deutungshintergrund für das Erzählte. Wenn z. B. die gesamte Leidensgeschichte (von 11,55 ab wird das Pascha fünf Mal erwähnt!) vor dem Hintergrund des Paschafestes steht, dann geht es vor allem darum, dass Jesus als das wahre Paschalamm stirbt, und erst in zweiter Linie um eine konkrete Datierung. Wie sehr die theologische Signalwirkung im Vordergrund steht, lässt sich gut an dem "Fest der Juden" zeigen, das in Joh 5, I erwähnt wird: Da nicht genauer gesagt wird, um welches Fest (Wochenfestl"Pfingsten"?) es sich handelt, ist die Angabe keine echte Datierung und trägt zum chronologischen Gerüst eigentlich nichts bei. Es geht eher darum, den Besuch Jerusalems zu motivieren und die Szenerie eines Wallfahrtsfestes aufzurufen: große Öffentlichkeit an zentraler Stätte. Diese Technik der "nichtchronologischen" Datierung ist auch an der Erwähnung des Tempelweihfestes in Joh 10,22 zu sehen. Sie kommt unvermittelt, da die vorherigen Zeitangaben sich am Laubhüttenfest orientieren und nichts andeutet, dass inzwischen viel Zeit vergangen ist. Ein thematischer Einschnitt ist auch nicht markiert, denn die folgende Rede Jesu setzt die Hirtenthematik fort. Vermutlich geht es also auch hier v. a. um theologische Symbolik. Durch diesen Umgang mit den Zeitangaben erhält die Erzählung eine gewisse Aura der Zeitlosigkeit, ohne dass freilich der Bezug zur konkreten Geschichte ganz gekappt würde. Trotzdem müssen Zeitangaben im JohEv als Gliederungssignale ernst genommen werden. Wenn z. B. zwischen der Grablegung Jesu in Joh 19 (Freitag) und den Ostererzählungen (Sonntag) ein ganzer Tag liegt, über pen nichts erzählt wird, dann sind die Ostererzählungen vom Vorhergehenden deutlich abgesetzt, was der unten folgende Gliederungsvorschlag berücksichtigt. Ähnlich souverän geht das Johannesevangelium auch mit den Ortsangaben um. Auch sie haben z. T. eher symbolische Funktion. Wenn z. B. nach der Brotrede in Joh 6 gesagt wird, dass Jesus sie in der Synagoge in Kafarnaum (6,59) gehalten hat, dann geht es weniger darum, die Vorstellungskraft der Lesenden zu lenken oder eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen - dazu bräuchte man ja die Information am Anfang! Ziel ist vielmehr, am Ende noch eine zusätzliche Bedeutungsdimension zu eröffnen, und zwar mittels der Assoziationen, die "Synagoge" aufruft. Ein weiteres, sehr markantes Beispiel rur "symbolische Lokalisierung" ist die (nicht umsonst am Anfang des JohEv platzierte) Tempelreinigung, wo Jesus in Alternative zum gebauten Tempel als leiblicher Tempel dargestellt wird. Jesus selbst ist in Person der Ort der Gegenwart Gottes (2,21), und das schwingt im Folgenden immer mit, wenn der Jerusalemer Tempel erwähnt wird. Johanneische Ortsangaben sind also oft intertextuelle Links, die zusätzliche semantische Potentiale eröffnen.
210
B. Die vier Evangelien
1.2 Gliederungsvorschlag (mit Verweis au/Zeit- und Ortsangaben als Textsignale) Zeit Prolog: Anfang Wesen und Wirken des Logos (Joh 1,1-18) 1. Hauptteil: Öffentliches Wirken (Joh 1,19-12,50) 1,19-51 Zeugnis des Täufers und Jünger(unbestimmter berufung Anfang), tags darauf (1,29.35.43) 2,1-12 Erstes Zeichen in Galiläa: Wein"dritter Tag" wunder bei der Hochzeit zu Kana (2,1) 2,13-3,21 Erster Festbesuch in Jerusalem: Paschafest (2,13) Tempelreinigung - Gespräch mit Nikodemus über die Geburt "aus Wasser und Geist" 3,22-36 Taufen in Judäa und erneutes "danach" (3,22) Zeugnis des Täufers 4,1-42
4,43-54 5,1-47
6,1-71
7,1-8,59
Auf dem Weg nach Galiläa: Gespräch mit der Samariterin (J esus als Christus) Zweites Zeichen in Galiläa: Heilunl!. eines Todkranken Festbesuch in Jerusalem: Gelähmtenheilung, Rede über die Vollmacht des Sohnes und seine Handlungseinheit mit dem Vater In Galiläa kurz vor dem zweiten Pascha: Brotwunder - Sturmstillung - Brotrede ("Ich bin das Brot des Lebens!") - Streitgespräch Konflikt im Jüngerkreis Diskussion mit den Brüdern über den Gang nach Jerusalem Streitgespräche im Tempel Verhaftungsversuche - "Ich bin das Licht der Welt!" - "die Juden" als Kinder des Teufels - Jesus ist vor Abraham
"wieder" (4,3); mittags (4,6) zwei Tage später (4,43) "danach"; Fest (5, I); Sabbat (5,9) vor dem Paschafest (6,4) abends (6,16); am nächsten Tag (6,22)
Ort "bei Gott"
Betanien,Ostjordanland (1,28) Kana in Galiläa (2,1) Jerusalem (2,13)
Judäa (2,22); Änon bei Salim (2,23) Brunnen bei Sychar, Samarien (4,5) Galiläa (4,43); Kana(4,46) Jerusalem: Teich Betesda (5,2) See von Tiberias: Ostufer (6,1); auf dem See (6,17) Kafarnaum: Synagoge (6,59) Galiläa (7,1 ); Jerusalem: Tempel (7,14)
"danach" (7,1); vor dem Laubhüttenfest (7,2); zweite Hälfte der Festwoche (7,14); letzter Festtag (7,37); "wieder" (8,12.21 [Die Episode über die Ehebrecherin (7,53-8,11) mit ihrem berühmten" Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein ... " gehört nicht zum ursprünglichen Text des JohEv. Die besten Handschriften kennen die Perikope nicht. Wo sie enthalten ist, steht
211
B.VII. Das Johannesevangelium (Joachim Kügler)
sie meist nach Joh 7,52, bisweilen aber auch nach 7,36 oder 21,24. Man findet sie vereinzelt sogar in das LkEv (nach Lk 21,38) eingebaut.] 9,1-10,42
1\,1-54
11,55-57
Blindenheilung - Konflikt mit den Pharisäern Hirtenrede: "Ich bin die Tür!"; "Ich bin der gute Hirt!"; "Ich und der Vater sind eins!" Verhaftungsversuch - Rückzug Jesu Auferweckung des Lazarus ("Ich bin die Auferstehung und das Leben!") - Tötungsbeschluss Rückzug Jesu Juden versammeln sichlHaftbefehl
Sabbat (9,14)
Winter: Tempelweihfest (10,22)
vor dem Pascha (11,55) 12,1-11 Mahl bei Lazarus mit Salbung Jesu sechs Tage vor dem Paschafest (12,1) 12,12-50 Königlicher Einzug in Jerusalem funfTage vor Letzter Entscheidungsruf Jesu dem Pascha negatives Resümee des Wirkens Jesu (12,12) 2. Hauptteil: Rückkehr zum Vater (13-19) 13,1-30 Abschiedsmahl mit Fußwaschung vor dem Pascha (13,1) der Geliebte Jünger - Judas scheidet aus nachts (13,30) Abschiedsreden 13,31Liebesgebot; "Ich bin der Weg und 14,31 die Wahrheit und das Leben!"; Verheißung des Parakleten "Ich bin der wahre Weinstock!" 15,1-17 Bedrängnis in der Welt - Verhei15,18ßung des Parakleten 16,33 "Hohepriesterliches Gebet": Einheit der Glaubenden mit Sohn 17,1-26 und Vater sowie untereinander 18,1-14 Verhaftung (nachts 13,3018,3) 18,15-27 Verhör durch Hannas - Verleugnung des Petrus 18,2819,16a 19,16b-37
19,38-42
Prozess vor Pilatus (Jesus als "König der Juden") Kreuzigung - Frauen und Geliebter Jünger beim Kreuz - Tod Jesu als Paschalamm Grablegung
frühmorgens (18,28) Rüsttag (19,31)
"danach" (19,38)
beim Tempel? (8,59-9,1) Tempel (10,23) Ostjordanland (10,40)
Betanien bei Jerusalem (11,1) EfraimlWüste (11,54) Jerusalem (11,55) Betanien (12, I)
Jerusalem
(Innenraum)
unterwegs (14,31)
Garten am Kidron (18,1) hohepriesterlieher Palast (18,15) Prätorium (18,28) Golgota(19,17)
Garten (19,41)
212
B. Die vier Evangelien
3. Hauptteil: Die österliche Vollendung der Jesus-Geschichte (20) Erster WochenOstern Maria Magdalena, der Geliebte tag: frühmorJünger und Petrus gens (20,1) 20,19-23 Jesus bei den Jüngern - Geistabends (20,19) empfang 20,24-29 Jesus und Thomas ("Mein Herr und nach acht Tagen mein Gott!") (20,26) 20,30f. Buchschluss I E~i1og: Die gegenwärtig bleibende Bedeutung von Ostern (21) 21,1-14 vergeblicher Fischfang "danach" (21,1) nachts (21,3) der Auferstandene "zum dritten Mal" bei den Jüngern morgens (21,4) 21,15-23 Beauftragung des Petrus - das Bleiben des Geliebten Jüngers 21,24f. Buchschluss II
20,1-18
Grab (20,1)
(Innenraum) "drinnen" (20,26)
See von Tibedas (21,1)
2. Entstehung 2.1 Quellen. Traditionen und Vorst1.~fim des überlieferten Textes
Die Mehrheit der Johannesforschung geht bezüglich der Entstehungsgeschichte des Evangeliums von einem dreistufigen Moden aus: (1) Quellen/Traditionen -+ (2) GrundschriftlEvangelium -+ (3) Endredaktion. R. BULTMANN rechnete damit, dass der überlieferte Text das Produkt einer "Kirchlichen Redaktion" sei, die das in Unordnung geratene Werk des Evangelisten (mit mäßigem Erfolg) restaurieren und zugleich der "großkirchlichen" Theologie anpassen wollte. Der Evangelist, dessen Werk R. BULTMANNS eigentlicher Auslegungsgegenstand ist, war ein genialisch-kühner Theologeeine Mischung aus Martin Luther und Martin Heidegger, wenn man so will -, der rur sein Evangelium auf verschiedene Quellen zurückgriff: die "Zeichenquelle" (eine Sammlung von Wundererzählungen), eine Sammlung von "Offenbarungsreden" und eine Vorlage für die Pass ions- und Ostergeschichten. Während sich die "Offenbarungsreden" in der Forschung nie wirklich durchsetzen konnten, prägte das drei stufige Konzept die Forschung über Jahrzehnte, wie noch am Kommentar von J. BECKER zu sehen ist. Inzwischen aber schlägt das Pendel in die Gegenrichtung aus: Eine synchrone Lektüre des Evangeliums ist in der Forschung jetzt weit verbreitet. Im Extremfall wird auf alle Überlegungen zur Entstehungsgeschichte verzichtet. So liest H. THYEN, HNT 6, 1-5, das JohEv von 1,1-21,25 als einheitliches literarisches Werk. Trotzdem sind Versuche, Vorstufen des Textes zu rekonstruieren, keineswegs ausgestorben. Z. T. setzen sie die Forschungstradition des 19. Jh. mit ihrer Suche nach einem "besseren" Text ungebrochen fort (vgl. F. SIEGERT), z. T. wird eine
B. VII. Das Johannesevangelium (Joachim Kügler)
213
texttheoretisch reflektierte Vorgehensweise gewählt, die den Primat der Synchronie respektiert und Literarkritik als Kohärenz-lKohäsionsprüfung und Quellenkritik als Repertoire-Erforschung versteht (vgl. z. B. die Arbeiten von M. THEOBALD; J. KÜGLER). Die sachliche Berechtigung der literarkritischen Fragestellung liegt trotz aller methodologischen Probleme in der unabweisbaren Erkenntnis, dass das JohEv einerseits eine große Geschlossenheit in Theologie und Sprache (vgl. E. RUCKSTUHLIP. DSCHULNIGG) erkennen lässt, andererseits aber ebenso deutlich Spuren eines längeren Entstehungsprozesses in sich trägt. Selbstverständlich kann man bei einer radikal synchronen Lektüre, wie sie H. THYEN, HNT 6, 6 vollzieht, auf das Eruieren dieses Entstehungsprozesses verzichten, aber das erfolgreiche Ausklammern der diachronen Perspektive bei der Interpretation beantwortet die historischen Fragen, die die Einleitungswissenschaft stellen muss, leider nicht. Das will heißen: Nur weil man das JohEv als geniales literarisches Spiel mit synoptischen Motiven interpretieren kann, muss es noch lange nicht ein einheitliches literarisches Werk sein, das in einem Wurf entstanden ist. Es heißt nicht einmal, dass es die Kenntnis der synoptischen Evangelien bei den Lesenden voraussetzt. So wird die zukünftige Johannesexegese, wenn sie sich als kontextuelle Theologie und nicht als zeit- und 01110ses Interpretieren entwerfen will, Diachronie und Synchronie in ein reflektiertes Verhältnis zueinander setzen müssen, worum man sich auch schon seit längerem bemüht.
2.1.1 Endredaktion - von-edaktionelles Evangelium Auch dort, wo eine synchrone Herangehensweise dominiert, hemcht weitestgehend Konsens, dass es sich bei Joh 21 um eine redaktionelle Ergänzung handelt (vgl. U. SCHNELLE; K. WENGST, ThKNT 411-2; U. WILCKENS). Ist aber die Existenz einer redaktionellen Bearbeitung erst einmal anerkannt, muss die Frage nach weiteren redaktionellen Textanteilen ernsthaft gestellt werden. So werden denn auch die refrainartigen Hinweise auf die zukünftige Totenerweckung in der Brotrede (Joh 6,39.40.44.54) oft als redaktionell eingestuft. Die Texte über den "Jünger, den Jesus liebte", gelten ebenfalls als teilweise (R. BULTMANN) oder insgesamt (vgl. E. HAENCHEN 601--605 u. ö.; J. KÜGLER, Jünger; M. THEOBALD, Jünger) redaktionell. Ein gewisses Problem stellen die Abschiedsreden Joh 15-17 dar. Sie gelten seit J. WELLHAUSEN - wegen der Entsprechung von 14,31 ("gehen wir fort") und 18, I ("ging Jesus hinaus") - zwar auch als redaktionelle Einfügung, zeigen aber keineswegs durchgängig redaktionelles Profil, wie umgekehrt die Arbeit der joh Redaktion auch schon in 13,31-14,31 erkennbar ist. Jedenfalls ist der Anteil der Texte, die mit mehr oder weniger starken Argumenten einer Endredaktion zugeschrieben werden, zwischenzeitlich so angestiegen, dass H. THYEN - vor seiner Hinwendung zur radikalen Synchronie -
214
B. Die vier Evangelien
die Endredaktion und nicht den Verfasser einer vermuteten Vorstufe des JohEv als "Evangelist" bezeichnen wollte. Dieser Sprachgebrauch wäre an sich konsequent, vor allem wenn man bedenkt, dass keine Rekonstruktion des vorredaktionellen JohEv allgemeine Zustimmung gefunden hat, aber er hat sich in der Forschung doch nicht durchsetzen können, weil der Anteil der joh Redaktion am Gesamttext eben weiterhin ganz unterschiedlich eingeschätzt wird. Das hängt auch damit zusammen, dass das theologische und kirchenpolitische Profil von "Evangelist" und joh Redaktion sehr verschieden bestimmt wird (-+ 3.).
2.1.2 Quellen Was die Quellen des JohEv angeht, so ist erkennbar, dass dem Prolog ein liedartiger Text zugrunde liegt, der aus einem hellenistisch-judenchristlichen Milieu stammt (vgl. z. B. H. MERKLEIN) und durch die Täufer-Passagen mit der Jesus-Geschichte im Hauptteil des JohEv narrativ verzahnt wurde. Wenn die Fleischwerdungsaussage Joh 1,14 als redaktionell eingestuft wird, dann ist hier ein dreistufiger Entstehungsprozess zu erkennen, der auch im weiteren Text vorliegen könnte. Dem vorredaktionellen Evangelium dürften jedenfalls Wundererzählungen vorgelegen haben, die unter der spezifisch joh Sicht als "Semeia" (Zeichen) neu erzählt wurden. Dass aber eine geschlossene ,,zeichenquelle" oder gar ein "Zeichenevangelium" (vgl. R. T. FORTNA) existierte, ist damit allerdings noch nicht ausgemacht. Angesichts der Probleme, die schon bei der Unterscheidung von joh Redaktion und vorredaktionellem Evangelium auftreten, ist eine sichere Rekonstruktion solcher Quellen, die auf breite Zustimmung stoßen könnte, ohnehin unwahrscheinlich. Ein weiterer Bereich, in dem Quellenbenutzung zu vermuten ist, ist der Passionsbericht (A. DAUER). Aber auch hier ist die Rekonstruierbarkeit einer Quelle problematisch, ohne dass man deshalb ihre Existenz bestreiten müsste. Generell ist festzuhalten, dass zwar hinsichtlich der Rekonstruktion von Quellen große, bisher ungelöste Probleme bestehen, dass aber die Existenz von Quellen nur selten in Frage gestellt wird. Die Forschungsmehrheit geht daher von einem dreistufigen Entstehungsmodell aus: Quellen - vorredaktionelles Evangelium - Schlussredaktion.
2.1.3 Beziehung zu den synoptischen Evangelien Lange dominierte die These, das JohEv sei von den synoptischen Evangelien weitgehend unabhängig, die exegetische Szene. In den letzten Jahrzehnten ist hier eine Gegenbewegung festzustellen, bis hin zu der These, das JohEv sei als intertextuelles Spiel mit den synoptischen Evangelien (als seinen Prätexten) zu verstehen (so H. THYEN, HNT 6, 4 u. ö.). Das würde bedeuten, dass der Ver-
B.VII. Das Johannesevangelium (Joachim Kügler)
215
fasser nicht nur die anderen Evangelien in ihrer Endfassung gekannt hätte, sondern diese Kenntnis auch bei den Lesenden voraussetzte. Zwischen beiden Extremen werden allerdings meist Zwischenlösungen vertreten. Dabei ist zu beachten, dass das JohEv auch ohne Kenntnis der synoptischen Tradition verständlich ist und ohne entsprechende intertextuelle Ausflüge "funktioniert". Ohne Kenntnis des AT ist das JohEv nicht verständlich, ohne Kenntnis der synoptischen Evangelien sehr wohl. Und ein direkter Rückverweis auf die Synoptiker ist im Text nicht nachweisbar, weder in positiver Absicht (Begründung des Vier-Evangelien-Kanons) noch in negativer (KorrekturNerdrängung). Vielmehr bildet das sprachliche und theologische Eigengut des joh Christentums den entscheidenden Bezugsrahmen rur die Lektüre des JohEv (vgl. S. SCHREIBER 23f.). Ist damit die Bedeutung der Frage nach den Beziehungen zu den synoptischen Evangelien deutlich reduziert, so kann doch versuchsweise ein Modell erarbeitet werden. Wenn man einen längeren Entstehungsprozess des JohEv annimmt, dann kann und muss auch das Modell rur die Beziehungen zum synoptischen Bereich entsprechend differenziert ausgestaltet werden. Zum einen gibt es deutliche Hinweise darauf, dass auf der Ebene der Endredaktion die Kenntnis eines oder mehrerer synoptischer Evangelien in ihrer Endgestalt vorlag - ohne dass freilich diese Kenntnis auch bei den Lesenden vorausgesetzt würde. Zum anderen ist eine traditionsgeschichtliche Verbindung zwischen der vorredaktionellen joh Tradition mit der synoptischen Überlieferung höchst wahrscheinlich. So ist in der weiteren Forschung mit beidem zu rechnen: mit traditionsgeschichtlicher Verwandtschaft zur synoptischen Überlieferung und mit literarischer Kenntnis von synoptischen Evangelien (vgl.l. DUNDERBERG 190-192).
2.2 Gattungsfragen
Gewöhnlich wird das JohEv mit den synoptischen Evangelien der Gattung "Evangelium" zugeordnet, die zur Großgattung der antiken Idealbiographie gehört. Allerdings wird seit einiger Zeit auch die Einordnung als Drama diskutiert (L. SCHENKE), und zwar als Lesedrama, das nicht rur die Bühne gedacht war, sondern zum Vor- oder Selbstlesen. Vor allem wegen des hohen Textanteils in wörtlicher Rede hat dieser Vorschlag einiges rur sich. Andererseits sprechen bestimmte Indizien (z. B. nachgestellte Ortsangaben) gegen diese Gattungszuweisung, und außerdem funktioniert das JohEv gut als epischer Text. Die Beobachtung dramatischer Elemente des JohEv macht allerdings darauf aufmerksam, dass das JohEv eine - gegenüber den synoptischen Evangelien - eigenständige Ausprägung der Evangelienform ist. Das hat hohe Relevanz rur die Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass im joh Bereich ohne Kenntnis der synoptischen Evangelien die Gattung "Evangelium" ein zweites Mal erfunden worden ist. Je höher man die Bedeutung der antiken Großgattung "Biographie" einschätzt und je mehr man die Besonderheit des JohEv
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B. Die vier Evangelien
innerhalb dieser Großgattung betont, desto weniger Beweiskraft hat die Skepsis gegenüber einem zweiten, vom MkEv (und den anderen synoptischen Evangelien) zunächst unabhängigen Übergang zur Evangelienform.
2.3 Verfasser Als einziges der ntl Evangelien macht das JohEv explizite Angaben über seinen Autor. In Joh 21,24 wird der "Jünger, den Jesus liebte" zum Zeugen und Verfasser erklärt. Eine Gruppe ("wir wissen" in V. 24 ist vermutlich ein echter Plural, kein schriftstellerischer), für die wiederum eine Einzelperson ("ich meine", V. 25) spricht, bestätigt das Zeugnis dieses Jüngers. Diese Verfasserschaftsangabe erleichtert aber die Frage nach dem Autor nur scheinbar. Die Versuche, die Anonymität des "geliebten Jüngers" zu lüften, sind zahllos und erfolglos. Die frühe Kirche hat (ab etwa 180 n. Chr.) auf Johannes, Sohn des Zebedäus, Bruder des Jakobus (Mk 1,19) und Mitglied im Zwölferkreis (Mk 3,17), getippt (vgl. dazu ausführlich E. "HAENCHEN 2-21). Auch wenn die altkirchliche These neuerdings wieder auflebt (vgl. W. FENSKE), so spricht doch die Distanz des JohEv zur Botschaft des historischen Jesus entschieden dagegen, dass das Evangelium von einem direkten Jünger Jesu velfasst worden sein könnte. Gewöhnlich wird deshalb angenommen, dass es sich bei 21,24 um einen Fall von Verfasserschaftsfiktion (Pseudepigraphie) handelt. Die Texte über den "geliebten Jünger" werden dann so verstanden, dass es sich um das literarische Idealbild einer Gestalt handelt, die in der Geschichte des joh Christentums eine wichtige Rolle spielte und in die Zeit Jesu rückdatiert wurde (M. THEOBALD, Jünger). Ob es sich dabei um eine bekannte EinzeIgestalt handelte oder um die erzählerisch-personifizierende Verdichtung des (anonymen) apostolischen Uranfangs des joh Christentums (1. KÜGLER, Liebe des Sohnes 218-222), bleibt noch zu klären. Neuerdings variiert H. THYEN, HNT 6, 793-796 u. ö., die Pseudepigraphie-These, indem er die Identifikation des "geliebten Jüngers" mit dem Zebedaiden Johannes als inner/ex/lieh angemessen einstuft: Das JohEv wurde zwar nicht von Johannes verfasst, aber der Autor intendiert die Identifikation mit dem Zebedaiden. Innertextlich ist das wegen Joh 21,2 ("und die des Zebedäus") eine mögliche Interpretation, aber keine zwingende oder auch nur wahrscheinliche. 21,2 erwähnt nämlich auch noch zwei namenlose Jünger. Auch die Figur des anonymen Jüngers in 1,37-40 ist nicht zwingend auf Johannes zu deuten. Selbst wenn sie direkt von den synoptischen Evangelien her interpretiert wird, kann sie auf Johannes oder Jakobus gedeutet werden. Vermutlich ist aber kein direkter Bezug auf einen der beiden Zebedäus-Söhne intendiert, sondern es soll nur den Raum fiir die spätere Einfiihrung des "geliebten Jüngers" als eines Zeugen, der "von Anfang an" dabei war, geschaffen werden. Klar ist, dass dem JohEv durch die Verfasserschaftsangabe höchste und endgUltige Autorität verliehen werden soll: Christus selbst will, dass der Jünger bis zum Ende der Welt in seinem Zeugnis (dem JohEv) "bleibt" (21,22 f.). Ist im Prolog davon die Rede, dass das Wort Fleisch geworden ist, so ist am Ende
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des Evangeliums der GJ als Zeuge des inkarnierten Logos ganz Wort geworden. Der reale Autor der redaktionellen Endfassung des JohEv war vermutlich Teil einer Gruppe, die im joh Gemeindeverbund die Funktion hatte, die joh Eigentradition zu bewahren und weiterzufiihren. In der Forschung wird in diesem Zusammenhang meist von der ,joh Schule" gesprochen, doch sollte man sich den lnstitutionalisierungsgrad dieser Gruppe vielleicht doch nicht zu hoch vorstellen (vgl. C. CEBUU). Angesichts der Unwägbarkeiten bei der Rekonstruktion eines vorredaktionellen Textes sollte man mit Aussagen über den Autor (die Autorin?) solcher Vorstufen des heutigen Textes vorsichtig sein. Angesichts der sprachlichen und theologischen Geschlossenheit des JohEv verbietet es sich jedoch, eine allzu große Distanz zwischen den verschiedenen Stufen der Textentstehung anzusetzen. Die scharfe Gegenüberstellung von joh Tradition und "kirchlicher" Redaktion muss als überholt geIten. Es geht bei der Entstehung des JohEv eher um einen innerjohanneischen Prozess der aktualisierenden Relecture der eigenen Tradition unter veränderten Rahmenbedingungen.
2.4 Adressaten Gewöhnlich geht die Forschung von einer joh Gemeinde (oder Gemeindegruppe) aus, die zumindest zeitweise ein gewisses Sonderleben abseits des synoptischen Überlieferungsstroms gefiihrt hat. Die Heidenmission wird im Text (vgl. 11,52) vorausgesetzt. Die deutliche Distanz zum Judentum und die Erklärung jüdischer Begriffe und Gebräuche machen außerdem deutlich, dass eine vorwiegend heidenchristliche Leserschaft angesprochen werden soll. Andererseits ist die Beziehung zum AT und zu hellenistisch-jüdischen Konzepten (etwa in den christologischen Metaphern) so eng, dass der Ursprung des joh Christentums mit Sicherheit in einem (evtl. hellenistisch geprägten) Judentum zu suchen ist. Die heftige Abgrenzung von "den Juden" bzw. "Pharisäern" als Gegnern Jesu deutet Konflikte mit einem pharisäisch geprägten Judentum an. Allerdings gibt der Text auch zu erkennen, dass es sich hier eher um einen Konflikt in der Vergangenheit handelt als um ein rezentes Problem. Was die Lokalisierung des Adressatenkreises angeht, so wurde zum einen vorgeschlagen, diesen im nördlichen Ostjordanraum ("Gaulanitis und Batanäa") zu suchen (K. WENGST, Verherrlichter Christus; zur Kritik vgl. J. KÜGLER, Johannesevangelium), andererseits steht aufgrund der altkirchlichen Tradition Ephesus in Kleinasien zur Debatte. Nimmt man (wie oben vorgeschlagen) einen mehrstufigen Prozess der Textentstehung (Quellen - vorredaktionelles Evangelium - Endredaktion) an, dann kann die Lokalisierung gewechselt haben, wobei man nicht unbedingt mit einer Wanderung der gesamten joh Gruppe rechnen muss. Es ist ebenso möglich, dass wir es nur mit der Mobilität eines relativ kleinen Kreises von Traditionsträgern zu tun haben.
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Noch gut erkennbar ist der Umstand, dass das joh Christentum in einer bestimmten Phase seiner Geschichte in einer jüdisch dominierten Umwelt lebte, die der joh Gruppe feindlich gegenüberstand und ihr Ausscheiden aus der lokalen Synagoge betrieben hat. Solche Verhältnisse konnten aber in jeder größeren Stadt mit einer gewissen jüdischen Selbstverwaltung gegeben sein, was eine präzise Lokalisierung sehr spekulativ erscheinen lässt. Auffällig ist auch das joh Interesse an Samarien und am Ostjordanland. Ehrlicherweise wird man aber zugeben müssen, dass die Forschung von einer konsensfahigen Lokalisierung noch sehr weit entfernt ist. Das ist auch nicht überraschend, wenn man sich klarmacht, dass ein Erzähltext, der die Geschichte Jesu so erzählt, dass sie für das Leben der Lesenden erhellend wirkt, zum einen nur indirekte Hinweise auf die externen historischen Verhältnisse geben und zum anderen vergangene Ereignisse dieser textexternen Geschichte als Paradigma für spätere Erfahrungen aufbereiten kann. So besteht z. B. eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Erfahrung Jesu mit "den Juden" zunächst im Hinblick auf die Erfahrungen mit einer jüdisch dominierten feindlichen Umwelt ausgewertet und dann in einem zweiten Schritt mit Judas, dem "Auslieferer", verbunden und für innerchristliche Konflikte transparent gemacht wird. Solche Relecture-Prozesse verkomplizieren das Problem der Rückfrage nach den historischen Rahmenbedingungen erheblich und lassen sich selten genau analysieren. Vermutlich kommt man also aufgrund der engen Grenzen, die das JohEv als narrativ-fiktionaler Text jeder historischen Fragestellung setzt, niemals über das Aufzeigen plausibler Möglichkeiten für eine Verortung des Evangeliums hinaus.
2.5 Zeitliche Einordnung Wenn auf der Ebene der Endredaktion die Kenntnis der synoptischen Evangelien anzusetzen ist und diese nicht vor 70 (Mk) bis 90 (MtlLk) n. Chr. in ihrer Endgestalt vorlagen, dann ist das JohEv an das Ende des 1. Jh. zu rücken. Das Argument, die "hohe Christologie" des JohEv sei erst spät im 2. Jh. denkbar, ist nicht länger überzeugend, denn zum einen findet sich Präexistenz-Christologie schon in der vor-pln Tradition (vgl. den Hymnus in Phil2), und zum anderen finden sich jüdische Aussagen über Mose und den Logos als (abbildhafter) "Gott" schon beim Jesus-Zeitgenossen Philo (vgl. dazu 1. KÜGLER, König 157-160). So kann die "hohe Christologie" des JohEv eine sehr späte Datierung nicht wirklich begründen. Die Aussagen über den Synagogenausschluss von Christus-Gläubigen (loh 9,22; 12,42; 16,2) helfen auch nicht zur Datierung, da die fragmentarischen Kenntnisse über die jüdische Orthodoxiebildung nach 70 n. Chr. keine Aussagen über regionale Detailvorgänge zulassen. Allerdings macht die Feststellung, dass das JohEv zumindest in seiner Endfassung schon auf einen Konflikt mit einem pharisäisch dominierten Judentum zurückblickt, die Trennung von
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der örtlichen Synagoge als Faktum voraussetzt und mit einem mehrheitlich heidenchristIichen Publikum rechnet, zumindest eine radikale Frühdatierung der Endfassung unwahrscheinlich. Bezüglich der Datierung des joh Konflikts mit dem lokalen Judentum wird man redlicherweise zugeben müssen, dass wir über regionale Besonderheiten nicht viel sagen können. Immerhin konnten Judenchristen schon in den 30er Jahren punktuell von jüdischen Eiferern (wie z. B. vom Pharisäer Paulus) mit Unterstützung bestimmter jüdischer Autoritäten verfolgt werden. Auch der Handschriftenbefund lässt eine genauere Datierung nicht zu. Der älteste Papyrus (p S2 ) stammt aus Ägypten und wird in die erste Hälfte des 2. Jh. datiert. Selbst die Annahme, dass das JohEv nicht in Ägypten entstanden ist, hilft nicht, die Datierung zu präzisieren. Da Texte nämlich keine Füße haben, kann niemand berechnen, wie lange sie brauchen, um sich (von wo aus auch immer) bis nach Ägypten auszubreiten. p 52 setzt also nur den Terminus ante quem. Eine vorredaktionelle Textform allerdings könnte ohne weiteres schon parallel zum MkEv - oder noch früher? - entstanden sein. Da es allerdings in den Handschriften keinen Beleg rur eine vorredaktionelle Textform gibt, ist nicht anzunehmen, dass zwischen dieser und der Endfassung viel Zeit verstrich. Wenn ntl Texte keinen Übergabepunkt, sondern eine Übergabezone hatten und also Übergeben ("Veröffentlichung"), Abschreiben ("Textpflege") und Aktualisieren ("Redaktion") eines Textes in der frühesten Phase z. T. ineinander übergingen, dann ist eher anzunehmen, dass die beiden Textformen aufeinander folgten, bevor die vorredaktionelle Form sich über den joh Kreis hinaus verbreitet hatte. Allerdings dokumentieren die frühesten Handschriften immer nur Fragmente des Textes und erlauben so kein wirklich fundiertes Urteil über die Fassung des Gesamttextes.
So bleibt es dabei: Spätestens um 150 n. Chr. (und frühestens kurz nach den synoptischen Evangelien) war das JohEv in seiner redaktionellen Endfassung fertig. Das ist flir antike Texte eine relativ präzise Datierung, mit der man nicht allzu unzufrieden sein sollte.
3. Diskurs
3.1 .. Hohe Christologie" Der wesentliche Inhalt des JohEv ist Jesus Christus selbst. Darin unterscheidet sich das JohEv am deutlichsten von den synoptischen Evangelien, wo im Zentrum der Botschaft Jesu die Königsherrschaft (ßacrW:ia) Gottes steht. Die zwei Perspektiven, unter denen das JohEv auf Jesus blickt, sind die des jüdischen Monotheismus und die der Präexistenz-Christologie. Versöhnt werden beide Perspektiven durch eine Vater-Sohn-Relation: Jesus, der inkarnierte Logos, ist als Sohn das Abbild des Vaters. Der Sohn ist dem Vater gleich, auch wenn der Vater immer größer ist als der Sohn. Der Vater ist im Sohn als seinem Gesandten präsent: Wer Jesus sieht, sieht den Vater, der ihn gesandt
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hat. So werden die Einzigkeit Gottes und die (abbildhafte) Gott-Gleichheit Jesu verbunden. Dass die joh Theologie von dieser Lösung überzeugt sein konnte, liegt an den im hellenistisch-jüdischen Kontext möglichen AbbildSpekulationen, welche atl Weisheitstheologie mit dem platonistisch-stoischen Logos-Denken verschmelzen. Ein Beispiel für eine solche philosophisch geprägte jüdische Theologie, die v. a. die Transzendenz Gottes betont, ist Philo von Alexandrien (in etwa ein Zeitgenosse Jesu). Man wird heute keine "Abhängigkeit" des JohEv von Philos Schriften mehr behaupten wollen, denn allein schon das schlichte Griechisch, in dem das JohEv überwiegend geschrieben ist und das bisweilen im Gegensatz zum Niveau des gedanklichen Gehalts steht, zeigt sehr deutlich, dass wir es beim JohEv mit einem anderen gesellschaftlichen Milieu zu tun haben als beim gebildeten Oberschichtjuden Philo. Trotzdem liegt es nahe, gemeinsame religiöse Denkmuster zu vermuten. Die joh Christologie verwendet nämlich viele soteriologische Metaphern, die aus der SophialLogos-Theologie bekannt waren. Die Heilsbedeutung Jesu wird in diesen Bildern, die einem hellenistisch-jüdischen Adressatenkreis vertraut waren, nicht nur veranschaulicht, sondern auch plausibel gemacht. Den Adressaten muss offenkundig nicht erklärt werden, was "Licht der Welt", "Brot des Lebens", der "Gute Hirte", der "wahre Weinstock", das "PaschaLamm" usw. bedeuten. Die neue Aussage ist, dass Jesus als inkarnierter Logos das alles ist bzw. gibt.
3.2 Der Jesus-Glaube als Quelle des Heils
Entsprechend der gegenwartsorientierten Soteriologie, die für die hellenistisch-jüdische SophiaILogos-Theologie typisch ist, transformiert das JohEv die eschatologische Tradition des frühen Christentums. Deshalb formuliert das vorredaktionelle Evangelium als seine pragmatische Intention, einen Glauben an Jesus als Christus und Gottessohn zu wecken bzw. zu stärken, in dem die Lesenden "Leben" haben (Joh 20,31). In der Verbindung von Glauben und Lebensbesitz werden eschatologische Begriffe und Verheißungen auf die Gegenwart der Glaubensentscheidung hin fokussiert, worin auch R. BULTMANNs Existential-Theologie ihr bleibendes Fundament im Text hat. Im Jetzt des Glaubens ist die Zeit des Heils und im Jetzt des Unglaubens die Stunde des Gerichts: Wer glaubt, hat das ewige Leben, wer nicht glaubt, ist gerichtet (vgl. Joh 3,15-19.36; 4,14; 5,24-26; 6,40.47; 11,25f.; 12,31). Zwar darf man weder rur die vorredaktionelle Eschatologie eine Leugnung der futurischen Perspektive noch fiir die joh Redaktion eine Leugnung des Gegenwartsaspekts behaupten (so zu Recht J. FREY III, 464-481), aber die unterschiedlichen Akzentsetzungen sind wohl zu unterscheiden: Ist der präsentische Akzent kennzeichnend für die vorredaktionelle Soteriologie, so betont die joh Redaktion wieder stärker die Zukunftsdimension, ohne die Präsenz-Aussagen zu verdrängen (- 3.5). Insgesamt kommt die joh Soteriologie durch diese doppelte
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Denkbewegung - vom Eschaton zur Gegenwart und wieder zurück - zu einer spannungsvollen Synthese, die eine hohe theologische Herausforderung darstellt und alle Probleme und Chancen christlicher Heilsaussagen (von Jesus über Paulus bis heute) in sich birgt. Eine präsentisch akzentuierte Soteriologie ist genötigt, die Heilsgüter zu vergeistigen, wenn sie nicht sofort von den harten Fakten der Alltagserfahrung widerlegt werden will. Wenn behauptet wird, dass die Glaubenden nicht mehr dürsten, nicht mehr hungern und nicht sterben (4,14; 6,35; 11,25f.), so kann sich das nicht auf den leiblichen Hunger, Durst oder Tod beziehen, denn davon bleiben die Glaubenden ja gerade nicht verschont. So ist das ewige Leben eben vor allem Geburt/Zeugung "aus Gott" (1,13) oder - weil Gott Geist ist (4,24) - "aus Geist" (3,5f.) und besteht in der Erkenntnis Gottes (17,3), in der Gotteskindschaft (1,12), in der Liebesgemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn (16,27; 17,23.26). Wer an den Sohn glaubt, erhält vom Sohn das, was der Vater dem Sohn geschenkt hat (17,2), und tritt so ein in die Relation, die der Sohn mit dem Vater hat. Die Glaubenden bilden als "Söhne des Lichts" (12,36) eine Gemeinschaft von Kindern Gottes, die den Geist nicht nur passiv empfangen, sondern ihn durch die Vermittlung des Sohnes sogar als Quelle in sich haben (4,14; 7,38). Dass eine solche Gruppe von Geistbegabten keine starken Amtsstrukturen ausbilden muss/kann, verwundert nicht (vgl. H.-J. KLAUCK, Gemeinde).
3.3 Der Konflikt mit .. den Juden"
Vor dem Hintergrund hellenistisch-jüdischer Sophia/Logos-Theologie, die in ihrer Konzentration auf die Transzendenz Gottes immer eine gewisse Weltskepsis in sich trägt, erklärt sich übrigens auch der joh Dualismus, ohne dass man weiter auf die problematische Verbindung zur Gnosis setzen müsste. Die andere, sozio-kulturelle Quelle des joh Dualismus ist vermutlich die Auseinandersetzung mit einer jüdisch dominierten Umwelt, die die joh Christologie nicht als Lösung gesehen hat, sondern als Problem. An mehreren Stellen ist dem JohEv anzumerken, dass das joh Christus bekenntnis auf jüdischer Seite als blasphemischer Verstoß gegen die Einzigkeit Gottes verstanden wurde. Diese Bedenken können kaum aus einem Milieu stammen, das dem des Philo ähnlich ist. Viel wahrscheinlicher musste das joh Christentum sich mit dem Beginn einer pharisäisch geprägten Orthodoxie-Bildung auseinandersetzen, welche die joh Christologie ebenso wenig akzeptieren konnte, wie sie Philos Aussagen über den Logos hätte akzeptieren können. Philo differenziert zwar sehr genau zwischen dem einen und einzigen wahren Gott (= "der Gott") und dem Logos als seinem Abbild (= "Gott" ohne Artikel; Som I 229f.), aber es steht zu vermuten, dass sein Sprachgebrauch in dem Milieu, mit dem sich das JohEv auseinandersetzt, auch Häresieverdacht ausgelöst hätte. Wenn er
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z. B. meint, man dürfe den Logos zwar ,,zweiter Gott" (= untergeordnetes Abbild des Gottes), aber nicht "anderer Gott" (= Konkurrenz zum einen Gott) nennen, dann ist das eine Differenzierung, die sicher für viele jüdische Gruppen zu fein war. Die jüdische "Orthodoxie im Werden", die im JohEv als feindliche "Welt" erkennbar wird, reagierte offensichtlich mit dem Ausschluss der Christgläubigen aus der örtlichen Synagoge. Dieser religionssoziologische Heimatverlust wurde auf joh Seite mit der dualistischen Deutung des Unglaubens verarbeitet. Die Ungläubigen sind "aus Fleisch" Geborene (1,13; 3,6), denen es Gott eben nicht gegeben hat, zu Jesus zu kommen (6,37.44). Umgekehrt offenbaren sich durch den Glauben die "von oben", aus Gott oder aus Geist Geborenen, die Söhne des Lichts. Dass die "ungläubigen" (= nichtchristlichen) Juden bzw. Pharisäer als gottfeindliche "Welt" und "Kinder des Teufels" gedeutet wurden, hat in der Rezeptionsgeschichte katastrophale Folgen gezeitigt. Gegen einen judenfeindlichen oder gar antisemitischen Gebrauch des JohEv ist aber einzuwenden, dass es bei seinen antijüdischen Aussagen noch nicht um den Konflikt zwischen zwei Religionen, sondern zunächst um eine harte innerjüdische Auseinandersetzung ging. Das erklärt auch die Ambivalenz der joh Aussagen über "die Juden". Wie in manchen Qumran-Texten beansprucht die sozial schwächere Gruppe die positiven Aspekte der gemeinsamen Tradition für sich und versucht, die Mehrheitsumgebung ideologisch zu vernichten, um die eigene, bedrohte Identität zu retten: Jesus ist Jude (4,9), "die Schriften", Mose, Abraham und Jesaja zeugen für Jesus (1,45; 5,39.45-47; 8,56; 12,41), und das Heil kommt aus den Juden (4,22). Deshalb sieht das JohEv "die Juden", die nicht an Christus glauben, als Verräter an der eigenen Tradition. Sie sind keine Kinder Abrahams, sondern des Teufels (8,44).
3.4 Das Kreuz als Erhöhung
Ob es eine joh Kreuzestheologie gibt, ist in der Forschung umstritten. Wenn man die pln Deutung des Kreuzes im Rahmen seiner Rechtfertigungslehre als Maßstab nimmt, dann sicher nicht. Wenn man sich von dieser Norm aber frei macht, dann wird erkennbar, dass zumindest eine intensive joh Deutung des Kreuzestodes vorliegt. Diese Deutung hat zwei Dimensionen: Zum einen wird der Kreuzestod als Erhöhung dargestellt. Der Konflikt mit der königlichen Messias-Tradition und dem erniedrigenden Tod Jesu wird in einem klassischen Paradoxon bearbeitet: Gerade in der Niedrigkeit dieses Todes offenbart sich die Hoheit des Sohnes. Dieser Tod ist Erhöhung, weil er die Erfüllung des väterlichen Willens ist und der Sohn sein Leben souverän hingibt und wieder nimmt. Wo die Erhöhung am Kreuz als Heil bringend gedeutet wird (Joh 3,14), wird allerdings nicht auf die atl SUhnetod-Konzeption zurückgegriffen, sondern auf das apotropäische Konzept von Num 21,8 f.,
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freilich in einem allegorischen Verständnis, das auf hellenistisch-jüdischer Exegese beruht (vgl. z. B. Philo, Leg All II 81). Zweitens wird der Kreuzestod als exemplarischer Liebestod verstanden. Aus Liebe sendet Gott seinen Sohn als Retter in die Welt. Da der Sohn dem Vater gleicht, liebt auch er die Seinen. Die Lebenshingabe am Kreuz ist die Vollendung dieser Liebe und sie ist zugleich das Vorbild für die Bruderliebe, die den Jüngern aufgegeben ist. Man darf vermuten, dass dieser zweite Aspekt besonders von der joh Redaktion akzentuiert wurde.
3.5 Binnenchristliche Auseinandersetzungen
Der Konflikt mit "den Juden" kann für die Endfassung des JohEv kein akutes Problem mehr sein. Es gibt nichtjüdische "Kinder Gottes", die Lesenden verstehen vieles nicht mehr und der Erzähler- offenbar kompetent für Jüdisches muss es ihnen erklären. Außerdem gibt es Indizien für eine neue, binnenchristliche Konfliktlinie: Die Mehrheit der "Jünger" hat sich abgewandt (Joh 6,66). Das deutet auf ein innergemeindliches Schisma hin. In dieser veränderten Konfliktlage vollzog sich vermutlich die Endredaktion. Ihre pragmatische Intention dürfte die theologische Bearbeitung des Konflikts und die Stabilisierung der Restgemeinde nach der Gemeindespaltung sein. Entsprechend der christologischen Zentrierung der joh Tradition wird der Konflikt häufig ebenfalls christologisch gedeutet. Bisweilen ist dann die Rede von einer antidoketischen Stoßrichtung (vgl. U. SCHNELLE, dort aber nicht der Endredaktion, sondern dem Evangelisten zugeordnet). Hier ist allerdings Vorsicht geboten, weil der christologische Grundkonflikt mit "den Juden" traditionsgeschichtlich vorgegeben ist und immerhin auch noch die redaktionelle Endfassung doketisch interpretiert werden kann. Das zeigt die Auslegungsgeschichte ganz klar. Die doketische Interpretation des JohEv geht von der Antike bis zu E. KÄSEMANN, der den joh Christus als "über die Erde schreitenden Gott" (22) kritisiert und fragt: "In welchem Sinne ist derjenige Fleisch, der über die Wasser und durch verschlossene Türen geht, seinen Häschern ungreifbar ist, am Brunnen von Samaria, müde und einen Trunk verlangend, gleichwohl nicht zu trinken braucht und eine andere Speise hat als die, rur welche seine Jünger sorgen? Von den Menschen wird er nicht getäuscht, weil er auch ohne Worte ihr unzuverlässiges Inneres kennt. Er disputiert mit ihnen aus der unendlichen Distanz des Himmlischen heraus, hat weder das Zeugnis des Mose noch das des Täufers rur sich nötig, distanziert sich von den Juden, als wären sie nicht sein Volk, und von seiner Mutter als der, welcher ihr Herr ist. Er lässt Lazarus ungerührt vier Tage lang im Grabe liegen, damit das Wunder der Auferweckung größer wird, und geht freiwillig und als Sieger in den eigenen Tod" (22f.). Käsemanns Interpretation mag oft überzogen sein, aber seine Polemik legt unbarmherzig den Finger auf die Wunde jeder antidoketischen Interpretation des JohEv. Gerade weil Käsemann sich auch auf Texte bezieht, die bisweilen der joh Redaktion zugewiesen werden, macht er deutlich, dass die Redaktion keinesfalls alles, was doketisch interpretiert werden kann, abschwächt oder streicht.
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So ist festzuhalten, dass die Korrekturen der Redaktion sich auch in der Christologie finden, ihren Schwerpunkt aber an anderen theologischen Orten haben: • Die gegenwärtige Heilszusage (" ... hat das ewige Leben") wird wieder durch einen Zukunftsaspekt ("... werde ihn auferwecken") ergänzt (Joh 6,39.40.44.54). Das gilt auch für das Gericht (vgl. 5,28f.; 12,48). • Die sakramentale Vermittlung der Lebensgabe/-hingabe (mit ihrer kirchlichen Gemeinschaftsdimension) wird wieder betont. Die joh Redaktion zeigt ein stärkeres Interesse an Taufe und Herrenmahl und verbindet beides mit dem Tod Jesu. • Der soziale Aspekt des Glaubens wird auch mittels des neuenIalten Gebotes der praktischen Liebe (13,34f.; 15,9-13.17) akzentuiert. In diesem Kontext wird der Kreuzestod als paradigmatische Vollendung der Liebe gedeutet. • Die joh Ekklesiologie, die traditionell die Gleichrangigkeit der Glaubenden (als geistgesalbte Kinder Gottes) betont und eine gewisse Distanz zu amtlichen Strukturen zeigt, wird erweitert: Neben den Parakleten, der das Werk Jesu weiterfUhrt, treten - im Sinne eines ekklesiologischen Krisenmanagements - zwei weitere, männliche Nachfolger: Petrus als Hirte und der GJ als Zeuge. Dass gleichzeitig die Bedeutung von Maria Magdalena zurückgestuft wird und ihre Begegnung mit dem Auferstandenen nicht zählt (21,14), könnte darauf hindeuten, dass Frauen in der joh Tradition und in dem von der Redaktion bekämpften Teil der johanneischen Gemeinde eine wichtige Rolle spielten. Das redaktionelle Zurückdrängen von Frauen bei gleichzeitiger Einführung männlich dominierter Strukturen wäre dann in Analogie zum Vorgehen der Pastoral briefe zu sehen: Pseudepigraphisch begründete Männer-Autorität wird benutzt, um Frauen zurückzudrängen.
Verbindet man die Arbeit der joh Redaktion mit den Informationen, die aus 3 Joh zu gewinnen sind, dann dürfte der anonyme "Alte", der den Brief schrieb, ein Vertreter der Zeugenfunktion und Diotrephes ein (problematisches) Beispiel der Leitungsfunktion sein, ohne dass freilich GJ und Petrus ihre direkten Abbilder wären (-+ D.XX.). Oft wird Petrus in diesem Zusammenhang als Repräsentant eines "petrinischen" Christentums gedeutet, dem sich die joh Gruppe zuordnen würde, aber das ist ein vom Text her nicht begTÜndbarer Anachronismus. Weder hat die Beauftragung des Hirten Petrus oberhirtlich-universale Züge, noch gab es zwischen 70 und 150 ein Normchristentum, das er innertextlich symbolisieren könnte. Hier sind noch Reste kontroverstheologischer Klischees zu überwinden, die zu R. BULTMANNs Zeiten (zumindest in der Lebenswelt des Exegeten) noch einen gewissen Realitätsgehalt hatten, heute aber völlig obsolet geworden sind. Auch hat der beliebte "Exotismus" bei der Rekonstruktion des joh Christentums keine sachliche Berechtigung. Die Tatsache, dass das joh Christentum sich evtl. eine Zeit lang unabhängig von der synoptischen Tradition entwickelt hat, bedeutet noch lange nicht, dass wir es hier mit einem "Sonderchristentum" zu tun hätten, das sich gegenüber einer synoptischen "Norm" irgendwie hätte rechtfertigen müssen.
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Wahrscheinlich geht es bei den Figuren Petrus und "geliebter Jünger" noch nicht um Ämter im späteren Sinne. Vielmehr werden die Funktionen der Leitung und des Zeugnisses von Jesus (als der höchsten Autorität) anhand von zwei erzählten Figuren begründet und einander zugeordnet. So sollen die Lesenden diese Funktionen auch außertextlich, also in ihrer Gemeinde, in rechter Weise annehmen und zuordnen können. Eine solche Interpretation würde auch zu den in den Johannesbriefen erkennbaren Konflikten passen. • Die Realität der Menschwerdung, des Heil bringenden Leidens (und sein Vorbildcharakter für die Jünger) sowie die Leiblichkeit der Auferstehung werden unterstrichen. Diese christologischen Akzente sind Teil einer groß angelegten Strategie der "Verleiblichung". Zwar bleibt von der joh Tradition her "Fleisch" als Negativbegriff stehen, daneben tritt aber ein positiver Aspekt: Der "Logos wurde Fleisch" (1,14), und deshalb kann das Fleisch des Menschensohnes ewiges Leben schenken (6,51-56). Wie dialektisch die joh Redaktion mit dem traditionellen Fleisch-Begriff arbeitet, lässt sich gut in 6,63 beobachten: Der joh Slogan "Das Fleisch nützt nichts!" wird zwar zitiert, aber so, dass gerade jene W0\1e Jesu, die von der Heilsbedeutung seines Fleisches und Blutes sprechen, "Geist und Leben" sind. • Die joh Redaktion aktualisiert das alte Feindbild "die Juden" im Hinblick auf die aktuellen Auseinandersetzungen innerhalb der inzwischen überwiegend heidenchristlichen Gemeinde, indem sie es z. B. mit Judas und den weggehenden Jüngern verbindet. In Joh 6,61-71 ist dies ganz deutlich, aber auch an anderen Stellen kann vermutet werden, dass das Motiv der "Juden", die zum Glauben kommen und ihn wieder verlieren (vgl. z. B. 2,23; 8,30f., 11,45; 12,11.42), auf solche aktualisierende Relecture zurückgeht. Das Gesamtbild der joh Redaktion muss nicht zwingend als Reaktion auf eine "doketische" Fehlentwicklung gedeutet werden. Sie ließe sich auch damit erklären, dass den von der joh Redaktion bekämpften Lehren die christologische Basis geraubt werden soll, diese selbst aber eher im soteriologischen Bereich lagen. Wenn man eine enthusiastische Heilslehre ansetzt, welche das labile Gleichgewicht einer präsentischen Akzentuierung der eschatologischen Tradition auflöst, indem sie die joh Kernaussage "Wer glaubt, hat das ewige Leben" radikalisiert und im Sinne hellenistischer Weltverachtung und Leibfeindlichkeit interpretiert, dann genügt das m. E. durchaus, um die meisten theologischen Akzente der joh Redaktion zu erklären. Eine solche Fehlentwicklung ließe sich durch religionssoziologische Umbrüche beim Übergang zu einer mehrheitlich heidenchristlich geprägten Gemeinde in Folge des Bruches mit der jüdischen Heimat gut erklären. Wenn man freilich daran festhalten will, dass die gemeindlichen Fehlentwicklungen auch den Bereich der Christologie erfasst hatten, dann müsste die "Irrlehre" als christologische Konsequenz aus einer spezifisch joh Variante des hellenistisch-christlichen Enthusiasmus verstanden und - in Anlehnung an I Joh - wohl am ehesten als "Trennungschristologie" (K. WENGST, Häresie 15-23) bestimmt werden.
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Aber vennutlich ist auch das schon ein unnötiger Hypothesenaufwand (~
D.xVIII).
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c. Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
1. Struktur Dass Apg und LkEv eng zusammengehören und mit Sicherheit vom gleichen Autor stammen, zeigt bereits das jeweils an Theophilus gerichtete Proömium. Scharnier zwischen bei den Werken ist die in Lk 24,50-53 sowie in Apg 1,911 erzählte Himmelfahrtsgeschichte mit den aus diesem Anlass jeweils gehaltenen Jesusreden (Lk 24,44-49 und Apg 1,7f.). So werden etwa die Behauptung der Schriftgemäßheit von Kreuz und Auferstehung sowie der Predigt der Umkehr zur Vergebung der Sünden unter alIen Völkern (Lk 24,46f.) erst im Laufe der Apg verifiziert (bes. in den Predigten des Petrus in Apg 2 und 3 sowie im Gemeindegebet in 4,24-30). Dies macht bereits deutlich, dass von vornherein das Doppelwerk als Doppelwerk vom Verfasser geplant war. In der Jesusrede von Apg 1,8-1 I wird dann ein gewaltiger Bogen eröffnet: Auf die Frage, ob der Auferstandene das Reich für Israel demnächst wieder aufrichten werde (1,6), antwortet Jesus mit dem Auftrag, Zeugen für ihn zu sein "bis an das Ende der Erde" (1,8). Der Anfang (!) dieses Bogens wird in der Apg im Folgenden erzählt. War im LkEv Jesus der einzige Protagonist gewesen, so wird jetzt - nach dessen Himmelfahrt - die Hauptperson gewechselt. Zunächst ist es Petrus zusammen mit dem Jesusjünger und Zebedäussohn Johannes -, der den Auftrag von Apg 1,8 voranbringt (1-5), ehe auch die Missionstätigkeit anderer Personen (Stephanus, Philippus, Paulus) dargestelIt wird. Obwohl Paulus rein quantitativ den größten Raum in der Apostelgeschichte einnimmt, legt Lukas das theologische Schwergewicht zunächst auf Jerusalem als Ausgangspunkt der Mission. Wichtig ist ihm die dortige Urgemeinde mit den Jesusjüngern Petrus und Johannes sowie mit dem leiblichen Bruder Jesu, Jakobus, als zentralen Figuren. So ist es Petrus, der die Heidenmission theologisch vorbereitet (Apg 10) und später bei dem Zusammentreffen mit Paulus in Jerusalem die gesetzes freie Heidenmission vor den anderen Aposteln begründet (15,7-11). Dem Herrenbruder Jakobus bleibt es in diesem Zusammenhang vorbehalten, hierfür den Schriftbeweis zu führen und das letzte Wort zu haben (15,13-21). Dagegen wirken Paulus und Barnabas wie Befehlsempfanger. AII dies ist vor alIem deshalb interessant, weil Paulus in Gal 2 ein ganz anderes Bild der alIer Wahrscheinlichkeit nach gleichen Versammlung zeichnet. Trotz dieser theologischen Nachordnung des Paulus hinter Petrus spielt Paulus ab Apg 13 die entscheidende erzählerische Rolle. In drei großen Reisen missioniert er weite Teile Kleinasiens und Griechenlands. Schließlich wird er in Jerusalem gefangengenommen und nach jahrelanger Verschleppung seines
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C. Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
Prozesses aufgrund seiner Appellation an den Kaiser nach Rom verbracht. Die Apg endet mit dem Hinweis, Paulus habe zwei Jahre lang in Rom Jesus Christus mit Freimut ungehindert verkündet (28,30f.). Eine Hinrichtung des Paulus wird nicht erzählt, aber offenbar vorausgesetzt (vgl. 20,24f.; 21,13). Dieses Ende hängt mit der Abschiedsrede Jesu in Kap. 1 zusammen. Die Apg ist ja gar nicht in der Lage, den dort eröffneten Bogen (nämlich die Geschichte der Mission bis an das Ende der Erde - 1,8) zu schließen. Sie erzählt die Geschichte von der Mission vom Rand des Weltreiches (Jerusalern) bis ins Zentrum (Rom) und damit allenfalls die erste Hälfte des in 1,8 aufgespannten Bogens. Die zweite Hälfte ist bis heute geöffnet. Durch dieses offene Ende nimmt der Verfasser der Apg seine Leserinnen und Leser in die Geschichte der Mission und der Vermittlung von Sicherheit der Lehre, in der sie unterwiesen sind (Lk 1,4), mit hinein. Sie alle sind Teil dieser Missionsgeschichte bis an das Ende der Erde. Die Gliederung der Apg In der Apg geht es primär um die Ausbreitung der christlichen Botschaft und erst sekundär um das Schicksal einzelner Personen bzw. Missionare. Von daher legt sich - wie bereits im LkEv - eine geographische Gliederung nahe. Die besondere Bedeutung Jerusalems war schon im Evangelium deutlich geworden. Jetzt bildet die ausführliche Darstellung der Himmelfahrt Jesu den Anfang für die kommende Missionsgeschichte. Die Himmelfahrt ist gewissermaßen der Gegenpol zur Geburtsgeschichte (Lk If.): Wenn in Lk If. die Ankunft Jesu auf der Erde beschrieben wurde, geht es in Apg 1,4-12 um seinen Abschied. Jetzt ist der Kern der Jerusalemer Christus bekenner auf sich allein gestellt (1,13f.). Das Pfingstfest (2,1-41) mit seinen "Vorbereitungen" (1,15-26) zeitigt als Folge die erste christliche Gemeinde (1,42-47). Die folgenden Kapitel handeln alle in Jerusalem und stellen - mit Petrus und Johannes, später mit Stephanus als Protagonisten - das Ergehen dieser Gemeinde dar. Für den Verfasser der Apg ist der Lynchmord an Stephanus im Grunde nur ein Beispiel für die einsetzende Verfolgung der Jerusalemer Gemeinde, so dass eine Zerstreuung der Gemeindeglieder zunächst in Judäa und Samaria einsetzt (8,1-3). Die christliche Missionsgeschichte in diesen beiden Landesteilen der römischen Provinz Syrien wird bis 11,18 dargestellt. In dieser Phase geschieht auch sowohl die Berufung des Saulus (Paulus) als auch die theoretische Begründung der später einsetzenden Heidenrnission durch die Erscheinungen des Petrus (10,1-48). Mit 11,18 - einem Vers, der ebenso wie 8,1 auf 1,8 anspielt - wird der Beginn der weltweiten Heidenrnission erzählt. Hier taucht auch erstmals die Bezeichnung "Christianoi" - Christianer, Christen für die Gemeinde (in Antiochia) auf (11,26). Damit hat sich die neue Gemeinschaft lokal und organisatorisch vom Judentum gelöst und als eigenständige Größe etabliert. In dieser Phase werden die drei Missionsreisen des Paulus, das Jerusalemer Treffen mit Jakobus, Petrus und Johannes sowie die Gefangennahme und der Prozess des
C Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
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Paulus erzählt, der mit seiner ÜbersteIlung nach Rom endet. Hier predigt Paulus zwei Jahre lang das Reich Gottes und lehrt von Jesus Christus mit allem Freimut "ungehindert" (aKwÄlJt(uC; - dies ist auch im griechischen Text das letzte Wort der Apg). Das offene Ende der Apg ist häufig problematisiert worden. Zwei Grunde sprechen ganz besonders ftir die Absicht des Verfassers, den Schluss bewusst so und nicht anders gestaltet zu haben: (I) Der Tod des Paulus, der wohl in 20,24; 21,13 vorausgesetzt zu sein scheint, würde einen Abschluss markieren, der so nicht beabsichtigt ist. Wie die Darstellung der Gliederung und gerade auch der letzte Satz der Apg zeigt, geht es dem Verfasser um das Weitertragen des Evangeliums. Einzelne Personen sind allenfalls "Diener des Wortes" (vgl. Lk 1,2), mehr nicht, mögen sie auch so viele Verdienste um die Verbreitung des Christentums haben wie Paulus. (2) Der vom Auferstandenen bei seiner Himmelfahrt in 1,8 entworfene Heilsplan der Zeugenschaft der Jünger in Jerusalem, in Judäa und Samaria bis an das Ende der Welt ist mit der Ankunft der Botschaft in Rom, dem Zentrum der damaligen Welt, mitnichten erreicht. In der Forschung ist man sich allerdings nach wie vor nicht einig, was mit "bis an das Ende der Erde" (EW~ EOxatOU tTl, YTl~) gemeint ist. Eine vergleichbare Formulierung findet sich in Jes 5,26; Jer 6,22 sowie Jes 46,11 (vgl. PsSal 8,15). Jedesmal ist von einer militärischen Supermacht die Rede (Assyrien, Babylonien bzw. Persien), die mit Hilfe ihrer Soldaten positive (Persien - Jes 46,11) oder negative (Assyrien - Jes 5,26; Babylonien - Jer 6,22) Auswirkungen auf das Ergehen Israels zeitigt. Von daher könnte man in der Tat vermuten, mit dem Ausdruck "bis zum Ende der Erde" sei Rom gemeint. Doch hat m. E. bereits 1973 w. C. v. UNNIK überzeugend nachgewiesen, dass mit der fraglichen Formulierung keinesfalls die Hauptstadt des Reiches gemeint sein kann. Vor allem der inhaltliche Bezug zum Auftrag des Auferstandenen in Lk 24,47, wonach die Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern gepredigt werden müsse, macht deutlich, dass mit "Ende der Erde" nicht Rom, sondern in der Tat die Verkündigung unter allen Heiden bezeichnet ist.
Schließt man sich der hier vertretenen Hypothese an, dann ist Lukas gar nicht in der Lage, diesen Heilsplan von 1,8 nachzuzeichnen. Vielmehr reicht dieser bis in die heutige Gegenwart und kann als nach wie vor nicht erftillt betrachtet werden. Die Leserschaft der Apg wird somit Teil der Geschichte der Evangeliumsverkündigung. Der offene Schluss ist also ein literarischer Schachzug des Verfassers. Ähnlich wie im LkEv legt sich aufgrund von Apg 1,8 eine geographische Gliederung der Apg nahe: Hier werden die Regionen "Jerusalern, Judäa und Samaria" als Etappen auf dem Weg der christlichen Mission "bis an das Ende der Erde" genannt. Auf diesen "Plan" nehmen die Verse 8,5 und 11,19 mit ihren geographischen Angaben implizit Bezug. Von daher ist die Gliederung der Apg vergleichbar mit der des LkEv:
232 O. 1. 2. 3. 4.
C. Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
Proömium Exposition: Jesu Himmelfahrt Die Urgemeinde in Jerusalem Die christliche Botschaft in Judäa und Samaria Die christliche Botschaft in der heidnischen Welt (bis Rom)
1,1-3 1,4-12 1,13-8,3 8,4-11,18 11,19-28,31
2. Entstehung 2.1 Quellen und Traditionen
Die Frage nach den der Apg zugrunde liegenden Quellen lässt sich nur sehr hypothetisch beantworten, da wir - anders als etwa im LkEv - keine literarische Vorlage besitzen oder erschließen können. Dabei ist gerade im Hinblick auf die vielfältigen Wege des Paulus und deren detaillierte Beschreibung prinzipiell der Rückgriff auf die Quelle eines Augenzeugen genauso denkbar wie evtl. sogar eine Augenzeugenschaft des Verfassers. In jedem Fall sind in der Apg viele einzelne Überlieferungen und möglicherweise auch größere Überlieferungskomplexe verarbeitet worden. Allerdings gehen die Forschermeinungen hierüber stark auseinander. (1) Was die erste Hälfte der Apg betrifft, wurde einzig die Annahme einer sogenannten "antiochenischen Quelle" als Grundlage der Kap. 6-15 vielfach geteilt. Sie soll- so die häufigste Meinung - die Passagen 6,1-8,4; 11,19-30; 12,25-15,35 umfasst haben, allerdings wurde zuweilen auch 9,1-30 dazu gerechnet. Besonders problematisch daran ist, dass diese Quelle nicht aufgrund von sprachlichen oder stilistischen Beobachtungen vennutet wurde, sondern einzig aufgrund des lokalen Bezuges zu Antiochia (und Barnabas). Insofern ist dieser Quelle der "antiochenische" Charakter und damit das verbindende Moment so einfach und überzeugend gar nicht nachzuweisen. (2) Dies ist anders in der zweiten Hälfte der Apg bei den sogenannten "WirPassagen" - häufig auch als "Wir-Quelle" bezeichnet -, die aufgrund des Erzählstils in der dritten Person Plural eindeutig benannt werden können: Gemeint sind die Stücke 16,10-17 (Reise von Troas bis Philippi); 20,5-15; 21,1-18 (unterwegs durch Griechenland über Troas, Milet und Cäsarea nach Jerusalem) und 27,1-28,16 (Reise von Cäsarea nach Rom). In der Tat spricht vieles dafür, dass die erste Person Plural zumindest in den Versen 16,16f.; 20,7f.; 21,la.IO-14.18; 27,lf. als Werk des Verfassers der Apg anzusehen ist. Von daher kann man vermuten, dass das "Wir" vom Verfasser als literarisches Mittel eingesetzt ist, um damit einen Anspruch auf Augenzeugenschaft aufzubauen. Damit ist allerdings die Frage aufgeworfen, ob das "Wir" ein fiktives ist, um Augenzeugenschaft zu suggerieren, oder ob tatsächlich mit einer Augenzeugenschaft des Verfassers zu rechnen ist. Vielleicht hat der Autor diesen Gedanken aber auch aus einer vorliegenden Quelle - mitunter wird vermutet, dass auf jeden FaIl das "Wir" in Apg 27,1-28,16 ursprünglich istübernommen und in die anderen Stücke eingetragen.
C Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
233
J. WEHNERT vermutet in seiner genauen Untersuchung der Wir-Passagen wohl zu Recht, dass sie teilweise auf den Verfasser der Apg, der seiner Meinung kein Paulusbegleiter war, zurückgehen und damit als Stilmittel in der Tradition des hel1enistischen Judentums zu interpretieren sind (ähnlich E. PLÜMACHER, Wirklichkeitserfahrung). Zum anderen Teil seien die Wir-Passagen aber auch auf eine vorliegende Überlieferung. und zwar ganz konkret auf den Paulusbegleiter Silas, zurückzutUhren. Damit wäre SHas ein realer Informant tUr den Autor der Apg gewesen. Gegen diesen zweiten Teil der These WEHNERTS spricht al1erdings, dass SHas ab 18,5 in der Apg nicht mehr ausdrücklich erwähnt wird.
(3) In der Regel werden die Wir-Passagen als Element eines Reiseberichts angesehen, in dem die Reisen des Paulus durch Kleinasien, Makedonien und Griechenland dargestellt waren. Man geht dann davon aus, dass die zentralen Eckpunkte von 15,36-19,40 dem Verfasser der Apg in einem eigenständigen Reisebericht vorlagen, wenn sie denn nicht von ihm selbst als Paulusbegleiter stammen (weitere Aspekte dazu -+ 2.3). Sollte die Wir-Quelle eine von Lukas übernommene Quelle sein, dann ist in der Forschung die Frage umstritten, ob die Kap. 13-14 (I. Missionsreise) ursprünglich noch dazu gehörten. (4) Auch die Darstellung der Verhaftung und Prozess des Paulus (21,2726,32) könnte auf eine literarische Quelle zurückgehen, da die einzelnen Geschichten im Wesentlichen chronologisch und inhaltlich aufeinander aufbauen. Aufs Ganze gesehen sind in der Apg mit Sicherheit auch längere Quellen verarbeitet worden, ebenso wie Einzelüberlieferungen, etwa Petruslegenden, Namenslisten (1,13: elf Apostel; 6,5: sieben Diakone; 13, I: Propheten und Lehrer in Antiochien), Nachrichten aus dem Gemeindeleben in Jerusalem und Antiochien, Wundererzählungen (5,1-11; 9,36-43; 14,8-18) und Berichte von selbstständigen Missionaren. Aber aufgrund fehlender Vorlagen kann man sich hier nur mit Vermutungen behelfen. Im Text der Apg bietet der sog. "westliche" Text, d. h. der Codex Bezae Cantabrigiensis, der mit dem Kürzel D 05 bezeichnet wird, besonders viele und gravierende Abweichungen. Dieser Text ist ca. 8,5% länger als der "neutrale" oder "alexandrinische" Text, der von den Codices Sinaiticus, Alexandrinus und Vaticanus sowie von den Papyri 45 und 53 geboten wird. Er hat viele Verdeutlichungen und Zusätze, aber auch sprachliche Veränderungen. So fügt er etwa an die Bestimmungen des Aposteldekrets (15,19f.28f.; 21,25) die sog. "Goldene Regel" aus Mt 7,12 an. Der Codex Bezae interpretiert also die Vorschriften des Aposteldekrets nicht kultisch-rituel1, sondern ethisch. Ganz überwiegend wird dieser "westliche" Text im Rahmen der Textkritik als spätere Überarbeitung angesehen. Als Doppelung mit auf den ersten Blick auffälligen Unterschieden zeigt sich die Ik Darstel1ung der Himmelfahrt (Lk 24,50f. bzw. Apg 1,3-14): Zufolge Lk 24,50f. findet die Himmelfahrt von Betanien aus (und darüber hinaus möglicherweise am Ostersonntag) statt, während sie nach Apg 1,3.12 vierzig Tage später und vom Öl berg aus vor sich geht. Diese Spannung ist dadurch erklärt worden, dass das LkEv und die Apg ursprünglich ein einziges Buch gebildet hätten, in dem Apg 1,6 unmittelbar an Lk 24,39 anschloss. Bei der Aufnahme in den Kanon sei das Buch geteilt worden, und das LkEv habe die Verse Lk 24,5052 als Buchschluss bekommen. Theoretisch könnte man aber auch die Himmelfahrtserzäh-
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C. Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
lung nach Apg I als sekundär betrachten, um die scheinbaren Widersprüche auszuräumen. Denn die Widersprüche sind in der Tat nur scheinbar: In Lk 24 wird nämlich überhaupt kein Datum angegeben, an welchem die Himmelfahrt stattgefunden habe; dieses wird erst in Apg 1,3 geliefert. Dass darüber hinaus der Verfasser des LkEv wenig Kenntnis von der palästinischen Geographie hatte, wurde bereits festgestellt (-+ B. VI. I. ). Von daher ist ernsthaft nicht mit einer Teilung eines ursprünglichen Buches zu rechnen.
2.2 Gattungsfragen Der ursprüngliche Titel des Werkes ist nicht bekannt. Irenäus (Haer III 13,3) bezeugt erstmals im 2. Jh. den Titel "npru;ELC; 'Anoa.oM.>v - acta apostolorum - Taten der Apostel"; doch ist dieser wohl kaum ursprünglich, da der Hauptperson der zweiten Hälfte der Apg (13-28), Paulus, der Aposteltitel nahezu durchgängig verweigert wird. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Bezeichnung "Taten der Apostel" angelehnt ist an die antike "Praxeis-Literatur". So lautet etwa der Titel des Alexanderromans (3. Jh. n. Chr.) "Die Taten (npru;ELC;) Alexanders". Obwohl die Gattung der "Praxeis" meist nur auf einzelne Personen bezogen wird, kann sie aber auch allgemein und umfassend den Stoff der Geschichtsschreibung bezeichnen, die sich mit Personen, ihren Worten und Taten befasst. Die Apg handelt in diesem Sinn von den Taten und Worten unterschiedlicher Apostel, die im Dienst der Ausbreitung des Evangeliums stehen. Denkbar wäre auch die antike Gattung "Historia(e)". Historien sind Universalgeschichten ebenso wie Forschungen - auch Naturforschungen -, Erzählungen und Geschichten von einzelnen Personen oder abgegrenzten Zeiten. Meist wird der Inhalt durch einen angehängten Genitiv oder mit Hilfe der Präposition "über" (nEpL bzw. de) angezeigt. Auch hier zeigt die Existenz des Vorworts (1,1-3) den Anspruch an, in eine Reihe mit zeitgenössischen Geschichtswerken gestellt zu werden. Als modeme Kategorie ist - in Weiterftihrung des LkEv - die "historische Monographie" als Gattung der Apostelgeschichte vorgeschlagen worden (E. PLÜMACHER, Monographie 13). Auch wenn der Verfasser der Apg ganz bewusst Konventionen antiker Historiographie aufgreift, kann er nicht ohne Weiteres nach heutigen Maßstäben als zuverlässiger Historiker bezeichnet werden. "Tatsachentreue" und "Zuverlässigkeit" (vgl. Lk 1,1-4) sind zwar antike Kriterien, doch es gibt dafiiraußer der Zuverlässigkeit von Zeugen (besonders aufgrund von Autopsie) kein methodisches und analytisches Instrumentarium. Objektiv richtig ist vielmehr das, was der betreffende Historiker aufgrund seiner Nachforschungen dafiir hält. Insofern trifft G. STRECKER (415) den Nagel auf den Kopf, wenn er in Bezug auf die Apg resümmiert: ,,[Lukas] stellt die Jesusgeschichte wie auch die Geschichte der Apostel nicht so dar, wie diese sich ereignet haben, sondern wie es nach seinem Verständnis gewesen sein sollte." Insofern wird deutlich, dass es bei aller "objektiven" Historizität in der Apg vor allem um Erbaulichkeit geht. Dies zeigt sich an vielen Einzelgeschichten, die sich durch dramatischen Episodenstil auszeichnen, ebenso wie an vielen Reden, die
C Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
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quantitativ immerhin ein Drittel der Apg ausmachen. Diese Reden sind - wie auch sonst in der antiken Geschichtsschreibung - keine Mitschriften von historischen Reden, sondern ein Mittel der Kommentierung und Deutung des Geschehens durch Worte, die der Autor den Redenden in den Mund legt (vgl. Thukydides, Hist I 22). Im Gegensatz zum LkEv ist die Apg wesentlich stärker durch ihren Autor selbst gestaltet; insofern entspricht sie dem Anspruch und dem Vorbild antiker Historiographie deutlicher als das Evangelium.
2.3 Verfasser
Selten ist sich die Forschung am lk Doppelwerk so einig wie in der Meinung, dass Apg und LkEv vom selben Verfasser stammen. Das Proömium in Apg 1,1-3 nimmt ausdrücklich Bezug auf "den ersten Bericht" (den "npw'toc; A.6yoc;") und meint damit zweifeIlos das LkEv. Wenn aber tatsächlich der Verfasser des LkEv identisch ist mit dem der Apg, dann gilt das über den Verfasser des LkEv Gesagte auch hier (-+ B.VI.2.3). In der Tat zeigt sich bei ge\lauer Betrachtung beider Werke, dass das literarische Unternehmen des Lukas von vornherein als Doppelwerk geplant war. So sind etwa die Schriftbeweise in der Apg nicht nur an besonders wichtigen SteIlen platziert worden, sondern sie verifizieren die Behauptung des Auferstandenen in Lk 24,46f. Schritt rur Schritt: Zufolge Apg 4,24-28 (Ps 2,lf.) musste Jesus leiden und sterben, zufolge Apg 2,24-29 (Ps 16,8-11) musste Jesus auferstehen, zufolge Apg 2,1512 (Joel 3,1-5) muss das Evangelium verkündigt werden. Aber nicht nur zu Beginn der Apg, sondern auch an entscheidenden Punkten der Geschichte wird mit einem Schriftzitat argumentiert. So erweist sich Paulus in seiner ersten Predigt (Apg 13,32-41) als rechter Zeuge dadurch, dass er ähnlich wie Petrus in der Pfingstpredigt Ps 16, I 0 zitiert. Natürlich kann - trotz der prinzipiell bereits gefaIlenen Entscheidungfür die Heidenrnission in Apg 10 - auch das Jerusalemer Treffen nicht ohne Schriftbeweis rur die Heidenrnission stattgefunden haben (Am 9, II f. in Apg 15,15-19), und schließlich wird ganz am Schluss in der Romrede des Paulus die Verstockungsvision des Jesaja (Jes 6,9f.) zitiert (Apg 28,25-28). Von daher zeigt sich auch in der Apg, dass der Verfasser ein großes Interesse daran hat, die Anfangsgeschichte der Kirche in gleicher Weise wie die Geschichte Jesu - an die Schriften und damit an den Willen Gottes zu binden. Sein profundes biblisches Wissen und das Interesse daran weisen ihn - auch und gerade hier - als Judenchristen aus. Denkbar wäre es allerdings auch, in Lukas einen sog. "Gottesfiirchtigen" zu sehen: In der Apg begegnet insgesamt elfmal die Wendung "gottesfiirchtig" (cj>OPOUIlEVO~ bzw. afp6llEVO~ '[ov 6fOV). Besonders auffällig ist, dass Gottesfiirchtige von Paulus neben Juden angesprochen werden (13,16.26), d. h. die Gottesfiirchtigen sind eine Gruppe neben den Juden. Beispiel fiir einen solchen Gottesfiirchtigen ist der Hauptmann Cornelius (10,2.22). In der Forschung wird die Existenz solcher Gottesfürchtigen am Rande der jadischen Synagogengemeinde kaum noch ernsthaft bestritten. Es handelte sich um Menschen, die als Unbe-
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c. Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
schnittene dennoch an den einen Gott glaubten, die wichtigsten Forderungen der Tora einhielten und in enger Verbindung mit den Synagogengemeinden lebten. Interessanterweise erwähnt auch Josephus die Existenz solcher Gottesfürchtiger (Ant XIV 110), die die jüdischen Synagogen und v. a. den Tempel in lerusalem auch durch Geldzahlungen unterstützten (vgl. Apg 10,2). Dass es nötig ist, im Zusammenhang der A pg noch genauer auf die Verfasserfrage einzugehen, liegt an der neueren Untersuchung von A. MITTELSTAEDT, der herausgefunden haben will, dass der Verfasser der Apg doch Lukas, der Arzt, gewesen sei, der bei der Niederschrift "Augenzeugen befragen und sogar Selbsterlebtes schildern konnte" (255). MITTELSTAEDT vergleicht hierftlr Lk 19,43f. und 22,20-24 zunächst mit dem tatsächlichen
Ablauf der Eroberung lerusalems und Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 11. Chr. und stellt fest, dass hier keine vaticinia ex eventu vorlägen. Auch Apg 6, 13f. sei eine end zeitliche und keine immanente Weissagung über die Zerstörung des Tempels. Von daher habe - so MITTELSTAEDT - der Tempel bei Abfassung beider Bücher noch gestanden, d. h. sie müssten auf jeden Fall vor 70 n. Chr. verfasst worden sein. Auf diese Art und Weise könne erklärt werden, weshalb der Tod des Paulus nicht erzählt wird; denn Paulus habe zur Abfassung der Apg noch gelebt. Vor dem Ende der zwei Jahre, die Paulus in Rom gepredigt (und somit noch gelebt) habe, sei Lukas nach Cäsarea oder Philippi zurückgekehrt und habe dort sein Werk vollendet. Der grundsätzlich gute Ausgang des Prozessesalso die Tatsache, dass Paulus als freier Mann aus Rom abreisen konnte - sei Lukas zwar bekannt gewesen, doch "Zeit zum Abwarten genauerer Informationen scheint er aber nicht gehabt zu haben" (255). Somit datiert er die Fertigstellung der Apg auf das Jahr 62 (und das LkEv entsprechend auf den "Spätherbst 59" in Cäsarea). Es steht nicht zu erwarten, dass diese Untersuchung die überwiegende Forschermeinung zur Datierung der Apg ändern wird. Dass die Notizen in Lk 19,43f. und 22,20-24 nicht die konkrete Zerstörung Jerusalems meinen, sondern einfach nur traditionelle apokalyptische Sprache verwenden und damit eschatologisch gemeint sind, ist keine wirkliche Alternative. Im Gegenteil: Gerade weil mit apokalyptischen Worten auf die Tempelzerstörung angespielt wird, unterscheiden sich historische Gegebenheiten von der Ik Darstellung (bzw. der Darstellung in Q und im MkEv). Auch wenn wohl kaum ernsthaft zu bezweifeln ist, dass das LkEv und die Apg auf die Zerstörung des Tempels zurückblicken, wurde in der Forschung nicht nur wegen der genauen Kenntnis des Weges, den Paulus vor allem auf seinen späteren Reisen genommen hat, sondern auch aufgrund der Wir-Passagen in der Apg immer wieder vermutet, Lukas habe Paulus nicht nur aus Quellen kennen gelernt sondern sogar persönlich gekannt und - zumindest teilweise auf seinen Reisen begleitet, auch wenn Evangelium und Apg erst Jahre später niedergeschrieben wurden. Doch der These der Paulusbegleiterschaft des Lukas steht vor allem die nicht zu ignorierende unterschiedliche Darstellung der historischen Fakten bei Lukas und Paulus entgegen sowie der mit Sicherheit vorhandene zeitliche Abstand zwischen den beiden; in seinem Vorwort zum LkEv gibt sich Lukas schließlich als Mann der dritten Generation zu erkennen (Lk 1,1 f.)
C Die Apostelgeschichte (Dietrich Rusam)
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Nichtsdestoweniger zeigen viele Beobachtungen, dass Lukas zwar aus einem gewissen zeitlichen Abstand schreibt, aber doch in der Tradition des Paulus steht. Fünf Beispiele mögen dies im vorliegenden Rahmen illustrieren: (I) Die pln These von der Schriftgemäßheit des Leidens und Sterbens lesu sowie seiner Auferweckung von den Toten (I Kor 15,3-5) ähnelt in vielen Punkten den Worten des Auferstandenen in Lk 24,44-47 und wird im Verlauf der Apg Schritt für Schritt verifiziert (s.o.). (2) Die zentrale Aussage des Paulus im Röm, derzufolge der Glaubende aufgrund seines Glaubens an lesus gerechtfertigt wird, ohne einzelne Gesetzesbestimmungen der Tora einhalten zu müssen (Röm 3,28), findet sich in vergleichbarer Weise im Votum des Petrus in Apg 15,8-11 (vgl. auch 1O,34f.; 13,38f.). Das bedeutet, dass "die paulinische Rechtfertigungslehre in der lukanischen Kirche voll anerkannt" wird (1. PICHLER 357). Zu fragen wäre dann nur, ob man zwischen den Adressatengemeinden des Lukas und den von Paulus gegründeten Gemeinden überhaupt noch unterscheiden kann bzw. muss (-+ 2.4). (3) Vergleicht man die Ik Abendmahlsparadosis (Lk 22,17-20) mit der im MkEv (Mk 14,22-25) und der im MtEv (Mt 26,26-29), so zeigen sich signifikante Unterschiede. Exemplarisch hierfur sei lediglich das Kelchwort erwähnt: Bei Mt und Mk flIllt die Gleichgestaltung von Brotwort ("Dies ist mein Leib") und Kelchwort ("Dies ist mein Blut") als Spende/ormel auf, während bei Lukas der Kelch gedeutet wird ("Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut"). Vergleicht man nun die Ik Fassung mit der des Paulus, so stellt sich heraus, dass sich Paulus in I Kor 11,23-26 eindeutig auf dieselbe Tradition stützt wie Lukas. Auch hier wird der Kelch gedeutet, auch hier findet sich - anders als in der Fassung von Mk und Mt - im Anschluss an das Brotwort der Auftrag "tut dies zu meinem Gedächtnis". Die Prophezeiung, lesus werde von nun an nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken, bis er wieder davon trinken werde im Reich Gottes, findet sich dann wieder nur bei Mt und Mk, nicht aber bei Lk oder in I Kor 11. (4) Lukas bestätigt in der Abschiedsrede des Paulus in Milet (20,34) die pln Feststellung aus I Kor 9,12-14, er habe sich durch seiner Hände Arbeit selbst seinen Lebensunterhalt verdient und sich nicht von der Gemeinde finanzieren lassen. (5) Auf Schritt und Tritt begegnet in der Apg die Beobachtung, dass die jüdische Synagoge die Predigt des Paulus verhindern will. Diese Erfahrung bestätigt Paulus ausdrücklich in I Thess 2,14-16.
Darüber hinaus sind viele Unterschiede zwischen Lukas und Paulus, auf die in der Regel in der Einleitungswissenschaft hingewiesen wird und die angeblich Lukas theologisch von Paulus abrücken, unter Hinweis auf den zeitlichen Abstand des Lukas und dessen theologische Überzeugungen erklärbar. Exemplarisch seien in diesem Zusammenhang - in der gebotenen Kürze - ebenfalls fünf Punkte genannt: (I) Dass Paulus von Lukas (bei zwei Ausnahmen: 14,4.14) nicht als "Apostel" bezeichnet wird, obwohl er selbst in seinen Argumentationen stets größten Wert darauf legt (vgl. nur I Kor 9), hätte in der Tat ein (früherer) Weggefllhrte ihm wohl nicht angetan. Lukas hat seine Apostelvorstellung aus der ihm vorliegenden (und von ihm weiterentwickelten) Tradition übernommen. Nach Mk 3,14 wählt lesus zwölf Jünger aus, "die er auch ,Apostel' nannte". Dieser Zwölferkreis, der in seiner Zwölfzahl den Anspruch Jesu auf das Zwölfstämmevolk Israel symbolisiert, kann zufolge Lukas nach dem Tod lesu nicht einfach nach Gutdünken erweitert werden. Nach Apg 1,21 f. muss ein Apostel die ganze Zeit, als
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Jesus auf der Erde war, von der Taufe bis zur Auferstehung, dabei gewesen sein. Zu dieser engen Festlegung sieht sich Lukas gezwungen, da er die Nachwahl fiir den Ausfall des Judas (1,16-20) eben nicht der Beliebigkeit überlassen möchte. Am besten fiir Lukas wäre es wohl gewesen, wenn Paulus diese Stelle antreten hätte können. Aber dies war aus historischen Gründen unmöglich; denn Paulus kannte den irdischen Jesus gar nicht, mehr noch, er hat die christlichen Gemeinden verfolgt und ist erst später vor Damaskus berufen worden. Literarisch wird Paulus erstmals in Apg 8,1 vorsichtig eingefiihrt. Sein Apostelverständnis hat Lukas also von Markus übernommen und weitergedacht. Dieses verbietet ihm, Paulus den Aposteltitel zu verleihen. (2) Insgesamt erzählt Lukas dreimal die Geschichte der Berufung des Paulus (9,1-19; 22,3-16; 26,9-[8) - die beiden letzten Male davon stilisiert als Pau[usrede. Auffälligerweise findet sich in der dritten Erwähnung genau das Element, welches Paulus selbst besonders wichtig ist: seine Berufung zum Apostel bzw. Christuszeugen unter den Heiden (26,16f.; vgl. Gal 1,16; 2,7). Der Ik Apostelbegriff ist auch der Grund, weshalb Paulus zufolge Apg 9,25-30 formal durch die Jerusalemer Apostel bestätigt werden muss. Inhaltlich beweist der Paulus der Apg seine Legitimität dadurch, dass er in seiner ersten ausgefiihrten Predigt (13,32-41) in gleicher Weise wie Petrus in der Pfingstpredigt Ps 16,10 als Schriftbeweis rur die Auferweckung Jesu zitiert. Diese Predigt ist gewissermaßen der .. Ausweis" bzw. die inhaltliche Legitimation des Paulus gegenüber der Leserschaft des Lukas. Zwar kann Paulus eben nicht die Augenzeugenschaft (= Apostolat) von Lukas bescheinigt werden, aber doch immerhin Zeugenschaft (22,15; 26,16) und damit sein Eingebundensein in den Auftrag des Auferstandenen fiir seine Apostel zur weltweiten Zeugenschaft (1,8). Mehr noch: Während die echten Apostel in Palästina bleiben und allenfalls in Samaria missionieren, ist Paulus der einzige Zeuge, der nach der Darstellung der Apg darüber hinausgeht - in Richtung ..bis an das Ende der Erde". Paulus wird also in der Apg nicht abgewertet - im Gegenteil: Lukas wertet ihn so weit auf, wie er nur kann, so weit, dass er ihn sogar zweimal doch .. Aposte[" nennt ([4,4.14 - möglicherweise ist diese Titu[atur zwar aus der Tradition entnommen, wurde aber von Lukas nicht getilgt). (3) Dass Paulus selbst seine Berufung zum Heidenapostel als letzte Offenbarung des Auferstandenen bezeichnet (I Kor 15,8), während Lukas mit der Himmelfahrt Jesu (1,9) die Erscheinungen des Auferstandenen beendet sein lässt, ist ebenfalls kein Widerspruch. Lukas zufolge ist der in den Himmel Aufgefahrene nun sitzend zur Rechten Gottes (2,3336; 7,56). Deshalb sieht Paulus in den Ik Darstellungen des Damaskuserlebnisses auch nichts, außer einem großen Licht (9,3; 22,6; 26, [3) - und er hört nur eine Stimme. Insofern ist die unterschiedliche Darstellung des Damaskuserlebnisses des Paulus lediglich auf eine unterschiedliche Interpretation zurück zu fiihren; denn streng genommen ist auch nach Lukas dem Paulus der Auferstandene erschienen. Auch lässt sich der Unterschied im Hinblick auf die Frage, ob Pau[us im Anschluss an die Offenbarung in Damaskus getauft wurde oder nicht, ganz leicht beantworten: Zufolge Lukas musste er getauft werden, denn er gehörte nicht zu den Zwölfen, die den Pfingstgeist bekommen hatten, sondern zu denjenigen, denen Petrus die Taufempfehlung zum Erhalt des Heiligen Geistes gibt (2,38). Für den historischen Paulus ist die eigene Taufe unwichtig: Er weiß sich ja zum Heidenapostel Jesu berufen - und an diese Berufung ist rur ihn keine Bedingung geknüpft. (4) Der Hinweis auf die Areopagrede (17,22-31) mit ihrem Aufgreifen stoischen Gedankengutes, das der Verkündigung des Paulus dienstbar gemacht wird (l7,28f.), das aber in keiner Weise der genuinen pln Theologie entspreche, kann im Grunde ebenfalls keinen Keil zwischen Paulus und Lukas treiben. Natürlich legt Lukas seinem Protagonisten jene Worte in den Mund. Und natürlich geben die Predigten des Paulus als Mittel der Kommentierung und Deutung des Geschehens primär die Theologie des Lk wieder. Aber diese singuläre und nur aus der Situation heraus verständliche Predigt in Athen erfährt ihre Begründung in dem
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Bestreben des Lukas, Paulus als mit den athenischen Philosophen auf Augenhöhe diskutierend und predigend darzustellen. Dass diese Vorstellungen in den echten Paulusbriefen keine Parallele haben, ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang. (5) Die grundlegenden Differenzen bei der Darstellung des Jerusalemer Treffens zwischen Paulus und Bamabas (sowie Titus - nach Gal 2,3) auf der einen und dem Herrenbruder Jakobus, Petrus (Kephas) und Johannes auf der anderen Seite muss A. MITTELSTAEDTund dies ist die größte Schwäche in seiner Argumentation - damit erklären, dass hier zwei verschiedene Zusammenkünfte (vgl. Apg 15,1-29 mit Gal 2,1-10) beschrieben würden. Dies ist jedoch angesichts der großen Übereinstimmungen beider Texte ganz unwahrscheinlich. Vielmehr lassen sich die Unterschiede in der Darstellung aufgrund der theologischen Überzeugung des Lukas wahrscheinlich machen (-> 3.).
Zusammenfassend lässt sich sagen: Auch wenn Lukas theologisch deutlich in der Tradition des Paulus steht, muss daraus und aus den Wir-Passagen der Apg nicht automatisch die Vorstellung folgen, der blutjunge Lukas habe den alternden Paulus persönlich gekannt und auf dessen letzten Reisen teilweise sogar begleitet. Lukas hatte von Paulus mit Sicherheit nicht nur Informationen (schriftliche Quellen) über seine Reisen, sondern wusste auch um dessen Theologie recht genau Bescheid; und zweifellos steht er mit seinen theologischen Überzeugungen in der Tradition des Mannes, dessen Wirken er ab Apg 13 ausführlich darstellt. Dazu jedoch ordnet er seine Paulus-Tradition nach seiner theologischen Konzeption in einen größeren Sinnzusammenhang ein.
2.4 Adressaten Die Tatsache, dass auch in der Apg (1,1) Theophilus als Adressat genannt wird, legt die Vermutung nahe, dass sich in Bezug auf die Adressaten der Apg im Vergleich zum LkEv nichts geändert hat. Der Befund in der Apg unterstützt die in Bezug auf die Adressaten des LkEv gemachten Vermutungen (---+ B.VI.2.4). So ist es kaum denkbar, dass eine exklusiv judenchristIiche Gemeinde im Blick des Verfassers ist, wenn in Bezug auf die römischen Juden die jesajanische Verstockungsvision von Paulus zitiert (Jes 6,9f. in Apg 28,25-28) und damit die Heidenrnission heilsgeschichtlich ausdrücklich begründet wird. Mehr noch: Wenn Lukas tatsächlich in der theologischen Nachfolge des Paulus steht, dann liegt es nahe, dass Lukas diese vom Heidenapostel (GalI, 16; 2,7) Paulus gegründeten mehrheitlich heidenchristlichen Gemeinden in Griechenland und Kleinasien als Adressaten im Blick hat. Anders als Paulus schreibt er allerdings keine Briefe, sondern eine Geschichte der Mission, im Besonderen eine Geschichte der Mission des Paulus. Von daher besteht in diesen Gemeinden auch ein besonderes Bedürfnis, die Legitimität und Autorität des längst verstorbenen Gemeindegründers Paulus - und damit auch die eigene Legitimität - begründen zu können. Ein ganz gewichtiges Problem dieser Gemeinden ist somit die Identitätsfrage. Sie berufen sich ebenso auf die Tora, die Propheten und die Psalmen (Lk 24,44), wie es die
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jüdische Synagogengemeinde tut, sie haben den gleichen Anspruch, nämlich Gottes auserwähltes Volk zu sein, aber sie leben - im Unterschied zur jüdischen Gemeinde in ihrem Umfeld - nicht so, wie es Gott in der Tora befohlen hat. Vielmehr erfahren sie sich von der jüdischen Gemeinde als aggressiv ausgegrenzt und immer wieder bei den zuständigen staatlichen Stellen angezeigt bzw. angeschwärzt. Wie gesagt: Die Gemeinde des Theophilus ist dieselbe geblieben. Es finden sich begüterte Christen in ihr (Theophilus selbst), die offenbar nur bereit sind, den Bedürftigen innerhalb der Gemeinde Almosen zu geben, anstatt mit ihnen ehrlich zu teilen (5,1-11; 6,1). Wir kennen aus I Kor 11,17-34 die Problematik, dass das Abendmahl ursprünglich als Sättigungsmahl gefeiert wurde, bei dem die Reichen ein Gelage abhielten und schnell alles aufaßen, bevor die Armen dazukommen konnten. Die idealisierte Darstellung der Gemeinschaft in der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 2,46) lässt vermuten, dass Vergleichbares in den Adressatengemeinden der Apg vorkam (-+ 3.). Schließlich ist die Frage nach der Wiederkunft des in den Himmel Aufgefahrenen virulent. Da die bereits im LkEv beobachtete Gefährdung der christlichen Gemeinde durch staatliche Stellen aufgrund jüdischer Interventionen sicherlich nicht abgenommen hat, bedarf sie für die Zeit bis dahin im Besonderen der Zurüstung. So berichtet die Apg vom Märtyrertod des Stephanus (6,54-60) und des Jesusjüngers Jakobus (12,2) ebenso wie von scheinbar allgemeinen Verfolgungen (8,1-3; 11,19; 12,1).
2.5 Zeitliche Einordnung Die Abfassung der Apg erfolgte in einem deutlichen zeitlichen Abstand zu den Paulusreisen. Die Zerstörung des Tempels ist vorausgesetzt (vgl. Apg 7,48SI), und das LkEv ist fertiggestellt (Lk 1,1). Aufgrund der offenbar unveränderten Gefährdung von Christen durch jüdische Denunziationen ist an die Regierungsjahre des Domitian (81-96 n. Chr.) als Entstehungszeit zu denken, also auch hier zwischen 80 und 90 n. Chr. Allzu weit wird man vom vermuteten Todeszeitpunkt des Paulus (um 64 n. Chr.) nicht abrücken können. Der Ort der Abfassung kann nur gemutmaßt werden. Der syrisch-palästinische Raum war es wohl ebensowenig wie die Hauptstadt Rom. Ansonsten gilt nach wie vor, was P. VIELHAUER (407) konstatiert hat: "Man sollte die Unlösbarkeit dieser im übrigen unerheblichen Frage nach dem Abfassungsort ruhig eingestehen."
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3. Diskurs
3.1 Innergemeindliche Probleme Es steht außer Frage, dass die intendierten Gemeinden sowohl in Bezug auf ihre Außen- als auch in Bezug auf ihre Innenbeziehungen massive Probleme hatten, die in der Apg reflektiert werden. 3.1.1 Die materielle Problematik Das Interesse des Verfassers an der Unterstützung Bedürftiger ist ähnlich groß wie im LkEv. Das von Lukas entworfene Bild der Jerusalemer Urgemeinde ist dabei anders zu verstehen als das Ideal der besitzlosen Jünger; es ist eine "Vision", das Bild einer Gemeinde, wie er es sich vorstellt. Die in 2,42-47 und 4,32-37 beschriebene Besitzgemeinschaft beschreibt Lukas so, dass es innerhalb der Gemeinde kein Privateigentum mehr gab - und das alles auf freiwilliger Basis. Die Verteilung der jeweils eingebrachten Güter bewirkte, dass kein Gemeindeglied mehr Mangel hatte (4,34). Es ist davon auszugehen, dass diese Idealisierung ihren konkreten Hintergrund in den Defiziten der intendierten Gemeinden hatte. Die Realität ist, dass es offenbar sehr wohl Leute wie Theophilus gab, die durchaus nicht bereit waren, ihren Privatbesitz der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen (5,1-11). 3. 1.2 Die ideelle Problematik Dass die Glieder der Urgemeinde in Jerusalem insgesamt "ein Herz und eine Seele" (4,32) waren, wird ausdrücklich festgehalten. Zufolge 2,46 trifft man sich von Haus zu Haus abwechselnd - ohne Rücksicht auf das gesellschaftliche Ansehen des Hausherm, und man feiert das Abendmahl mit Jubel und "lauterem Herzen". D. h.: Das Abendmahl war zwar ein Sättigungsmahl, aber kein Gelage, bei dem Ärmere zu kurz kamen. Insofern empfiehlt Lukas seinen Gemeinden etwas anderes als Paulus, der zu einer Trennung von Abendmahl und Sättigungsmahl geraten hatte (vgl. 1 Kor 11,34). Dieser Unterschied geht natürlich auf die Ik Darstellung des letzten Abendmahls zurück, das ein Sättigungsmahl war (Lk 22,7-23) und dem jetzt nicht einfach eine neue Form gegenüber gestellt werden konnte. Diese Einmütigkeit, mit der auch theologische Streitigkeiten (15,7) entschieden werden, zieht sich durch die gesamte Apg, wird aber besonders deutlich bei der Ik Darstellung des Jerusalemer Treffens in Apg 15 (vgl. Gal 2). In Gal 2 berichtet Paulus davon. dass sein Apostolat unter den Heiden von den Jerusalemem anerkannt worden sei und man sich letzten Endes auf eine Trennung der Missionsgebiete (Petrus zu den Juden, Paulus zu den Heiden) verständigt habe (Gal 2,7-9) - wobei
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offen bleibt, wie man sich diese Trennung vorzustellen habe, denn jüdische Gemeinden gab es nahezu im gesamten Mittelmeerraum, v. a. aber in Kleinasien und Griechenland. Das bedeutet: Nach Paulus hatte man sich, abgesehen von der Anerkennung seines eigenen Apostolats, im Grunde nicht einigen können.
In der Darstellung der Apg kommt es, angebahnt von Petrus (Apg 15,7-11) und vorgeschlagen vom Herrenbruder Jakobus (15,13-21), jedoch zu einem echten Kompromiss: die Heiden(christen) sollten die Bestimmungen des Aposteldekrets (15,23-29) einhalten, d. h. sich enthalten vom Götzenopfer, von Unzucht, von Ersticktem und vom Blut. Diese vier Bestimmungen entsprechen dem mosaischen Gesetz hinsichtlich der kultischen Reinheit der im Lande lebenden Fremden (Lev 17,10-14; 18,6-18.26). Sie sind im Aposteldekret aufgenommen, um eine Minimalreinheit auch der Heiden zu gewährleisten, damit echte Tischgemeinschaft unter Juden- und Heidenchristen in "gemischten" Gemeinden möglich wird. Paulus selbst scheint das Aposteldekret nicht gekannt zu haben, da er in Gal 2 behauptet, es sei ihm nichts auferlegt worden. Für Lukas ist jedoch die in Apg 15 dargestellte gütliche Einigung, die auf Initiative der Apostel zu Stande kommt, deshalb sehr wichtig, weil dadurch die theologische Deckungsgleichheit zwischen dem erst nachberufenen Paulus (9,1-19), der den irdischen Jesus gar nicht gekannt hat und der von daher ein Legitimierungsproblem hat, und Petrus bzw. dem Zwölferkreis deutlich gemacht werden kann. Der Zeuge Paulus (22,15; 26,16) wird durch den Kompromiss mit den wahren Augenzeugen als theologisch auf einer Stufe stehend präsentiert. Ob das Aposteldekret aus der Tradition (vielleicht sogar - wie in der Forschung vermutet - vom Herrenbruder Jakobus) oder gar aus der Feder des Judenchristen Lukas selbst stammt, kann dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall dient es dem Verfasser der Apg dazu, eine einmütige Einigung (15,25.30-35) nach dem Streit (15,7) wieder herzustellen und die Beilegung dieses grundlegenden Konflikts seinen intendierten Lesern als vorbildlich darzustellen. Dies ist auch deshalb sehr wahrscheinlich, weil nichts dafür spricht, dass die Bestimmungen des Aposteldekrets in den rein heidenchristlichen Adressatengemeinden des Lukas (noch oder überhaupt jemals) in Geltung gestanden hätten. Die Promulgation durch Paulus (16,4) hat demnach lediglich den Sinn, Paulus als Menschen darzustellen, der Wort hält. In rein heidenchristlichen Gemeinden hat jedoch das Aposteldekret als Vermittlungsdokument zwischen Juden- und Heidenchristen keinerlei Funktion. Das Aposteldekret hat demnach flir Lukas nur noch eine historische Funktion, insofern es Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen innerhalb von (fiktiven) Gemeinden der Vergangenheit ermöglicht. In der Gegenwart (des Lukas) spielt es keine Rolle mehr, wie bereits die Darstellung der Mission des Paulus in der Apg zeigt, denn in keiner einzigen Pauluspredigt - weder in der Apg noch in einem Paulusbrief - taucht ein Hinweis auf das Aposteldekret auf. Für das große Interesse, die Geschichte der frühen christlichen Gemeinden
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als ein im Grunde einvemelunliches Miteinander darzustellen, spricht auch die Ik Darstellung der Trennung des Paulus von Bamabas in 15,36-41. Während in Gal 2,11-21 der so genannte antiochenische Zwischenfall einen tiefen theologischen Riss zwischen Paulus und Petrus sichtbar werden lässt, in dem sich zum Leidwesen des Paulus auch noch der antiochenische Gemeindeleiter und vormalige Begleiter des Paulus, Bamabas, auf die Seite von Petrus gegen Paulus stellt, streiten sich Barnabas und Paulus zufolge Apg 15,37-39 lediglich über die Frage, ob Johannes Markus zur nächsten Missionsreise mitgenommen werden soll. Paulus lehnt dies mit dem Hinweis darauf ab, Johannes habe sie auf der ersten Missionsreise in Pamphylien bereits verlassen und habe nicht mit ihnen weiter missioniert (15,38; vgl. 13,13). Dies ist die Ursache für die Trennung des Paulus von Bamabas. Mit Hilfe dieser marginalen Uneinigkeit begründet Lukas die Weiterreise des Paulus und Silas ohne Bamabas aber nicht ohne der Gnade Gottes durch die antiochenischen Brüder (!) befohlen worden zu sein (15,40). Nach den heutigen Maßstäben eines Historikers müsste man Lukas kritisieren, aber man wird ihm dadurch nicht gerecht. Die Ik Darstellung der Geschichte ist an der Gemeinschaft und Solidarität, am Kompromiss in Streitfällen und letzten Endes am Frieden innerhalb der christlichen Gemeinden und am Vorbild der Apostel und des Paulus interessiert. Dadurch wird seine Darstellung zur bleibenden Anfrage an die Gemeinde(n) des Theophilus. Und in der Tat wissen wir aus den authentischen Paulusbriefen um die vielfältigen theologischen Streitereien innerhalb der von Paulus gegründeten Gemeinden.
3.2 Die Außenbeziehungen: Mission und Gefährdung Anlässlich der Himmelfahrt wird den Jüngern verheißen, dass sie "mit dem heiligen Geist" nicht lange nach diesen Tagen getauft werden (1,5). Im Anschluss daran lässt Lukas die Jünger - es ist ihre letzte Chance vor dem Abschied Jesu - direkt fragen, ob er "in diesen Tagen" das Reich für Israel wieder aufrichten werde (1,6). Die Jünger knüpfen also direkt an die Verheißung Jesu an und binden zugleich das Reich Gottes dezidiert wieder an die atl Erwartung des israelitischen Davidsreiches. In seiner Antwort erteilt der Auferstandene letztmals und letztgültig Spekulationen über den Termin der eschatologischen Wende eine Absage. Und zugleich weist er die Jünger auf den Auftrag der Zeugenschaft "in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde" hin (1,8). Solange dieser Auftrag nicht erfüllt ist, wird also der Himmlische auch nicht wiederkommen (1,1 I). So wird hier ausdrücklich der Termin der Wiederkunft - deutlicher als im LkEv - auf unbestimmte Zeit verschoben; und wenn das Pfingstgeschehen aufgrund von Joel 3,1-5 als "in den letzten Tagen" (EV tai.t; Eoxa.taLt; lJIlEpaLt;) geschehend bezeichnet wird (2, I 7), heißt dies, dass die christliche Gemeinde sich seither als in der Endzeit existierend weiß. Mit Jesus ist das Reich im Himmel, erst seine
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Wiederkunft bedeutet die Aufrichtung des "Reiches für Israel". Und genau diese Interpretation des Gottesreiches von seinen atl Wurzeln her macht es nötig, dass an lässlich des bevorstehenden Pfingstfestes (2,1-13) - nach dem Ausscheiden des Judas - ein zwölfter Jünger nachgewählt wird (1,15-26): So wird der Anspruch auf das Zwölfstämmevolk an Pfingsten deutlich. Nach dem Tod des Zebedaiden Jakobus (12,2) ist deshalb keine weitere Nachwahl nötig. Obwohl der Auferstandene schon auf unbestimmte Zeit im Himmel bleibt (und mit ihm auch das Reich), bekommt die Gemeinde die Unterstützung des heiligen Geistes zugeeignet, in besonderer Weise zunächst die zwölf Apostel am Pfingstfest. Und nicht zufällig fragen die Zuhörer Petrus nach dessen Pfingstpredigt: Was sollen wir tun (2,37)? Hintergrund dieser Frage ist die Verleihung des Geistes an die Jünger an Pfingsten. Die Frage ist im Grunde eine Frage der gegenwärtigen intendierten Gemeinde bzw. der am Christentum interessierten Menschen. Wenn Petrus daraufhin den Rat gibt, sich taufen zu lassen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, dann hat das - dies ist syntaktisch eindeutig - das Ziel, ebenfalls die Gabe des heiligen Geistes zugeeignet zu bekommen (2,38). Petrus, der hier zur Taufe aufruft, ist selbst nicht getauft; er braucht auch nicht getauft zu werden, da er - wie die anderen zwölf Apostel - die Geistgabe an Pfingsten am eigenen Leib erfahren hatte (2,4). Nach Ik Verständnis ist also die Verleihung des Geistes normalerweise das zentrale Geschehen in der Taufe. Geistbegabung und Taufe können zwar auch zeitlich auseinander fallen, aber sind in der Regel aufeinander bezogen, insofern Gott denen seinen Geist gibt, "die ilun gehorchen" (5,32). Dies ist auch der Grund, weshalb Lukas eine Taufe des Paulus überliefert (9,18), Paulus aber nicht davon spricht. Diese Zurüstung ist auch im Besonderen nötig, da die in der Apg zahlreich dargestellten Konflikte mit den jüdischen Gemeinden und der römischen Staatsrnacht andeuten, dass der Ton im Vergleich zum LkEv eher schärfer geworden ist. Keine Frage, die synagogalen Gemeinden hatten keine richterliche oder disziplinarische Kompetenz. Dies spiegelt sich auch in der Darstellung der Konflikte der christlichen mit den jüdischen Gemeinden. Es ist bereits bei der Betrachtung des LkEv deutlich geworden, dass sich die jüdischen Synagogengemeinden in der Diaspora vom Christentum distanzieren wollten. Die Vorwürfe, die gegen Stephanus (6,13) und später gegen Paulus (21,28; 28,17.19) erhoben werden, sind sich sehr ähnlich. Es geht jedesmal um eine Lehre gegen die heilige Stätte bzw. das Gesetz. Aus Sicht des Judentums sind die christlichen Gemeinden häretische Sekten. Durch ihre Kritik am jüdischen Verständnis der Tora und der damit verbundenen Ablehnung des Einhaltens vieler Toragebote (vor allem der Beschneidung) sowie durch ihre Kritik am Tempel bei gleichzeitigem Erwählungsbewusstsein scheinen sie für Juden nichts anderes zu sein als eine jüdische Assimiliation an das Heidentum, gegen die die Synagogen sich zu verwahren haben. Dagegen interpretiert die Apg die Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) als Resultat der jüdischen NichtEinhaltung der Tora (7,48-53).
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Im Hinblick auf die römische Staatsmacht hatten die christlichen Gemeinden insofern etwas zu beIDrchten, als ihr Glaube an den Messias Jesus als verbotene Anhängerschaft eines Königs gedeutet werden konnte (17,6f.). Besonders schwierig war dieser Vorwurf auch deshalb, weil die betroffenen Christen von den Römern häufig als Juden identifiziert wurden und deshalb der Vorwurf, einen "Gegenkaiser" zu unterstützen, im zeitlichen Zusammenhang mit dem jüdisch-römischen Krieg (66-70 n. Chr.) die Vermutung einer weiteren antirömischen Rebellion nahe legte. In ihrem Auftreten sowohl den jüdischen als auch den staatlichen Gerichten gegenüber werden sowohl die Apostel als auch in deren Nachfolge Paulus als staatstreu, aber vor allem als vorbildlich dargestellt. Vor jüdischen Gerichten, aber auch vor heidnischen Machthabern bekennen sie furchtlos ihren Glauben (4,12; 5,29-32; 7,2-53; 22,1-21; 23,1.3.5.6; 24,10-21; 25,8; 26,2-23) in dem Wissen: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (5,29). Diese Furchtlosigkeit als Folge der Geistverleihung an Pfingsten bzw. in der Taufe (vgl. 9,17f.) ist nichts anderes als das Wissen um die Sicherung der eigenen Existenz im gekreuzigten und auferstandenen Herrn, der die verstorbenen Christen zu sich ruft - wie einst den einen Schächer am Kreuz (Lk 23,43; vgl. Phil 1,21-24) - und der zugleich als der, der momentan zur Rechten Gottes sitzt, einst wiederkommen wird. Der von ihm gesandte Geist ist es, der freimütige Rede ermöglicht auch und gerade in der Verfolgung und Gefährdung (2,14-36; 4,8.31; 11,24; 13,9). Und nicht von ungefähr berichtet die Apg von ersten Märtyrern (Stephanus und Jakobus) sowie von der Verfolgung der Gemeinde in Jerusalem, die zu ihrer Zerstreuung in Samaria und Judäa gefilhrt habe, während die Apostel mutig in Jerusalem geblieben seien (8,1). Hier, im Beistand angesichts von Verfolgung und Gefährdung, liegt im Besonderen die Zurüstung des Auferstandenen für seine Gemeinde während der Zeit seiner Abwesenheit. Es ist bereits erwähnt worden, dass in 1,8 ein Bogen eröffnet wird, dessen Anfang lediglich in der Apg erzählt wird, nämlich die Verkündigung der Zeugen bis Rom, nicht jedoch bis ans Ende der Erde. Dies bedeutet dann aber filr die (gefährdeten) Adressaten: Anhand der Apg kann erkannt werden, dass die Verheißung des Auferstandenen bis Rom in Erfüllung ging, so dass man sich sicher sein kann, dass die Verheißung auch in Zukunft erfilIlt wird: Die Zeugenschaft geht immer weiter bis an das Ende der Erde. In der Apg wird die heilsgeschichtliche Darstellung somit zum seelsorgerlichen Argument. Es ist in der Forschung vermutet worden, die Apg sei eine Verteidigungsschrift des Paulus gewesen bzw. eine solche habe der Apg zugrunde gelegen. In der Tat wird in der Apg immer wieder apologetisch darauf hingewiesen, dass die Anschuldigungen vor den staatlichen Gerichten haltlos seien. Insofern sollen die angeklagten Christen - speziell Paulus - als staatstreu dargestellt werden. Tatsächlich klagen weder Gallio (18,15) noch Festus (25,18.25) Paulus an. Vielmehr stellt Festus ausdrücklich fest, Paulus müsse freigelassen werden (25,25; 26,31 f.). Es sind nach der Apg vielmehr die Juden diejenigen,
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die Paulus verfolgen (13,50; 17,5-7.13; 21,27-36) und sich an den Staat wenden, um eine Verurteilung zu erreichen (18,12f.; 24,1-9; 25,5). Tatsächlich sind hier apologetische Motive der Grund für diese Art der Darstellung. Doch dadurch wird die Apg noch längst nicht zu einer Verteidigungsschrift. Wäre sie dies, würde sie sich von vornherein an die Staats macht richten. Dies ist aus dem Duktus der Erzählung, den theologischen Voraussetzungen und den Überlegungen, die zu den Adressaten angestellt worden sind, kaum wahrscheinlich zu machen.
3.3 Die Kontinuität der Geschichte Israels
Am Ende der Apg lässt Lukas seinen Paulus in Rom angesichts der gespaltenen Meinung der stadtrömischen Juden zu seiner Evangeliumsverkündigung die Verstockungsvision des Jesaja zitieren (Jes 6,9f. in Apg 28,25-27). Dies spricht - wie bereits erwähnt - für seinen eigenen, den judenchristlichen Hintergrund. Denn nur so - als momentane (die Aoristfonnen in V. 27 bezeichnen eine situative und keine durative Handlung), gottgewollte, aber prinzipiell durch Gott auch wieder aufhebbare Verstockung (M. KARRER hat darüber hinaus deutlich gemacht, dass das "ich werde sie heilen [Laoo!-uXL]" als Zusage Gottes zu interpretieren ist) - kann er sich erklären, dass die allenneisten jüdischen Geschwister sich der Botschaft Jesu und der Kirche verweigern. Im Grunde schwingt in diesen Worten des Paulus die Resignation des Lukas im Hinblick auf seine jüdischen Schwestern und Brüder mit - verbunden allerdings mit der Zuversicht der Umkehr in der Zukunft. Obwohl schon von langer Hand vorbereitet (1,8; 8,26-40; 10,1-48; 15,1-28), wird hier noch einmal ganz ausdrücklich die Heidenrnission begründet. Eine weitere Reaktion der römischen Juden wird nicht erwähnt; dies spricht für den grundlegenden Charakter der dargestellten Szene: Erst an dieser Stelle wendet sich der Paulus der Apg vom Judentum ab; damit wird die Gegenwart der Gemeinde des Lukas theologisch erreicht. Lukas erzählt den Seinen mit seinem Doppelwerk die Geschichte des jüdisch-christlichen Trennungsprozesses - und er macht dabei deutlich, dass diese von ihm in LkEv und Apg dargestellte Geschichte ein Teil der jüdischen Geschichte ist. Dies wird in vielen Beobachtungen am Ik Doppelwerk deutlich, etwa durch die Nachahmung der Septuagintasprache in Lk I f., durch die Darstellung von Zacharias und Elisabet als gläubige Juden (Lk 1,5-25) sowie generell durch die Tatsache, dass sowohl Jesus selbst als auch die Missionare der Apg durchgängig gläubige Juden sind. Das Doppelwerk reagiert also auf das Phänomen der Ik Gegenwart, dass es (möglicherweise sogar von Paulus gegründete) heidenchristliche Gemeinden - getrennt vom Judentum - gibt, die den Anspruch haben, Gottes Volk zu sein, die aber nicht so leben, wie es Gott in der Tora geboten hat, und dass es auf der anderen Seite jüdische Gemeinden gibt, die den gleichen Anspruch haben, sich aber an die Tora halten (vgl. hierzu M. WOLTER). Diese suchen sich zugleich aber
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auch von den christlichen Gemeinden zu distanzieren und wollen ihnen dadurch das eigene Erwählungsbewusstsein streitig machen. Demgegenüber verdeutlicht das Ik Doppelwerk, dass (I) der Übergang vom Judentum zum Heidentum als Adressat der Christus botschaft bzw. des Evangeliums Gottes schrittweise vor sich ging - vom Heilsangebot an die Juden (2,1-40) über die Samaritaner (8,4-25), den äthiopischen Eunuchen (8,26-39), die "Gottesfürchtigen" (10,2; 13,16.26; 16,14; 18,7), d. h. die am Monotheismus des Judentums interessierten Heiden, bis hin zu den "normalen" Heiden (15,7-21; 28,28) - und (2) letzten Endes das Christentum ein Ergebnis der verweigerten Einsicht des Judentums in die Kontinuität der Geschichte Gottes mit seinem Volk ist (28,25-28). Die christlichen Gemeinden finden durch die Apg ihre Identität in der Geschichte Israels als das wahre Israel (deshalb fragen die Jünger den Auferstandenen in 1,6 auch, ob er das "Reich für Israel" wieder aufrichten werde), während das ursprüngliche Gottesvolk Israel den eigentlichen Sinn der Tora nicht verstanden und deshalb die Tora in ihrem tieferen (christologischen) Sinn auch nicht bzw. nie gehalten hat (7,53). Das lk Doppelwerk beendet die heilsgeschichtliche Verunsicherung der christlichen Gemeinden durch ihre Verankerung in der Geschichte Israels und durch die geschichtliche Verständlichmachung von christlichem Glauben und christlicher Gemeindepraxis. Die breite Darstellung des Paulus, auf dessen Gründung sich die Gemeinden, die Lukas im Blick hat, zurückführen, stellt diesen Zeugen, der ja kein Augenzeuge und damit kein Apostel sein konnte, als maßgebliche Person dar, die - berufen von Jesus selbst (9,5) - in Kontinuität zu den Aposteln und in Einigkeit mit den Aposteln steht (15,1-21) und von daher von Gott legitimiert die Missionsgeschichte weiterführt.
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D.I. Briefliteratur im Neuen Testament (Stefan Schreiber)
In der Antike diente der Brief allgemein als Kommunikationsmittel zwischen räumlich getrennten Partnern, das ein persönliches Gespräch ersetzt. Cicero (106-43 v. Chr.) z. B. beschrieb den Brief als "Gespräch voneinander getrennter Freunde" (amicorum conloquia absentium; Phil 2,7) und sieht die Distanz zum Adressaten beim Schreiben kurzzeitig überwunden: "mit dem Blick auf dich in der Feme (absentem) und gleichsam vor dir sitzend (quasi coram tecum)" (Fam 11 9,2). Natürlich kennen wir den Brief in dieser Funktion auch heute noch, doch kam ihm in der Antike angesichts des Fehlens anderer Formen distanzüberwindender Kommunikation wie Telefon oder E-Mail besondere Bedeutung zu - heute muss die Post werben: "Ein Brief verbindet" (2003). Im Gegensatz zu heute wurde die Briefübermittlung in der Antike jedoch dadurch erschwert, dass kein öffentlich zugängliches Postnetz zur Verfügung stand.
1. Briefpraxis Die Briefpraxis der Antike unterschied sich in markanten Punkten von heutigen Gewohnheiten. Daher zunächst ein Blick auf die Realien (dazu H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 55-70). Als Beschreibmaterial für Briefe benutzte man Holz-, Blei- und Wachstäfelchen, Leinen, Leder und Tonscherben, vor allem aber Papyrus (-+ A.II.l.). Auf Täfelchen wurden Buchstaben eingeritzt, auf die anderen Materialien schrieb man mit einer aus Ruß hergestellten Tinte und einem Schreibrohr aus Schilf, das schräg angespitzt war. Lesen und Schreiben zählten übrigens zum Unterricht in den antiken Elementarschulen, so dass diese Fähigkeiten weiteren Kreisen, wenn auch in unterschiedlichen Graden, zugänglich waren. Dennoch war es geläufige Praxis, sich beim Verfassen eines Briefs der Unterstützung eines "Profis" zu bedienen: Man diktierte den Brief einem kundigen Schreiber. Dies trifft auch auf Paulus zu, wie das Ende des Röm zeigt: In Röm 16,22 meldet sich der Schreiber Tertius (mit Grüßen) zu Wort. Wenn Cicero seinem Bruder Quintus und dem Freund Atticus in der Regel eigenhändig schreibt, signalisiert dies besondere Verbundenheit und Freundschaft; doch wenn die Umstände es angesichts von Krankheit oder Zeitnot erfordern, greift auch Cicero auf die Praxis des Diktats zurück (Quint Fratr III 1, I9; Att IV 16, I; V 17, I; VIII 12, I; 13,1). Der Verfasser setzte dann zum Teil eigenhändig einen Schlussgruß mit Unterschrift unter das fertige Schreiben. Im Postskript eines Briefes an Atticus (Att XIII 28,4) merkt Cicero an, nun eigenhändig zu schreiben; auch eine heikle Angelegenheit spricht er
D.I. Briefliteratur im Neuen Testament (Stefan Schreiber)
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lieber mit eigener Feder an (Att XI 24,2). Paulus legt in Gal 6,11-18 noch einmal sein ganzes persönliches Gewicht in die abschließenden Worte aus eigener Hand (vgl. 1 Kor 16,21; Phlm 19; 2 Thess 3,17; Kol 4,18). Hatte man den Brief beendet, faltete man das Papyrusblatt zusammen und schrieb auf die Außenseite die Adresse. Damit begannen die Schwierigkeiten der Beförderung. Nachdem ein Postsystem nur für die Staatspost existierte, musste alle nichtstaatliche Post durch private Boten (z. B. einen eigenen Sklaven) oder Reisende, die man kannte und denen man seinen Brief anvertrauen wollte, überbracht werden. Dass hierbei Verzögerungen und Ausfälle auftraten, verwundert nicht. Die pln Gemeinden und Paulus selbst vertrauten dabei offenbar auf Boten aus den eigenen Reihen; ein intensives Beziehungsgeflecht ermöglichte diverse Briefsendungen. Den Boten kam teilweise noch eine zusätzliche wichtige Funktion zu, da sie über den Brief hinaus mündliche Erläuterungen zu dessen Inhalt geben konnten. In Röm 16,1 f. empfiehlt Paulus eine Frau namens Phöbe, die offenbar genau diese Funktion der Brietbotin übernommen hatte. Ein anschauliches Beispiel rur einen familiären Papyrusbrief ist aus dem Ägypten des 2. Jh. erhalten; ein zum Militärdienst rekrutierter junger Ägypter mit Namen Apion gibt nach seiner Ankunft im Militärhafen von Misenum (im Golf von Neapel) seiner Familie Nachricht (BGU 11 423; H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 29-33): Apion dem Epimachos, seinem Vater und Herrn, vielmals zum Gruß. Vor allem wünsche ich, dass du gesund bist und (dich) stets, indem es dir gut geht, wohl befindest mitsamt meiner Schwester und ihrer Tochter und meinem Bruder. Ich danke dem Herrn Serapis, dass er, als ich in Seenot war, (mich) sofort errettet hat. Als ich nach Misenum kam, erhielt ich als Marschgeld (viaticum) vom Kaiser drei Goldstücke, und es geht mir gut. Ich bitte dich nun, mein Herr Vater, schreibe mir ein Briefchen, erstens über dein Wohlbefinden, zweitens über das meiner Geschwister, drittens, damit ich Verehrung erweise deiner Hand(schrift), weil du mich wohl erzogen hast und ich aus dem (Grund) hoffe, rasch zu avancieren, so die Götter wollen. Grüße Kapiton vielmals und meine Geschwister, auch Serenilla und meine Freunde. Ich habe dir geschickt mein Bildchen durch Euktemon. Es ist mein Name Antonius Maximus. Dass es dir wohl ergehe, wünsche ich. Zenturie Athenonike.
2. Klassifizierungen Um Funktion und Bedeutung antiker Briefe besser einschätzen zu können, sind Klassifizierungen des Briefcharakters hilfreich (grundlegend, mit vielen Beispielen H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 71-147). Angesichts der Fülle und Verschiedenheit des erhaltenen antiken Briefmaterials bleiben solche Einteilungen freilich immer auch subjektiv und eine Frage der Festlegung. Die Übergänge sind teilweise fließend.
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D. Die Briefe
(I) Nichtliterarische Briefe: Hierzu zählen weite Teile der antiken Briefüberlieferung, meist als Originalschriften auf Papyrus eher zufällig erhalten und nicht durch Abschriften für die Verbreitung und Überlieferung bestimmt. Als reine Gelegenheits- und Gebrauchsschriften dienten sie ganz aktuellen Absichten, ohne dabei bereits an eine breitere Öffentlichkeit oder gar die Nachwelt zu denken. Weitere Unterteilungen zeigen das Spektrum dieses Brieftyps: Privatbriefe (an Familienmitglieder oder Freunde), amtliche Briefe (an/von Behörden), Geschäftsbriefe. Dazu kommen verschiedene Ausstrahlungen der Briefform in andere Alltagsbereiche wie den magischer Beschwörungen (z. B. Fluchtäfelchen, die als Brief an einen Toten stilisiert sind, der die Verwünschung ,jenseitig" transportieren soll). (2) Diplomatische Schreiben: Sie stammten von Herrschern (Königen, Kaisern) und besaßen weitreichendes politisches Gewicht, so dass sie häufig "konserviert" wurden, indem man sie in Stein meißelte oder in Geschichtswerken wörtlich. zitierte. Ein Beispiel bietet die sog. Gallio-Inschrift (~ D.II.2.). Häufungen von Titeln in Briefen römischer Kaiser zeigen entfernte formale Ähnlichkeiten mit den verschiedenen Selbstbezeichnungen des Paulus im Präskript seiner Briefe (Röm 1,1-6). (3) Literarische Briefe: Sie reichen über einen aktuellen Anlass hinaus und waren bereits mit dem Ziel verfasst, eine gewisse Öffentlichkeit zu erreichen. Die Überlieferungsgeschichte zeigt, wo das gelungen ist: Diese Briefe sind in Abschriften und Sammlungen erhalten. Auch hier ist das Spektrum groß: Rhetorische Übungen, Dichtungen (Verse bei Horaz und Ovid; Briefe in Romanen), philosophische Lehrbriefe (z. B. von Epikur, Cicero oder Seneca). Gerade an den in einer umfangreichen Sammlung vereinigten Briefen Ciceros kann man sehr schön die Übergänge vom Privatbrief zum literarischen Brief erkennen. Literarische Briefe eignen sich potentiell für Fiktionen, die eine Briefsituation als Kulisse erst entwerfen (diskutiert für Senecas Epistulae Morales). Damit sind auch "Fälschungen" von Lehrbriefen einer philosophischen Autorität möglich, durch die eine Schultradition weitergetragen und entwickelt werden soll; die Kynikerbriefe stellen ein anschauliches Beispiel dafür dar (~ 7.). Die Unterscheidung von literarischen und nichtliterarischen Briefen ist als Arbeitsinstrument wichtig. Die ältere Forschung konnte unter Rückgriff auf A. DEISSMANN (193-208) scharf zwischen Brief und Epistel trennen: "Der Brief ist ein Stück Leben, die Epistel ist ein Erzeugnis literarischer Kunst" (195). Die Schriften des Paulus seien in diesem Sinne Briefe, Jak und Hebr bildeten Beispiele der Epistel. Wenn diese strikte Zweiteilung heute aufgegeben ist, so deswegen, weil sich gerade die Paulusbriefe einfachen Klassifizierungen widersetzen (vgl. M. L. STIREWALT, Paul 26.113-116): Sie verbinden Aktuell-Persönliches mit durchaus literarischen Anteilen und (begrenzter) "Gemeinde-Öffentlichkeit" (und sind daher heute in einer Vielzahl von Abschriften erhalten). In Schriften wie Hebr und Offb sind fiktionale Briefelemente, die sich mit diskursiven bzw. narrativen Strängen verbinden, formprägend und spiegeln dabei doch einen konkreten Situationsbezug. Autorenfiktionen sind in der zweiten und dritten christlichen Generation häufiges Mittel einer lebendigen Traditionshermeneutik (Deuteropaulinen; katholische Briefe; .... 7.).
D.l.
Briefliteratur im Neuen Testament (Stefan Schreiber)
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Auch antike Autoren selbst haben sich mit der Theorie des Briefschreibens beschäftigt. Unter dem Namen eines Demetrios ist eine Schrift "Über den Stil" (De elocutione) überliefert, die zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem I. Jh. n. Chr. zu datieren ist. In einem Exkurs zum Briefstil (Eloc 223-235) vergleicht der Autor den Brief mit einer der beiden Rollen in einem Dialog, wobei der Brief aber sorgfältiger gestaltet werden muss (223f.); den Gesprächscharakter gilt es gleichwohl zu wahren, so dass der Brief nicht in eine Rede (genannt werden Festvortraglepideiktische Rede und Gerichtsrede/dikanische Rede in 225.229) ausarten darf. Gemeint ist damit, wie der Autor wiederholt festhält, ein schlichter und unprätentiöser Stil. Als wesentlichen Theoriebaustein betont er die "Philophronesis", die freundschaftliche Gesinnung als Basis brieflicher Kommunikation, womit zugleich die Pflege der Beziehung als grundlegendes Briefanliegen hervortritt. Im Brief gelangten verschiedene Stilmittel und Darstellungsformen zur Anwendung. Ebenfalls einem Demetrios (als Pseudo-Demetrios bezeichnet) zugeschrieben ist ein Werk über "Briefliche Typen", das im 3. Jh. n. Chr. in seiner Endgestalt redigiert wurde, dabei aber deutlich älteres Material (teilweise aus dem 2. Jh. v. Chr.) verarbeitete. Zu Beginn der Einleitung deutet der Autor eine Brieftheorie an, die eine größere Anzahl sprachlicher Muster kennt, aus denen bei der Abfassung eines Briefes je nach der konkreten Situation eine Auswahl erfolgt. 21 Arten von Briefen unterscheidet der Autor, von denen ich nur einige für die ntl Briefe bedeutsame nenne: Freundschaftsbrief, Empfehlungsbrief, Trostbrief, tadelnder Brief, lobender Brief, beratender (symbuleutischer) Brief, Bittbrief, Dankbrief. Diese Briefarten verstehen sich als Ergebnis einer theoretischen Reflexion über gängige Briefpraxis; sie spiegeln v. a. die Pragmatik des Briefschreibens, also konkrete soziale Situationen und Handlungsfelder, in denen Briefe geschrieben werden. Zur formalen Klassifizierung von Briefsorten sind sie nur bedingt geeignet (zur antiken Brieftheorie H. KOSKENNIEMI; K. THRAEDE; A. J. MALHERBE, Ancient Epistolary Theorists; S. K. SrowERS 51-57; H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 148-165). Wenigstens erwähnt sei, dass auch in der jüdischen Kultur, in der sich das frühe Christentum entwickelte, die Praxis des Briefschreibens selbstverständlich geläufig war (P. S. ALEXANDER; I. TAATZ; H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 181-226).
3. Briefformular Anhand bestimmter sprachlicher Muster ist ein Schriftstück sofort als Brief erkennbar. Der Vergleich einer Vielzahl antiker Briefe ermöglicht es, dieses grundlegende Muster oder Briefformular herauszuarbeiten. Der zitierte Brief des Apion (- 1.) erscheint in dieser Hinsicht fast idealtypisch. Ein Schema fasst das Ergebnis zusammen:
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D. Die Briefe
Briefeingang • Präskript Absender (superscriptio; im Nominativ) Adressat (adscriptio; im Dativ) Gruß (salutatio; im Infinitiv: XIXLpEw/"zum Gruß") • Proömium Wunsch fur Gesundheit, Wohlergehen Danksagung Zusicherung von Gedenken, Fürbitte (sog. "Proskynema"-Formel) Äußerung von Freude
Briefkorpus • Eröffnung des Briefkorpus Gedenken, Äußerung von Freude (Hinfuhrung zum Briefthema) Formeln der Kundgabe, des Ersuchens etc. Selbst- bzw. Fremdempfehlung • Mitte des Briefkorpus Information thematische Erörterung und Argumentation Anweisung, Mahnung, Appell, Bitte, Empfehlung (teilweise unter Verwendung stereotyper Wendungen) • Abschluss des Briefkorpus Anwendungen, Mahnungen, Bitten Besuchs- und Reisepläne Briefschluss Epilog abschließende Mahnungen manchmal Reflexion auf den Schreibakt Beziehung als Thema, z. B. Bitte um Fürbitte, Besuchswunsch Postskript Grüße:
Grüße vom Verfasser an die Adressaten Grußauftrag (= Grüße vom Verfasser an andere) Grußübermittlung (= Grüße von anderen an die Adressaten) Wünsche wie "Lebe wohl" teilweise Eigenhändigkeitsvermerk Datumsangabe
Eine Bemerkung zur Form des Präskripts: Die übliche griechische Form lautet A (Absender), dem B (Adressat), x.a.(pHvl"zum Gruß" (vgl. Apion-Brief --+ 1.). In frühjüdischen Briefen treten teilweise andere Formen auf, z. B. Von A, an B, Sehalom (Friedenswunsch als Gruß); oder: A, an B, Sehalom; oder: An B, zum Gruß, A. Typisch ist der Friedenswunsch. Paulus pflegt das Schema A (Paulus + Titel wie "Apostel" + Mitabsender), dem B ("der Gemeinde in N."), Friedensgruß ("Gnade euch und Friede von Gott unserem Vater und dem
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Herrn Jesus Christus"). Bei Paulus löst also das biblisch geprägte Begriffspaar "Gnade und Friede" den griechischen Gruß xatpew ab (beachte den verbalen Anklang von XapLC; und XatPELv); fonnal liegen damit zwei Nominalsätze (A dem B. Friedensgruß) vor. Die übliche griechische Form findet sich im NT nur in Jak 1,1 und Apg 15,23; 23,26. Damit sind wir bei den Briefen des NT angekommen.
4. Briefe im Neuen Testament Mit 21 von insgesamt 27 Schriften bilden die Briefe den größten Teil der ntl Schriften. Dazu kommt die Offb, deren Rahmung von der Briefform geprägt ist und die selbst sieben Briefe (sog. Sendschreiben) in ihre Erzählung einbaut (-+ E.l1.2.2), und zwei in die Handlung der Apg integrierte Briefe (Apg 15,23-29; 23,26-30). In Hebr, Jak und 1 Joh ist die Brieffonn nur angedeutet. Die ersten christlichen Briefe stammen aus der Feder (bzw. dem Diktat) des Paulus. Sie entsprechen weitgehend dem Formular antiker Briefe und weisen doch Eigenheiten auf. So handelt es sich kaum um reine Privatbriefe, denn Paulus spricht als Apostel in der Funktion des Verkündigers des Evangeliums zu (einer) Hausgemeinde(n). Das Verhältnis des Apostels zu seinen Gemeinden prägt die Eigenart der pln Briefe. (1) Die Briefe dienen der Kontaktpflege, d. h. der Apostel ist vermittelt durch den Brief bei der Gemeinde präsent. Der Brief erneuert die Verbindung, ersetzt die persönliche Anwesenheit und stellt ein baldiges Wiedersehen in Aussicht. Meist sind auch Mitabsender genannt. (2) Die Briefe enthalten eine Verbindung von theologischer Reflexion und praktischen Fragen. Selbstdarstellung, Verteidigung und Selbstzeugnis des Verfassers spielen ebenso eine Rolle wie Lob, Tadel, Ennahnung, Trost und Anklage gegenüber den Adressaten. (3) Die Briefe sind für die Verlesung in der Gemeindeversammlung gedacht (1 Thess 5,27), was neben dem Informationswert den Zusammenhalt und die Identität der Gemeinde fördert. Diese schriftliche Form des Kontaktes entsprach (neben der persönlichen Begegnung) offenbar besonders gut den Bedürfnissen der Verkündigung in der Frühzeit des Christentums, die durch kleine, weit verstreute Hausgemeinden gekennzeichnet war. Weil ein Brief in eine aktuelle Situation hinein spricht und die Brieffonn Situationsbezogenheit signalisiert, eignete sich der Brief zur Bewältigung konkreter Fragen im Leben der Gemeinden. Und weil ein Brief Beziehung über eine räumliche Distanz hinweg festigt, vermittelte er in den kleinen, in ihrer Umwelt fremden und in der Formation begriffenen Hausgemeinden das Bewusstsein, Teil eines größeren Beziehungsgefüges, einer Gemeinschaft von Jesus-Gruppen zu sein. Besonders deutlich sieht man das an den Paulusbriefen. Aber gerade der Situationsbezug dieser Briefe erschwert uns heute in einer weitgehend gewandelten Situation das Verstehen. So wird die oft mühsame und mit Unsicherheiten belastete Rekonstruktion der Entstehungssituation zur Verstehensvoraussetzung und damit zur Aufgabe der
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D. Die Briefe
Exegese. Leider ist uns in keinem einzigen Fall die andere Seite der Korrespondenz erhalten, so dass unser Bild der Lage notwendig einseitig bleibt. Wir wissen zwar, dass Paulus (z. B. in 1 Kor 7,1) auf konkrete Anfragen einer Gemeinde antwortet, doch können wir diese nur aus der Antwort des Paulus erschließen. Der Situationsbezug ist auch für den ganz unterschiedlichen Ton der Briefe verantwortlich, der vom sachlich-ruhigen Ton des Röm bis zur hitzigen Polemik des Gal reichen kann. Eine theoretische Reflexion der eigenen Briefpraxis ist von Paulus nicht überliefert. Einige Beobachtungen zum Formular der Paulusbriefe seien noch angemerkt. (I) Die äußere Adresse auf der Außenseite des Papyrus ist verloren. (2) Erweiterungen des Präskripts, teilweise sogar sehr ausfiihrliche, treten situationsbedingt auf. (3) Ein wichtiges Element des Proömiums bildet die Danksagung (außer im Gal), weil Paulus im Dank an Gott für die Existenz der Gemeinde als Gemeinde Christi indirekt die Verbindung mit sich als Apostel herausstellt. Eine Selbstempfehlung thematisiert ebenfalls die Beziehung des Paulus zur Gemeinde (z. B. in Hinweisen auf den Gründungsbesuch, einen bevorstehenden oder verhinderten Besuch, die Art des früheren Auftretens des Paulus bei der Gemeinde). (4) Im Postskript schaffen Grußauftrag und -ausrichtung eine Verbindung zwischen einzelnen Personen bzw. Gemeinden, womit ein Gefiihl der Zusammengehörigkeit erzeugt und gemeinsame Identität erinnert wird. Der Grußauftrag dient auch der Verbreitung des Briefes. (5) Der Eigenhändigkeitsvermerk im Postskript unterstreicht die Authentizität und Rechtmäßigkeit des Briefinhalts und vermittelt wenigstens indirekt die persönliche Anwesenheit des Absenders. (6) Ein abschließender Segenswunsch drückt die positive Intention der Beziehung und die gemeinsame Basis der Gesprächspartner im Glauben an Jesus aus. 5. Brief und Rede (Rhetorische Analyse) Verstärkt seit den 80er Jahren des 20. Jh. wurden vor allem in der englischsprachigen Forschung formale Analysemodelle favorisiert, die die Argumentationsstrukturen und den Sitz im Leben der ntl Briefe mittels der Schemata antiker Rhetorik präziser erfassen wollen. Ein Brief wird gleichsam als Rede analysiert, was mit der rekonstruierten "Gebrauchssituation" begründet werden kann: Die Briefe des Paulus werden in der Gemeindeversammlung vorgelesen und nähern sich so dem Charakter mündlicher Rede. Seit der prominenten Arbeit von H. D. BETZ zum Gal liegen zu allen Paulusbriefen zahlreiche, durchaus voneinander abweichende rhetorische Entwürfe vor (vgl. z. B. zu 1/2 Thess die Übersicht bei S. SCHREIBER 267-269; zu Gal-+ D.VL I.; zu Phil-+ D.VII.2.1.2; zu 2 Kor-+ D.V.2.1.3; allgemein D. F. WATSON). Doch sind es weniger die Unterschiede in den Einzelergebnissen als grundsätzliche Überlegungen zu Brieftheorie und Rhetorik, die hier zur Vorsicht mahnen. In Theorie und Praxis der Antike wurden Brief und Rede als eigene Formen betrachtet, die erst in der Reflexion der Spätantike teilweise vereint werden (ausgewogene Darstellung bei H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 165-180; zur Diskussion C. GERBER 48-51). Auf die klare Unterscheidung der Stilebenen von Brief und Rede (Festvortrag und Gerichtsrede) bei (Pseudo-)
D.!.
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Demetrios, Eloc 225.229 wurde bereits hingewiesen (- 2.); auch Cicero weiß: "Ein Brief ist doch keine Gerichtsverhandlung oder Volksrede"; im Unterschied zur Rede ist der Brief "aus alltäglichen Worten" gebildet (Farn IX 21, I). Die Rhetorik beschäftigt sich mit der Kunst mündlich vorzutragender Reden, die für eine größere Öffentlichkeit konzipiert sind, die Epistolographie dagegen mit schriftlich abgefassten Briefen, die im Fall des oft als Ideal betrachteten Freundschaftsbriefs die Öffentlichkeit sogar programmatisch ausschließen. Und selbst das Vorlesen eines Briefs vor einer Gruppe impliziert als eine Form sekundär produzierter Oralität eine ganz andere Performance des Vortrags als eine rhetorisch ausgefeilte Rede. Eher unbewusste Verbindungen beider Größen werden freilich der Tatsache geschuldet sein, dass sich die Rhetorik zu einem äußerst wichtigen und weit verbreiteten Bildungs- und Kulturgut der antiken Welt entwickelt hatte. Daher ist es durchaus möglich, dass Paulus und andere frühchristliche Briefautoren aus ihrem allgemeinen Kulturwissen eher durch unbewusste Nachahmung einzelne rhetorische Strukturen und Gepflogenheiten bei der Gestaltung ihres brieflichen Anliegens anwendeten. In der Frage einer eigentlichen rhetorischen Schulbildung des Paulus und anderer früher Christen wird man aber zurückhaltend urteilen müssen (C. J. CLASSEN; S. E. PORTER). Eine bewusste rhetorische Konzeption der ntl Briefe wird daher weniger wahrscheinlich. Weiterführend kann hingegen eine Strukturanalyse mit den Mitteln und Einsichten der Epistolographie sein, wodurch die Funktion der einzelnen Briefpassagen deutlicher hervortritt (vgl. C. GERBER 51-74). In diesem Rahmen kann die Anwendung einzelner Elemente aus der rhetorischen Theorie rur die Analyse der ntl Briefe nützlich sein. Das trifft nicht nur auf die Beschreibung der Sprachgestalt zu (elocutio: Stilistik, Sprachfiguren), sondern auch auf die Untersuchung der Argumentationsstruktur und -absicht (inventio) eines Briefes. Daher sollen wenigstens einige Begriffe und Elemente der antiken Rhetorik, die weit verbreitet waren, kurz erklärt werden (vgl. M. FUHRMANN). Geläufig war eine Unterscheidung dreier Arten oder Genera von Reden, die einen unterschiedlichen Funktionsort besaßen: • genus iudiciale (dikanische, forensische Rede): Rede vor Gericht zum Zweck der Verteidigung oder der Anklage; • genus deliberativum (symbuleutische Rede): Rede vor der Ratsversammlung, die eine bestimmte politische Option plausibel machen oder davon abraten will, also zur Entscheidungsfindung verhilft; • genus demonstrativum (epideiktische Rede): Rede vor der Festversammlung, die einen Verstorbenen, einen Wohltäter, eine Stadt etc. lobt oder tadelt. Das größte Gewicht besaß die Gerichtsrede. Nicht jede Rede ließ sich exakt in diese Systematik einordnen, so dass Gattungsunschärfen auftreten konnten. Gerade rur die Gerichtsrede galt ein relativ klar umrissenes Aufbauschema, das sich freilich je nach individueller Absicht und Situation variieren ließ: • exordium (Vorrede) • narratio (Darlegung des Sachverhalts) teilweise mit propositio (Zusammenfassung des Kemgedankens der nO/'ratio als These)
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D. Die Briefe
• argumentatio (Beweisführung), kann unterteilt sein in: probatiolconfirmatio (positive Beweisführung, Pro-Argumente) refutatiolconfutatio (Widerlegung der Gegner, Gegen-Argumente) • peroratio (Redeschluss: Zusammenfassung und Beeinflussung der Affekte).
6. Teilungshypothesen Aufgrund mancher Schwierigkeiten, den inhaltlichen Zusammenhang und die Stringenz im Duktus einiger Paulusbriefe klar zu erkennen (sog. Kohärenzmängel), wurde in der Forschung verschiedentlich die Einheitlichkeit der meisten Paulusbriefe angezweifelt und die vorliegende Briefgestalt als Zusammenstellung ursprünglich eigenständiger Einzelbriefe durch einen späteren Redaktor erklärt. In der derzeitigen Diskussion über diese Frage zeichnet sich die Tendenz ab, wieder stärker die Einheitlichkeit der Briefe zu begründen; dennoch werden weiterhin Teilungshypothesen fiir unumgänglich erachtet. Besonders zu 1/2 Kor, Phil und I Thess wurden verschiedene Vorschläge von Briefteilungen vorgelegt. Dass die Frage trotz der genannten Tendenz zur Einheitlichkeit keineswegs ausdiskutiert ist, zeigen in diesem Band die unterschiedlichen Zugänge zu 2 Kor (Tendenz zur Einheitlichkeit; -+ D.V.2.1) und Phil (Briefteilung; -+ D. VII.2.l).
Die Frage nach einer angemessenen Methode wird entscheidend. Teilungshypothesen sind ja nur dann naheliegend, wenn der überlieferte Text Signale enthält, dass er aus ursprünglich selbständigen Briefen besteht (z. B. typische Briefabschlusswendungen an auffälliger Stelle mitten im Briefkorpus), oder wenn er in der vorliegenden Form nicht als sinnvolle Einheit verstanden werden kann. Nun sind aber die Beobachtungen solcher Signale sehr stark von den subjektiven Eindrücken der einzelnen Forscher abhängig: Was sind Brüche, Widersprüche, Störungen oder Unterbrechungen des Gedankengangs? Woran erkennt man, dass den Textteilen unterschiedliche Situationen zugrunde liegen? Briefe sind Gelegenheitsschreiben, in denen abrupte Themenwechsel durchaus möglich sind; sie müssen nicht unserer Logik entsprechen, sondern beziehen sich auf die Eigenart einer konkreten Sprechsituation. Ferner müssen Teilungshypothesen immer von einem Postulat ausgehen: Sie setzen einen nach-pln Redaktor voraus, der den Brief aus Einzelbriefen nach inhaltlichen Kriterien anordnete und als kohärentes Ganzes verstand. Die Absichten eines solchen Redaktors werden aber kaum erkennbar. Problematisch an seinem Vorgehen wäre der Verlust der einzelnen Briefanfänge und -schlüsse, obwohl diese bei Paulus individuell gestaltet waren (also mehr enthielten als nur Absender, Adressat und Grußformel). Eine Redaktion müsste sehr früh geschehen sein, weil die Textüberlieferung keine Spuren oder Rudimente ursprünglicher Einzelbriefe erkennen lässt. Angesichts der entstehenden methodologischen Unsicherheit kann die Suche nach Analogien in der Umwelt weiterhelfen. Analoge Phänomene lassen sich
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nicht einfach auf die Situation der Paulusbriefe übertragen, geben uns aber Einblick in tatsächliche Prozesse der Weitergabe von Briefen. (1) Als erste Analogie soll Platons 7. Brief herangezogen werden. Der Autor unterbricht die chronologische Darstellung bestimmter Ereignisse durch weit ausholende Überlegungen (Ep 7,3308-337B); den abschweifenden Charakter dieser Überlegungen hält Platon dann ausdrücklich fest (7,344D). Ähnlich erscheint auch der Einschub in 2 Kor 2,14-7,4 als umfassende Darstellung des Selbstverständnisses Pauli, um gegnerische Vorwürfe zurückzuweisen und die Gemeinde flir sich zu gewinnen; auch Paulus reflektiert seine Abschweifung in 2 Kor 6,11: "Unser Mund hat sich aufgetan flir euch, Korinther, unser Herz ist weit geworden."
(2) Einen zweiten Testfall stellt die Sammlung der Briefe Ciceros dar (dazu H.-J. KI.AUCK, Compilation; T. SCHMELLER, Cicerobriefe). Es handelt sich dabei um die einzige Sammlung echter Briefe in der Antike, die etwa zeitgenössisch zu Paulus entstand und sich für einen Vergleich eignet. Von Cicero sind etwa 800 Briefe erhalten, die zum Teil kurz nach Ciceros Tod von seinem Sekretär Tiro herausgegeben wurden, zum Teil aber auch erst hundert Jahre später. Innerhalb dieser Briefsammlungen stößt man auf über 60 Briefkompilationen. Sie sind an formalen, strukturellen und inhaltlichen Spannungen meist klar zu erkennen. Ein Vergleich mit den Paulusbriefen zeigt interessante Ergebnisse: (a) Ein Unterschied besteht ohne Zweifel in der Zahl der erhaltenen Briefe, die bei Paulus sehr viel geringer ausfällt. Die größte Zahl an Briefen schrieb Paulus wohl nach Korinth, aber auch deren Zahl blieb überschaubar: I. ein "Vorbrief' (in I Kor 5,9 erwähnt; wohl verloren); 2. I Kor; 3. ein "Zwischenbrief' (in 2 Kor 2,4; 7,8 erwähnt; wohl verloren); 4. 2 Kor.
Daher sind bei Paulus technische Briefkompilationen, um Schreibplatz zu sparen, unwahrscheinlich; ebenso sind zufällige Kompilationen (weil z. B. ein Briefanfang verloren ging), bei größeren Zahlen an Briefen wahrscheinlicher; schließlich sind auch kalkulierte Kompilationen (z. B. thematische Zusammenstellungen) eher möglich, wenn eine größere Auswahl einzelner Briefe zur Verfiigung steht. Allein schon angesichts des Zahlenverhältnisses sind Kompilationen bei den Paulusbriefen also weniger wahrscheinlich als bei den Briefen Ciceros. (b) Brüche im Briefduktus finden sich auch bei Cicero. Als möglichen Grund gibt er zu erkennen, dass ein Brief im Zeitraum von mehreren Tagen verfasst wurde; ferner kann ein Postskript nach dem Erhalt neuer Nachrichten angefiigt werden (auch ein langes Postskript ist möglich; die bei Cicero geläufige Kennzeichnung als Postskript fehlt jedoch bei Paulus). Mit diesen Vorgängen ließe sich z. B. der Bruch zwischen 2 Kor 1-9 und 10-13 erklären. (c) Interpolationen (= Ineinanderfügungen) von Briefen bzw. Briefteilen lassen sich für das Corpus der Cicerobriefe nicht nachweisen. Häufiger begeg-
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D. Die Briefe
net hier eine Kompilation in korrekter zeitlicher Folge mehrerer Briefe, womit eine Reihung geschichtlicher Schlaglichter, also eine Erzählfolge in Form von Briefen geschaffen wurde. Der Anschein von Einheitlichkeit wird nicht erzeugt: Die Einzelbriefe bleiben deutlich erkennbar, z. B. an Briefanfängen oder -schlüssen. Damit finden komplizierte Teilungshypothesen, die aus einem Paulusbrief drei oder mehr ursprüngliche Briefe herausschneiden und eine Verschmelzung der Einzelbriefe in bewusster Umkehrung der Reihenfolge annehmen, in der Sammlung der Cicerobriefe keine Analogie. Auch zu einer potentiellen Intention eines Redaktors, der eine nicht situationsgebundene, einheitliche und allgemein gültige Zusammenfassung der Lehre und des Selbstverständnisses Pauli geben wollte, bieten die Cicerobriefe keine Analogie.
Der Vergleich mit den Bedingungen und Vorgehensweisen bei der Herausgabe der Cicerobriefe macht die These, in der vorliegenden Gestalt der Paulusbriefe sei eine Verschmelzung mehrerer Einzelbriefe erkennbar, nicht wahrscheinlicher; es müssten dabei ganz andere Grunde und Motive leitend gewesen sein. Für die gegenwärtige Auslegung scheint es mir daher geraten, so weit wie möglich mit der These der Einheitlichkeit zu arbeiten.
7. Pseudepigraphie Bei sechs Briefen, die die Absenderangabe "Paulus" tragen (-+ DX.-XIlI.), und bei Jak, ]/2 Petr und Jud gehen große Teile der Forschung davon aus, dass sie nicht von den genannten Verfassern stammen. Wir nennen sie "pseudepigraphische" Briefe, weil sie die historisch unzutreffende Fiktion vermitteln, von einem bekannten Verfasser geschrieben zu sein. Insofern ist Pseudepigraphie ein Sonderfall von Pseudonymität (die Verwendung fremder, auch frei erfundener Verfassernamen). Solche Pseudepigraphie ist für den Fall wahrscheinlich zu machen, dass die Situation, für die ein Brief gedacht ist, die Theologie, die er entwickelt, und die Sprache, mit der er sich ausdrückt, nicht mehr in die Zeit der ersten urchristlichen Generation passen, sondern bereits eine geschichtliche Weiterentwicklung voraussetzen. Ab den 60er/70er Jahren des I. Jh. geschahen in den christlichen Gemeinden einschneidende Veränderungen. (1) Die apostolischen Gestalten des Anfangs der Christus-Gemeinden wie Paulus oder Petrus waren tot. (2) Innerhalb der Gemeinden waren Organisationsformen noch im Aufbau, in der Phase der Erprobung. Eine "gesamtkirchliche" Organisation existierte nicht. (3) Die Verzögerung der Parusie Christi wurde zusehends deutlicher, und damit der Zweifel an einer grundlegenden Erwartung der ersten Generation zum Problem. (4) Durch die (allmähliche und unterschiedlich schnell verlaufende) Trennung von den örtlichen jüdischen Synagogen verloren die Gemeinden Sicherheit in theologischer und gesellschaftlicher Hinsicht. (5) Innerchristlich traten Auseinandersetzungen um das rechte Verständnis des eigenen Glaubens auf. Die Einheit der Gemeinden war gefahrdet. (6) Konfrontationen mit
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der Gesellschaft und vor allem den staatlichen Behörden spitzten sich zu. Nachhaltige Besorgnis wird die stadtrömische Christenverfolgung unter Nero im Jahr 64 verursacht haben.
Es handelte sich um eine Situation des Umbruchs und der Neuorientierung. Auf diese konnten die Christen der zweiten und dritten Generation nur unter Rückgriff auf ihre Tradition, die Überlieferung der Anfangszeit, reagieren. Die theologischen Anfänge mussten verarbeitet und auf die gewandelte Lage hin aktualisiert werden. Ein Mittel dazu war die Fiktion, dass eine Autorität der Anfangszeit sich an die Gemeinden wandte. Bevor wir jedoch nach den Maßstäben heutigen Wahrheitsbewusstseins solche Briefe als "Fälschungen" abqualifizieren, müssen wir den Umgang mit Pseudepigraphie in der Antike betrachten (dazu N. BROX; H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 301-305; E. REINMUTH 190-202). Auch in der Antike herrschte ein Bewusstsein über den Wert geistigen Gutes und dessen Urheberschaft und damit eine kritische Bewertung von Anmaßung und Fälschung (vgl. nur Cicero, Att XI 16,1; Farn III 11,5). Dennoch gab es sehr verbreitete Formen von Pseudepigraphie. Das gilt für harmlose rhetorische Schul übungen, bei denen der Schüler sich in die Rolle einer bekannten Geistesgröße versetzte und eine Rede bzw. einen Brief so verfasste, wie sie das Vorbild in einer vorgegebenen Situation verfasst hätte (Technik der "Prosopopoiie" - von lTpoawlTov/Person und lToLEw/machen) - ein Testfall, ob er dessen Denken verstanden hatte; die Absicht einer Täuschung liegt fern. Als rhetorisches Mittel, das z. B. vor Gericht eingesetzt wurde, galt es, in die Rolle eines anderen zu schlüpfen und eine Sachlage aus dessen Perspektive zu schildern. In philosophischen Schultraditionen ist die Veröffentlichung späterer Schriften im Namen des Schulhauptes bekannt (z. B. Schriften des Pythagoras) - die Schüler denken in den Bahnen des Meisters weiter, eine Tradition wird fortgeschrieben, "Traditionsliteratur" entsteht. In Briefen ließ sich Pseudepigraphie besonders gut umsetzen, weil die einfache Nennung eines Verfassernamens genügte, dem Formschema des Präskripts entsprach und die Briefform sich besonders gut rur die Weitergabe wichtiger Aussagen eignete. Von etlichen großen Persönlichkeiten des antiken Geisteslebens, ich nenne nur Euripides, Platon und Sokrates, liefen fingierte Briefe um. Interessant ist das Phänomen der pseudepigraphischen Kynikerbriefe, die den Schulhäuptern Diogenes und Krates zugeschrieben wurden (51 bzw. 36 Exemplare; dazu O. GIGON; F. G. OOWNING; M. L. STIREWALT 43-64; H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 140-147). Verschiedene Autoren verfassten sie in der Zeit vom I. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr., wobei sie den brieflichen Rahmen auf das Notwendigste beschränkten bzw. ganz auf ihn verzichteten. Die komplexen traditionsgeschichtlichen Verhältnisse machen sichtbar, wie ein fiktiver Brief auf der Basis bekanllter Überlieferung entwickelt wurde: Entweder wurden Anekdoten oder Apophthegmata, die über die beiden Schulhäupter tradiert wurden, in Briefform gegossen (ein Beispiel ist der Besitzverzicht des Krates bei Diog. Laert. VI 87 und in Oiogenes, Brief 9; Krates, Brief 8), oder in einem offeneren Vorgehen auf der Grundlage der bekannten Lehre und des Charakters des Schulhauptes (mittels der Technik
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D. Die Briefe
der Prosopopoiie) Briefe "im Sinne" des Beanspruchten verfasst. Zugrunde liegt die Einschätzung, dass das Vorbild des Schulhauptes wirkungsvoller ist als die Sachargumentation eines Zeitgenossen, um das kynische Lebensideal als identitätsstiftend plausibel zu machen (vgl. die eindrucksvolle "Selbstdarstellung" der Zuwendung zum Kynismus bei Diogenes, Brief 30, 1-4). Dahinter steht die konkrete Absicht, die eigene Gruppe zum Dabeibleiben zu motivieren und neue Anhänger zu werben. Da Autoren und Lesern die Kenntnis der Tradition über das Schulhaupt und der Technik des "Rollenspiels" gemeinsam war, ist keine Täuschung der Leser durch Briefflilschungen intendiert, sondern die Verschriftlichung der gemeinsamen Suche nach gelungener Lebensorientierung im Rahmen der kynischen Schultradition. Diese Gesichtspunkte der Traditionsbindung, der Vorbildfunktion und des gemeinsamen Wissens sind auch rur das Verständnis der ntl Pseudepigraphie von Bedeutung.
Gerade auch die jüdische Kultur arbeitete mit pseudepigraphischen Briefen, z. B. in der Überlieferung vom Propheten Jeremia und seinem Schüler Baruch (EpJer LXX; syrBar 78-86; ParJer 6,17-23; 7,23-29) und in den Briefteilen der Makkabäerbücher (bes. 2 Makk I, 10-2,18) und des äthiopischen Henochbuches (äthHen 91-105). Im Ersten Testament ist das Buch Deuteronomium pseudepigraphisch (Dtn 1,1: "Wort des Mose"); mit ihm wird der ganze Pentateuch als Werk des Mose verstanden. In der Propheten literatur wird z. B. das Jesajabuch (Jes 1-39) durch spätere Fortschreibungen im Namen Jesajas ergänzt (Deuterojesaja 40-55, Tritojesaja 56-66). Besonders die apokalyptische Literatur enthält zahlreiche Schriften, die im Namen von Autoritätsträgem der Geschichte Israels wie Henoch, Mose, Baruch und Esra verfasst wurden und diese Autoritäten neu zu Wort kommen lassen. Im Rahmen dieser verbreiteten kulturellen Praxis handelten auch die Verfasser, die Briefe im Namen des Paulus (Deuteropaulinen) und anderer urchristlicher Autoritäten schrieben. Damit ist aber noch nicht alles erklärt. Betrachten wir die bei den wesentlichen Funktionen der Pseudepigraphie - die Beanspruchung von Autorität und einer bestimmten geistigen Tradition. (1) Die Autorität einer berühmten Persönlichkeit der Vergangenheit wird zur Legitimierung der eigenen Aussage beansprucht; Verbindlichkeit wird hergestellt. Dieses Vorgehen erscheint uns heute als falsche Zuschreibung problematisch. Zur Erklärung ist jedoch zu bedenken, dass der Leitgedanke des Briefschreibens, nämlich die Anwesenheit eines Abwesenden zu vennitteln, auch über eine zeitliche Distanz hinweg funktionieren kann: Eine Autorität des Anfangs besitzt auch für Spätere noch Gültigkeit. Zudem müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass die Autorfiktion bereits für die Erstleser durchschaubar war; bei den Past und bei 2 Petr ist dies durchaus denkbar - zumindest, was die gebildeteren Gemeindeglieder betrifft. Dann resultiert die Autorität des pseudepigraphischen Briefes weniger aus einer Fälschung als aus der Markierung der Traditionslinie, in die sich der Verfasser mit der Fiktion steHt - damit wirbt er um Akzeptanz seitens der Adressaten. (2) Der Brief wird in eine bestimmte geistige Tradition gestellt. Ein Christ der zweiten oder dritten Generation sucht die Antwort auf drängende Fragen der Gegenwart vom Erbe der Anfangszeit her, das er angesichts neuer Heraus-
D.l. Briefliteratur im Neuen Testament (Stefan Schreiber)
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forderungen interpretiert. Bereits die direkten Mitarbeiter des Paulus handelten als seine Stellvertreter - als Mitabsender und Überbringer von Briefen, als Gesandte zu Gemeinden; nach 1 Kor 4,17 z. B. hat Timotheus die Aufgabe, die Gemeinde in Korinth an die Lehre des Paulus zu erinnern. Die Praxis der Stellvertretung ließ sich auch nach dem Tod des Paulus fortsetzen. Unabhängig von der Frage, ob eine regelrechte Paulusschule (mit einem festen Zentrum an einem bestimmten Ort und einem geregelten Schulbetrieb) existierte, wurde in den pln Gemeinden die Tradition der Gründergestalt Paulus erinnert, weitergegeben und weitergedacht. Die aus diesem Prozess resultierenden Deuteropaulinen sind Ausdruck eines lebendigen Umgangs mit der Tradition der Gemeinden. Einen Anhaltspunkt bei diesem Interpretationsprozess fand man vielleicht in mündlich überlieferten Aussagen des Paulus selbst (vgl. die Notizen in 2 Thess 2,5.15; 3,10). Der Gewinn der historisch gebotenen Unterscheidung zwischen echten und pseudepigraphischen Briefen besteht nicht zuletzt in der Entwicklung eines differenzierten Bildes des ersten Christentums. Wir wissen nun z. B., dass die Nichtberücksichtigung von Frauen bei gemeindlichen Leitungsämtern (Past) nicht der Meinung des Paulus folgt, sondern aus der Absicht der dritten Generation resultiert, eine stabile Ordnung der Gemeinden zu schaffen und den gesellschaftlichen Druck von außen zu verringern. Zugleich eröffnet uns die in der Pseudepigraphie ausgedrückte Beanspruchung des Paulus die theologisch legitime Möglichkeit, die spätere Interpretation am "Original" kritisch zu überprüfen.
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D.II. Chronologie: Lebensdaten des Paulus (Stefan Schreiber)
I. Die Quellenlage Wir besitzen von Paulus selbst verfasste Briefe, also Primärquellen, aus denen wir ein Bild seines Lebens und Denkens gewinnen können. Was geschichtliche Daten betrifft, gestaltet sich die Auswertung jedoch vergleichsweise schwierig, da kein einziger Paulusbrief datiert ist und es sich um Gelegenheitsschriften handelt, die viele Hintergründe voraussetzen können, ohne detaillierte Angaben zu machen. Mit der Apg liegt eine weitere Quelle vor, in der ein späterer christlicher Autor ("Lukas") im Stil antiker Historiographie die Ausbreitung der JesusBewegung nach Ostern erzählt - also eine SekundärqueJle. Großes Gewicht liegt dabei auf dem Wirken des Paulus, doch auch hier ist die geschichtliche Auswertung problematisch, weil Lukas nicht an der Aufzählung historischer Einzelfakten interessiert ist, sondern an einem übergreifenden Verständnis des Wirkens Gottes in der Geschichte der frühen Christen. Er greift durchaus auf Traditionen mit historischem Hintergrund zurück, ordnet diese aber seiner theologischen Konzeption unter. Die kritische Arbeit des Historikers muss die Intention des Lukas berücksichtigen und wird im Fall von Widerspruchen zwischen Apg und Paulusbriefen letzteren als Primärquellen in der Regel den Vorzug geben. Übersehen darf man dabei freilich nicht, dass auch Paulus mit der rhetorischen Gestaltung seiner Briefe eine Absicht verfolgt. Lassen sich beide Quellenstränge kombinieren, gewinnt unser Bild an Sicherheit.
2. Die absolute Chronologie Durch die begriffliche Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Chronologie erhält die historische Rückfrage eine Arbeitsstruktur. Die absolute Chronologie sucht nach Daten im Leben des Paulus, die mit Ereignissen der Weltgeschichte zeitlich zusammenfallen und sich so datieren lassen. Paulus wird in die Abläufe der Weltgeschichte eingeordnet. Im zweiten Schritt versucht dann die Erarbeitung einer relativen Chronologie, in den groben Rahmen der auf diese Weise bestimmten Fixpunkte andere überlieferte Daten aus dem Leben des Paulus einzuordnen, also das Verhältnis der chronologischen Daten zu bestimmen. Das Ergebnis ist ein chronologischer Aufriss als Grundlage einer Biographie. Das Datum der Geburt bzw. des Todes des Paulus lässt sich nicht aus parallelen zeitgeschichtlichen Angaben erschließen. Eine Einordnung in die Welt-
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D. Die Briefe
geschichte gelingt jedoch für drei Daten im Leben des Paulus: die Flucht aus Damaskus nach seiner Berufung, den ersten Aufenthalt in Korinth zur Gemeindegründung und die Abberufung des römischen Statthalters Felix, unter dessen Nachfolger Festus Paulus nach Rom gebracht wird. Dabei ist es fast immer die Apg, die uns die nötigen Angaben liefert. (I) Der erste Korinth-Aufonthalt des Paulus: Apg 18,12-17 erzählt, dass Paulus bei seinem Gründungsaufenthalt in Korinth von jüdischer Seite vor dem römischen Statthalter Gallio angeklagt wurde. Grund dafür war vermutlich die Sorge der jüdischen Gruppe in Korinth, durch Umgang mit "Unruhestiftern" selbst vor den römischen Behörden in Verdacht zu geraten und den Schutz ihrer für die Praxis jüdischen Lebens notwendigen Privilegien zu verlieren. Gallio wollte in den Streit jedoch nicht eingreifen. An der Angabe der Apg über das zeitliche Zusammenfallen von Gallios und Paulus Aufenthalt in Korinth zu zweifeln, besteht kein Anlass. Dass und wann Gallio Prokonsul der senatorischen Provinz Achaia war, ist inschriftlich belegt, seit man 1905 in Delphi die sog. "Gallio-Inschrift" gefunden hat (heute im Museum in Delphi). Die Inschrift lässt sich wie folgt rekonstruieren (Quelle: Fouilles de Delphes lIlA, Paris 1970, Nr. 286; vgl. J. MURPHY-O'CONNOR, Corinth 161-169.219221): Tiber[ius Claudius Caes]ar A[ugust]us G[ennanicus, in tribunizischer Gew]alt [das 12. Jahr, Imperator da]s 26. Mal, V[ater des V]aterlan[des, grüßt ... ] Schon lang[e war ich d]er St[adt] Delph[i ni]cht nu[r wohlgesonnen, sondern trug auch Sorge fUr ihr GI]ück; immer behüte[te ich de]n Kul[t d]es [pythischen] Apo[lI. Da sie aber] gegenwärtig von [BUr]gern verl[ass]en sein soll, w[ie mir kürzlich L. Iu]nius GalIio, mein F[reund] un[d Prok]onsul, [mitteilte, und weil ich wünsche, dass Delphi] den fr[üheren Glanz vollständi]g weiter behält, be[fehle ich euch, auch aus an]deren Städten [Wohlgeborene nach Delphi als neue Einwohner zu] ruf[en und] ihnen zu gestat[ten und ihren Nachkommen, alle] Privi[legien der Del]phier [zu besitzen] wie Bür[ger auf der Basis völliger Gleichberechtigung.] ... Zum Hintergrund: Die alte griechische Orakelstadt Delphi hatte im I. Jh. stark an Bedeutung und, damit zusammenhängend, auch an Bewohnern verloren. Um den drohenden Niedergang zu verhindern, wandte sich die Stadt über den Prokonsul von Achaia an Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) und trug ihm die Problemlage vor; das kaiserliche Reskript wurde in Stein gemeißelt und in Delphi aufgestellt. Die Inschrift erwähnt als Prokonsul einen Lucius Junius Gallio. Es handelt sich um einen Sohn des Rhetors Annaeus Seneca und älteren Bruder des Philosophen und Nero-Erziehers Seneca. Delphi liegt in der senatorischen Provinz Achaia mit der Hauptstadt Korinth. Senatorische Provinzen wurden von einem Prokonsul verwaltet, den der Senat bestimmte und der nonnalerweise ein Jahr im Amt blieb, das er im Frühsommer, üblicherweise zum I. Juli antrat. Die zerstörte Datierung der Inschrift muss rekonstruiert werden: "Imperator das 26. Mal" meint die 26. Akklamation zum Imperator (d. h. Claudius wurde zum 26. Mal nach einem militärischen Erfolg zum Imperator ausgerufen). Deren Zeitpunkt ist nicht bekannt, kann aber erschlossen werden: Im 11. Jahr der Regierung (und tribunizischen Gewalt) des Claudius erfolgten die 22., 23. und 24. Akklamation, die 27. Akklamation fand im 12. Jahr statt, bekannt durch den Widmungsbogen der Aqua Claudia (einer Wasserleitung), die am 1.8.52 n. Chr. offiziell in Betrieb genommen wurde. Damit muss die Inschrift vor dem 1.8.52
D.n. Chronologie: Lebensdaten des Paulus (Stefan Schreiber)
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verfasst sein. Dann kann die 26. Akklamation entweder am Ende des 11. Regierungsjahres (was auffallend viele Akklamationen in einem Jahr wären) oder in der ersten Hälfte des 12. Regierungsjahres, was wahrscheinlicher ist, erfolgt sein. Das ,,12. Jahr seiner tribunizischen Gewalt" begann am 25.1.52, so dass die Inschrift genauer zwischen dem 25.1. und 1.8.52 zu datieren ist. In dieser Zeit muss Gallio sein Amt innegehabt haben. Dazu passt theoretisch ein Amtsantritt (zum I. Juli) entweder am 1.7.51 oder am 1.7.52. Letzteres ist freilich wenig wahrscheinlich, weil sonst Gallios Bericht und das Reskript des Kaisers in einem Monat unterzubringen wären (zwischen Amtsantritt Gallios und 27. Akklamation des Kaisers).
Das Amtsjahr Gallios fand also zwischen dem 1.7.51 und dem 30.6.52 statt. Wenn sich Paulus vor der Anklage bereits etwa eineinhalb Jahre in der Provinzhauptstadt Korinth aufhielt (Apg 18,11) und danach nicht sofort abreiste (nach Apg 18,18 blieb er noch "I-lEPac; l.Kavru;), ergibt sich fUr den Aufenthalt in Korinth etwa die Zeitspanne von Ende 50 bis AnfanglMitte 52. Ein gewisser Unsicherheitsfaktor besteht darin, dass unbekannt ist, wann im Amtsjahr des Gallio die Anklage des Paulus stattfand. In dieser Zeit verfasste Paulus auch seinen ältesten erhaltenen Brief, I Thess. Zu der so rekonstruierten Ankunft des Paulus in Korinth im Jahr 50 passt die Notiz in Apg 18,2, dass kurze Zeit vor Paulus Priska und Aquila, ein judenchristliches Ehepaar, aus Rom in Korinth eingetroffen waren; sie mussten Rom verlassen wegen des im Jahr 49 erlassenen Claudius-Edikts (zur Datierung ~ D.III.2.5), das "alle Juden" (faktisch wohl die fUhrenden Köpfe der Juden bzw. Judenchristen) aus Rom vertrieb. So erscheint ein Zusammentreffen mit Paulus im Jahr 50 durchaus plausibel. (2) Die Flucht aus Damaskus: In Apg 9 folgt auf das Berufungserlebnis des Paulus vor der arabischen Stadt Damaskus (9,1-22) unmittelbar seine Flucht aus dieser Stadt (9,23-25), wozu ihn seine Schüler nachts an einem Korb an der Stadtmauer herunter ließen. Aus Gal 1,17 wissen wir, dass Paulus in den drei Jahren nach seiner Berufung nochmals in Damaskus war. Was Lukas in Apg 9 in unmittelbaren Zusammenhang setzt, kann sich historisch innerhalb von drei Jahren zugetragen haben. Paulus berichtet auch selbst in 2 Kor 11,32f., dass er in einem Korb an der Stadtmauer hinab gelassen werden musste, und fUgt als Erklärung hinzu, dass der Ethnarch des nabatäischen Königs Aretas die Stadt Damaskus bewachen ließ. Der Ethnarch war vermutlich der "Vorsteher der nabatäischen Handelskolonie in Damaskus", der zugleich als politischer Vertreter seines Königs fungierte (E. A. KNAUF). Wir wissen, dass Aretas IV., König der Nabatäer, von 9 v. Chr. bis etwa 40 n. Chr. an der Regierung war (R. RIESNER, Frühzeit 66f.). Die Flucht des Paulus aus Damaskus muss also vor 40 geschehen sein, womit auch seine Berufung deutlich vor diesem Zeitpunkt anzusetzen ist und relativ nahe an Jesu Tod (etwa 30 n. Chr.) rückt. (3) Der Statthalterwechsel von Felix zu Festus: Gegen Ende seines uns bekannten missionarischen Wirkens war Paulus in Jerusalem verhaftet und nach Cäsarea gebracht worden, wo er sich nach Apg 24,27 zwei Jahre in Haft unter
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D. Die Briefe
dem römischen Statthalter Felix befand. Der neue Statthalter Festus nahm den Prozess unverzüglich wieder auf und sandte im Herbst (Apg 27,9.12) desselben Jahres Paulus nach Rom (27,1). Für die Amtsübernahme des Porcius Festus (vgl. Josephus, BeH II 271; Ant XX 182) liegt uns keine exakte Datierung vor. Die größte Wahrscheinlichkeit besitzt das Jahr 58, wofiir v. a. die zweijährige Dauer der Haft nach Apg 24,27, die wohl 56 begann, spricht (mit U. SCHNELLE, Einleitung 45). Demnach fand die Reise des Paulus nach Rom wohl im Herbst und Winter 58/59 statt, im Frühjahr 59 gelangte Paulus nach Rom. Eine FrUhdatierung des Statthalterwechsels ins Jahr 55 (G. LÜDEMANN 197f. Anm. 101; erwogen bei K. P. DONFRIED 115) muss ausscheiden, weil sich die von Josephus, Bell 11 250--270 mit Felix verbundenen Ereignisse während Neros Regierung abspielten, die allerdings erst im Oktober 54 begann; bei einer frühen Ablösung des Felix 55 wird der für diese Ereignisse benötigte Zeitraum zu kurz (vgl. R. JEWElT 76-80). - Andere (R. RIESNER, FrUhzeit 196--200; M. REISER 472; A. SCRffiA 163f.) sprechen sich für das Jahr 59 aus und nehmen eine neue Münzprägung in Palästina, die im 5. Regierungsjahr Neros (58/59) erschien und die sie mit dem Amtsantritt des Festus in Verbindung bringen, als Indiz. Diese Münzprägung bietet einen interessanten Anhaltspunkt (vgl. S. SAFRAIlM. STERN 76), lässt aber keine Entscheidung zwischen den Jahren 58 oder 59 zu, denn sie könnte einerseits bereits 58 erfolgt sein, andererseits kann zwischen dem Amtsantritt des Festus und der Prägung gut ein mehrmonatiger Zeitraum liegen. - Der Wechsel des Hohenpriesters (HananiaslIsmael, wohl 59) geschah durch Agrippa 11. und wird von Josephus, Ant XX 179 nur vage in eine zeitliche Beziehung zum Statthalterwechsel gesetzt; hier ist fUr die Datierung nichts zu gewinnen.
Es stehen also drei unterschiedlich konkrete Fixpunkte fiir ein chronologisches Grundgerüst zur Verfügung: Die Flucht aus Damaskus und zuvor die Berufung des Paulus fanden deutlich vor dem Jahr 40 statt, 50-52 hielt sich Paulus als Missionar in Korinth auf, 59 kam er nach Rom. Ein Zeitraum von etwa 20 Jahren ist für das pln Wirken im Ablauf der Geschichte erkennbar, in den auch die Abfassung der Briefe fäHt. Beginn und Ende des Lebens Pauli verlieren sich bis auf wenige Spuren im Dunkel der Geschichte. Weitere Daten, die dieses Grundgerüst ruHen können, muss nun die relative Chronologie liefern.
3. Die relative Chronologie (1) Das Geburtsdatum des Paulus ist unbekannt. In Phlm 9 nennt sich Paulus selbst einen npeoßutTJc;;/alten Mann, was im antiken Verständnis einen etwa Sechzigjährigen meint; Exaktheit ist hier freilich sowohl angesichts der pln Aussageabsicht als auch wegen des weiten Wortgebrauchs, der mitunter bereits Vierzig- oder Fünfzigjährige bezeichnen kann, nicht möglich. Wurde Phlm Mitte der 50er Jahre verfasst (- D.lX.), fäHt die Geburt des Paulus grob auf den Beginn des 1. Jh. Eine Notiz in Apg 7,58, die Paulus bei der Steinigung des Stephanus (also noch vor seiner Berufung) als vea.vta.c;; (,junger
D.ll. Chronologie: Lebensdaten des Paulus (Stefan Schreiber)
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Mann" zwischen 20 und 30) einführt, unterstützt die Annahme, Paulus wurde am Anfang des 1. Jh. geboren. (2) Über den Bildungsweg des Paulus wissen wir fast nichts. Nach Apg 22,3 studierte der junge Paulus bei dem damals bekannten Rabbi Gamaliel I. in Jerusalem, erhielt also eine Ausbildung als Pharisäer. Paulus selbst erwähnt eine solche Ausbildung nicht, selbst dort, wo er sich als (ehemaligen) Pharisäer bezeichnet (Phil 3,5). Es muss durchaus erwogen werden, ob nicht erst Lukas bereits den jungen Paulus mit Jerusalem als Zentrum des Judentums in Verbindung bringen will, um sein Anliegen einer Kontinuität der Jesus-Bewegung mit dem Judentum zu sichern. Eine pharisäische Ausbildung kann Paulus auch in seiner Heimatstadt Tarsus im Rahmen der dortigen Synagoge erhalten haben. Als Möglichkeit bleibt eine pharisäische Ausbildung eines entsprechend begabten (und begüterten) jungen Juden aus der Diaspora in Jerusalem bestehen; dies würde immerhin helfen zu erklären, wie Paulus mit Jesus-Anhängern aus Judäa in Berührung kam und zum Agitator gegen diese Bewegung (vgl. Gal I, \3f.22f.) werden konnte. Üblicherweise begann ein jüdischer Junge ein solches "Studium" der Tora und der Überlieferung mit etwa 15 Jahren (mA voth 5,21; vgl. F. AVEMARIE) (was etwa der dritten Bildungsstufe im griechisch-römischen Bereich entspricht: dem Rhetorikstudium, das man mit 16/17 Jahren begann; vgl. P. MÜLLER). (3) Für das Selbstverständnis des Paulus entscheidend und in den Quellen gut bezeugt (Gal 1,15f.; 1 Kor 9,1; 15,8; Apg 9,1-19; 22,3-16; 26,9-18) ist sein Berufungserlebnis; die Lokalisierung in/um Damaskus belegt neben der Apg der Hinweis auf seine spätere Rückkehr nach Damaskus in Gal 1,17. Die absolute Chronologie konnte als terminus ante quem das Jahr 40 n. Chr. bestimmen. Terminus post quem ist Jesu Tod (etwa 30). Auch wenn die Darstellung der Apg (ganz im Stil antiker Historiographie) zur Überdimensionierung von Zahlenangaben und zur Rückprojektion späterer Entwicklungen in die Frühzeit neigt, wird aus ihrer Schilderung doch deutlich, dass sich die Jesus-Bewegung seit Jesu Tod bereits weiterentwickelt hat, wofür einige Jahre veranschlagt werden müssen. So zeigt die Jerusalemer Gemeinde bereits eine gewisse Organisation, wenn neben dem Kreis der Zwölf ein Siebenergremium Leitungsaufgaben wahrnimmt (Apg 6,1-7). Damit verbunden treten schon innerchristliche Spannungen zwischen strengjudenchristlichen und (gesetzesliberalen) heUenistisch-judenchristlichen Gemeindeteilen auf. Die Gemeinde ist bereits zahlreich (4,4; 5,14; 6,7) und über Jerusalem hinaus verbreitet (8,5; 9,2.19). Bei der organisierten Witwenversorgung (6,1) und der Einrichtung einer "Gütergemeinschaft" (4,32) wird man indes historisch vorsichtig urteilen müssen.
Setzt man die Berufung des Paulus in den Jahren 33/34 an, lassen sich auch die noch zu besprechenden Daten, die die Zeit bis zum nächsten Fixpunkt, dem Korinth-Aufenthalt, füllen, problemlos unterbringen. (4) Die knappe Schilderung in Gal 1,17-2,1 gibt einen Überblick über den Verlauf des missionarischen Wirkens des Paulus, das sich an seine Berufung
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D. Die Briefe
anschloss. Laut Gal 1, 17f. geht Paulus nach seiner Berufung von Damaskus aus nach Arabien, bleibt dort drei Jahre, kehrt dann (also etwa 36) nach Damaskus zurück und besucht fiir 15 Tage Jerusalem, um Kephas (Petrus) zu sehen; von den anderen Aposteln trifft er dort nur den Herrenbruder Jakobus (GaJ 1,19). Angemerkt sei, dass die Zahlenangaben eine gewisse Unschärfe enthalten, da es in der Antike üblich war, angefangene Jahre (auch wenn es sich faktisch z. B. nur um einen Monat handelt) voll zu zählen. Abweichende Daten bietet die Apg: Nach Apg 9,26 reist Paulus direkt nach seiner Flucht aus Damaskus nach Jerusalem (gegen Gal 1,17!). Diese Darstellung steht jedoch im Verdacht, dem Ik Interesse an der Einheit der ersten Gemeinden verdankt zu sein, die durch den sofortigen Kontakt des neu berufenen Missionars Paulus mit den Jerusalemer Aposteln dokumentiert wird. Nach Apg 11,27-30 befindet sich Paulus zum zweiten Mal vor dem Jerusalemer Treffen in Jerusalem (was man vorsichtig mit Gal 1,18 in Verbindung bringen könnte). Doch die damit verbundene Aussageabsicht, nach Gründung der bedeutenden Gemeinde von Antiochia (11,19-26) sogleich den Kontakt mit der Jerusalemer Urgemeinde herzustellen, ist wieder kaum historisch: Der Ik Gedanke der Einheit und der Kontinuität der Heilsgeschichte ist prägend. Man muss Lukas dabei nicht notwendig eine "Fälschung" historischer Daten unterstellen; er wusste wohl, dass Paulus vor dem Jerusalemer Treffen in Jerusalem war und baute diesen Besuch in sein geschichtstheologisches Schema ein.
Nach Gal 1,21; 2,1 folgen etwa 13 Jahre Missionstätigkeit in Syrien und KiIikien, was konkret die beiden Großstädte Antiochia und Tarsus meint. Das ETIELtcx/dann in Gal 2,1 bezieht sich auf den ersten Jerusalembesuch zurück, denn Paulus reiht in 1,18; 2,1 zwei Zeiträume aneinander ("drei Jahre", ,,14 Jahre") und macht den Bezug auf Jerusalem durch das Adverb mIJ..LV (er sei "wiederum" dorthin gezogen) klar (zur Diskussion U. SCHNELLE, Einleitung 37f.). Paulus wirkte in dieser Zeit als Mitarbeiter des bedeutenden Verkündigers Barnabas, der zur christlichen Gemeinde in Antiochia gehörte. Dort wurden erstmals in größerem Umfang Heiden in die christliche Gemeinde aufgenommen, ohne dass sie zuvor die jüdischen Identitätsmerkmale (Beschneidung, Speise- und Reinheitsgebote) übernehmen mussten. Die Apg schildert diesen Lebensabschnitt des Paulus als sog. erste Missionsreise (-. Karte 3, S. 594), setzt diese jedoch im geographischen Raum Zypern und Kleinasien an (Apg 13-14); die Stationen sind im Einzelnen die Städte Salamis und Paphos auf Zypern, (Perge,) Antiochia (in Pisidien), Ikonium, Lystra und Derbe. Beide Lokalisierungen besitzen historische Wahrscheinlichkeit. Die Unterschiede lassen sich durch jeweils eigene Aussageakzente erklären und zu einem historischen Bild ergänzen: Nach den Anfängen in Antiochia sandte die dortige Gemeinde Bamabas und Paulus zur weiteren Verkündigung unter den Heiden in nahe gelegene Gebiete des kleinasiatischen Raums aus, wobei sich eine erste Station in Tarsus, der Heimatstadt des Paulus, geradezu anbot. In Gal 1,21 will Paulus seine Unabhängigkeit von der Jerusalemer Gemeinde betonen und in 1,22 festhalten, dass er keine Verbindungen zu den Gemeinden in Judäa hatte; dafilr genügt es, die Richtung seines Reiseweges - weg von Jerusalem - nach Syrien und Kilikien
D.ll. Chronologie: Lebensdaten des Paulus (Stefan Schreiber)
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(in seine Ausgangsgemeinde Antiochia und seine Heimatstadt Tarsus) anzugeben, ohne detaillierte Stationen des weiteren Reiseverlaufs anzufiihren. Der Ablauf nach Apg 13-14 fordert historische Zweifel heraus, z. B. wenn der Rückweg über die Städte, in denen Paulus zuvor Verfolgung erfuhr, erfolgt (I4,2If.) (vgl. I. BROER, Einleitung 333). Andererseits enthält die Apg mit hoher Wahrscheinlichkeit einzelne Überlieferungen (Lokaltraditionen), die einen historischen Hintergrund besitzen; dafiir spricht einmal das fiir Lukas untypische Paulusbild in Apg 13-14, das diesen lediglich als einen antiochenischen Gemeindemissionar zeichnet, der seinem Begleiter Bamabas untergeordnet ist (vgl. Apg 13,7; 14,12) (eine gemeinsame Mission von Paulus und Barnabas ist zudem nur fiir die erste Reise belegt), zum anderen Antiochia als Ausgangs- und Endort der Reise, da sonst bei Lukas Jerusalem als Mittelpunkt der Heilsgeschichte zentral ist. Es ist folglich gerechtfertigt, am groben Ablauf der Reise festzuhalten: Historisch sind die einzelnen Stationen, die Zusammenarbeit mit Barnabas und vielleicht die Folge der Orte; ob diese Reise als komplette Missionsreise von Beginn an so konzipiert war, erscheint hingegen fraglich. G. LÜDEMANN (139-148.174-198) und K. P. DONFRIED (73-76.104f.110-1I2) wollen die Missionstätigkeit hinter Gal 1,17-2,1 faktisch bis nach Mazedonien und Korinth ausweiten und so eine frühe Europa-Mission des Paulus annehmen. Dabei verstehen sie den "Beginn des Evangeliums, als ich hinausging aus Mazedonien" in Phil4,15 als Anfang der eigenständigen pln Mission überhaupt, die somit in Mazedonien (Philippi, Thessaloniki) begonnen habe. Sie müssen dazu annehmen, dass Apg 18,1-17 zwei historische KorinthAufenthalte in einer Darstellung vereint und das Claudius-Edikt in das Jahr 41 zu datieren ist, und folgern für den Gründungsaufenthalt in Korinth ein Datum Anfang der 40er Jahre (der durch die Gallio-lnschrift datierte Korinth-Besuch 50--52 ist dann der zweite). Doch ist die Ausweitung der ersten Missionsreise über Kleinasien hinaus von den Quellen nicht gedeckt und die Interpretation von Phil4,15 und Apg 18 gewaltsam. Zu Recht hat sich der Vorschlag nicht durchgesetzt (dagegen z. B. U. SCHNELLE, Einleitung 41).
(5) Das sich an diese Tätigkeit anschließende ,,Jerusalemer Treffen" fällt dann auf die Jahre 48/49 n. ehr. (womit ein gewisser Unsicherheitsfaktor einkalkuliert ist). Paulus reist dabei zum zweiten Mal nach Jerusalern. Historisch ist diese Ereignisfolge stimmig, denn die langjährige Praxis einer beschneidungsfreien Heidenmission erklärt den Widerstand des streng jüdischen, d. h. traditionell-gesetzestreuen Anteils der christlichen Gemeinden, vor allem der Jerusalemer Urgemeinde. Dieser Konflikt um die richtige Anwendung der Tora in den gemischten Gemeinden aus Juden- und Heidenchristen wurde zwischen den beiden bedeutenden Gemeinden in Jerusalern und Antiochia ausgetragen. Zur Klärung der Lage zogen Paulus und Barnabas mit ihrem Mitarbeiter Titus nach Jerusalern (Gal2,1-10; vgl. Apg 15). In der Literatur wird dieses Ereignis meist als "Apostelkonvent" bezeichnet (auch als "Heidenmissionssynode"), früher sprach man vom "Apostelkonzil". Doch sind Begriffe wie "Konzil", "Konvent" oder "Synode" problematische Anachronismen, weil sie an eine feste Organisationsstruktur denken lassen, die den Verhandlungen im Rahmen einer übergeordneten Institution vorgegeben war. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall: Es lag ein Problem vor, und die Beteiligten mussten ohne flankierende Rechtsordnung Wege der Lösung suchen. Um diesen Sachverhalt besser auszudrücken, verwende ich den offenen Begriff ,,Jerusalerner Treffen". R. SCHÄFER schlägt neuerdings wieder (vgl. z. B. B. WITHERINGTON 15-18.147) eine
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D. Die Briefe
andere Chronologie der Ereignisse vor. Sie identifiziert die Notizen Apg 11,27-30; 12,25 (Paulus in Jerusalern) mit dem hinter Gal 2,1-10 stehenden "Apostelkonvent", der im Jahr 40 stattgefunden habe, um den Jerusalemer Autoritäten das antiochenische Gemeindemodell zur "Anerkennung" vorzulegen (487f.). Gal 2, I muss dazu als "Verlaufsangabe" interpretiert werden (490). Apg 15 belege dann "ein weiteres bedeutsames Jerusalemer Treffen", das "Apostelkonzil", datiert auf den Herbst 47 (488.493); dieses bestätige lediglich die Beschlüsse des Konvents und regle im Aposteldekret den Besuchskontakt der beteiligten Gruppen. - Der Entwurf Schäfers scheitert m. E. daran, dass sich die beiden Ereignisse in der Sache nicht differenzieren lassen und so methodisch keine unterschiedliche Quellenzuordnung erlauben. Die vorausgesetzten institutionellen Strukturen ("Konvent", "Konzil") sind anachronistisch. Weder Gal noch Apg spiegeln auch nur im Ansatz das Nacheinander zweier" Treffen".
(6) Nach Gal 2,11-14 kam es kurz nach dem Jerusalemer Treffen zu einem Konflikt in Antiochia, dem sog. "antiochenischen Zwischenfall". Die Darstellung dieses Konflikts als Folgeereignis des Jerusalemer Treffens ist historisch stimmig: Das Ergebnis des Treffens ist ein Kompromiss gewesen, der eine Aufteilung des Missionsgebiets unter ethnographischem Aspekt vorsah, d. h. die Jerusalemer sollten in überwiegend von Juden bewohnten Regionen missionieren, Bamabas und Paulus in überwiegend von Heiden bewohnten Regionen bei prinzipieller Anerkennung der unbeschnittenen Heiden in den Gemeinden (GaI2,9b). Paulus verstand die Einigung so, dass seine Verkündigung unter Heiden uneingeschränkt anerkannt wurde. Dass das Problem damit nur scheinbar gelöst war, zeigt der Konflikt mit Petl"Us in Antiochia, der sich an der dortigen Praxis der Tischgemeinschaft von Juden- und Heidenchristen entzündete. Paulus ging dabei von einer grundsätzlichen Freiheit von Speisevorschriften aus. Die Jakobus-Leute, die aus Jerusalem kamen, interpretierten die Abmachungen des Jerusalemer Treffens aber anders (wohl auf die Beschneidung eingegrenzt - Speisevorschriften bleiben gültig) und zogen Petrus und Bamabas auf ihre Seite. Paulus betrachtete dies als Heuchelei. Eine Lösung wurde nicht erreicht. Paulus verließ Barnabas und Antiochia und missionierte seitdem in eigener Verantwortung. Eine andere Rekonstruktion (A. SUHL 43-78.316-323; P. VIELHAUER, Geschichte 76-79) datiert das Jerusalemer Treffen ins Jahr 43/44 unter Hinweis auf Mk 10,38f., wo der Märtyrertod der beiden Zebedaiden Jakobus und Johannes angedeutet ist; Apg 12,2 weiß von der Hinrichtung des Jakobus durch Herodes Agrippa 1. (41-44); dehnt man diese Notiz auf den Bruder Johannes aus, der Teilnehmer am Jerusalemer Treffen war, muss dieses vor 44 stattgefunden haben. Die Mission auf Zypern und im südlichen Kleinasien muss dann zwischen dem Jerusalemer Treffen und dem antiochenischen Zwischenfall (den Suhl im Jahr 47 ansetzt) abgelaufen sein. Dagegen sprechen gewichtige Argumente: In Apg 12,2 ist nur vom Tod des Jakobus die Rede, ein gleichzeitiger Tod des Johannes kann nicht aus Mk 10,38f. erschlossen werden. Zwischen Ga12, 1-10 (Jerusalerner Treffen) und 2,11-14 (Zwischenfall) ist kein Zeitraum von drei Jahren erkennbar. Die erste Missionsreise ist als Voraussetzung des Jerusalemer Treffens plausibel, da erst durch die Missionserfolge die Frage des Zusammenlebens von Juden- und Heidenchristen drängend wurde; so wird man die Datierung auf das Jahr 48/49 bevorzugen.
0.11. Chronologie: Lebensdaten des Paulus (Stefan Schreiber)
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Für G. LÜDEMANN (77f.101-I05) ist der antiochenische Zwischenfall der Auslöser rur das Jerusalemer Treffen gewesen, also zeitlich früher anzusetzen. Die Textfolge in Gal 2 ist jedoch deutlich anders, die Dramatik der pln Reaktion in Antiochia nur als Folgeproblem des Treffens in Jerusalem wirklich verstehbar.
(7) Die weitere Mission führte Paulus nach Kleinasien und Griechenland und umfasste Gemeindegrundungen in Philippi, Thessaloniki und Korinth. Apg 15,36-18,22 schildert die einzelnen Stationen dieser Mission als sog. zweite Missionsreise (- Karte 3, S. 594): Mit seinem neuen Begleiter Silas zog Paulus durch Syrien und Kilikien, wo schon Gemeinden bestanden (Apg 15,40f.), dann nach Derbe und Lystra, wo er Timotheus als weiteren Mitarbeiter gewann (16,1), daraufhin durch Phrygien und das galatische Land (16,6), bevor er sich nach Europa wandte. Die Stationen dort sind Philippi (16, II f.) und Thessaloniki (17,1), wo Paulus jeweils eine Hausgemeinde gründete, dann gelangte er über Beröa nach Athen (17,10.15) und hielt sich schließlich, wie wir aus der absoluten Chronologie wissen, in den Jahren 50-52 in Korinth auf (18, I), wo er eine Hausgemeinde gründete und auch seinen ersten uns bekannten Brief, I Thess, schrieb. Die Angaben in I Thess 2,2; 3, I bestätigen die Reisefolge Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth. In einer Zeitspanne von eineinhalb bis zwei Jahren zwischen dem Jerusalemer Treffen (48/49) und der Ankunft in Korinth (50) sind die Reisestationen gut unterzubringen. Als problematisch erweist sich der summarische Reisebericht über die Zeit nach dem Korinth-Aufenthalt in Apg 18,18-23: In 18,18 ist zunächst Syrien als Reiseziel angegeben, doch gelangt Paulus dann laut 18,22 nach Cäsarea und "geht hinauf" (nämlich nach Jerusalem), um von dort nach Antiochia zu ziehen. Dieser Ablauf wirft erhebliche Fragen auf: Warum kommt Paulus nach Cäsarea und warum besucht er Jerusalem, wenn doch Syrien und speziell Antiochia (18,18.22) als Reiseziel erscheinen? Warum unterbrach er die erfolgreiche Verkündigung in Mazedonien und Kleinasien, um nach Antiochia zu reisen? Mit Zuflilligkeiten der Reise (z. B. ungünstigem Wind) ist nichts erklärt, und überhaupt erfahren wir aus den Paulusbriefen nichts über diesen vierten Jerusalembesuch. Wieder wird in 18,22 Lukas am Werk sein, der die Kontinuität garantierende Rückbindung des Paulus an Jerusalem betonen will. Ob und warum Paulus nach der Mission in Korinth nach Antiochia reiste (bevor er wieder aufbrach nach Ephesus), muss offen bleiben. Damit wird auch der Vorschlag, das Jerusalemer Treffen (Gal 2,1-10) sei zeitlich mit dem Jerusalembesuch Apg 18,22 zu identifizieren und erst von Lukas aus theologischen Gründen bereits in Apg 15 geschildert (G. LÜDEMANN 165-173.211; R. JEWETT 129-141; J. GNILKA 66f.; K. P. DONFRIED 109), äußerst unwahrscheinlich. Die knappe Bemerkung in 18,22 ist damit überstrapaziert, und der anzunehmende Wechsel des Missionsteams (PauluslBarnabas auf der "ersten Missionsreise"; in 15,36-16,3 PauluslSilasrfimotheus; beim Jerusalemer Treffen wieder Paulus/Barnabas) kaum erklärbar.
(8) Es schließt sich ein missionarischer Aufenthalt in Ephesus an (Apg 19), der nach den Angaben in Apg 19,8.10; 20,31 mehr als zweieinhalb Jahre gedauert haben muss. Er erstreckte sich demnach über die Jahre 52-55. Wahrscheinlich fiel in diese Zeit auch ein Gefängnisaufenthalt des Paulus (vgl.
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D. Die Briefe
2 Kor 1,8f.; Röm 16,7; anders jetzt M. GIELEN). Paulus verfasste dort 1 Kor und (wahrscheinlich) Phil und Phlm. (9) Danach erfolgte die sog. Kollektenreise durch Mazedonien und Achaia/Griechenland; Ziel der Reise war offensichtlich Korinth (Apg 19,21; 20,1-3; I Kor 16,5f.; 2 Kor 1,15f.23; 2,12f.). Paulus sammelte dabei die beim Jerusalemer Treffen vereinbarte Kollekte der Diaspora-Gemeinden flir die Jerusalemer Urgemeinde und schrieb 2 Kor und Gal (vgl. 2 Kor 8f.; Röm 15,25-28). Die Ankunft in Korinth muss zu Beginn des Jahres 56 geschehen sein; Paulus blieb dort drei Monate (Apg 20,2f.) und verfasste Röm. Wohl zum Pfingstfest (1TEvtT)Koot~lWochenfest) des Jahres 56 trifft Paulus zur Überbringung der Kollekte in Jerusalem ein (Apg 20,16; 21,15). Dort wird er im Zusammenhang mit innerjüdischen Unruhen von den römischen Behörden verhaftet und nach Cäsarea gebracht (21,27-36; 23,23-35), wo er sich etwa zwei Jahre in Haft befindet (Apg 24,27), also während der Jahre 56-58. Es scheint so, als sei die Überreichung der Kollekte misslungen und damit die Einheit zwischen der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem und den gemischten Gemeinden in der Diaspora weiter gefährdet. Im Zusammenhang mit der Ablösung des Prokurators Felix durch Festus im Jahr 58 wird Paulus mit einem Gefangenentransport nach Rom gesandt, wo er wohl im Frühjahr 59 eintrifft (Apg 27,1-28,16). Laut Apg 28,30f. lebt Paulus in Rom zwei Jahre in milder Haft, d. h. er konnte eine eigene Mietwohnung (unter Bewachung durch einen Soldaten) bewohnen und Besuch empfangen, also auch weiter verkünden. Damit enden die Angaben der Apg. (10) Hat Paulus Rom noch einmal verlassen? Auffällig ist, dass in den ältesten Quellen gegen Ende des 1. Jh. zwei differierende Traditionen über ein weiteres Wirken des Paulus vorliegen. Die erste Tradition findet sich in I Clem 5,7 (ca. 96 n. Chr.): Paulus sei EL~ ,0 tEPll1l tii~ öUoEwqan die Grenze des Westens gelangt, womit wahrscheinlich auf Spanien verwiesen ist. Dann müsste Paulus noch einmal aus der römischen Gefangenschaft freigekommen sein (einen historischen Hintergrund erkennt z. B. H. LOHR). Der Hinweis kann aber auch aus Röm 15,24 erschlossen sein, wo Paulus, noch vor seiner letzten Jerusalemreise in Korinth, seine Absicht kundgetan hatte, zur weiteren Verkündigung des Evangeliums nach Spanien zu reisen. Dann wäre die Aussage von I Clem 5,7 historisch wertlos. Die zweite Tradition liegt den Past zugrunde, die einen Aufenthalt des Paulus in Mazedonien und Korinth, auf Kreta (wo er Titus als Episkopos einsetzte), in Milet und Ephesus (Tirnotheus als Episkopos) und in weiteren Städten Kleinasiens voraussetzen. 2 Tim 1,8; 4,6.16 spricht von einer erneuten Getimgenschaft des Paulus, ein erneuter Prozess droht, dessen günstiger Ausgang unsicher ist. Die historische Glaubwürdigkeit der Past ist jedoch fraglich, da sie deutero-pln Charakter tragen und das gemeindepolitische Interesse verfolgen, Paulus die Einsetzung von Ämtern zuzuschreiben (-+ D.XIII.). Vielleicht motivierte die in Phlm 22 ausgesprochene Hoffnung des Paulus, noch einmal zur Hausgemeinde des Philemon (nach Kleinasien) zu kommen, die Darstellung der Past.
(11) Damit wird der Tod des Paulus in Rom wahrscheinlich, ohne dass er die Stadt zuvor noch einmal verlassen konnte. Die Sterbeweissagung in Apg 20,24f. (vgl. 21,13), die Paulus in der stilisierten Abschiedsrede vor den Äl-
D.lL Chronologie: Lebensdaten des Paulus (Stefan Schreiber)
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testen aus Ephesus ausspricht, lässt vermuten, dass Lukas vom Tod des Paulus in Rom wusste. Das Todesjahr ist unbekannt. Die älteste Tradition in 1 Clem 5,5-7 deutet wohl seinen Märtyrertod an: "nachdem er '" vor den Herrschern Zeugnis abgelegt hatte, schied er so aus der Welt". Auch wenn dabei weder von Kaiser Nero noch von Rom die Rede ist, mag man an die stadtrömische Christenverfolgung unter Nero ab dem Jahr 64 gedacht haben. Die spätere Tradition jedenfaHs setzt diese Datierung voraus (z. B. Eusebius, Hist Eccl 11 25,5-8). Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass Paulus bereits Anfang der 60er Jahre in Rom den Tod fand. Über die Umstände seines Todes wissen wir (von einer politischen Motivation abgesehen) nichts. Die zentralen biographischen Daten lassen sich abschließend in einer Übersicht zusammensteHen: Tod Jesu Berufung des Paulus Jerusalemer Treffen antiochenischer Zwischenfall Aufenthalt in Korinth Aufenthalt in Ephesus Kollektenreise letzter Aufenthalt in Korinth _ _ Ankunft in Jerusalem Abreise aus Jerusalem Ankunft in Rom Tod des Paulus
um 30 ca. 33/34 48/49 48/49 Ende 50 bis AnfanglMitte 52 52-55 55/56 Frühjahr 56 um Pfingsten 56 58 Frühjahr 59 Anfang der 60er Jahre (64?)
I THESS I KOR, PHIL, PHLM 2 KOR,GAL RÖM
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O. Oie Briefe
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D.lII. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
Der Röm beinhaltet eine sprachlich dichte und argumentativ ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema, das für Paulus im Laufe seiner Verkündigung zunehmend drängend wurde: Wie bestimmt sich christliche Identität unter den Vorgaben I. des eschatologischen Christus-Ereignisses, 2. der jüdischen Glaubens- und Traditionsbasis und 3. des Lebens in der hellenistischen bzw. römischen Gesellschaft? Die Fremdheit dieser Vorgaben für heutige Leser/innen schaltet eine hermeneutische Distanz vor unser Verstehen und erfordert zunächst eine Wahrnehmung des pln Situationskontextes, bevor gegenwärtige theologische Interessen an den Brief herangeführt werden. Seine Wirkungsgeschichte verleiht dem Röm hohe kirchliche Relevanz: Augustinus z. B. verdankt dem Röm bei der Entwicklung seiner antipelagianischen Gnaden lehre entscheidende Anstöße, v. a. aber die Reformation und speziell Martin Luther konnten die "Gerechtigkeit aus Glauben" (vgl. Röm 1,17) im Sinne einer Rechtfertigung des Sünders (iustificatio impii) als theologische Speerspitze gegen Missstände in der kirchlichen Sünden- und Heilsverkündigung zum Einsatz bringen und dabei das Verhältnis von Kirche und Staat mit der so genannten ,,zwei-Reiche-Lehre" (vgl. Röm 13,1-7) neu etablieren. Die Argumentationsstruktur des Briefes eröffnet einen ersten Zugang zu seiner Denkwelt, deren Grundtenor die Versöhnung von Menschen mit Gott darstellt.
1. Struktur 1.1 Brieflicher Rahmen
Briefeingang und -schluss sind durch die Briefkonvention formal vorstrukturiert. Sie bilden den Ort, um die persönliche Beziehung zwischen Absender und Adressaten herzustellen, wobei auch emotionale Zwischentöne wichtig werden. Gerade im Blick auf die Ausgangslage, dass Paulus an ihm bislang unbekannte Gemeinden in Rom schreibt, fallen hier erste Entscheidungen über das Gelingen der Kommunikation. Zum Briefeingang (1,1-15): Im Präskript (1,1-7) erweitert Paulus die Absenderangabe durch eine Zusammenfassung von Inhalt und Wirkung des Evangeliums, in die er eine christologische Glaubensformel (I ,3f.) integriert; was Absender und Adressaten über alle Fremdheit hinaus verbindet, ist das Evangelium von Jesus Christus! Es fällt auf, dass Paulus entgegen seiner Gewohnheit in den übrigen Briefen im Röm keine Mitabsender nennt. Er hat die
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
römischen Gemeinden nicht mit einem Team selbst gegründet und will im Röm seine Person und Praxis vorstellen. Das Proömium (1,8-15) enthält eine Danksagung im Blick auf den Glauben der Adressaten und eine Selbstempfehlung des Paulus. Mit der Danksagung (1,8-12) demonstriert Paulus nicht nur seine Hochschätzung der Gemeinden, sondern betont auch die Gegenseitigkeit ihrer Beziehung, weil er sich gegenüber den fremden Gemeinden nicht auf seine Gründungsautorität als Apostel berufen kann. Die briefliche Selbstempfehlung (1,13-15) enthält einen kurzen biographischen Rückblick, der die Absicht des Paulus, auch in Rom das Evangelium zu verkünden, beteuert. Damit ist die kommunikative Funktion des Röm von Anfang an klar: Paulus nimmt die persönliche Darlegung seines Evangeliums im Brief vorweg und stellt sich so den ihm unbekannten Gemeinden in Rom vor. Zum Briefschluss (15,14-16,23): Dieser setzt ein mit einer Metareflexion des im Brief vollzogenen Kommunikationsprozesses, wobei Paulus die Eigenständigkeit der römischen Gemeinden in den Belangen ihres Glaubenslebens ausdrücklich herausstellt und seinen Brief demgegenüber mit seinem von Gott initiierten Dienst am Evangelium rechtfertigt (15,14-16). Paulus spricht also über seinen Auftrag als Apostel (15,14-21) und stellt seine zukünftigen Missionspläne in Spanien vor, wozu er die Unterstützung der römischen Gemeinden sucht (15,22-24) - das praktische Anliegen des Schreibens tritt hervor. Für seinen bevorstehenden Besuch bei der Urgemeinde in Jerusalem, dem Paulus wegen andauernder Unstimmigkeiten über das Verhältnis von Judenund Heidenchristen skeptisch entgegensieht, bittet er um die Fürbitte der Adressaten (15,25-32). Diese Bitte setzt die Wechselseitigkeit der Beziehung von Paulus und den Adressaten voraus. Auf einen Friedenswunsch (15,33) folgt eine Empfehlung für die korinthische Diakonin Phöbe, die wahrscheinlich den Brief überbringen soll (16,lf.). Es schließt sich eine lange Liste mit Grüßen an, die eine persönliche Verbindung des Apostels zu einzelnen römischen Gemeindegliedern belegen und aktualisieren (16,3-16). Personen jüdischer (Priska und Aquila V. 3f., die auyyevelc;/Volksgenossen V. 7.11) und paganer Herkunft stehen nebeneinander und zeigen anschaulich die reale Verwirklichung des Briefanliegens. Am Ende (V. 16b) weitet Paulus die Grüßenden umfassend aus als "alle Gemeinden Christi", um die Relevanz der Zusammengehörigkeit zu unterstreichen. Nach einer (an dieser Stelle unerwarteten) polemischen Warnung vor Leuten, die durch eine abweichende Glaubenspraxis Unruhe stiften, schließt Paulus brieftypisch mit einem Gnadenwunsch (16,1720). In einem Nachtrag stehen noch Grußübermittlungen von Mitarbeitern und Unterstützern des Apostels (16,21-23). Dieser abrupt erscheinende Abschluss provozierte die spätere Anftigung zweier unterschiedlicher Schlussworte in verschiedenen Handschriften: Sowohl der Gnadenwunsch mit "Schluss-Amen" (16,24) als auch die Schlussdoxologie (16,25-27) sind nach text- und literarkritischem Urteil als sekundär anzusehen (--+ 2.2).
D.III. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
279
1.2 Briejkorpus Nicht alIe Schaltstellen der Argumentation im Briefkorpus lassen sich mit gleicher Deutlichkeit aufspüren. Besonders diskussionsbedürftig erweisen sich der Satz I, 16f. und die Passage 5,1-21, während die Abgrenzung der Kap. 9Il und 12,1-15,13 weitgehend eindeutig ist. Die meisten Ausleger verorten den Themensatz I, 16f. im Briefeingang (Ausnahmen sind z. B. U. SCHNELLE, Einleitung; H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 229; D. STARNITZKE). Er greift den Terminus "Evangelium" aus 1,15 auf und leitet damit das Thema des Briefes aus der dort vorgestellten Absicht des Paulus ab. Zugleich jedoch schließt V. 18 antithetisch an V. 17 an: Das Verb a:lloKIlJ..{J1rtE"tIlL (es wird offenbart) greift V. 18 aus V. 17 in Anwendung auf den Zorn Gottes wieder auf; im Kontrast zur Gerechtigkeit bzw. Rettung aus V. 16f. stehen die Ungerechtigkeit bzw. der Zorn Gottes in V. 18. 1,16f. ruhrt aiso direkt ins erste Briefthema. Darüber hinaus fallen hier Stichworte, die rur die Wortfelder des gesamten Briefes bestimmend werden: RettunglLeben, Gerechtigkeit Gottes, Glaube, Jude/Grieche. In Korrespondenz zu 1,16f. steht der Abschluss des Briefkorpus in 15,7-13, wo sowohl die doppelte Adressatenschaft (Juden und Griechen) als auch das Thema des Glaubens und der öUVIlj.l.L~ (Kraft) Gottes bzw. des Geistes im Lobpreis wieder aufgegriffen werden. Beide Abschnitte rahmen demnach das Briefkorpus.
1,16f. formuliert die Themenangabe für den gesamten Brief: Das Evangelium stellt eine rettende Kraft Gottes dar, die Offenbarung von Gottes Gerechtigkeit zugunsten alIer, die glauben, seien sie Juden oder Heiden. Das Briefkorpus entfaltet dieses Thema in mehreren argumentativen Schritten, wobei es einer stringenten Disposition folgt, die sich in fünf große Themenblöcke gliedern lässt. Soll der erste Themenblock in 4,25 oder 5,21 enden? Der Satz in 4,23-25 besitzt zusammenfassenden Charakter und deutet so einen gewissen Abschluss mit 4,25 an (so die meisten Ausleger; nach 5,21 setzen die Zäsur U. WILCKENS, EKK VI/I; J. D. G. DUNN, Word Biblical Commentary 38A, 242-244; M. THEOBALD, SKK 6/1; DERS., Römerbrief 48-53; K. HAACKER). Die rekapitulierende Phrase "gerecht gemacht nun aus Glauben" in 5,1 greift auf den im zentralen Abschnitt 3,21-31 erreichten Diskussionsstand zurück und ruhrt diesen im Blick auf die resultierende Lebenspraxis weiter. Die GegenUberstellung Adam! Christus von 5,12-21 wird dabei auch in 7,7-13 relevant, wobei jeweils die Funktion der SUnde und der Tora angesprochen werden. Zentrale theologische Begriffe von 5,1-11 (Hoffnung, Leben, Liebe, Geist, Tod) werden wiederum in Kap. 7 und v. a. Kap. 8 wichtig, womit die Zusammengehörigkeit von 5-8 im Argumentationsgang ersichtlich wird.
(I) Als erstes Thema stellt Paulus der Sünde der Welt die Gerechtigkeit Gottes gegenüber (1,18-4,25). Paulus behauptet: Ni~ht nur die Heiden (l, 18-32), was aus jüdischer Perspektive nicht überrascht, sondern auch die Juden (2,1-29) leben im Zustand der Schuld und der Sünde, weil sie kein am Willen Gottes orientiertes Leben führen. Gottes Treue und Gerechtigkeit stehen fest (3,1-8), aber ,,Juden und Griechen, alle sind unter der Sünde" (3,9), wie Paulus durch Schriftzitate bekräftigt (3,10-18). Die Funktion des Gesetzes, der Tora, in
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
diesem Prozess besteht nicht in der Vermittlung der Gerechtsprechung, sondern in der Anklage der Schuldigen und der Erkenntnis der Sünde (3,19f.). Diesem negativen Zustand stellt Paulus in einem der Zentraltexte des Röm die neue Gerechtigkeit Gottes gegenüber, die sich in Tod und Erweckung Christi eschatologisch offenbart und den Menschen die Gerechtsprechung, den Freispruch von der Sündenmacht schenkt; damit einher geht eine neue Sicht der jüdischen Identität, die eine neue Bewertung und Anwendung der Tora einschließt (3,21-31). Dass der Glaube den Zugang zu dieser Gerechtigkeit Gottes darstellt, weist Paulus in 4,1-25 anhand der Tora selbst nach: Seine Auslegung der Erwählung Abrahams durch Gott (Gen 15) bindet die Gerechtsprechung durch Gott an Abrahams Glauben an Gottes lebensschaffende Macht; die Beschneidung tritt erst als sekundäres Merkmal hinzu. (2) Das zweite Thema wendet diese Einsichten nun auf das Leben der Christen an, indem es das Leben in der Endzeit und die Bedeutung der Tora dabei erörtert (5,1-8,39). 5,1-11 demonstriert die eschatologische Qualität des christlichen Lebens, gerade auch in den Bedrängnissen der Gegenwart: Aus Gottes Liebe, die sich im Tod Jesu unüberbietbar gezeigt hat, leben die zu Christus Gehörenden in einem neuen Verhältnis zu Gott - in Frieden, versöhnt, in der Hoffnung auf ein Leben bei Gott. Im Vergleich zu "früher" hat sich also Entscheidendes geändert, wie Paulus durch eine Gegenüberstel1ung der Leitfiguren Adam und Christus zeigt (5,12-21): In Christus ist die Macht der Sünde und des Todes, die sich mit dem Gesetz unheilvol1 verbunden hat, endgültig überwunden. Die Erfahrung dieser neuen Wirklichkeit beginnt mit der Taufe, die in den Herrschaftsbereich Christi eingliedert und damit Freiheit von der todbringenden Macht der Sünde bedeutet; Konsequenz ist eine neue Lebenspraxis gemäß der erfahrenen Gerechtigkeit Gottes (6,1-23). Dabei fäl1t in 6,14 die schwierige Bemerkung, dass die Herrschaft der Sünde über die Christen gebrochen ist, weil diese nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind - sind denn Gesetz und Gnade Gegensätze? Wie kann der Jude Paulus dies behaupten? Die drängende Frage nach der Rolle des Gesetzes bei diesem Lebens- und Herrschaftswechsel greift 7,1-25 auf. Paulus macht mittels des Beispiels vom Tod eines Ehepartners noch einmal klar, dass in christlicher Sicht eine Veränderung der Wirklichkeit stattgefunden hat und damit ein neues Verständnis des Gesetzes nötig wird (7,1-6). Die terminologische Dichotomie "Neuheit des Geistes" - "Altheit des Buchstabens" (7,6) fasst dabei unterschiedliche Tora-Verständnisse zusammen und ist Ausdruck einer neuen Tora-Hermeneutik des Paulus. In 7,7-13 lässt Paulus das "Ich" Adams "seine" Erfahrung mit dem Gesetz aussprechen: Die Sündenmacht instrumentalisierte das Gesetz für ihre todbringenden Zwecke; das Gesetz an sich bleibt also uneingeschränkt gut, wird aber von der Sünde missbraucht. Im "Ich" eines toratreuen Juden ruhrt Paulus diese Erfahrung in 7,14-25 weiter aus: Die Sünde bemächtigt sich auch des menschlichen Tuns und bewirkt eine existentielle Diskrepanz zwischen gutem Wollen und bösem Tun (V. 14-20). Paulus malt dabei die
D.I1I. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
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"typisch" jUdische Toraauslegung in schwarzen Farben, weil sie von der Herrschaft der SUnde gegen das Wohl und Wo lIen der Menschen bestimmt wirdein ausweglos scheinendes Dilemma (V. 21-25). Die Lösung besteht in der gewandelten Wahrnehmung aus der Perspektive des Christus-Ereignisses. 8,14 greift auf 3,21-26 zurück und hält die wirklichkeitsverändernde Befreiung durch Gott fest, womit ein neues Verständnis des Gesetzes grundgelegt ist (V. 2). "Im Geist" haben die durch Christus Befreiten neues, unvergängliches Leben, das sich vom alten Leben "im Fleisch" qualitativ unterscheidet (8,111): Sie sind Kinder Gottes (8,12-17). 8,18-30 drUckt die zuversichtliche Hoffnung der Christen auf die zukUnftige VolIendung aus, die ihnen hilft, auch in den Widernissen und Vorläufigkeiten der Gegenwart befreit zu leben und zugleich mit kritischem Blick den angeblichen Segnungen des römischen Reiches zu begegnen. Dies mUndet in einen hymnischen Lobgesang auf Gottes rettende Liebe, der sich als Zusammenfassung der bisherigen DarstelIung lesen lässt (8,31-39). (3) Das dritte Thema (Kap. 9-11) stelIt die sich notwendig an diesem Punkt ergebende Frage nach der Position des großen Teils Israels, der Christus nicht angenommen hat, in diesem Gefüge der eschatologischen Befreiung, genauer: ob Gott seine Gerechtigkeit und Erwählung Israel gegenUber zurUckgezogen hat, und setzt damit die Diskussion mit der jUdischen Tradition, die Paulus seit 3,1 führt, organisch f0l1. Die tiefe Trauer Uber Israel, die 9,lf. ausdrUckt, steht in starkem affektivem Kontrast zum Uberschwänglichen Lobpreis von 8,3139. Paulus thematisiel1 seine persönliche Betroffenheit (9,1-5), die Freiheit der Erwählungstat Gottes (9,6-29), die Entscheidung Israels gegen die Gerechtigkeit aus Glauben an Christus (9,30-10,21) und stelIt dann die Kernfrage, ob Gott sein Volk verstoßen habe (11,1). Die Antwort denkt Uber einen Rest Israels nach, über Gottes Absicht, Israel durch Einschluss der Heiden zur Eifersucht zu reizen, und gelangt schließlich zum Ausdruck der paradoxen Überzeugung, dass am Ende ganz Israel gerettet werde (11,1-32). Verstehen lässt sich dies nur als Geheimnis der Bundestreue Gottes (V. 25-27). Den Abschluss des Briefteils bildet in dieser Zuversicht wiederum ein Lobpreis Gottes (11,33-36). (4) Mit der Verbform na.paKaA.W (ich ermahne, rede zu) beginnt das vierte Thema - Paulus zieht Folgerungen für das konkrete Leben der Gemeinden in der Welt (12,1-13,14). Zunächst entwirft er die Eigenart des Gemeindelebens als Unterscheidungsmerkmal von der römischen Umwelt (12,1-21), dann behandelt er auf realistisch-kritische Weise das Leben der Gemeinden unter der Herrschaft des römischen Imperiums (13,1-7), um schließlich das Kriterium der Liebe und den eschatologischen Charakter christlicher Existenz hervorzuheben (13,8-14). Paulus etabliert christliche Identität in einer fremden Welt. (5) Mit demfunften Thema (14,1-15,6) nimmt Paulus eine spezielIe Anwendung auf eine problematische Gruppenbildung innerhalb der römischen Gemeinden vor. Er will eine in ihrer theologischen Sicherheit als "Starke" apo-
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
strophierte Gruppe zur Rücksicht auf eine Gruppe von skrupulösen, stärker in der jüdischen Tradition verhafteten "Schwachen" bewegen und so die Einheit der Gemeinden bewahren. Den Abschluss dieses Themas bildet eine zusammenfassende Ermahnung in 15,7-13, die sich als summierender Abschluss des ganzen Briefkorpus verstehen lässt und besonders in V. 13 einige zentrale Begriffe des gesamten Briefes resümiert (M. MÜLLER 220-239).
1.3 Oberblicksschema Ein Schema fasst die Strukturanalyse des Röm zusammen: Briefeingang 1,1-15 Briefkorpus 1,16--15,13
Briefschluss 15,14-16,23
Präskript 1,1-7 Proömium 1,8-15 mit Danksagung 1,8-12 und Selbstempfehlung 1,13-15 Eröffnung: Themasatz - die Gerechtigkeit Gottes aus Glauben I, 16f. Thema 1: Sünde der Welt und Gerechtigkeit Gottes 1,18-4,25 Die Ungerechtigkeit von Heiden und Juden 1,18-3,20 Die neue Gerechtigkeit in Christus, aus Glauben 3,21-31 Abraham - Vorbild der Gerechtigkeit aus Glauben 4,1-25 Thema 2: Leben in der Endzeit und die Tora 5,1-8,39 Das Leben seit der Versöhnung in Christus 5, I-lI Vergleich: Adam - Christus 5,12-21 Die Taufe als Beginn des neuen Lebens 6,1-23 Das neue Verständnis der Tora 7,1-25 Das Leben als Kinder Gottes aus dem Geist 8,1-17 Die Vorläufigkeit der Gegenwart und die Vollendung als Hoffnung 8,18-39 Thema 3: Konsequenzen/ür Israel 9,1-11,36 Israel im Widerspruch 9,1-5 Gottes freie Erwählung Israels 9,6--29 Israels Verweigerung gegenüber der Gerechtigkeit aus Glauben 9,30--10,21 Die bleibende Erwählung und die Rettung Israels 11,1-36 Thema 4: Die Identität der Gemeinden in der Welt 12,1-13,14 Die Eigenart des Gemeindelebens als Unterscheidungsmerkmal 12,1-21 Das Leben im Staat 13,1-7 Das Kriterium der Liebe 13,8-14 Thema 5: Spezielle AflWendung 14,1-15,6 Starke und Schwache und die Einheit der Gemeinde Abschluss: Zusammenfassende Ermahnung 15,7-13 Besuchs- und Reisepläne 15,14-29 Aufforderung zur Fürbitte und Friedenswunsch 15,30-33 Empfehlung der Phöbe und Grüße 16,1-16 Warnung vor Störenfrieden und abschließender Gnadenwunsch 16,17-20 Nachtrag: Grußübermittlungen 16,21-23
D.I11. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
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2. Entstehung
2. I Traditionen Die Argumentation des Röm verdankt sich der theologisch-praktischen Reflexion des Paulus, die durch seine Verkündigungserfahrung veranlasst wurde; sie ist also eine" Leistung des Apostels. Paulus versteht sein Bedenken der Bedeutung Jesu Christi jedoch nicht als intellektuelle Innovation, sondern weiß sich dabei grundlegend in der Tradition des Urchristentums verankelt. Diese Verankerung demonstriert die mit den römischen Gemeinden gemeinsame Glaubensbasis und scheint formal im Röm z. B. an den Stellen durch, an denen Paulus geprägte christologische Formeln aufgreift (ausführlich M. THEOBALD, Römerbrief 89-97). Diese sind freilich nicht immer eindeutig identifizierbar, da Paulus im Röm keine Überlieferungsterminologie (wie etwa in I Kor 15,3) benutzt; einmal (Röm 10,9) deutet er die Sprache des Bekenntnisses an. Zumeist gilt 1,3f. als judenchristliche Formel, die die irdische Davidsohnschaft Jesu (mit dem Hintergrund der Nathan-Verheißung 2 Sam 7,12-14) durch die Einsetzung zum Sohn Gottes bei der Auferstehung steigert. Um der Klimax die Schärfe zu nehmen, hat Paulus mit TIEpt taG uLaG autaG (von seinem Sohn) zu Beginn von V. 3 den Präexistenzgedanken eingetragen und mit EV ÖUV~EL (in Kraft) in V. 4 die Wirkung der Auferstehung als Einsetzung in die himmlische Vollmacht beschrieben. Für das Vorliegen einer traditionellen Formel sprechen: 1. die parallele Struktur der beiden Formelhälften Oe drei Glieder), 2. die Unterbrechung der Titelfolge "von seinem Sohn" (V. 3a) "Jesus Christus unserem Herrn" (V. 4fin), 3. unpln Vokabular (z. B. "Geist der Heiligkeit") und 4. die christologische Abstufung, die die Formel zwischen Irdischem und Erwecktem aussagt (U. WILCKENS, EKK VI/I, 56-61). Paulus baut in seine Aussagen über Christus traditionelle Erweckungsformeln (4,24; 8,11; 10,9) und Sterbeformeln (5,6.8; 14,15) ein. Eine Kombination (Tod, Begräbnis, Erweckung) steht im Hintergrund der Taufformel 6,3f., die an 1 Kor 15,3b-5 erinnert und die Wirkung der Taufe als Teilhabe an Christus profiliert. Formeltradition dürfte auch 8,34 prägen (Tod Christi, Erweckung, Einsetzung zur Rechten Gottes, Beistand rur die Seinen). Hinter den einzelnen Elementen von 4,25 - Hingabe Christi um unserer Verfehlungen willen, Erweckung um unserer Gerechtsprechung willen - steht wohl Glaubenstradition, die eine Anwendung zentraler Aspekte aus dem vierten Gottesknechtslied (vgl. Jes 53,llf.) auf Christus enthalten haben könnte. Auch die Formulierung der Hingabe Christi, des Sohnes, durch Gott in 8,32 ist traditionell. Der Sendungsgedanke in 8,3 verdankt sich einer weisheitlichen Denkstruktur (vgl. Weish 9,10), wobei eine himmlische "Präexistenz" des Gesandten vorausgesetzt wird.
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Eine breite Mehrheit von Auslegern betrachtet auch 3,25f. im Grundbestand als Tradition (z. B. E. LOHSE, KEK 4, 129.131-133; M. THEOBALD, SKK 6/1, 99-103; anders z. B. K. HAACKER, ThHK 6, 89). Paulus übernehme damit eine traditionelle Sühnetod-Vorstellung: Der Begriff LA.IXOt1jpwv wird mit der Deckplatte der Bundeslade im (ersten) Jerusalemer Tempel identifiziert, die beim Ritual des Versöhnungstages in Israel nach Lev 16 eine tragende Rolle spielt. Damit verbindet sich eine typologische Deutung - der Tempel als Ort der Sühne werde von Gottes endgültigem Handeln im Tod Jesu überboten (und abgelöst). Häufig wird die Herkunft der Formel auf die Tempelkritik der "Hellenisten" um Stephanus (Apg 6,13 f.) zUriickgefilhrt. Gegen diese Annahmen wäre zu bedenken, dass das Vokabular der Stelle überwiegend pln ist und die Fremdheit der kultisch-konkreten Gestalt der Sühnetod-Vorstellung bei Paulus als Argument ausfällt, wenn man LA.IXOt1jpWV aus der antiken Praxis des Weihegeschenks herleitet (--+ 3.2). Die von Paulus aufgegriffenen Formeln sind zu einem erheblichen Teil von judenchristlicher Schriftanwendung geprägt. Sie grundieren immer wieder die Argumentation des Paulus und rufen so die mit den Adressaten gemeinsame Glaubensbasis wach, wodurch sie zu Elementen der Einheit werden. Der pln Umgang mit diesen Traditionen ist durch ein hohes Maß an Kreativität bestimmt, so dass ihre Anwendung einen lebendigen Interpretationsprozess und kein starres "Weitergeben" darstellt; entscheidend ist die Entfaltung der Inhalte auf die konkrete Sprechsituation hin, da nur auf diese Weise das Evangelium zu den Menschen gelangen kann. Manche Sätze stammen in ihren Grundgedanken aus einer bereits entwickelten pln Lehrtradition, wie der Vergleich mit parallelen Formulierungen zeigt; teilweise signalisieren auch metakommunikative Einschübe wie "wir wissen" (Röm 3,19; 8,28) oder "wir sind überzeugt davon" (3,28) diesen Sachverhalt. Beispiele sind 3,28 "durch Glauben wird der Mensch gerechtgesprochen, ohne Werke des Gesetzes" (vgl. 3,20; 9,32; GaI2,16; 3,lla; ferner Röm9,12; 11,6), 6,14f. "nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade" (vgl. Gal 5,4.18) oder 10,12 "es gibt keinen Unterschied zwischen Jude und Grieche" (vgl. GaI3,28; I Kor 12,13) (weitere Beispiele: M. THEOBALD, Römerbrief 105-109). Solche prägnanten, einprägsamen Fonnulierungen sind sicher für die wachsende Prominenz der pln Tradition im Urchristentum mitverantwortlich.
2.2 Einheitlichkeit: Text- und Literarkritik Die text- und Iiterarkritischen Probleme des Röm konzentrieren sich auf seinen Schluss. Das Ende des Röm ist in den Handschriften unterschiedlich überliefert (K. ALAND; D. TROBISCH 63-79; zur Diskussion M. THEOBALD, Römerbrief 10-14.18f.). Die Unterschiede betreffen v. a. den Gnadenwunsch 16,24 und die Doxologie 16,25-27. Zunächst eine Übersicht über die verschiedenen Formen der Textüberlieferung:
D.I1I. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
285
Textbestand
11, 1-16,2311r-16-,2-5--2""~
(wichtige) Handschriften
11,1-14,231
p61 aBC 1739 Markion (nach Origenes)
11,1-15,331r-116-,2-5--2""~116,1-231
p46
11, 1-16,231116,2~ 11, 1-16,23IM r-116""',2-5_-2""~
D (Vorlage) F(gr) G D F(lat) AOl51 'Jl Mehrheitstext syh
11,1-14,231116,25-2~115,1-16,231116,25-2~ 1t,1-14,231116,25-2~115,1-16,23IM 11, 1-14,231116,25-271115, 1-16,231116,25-27/116,2~ p 33 11, 1-14,231116,25-2~115, 1-331116,25-2~ 1506 11,1-14,231116,25-27/ Capitula Fuldensia, Amiatina (Vulgata)
Dieser disparate textgeschichtliche Befund erklärt sich am besten durch die Annahme, dass der Röm ursprünglich mit 16,23 endete, der ungewöhnliche Abschluss mit Grußaufträgen aber an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten die Hinzufügung der Schlussworte 16,24 bzw. 16,25-27 provozierte. Von da aus lassen sich Mischformen und Umstellungen verstehen. 16,24 fehlt in den ältesten Handschriften und ist schon deshalb kaum ursprünglich. Die Doxologie 16,25-27 wird zwar von den besten Handschriften bezeugt, jedoch erlauben die unterschiedliche Platzierung, die deutlichen Bezüge auf den Briefeingang und die auffallenden Parallelen in den Deuteropaulinen die Folgerung, dass hier - vielleicht bereits im Blick auf eine ganze Sammlung von Paulusbriefen, an deren Ende Röm gestanden habe (so W. SCHMITHALS, Komm.; U. WILCKENS, EKK VI/3, 147-152; M. MÜLLER 209)sekundär ein "würdiger" Abschluss des Röm geschaffen wurde (0. ZELLER 251). Ein kleines, aber sachlich interessantes textkritisches Problem findet sich in Röm 16,7, wo Paulus zwei Personen grüßt, die er als "angesehen unter den Aposteln" hervorhebt: Andronikus und Junia(s). Erst die Akzentsetzung entscheidet darüber, ob mit der Akkusativform IOYNIAN ein Mann ('IOUV1iiv) oder eine Frau ('Iouvtcxv) gemeint ist. Da die ältesten Handschriften als Majuskeln keine Akzente tragen, ist ein textkritisches Urteil nach äußeren Kriterien unmöglich. Neben dem ganz überwiegenden Verständnis als Frauenname in der alten Kirche ist die Beobachtung entscheidend, dass der Männername Junias in der Antike nicht belegt (P. LAMPE, Christen 137 Anm. 40), der Frauenname Junia dagegen durchaus bekannt ist. Damit bietet 16,7 einen Beleg dafilr, dass Paulus eine Frau zu den Aposteln rechnete (deren Kreis größer war als der der Zwölf, vgl. I Kor 15,7). Kirchenpolitische Gründe filhrten zur Entscheidung flir den Männernamen, der in Handschriften ab dem 9. Jh. begegnet. Nachdem sich diese Einsicht in der Forschung seit einiger Zeit durchsetzte (B. J. BROOTEN; vgl. J. A. FITZMYER 737f.; K. HAACKER, ThHK 6, 320f.; E. LOHSE, KEK 4, 408f.), bieten jetzt auch die neuen Lieferungen der maßgeblichen Textausgabe NA27 die weibliche Form Junia Ein literarkritisches Problem stellt die überraschende Polemik gegen Störenfriede in 16, 17-20a dar, die von einigen Forschern als nachpln Interpolation (z. T. im Kontext der Zusammenstellung des Corpus Paulinum) betrachtet wird. Problematisch ist dabei weniger die Platzierung dieser Polemik (vgl.
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Gal 6,11-16; 1 Kor 16,22) als vielmehr ihre sprachliche Gestalt, die den Deuteropaulinen näherzustehen scheint als den übrigen Paulusbriefen. Umgekehrt finden sich aber durchaus pln Gedanken (vgl. Röm 1,8; PhiI3,18f.), so dass die Interpolationshypothese zwar möglich, aber nicht wirklich überzeugend ist. Die exegetische Herausforderung besteht in der Frage, welche Personen Paulus bei dieser Polemik vor Augen standen, was auf die geschichtlich-konkrete Seite der Kommunikationssituation aufmerksam macht. Vorsicht gilt gegenUber der Annahme von Glossen (Eintragungen eines Redaktors), die sowohl textgeschichtlich als auch inhaltlich - durch deutliche WidersprUche im Kontext des Briefes - kenntlich sein mUssten. Ein Beispiel: Manche Autoren verstehen 7,25b als Einfilgung eines Glossators (zuletzt H. LICHTENBERGER, Ich 150-160), v. a. weil die Aussage "ich diene mit der Vernunft dem Gesetz Gottes" als resUmierender Satz die Darlegung in 7,14-23 nicht treffe und V. 25b hinter V.25a sachlich zUlÜckfalle; ein Glossator habe damit sein Verständnis der pln Erörterung über die innere Zerrissenheit des Menschen (vergleichbar dem lutherischen simul iuslus et peccator) eingetragen. Dass 7,25b so störend nicht sein kann, zeigt seine antithetische Verbindung mit 8,1 (was z. B. M. THEOBALD, SKK 6/1, 218f. erwägen lässt, auch 8,1 als redaktionell einzustufen). Wieder bleibt die exegetische Herausforderung, den gedanklichen Fortschritt des Paulus in 7,25b zu erfassen: Er nimmt in Röm 7 verschiedene Sprecherrollen ein, um unterschiedliche Wirkungen (und Verstehensweisen) des Gesetzes zu demonstrieren.
Die Einheitlichkeit von Röm 1,1-16,23 wird heute weithin angenommen (Ausnahmen: W. SCHMITHALS, Briefe; R. SCROGGS). Anlass zur Diskussion bietet immer wieder die Grußliste in Röm 16, die von manchen Autoren literarkritisch als eigenständiges Schreiben nach Ephesus bestimmt wird (z. B. W. SCHMITHALS, Komm. 543-565; E. KÄSEMANN 393-405), das später an den Röm angehängt wurde und dessen Absicht z. B. in der Empfehlung der Phöbe (16, I f.) oder der Polemik gegen "Irrlehrer" (J 6, 17-20a) gesehen werden kann. Diese Ephesus-Hypothese wird in mehreren Spielarten vorgetragen; erwäimt sei die Variante, dass Paulus den Röm bereits bei der Abfassung an verschiedene Gemeinden senden wollte, wobei Röm 16 als Begleitschreiben speziell nach Ephesus fungieren sollte (T. W. MANSON; Neufassung: D. TROBISCH 118; aufgenommen bei G. THEIßEN, Neue Testament 56). Damit wäre der Beginn einer christlichen Publizistik gesetzt. Als wichtigste Argumente filr die Adressierung von Röm 16 nach Ephesus werden vorgebracht: (I) Obwohl Paulus die römischen Gemeinden unbekannt waren, grUßt er 26 Personen namentlich; mit den ephesinischen Christen war er vertraut. (2) Von manchen GegrUßten weiß man, dass sie (zeitweise) in Kleinasien bzw. Ephesus wohnten (I Kor 16,19: Priska und Aquila; Röm 16,5: Epainetos als "Erstling der Asia"). (3) Die Polemik in 16,1720a passt nicht zu dem ausgewogenen Röm, sondern besser zu einem Brief an eine Gemeinde, deren Verhältnisse Paulus persönlich bekannt waren. - Dagegen ist zu bedenken: (I) Textkritisch ist kein Ende des Röm mit 15,33 nachweisbar (die späte Minuskel 1506 [aus dem Jahr 1320] vermag die Beweislast nicht zu tragen). (2) Grüße zählen zu den wichtigen Formelementen des Briefschlusses. (3) Paulus muss nicht alle GegrUßten persönlich gekannt, sondern kann durch Erzählungen Dritter von ihnen erfahren haben. Min-
D.III. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
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destens zwölf der 26 namentlich Genannten waren ihm persönlich bekannt (P. LAMPE, Christen 128-135). Durch sie (und andere) konnte er - zumal die Reisestrecke Korinth! Rom unter günstigen Bedingungen in kaum mehr als einer Woche zu bewältigen war - über die Verhältnisse in Rom gut unterrichtet sein. (4) Eine christliche Migrationsbewegung von Kleinasien (und Griechenland) nach Rom ist durch die politischen Verhältnisse erklärbar: Wegen des Claudius-Edikts mussten Judenchristen 49 n. Chr. Rom verlassen, konnten jedoch beim Regierungsantritt Neros 54 zurückkehren. Das dürfte ftlr Priska und Aquila zutreffen (vgl. Apg 18,2 mit I Kor 16,19). Vielleicht siedelten auch andere kleinasiatische Christen nach Rom über. (5) Ferner: Die auffallende Erweiterung der Grüßenden in 16,16b auf "alle Gemeinden Christi" ist rur die Kontaktaufnahme nach Rom wichtig, weil Paulus damit seine gesamte Missionsleistung unterstützend hinter sich versammelt.
Entscheidend für die Beurteilung ist die rhetorische Funktion der Grußliste von Röm 16 im Zusammenhang der Argumentationsabsicht des Briefes: Weil Paulus sich vorstellen und die römischen Christen für seine Sache gewinnen will, nutzt er alle Möglichkeiten der persönlichen Beziehungsebene, um einen guten Kontakt vorzubereiten. Daher kann die Grußliste mit hoher Plausibilität als genuiner Bestandteil des Röm gelten.
2.3 Literarische Form
Die Formbestimmung des Röm als Brie/ist insofern wichtig, als sie den aktuellen Situationsbezug der Kommunikation in der spezifischen Konstellation Apostel- (unbekannte) Gemeinden herausstellt. Auch wenn der Brief in weiten Teilen lehrhaften Charakter trägt, handelt es sich nicht um einen Traktat über theologische bzw. anthropologische Themen (anders D. STARNITZKE, der inhaltlich die Frage nach der Identität des menschlichen Selbst und formal eine Doppelstruktur von menschlicher und theologischer Perspektive als thematische Hauptaxiome erkennt). Die stark argumentativ geprägte und geschlossene Form der Darstellung ist von der Situation gefordert, in der Paulus eine bestimmte Christengruppe - die römischen Hausgemeinden - ansprechen, von der Berechtigung seiner Missionspraxis überzeugen und zur Unterstützung bewegen will. Es existieren zahlreiche Versuche, die Form des Röm mittels der Klassifikationen antiker Epistolographie bzw. der Genera antiker Rhetorik näher zu bestimmen; ebenso liegen etliche Vorschläge vor, die Struktur des Röm in die Schemata einer rhetorischen Disposition, wie sie ftlr öffentliche Reden üblich waren, einzuordnen (Überblick: M. THEOBALD, Römerbrief 54-67). Das kann dort sinnvoll sein, wo sich z. B. durch die Bestimmung des Themasatzes 1,16f. als propositio dessen rhetorische Funktion der Themenangabe rur den gesamten Brief präzise erfassen lässt. Insgesamt erweisen sich die Ergebnisse jedoch als ausgesprochen disparat, woran man sieht, dass sich der Röm nicht einfach in vorgegebene Muster einftlgen lässt. Hinzu treten methodologische Probleme der Beziehung von Rhetorik und Epistolographie. Die Analyse der textlichen Eigenheiten des Briefes führt weiter als die Einordnung in Regelsysteme.
288
D. Die Briefe - Paulusbriefe
Weil der Röm Überzeugungsarbeit zu leisten hat, ist er stilistisch sorgfältig gestaltet. Einige Passagen (z. B. 2,3f.17-27; 3,27-31; 6,1-4; 9,19-23) erinnern an den Stil der Diatribe, die aus der Schuldiskussion der kynischen und stoischen Philosophie bekannt ist und einen Dialog mit einem imaginären Gesprächspartner fingiert ("Frage-Antwort-Spiel"; dazu S. K. STOWERS, Diatribe; T. SCHMELLER). Diese lebendige Art eines Lehrvortrags bezieht die Adressaten über ihre Zuschauerrolle hinaus in die Dialoge ein. In 7,7-25 entdeckt man die aus dem antiken Drama und der Schullektüre vertraute Form einer Prosopopoiie, eines "Rollenspiels", bei dem das sprechende "Ich" verschiedene Rollentypen repräsentiert, um (typische) Standpunkte und Verhaltensweisen zu demonstrieren (S. K. STOWERS, Romans 7,7-25; 1. A. HARRILL 18-21). Neben vertieften Einsichten wird dabei eine emotionale Wirkung erzielt. Einzelne Themensätze leiten Argumentationsabschnitte ein und strukturieren den Brief rur die Hörenden (3,21.22a; 7,6; 9,6a; 10,4). - Ein fast "mystisch" zu nennendes Textstück liegt in 14,7-9 vor, wobei die darin ausgedrückte Christus-Gemeinschaft in der christologischen Überzeugung grundgelegt ist und die tiefere Verankerung der pln Ausfiihrungen signalisiert.
2.4 Verfasser, Ort, Zeit Paulus verfasste den Römerbrief im Frühjahr 56 in Korinth, wie heute eine breite Mehrheit von Forschern annimmt (~ D.II.). Er diktierte den Brief einem Schreiber namens Tertius, der sich in Röm 16,22 mit eigenen Grüßen zu Wort meldet. Die Wiederaufnahme der Schifffahrt nach der Winterpause war - als wesentliche Voraussetzung für die Reisepläne des Paulus - noch nicht erfolgt. Paulus betrachtete seine Tätigkeit im Osten des Reiches als beendet und stand kurz vor der Abreise nach Jerusalem, um dort der Urgemeinde die Kollekte der heidenchristlichen Gemeinden zu übergeben. Dann wollte er nach Rom kommen (Röm 15,23-28). Dazu passt die Angabe in Apg 20,2f., Paulus habe sich VOl" der Abreise nach Jerusalem (Apg 21) drei Monate in "Griechenland" (Achaia), womit wohl an Korinth gedacht ist, aufgehalten, was die Apg als Abschiedsbesuch stilisiert (vgl. auch Apg 19,21). Auf Korinth als Ort der Abfassung weisen zudem einige Namen hin, die Paulus im Römerbrief nennt: Briefbotin ist die Diakonin Phöbe aus Kenchreä, dem Hafen im Osten von Korinth (Röm 16,lf.); sein derzeitiger Gastgeber heißt Gaius (16,23), und aus 1 Kor 1,14 wissen wir, dass Paulus in Korinth einen Gaius taufte. Sehr unsicher bleibt die Identifizierung des "Stadtbeamten Erastos" (16,23) mit dem "Ädil Erastos", der in einer 1929 in Korinth gefundenen Inschrift (H. J. CADBURY) genannt ist; auch in 2 Tim 4,20 ist ein Erastos in Korinth erwähnt.
0.111. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
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2.5 Adressaten Adressaten des R6m sind die Gemeinden in Rom (1,7.15). Die r6mischen Christengruppen wurden nicht von Paulus gegründet. Wahrscheinlich waren es judenchristliche "Missionare", Handel- und Gewerbetreibende, die auf den großen Handelswegen vom Osten aus nach Rom kamen. Sie fanden in der großen jüdischen Bev61kerungsgruppe in Rom (vgl. Josephus, Ant XVII 300; Bell II 80), die in fiinf oder mehr einzelnen, über die Stadt verteilten Synagogengemeinden lebte, Raum, um von ihrer neuen Überzeugung zu sprechen. Aus den mit den Synagogen in Kontakt stehenden "Gottesfürchtigen" werden spätere Heidenchristen hervorgegangen sein. Die Christus-Anhänger entwickelten sich zusehends zu eigenständigen Hausgemeinden, die aber noch längere Zeit in den großen Raum der jüdischen Gemeinschaft geh6rten. Einen Einschnitt kann das von Kaiser Claudius im Jahr 49 n. Chr. erlassene Edikt bedeutet haben, das Sueton, Claud 25,4 so wiedergibt: Diejenigen Juden, die, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe stifteten, ließ er aus Rom vertreiben. Die Kürze und terminologische Unschärfe der Notiz erfordern eine Diskussion. Eine Datierung in das Jahr 49 n. Chr. ist mit Orosius (Hist Pag VII 6,15; 5. Jh.) und im Einklang mit Apg 18,1-17 wahrscheinlich (U. SCHNELLE, Einleitung 33f.; D. ALvAREZ CINEIRA 194216; anders G. LÜDEMANN: 41 n. Chr.). Der Name "Chrestus", ein gebräuchlicher Sklavenname, verdankt sich wohl einer Verwechslung mit dem jüdischen Titel "Christus", mit dem der Römer Suelon nichts anfangen konnte und der fLir ihn aufgrund des griechischen Itazismus (offenes e wie i gesprochen) gleich klang (D. ALVAREZ CINEIRA 201-210; anders H. D. SLINGERLAND 151-245: ein Sklave oder Freigelassener des Claudius namens Chrestus habe den Kaiser beeinflusst, die Juden zu vertreiben). Auffällig ist der Zusammenhang mit jüdischen Unruhestiftern, der auf imleljüdische Streitigkeiten um den "Christus" deutet: Rekonstruieren lassen sich heftige Auseinandersetzungen im Raum der jüdischen Gemeinden in Rom, d. h. zwischen Juden und Judenchristen, wohl um die Bedeutung Jesu und um das Problem, unter welchen Bedingungen (Beschneidung?) Heiden in die Jesus-Gruppe aufgenommen werden durften. Von den römischen Behörden wurden diese Konflikte als Gefiihrdung der inneren Sicherheit gewertet. Faktisch werden mit dem Claudius-Edikt wohl die fiihrenden Judenchristen (wie Priska und Aquila: Apg 18,2) aus Rom ausgewiesen worden sein. Unwahrscheinlich ist, dass alle Judenchristen Rom verlassen haben und nur die Heidenchristen in der Stadt blieben, was man als endgültige Trennung der Christen von den jüdischen Gemeinden interpretieren k6nnte (U. SCHNELLE, Einleitung 133: "endgültige LosI6sung"; M. THEOBALD, R6merbrief 31.35). Eher beginnt an dieser Stelle erst ein Trennungsprozess, denn das Edikt machte als Reaktion eine deutliche Grenzziehung der jüdischen Synagogen von den "Abweichlern" erforderlich, um den politischen Schutz ihrer Gemeinschaft durch romische Privilegien nicht zu verlieren. Vielleicht bezieht sich der in R6m 12,19-21 geforderte Verzicht auf Rache (auch) auf diese Ausgren-
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
zung. Sie hatte Erfo[g, denn bei der stadtrömischen Christenverfolgung unter Nero (64 n. Chr.) waren die Christen von den Behörden offenbar als eigenständige Gruppe identifizierbar. Der Anteil der Heidenchristen in den JesusGemeinden wird angestiegen sein, so dass zur Zeit des Pau[us in Rom eine gemischte Christengruppe aus Heidenchristen (Röm 1,5 f.13; 11 , 13.17; 15,15f.18) und Judenchristen (4,1; 9,24; 14,14.20f.; 16,7.11) lebte; ein Großteil der Heidenchristen wird aus "Gottesfürchtigen" bestanden haben. Die Prägung der Gemeinden durch die jüdische Kultur blieb bestehen - in 7,1 spricht Pau[us die Adressaten als Leute, "die etwas vom Gesetz verstehen", an und er argumentiert grundlegend mit dem AT. Mit der Gruß liste Röm 16,3-16 liegt der seltene Fall vor, dass die Nennung konkreter Namen und weiterer Angaben zu den Trägem einen Einblick in die soziale Gesta[t und die Organisation der Hausgemeinden erlaubt (P. LAMPE, Christen; DERS., Missionswege; H.-J. KLAUCK, Hausgemeinde; S. SCHREIBER, Arbeit). Das judenchristliche Ehepaar Priska und Aquila (16,3-5a) arbeitete in den Städten Korinth und Ephesus (Apg 18,2f.18f.26) mit Paulus bei der Verkündigung zusammen, so dass sie enge Vertraute wurden; wahrscheinlich waren sie als selbständige Gewerbetreibende tätig und besaßen in Rom ein größeres Haus, in dem sich eine Hausgemeinde traf, der die beiden vorstanden: Charismatische, d. h. an Begabungen und Möglichkeiten orientierte Strukturen und die Sozialform einer Gemeinde, die sich in einem (größeren) Privathaus versammelte, prägten das christliche Leben in Rom. Von den vier Frauen Maria, Tryphäna, Tryphosa und Persis sagt Paulus, dass sie sich "mühten" (Röm 16,6.12); vermutlich erfiillten sie führende Verkündigungsfunktionen und Leitungsaufgaben in den Gemeinden (S. SCHREIBER, Arbeit). Die Namen Persis (= "die Perserin"), Tryphäna und Tryphosa deuten auf Sklavinnen oder Freigelassene, beim römischen Autor Lukian (Hetärengespräche 11) trägt eine Hetäre den Namen Tryphäna - Frauen aus unteren sozialen Schichten übernahmen in den Hausgemeinden in Rom filhrende Aufgaben! Von 26 Gegrüßten sind 9 Frauen, von denen 7 wegen ihrer Aktivitäten gewürdigt werden (gegenüber nur 5 Männern). Andronikus und Junia waren Apostel und Judenchristen, vermutlich ein Ehepaar, jedenfalls berühmte Christen der ersten Stunde und fiihrende Persönlichkeiten (16,7). In den (nichtchristlichen) Haushalten des Aristobul und des Narzissus (16,IOb.lIb) scheinen Gruppen von christlichen Sklaven oder Freigelassenen gelebt zu haben. Der Name "Aristobul" flillt auf, da er äußerst selten begegnet und fiir das herodeische Herrscherhaus belegt ist - vielleicht sind christliche Sklaven einer hochgestellten jüdischen Persönlichkeit aus dem Osten nach Rom gekommen, wo sie unter dem Patronat dieses vornehmen Juden lebten und eine eigene Hausgruppe bildeten (P. LAMPE, Missionswege). Auch die Mutter des Rufus, die Paulus als "auch meine (Mutter)" bezeichnet (16,13), wird aus dem Osten nach Rom gezogen sein. Die Namensreihen in 16,14.15 deuten aufzwei Hausgemeinden.
Charakteristisch ist also: (1) Die römischen Christen waren in eigenständigen Hausgemeinden organisiert; eine zentrale Leitung existierte nicht. Die Sozialformen waren charismatisch bestimmt (vgl. Röm 12,3-8). (2) Viele der genannten Namen waren in unteren sozialen Schichten gebräuchlich (vgl. neben den genannten Frauen Hermes, Nereus, Ampliatus; P. LAMPE, Christen 141153), die Mehrheit in den Gemeinden bestand aus Sklaven, Freigelassenen
0.111. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
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und Zugezogenen (tributpflichtige peregrinifFremde, wohl aus dem Osten), die - und das erstaunt - mit selbständigen Gewerbetreibenden zusammenlebten: In den Gemeinden waren soziale Unterschiede relativiert, Sklaven und Frauen besaßen volIe und aktive Teilhabe (vgl. programmatisch GaI3,28).
3. Diskurs 3.1 Der Anlass des Röm
Der Komplexität des Röm wird nur eine differenzierte Betrachtung seines Anlasses gerecht. Dabei ist es erforderlich, sowohl die Situation des Paulus als auch der römischen Gemeinden wahrzunehmen. Drei Bereiche lassen sich aus dem Brief entnehmen: (1) Die Missionsabsicht des Paulus: Nach Röm 15,23f. betrachtet Paulus seine Arbeit in den Städten des Ostens (Kleinasien, Griechenland) als abgeschlossen und will sich in Spanien neues Missionsgebiet erschließen. Dazu benötigt er jedoch eine personelIe und materielle Basis in Rom, die ihm Unterstützung gewährt. Also stellt er sich den Gemeinden, die er noch nicht persönlich kennt, mit einem Brief vor und legt ihnen sein Evangelium dar. Er will sie von seinem Evangelium überzeugen und für eine persönliche Beziehung gewinnen, aus der ein gemeinsames Engagement für seine apostolische Sendung entstehen kann. (2) Der Problemkreis des Zusammenlebens von Judenchristen und Heidenchristen: Paulus muss seine Praxis der beschneidungsfreien Heidenrnission und damit sein Verständnis der Tora klären. Wie ist es möglich, dass Heiden als solche zum eschatologischen Gottesvolk gehören? Inwiefern bleibt die Tora die Grundlage für das Gottesbild und die Lebenspraxis? Das Lebenswerk des Paulus, die dauerhafte Verwirklichung seiner Berufung steht in Frage. Die Besorgnis des Paulus hat durchaus konkreten Anlass: Sie betrifft einmal den Konflikt in den galatischen Gemeinden, wo judaistische Gruppen erfolgreich waren (vgl. Gal). Zum anderen hegt Paulus Zweifel an der Annahme der beim Jerusalemer Treffen vereinbarten Kollekte (GaI2,9f.) seitens der Jerusalemer Urgemeinde (Röm 15,30f.); die Kollekte, gesammelt von den Gemeinden des "heidnischen" Missionsgebiets, bedeutet eine Anerkennung des "geistlichen" Vorrangs der Urgemeinde (15,27) und symbolisiert die Einheit und Zusammengehörigkeit von Juden- und Heidenchristen - wird dies fraglich, sieht Paulus sein ganzes Missionswerk bedroht! Das Problem des Zusammenlebens von Juden- und Heidenchristen und des richtigen Tora-Verständnisses war auch rur die gemischten Gemeinden in Rom virulent, unter denen es zu Spannungen in Fragen der Abgrenzung gegenüber der römischen Gesellschaft durch Toraobservanz gekommen war (14,1-15,6: Speisen, kultische Zeiten, Reinheitsfragen). Dabei ging Paulus ein durchaus ambivalenter Ruf voraus: Er wird verleumdet, zum Tun des Bösen
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aufzurufen (3,8) und die Geltung der Tora aufzuheben (3,31); ihm wird vorgeworfen, zum Bleiben in der Sünde zu ermuntern (6,1.15) und die Tora abzuqualifizieren (7,7.13). Man könnte gegen seine Position den Einwand erheben, er bestreite die Gerechtigkeit (9,14) und Erwählungstreue Gottes gegenüber Israel (11,1.11). Paulus sieht sich genötigt, sein Verständnis der Tora und der Bedeutung Christi darzulegen, um mit den römischen Gemeinden auf einer gemeinsamen Basis zusammenarbeiten zu können. (3) Die Konfrontation mit der politischen Macht: Sie tritt in Rom, dem Machtzentrum der damaligen Welt, besonders deutlich hervor. Kleine Gruppen aus Juden und Heiden sahen im erweckten und erhöhten Jesus den Christus, den von Gott eingesetzten endzeitlichen Herrscher über Welt und Geschichte. Sie etablierten in ihrem Gemeindeleben sozusagen eine GegenMacht, die eine unterschwellige Konfrontation mit der römischen Kultur bedeutete. Mit der römischen Gesellschaft und ihren Behörden sind sie bereits in Konflikte geraten (vgl. das Claudius-Edikt), ähnlich wie sie auch Paulus selbst bei Gefangenschaften und Prozessen schmerzlich erleben musste. Die Gemeinden in Rom lebten auf gefährlichem Terrain, weil gesellschaftliche Anfeindungen und staatliche Maßnahmen drohten. Unruhen wollten sie vermeiden, und manch einer mag mit Sorge auf den Besuch des Paulus geblickt haben: Ob nicht neuer Streit mit den Synagogen entsteht, der die Behörden eingreifen lässt? Paulus sah sich zu einer kritischen Reflexion des Verhältnisses zum römischen Imperium und zugleich der Frage nach dem Überleben der Gruppe unter den Bedingungen des Imperiums genötigt. Was geschieht, wenn Christus als Gegen-Macht auf das römische Imperium trifft? In der Forschung gibt es zahlreiche Versuche, den "Abfassungszweck des Röm" zu bestimmen. Daraus eine kleine Auswahl: • Häufig versteht man den Röm als gegen eine judenchristliche Front gerichtet. Bereits F. C. BAUR sah 1836 eine antipaulinische, jUdische Partei in Rom als Gegenüber, die die Heiden vom Evangelium ausschließt. Aktuell betont A. J. M. WEDDERBURN (1988) neben anderen Abfassungsgrunden v. a. römische Judenchristen als Gesprächspartner. Ähnlich versteht P. STUHLMACHER den Röm als große Apologie gegenüber judaistischen Kontrahenten (die sich auch in Rom befunden hätten.) • Nach G. KLEIN (1969) bedurfte die römische Gemeinde noch der apostolischen Fundierung, der Evangeliums-verkündigung, um ekkJesia (aufflillig: der Begriff fehlt in Röm 115) zu werden - dies nehme der Röm vorweg. • G. BORNKAMM (1971), J. JERVELL (1971) und z. T. U. WILCKENS (EKK VIII, 46) gehen von der Sorge des Paulus um die Kollekte aus und verstehen den Röm als eine Art Verteidigungsrede rur Jerusalem; heimliche Adressatin des Röm sei Jerusalem (1. JERVELL). • Auch der neue Ansatz von C. HARTWIG/G. THEISSEN (2004) erkennt einen Nebenadressaten: Indirekt sei der Röm nach Korinth adressiert zur Fortsetzung des mit 1/2 Kor begonnenen Dialogs mit den Korinthern (bei denen sich Paulus zur Zeit der Abfassung ja aktuell aufhält), wobei er die Themen aus 112 Kor weiterführe. • K. HAACKER (Friedensmemorandum, 1990) kontextualisiert den Röm in zunehmenden politischen Spannungen zwischen Jerusalem und Rom vor dem ersten jüdisch-römischen
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Krieg (66-70): Die These der Gleichstellung von Juden und Nichtjuden solle dabei als "Versöhnungsparole" dienen. • Eine klassische Position vertritt E. LOHSE (Summa Evangelii, 1993; KEK 4): Der Röm gilt ihm als "Summe des Evangeliums", als zeitlose, allein sachgemäße Auslegung des Evangeliums; Paulus lege Rechenschaft darüber ab und gehe nicht auf aktuelle Probleme ein. • Nach A. REICHERT (bes. 99f.32I f.) intendiert der Brief, die uneinheitliche Adressatenschaft in Rom zu einer pln Gemeinde zu machen und zur selbständigen Mission im Sinne des Paulus zu befähigen. Bereits H.-W. BARTSCH (1971), P. S. MlNEAR (1971) u. a. erhoben aus dem Röm die Absicht, die verschiedenen Hausgemeinden in Rom zu einer Ortskirche zu vereinen. • Etliche Ausleger zeigen heute eine differenzierte Sicht, wobei besonders der Problemkreis Heiden-/ludenchristen Berücksichtigung findet; so z. B. M. THEOBALD, SKK 6/1; Römerbrief; U. SCHNELLE, Paulus; Einleitung.
3.2 Die neue Wirklichkeit und das neue Tora-Verständnis
Um die Berechtigung seines Evangeliums für Juden- und Heidenchristen (vgl. 1,16f.) zu erweisen, besteht für Paulus ein entscheidender erster Schritt darin, die Veränderung der Wirklichkeit darzustellen, die durch das ChristusEreignis eingetreten ist. Dabei beschreibt Paulus in 1,18-3,20 die Voraussetzung, dass alle Menschen, Heiden wie Juden, Sünder sind, den Willen Gottes und das Gesetz nicht erfüllen und vor Gottes Gericht nicht bestehen können. Umso folgenschwerer ist die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, die auf diese Situation trifft und eine radikale Wende bedeutet (3,21-31); Im Tod Jesu hat sich Gottes Gerechtigkeit zugunsten der Menschen erwiesen, die Gott als Geschenk gibt und die (metaphorisch gesprochen) einen Loskauf, eine Befreiung der Menschen aus den Versklavungen der Sündenmacht bedeutet. Der Zugang dazu besteht im Glauben, also in der überzeugten, vertrauenden Hinwendung zu diesem Gott. Die Bedeutung des Christus Jesus veranschaulicht Paulus in 3,25 mit der Metapher vom hilasterion (--> 2.1). Der Großteil der Ausleger leitet den Begriff von der "Deckplatte" auf der Bundeslade im ersten Tempel her, an der beim alljährlichen Versöhnungstag nach Lev 16 ein Blutritus vollzogen wurde, der die Reinigung des Heiligtums, der Priester und des ganzen Volkes intendierte. Dieser kultische Vorgang lässt sich typologisch auf den Tod Jesu übertragen, der nun an die Stelle des Ritus im Tempel trete und endgültig und umfassend "Sühne" gewirkt habe (z. B. U. W1LCKENS, EKK VIII, 190-193; M. THEOBALD, SKK 6/1, 100f.; P. STUHLMACHER 55-57; T. SÖDING; W. KRAUS 150-157; M. GAUKESBRINK 229-233; T. KNÖPPLER 115-117). Andere Ausleger bringen hilasterioll mit der jüdischen Märtyrertheologie in Verbindung und berufen sich konkret auf die Aussage vom "sühnenden Tod" der Märtyrer in 4 Makk 17,2If. (Ende \. Jh., adjektivische Form); wieder ergibt sich: Das Lebensopfer Jesu dient der Sühne für die Sünde (E. LOHSE, KEK 4, 135; D. ZELLER 86f.; J. D. G. DUNN, Word Biblical Commentary 38A, 170-172; mit Hinweis auf das Lebensopfer römischer Helden K. HAACKER, ThHK 6, 91). Meine Deutung versteht hilasterion auf dem Hintergrund einiger Inschriften als "Weihegeschenk", wobei Paulus auf die in der Antike verbreitete Praxis von Weihegeschenken als Vorleistung bzw. Dankes-
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gabe tur eine Gottheit angesichts erbetener/erhaltener Hilfe anspielt - nur wird diese Praxis von Paulus hier "auf den Kopf gestellt", indem Gott selbst das einmalige Weihegeschenk Christus für die Menschen öffentlich macht: Gott schenkt im Tod Jesu seine Zuwendung für die Menschen (S. SCHREIBER, Weihegeschenk). Dann gelten personale Beziehungskategorien, die auch die Deutung des Todes Jesu als höchstem Ausweis der Liebe Gottes zu den sündigen Menschen in Röm 5,5-9 prägen. Die Erlösung ist theologisches Geschehen: Gott hat durch die Offenbarung seiner Liebe die Beziehung zu den Menschen auf eine neue Basis gestellt. (Vermieden ist dann auch der problematische deutsche Terminus "Sühne", der die Bedeutung des Jerusalemer Tempelkults nur unzureichend erfasst - zutreffender wäre von "Reinigung" zu sprechen.) Dass dieses in seiner Liebe begründete Hande[n Gottes zur Befreiung der Menschen Auswirkungen auf das Verständnis des Gesetzes, der Tora, haben muss, deutet im nächsten Schritt 3,27-3 [ an. Dabei fällt der forschungsgeschichtlich bedeutsame Satz: "durch G[auben wird der Mensch gerecht gesprochen, ohne Werke des Gesetzes" (3,28), den man als "rechtfertigungstheologischen Grundsatz" bezeichnet hat. Die "k[assische" (lutherische) Pau[us-Exegese versteht das Syntagma "Werke des Gesetzes" als Leistungen des Menschen, die einen Anspruch vor Gott begründen sollen. Dies lässt sich entweder auf Tora-Werke, die nun nicht mehr erfüllt werden müssen, und damit auf eine grundsätzliche A[ternative "Christus oder das Gesetz" beziehen (E. LOHSE, KEK 4, 126f.[38), oder ganz allgemein auf Gesetzlichkeit als anthropologisches Phänomen, als sündhaftes Bemühen des Menschen, sein Heil vor Gott selbst zu verdienen, was nun durch Gottes Gnade überwunden ist (E. KÄSEMANN; U. SCHNELLE, Pau[us 304-307.353f.). Nach U. WILCKENS (EKK VI/I, 173-176.247) sind "Werke des Gesetzes" Gebotserfüllungen als Ersatzleistungen. um die Sünde zu kompensieren; es ist das jakJische Scheitern an der Erfüllung des Gesetzes, das dieses zwar gültig bleiben lässt, aber wirkungslos macht und im Heilswerk Christi eine Lösung findet. Interessant ist in diesem Zusammenhang die als "New Perspective" bezeichnete neue Forschungsrichtung, die erstens die grundsätzlich positive Beurtei[ung der Tora im Frühjudentum als Lebensweisung Gottes, die im Bund Gottes mit seinem Volk ihre Ennöglichung und Grund[age hat, festhä[t (E. P. SANDERS: covenanta[ nomism). Pau[us wird dabei als ganz im Judentum seiner Zeit stehend betrachtet. Zweitens werden die "Werke des Gesetzes" als identity markers jüdischer Existenz, die Juden von Nichtjuden abgrenzen (besonders Beschneidung, Sabbatruhe, Speise- und Reinheitsgebote), bestimmt und in der konkreten Prob[emsituation verankert, ob ein Heide erst Jude werden muss, um in Christus Rettung zu erlangen, d. h. ob er die spezifischen Merkma[e jüdischer Existenz übernehmen muss (J. D. G. DUNN, Perspective; Word Bib[ica[ Commentary 38A, LXIII-LXXII; Theo[ogy 335-340; Überblick: M. WOLTER). Im G[auben an Christus werde so ein ethnischer jüdischer Partiku[arismus aufgebrochen; nicht das Individuum vor Gott steht im Fokus, sondern das Verhältnis von Juden- und Heidenchristen in der eschatologischen
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Heilsgemeinde. Damit ist nicht die Geltung der Tora, sondern ihre Auslegung in der Diskussion. Der "New Perspective" wurde viel Kritik entgegengebracht (z. B. E. LOHSE, KEK 4, 140145; B. BYRNE, Interpreting; S. KIM; S. GATHERCOLE; R. H. BELL; Diskussion bei M. BACHMANN), v. a. wurde ihr die Vernachlässigung der grundsätzlichen theologischen Bedeutung der pln Gesetzesrede vorgeworfen. Ihr Fortschritt besteht jedoch darin, eine negative Bewertung der Tora (aus christlicher Perspektive) überwunden und den Situationsbezug der pln Aussagen erkannt zu haben.
Paulus selbst deutet im unmittelbaren Kontext von 3,28 die Zielrichtung seiner Aussage an: Das in 3,27 in Frage gestellte "Rühmen" hat nach Ausweis von 2,17.23 seinen Ort in der Absonderung der Juden von den Heiden und der damit verbundenen Demonstration von Erwählungsbewusstsein. Im Evangelium des Paulus hingegen ist den Heiden der Zutritt zur Christus-Gemeinde ohne Beschneidung und andere Identitätsmerkmale geöffnet. Das "Gesetz des Glaubens" (3,27) deutet die pln Tora-Hermeneutik an, die das Gesetz vom Glauben an Christus her neu verstehen und anwenden lässt (im Gegenüber zum herkömmlichen "Gesetz der Werke"). Nicht die Alternative Toragehorsam - Ablehnung der Tora steht zur Debatte, sondern die spezifische Auslegung der Tora im Licht des Christus-Ereignisses. Die Verhältnisse sind neu gesetzt: Der Mensch ist von Gott in Christus durch den Glauben ein für alle Mal gerecht gesprochen, wozu es keiner Werke der Tora mehr bedarf ("nicht aus/aufgrund von Werken des Gesetzes" 3,20 bzw. "ohne Werke des Gesetzes" 3,28). Für das Verständnis Gottes und seines geschichtlich-eschatologischen HandeIns bleibt die Tora aber grundlegend ("wir richten das Gesetz auf" 3,31). Und wenn Paulus in 3,29f. betont, dass der eine Gott (Israels) nicht nur der Gott der Juden, sondern auch der Heiden ist, werden (auf der Basis des Grundbekenntnisses Israels aus Dtn 6,4, also aus der Tora) gerade jene Gebote relativiert, die der Einheit des eschatologischen Gottesvolkes aus Juden und Heiden erschwerend entgegenstehen. Das "beweist" die pln Exegese des Beispiels Abraham aus der Schrift, der Tora selbst (Gen 15,6; l7,IOf.), die die Nachordnung der Beschneidung hinter dem Glauben bereits ganz an den Anfängen der Geschichte Gottes mit seinem Volk darlegt (Röm 4,1-25). Warum dieses neue Tora-Verständnis nötig ist, vertieft Röm 7. Paulus beginnt in 7,1--6 mit einem Beispiel: Eine Witwe ist seit dem Tod ihres Mannes frei von der Gesetzesbindung der Ehe - sie kann einen anderen Mann heiraten. So lebt auch ein Christ seit seinem "Sterben mit Christus" in der Taufe (vgl. Röm 6) in einer neuen Freiheit dem Gesetz gegenüber, das er nun aus seiner neuen Bindung an Christus heraus versteht. Für die Glaubenden entsteht eine neue Wirklichkeit des Lebens, eine neue Situation vor Gott, die Auswirkungen auf das Verständnis der Tora hat. Dieses neue Verständnis der Tora nennt Paulus die "Neuheit des Geistes", die er dem herkömmlichen Tora-Verständnis, der "Altheit des Buchstabens", gegenüberstellt (7,6).
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Paulus begründet also keine "Freiheit vom Gesetz", wie häufig angenommen (E. KÄSEMANN 178; E. LOHSE, KEK 4,203; H. LICHTENBERGER, Ich 109). Vielmehr resultiert aus dem Bewusstsein einer neu gewonnenen Gottes-Beziehung die Freiheit zur Auslegung des Gesetzes.
Dann schlüpft Paulus (mit dem Stilmittel der Prosopopoiie, -+ 2.3) in die Rolle eines anderen "Ich", in das "Ich" Adams nach dem "Sündenfall", weIcher nun das Gesetz beurteilt und feststellt, dass die Sünde (als Macht) das Gesetz für ihre Zwecke missbraucht und so den Menschen in eine Existenz unter Sünde und Tod fuhrt (7,7-13). Das ist im Judentum eine äußerst provozierende Aussage: Das Gesetz, die gute Weisung JHWHS, fuhrt nun zum Tod, ist in ihr genaues Gegenteil verkehrt! Damit zeigt Paulus, wie groß die Macht der Sünde ist, und er kann dies letztlich nur aus der Perspektive dessen sagen, der durch Christus aus dieser Sündenmacht befreit ist. Deshalb ist die Tora an sich auch "heilig, gerecht und gut" (7,12); die Sündenmacht jedoch wirkt in ihr zum Bösen. Weil der Gedanke des vom Bösen missbrauchten Gesetzes ungewöhnlich und schwierig ist, setzt Paulus zu einer weiteren Verdeutlichung an. Er variiert seine Rolle und spricht in 7,14-25 (mit einer kurzen Unterbrechung in 7,25a) als "Ich" eines toratreuen (nicht-christlichen) Juden, der letztlich am Tun der Tora scheitert, weil die Sünde bewirkt, dass aus dem guten Wollen nur schlechtes Tun hervorgeht. Für dieses existentielle Paradox kann sich Paulus auf eine Alltagserfahrung berufen, die in der antiken Literatur häufig zur Sprache kommt. Berühmt wurde dafür die Dramenfigur Medea, die wider besseres Wissen ihre eigenen Kinder tötet (Euripides, Medea; Ovid, Met VII 19-21; Seneca, Medea). Weil die Sünde sich des Gesetzes bemächtigte, kommt es zu unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Wahrnehmungen des Gesetzes (7,21-23); Paulus will davon überzeugen, dass die Sünde gegenüber dem eigentlich guten Gesetz, das der Verstand erkennt, beherrschend geworden ist. Paulus zieht daraus das Fazit, dass die Lage des Menschen ohne Christus - wie die eines Besessenen, besetzt von der Sündenmacht (7,17.20) verzweifelt, aussichtslos ist (7,24). Die Identität des "Ich" (I) und die Reichweite der Aussage (2) sind in der Auslegung von 7,7-25 umstritten. (I) Neben einer biographisch-psychologischen Deutung (die innere Zerrissenheit des Paulus vor seiner Berufung) überwiegt die Deutung als Stilform: Das .. Ich" artikuliert den Blick vom Standort des Christen auf die Zeit ohne Christus; dabei denkt man an den Stil einer Bekenntnisrede (vergleichbar den Lob- und Dankliedern von Qumran), in der ein generisches Ich für die Situation aller Menschen ohne Christus stehe (E. LOHSE, KEK 4, 215); zumeist werden auch Anspielungen auf die Gestalt des Adam wahrgenommen (E. KÄSEMANN 189; U. WILCKENS, EKK VII2, 76-78; M. THEOBALD, SKK 6/1,203-206; K. HAACKER, ThHK 6, 144). M. E. erklärt sich der Text am besten durch die Aufteilung auf verschiedene Sprecherrollen (Adam bzw. ein Jude: Stilmittel der Prosopopoiie). (2) Eng damit verbunden ist die Annahme, Paulus lege allgemeine anthropologische Einsichten vor (E. KÄSEMANN 184.191.197.201; E. LOHSE, KEK 4, 211.222; U. SCHNELLE, Paulus 371), die eine menschliche Grundsituation (auch des Christen!) betrachten (0. STARNITZKE; H. LICHTEN BERG ER, Ich 121.\36-160). Der Begriff v6~oc; (Gesetz) wird dann
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teilweise nicht mehr auf die Tora, sondern auf eine allgemeine Regel oder Gesetzlichkeit bezogen (U. SCHNELLE, Paulus 353f.370; H. LICHTENBERGER, Ich 148). Demgegenüber gilt der Situationsbezug des Briefes, die Frage nach der Funktion der Tora im Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen, festzuhalten.
Das Drama, das im ausweglosen Beherrschtsein des Menschen durch die Sünde mittels des Gesetzes liegt, hat jedoch bereits eine Lösung gefunden: Gott selbst nahm in Jesus Christus der Sünde die Macht und befreite den Menschen zu einem neuen Verhältnis mit ihm (8,[-[7). Unter dieser Voraussetzung ist nun auch ein neues Verständnis der Tora möglich, das Pau[us mit dem Syntagma "Gesetz des Geistes des Lebens im Christus Jesus" (8,2) beschreibt. [n 13,8-10 fasst Paulus dieses neue Tora-Verständnis im Liebesgebot (Lev 19,18) zusammen, denn das Leben in der Liebe bedeutet zugleich Erfüllung der Tora (S. SCHREIBER, Law, unter Hinweis auf frühjildische Zusammenfassungen des eigenen Tora-Verständnisses in verschiedenen Gruppen). Dieses neue Tora-Verständnis erlaubt zugleich, "Gesetz und Propheten" als "Zeugen" des Christus-Geschehens zu lesen (3,2 I) - die Schrift wird aus christlicher Perspektive interpretiert. Mit dieser Tora-Henneneutik ist eine theologische Urteilsbasis zur Anwendung der Tora für Juden- und Heidenchristen gewonnen. Bestimmte Merkma[e jüdischer Erwählung haben ihre Bedeutung eingebüßt zugunsten der identitätsstiftenden Hinwendung zu Jesus, dem Christus Gottes. Folgt man einer strengen Logik, müsste nun Israel, sofern es Gottes neue Zuwendung in Christus ablehnt, aus dem Raum eschatologischer Rettung herausfallen. Die Frage bedrängt Paulus, den Juden, persönlich, und sie bedrängt ihn theologisch, weil die Erwählung Israels und damit die Verheißungstreue Gottes auf dem Spiel stehen (9,1-5). Die Antwort in 9-11 ist letztlich nicht logisch durchgehalten, weil sie gar nicht logisch sein kann: Menschlichem Verstehen steht Gottes unverständliche Treue und Zuneigung zu seinem Volk gegenüber. Paulus spricht verschiedene Aspekte des Problems an: Er unterscheidet in 9,6-13 das Israel "nach dem Fleisch" und die "Kinder der Verheißung". Er hält in 9,14-29 die Freiheit des göttlichen Erbarmens fest, so dass sich die Rettung auf einen "Rest" Israels konzentrieren kann. Er thematisiert Israels Verweigerung gegenüber der Gerechtigkeit aus Glauben, obwohl doch das Wort des Evangeliums auch zu ihnen drang (9,30-10,21). Er denkt an einen "Rest" Israels, an dem die Erwählung verwirklicht bleibt (11,1-10). Er macht sich klar, dass das Heil für die Heiden ja auf der Wurzel Israel basiert und auch für Israel zur Motivation werden kann, es anzunehmen (11,11-22). Das Bild vom Ölbaum, aus dem die alten Zweige (Israel) herausgebrochen wurden, damit neue (die Heiden) eingepfropft werden konnten, führt ihn zur Lösung: Gott kann auch die alten Zweige wieder einpfropfen (l1,23f.). Das Ergebnis ist schließlich ein "Geheimnis" (11,25): Ganz Israel wird gerettet werden, weil Gott seinem Bund treu bleibt (l1,26f.). Israel ist nur deshalb verstockt, damit die Heiden das Heil erfahren können (11,25-36).
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3.3 Rom und der politische Paulus
Die Hausgemeinden lebten in Rom, dem Sitz des Kaisers und der Hauptstadt des Imperium Romanum, dem Zentrum der Welt. Ständig waren sie mit den Symbolen der politischen Macht konfrontiert: Gebäuden, Denkmälern, Militär. Ihre gesellschaftliche Lage war zunächst durch ihre Nähe zu den jüdischen Synagogen bestimmt, die von römischen Behörden argwöhnisch beobachtet und im Verdachtsfall sanktioniert wurden: 19 n. Chr. kam es unter Kaiser Tiberius zur Vertreibung römischer Juden (Tacitus, Ann 11 85; Sueton, Tib 36; Dio Cassius LVII 18,5),41 n. Chr. wurde ein Versammlungsverbot für römische Juden ausgesprochen (Dio Cassius LX 6,6), das Claudius-Edikt bewirkte 49 wiederum eine Vertreibung zumindest führender Judenchristen (-+ 2.5). Die ethnisch-religiösen Grenzen einzelner Bevölkerungsteile sollten als konsolidierender Faktor der multikulturellen römischen Gesellschaft strikt eingehalten werden. Die stadtrömische Christenverfolgung im Jahr 64 (im Zusammenhang mit dem Brand Roms: Tacitus, Ann XV 44), also nur kurz nach dem Römerbrief, zeigt, dass Misstrauen und Antipathie seitens der römischen Führung, des Kaisers und des nachgeordneten Beamtenapparats, schnell in konkrete Maßnahmen umschlagen konnten. Innerhalb der Gesellschaft erfuhren die christlichen Hausgemeinden angesichts ihrer ungewöhnlichen Zusammensetzung und Sozialform Misstrauen und Ablehnung. Durch ihre rituell-kultische Zurückhaltung in der Öffentlichkeit schlossen sie sich aus. Sueton (Nero 16,2) galt die christliche Bewegung als superstitio, als neuartiger, schädlicher Aberglaube, der die römische religio, das rechte kultische Verhalten, missachtet. Christen erschienen als Anhänger eines ausländischen orientalischen Kults, die alle anderen Kulte ablehnen. Eine gesellschaftliche Isolierung deutete sich an. Wenn Paulus in Röm 12,14 von "Verfolgenden" spricht, meint er keine behördlichen Verfolgungen, sondern soziale Spannungen zwischen einzelnen Bevölkerungsteilen Roms, die zu Verdächtigungen, Anfeindungen, sozialer Ächtung und Diskriminierung der Christen führten. Demnach war das Verhältnis der kleinen römischen Hausgemeinden zur dominierenden römischen Gesellschaft und zu den Behörden fragil. Der Prozess der Ablösung von der Synagoge brachte den allmählichen Verlust rechtlicher Privilegien mit sich, so dass die Gemeinden ihren "gesellschaftlichen Ort" und damit ihren behördlichen Schutz verloren. Sie boten eine potentielle Angriffsfläche für die Gesellschaft und waren ständiger Bedrohung ausgesetzt. Für Paulus wird daher eine politisch-gesellschaftliche Situations bewältigung drängend. In Röm 12 entfaltet Paulus christliche Identität. Durch ihren Glauben an Christus besitzen die römischen Gemeinden ein eigenes Überzeugungssystem, aus dem eine spezifische Lebensweise folgt, durch die sich die Gemeinden von ihrer Umwelt unterscheiden. Paulus drückt es so aus: Das "Gott wohlgefällige" Verhalten in der Leiblichkeit (= der sozialen Existenz) heiligt die
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Existenz der Christen (im Bild: wie ein heiliges Opfer) und ist der "vernunftgemäße Gottesdienst" (12, I). Der in I 2, I einsetzende Zuspruch des Paulus zielt darauf, diese Lebensweise ganz bewusst zu gestalten: "Gestaltet euch nicht dieser Welt gleich" (12,2). Das (aus I Kor 12 bekannte) Bild des Körpers und seiner einzelnen Glieder dient dazu, Verschiedenheit und Einheit der Gemeinde zu beschreiben (12,3-8). Die Liebe zueinander soll das konkrete Verhalten innerhalb der Gemeinde (I2,9-13..I5f.) ebenso bestimmen wie die Haltung nach außen (12,14.17-21). Nach außen verfolgt diese Haltung auch eine Schutzfunktion gegenüber der Gesellschaft, um Misstrauen und Anfeindungen nicht auch noch zu provozieren. Und doch fallt auf, dass die Metapher vom Körper als Beschreibung der Sozialgestalt an die politische Sprache Roms erinnert. Sie bezeichnet dort das Imperium, das ganz auf den Kaiser als seinem Haupt (bzw. Seele/Geist) ausgerichtet ist - so sehr, dass das Haupt zum einigenden Prinzip, zum göttlichen Repräsentanten (im stoischen Sinne: des Weltgeistes) und zum eigentlichen Zweck des Körpers wird, dessen Glieder nur durch und für den Kaiser leben können (Tacitus, Ann I 12,1-3; Seneca, Clem I 1,1-4; 3,5f.; 5,1; dazu M. KLINGHARDT 146-148). In Röm 12,4-8 fallt das Haupt dagegen völlig aus, die Glieder mit ihren je eigenen Begabungen stehen im Zentrum, und der ganze Körper existiert "in Christus". Sowohl terminologisch als auch in ihrer realen Existenz bilden die Gemeinden so eine Gegenwelt zum römischen Imperium. Die daraus entstehende politische Problematik greift Paulus in 13,1-7 auf. Liest man diesen Text, der auf den ersten Blick totalen Gehorsam gegenüber dem Staat verlangt, sozialgeschichtlich aus der Perspektive einer gesellschaftlichen Minorität, die vom Staatsapparat lediglich geduldet und potentiell verdächtigt wird, eröffnen sich zwei Rezeptionsebenen (S. SCHREIBER, Imperium): Auf der einen steht die Aufforderung, sich nach außen an die Regeln des Imperiums zu halten und Loyalität zu demonstrieren, was in der (unter Nero 58 von der Bevölkerung Roms als schwere Belastung empfundenen: Tacitus, Ann XIII 50f.) Steuerzahlung konkreten Ausdruck findet (Röm 13,6f.); eine andere Wahl blieb den gefahrdeten Gemeinden auch gar nicht, wollten sie einen geschützten Raum für das christliche Leben bewahren. Zwischen den Zeilen hört man freilich kritische Töne: Gott ist letzte Instanz auch der Machthaber (13,1), Furcht und Ehre gebühren im Grunde Gott allein (13,7); wie sind die Machthaber zu beurteilen, die Gutes und Böses (13,3f.) nicht zu unterscheiden wissen? So sensibilisiert, entdeckt man im Röm weitere politisch kritische Untertöne. Bereits im Präskript (1,1-7) begegnen Anklänge an römische Politiksprache (G. THEISSEN, Auferstehungsbotschaft): Die Titel für Jesus konterkarieren die Amtssprache kaiserlicher Edikte, "Evangelium" sind nicht mehr die Höhepunkte im Leben des Kaisers, "Friede" findet sich in Christus und nicht in der ideologisierten P(J)C Romana. Die "Rettung", die das Evangelium laut dem Themasatz 1,16f. bringt, steht dem Kaiser als "Retter" gegenüber, und die Gerechtigkeit Gottes (V. 17) römischer iustitia, der hoch geschätzten (Cicero, Rep 111 9,16;
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Tacitus, Hist IV 74,1.4) staatlichen Gerechtigkeit, die sich auf das Recht (ius) stützt. In der Gerichtsrede gegen die Heiden (1,18-32), die weisheitliche Heidenpolemik aufgreift (Weish 13,10-19; 14,8-21), sind kritische Anspielungen auf den bei der sozialen Elite beliebten ägyptischen Tierkult (1,23), den Kaiserkult (1,23.25), homosexuelle Ausschweifungen (sexuelle Willkür) der Kaiser und der Oberschicht (1,26f.), Mord als ein politisches Instrument (1,29) und das Denunziantenwesen (1,30) zu hören (G. THEISSEN, ebd. 65-68). Wenn Paulus in 8,18-30 die Vorläufigkeit und Vergänglichkeit der Schöpfung hervorhebt, klingt dies völlig anders als die politische Ideologie des "goldenen Zeitalters" (aurea ae/as), die mittels der Motivverbindung Natur - Götter - Herrscher eine Blütezeit des Friedens und des Heils angesichts des neuen Kaisers bejubelt (vgl. VergiI, Ekl IV; Calpumius Siculus, Ekl I; dazu R. JEWETT) - eine politische Utopiekritik, die den Kaiser abwertet und die Christen in ihrer besonderen Bedeutung als Hoflhungsträger der Schöpfung bewusst macht.
Ihre Kritik an Staat und Gesellschaft drückt die Gemeinde nicht durch lautstarke Proteste und Gewalt aus, sondern durch ihre ganz eigene Form des gemeindlichen Zusammenlebens. Sie bildet in der Tat eine Gegen-Gesellschaft, wenn sie die Liebe als Zusammenfassung der Tora zu ihrem Lebensprinzip erklärt (13,8-10) und die Hoffnung auf eine neue, von Gott gesetzte Wirklichkeit, die schon in der Welt Fuß gefasst hat, in ihrer Lebenspraxis Gestalt gewinnen lässt (13,11-14). Damit sind die beiden Themenbereiche Tora-Hermeneutik und politische Kritik über die Funktion der Identitätsstiftung organisch verbunden.
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D.IIl. Der Römerbrief (Stefan Schreiber)
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D.lV. Der erste Korintherbrief (Thomas Schmeller)
1. Struktur 1m I. Korintherbrief ist das übliche Rahmenschema der Paulusbriefe zu erkennen: Briefeingang Briefkorpus Briefschluss
1,1-9 1,10-15,58 16,1-24
1.1 Brie/eingang und -schluss
Das Präskript (1,1-3) ist relativ unauffiUlig. Ein sonst aus den Paulusbriefen nicht bekannter Sosthenes wird als Mitabsender (nicht: Mitverfasser) genannt. Ob er mit dem Synagogenvorsteher von Apg 18,17 identisch ist, wissen wir nicht - falls ja, wären in Korinth zwei Synagogenvorsteher Christen geworden (vgl. Apg 18,8 zu Krispus). Eine gewisse Besonderheit ist die Ausweitung in V. 2b: "mit allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort". Sie ist kaum so zu verstehen, als wolle sie aus dem I Kor ein katholisches, an alle Christen gerichtetes Schreiben machen. Vielmehr hat die Notiz pragmatische Funktion: Sie erinnelt die Gemeinde daran, dass sie in Verbindung mit anderen Gemeinden steht, und lässt schon hier das paränetisehe Anliegen erkennen (vgl. dann 4,17; 7,17; 11,16), dass sie dieser Gemeinschaft gerecht werden soll (H. MERKLEIN, ÖTBK 7/1, 77, aber -+ 2.2). Das Proömium (1,4-9) enthält keine deutliche Kritik an der Gemeinde, obwohl Paulus im Briefkorpus damit nicht gerade sparsam ist. Vermutlich dient diese Zurückhaltung der captatio benevolentiae. Die Gemeinde soll nicht gleich zu Anfang vor den Kopf gestoßen werden, sondern fur das Folgende aufnahmebereit sein. Strittige Themen werden angedeutet, aber hier noch in positiver Form präsentiert. Der Reichtum an ,jeder Rede und Erkenntnis" (V. 5) verweist zum einen auf die "Weisheitsrede" (vgl. 1,17; 2,1.4.13), deren Überschätzung in der Gemeinde und deren Auswirkung in rivalisierenden Parteien Paulus in Kap. 1-4 zugunsten der Rede vom Kreuz kritisiert. Die "Erkenntnis" andererseits (vgl. 8,1.7.IOf.) hat Bezug zur Problematik von Kap. 8-10, wo die aus der Erkenntnis resultierende Freiheit relativiert wird. In 1,7 lobt Paulus, dass die Gemeinde "keinen Mangel an irgendeiner Gnadengabe" hat - in Kap. 12 wird die Fülle der verschiedenen Gaben in Korinth
304
D. Die Briefe - Paulusbriefe
zwar ebenfalls anerkannt, allerdings werden dort der gemeinsame Ursprung und die gegenseitige Verwiesenheit der Gaben betont (12,4-11.l2-31) und so die Rivalität zwischen den Trägern der Charismen korrigiert. Das Proömium nennt also Themen, die im Brief behandelt werden, hält sich aber mit der Bewertung der Gemeinderealität noch zurück. Der Briefschluss enthält zunächst ausführliche Angaben zu Besuchsplänen. In 16,1-4 liegt der Schwerpunkt noch auf Anweisungen zur Kollekte, die beim Besuch des Paulus bereitstehen soll, in 16,5-9 rückt der Besuch selbst in den Mittelpunkt. Hier wird deutlich, dass Paulus von Ephesus aus schreibt; von dort aus will er über Makedonien zu einem längeren Besuch nach Korinth kommen (vgl. den anderen [späteren?] Plan in 2 Kor 1,15f.). Auf Besuchspläne des Timotheus und des Apollos (16, I 0-12) folgen schlusstypische, allgemein gehaltene Ermahnungen (16,13). Aus V. 15-18 muss man wahrscheinlich schließen, dass Stephanas (Fortunatus und Achaikus waren vielleicht seine Sklaven oder Mitglieder seiner Familie) der Überbringer des I Kor war. Paulus gibt ihm eine Empfehlung an die Gemeinde mit auf den Weg. Grüße anderer (16,19f.) und des Paulus selbst (16,21-24) beschließen den Brief. Dass Grüße der "Gemeinden Asiens" ausgerichtet werden, entspricht dem oben genannten Anliegen, die Verbindung der Korinther mit anderen Gemeinden hervorzuheben. V. 21-24 schreibt Paulus selbst, nachdem er das Voranstehende diktiert hat. Unabhängig von ihrem ursprünglichen Sitz im Leben haben sowohl der Anathema-Satz wie das Maranatha eine zusammenfassende, das Briefende vorbereitende Funktion: Angesichts der nahen Parusie hat die Liebe zum Herrn höchste Priorität - diese Liebe muss sich in einem Verhalten ausweisen, das den Ausführungen des I Kor entspricht. Der Brief endet mit einem Gnadenzuspruch, der 1,3 aufnimmt, und einer (in den pln Briefen ungewöhnlichen) Zusicherung der eigenen Liebe des Paulus.
1.2 Das Briejkorpus
1.2.1 Überblick Der Aufbau des Briefkorpus ist einfach zu erheben, solange man sich auf eine Beschreibung der Abfolge beschränkt: Anders als etwa im 2 Kor folgen hier klar abgegrenzte, jeweils thematisch gebundene Stücke aufeinander. Schwieriger ist die Erklärung der Abfolge. Eine Zweiteilung in einen eher lehrhaften und einen eher paränetischen Teil wie in Röm und Ga! ist jedenfalls nicht möglich. Auch ein durchgängiges Thema, das in verschiedenen Zusammenhängen abgehandelt würde, ist nur auf einer sehr allgemeinen Ebene zu entdecken (so etwa M. M. MITCHELL Paul 187: "a thoroughgoing argument for church unity"; ähnlich A. LINDEMANN, HNT 9/1, 15: Paulus stellt "ein einziges Thema in den Mittelpunkt, nämlich die EKKÄ.T\OLa [Gemeinde, T. Sch.] selber und deren oi.Kolioll~ [Erbauung, T. Sch.].").
D.lV. Der erste Korintherbrief(Thomas Schmeller)
305
Es ist mit mindestens zwei Faktoren fur die Anordnung zu rechnen: I. Reaktion auf Mitteilungen aus der Gemeinde; 2. thematische Gesichtspunkte. Diese beiden Faktoren werden im Folgenden einzeln erläutert. Ob man insgesamt "eine wohldurchdachte Ordnung" (H. MERKLEIN, ÖTBK 7/1, 49 u. a.) erkennt oder aber einen "bis ins Detail konzipierten Gliederungsplan (flir) fraglich" hält (W. SCHRAGE, EKK VIIII, 92 u. a.), hängt allerdings in vielem von der Einzelauslegung der betreffenden Texte ab. Paulus hat aus Korinth schriftliche und mündliche Mitteilungen erhalten. Die Behandlung der Ehefragen in Kap. 7 ist eindeutig durch einen Brief der Gemeinde veranlasst (7,1). Während es früher üblich war, diesen Brief hinter allen Texteinheiten zu sehen, die Paulus (wie in 7, I) mit 'tIEpt öE (was ... betriffi) beginnt (also auch 7,25; 8, I; 12,1; 16,1.12), haben E. BAASLAND und M. M. MITCHELL nachgewiesen, dass die Formel 'tIEpt öE keineswegs auf schriftliche Nachrichten verweisen muss, sondern einfach die Fort- oder Einführung eines bestimmten Themas signalisielt (M. M. MITCHELL Concerning), wobei die Abgrenzung der so eingeleiteten Abschnitte offen bleibt (E. BAASLAND 82). Abgesehen von Kap. 7 ist also nirgends sicher, dass Paulus auf den Gemeindebrief reagiert. Zutreffen könnte das neben Kap. 7 auch fUr das Problem des Götzenopferfleischs (Kap. 8-10) und die Behandlung der Charismen (Kap. 12), weniger wahrscheinlich fUr die Ausführungen zur Kollekte (16,1-4) und zum Apollosbesuch (16,12). Klarheit ist hier aber nicht zu erreichen. Es bleibt deshalb auch reine Vermutung, wenn man die Abfolge der Blöcke damit erklären will, dass sich die mündlichen und schriftlichen Informationen in manchen Themen berührten (so 1. C. HURD 59). Auf mündliche Informationen verweist Paulus in 1,11 ("mir wurde von den Leuten der Chloe mitgeteilt"), S, I ("man hört") und 11,18 ("ich höre"). Dass all diese Nachrichten auf dieselben Informanten zurückgehen, ist nicht sicher, aber aus verschiedenen Gründen doch wahrscheinlich. Kap. I und 11 behandeln verwandte Probleme (1,11: EpLöec; [Streitigkeiten), 11,18: OxLoj.lllra [Spaltungen)). Dass die Frage nach dem richtigen Auftreten von Frauen im Gottesdienst (11,2-16) eng mit den Missständen beim Herrenmahl (11,17-34) verbunden ist (vgJ. 11,2 mit 11,17), spricht dafUr, dass das ganze 11. Kapitel auf Nachrichten aus derselben Quelle reagiert. Die mündlichen Informationen zeigten die Gemeinde offenbar in einem schlechteren Licht als der Gemeindebrief und stammten vermutlich von sozial schlechter gestellten Christen. Das (und der unmittelbare Anschluss an Kap. 1-4) spricht dafiir, dass auch Kap. 5f. von den Leuten der Chloe veranlasst sind. Für Paulus hatten die Parteistreitigkeiten im Zusammenhang mit dem korinthischen Weisheitsstreben solche Bedeutung, dass er sie ganz am Anfang des Briefs und in großer Ausfuhrlichkeit (Kap. 1-4) behandelte. Die Missstände beim Gottesdienst und Herrenmahl (11,2-34) dagegen verband er mit den inhaltlich verwandten Kap. 12-14. Bei der Anordnung der Stoffe von Kap. 11-14 sind also wohl thematische Gesichtspunkte leitend gewesen. Dasselbe Motiv könnte hinter der Behandlung eschatologischer Fragen gegen Ende des Briefs in Kap. 15 stehen. Die Endstellung ergibt einen "Bogen von der Christologie (1-4) zur Eschatologie (15)" (H. MERKLEIN, ÖTBK 7/1, 51). Eschatologische Themen werden in der urchristlichen Literatur auch sonst gerne gegen Ende behandelt. Ob auch hier mündliche Informationen der Chloe-Leute verarbeitet sind, wissen wir nicht.
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Im Folgenden werden die längeren und in ihrem Aufbau komplizierteren Texteinheiten (also I, I 0-4,21; 8, 1-11, I) flir sich genommen besprochen.
1.2.2 Die Texteinheit I, I 0-4,2 I Als Ausgangsbasis für I, I 0-4,21 werden in 1,10-17 die Situation in Korinth und das Anliegen des Paulus erkennbar: Es gibt oxi.o!J.ll:ta (Spaltungen), die aufEpLoec; (Streitigkeiten) beruhen. "Jeder" flihlt sich einer anderen Führungsfigur zugehörig. Solche Spaltungen gilt es zu überwinden. Nach den Ausführungen zur Taufe in V. 14-17, die eine durch V. l3c a\Jsgelöste Abschweifung darstellen, schafft V. 17 mit der Gegenüberstellung von "Wortweisheit" und "Kreuz Christi" einen Übergang zur grundsätzlichen theologischen Behandlung des Problems, der Frage nach der wahren Weisheit in 1,18-2,16. Dort stehen verschiedene Aspekte im Vordergrund: 1,18-2,5 lebt von der Gegenüberstellung menschlicher und göttlicher Weisheit und Torheit; 2,6-16 entfaltet die Weisheit Gottes als eine geistliche Größe, die nur geistlichen Menschen zugänglich ist. 3,1-17 behandelt nach einer Überleitung in V. 1-4 das Problem der Spaltung auf einer konkreteren Ebene, indem eine Verhältnisbestimmung zwischen Apollos, Paulus und möglichen anderen Missionaren geboten wird. Die beiden Ebenen der Problembehandlung - die grundsätzlich-theologische und die konkrete - werden dann in 3, I 8-23 so miteinander verflochten, dass die Einsicht in die wahre Weisheit und in die Dienstfunktion der Missionare jede Überheblichkeit in der Gemeinde ausschließen muss. Auch die V. 4,1-5 sind noch zu dieser Zusammenfassung in 3,18-23 zu nehmen: Das (ava-)Kpi.VELV ([be-]urteilen) in V. 3-5 ist auf die Prüfung und Einschätzung der Missionare zu beziehen, die sie in eine Rangordnung bringen will, die aber nach Paulus dem Endgericht vorbehalten bleiben muss. Der eigentliche Abschluss der Diskussion ist also nicht 3,23, sondern 4,5. 4,6-16 ist einer der Paulustexte, die besonders deutliche Analogien zur sog. Diatribe aufweisen. Eine Gemeinsamkeit solcher "diatribenartigen" Stücke bei Paulus ist, dass sie kein eigenes theologisches Thema behandeln, sondern auf einen vorangehenden oder folgenden Text bezogen sind und durch ihre Eindringlichkeit dessen Wirkung verstärken. Im Unterschied zu dem rational argumentierenden Abschnitt, dem sie zugeordnet sind, überwiegen in solchen Stücken der subjektivierende Zuspruch und Anspruch. 4,6-16 ist also eine Art persönlich betreffender Zuspitzung des Voranstehenden. Dabei bildet 4,16 (1TapaKaÄw oDv u,.mc; [ich ermahne euch also)) mit I, 10 (1TapaKaÄW OE ullac; [ich ermahne euch aber)) eine Klammer um den ersten Hauptteil. 4,17-21 hat deutlich abschließende Funktion.
D.JV. Der erste Korintherbrief (Thomas Schmeller)
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1.2.3 Die Texteinheit 8,1-11,1 Die verbindende Problematik dieser Kapitel liegt darin, dass eine bestimmte Gruppe der Gemeinde, die sog. Starken, Distanz zu heidnischen Opfern nicht für nötig hält, weil für sie die heidnischen Götter Götzen sind und nicht existieren. Eine andere Gruppe, die "Schwachen", wird durch diese Haltung in die Gefahr gebracht, gegen ihr Gewissen ebenfalls Opferfleisch zu essen und so "zu Grunde zu gehen" (8,11). Paulus teilt zwar grundsätzlich die Haltung der Starken, fordert sie aber zur Rücksichtnahme auf das schwache Gewissen der übrigen auf. Die nötige Rücksichtnahme demonstriert er in Kap. 9 an seinem eigenen Beispiel: Er verkündet das Evangelium unentgeltlich, obwohl er Anspruch auf Gegenleistungen hätte. Zumindest in dieser Hinsicht passt Kap. 9 gut in den Zusammenhang, wenngleich es - fiir sich genommen - über eine Demonstration von Rücksichtnahme weit hinaus geht (so zu Recht W. SCHMITHALS, Erwägungen 121). Die gegenseitige Zuordnung der Teiltexte dieser Kapitel ist nicht einfach (-+ 2.\). Es ist nicht auszuschließen, dass Paulus unausgeglichen argumentiert: In Kap. 8 scheint ein Besuch des Opfermahls im Tempel den Christen prinzipiell möglich, nur die Rücksicht auf "schwache" Mitchristen sollte sie davon abhalten. In 10,14-22 dagegen ist die Teilnahme am Götzenkult prinzipiell mit der Teilnahme am christlichen Herrenmahl unvereinbar. Dennoch ist folgende Einteilung möglich: In 8,1-13 konzentriert sich Paulus auf das Essen von Götzenopferfleisch (mit einem Seitenblick auf Opfermähler im Tempel [8,10]) und argumentiert auf einer grundsätzlichen Ebene von der Rücksichtnahme her. Nach dem Hinweis auf das eigene Vorbild in Kap. 9 handelt 10,122 von dem eigentlichen Mitvollzug heidnischer Kultpraktiken, der - zunächst mit Blick auf warnende Vorbilder aus der Geschichte Israels (10,1-13), dann mit Blick auf das Herrenmahl (10,14-22) - ausgeschlossen wird. 10,23-11,1 knüpft an Kap. 8 an und gibt konkrete Anweisungen ftlr den Umgang mit Götzenopferfleisch beim Einkauf auf dem Markt und bei privaten Einladungen. Briefeingang
1,1-9 Briefkorpus 1,10-15,58
Präskript: Anschrift und Gruß 1,1-3 Proömium 1,4-9 Par/eienstreit und Weisheitsstreben 1,10-4,21 Das Problem: Spaltung und Streit 1,10-17 Die wahre Weisheit 1,18--2,16 Das Verhältnis des Paulus zu anderen Missionaren 3,1-17 Rückblick und Auswertung 3,18-4,5 "Diatribenartige" Zuspitzung 4,6-16 Schluss: Besuchsankündigung 4, 17-21 Ethische Missstände 5,1-6,20 Unzucht I: Der Blutschänder 5,1-13 Rechtsstreitigkeiten 6,1-11 Unzucht 11: Der Besuch von Prostituierten 6,12-20
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D. Die Briefe - Paulusbriefe Ehefragen 7.1-40 Götzenop!er und Götzenop!erjleisch 8.1-11,1 Der richtige Umgang mit Götzenopferfleisch 1: Grundsätzlich 8,1-13 Das Vorbild des Paulus 9,1-27 Verbot der Teilnahme an Götzenopfern 10,1-22 Der richtige Umgang mit Götzenopferfleisch Il: Konkret 10,23-11,1 Fragen des Gottesdienstes 11,2-14,40 Das Auftreten von Frauen im Gottesdienst 11,2-16 Die Feier des Herrenmahls 11,17-34 Die Geistesgaben 12,1-14,40 Vielfalt und Einheit der Geistesgaben 12,1-3Ia Die Liebe als höchste Geistesgabe (Das Hohelied der Liebe) 12,31b-13,13 Prophetie und Zungenrede im Gottesdienst 14,1--40
Briefschluss 16,1-24
Die Au{erweckunf! Christi und der Toten 15,1-58 Die Kollekte für Jerusalem 16,1--4 Besuchspläne 16,5-12 Schlussmahnungen 16,13-18 Schlussgrüße 16,19-24
2. Entstehung 2.1 Die Frage einer Briejkompilation
Die literarische Einheitlichkeit des 1 Kor ist längst nicht so umstritten wie die des 2 Kor, aber nach wie vor in der Diskussion. Allerdings scheint in den letzten beiden Jahrzehnten die Annahme zur Mehrheitsmeinung geworden zu sein, dass 1 Kor ein einheitliches Schreiben ist. Das ist keineswegs selbstverständlich. Immerhin gibt es Spannungen in diesem Brief, die Iiterarkritisch ausgewertet werden können, Die wichtigsten seien genannt: • In 1,11 ist von den "Leuten der Chloe" die Rede, von denen Paulus über die Spaltungen in der Gemeinde infonniert wird. Warum sind hier nicht auch Stephanas, Fortunatus und Achaikus erwähnt, die nach 16,17 zur Zeit der Abfassung bei Paulus sind? • Der große Textblock Kap. 1-4 enthält in 4,14-21 Elemente, die für einen pln Briefschluss typisch sind (Rückblick auf den Zweck des Schreibens, allgemeine Ermahnung, Empfehlung eines Mitarbeiters, Besuchsankündigung). • In 4,18-21 kündigt Paulus sein baldiges Kommen an, während es in 16,5-9 jedenfalls nicht unmittelbar bevorsteht. • Zwischen 5,1-13 und 6,12-20, Texten, die Unzuchtsfälle behandeln, steht mit 6,1-11 ein Text, der ein anderes Thema (Rechtsstreitigkeiten) hat.
D.lV. Der erste Korintherbrief(Thomas Schmeller)
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Der Verweis auf einen vorangegangenen Brief in 5,9 ist durch den Kontext nicht motiviert. In Kap. 8 wird ein Besuch des Opfermahls im Tempel zwar verboten, aber anscheinend nur mit Blick auf das Gewissen "schwacher" Mitchristen. In 10,14-22 dagegen ist die Teilnahme am Götzenkult prinzipiell mit der Teilnahme am christlichen Herrenmahl unvereinbar. Kap. 9 und Kap. l3 stehen zu ihrem jeweiligen Kontext zwar nicht direkt in Spannung, fügen sich aber insofern schlecht ein, als sie inhaltlich über ihre Funktion im Kontext weit hinausgehen. Sowohl in 1,10 wie in 11,18f. erwähnt Paulus Spaltungen in der Gemeinde. Während sie allerdings an der ersten Stelle verurteilt werden, gelten sie an der zweiten als notwendig. 11, 18f. könnte deshalb aus einem früheren Stadium stammen, in dem die Spannungen noch geringer waren oder Paulus noch nicht so genau im Bilde war. Die Anweisung in 14,34f. an die Frauen, in der Gemeindeversammlung zu schweigen, steht in Spannung zum prophetischen Reden der Frauen in 11,5.
Zu diesen Beobachtungen kommt die Frage nach dem Verbleib des vorangegangen Briefs an die Korinther (5,9). Natürlich könnte dieser Brief einfach verloren gegangen sein. Er könnte aber auch redaktionell in den I Kor eingearbeitet worden sein, wodurch sich die genannten Spannungen z. T. erklären ließen. Aus solchen Überlegungen sind viele Teilungshypothesen hervorgegangen (Übersichten bei J. C HURD 45f.; A. LINDEMANN, HNT 9/1, 4f.; H. MERKLEIN, Einheitlichkeit 154-156; G. SELLIN, Hauptprobleme 2965-2968). Als Beispiel soll hier einer der neuesten und am besten begründeten Entwürfe vorgestellt werden. G. SELLIN (Vorbrief 554) rechnet damit, dass unser heutiger I Kor eine redaktionelle Verbindung von drei ursprünglich selbständigen Briefen ist: A: 11,2-34; 5,1-8; 6,12-20; 9,24-10,22; 6,1-11; B: 5,9-13; 7,1-9,23; 10,23-11,1; 12,1-16,24; C: 1,1-4,21. Brief A ist der in 5,9 erwähnte Vorbrief, Brief B die Antwort darauf, BriefC ein kurz nach B verfasstes Schreiben. G. SELLIN kommt zu dieser These, indem er zunächst nach Teilen des Vorbriefs sucht, dessen Missverständnis durch die Gemeinde in 5,9-13 korrigiert wird. Er findet Bezugstexte in 5,1-8 und 6,1-11, so dass also "ein Abschnitt des Antwortbriefes, nämlich 5.9-13, bei der Redaktion genau von den beiden Teilen des Vorbriefes umgeben wurde, auf die er sich explizit bezog" (G. SELLlN, Vorbrief 546). Auch 6,12-20 lässt sich nach G. Sellin als Bestandteil des Vorbriefs identifizieren: Die Korinther haben bezüglich dieser Anweisungen zum sexuellen Verhalten mit einer Anfrage reagiert, die in 7,1 noch erkennbar ist und die in Kap. 7 beantwortet wird. Schließlich sollen auch 9,24-10,22 aus dem Vorbrief stammen. Dieses Schreiben hätte als verbindendes Thema Missstände, die durch die heidnische Vergangenheit der Korinther bedingt waren: "Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in der Öffentlichkeit der Tempel, den heidnischen Tempelmahlzeiten; analoge Club-Bildungen beim Herrenmahl; ein durch heidnische Mentalität bedingtes
310
D. Die Briefe - Paulusbriefe
lockeres Verhältnis zur Sexualität; Inanspruchnahme heidnischer Gerichtsbarkeit" (G. SELLlN, Vorbrief 552f.). Die Anweisungen des Paulus hätten eine (verloren gegangene) Anfrage der Korinther ausgelöst, die ihrerseits in den oben angeführten Passagen, dem BriefB, von Paulus beantwortet wurden. Die Kap. 1-4 sind für G. SELLIN vor allem wegen der Briefschlusselemente als ursprünglich selbständiger Brief anzusehen.
G. SELLINs Vorschlag zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er nach den Motiven der Redaktion fragt. Warum sollte ein Redaktor die Briefe auf diese Weise mit einander verzahnt haben? G. SELLIN gibt "eine klare Antwort ( ... ): Der Redaktor hat die einander korrespondierenden Abschnitte aus Vorbrief und Antwortbrief jeweils zusammengestellt" (Vorbrief 555), sei es durch Rahmung, sei es durch Voranstellung, denn nun wurden die pln Äußerungen von der konkreten Kommunikationsabfolge gelöst und nach Themen geordnet gelesen. Trotz dieser Umsicht und Sorgfalt sprechen gegen G. SELLINs These vier Überlegungen, von denen die zweite, dritte und vierte auch andere literarkritische Hypothesen in Frage stellen: • Wenn der Redaktor wirklich das angegebene Interesse hatte, ist er merkwürdig halbherzig vorgegangen. Sein Ziel erreichte er ja nur dann, wenn die Leser/innen die ursprüngliche Kommunikationsabfolge noch erkennen konnten. Der kompilierte Brief selbst enthält keinerlei Hinweise darauf, welche Texte älter und welche jünger sind. Woher sollten spätere Leser/innen z. B. wissen, dass der Vorbrief das eine Mal rahmend beigegeben ist, ein anderes Mal aber vorangestellt wurde? Das bedeutet: Es besteht eine Spannung zwischen dem Interesse der Redaktion an einem allgemeingültigen Paulus und der für sie postulierten Vorgehensweise. G. SELLIN sieht selbst, dass eine solche Kompilation nur in einer sehr frühen Phase der Überlieferung Sinn machte, als die Abfolge der Briefe noch im Gedächtnis war. Dass jemand in dieser Phase bereits an einer thematischen Aufbereitung der Paulusbriefe Interesse hatte, ist aber sehr unwahrscheinlich. • Im I Kor nach verstreuten Resten des Vorbriefs zu suchen, setzt die Annahme voraus, dass derartige Briefkompilationen grundsätzlich denkbar sind. Gerade mit Blick auf 2 Kor wird aber heute zunehmend in Frage gestellt, dass es in der Umwelt Briefbearbeitungen gegeben hat, bei denen Briefe oder Brieffragmente in andere Briefe interpoliert wurden (-+ 2 Kor 2.1.4). Sehr viel wahrscheinlicher sind serielle Additionen. Wenn sich aber in der Umwelt derartige Kompilationen nicht nachweisen lassen, müsste man schon einen besonderen Grund finden, warum das bei ntl Briefen anders sein sollte. • Die oben genannten Spannungen sind keine zwingenden Hinweise auf eine Kompilation, sondern lassen sich (fast) durchweg anders erklären (vielleicht mit Ausnahme von l4,34f., -+ 2.2). • Neben der Frage nach Inkohärenz- sollte man die nach Kohärenzsignalen nicht einfach vergessen. Natürlich kann auch ein Redaktor Kohärenz herstellen, aber je mehr er das tut, desto weniger ist er als Redaktor noch er-
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kennbar. I Kor enthält, wie H. MERKLEIN (Einheitlichkeit 156-183) gezeigt hat, so viele Kohärenzsignale auf verschiedenen Ebenen, dass der Redaktor praktisch ein zweiter Paulus gewesen sein müsste. Zu dieser Problematik gehört auch die Frage nach einem verbindenden Thema. Bei aller Vielfalt lässt sich, wie wir gesehen haben (-+ 1.2.1), doch ein gemeinsames Thema formulieren, wenn auch auf einer recht allgemeinen Ebene: Die Überwindung von Spannungen und Spaltungen in der Gemeinde. Mit diesen Überlegungen sind sicher nicht alle Bedenken ausgeräumt. Ein gewisses Unbehagen bleibt. Die gewichtigeren Argumente sprechen m. E. aber flir die Einheitlichkeit des 1 Kor. Allerdings sind bei einer solchen Gewichtung immer Faktoren im Spiel, die teils subjektiv, teils durch den gegenwärtigen Trend der Forschung beeinflusst sind. Was plausibel ist, ändert sich. Mit diesen Vorbehalten kann man gegenwärtig die Einheitlichkeit des I Kor annehmen. 2.2 Die Frage nach Glossen
Auch wenn der 1 Kor keine Kompilation darstellt, gibt es doch die Möglichkeit, dass an verschiedenen Stellen versehentlich oder absichtlich kurze Einfligungen in den Text vorgenommen wurden. Von den vielen Vermutungen, die diesbezüglich vorgetragen wurden (eine Zusammenstellung bietet G. SELLIN, Hauptprobleme 2984), werden heute nur noch zwei ernsthaft diskutiert: 1,2c und 14,33b-36. In 1,2 wird die Adressatenangabe "an die Gemeinde Gottes in Korinth, Geheiligte in Christus Jesus, berufene Heilige" erweitert durch den Zusatz "mit allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort, ihrem und unserem". Versteht man diese Erweiterung als einen Hinweis auf die weltweite Christenheit, ist sie Paulus nicht zuzutrauen. Wie soll man sich vorstellen, dass er mit einem Schreiben nach Korinth alle Christen überhaupt ansprechen will? Deshalb ist die Erweiterung in diesem Verständnis mit 1. WEISS (4) auf den Sammler des ersten Corpus Paulinum zurückzuführen, der in diesem Brief, mit dem er die Sammlung eröffnete, seinen katholischen Anspruch deutlich machen wollte: Die Paulusbriefe richten sich eigentlich an die gesamte Kirche. Diese Deutung der Ausweitung ist allerdings nicht die einzig mögliche. Wie wir schon bei den Beobachtungen zur Struktur gesehen haben, enthält der I Kor mehrere direkte oder indirekte Ermahnungen der Gemeinde, sich an dem zu orientieren, was fiir alle Paulusgemeinden gilt (4,17; 7,17; 11,16). Die Korinther waren offenbar in der Gefahr, sich aus dieser Gemeinschaft zu verabschieden und eine eigene Form christlicher Existenz zu entwickeln. Davor warnt Paulus. Dieses Anliegen könnte auch schon hinter 1,2c stehen, wenn nämlich die Erweiterung "die pneumatisch auftrumpfenden, in Gruppen zerspaltenen und sich zugleich individualistisch isolierenden Gemeindeglieder schon zu Anfang des Briefes daran erinnert, dass sie alle denselben Namen anrufen und Korinth nicht die einzige Gemeinde ist, die das tut" (W. SCHRAGE, EKK VII/I, 105). Da der Zusatz sich in dieser Deutung gut in das Briefganze einordnet, wird man auf die Annahme einer Interpolation verzichten können.
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Schwieriger liegt der Fall bei 14,33b-36 (bzw. 14,34f. - die Erstreckung einer möglichen Interpolation wird unterschiedlich bestimmt; zur Diskussion der Stelle vgl. bes. H. MERKLEIN/M. GIELEN 213-218; W. SCHRAGE, EKK V1II3, 481-487; C. WOLFF 341-345). Die Anweisung, dass Frauen in den Gemeindeversammlungen schweigen sollen, wird in V. 33b mit dem Hinweis auf die Praxis aller anderen Gemeinden eingeleitet. Das liegt auf der "katholisierenden" Linie, von der gerade die Rede war. Andererseits widerspricht diese Anweisung aber dem, was die Leser/innen kurz zuvor aus 11,5 entnommen haben: Dort schärft Paulus ein, dass Frauen, die prophetisch reden, dies mit einer Kopfbedeckung oder einer bestimmten Haartracht (die Details sind umstritten) tun müssen, wobei völlig klar ist, dass Frauen prophetisch reden oder beten. Diese Spannung wird dadurch verstärkt, dass in 14,33b-36 (bzw. 34f.) eine Themenverschiebung gegenüber dem vorangehenden und folgenden Kontext zu beobachten ist. Nimmt man die Verse versuchsweise heraus, ergibt sich ein glatter Text. Erwähnenswert sind noch vier weitere Argumente, die rur eine Interpolation sprechen könnten: (\) Die textkritische Überlieferung der Verse 34f. ist nicht einheitlich (manche Textzeugen stellen die beiden Verse hinter V. 40, was darauf hindeuten könnte, dass die Verse zunächst eine Randbemerkung waren, die an verschiedenen Stellen eingefligt wurde); (2) die Zitationsformel "wie auch das Gesetz sagt" (V. 34) findet sich bei Paulus sonst nie; (3) das Schweigegebot flir Frauen findet sich ähnlich in 1 Tim 2,11 f., was eine traditionsgeschichtliche Verbindung (nicht unbedingt eine literarische Abhängigkeit) nahe legt; (4) eine sekundäre Einfügung an dieser Stelle ließe sich als Stichwortverbindung gut erklären (die Stichwörter "schweigen" und "sich unterordnen" finden sich auch in V. 30 bzw. 32). Einiges spricht allerdings auch gegen die Annahme einer Interpolation. Das wichtigste Argument ist, dass die betreffenden Verse in keiner Handschrift fehlen (auch die unterschiedliche Platzierung betrifft nur die V. 34f., nicht aber 33b und 36, die mit diesen Versen in der Sicht mancher Ausleger/innen eine Einheit bilden). Schwierig zu erklären ist ferner, wie man sich die Einfügung an dieser Stelle praktisch vorstellen sollte. Eine Randbemerkung, auf die diese Verse zurückgehen k6nnten, wäre doch eher bei Kap. 11 zu erwarten, wo zum ersten Mal von Prophetie die Rede war und wo - im Unterschied zu Kap. 14 - prophetisch redende Frauen erwähnt sind. Häufig wird deshalb versucht, den überlieferten Text zu akzeptieren und die Spannung mit 11,5 als nur scheinbare Unausgeglichenheit zu deuten. Es gibt verschiedene Versuche, die beiden Stellen miteinander zu vereinbaren: In 11,5 sei keine gottesdienstliche, sondern eine häusliche Situation vorausgesetzt, auf die sich die V. 14,34f. ja gar nicht beziehen; in 11,5 seien nur allein stehende Frauen, in 14,34f. dagegen verheiratete gemeint; in 11,5 gehe es um das wirklich prophetische Reden, während 14,34f. nur das eigenmächtige und st6rende Dazwischenfragen verbiete. Es wird also mit unterschiedlichen Situationen, Personen oder Aktionen gerechnet. Wer sich von solchen und ähnlichen Erklä-
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rungen überzeugen lässt, sieht natürlich keine Notwendigkeit am Text etwas zu ändern. Schwierig ist eine Entscheidung auch deshalb, weil beide Optionen durch Interessen der Ausleger/innen beeinflusst sein könnten. Wer eine Interpolation annimmt, muss sich fragen, ob ihn dabei nicht das Anliegen bestimmt, Paulus gegen den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit in Schutz zu nehmen. Wer gegen eine Interpolation argumentiert, muss sich fragen, ob er nicht zu Harmonisierungen greift, um den überlieferten Text bewahren zu können. Hier gilt das verschärft, was oben zu den sich ändernden Plausibilitäten gesagt wurde.
Gegenwärtig tendiert die exegetische Mehrheit in der Frage, ob I Kor 14,33b36 am richtigen Platz steht oder eine sekundäre Interpolation ist, zu Letzterem. Das Problem ist aber kompliziert und wird weiter diskutie11 werden müssen.
2.3 Abjassungszeit und -ort Der Gründungsaufenthalt des Paulus in Korinth dauerte etwa 18 Monate (Apg 18,11). Er lässt sich durch die Anklage vor GalIio (Apg 18,12-16) einigermaßen sicher datieren: Aus der in Delphi gefunden GalIio-lnschrift ergibt sich, dass GalIio sein Amt als Statthalter in Achaia wahrscheinlich am I. Juli 51 angetreten hat. Wenn die Anklage, wie die Apg es nahe legt, in der Frühphase seiner Amtszeit anzusetzen ist, verließ Paulus Korinth im Sommer oder Herbst 51 (vgl. Apg 18,18; -+ 0.11). Die Apg erwähnt in 18,18-23 verschiedene Reisen (Ephesus, Cäsarea, Jerusalem, Antiochien, Galatien, Phrygien), bevor Paulus zu dem langen Aufenthalt in Ephesus ankam, während dessen auch der I Kor entstand. Die Zeit zwischen dem Abschied aus Korinth und der Ankunft in Ephesus können wir nicht bestimmen, aber es ist kaum möglich, dass Paulus noch im Jahr 51 dort ankam. Wir müssen mit einem unbestimmten Zeitpunkt im Jahr 52 rechnen. Von Ephesus aus schrieb er zunächst den in 1 Kor 5,9 erwähnten Vorbrief, der nach den oben angestellten Überlegungen wahrscheinlich verloren gegangen ist. Aus dem I Kor lässt sich nur noch erkennen, dass Paulus in diesem Brief vor Kontakt mit nopvoL (Unzüchtigen) warnte. Die Gemeinde hatte damit einige Probleme, die sie in einem eigenen Brief formulierte (1 Kor 7, I). Der I Kor ist die Antwort des Paulus auf den Fragebrief und auf mündliche Nachrichten (-+ \.2.1). Er ist ebenfalls in Ephesus verfasst (I Kor 16,8), und zwar offenbar gegen Ende des dortigen Aufenthalts. Dafür spricht die Ankündigung, noch bis Pfingsten in Ephesus zu bleiben, die nur Sinn macht, wenn dieser Zeitpunkt nicht in ferner Zukunft lag. In dieselbe Richtung deutet die Erwähnung von Missionserfolgen (I Kor 16,9.19), aber auch von Verfolgungssituationen in Ephesus (\ Kor 15,32; 16,9; [2 Kor 1,8f.]). Nach der Apg dauerte der Aufenthalt des Paulus in Ephesus zwei bis drei Jahre (Apg 19,8-10.22; 20,1.31), wobei die einzelnen Angaben nicht klar auf
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einander bezogen sind. Daraus ergibt sich flir den I Kor das Frühjahr 54 oder 55 als wahrscheinliches Abfassungsdatum.
3. Diskurs Die Strukturanalyse unter I. hat deutlich gemacht, dass Pau[us im I Kor viele Probleme behandelt, die ihm schriftlich oder mündlich vorgetragen bzw. mitgeteilt wurden. Die wichtigsten Erscheinungen, zu denen Pau[us Stellung bezieht, sind folgende: • Die Gemeinde ist in verschiedene Gruppen gespalten, die miteinander im Streit liegen (I, I I f.). • Verschiedenes ist vorgefallen: B[utschande, die durch die Gemeinde gedu[det wird (5,1-1), Rechtsstreitigkeiten, die vor heidnischen Gerichten ausgetragen werden (6, [-I I), Besuch bei Prostituierten (6,12-20). • Es gibt asketische Tendenzen, die sich in der Forderung gesch[echtlicher Enthaltsamkeit äußern (7,1 ). • Die richtige Abgrenzung vom heidnischen Ku[t ist strittig (8,1-11,1), wobei die eine Seite mit ihrem Besitz von "Erkenntnis" argumentiert (8, I). • Im Gottesdienst sind ein ungewöhnliches Auftreten von Frauen (11,2-16), Spaltungen beim Herrenmahl (11,17-34) und besondere Hochschätzung mancher Geistesgaben, vor allem der Zungenrede, zu erkennen (12,1[4,40). • "Einige" aus der Gemeinde erwarten keine Auferstehung der Toten (15,12). Es ist oft nicht einfach zu bestimmen, worin das Problem genau lag, denn Paulus konnte bei den Korinthern natürlich ein Wissen um die Situation voraussetzen, das wir nicht haben, und manche der genannten Probleme waren in ihrer Sicht vielleicht gar keine. Noch schwieriger ist es, diese Phänomene in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Handelt es sich um verschiedene Aspekte desselben Grundproblems oder sind die einzelnen Probleme von einander unabhängig? Kann man sie besser religionsgeschichtlich, also mit religiösen bzw. theologischen Faktoren, oder sozialgeschichtlich, also mit sozialen Faktoren, erklären? Bevor wir diesen Fragen im Folgenden nachgehen, ist festzuhalten, dass sich die heutige Exegese wenigstens in einem Punkt weithin einig ist: Eine monokausale Erklärung gibt es nicht. Es ist also damit zu rechnen, dass die Gemeindesituation in Korinth durch eine Mehrzahl von Einflüssen geprägt war, die auf verschiedenen Ebenen liegen können, und dass deshalb die einzelnen Phänomene vielleicht miteinander verwandt waren, aber nicht einfach auf ein dominierendes Grundproblem zurückgeführt werden können. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass die vielen verschiedenen Gruppen bzw. Tendenzen, die in den Blick treten, teilweise einander zuzuordnen sind, so dass sich das Spektrum etwas reduzieren könnte. Aber hier ist Vor-
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sicht angebracht. Ob man z. B. den verschiedenen Parteien in 1,11 f. bestimmte Verhaltensweisen oder Anschauungen, die an anderer Stelle im I Kor begegnen, zuschreiben darf, lässt sich nicht sicher erkennen. Wir beginnen mit einem Blick auf das kulturelle Milieu der Stadt Korinth, in der die Adressatengemeinde lebte, fragen dann nach religionsgeschichtlichen Analogien zu den im I Kor erkennbaren Positionen und untersuchen schließlich die sozialen Bedingungen, die auf das Leben der korinthischen Gemeinde Einfluss hatten.
3.1 Die Stadt Korinth Ein wichtiger Faktor fur die Entwicklung Korinths (vgl. dazu W. ELLIGER 201-209) war seine Lage am Isthmus, d. h. an der ca. 6 km breiten Landenge zwischen dem Korinthischen und dem Saronischen Golf. Dadurch kontrollierte es den Verkehr auf dem Landweg zwischen Nord (z. B. Makedonien) und Süd (Peloponnes). Was noch wichtiger war: Auch der Seeweg zwischen Adria und Ägäis, damit aber zwischen Italien und Kleinasien, wurde teilweise durch Korinth mit seinen beiden Häfen Lechaion und Kenchreä kontrolliert. Schon früh bemühte man sich darum, die gefährliche und zeitaufwändige Umschiffung der Südspitze der Peloponnes zu vermeiden. Zwischen den genannten Häfen wurde die entladene Schiffs fracht über Land transportiert. Schon seit Ende des 6. Jh. v. Chr. benutzte man sogar eine Art Schiffstraße, auf der mittels untergelegter Walzen Schiffe über den Isthmus gezogen wurden. Der 67 n. Chr. unter Nero begonnene Durchstich, bei dem u. a. 6000 jüdische Kriegsgefangene aus dem Jüdischen Krieg eingesetzt wurden, scheiterte; er gelang erst Ende des 19. Jh. Wegen dieser günstigen Lage wurde Korinth früh besiedelt und war vom 8. bis zum 2. Jh. v. Chr. eine der bedeutendsten Städte Griechenlands, allerdings vor allem in wirtschaftlicher, kaum in politischer Hinsicht. Zur Katastrophe kam es, als sich die Stadt im 2. Jh. v. Chr. am Widerstand gegen die römische Ausdehnung beteiligte. 146 v. Chr. wurde es von den Römern, die dadurch eine konkurrierende Handelsrnacht auslöschten, völlig zerstört. Sofern sie nicht geflohen waren, wurden die korinthischen Männer getötet, Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. Mehr als 100 Jahre lang war die Stadt danach weitgehend unbesiedelt. Erst 44 v. Chr. wurde sie von Julius Cäsar als römische Kolonie neu gegründet. Es war eine neue Stadt, die zunächst von italischen Siedlern (römischen Bürgern, Freigelassenen, Armen, einigen Veteranen Caesars), bald aber auch (wegen der wachsenden Anziehungskraft des Wirtschaftszentrums) von Griechen und Ausländern besiedelt wurde.
Die Neugründung hatte zur Folge, dass bis ins 3. Jh. n. Chr. Nachfahren der römischen Bürger die Führungsschicht stellten und dass die offizielIe Sprache Latein, die Alltagssprache Griechisch war. Seit 27 v. Chr. war Korinth Sitz des Statthalters von Achaia. Bis zum Besuch des Paulus war es wieder eine bedeutende Stadt geworden. Auch einen jüdischen Bevölkerungsanteil scheint es inzwischen gegeben zu haben (vgl. Apg 18,4-17; Philo, Leg Gaj 281). Die
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berühmte Inschrift [EYNA]rnrH EBP[AIQN] (Synagoge der Hebräer) stammt allerdings aus nach-nt! Zeit. Dass Paulus mit seiner Predigt in Korinth großen Erfolg hatte, mag mit der eigentümlichen Geschichte der Stadt zu tun haben. Die Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem war hier sehr viel ausgeprägter als etwa in Athen (wo die in I Thess 3, I bezeugte Tätigkeit des Paulus offenbar nicht zu einer Gemeindegründung führte). Die vor relativ kurzer Zeit zugezogenen Einwohner hatten keine gemeinsame, jahrhundertealte Identität und bewiesen schon durch den Umzug in dieses Wirtschaftszentrum eine gewisse Mobilität. Ob diese Vermutung zutrifft oder nicht - jedenfalls war das Korinth, das Paulus vorfand, durch eine große Vielzahl religiöser Gruppen und Strömungen geprägt. Nicht nur die alten griechisch-römischen Götter wurden verehrt, sondern auch Mysterienkulte (Kybele, Isis und Sarapis, Demeter und Kore) und der Kaiserkult waren stark vertreten. "Dieses tolerante, multireligiöse Milieu war einerseits für die Ausbreitung des Christentums günstig, brachte andererseits aber auch die Gefahr einer pluralistischen Einebnung mit sich. Vor allem aus dem Heidentum kommende Christen mussten sich an den Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums und seine Unvereinbarkeit mit bestimmten gewohnten Handlungsweisen sicherlich erst gewöhnen" (H. MERKLEIN, ÖTBK 7/1, 28f.). Dass die Abgrenzung von paganen Kultpraktiken (Götzenopferfleisch), aber auch von der Sozialfonn religiöser Vereine, in der sich gerade Mysterienkulte oft präsentierten, in Korinth ein Problem wurde, ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich.
3.2 Religionsgeschichtliche Analogien Es gibt drei verbreitete religionsgeschichtliche Erklärungsversuche der Situation der korinthischen Gemeinde zur Zeit des 1 Kor (nur selten vertreten wird die Ansicht, die in 2 Kor bekämpften Gegner seien auch schon in 1 Kor erkennbar, so etwa HALL 3; GOULDER). (I) In älteren Veröffentlichungen (LÜTGERT, SCHMITHALS Gnosis, SCHOTTROFF) wurde die Gnosis als der Hintergrund bestimmt, vor dem viele Erscheinungen in Korinth am besten erklärbar seien. Auch wenn im Einzelnen verschiedene Analogien genannt wurden, sind es doch vor allem die Betonung der YVWOLl'; (Erkenntnis) durch manche Gemeindemitglieder (8,1), der Dualismus zwischen 1TVEUIJIX (Geist) und "'UX~ (Seele) (2,14f.) und ein als Hintergrund der Adam-Christus-Typologie (15,21 f.45-49) vermuteter UrmenschMythos, die mit der Gnosis in Verbindung gebracht wurden. Diese Erklärung wird kaum noch vertreten, zum einen, weil heute fraglich ist, ob man für die pln Zeit überhaupt schon von Gnosis sprechen kann, zum anderen, weil die Unterschiede zur späteren Gnosis deutlicher erkannt wurden (so ist für die Gemeinde etwa keine Ablehnung der geschaffenen Welt, sondeln nur ihre Irrelevanz anzunehmen). (2) Eine auch heute weit verbreitete Deutungsmöglichkeit ist dagegen die
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Verbindung einiger der unter 3.1 genannten Phänomene mit der frühjüdischen Weisheit: "Die esoterische religiöse Weisheitslehre (insbesondere 2,6-16), der Dualismus von 1TVEÜf.UI (Geist, T. Sch.) und I\IUX~ (Seele, T. Sch.), Verachtung des OWIlIX (Leib, T. Sch.) (6,12-20), das Charismenverständnis (Kap. 12-14), die Hochschätzung von YVWOLi; (Erkenntnis, T. Sch.) (8,1-6; 13,2) und die Vorstellung von zwei Unnenschen (15,45) - all dieses deutet auf den Einfluss alexandrinisch-jüdischer Weisheitstheologie hin, wie sie aus Sap Sal, Aristobul und vor allem Philo bekannt ist" (G. SELLIN, Hauptproblerne 3021). Wie diese Anschauungen nach Korinth kamen, muss offen bleiben. Möglich wäre eine Vennittlung durch Apollos, der in Korinth aufgetreten ist (I Kor 3,5-9; 4,6; 16,12; vgl. Apg 18,24), oder eine Übernahme aus der korinthischen Synagoge, zu der manche Christen wohl früher gehört hatten. (3) In neuerer Zeit wird manchmal ein dritter Weg beschritten: Zumindest die Weisheitsfaszination, die zur Entstehung von Spaltungen geführt hat, wird hier aus der griechisch-römischen Philosophie (so H. D. BETZ; H. L1ETZMANNI W.G. KÜMMEL, 9; S. MASON 48; T. SCHMELLER 103-126) oder Rhetorik (so GO. KIRNER 38f.48f.; D. LITFIN 170-173.188-190.206; S. M. POGOLOFF 109-111.140f.; 8. W. WINTER, Paul and Philo 13f.232-244) abgeleitet, wobei beide Bereiche eng miteinander verbunden sind. Die Problematik hinter Kap. 1-4 ist durch "Intellektuelle" entstanden (H. D. BETZ 586-588), die, wie alle griechischen Intellektuellen, nach Weisheit strebten, also philosophisch und rhetorisch interessiel1 waren, und sich dabei zu mehreren konkurrierenden Gruppen verbanden. Die nächste Analogie zu den personenbezogenen Pal1eien in 1,18 ist die Schüler-Lehrer-Beziehung in der griechisch-römischen Umwelt, die sich mit z. T. massiver Polemik gegen andere (Philosophie- oder Rhetorik-) Schulen abgrenzte. "Es setzte sich (sc. in der korinthischen Gemeinde) die Auffassung durch, das Christentum gleiche der Philosophie insofern, als es in unterschiedlichen Ausprägungen, Weisheit', d. h. eine religiös fundierte Lebenskunst mit einem gewissen intellektuellen Anspruch, vertrete; dieser Weisheit könne und müsse man sich mithilfe verschiedener Lehrer durch eigene Bemühung nähern" (T. SCHMELLER 122). Paulus wandte sich gegen diese Interpretation in zweifacher Hinsicht: Zum einen lehnte er die Konkun'enz und den Streit ab, den sie mit sich brachte. Bei allen Christen ist nach Paulus die wahre, göttliche Weisheit zu finden. Zum anderen hatte er geringeres Zutrauen zu den menschlichen Möglichkeiten. Die wahre Weisheit kann letztlich nicht gelehrt und gelernt, sondern nur von Gott empfangen werden. Deshalb ist auch ihre kunstvolle Formulierung mit rhetorischen Mitteln unwichtig. Trotz dieser beiden Vorbehalte kann man in manchen Zügen der pln Argumentation bereits Ansätze einer positiven Zuordnung von christlicher Botschaft und Philosophie sehen, wie sie später bei Justin deutlich zum Ausdruck kam, für den das Christentum die "einzig gesicherte (ao!j>aAii) und angemessene (oUIl!j>OPOV) Philosophie" (Dial 8, I) war.
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3.3 Soziale Bedingungen Als Ausgangspunkt kann die Frage nach der sozialen Zusammensetzung und Schichtung der Gemeinde dienen. In dieser Frage gibt es - mit gewissen Einschränkungen - einen "neuen Konsens". Das Neue daran ist die Abgrenzung von der Ansicht, die Anfang des 20. Jh. üblich war, wonach die pln Christen wie alle anderen Urchristen auch - zu den untersten sozialen Schichten gehörten (z. B. A. DEISSMANN). Der "neue Konsens" entstand in den 70er Jahren und setzte sich in den 80er Jahren des 20. Jh. durch. Er beinhaltete etwa Folgendes: Die Paulusgemeinden - und hier wissen wir am meisten über die korinthische Gemeinde - waren, sozial gesehen, ein Querschnitt durch die Stadtbevölkerung. Mit dieser breiten sozialen Schichtung unterschieden sie sich von vergleichbaren nichtchristIichen Gruppenbildungen (etwa Vereinen). Allerdings fehlten die höchsten und die niedrigsten sozialen Schichten. Die breite Mehrheit kam, wie ja in der Stadtbevölkerung auch, aus den unteren (nicht: untersten) Schichten, waren also (städtische) Sklaven, Freigelassene, Tagelöhner u. ä. Es gab aber auch Angehörige mittlerer und höherer (nicht: höchster) Schichten, also einzelne Mitglieder und "Gefolgsleute" der subdekurionalen Oberschicht (vgl. dazu E. W. STEGEMANN/W. STEGEMANN 7174.261), und diese waren die aktivsten, tonangebenden Gemeindemitglieder. Dem "neuen Konsens" zufolge hat sich die christliche Bewegung in den hellenistischen Städten von oben nach unten ausgebreitet, nicht umgekehrt. Mittlerweile ist dieser "neue Konsens" nicht mehr neu, vor allem aber kein Konsens mehr, wenn er denn je einer war. Es gibt Einsprüche, die mit den erhebbaren Daten anders umgehen und zu dem Schluss kommen, Paulus selbst wie auch seine Gemeinden hätten durchweg zu der überwältigenden Mehrheit der armen Bevölkerung gehört, deren Leben von harter Arbeit und vom Kampf um das Existenzminimum gekennzeichnet gewesen sei. Mitglieder aus mittleren, wohlhabenden Schichten habe es in den Gemeinden nicht gegeben (1. 1. MEGGITT 96.153.179f.; ähnlich S. J. FRIESEN). Diese Einsprüche sind allerdings m. E. so wenig fundiert, dass sie eine Rückkehr zur Ansicht A. DEISSMANNs nicht rechtfertigen können und wohl auch nicht bewirken werden (vgl. die Kritik bei G. THEISSEN Structure; G. THEISSEN Conflicts; D. G. HORRELL 358f.). Sie zeigen zwar, dass auch die sozialgeschichtliche Auswertung von Texten nicht zu völlig gesicherten, allseits akzeptierten Ergebnissen führt. Sie ändern aber nichts daran, dass wir eine relativ breite soziale Schichtung der Paulusgemeinden annehmen müssen. Dass eine solche Schichtung Probleme mit sich brachte, ist kein Wunder. Im 1 Kor sind es vor allem zwei der von Paulus korrigierten Missstände, die von vielen Autor/innen mit sozialen Bedingungen in Verbindung gebracht werden: die Feier des Herrenmahls und der Umgang mit dem Götzenopferfleisch. Allerdings gibt es neben J. 1. MEGGITT auch andere Stimmen, die solchen "soziologischen" Erklärungsversuchen generell skeptisch gegenüber stehen (z. B. D. R. HALL 77; A. LINDEMANN, Ekklesiologie 69-74).
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3.3.1 Die Spaltungen beim Herrenmahl (11,17-34) Die Rekonstruktion der Situation in Korinth ist außerordentlich problematisch. Klar ist, dass die in der Gemeinde praktizierte Feier des Herrenmahls von Paulus deshalb getadelt wird, weil Spaltungen und Parteiungen das gemeinschaftliche Element gefährdeten. Wie sich aber diese Spaltungen konkret zeigten und worauf sie beruhten, ist strittig. Es lassen sich drei Richtungen von Erklärungsversuchen erkennen. Sie unterscheiden sich vor allem durch die Interpretation von 1TpoJ..o:~ßcivEL in V. 21 ("er nimmt vorweg" oder "er nimmt zu sich", also mit oder ohne temporalen Aspekt; entsprechend wird aUTJJ..ouc; EK«'>Exeoee in V. 33 entweder als "wartet aufeinander" oder als "nehmt einander an/auf' gedeutet) und durch die Verhältnisbestimmung zwischen Brot- und Becherhandlung einerseits und Sättigungsmahl andererseits (steht die Brot- und Becherhandlung am Ende des Sättigungsmahls oder ist sie der Rahmen für dieses?). (I) Der erste Rekonstruktionsversuch entscheidet sich für den zeitlichen Aspekt und für die Endstellung der (dann bereits miteinander kombinierten) Brot- und Becherhandlung (so etwa G. BORNKAMM; H.-J. KLAUCK, Herrenmahl 292-297; H.-J. KLAUCK, Gottesdienst 47-49). Das Sättigungsmahl wurde von den besser gestellten Christen, die leichter über ihre Zeit verfügen konnten, bereits begonnen, bevor die ärmeren (z. B. die Sklaven) dazu kamen. Man aß zunächst im sozial homogenen Kreis das, was jeder mitgebracht hatte. Erst bei der Brot- und Becherhandlung, zu der es eben nur Brot und Wein gab, waren alle versammelt. Zu diesem Zeitpunkt galt tatsächlich: "Der eine hungert, der andere ist betrunken" (V. 21). Weil dieser Teil der Höhepunkt des Mahls war, hatten die Reicheren bei dieser Praxis kein schlechtes Gewissen. (2) Etwas anders sieht die Rekonstruktion aus, wenn man V. 25, wo zwischen Brot- und Becherhandlung ein Mahl erwähnt wird, beim Wort nimmt und die gleiche Abfolge auch für die Feier in Korinth postuliert. Die Vertreter/innen der zweiten Richtung (z. B. G. THEISSEN, Integration; P. LAMPE) halten es für unmöglich, dass Paulus, indem er die Herrenmahlsparadosis wiedergibt, nicht zugleich voraussetzt oder einschärft, dass die Gemeinde sich auch an der darin enthaltenen Abfolge orientieren soll. Auch in dieser Deutung beginnen die sozial Bessergestellten, bevor die Übrigen dazu stoßen, mit einem Mahl, das sie selbst bereitstellen. Nachdem alle versammelt sind, beginnt die Brot- und Becherhandlung, die ein "Sättigungsmahl" rahmt. Für diese Feier gehen aber nicht alle gestifteten Speisen, sondern nur Brot und Wein in den Gemeinschaftsbesitz über, weil ja nur davon in den Herrenworten die Rede ist (so G. THEISSEN, Integration). Alternativ kann die Brot- und Becherhandlung mit dem üblichen Nachtisch (secundae mensae) gleichgesetzt werden, bei dem natürlich ebenfalls nicht mehr das gereicht wurde, was bei der vorangegangenen Hauptmahlzeit (cena. primae mensae) verzehrt worden war (so P. LAMPE). In beiden Fällen bleiben die Ärmeren hungrig. (3) Eine dritte Möglichkeit besteht darin, keinen zeitlich versetzten Mahl-
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beginn anzunehmen, sondern ein einziges gemeinsames Mahl, das von Brotund Kelchhandlung gerahmt wurde (so M. KLINGHARDT). Der von Paulus kritisierte Missstand liegt dann darin, dass jeder die von ihm selbst mitgebrachten, in Menge und Qualität unterschiedlichen Speisen verzehrt, wodurch die Änneren nicht nur hungrig bleiben, sondern auch von den Reicheren beschämt werden (V. 22). Je nachdem, welche Rekonstruktion vertreten wird, ergibt sich natürlich auch eine andere Deutung der pln Anweisungen. Es geht Paulus entweder darum, dass aUe gemeinsam mit dem Sättigungsmahl beginnen oder dass das Sättigungsmahl zu Hause eingenommen wird oder dass alle mitgebrachten Speisen allen zugänglich gemacht werden. Eine Entscheidung zwischen den genannten Alternativen ist schwer möglich. Allen drei ist jedenfalls gemeinsam, dass sie einen Einfluss sozialer Faktoren auf das in Korinth praktizierte Herrenmahl und damit auch auf die Korrektur dieser Praxis durch Paulus annehmen. In der Tat ist ein solcher Einfluss schwer zu leugnen. Ohne ins Detail zu gehen, sind zwei Hinweise in V. 22 kaum zu übersehen (mit G. THEISSEN, Conflicts 378f., gegen J. J. MEGGITT 119-121): !.LlJ yap OLKLae; OOK ~XEtE (habt ihr keine Häuser) muss zwar nicht gerade auf den Besitz von Villen hindeuten, richtet sich aber doch am ehesten an Hausbesitzer (Alternativen zu Villen bespricht D. G. HORRELL), denn rür "zu Hause" wäre EV oi.K~ wie in V. 34 zu erwa11en; zu tOUe; !.LlJ ~XOVtae; (die, die nicht[s] haben) im selben Vers ist als Objekt nicht nur "Brot und Wein" zu ergänzen. sondern die Ausdrucksweise ist so allgemein gehalten, dass den Hausbesitzern hier offenbar die "Habenichtse" gegenüber gestellt werden. 3.3.2 Der Umgang mit dem Götzenopferfleisch (Kap. 8-10) Mit IIEpL ÖE tWV ELöWA.oBUtwv ... (Was das Götzenopferfleisch betrifft ... ) wendet sich Paulus in 8,1 einer Frage zu, die vermutlich im korinthischen Fragebrief enthalten war: Können Christen Fleisch essen, das aus rituell vollzogenen Schlachtungen stammt? Eine Gruppe in der Gemeinde, die Starken, sieht darin kein Problem, weil sie die Nichtigkeit der Götzen erkannt hat. Eine andere Gruppe, die Schwachen, wird durch dieses Vorbild in Versuchung geführt, ebenfalls Götzenopferfleisch zu essen, obwohl sie es mit ihrem Gewissen eigentlich nicht vereinbaren kann, und gerät damit in Gefahr, durch die Erkenntnis der Starken zugrunde zu gehen (8,11). Paulus unterscheidet drei verschiedene Situationen, in denen das Problem auftreten kann: I. Auf dem Markt gekauftes Fleisch (lO,25f.), bei dem man nicht von vorneherein wusste, ob es aus rituellen oder nicht-rituellen Schlachtungen stammte (vgl. dazu KOCH, Alles 213-215); 2. Einladungen bei heidnischen Gastgebern (10,27f.), für die dasselbe galt; 3. Opfermahlzeiten im Tempel (8,10; 10,14-22). Die dritte Option lehnt Paulus ab, die beiden anderen lässt er offen, sofern die Herkunft von rituellen Schlachtungen nicht durch einen entsprechenden Hinweis manifest geworden ist.
D.lV. Der erste Korintherbrief (Thomas Schmeller)
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Wer sind die Starken und die Schwachen? Eine Gleichsetzung mit Judenund Heidenchristen ist weder in der einen noch in der anderen Richtung möglich. Die Erkenntnis der Starken kann man beiden Gruppen zutrauen. Für die Identifikation der Schwachen könnte höchstens 8,7 etwas austragen: Sie haben sich an den Götzen gewöhnt und diese Gewöhnung wirkt in ihrer christlichen Existenz nach. Auch das gilt allerdings ftir Juden- wie Heidenchristen: Bei ersteren wirkt das frühere Tabu nach, bei letzteren der früher positive Bezug zum heidnischen Kult. Eine Identifikation mittels soziologischer Kriterien hat G. THEISSEN vorgeschlagen (G. THEISSEN, Starken). Von seinen Beobachtungen zu schichtspezifischen Verhaltensweisen sind ftir uns vor allem folgende relevant. I. Reiche aßen wesentlich mehr Fleisch als Arme. Die Armen ernährten sich vor allem von Mehlspeisen und kamen fast nur in kultischen Zusammenhängen (Opfermähler, religiöse Feste, religiöse Vereine) an Fleischgenuss. Deshalb war in ihrer Lebenswirklichkeit Fleisch eng mit Götzendienst verbunden, während der Zusammenhang bei Reichen nicht so deutlich war. Zugleich stellte sich reicheren Christen die Frage nach dem Umgang mit Götzenopfertleisch viel häufiger. 2. Sozial höher gestellte Christen hatten auch deshalb ein größeres Interesse an einer (positiven) Lösung, weil sie besser in die nichtchristliche Gesellschaft integriert waren und öfter zu Mählern eingeladen wurden, bei denen möglicherweise Götzenopfertleisch auf dem Speiseplan stand. Eine Absage wäre ihnen schwerer gefallen und hätte ftir sie negativere Folgen gehabt als bei Christen aus den unteren Schichten. 3. Der Verweis der Starken auf die eigene Erkenntnis, die ihnen einen freien Umgang mit dem Götzenopfertleisch erlaubt (zu erschließen aus 8,1.4; 10,23), hat Parallelen bei den späteren Gnostikern, die sich damit erklären lassen, "daß hier wie dort eine typische Umformung christlichen Glaubens bei dessen Aufstieg in höhere Schichten vorliegt" (G. THEISSEN, Starken 284). Bei beiden Gruppen ist eine gewisse Bildung anzunehmen, die (in Verbindung mit weiteren Indikatoren) auf gehobenen Sozi al status schließen lässt. Ein weiteres Argument ftihrt G. THEISSEN in einer neueren Veröffentlichung an (Conflicts 384): Wenn Pau[us in [0,25 vom F[eischkauf auf dem f.uiKEUOV spricht, ist damit ein Fleischmarkt gemeint, der nur von einer gehobenen Käuferschicht besucht wurde (vgl. dazu auch D.-A. KOCH, Alles 2 [Of.; V. GÄCKLE 199). Die korinthischen Christen, die dort einkauften, müssen also zu den wenigen besser gestellten Gemeindemitgliedern gehört haben. Mit diesen und anderen Beobachtungen argumentiert G. THEISSEN daftir, die Starken mit sozial höher gestellten Christen, die Schwachen mit sozial niedriger gestellten Christen zu identifizieren. Da die Christen mit höherem Sozialstatus in der Gemeinde tonangebend waren, hat sich ihre Sichtweise sicher unter der einfachen Mehrheit verbreitet. Es gab dort aber offenbar auch einige, die sich nicht überzeugen ließen. Gegen diese Deutung wurden vor allem drei Einwände erhoben. 1. F[eischgenuss war nicht auf die höheren Schichten beschränkt. Es gab einfache Im-
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
bissstuben (popinae), in denen Arme sich warme Mahlzeiten kaufen konnten, ja mussten, denn ihre Unterkünfte besaßen häufig nicht einmal einen Herd. Dort wurde auch Fleisch verkauft (J. J. MEGGITT 109-112; V. GÄCKLE 199). 2. Wenn in 10,28 der mögliche Fall geschildert wird, dass bei einer privaten Einladung "einer zu euch sagt: Dies ist Fleisch von Opfertieren", dann kann damit nur die Intervention eines der schwachen Christen gemeint sein. Dann treffen sich offensichtlich Starke und Schwache bei denselben Gastmählern, was gegen einen Unterschied im sozialen Status spricht (J. J. MEGGI1T I 12f.). 3. Die Argumentation mit der eigenen Erkenntnis ist nicht mit einem Verweis auf spätere Gnostiker zu erklären und hat mit gehobenem Sozial status nichts zu tun (J. J. MEGGITT 113-116; D. R. HALL 63; vgl. V. GÄCKLE 198; A. T. CHEUNG 314). Der dritte Einwand scheint mir am ehesten berechtigt. Obwohl schon G. THEISSEN mit Bezügen zur Gnosis sehr vorsichtig umging, ist man in dieser Frage heute - etwa dreißig Jahre später - noch zurückhaltender. Dass der Verweis auf Erkenntnis wirklich mit höherer Bildung zu tun hat, geht aus I Kor nur dann hervor, wenn ein Bezug zur Gnosis vorliegt. Die beiden anderen Einwände sind dagegen wenig stichhaltig (vgl. die berechtigten Entgegnungen in G. THEISSEN, Conflicts). Die Möglichkeit, in popinae Fleisch zu kaufen, war zwar gegeben; sie wurde von den Armen aber nur in Ausnahmefällen (etwa bei familiären Feiern, die auch einen religiösen Aspekt hatten), nicht im Alltag, genutzt und bezog sich auch nur auf minderwertiges Fleisch. Der Hinweis in 10,28 auf die religiöse Herkunft des servierten Fleischs kann kaum von einem ebenfaJls eingeladenen Mitchristen (aus der Gruppe der Schwachen) stammen - woher sollte der Mitchrist von dieser Herkunft wissen? Viel näher liegt es, dass diese Information vom Gastgeber oder einem Angehörigen, also einem Heiden, stammt (so auch H. MERKLEIN, ÖTBK 7/2, 277f.; anders [allerdings sehr vorsichtig] W. SCHRAGE, EKK VIII2, 469f.). Dafür spricht auch der hier verwendete pagane Terminus LepOSUtoV (Fleisch von Opfertieren), der, anders als das frühjüdische eLöwJ..oSUtOv (Götzenopferfleisch) in 8, I, keine negativen Konnotationen enthält. Es gibt ganz verschiedene Motive, die man für einen solchen Hinweis vermuten kann. Er muss nicht einmal unbedingt mit der Zugehörigkeit des Gastes zu den Christen zu tun haben, also aus Rücksichtnahme oder Neugier erfolgt sein. Vielleicht soll einfach die Qualität des Fleisches hervorgehoben werden, denn für rituelle Schlachtungen wurde nur erstklassiges Schlachtvieh verwendet. Nicht nur beim Herrenmahl, sondern auch bei der Kontroverse um das Götzenopferfleisch ist also ein Einfluss sozialer Faktoren wahrscheinlich. Religiöse Gründe sind damit nicht ausgeschlossen.
D.lV. Der erste Korintherbrief(Thomas Schmeller)
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D. V. Der zweite Korintherbrief (Thomas Schmeller)
1. Struktur Der 2. Korintherbrief folgt in seiner Gesamtanlage dem üblichen paulinischen Briefschema: Briefeingang Briefkorpus Briefschluss
1,1-11 1,12-13,10 13,11-13
1.1 Brie[eingang und -schluss
Während das Präskript, also Anschrift und Gruß, eindeutig in 1,1 f. realisiert ist, wird der Umfang des Proömiums unterschiedlich bestimmt. Sowohl für eine Begrenzung auf 1,3-7 wie für ein längeres Proömium 1,3-11 lassen sich Argumente finden: In V.8 liegt eine sog. disclosure-Formel vor (ou yap 9EA.oflEV. UflcXl; ayvOEI.V, aOEMj!oL [wir wollen nicht, dass ihr in Unkenntnis seid, Brüder]), wie sie in anderen Paulusbriefen den Übergang zum Hauptteil signalisiert (GaI1,11; Phill,12). Außerdem sind die V.2-7 und 8-11 in sich relativ geschlossen. Beides legt ein Ende des Proömiums nach V. 7 nahe. Für ein längeres Proömium spricht allerdings die Wiederaufnahme der Eulogie von V. 3 durch das in V. 11 angezieIte Dankgebet. Die Eulogie könnte auch gerade durch die in den V. 8-10 berichtete Grenzerfahrung des Paulus motiviert sein. V. 11 lässt sich auch als eine nachgeholte "Eucharistie" (Danksagung) ansehen. Insgesamt dürfte es dem Text besser entsprechen, erst nach V. 11 den Übergang zum Briefkorpus zu sehen. Der Briefschluss liegt eindeutig in 13,11-13 vor. Der vorangehende V. 10 blickt (mindestens) auf Kap. 10-13 zurück und kündigt erneut (wie schon in 10,2; 12,14; 13,1) einen bevorstehenden Besuch an. Die V. 11-13 enthalten in kurzer Form die üblichen Elemente eines paulinischen Briefschlusses: allgemeine Mahnungen (V. 11), Grüße (V. 12) und einen Segenswunsch (V. 13). 1.2 Das Briejkorpus
Der Aufbau des Hauptteils ist aufs Ganze gesehen relativ klar, im einzelnen sind die Abgrenzungen, Übergänge und Zuordnungen aber oft schwer zu erkennen und umstritten. Das kann, muss aber nicht mit der Entstehungsgeschichte des Briefs zu tun haben, die unter 2. behandelt wird. Falls 2 Kor tat-
D.V. Der zweite Korintherbrief(Thomas Schmeller)
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sächlich aus mindestens zwei ursprünglich selbständigen Briefen bzw. Brieffragmenten bestehen sollte, könnten Brüche im Gedankengang durch die Kompilation entstanden sein. Allerdings wäre auch dann zu fragen, warum ein Redaktor solche Brüche nicht vermieden hat bzw. welches redaktionelle Konzept er angewendet hat. Im Folgenden wird eine Gliederung vertreten, die die Frage der Einheitlichkeit zunächst offen lässt. Ob die festgestellte Struktur auf Paulus oder einen Redaktor zurückgeht, wird später zu fragen sein. Gut erkennbar sind folgende Blöcke: 2,14-7,4 8,1-9,15 10,1-13,10
Der Dienst des Paulus Die Kollekte in der Gemeinde Auseinandersetzung mit Gegnern
1.2.1 Die Texteinheit 2,14-7,4 Der erste Block ist schon dadurch als Einheit erkennbar, dass der vorangehende und der folgende Kontext unter einander durch dasselbe Thema verbunden sind. Die Erzählung von der unruhigen Suche nach Titus in 2, 12f. wird in 7,5-16 fortgesetzt. Innerhalb dieses Rahmens werden verschiedene Aspekte des paulinischen Apostolats reflektie11, die teilweise auf Vorwürfe von Gegnern, die von außen in die Gemeinde gekommen waren (- 3.), teilweise auf Vorwürfe aus der Gemeinde selbst bezogen sein könnten. An welchen Stellen sich Paulus verteidigt und wo er ohne konkreten Anlass einen positiven Entwurf bietet, ist nur selten sicher zu sagen. 2,14-17 enthält eine Einleitung und die Angabe des Themas. Die V. 14-16a wirken wie eine zweite brieftypische Danksagung (M. E. THRALL, Thanksgiving). Sie formulieren einen feierlichen Dank an Gott, der die große Bedeutung des paulinischen (oder: apostolischen) Dienstes zum Inhalt hat. Die Reaktion der Hörer/innen auf diese Verkündigung entscheidet über Leben und Tod. Daraus ergibt sich die rhetorische Frage V. 16b: Wer ist einem solchen Anspruch gewachsen? V. 17 gibt eine thetische Antwort: Geeignet ist Paulus, weil er ein aufrichtiger Diener des Wortes Gottes ist und seine Verkündigung von Gott ausgeht. Damit ist das Thema der folgenden Kapitel genannt. Der nächste größere Abschnitt, 3,1-4,6, geht offensichtlich von Vorwürfen aus (3,1), löst sich aber von ihnen und stellt den neuen Bund, dessen Diener Paulus ist, dem alten Bund an die Seite. Die vergängliche Herrlichkeit des Mosedienstes, die nicht abgewertet wird, wird von der unvergänglichen Herrlichkeit des "Dienstes der Gerechtigkeit", konkret: des Paulusdienstes, weit übertroffen. Allerdings ist diese Herrlichkeit nicht so ohne weiteres wahrnehmbar. In 4,7-5,10 setzt sich Paulus mit möglichen (oder tatsächlich erhobenen?) Einwänden gegen diese große Konzeption seines Dienstes auseinander. Seine Leidensexistenz spricht nicht gegen eine hohe Berufung, denn das göttliche
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Leben verbirgt sich in Schwachheit und ist nur im Glauben wahrnehmbar. Mehrfach wiederholt er die schon in 3,4.12; 4, I geäußerte Zuversicht (4,13.16; 5,6.8), die sogar der Tod nicht in Frage steHen kann: "Das Aufgeriebenwerden des äußeren Menschen gelangt im leiblichen Tod an sein Ziel, das Erneuertwerden des inneren Menschen in der Verleihung des himmlischen Leibes" (H.-J. KLAUCK, NEB.NT 8, 52). Auch 5,11-6,10 beginnt mit einer Auseinandersetzung mit gegnerischen Einwänden (V. 11-13), bleibt aber nicht dabei stehen. Hier findet sich das Herzstück der Darlegungen des Paulus zu seinem Dienst, denn dieser wird nun inhaltlich bestimmt. Er ist ein "Dienst der Versöhnung" (5,18), bei dem Paulus als Gesandter die durch den Tod Christi geschehene Versöhnung den Menschen anbietet. Erneut legt er seine Eignung für diesen Auftrag in einem Peristasenkatalog dar (6,3-10). Nach den bisher meist indikativischen Ausführungen (vgl. 5,20) rücken nun in 6,11-7,4 AppeHe und Mahnungen in den Mittelpunkt. Jetzt formuliert Paulus die Konsequenz: Wenn er die Gemeinde von der Würde seines Dienstes überzeugt hat, dann muss sie sich ihm öffnen und die Gemeinschaft mit ihm vertiefen. Dass diese Gemeinschaft gestört ist, lässt der 2 Kor von Anfang an erkennen. Die Warnung vor Gemeinschaft mit Nichtchristen überrascht in diesem Zusammenhang (- 2.1.1).
1.2.2 Die Texteinheit 8,1-9,15 Die Kap. 8 und 9 haben als gemeinsames Thema die Kollekte, die Paulus unter seinen heidenchristlichen Gemeinden veranstaltet (vgl. Gal 2,10). Ziel dieser Kapitel ist, die Gemeinde zum Abschluss der bereits begonnenen Geldsammlung für die Gemeinde in Jerusalem zu bewegen. Die Kollekte war offenbar durch den Konflikt zwischen Paulus und den Korinthern ins Stocken geraten oder zum Stillstand gekommen und soll nun, nach der in 7,5-12 bestätigten Versöhnung, wieder aufgenommen werden. Die Abfolge der beiden Kapitel wird oft als störende, unvermittelte Wiederholung angesehen; mindestens eines davon könnte nach dem Urteil vieler Exeget/innen ursprünglich ein selbständiger Brief gewesen sein (- 2.). Die überlieferte Abfolge ist jedenfalls unübersichtlich und lässt sich nur grob gliedern in die eigentliche Aufforderung (8,1-15), die konkrete Durchführung mittels beauftragter Brüder (8,16-9,5) und einen allgemein gehaltenen, motivierenden Abschluss (9,6-15).
1.2.3 Die Texteinheit 10,1-13,10 Die Kap. 10-13 haben einen anderen Charakter als 1-9. Auch wenn dort Hinweise auf gegenseitige Spannungen und Vorwürfe nicht fehlen (z. B. 1,17;
D.V. Der zweite Korintherbrief(Thomas Schmeller)
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3,1; 5,12; 6,12f.; 7,2), übelWiegen doch Äußerungen des Vertrauens und der Zuversicht (z. B. 1,15.24; 2,3; 7,6-12; 9,2). In Kap. 10-13 ist die Auseinandersetzung sehr viel schärfer. Insbesondere kämpft Paulus hier gegen Missionare, die offenbar von außen in die Gemeinde gekommen sind (- 3.). Diese Gegner sind in den ersten neun Kapiteln zwar erwähnt (3, I; 5,12), bleiben dort aber im Hintergrund. Ab Kap. 10 versucht Paulus direkt, die Gemeinde für sich und gegen diese Rivalen einzunehmen. Damit will er einen bevorstehenden, dritten Besuch vorbereiten (10,2; 12,14.20; 13,1), der nicht wieder so schmerzhaft ablaufen soll, wie der zweite (2,1-4). Die Eröffnung 10,1-11 bringt dieses Anliegen kämpferisch zum Ausdruck. Sie betont - gegen anders lautende Vorwürfe (V. 1.10) - die Durchsetzungsfahigkeit des Paulus im persönlichen Auftreten und zeigt, dass das Ziel des vorliegenden Briefs darin besteht, ein solches Auftreten nicht nötig werden zu lassen. 10,12-18 ist ein schwer verständlicher Abschnitt. V. 12 präludiert schon den Selbstvergleich mit den Gegnern (11,5-15). Der wiederholte Bezug auf ein bestimmtes Maß und auf die Festlegung eines Arbeitsgebiets erinnelt an das Jerusalemer Abkommen (GaI2,8f.; - D.ll.). Den Gegnern wird anscheinend vorgeworfen, sich daran nicht gehalten zu haben. Zugleich wird die Existenz der korinthischen Gemeinde zum Argument im Streit um die wahre apostolische Autorität. 11,1-15 könnte man als ausführliche Einleitung zur Narrenrede (dazu gleich) beurteilen. Allerdings besitzen die V. 2-15 noch nicht die stark ironische und parodistische Färbung, die für die Narrenrede typisch ist. Vielmehr drängen sich zunächst direkte Kritik an der Gemeinde (V. 2-11: die Aufnahme der Gegner, die Missdeutung des Unterhaltsverzichts) und Polemik gegenüber den Gegnern (V. 12-15: Satansdiener) in den Vordergrund. Mit 11,16-21 wird nun aber 11, I wieder aufgenommen und die Narrenrede (11,16-12,13) eröffnet. Paulus begibt sich hier in eine indirekte Auseinandersetzung mit den Gegnern, indem er in die Rolle eines Narren schlüpft. Damit löst er die schwierige Situation, sich verteidigen zu müssen, ohne dabei die Maßstäbe der Gegenseite zu übernehmen. Er will nicht nur nachweisen, dass er Apostel ist, sondern auch, dass ein Apostel anders aussehen sollte, als seine Gegner meinen. Deshalb kann er nicht in einen direkten Wettbewerb eintreten. Nur in der Maske eines Narren ist es ihm möglich zu zeigen, dass er den Gegnern sogar nach deren Maßstäben überlegen ist, zugleich aber auch, dass nur ein Narr solche Maßstäbe anlegen würde. 11,16-21 zeigt einleitend dieses Anliegen der Narrenrede. In 11,22-12,10 folgt ein ironisch gebrochener Selbstruhm, der sich auf Herkunft (11,22), Leistungen (11,23-33), Visionen und Offenbarungen (12,1 -I 0) bezieht. Die NalTenrede wird mit 12,11-13 abgeschlossen, wo Paulus im Rückblick sein Anliegen noch einmal formulielt und sein Vorgehen rechtfertigt. 12,14-13,10, der letzte Teil von Kap. 10-13, greift auf das angekündigte Besuchsvorhaben zurück und bereitet es weiter vor. Dieser Besuch wird den von der Gemeinde missdeuteten Unterhaltsverzicht bekräftigen (12,14-18).
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Beftirchtungen zu Missständen in der Gemeinde und zu einem Scheitern des Besuchs werden laut (12,19-21), aber Paulus betont auch erneut seine Durchsetzungsfähigkeit (13,1-4). Mit Mahnungen, Warnungen und Gebetswünschen (13,5-10) wird dieser Teil abgeschlossen. 1.2.4 Die übrigen Texte des Briefkorpus Das Briefkorpus beginnt mit 1,12-14, wo Paulus Thema und Anliegen des ganzen Briefs thesenartig formuliert: Es geht um die richtige Beurteilung seiner Tätigkeit und seines Verhältnisses zur Gemeinde. Aus der teilweise zutreffenden Einschätzung durch die Korinther soll eine vollständig zutreffende werden, indem der Brief existierende Vorbehalte zur Verlässlichkeit und Transparenz des Paulus ausräumt. Dadurch würde aus dem Ruhm, den Paulus bisher nur ftir sich selbst verbucht, ein gegenseitiger Ruhm. Mit 1,15 beginnt eine Erzählung, die allerdings wegen vieler argumentierender und ermahnender Einschübe nur schwer als solche zu erkennen ist und im Kern etwa so lautet: "Obwohl ich es vorgehabt hatte, bin ich nicht mehr zu euch gekommen, was aber kein Mangel an Zuverlässigkeit war, denn ich habe (wie auch ihr selbst) Anteil an der Verlässlichkeit Gottes (1,15-22); der Verzicht auf meinen Besuch lag vielmehr in unserem gegenseitigen Interesse, denn er hat euch und mir Schmerzen erspart (1,23-2,2). Statt des Besuchs habe ich euch einen Brief (den sogen. Tränenbrief) geschrieben, der schon schmerzlich genug war (2,3f.); dieser Brief hat seinen Zweck weitgehend erfiHlt und dazu geftihrt, dass ihr euch von einem Gegner distanziert habt, dem ihr jetzt aber verzeihen sollt (2,5-11)." In 2,12f. setzt Paulus diese Erzählung nicht fort, sondern greift auf ein früheres Stadium seiner Geschichte mit der Gemeinde zurück, nämlich auf die Zeit, als er vom Erfolg des gerade erwähnten Briefs noch nichts wusste. Er versetzt sich und die Leser/innen fiktiv in eine Situation, die erzählerisch zwischen 2,4 und 2,5 einzuordnen wäre: Die Reaktion der Gemeinde auf den Tränenbrief ist noch offen, Paulus noch in großer Unruhe. Dieser ungewisse Schwebezustand wird zum erzählerischen Rahmen für die große theologische Abhandlung 2,14-7,4. Die erfolgreiche Missionsreise (2,12) und ihr Abbruch aus Sorge (2,13) sind Vorzeichen, unter denen die folgenden Ausftihrungen ab 2,14 zu lesen sind. Diese Einftihrung passt gut zur realen Situation des Paulus, die zur Zeit der Abfassung von Erfolg und Sorge geprägt war. Der Tränenbrief konnte offenbar nicht alle Schwierigkeiten bei der richtigen Beurteilung des Paulus als Diener des Evangeliums lösen; manche sind durch ihn Uberhaupt erst entstanden. Diese Schwierigkeiten behandelt Paulus in einer grundsätzlichen Legitimation seines Dienstes (2,14--7,4). 7,5 knüpft deutlich an 2,13 an. Jetzt erst kommt zur Sprache, wie und wann Paulus vom Erfolg des Tränenbriefs erfahren hat (7,5-16). Titus hat ihm, als es endlich zu einem Treffen kam, vom Schmerz und von der Umkehr der Gemeinde erzählt. Auffällig ist, dass hier (im Unterschied zu 2,3-1 I) der Trä-
D. V. Der zweite Korintherbrief (Thomas Schmeller)
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nenbrief als voller Erfolg gewertet wird. Von irgendwelchen bleibenden oder neu entstandenen Spannungen ist nicht die Rede. Briefeingang 1,1-11 Briefkorpus 1,12-13,10
Präskript: Anschrift und Gruß 1,lf. Proömium 1,3-11 Brieflhema und -anliegen 1,/2-/4 Rückblicke /,/5-2,/3 Rückblick 1 1,15-2,11 Änderung der Reisepläne 1,15-2,2 Ein früherer Brief und seine Wirkung 2,3-11 Rückblick 11 2,12f. Erfolgreiche Mission 2,12 Sorge um Titus 2,13 Der apostolische Dienst des Paulus 2,/4-7.4 Einleitung und Thema 2,14-17 Der herrliche Dienst des neuen Bundes 3,1-4,6 Die Verborgenheit des neuen Lebens 4,7-5,10 Der Dienst der Versöhnung 5,11-6,10 Appelle und Mahnungen 6,11-7,4 Gemeinschaft mit Paulus 6,11-13 Absonderung von Ungläubigen 6,14-7, I Gemeinschaft mit Paulus 7,2-4 Rückblick IJJ: Trost durch die Nachrichten des Titus 7,5-/6 Die Kollekte in der Gemeinde 8,/·9./5 Aufforderung 8,1-15 Durchführung 8,16-9,5 Abschluss 9,6-15 Auseinandersetzung mit Gegnern 10,1-13,10 Einleitung: Die Durchsetzungsfll.higkeit des Paulus 10,1-11 Beachtung des Maßes 10,12-18 Kritik an Gemeinde und Gegnern 11,1-15 Fehler der Gemeinde 11,1-11 Die wahre Identität der Gegner 11,12-15 Narrenrede 11,16-12,13 Einleitung: Selbstruhm in Verrücktheit 11,16-21 Selbstruhm 11,22-12,10 Herkunft 11,22 Dienst 11,23-33 Visionen und Offenbarungen 12,1-10 Abschluss und Zusammenfassung 12,11-13 Besuchsankündigung 12,14-13, I 0 Die Unterhaltsfrage 12,14-18 Missstände in der Gemeinde 12,19-21 Ankündigung kraftvollen Wirkens 13,1-4 Abschluss: Mahnung, Warnung, Gebet 13,5-10
Briefschluss 13,11-13
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
2. Entstehung
2.1 Die Frage der Einheitlichkeit Der 2 Kor stellt vor erhebliche Schwierigkeiten, wenn man ihn in seiner überlieferten Form als eine von Paulus verfasste Texteinheit verstehen will. Während die Exegese bei den übrigen Paulusbriefen heute meist mit 'Einheitlichkeit rechnet, nimmt sie beim 2 Kor mehrheitlich nach wie vor eine Briefkompilation an. Immerhin werden heute einfache Entstehungsmodelle bevorzugt. Eine wachsende Minderheit spricht sich für die Einheitlichkeit auch dieses Briefs aus.
2.1.1 Die Probleme Die größten Schwierigkeiten bieten folgende Abschnitte: 2,14-7,4; 6,14-7,1;
8;9; 10-13. I, I 5-2, 11 gibt einen Einblick, wie sich das Verhältnis zwischen Paulus und Gemeinde in der letzten Zeit entwickelt hat. Der "Tränenbrief" (2,4), den er ihr statt eines angekündigten Besuchs geschrieben hat, hat zwar einerseits zu Klagen über seine Unzuverlässigkeit geführt. Andererseits aber hat er sein Ziel en'eicht und die Gemeinde dazu veranlasst, ein Gemeindemitglied, das gegen Paulus aufgetreten war, zu bestrafen. Woher Paulus von diesen Wirkungen seines Briefs weiß, bleibt hier offen. Aus 7,5-12 ist erkennbar, dass es Titus war, der ihm die Nachricht überbracht hat. Statt auf dieses Treffen mit Titus einzugehen, schildert Paulus in 2,12f. seine Unruhe in der Zeit, in der er vom Erfolg des Briefs noch nichts wusste. Hier beginnt nun mit 2,14 eine große Apologie, in der Paulus seinen Dienst als Apostel legitimiert und verteidigt. Erst in 7,5 wird der Erzählfaden von 2,13 wieder aufgenommen. In dem Textstück 2,14-7,4 sehen viele Exeget/innen aus vor allem zwei Gründen einen sekundären Einschub: 1. Aus der versöhnlich gestimmten Erzählung wird ab 2,14 eine apologetische Argumentation, in der Paulus um Versöhnung werben muss (6,11-13; 7,2-4) und die sich auch nicht mehr auf die konkrete Interaktion mit der Gemeinde bezieht, sondern auf einer' allgemeinen Ebene den Dienst des Paulus behandelt. 2. Die Ränder, 2,13 und 7,5, beziehen sich eng auf einander. J. WEISS hat sogar formuliert, sie passten zusammen "wie die Bruchstellen eines Ringes" (1. WEISS 265). Der Abschnitt 6,14-7, I wird oft ausgeschieden. Er steht nicht nur in Spannung zu seinem Kontext, sondern weist auch viele unpaulinische Kennzeichen auf. Nach dem Appell in 6,11-13, Paulus Raum zu geben, wirkt die sehr allgemeine Mahnung, sich von der heidnischen Umwelt abzusondern, die zudem noch zum großen Teil aus atl Zitaten besteht, unvermittelt und unmotivie11. 7,2 knüpft bestens an 6,13 an, so dass der dazwischen stehende Text sekundär sein könnte. Die unpaulinischen Merkmale liegen auf der Ebene des Vokabu-
D.V. Der zweite Korintherbrief(Thomas Schmeller)
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lars (Hapaxlegomena, ungewöhnliche Verwendung paulinischer Wörter), der Argumentationsweise (die Zitationsformel, die Katenenform und die Auswahl der Schriftzitate) und der Theologie (die Vorstellung einer Befleckung und [vom Gläubigen selbst zu vollziehenden] Reinigung von Fleisch und Geist [7, I], die Forderung einer Trennung vom Heidentum schlechthin [vgl. dagegen die differenzierten Anweisungen in 1 Kor 5, I0; 7,12-16; 10,27]). Das Verhältnis der Kapitel 8 und 9 zueinander ist problematisch. In beiden Kapiteln wird das Thema der Kollekte besprochen, aber die beiden Abhandlungen nehmen keinerlei Bezug aufeinander. In 9, I könnte 1TEPI. IlEV yap (denn über) sogar darauf hinweisen, dass ein neues Thema eingeführt wird. In 8,1-5 motiviert Paulus die Korinther mit der in Makedonien offenbar bereits abgeschlossenen Kollekte. In 9,2 dagegen wird erwähnt, dass er die Makedonier bei ihrer offenbar noch laufenden Kollekte mit dem Vorbild der Achaier anstachelt. Das größte Problem ist wohl das Verhältnis der Kapitel 10-13 zum vorangehenden Text. Während in Kap. 1-9 ein sachlicher Ton vorherrscht, der nur selten apologetisch oder polemisch wird, begegnet ab 10,1 ein durchgängig scharfer, polemischer Ton. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil diese Härte den Spendeneifer der Gemeinde, an den Paulus zuvor in Kap. 8f. appelliert hat, eher dämpfen als fördern dürfte. Das Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde erscheint in 10-13 anders als in 1-9. Während der erste Teil ein relativ gutes, (mit Einschränkungen) vertrauensvolles Verhältnis vorauszusetzen scheint, bekämpfen die Kap. 10-13 mit harter Kritik und beißendem Sarkasmus den Einfluss von Fremdmissionaren auf die Gemeinde. Davon, dass Paulus Vertrauen zur Gemeinde hat, ist kaum mehr etwas zu spüren. Mit diesen Beobachtungen wird oft die Notiz von 2,4 verbunden: Paulus hatte bei einer früheren Gelegenheit "unter vielen Tränen" einen Brief geschrieben. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Brief ganz oder fragmentarisch in 10-13 enthalten ist, zumal hier ein früheres Stadium des Konflikts mit Gemeinde und Gegnern vorliegen könnte als in 1-9. Die Kap. 10-13 wären dann älter als der Rest des Briefs.
2.1.2 Lösungsversuche Aus den beschriebenen Spannungen wurden unterschiedliche Folgerungen gezogen. Gemeinsam ist den meisten Lösungsversuchen, dass sie den vorliegenden 2 Kor für uneinheitlich halten. Dabei lassen sich die verschiedenen Teilungshypothesen auf zwei Grundmuster zurückführen: eine Zwei- und eine Dreiteilung. Bei der Zweiteilung werden 1-7 (oder 1-8 oder 1-9) von 10-13 getrennt, wobei 10-13 manchen als der frühere Brief (= der Tränenbrief), anderen als der spätere Brief gilt. Bei der Dreiteilung wird zusätzlich 2,14-7,4 aus 1-7/8/9 herausgelöst und entweder als eigenständiger, gegenüber 10-13 früherer Brief oder als ein zu 10-13 gehöriger Briefteil angesehen. Daraus
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
ergeben sich die folgenden vier Möglichkeiten (wobei wir die Zuordnung von Kap. 8f. und die Zugehörigkeit von 6,14-7, I zunächst offen lassen), die jeweils mit den Namen ihrer Begründer bzw. wichtiger Vertreter überschrieben sind (Genaueres und weitere Vertreter bei R. BIERINGER):
Brief A Brief B Brief C
H. Windisch , C. K. Barrett, V. P. Furnish u. a. 2 Kor 17/8/9 2 Kor 10-13
A. Hausrath,
1. Weiss, R. Bultmann u. a.
H.-J. Klauck (NEB.NT 8) u. a. 2 Kor 10-13
W. Schmithals (Gnosis in Korinth), G. Bornkamm u. a. 2 Kor 2,14-7,4
2 Kor 1-7/8/9
2 Kor 10-13
2 Kor 10-\3; 2,14-7,4 2 Kor 1,1-2,\3; 7,5-16
1. H. Kennedy,
2 Kor 1,1-2,13; 7,5-16
Sehr viel komplizierter werden die Teilungshypothesen, wenn wir auch Kap.8f. einbeziehen. Alle denkbaren Möglichkeiten haben ihre Verfechter gefunden: Kap. 8 und 9 als Teil eines der genannten Briefe; Kap. 8 oder 9 als Teil eines der genannten Briefe; Kap. 8 und 9 als Fragmente zweier weiterer selbständiger Briefe; Kap. 8 und 9 zusammen als ein weiterer selbständiger Brief (Details bei R. BIERINGER). Gegenüber dieser Vielzahl von Teilungshypothesen wurde im 19. und 20. Jh. auch die Einheitlichkeit des 2 Kor verteidigt, die vor dem Aufkommen der kritischen Bibelwissenschaft als selbstverständlich galt. Die Gegner einer Aufteilung verweisen zunächst auf die handschriftliche Tradition, die den 2 Kor durchweg als Einheit überliefert. Daneben werden von ihnen die für die Teilung vorgebrachten, oben genannten Argumente relativiert.
2. 1.3 Rhetorische Ansätze Seit den 70er Jahren des 20. Jh. wurde die Rhetorik von der Exegese wiederentdeckt. Wenn es möglich wäre, bestimmten Abschnitten des 2 Kor die Funktion bestimmter rhetorischer Elemente zuzuweisen, dann könnten sich daraus Einsichten in den Aufbau des 2 Kor bzw. seiner Bestandteile ergeben. Damit hätten wir möglicherweise neue Argumente für die Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit des 2 Kor. Allerdings führen die konkreten Versuche einer rhetorischen Analyse zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Liegt in 10-13 wirklich eine abschließende, emotional wirksame Zusammenfassung (peroralio) vor (so F. W. DANKER, P. BARNETT, J. W. THOMPSON), die also von 1-9 nicht abzutrennen ist? Oder sind die Kap. 1-7 rhetorisch so sinnvoll aufgebaut und in sich vollständig, dass keine Fortsetzung mehr zu erwarten ist (so D. A. DESILVA, Measuring; Meeting)? Beginnt mit 2,14 die argumentatio, also die (auf die nar/'atio notwendig folgende) eigentliche Beweisführung (so H.-
D.V. Der zweite Korintherbrief(ThoOlas Schrneller)
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M. WüNSCH), oder aber eine neue Brieferöffnung (exordium), mit der ursprünglich ein selbständiger Brief begann (so F. W. HUGHES, Rhetoric; Criticisrn)? Die Divergenz dieser (und anderer) Versuche zeigt, dass die Rhetorik offenbar nicht in der Lage ist, die strittige Frage nach der Einheitlichkeit des 2 Kor konsensfähig zu beantworten. Zudem ist es auch keineswegs selbstverständlich, dass man rhetorische Kriterien, die für die Produktion von Reden entwickelt wurden, sachgemäß für die Analyse von (Paulus-)Briefen heranziehen kann (-- D.1.5).
2.1.4 Bedingungen der Redaktion Insbesondere ältere Veröffentlichungen zur Frage der Einheitlichkeit sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ohne große Bedenken einen Redaktor annahmen, der zu jeder Art von Eingriffen in den Text bereit und fähig war und dessen Redaktionsarbeit wir auch heute noch nachvollziehen können. In der letzten Zeit macht sich hier größere Skepsis breit. Dies gilt insbesondere gegenüber komplizierten Annahmen wie der von G. BORNKAMM: Die Kap. 1013 seien von einem Redaktor ans Ende der Kompilation gesetzt worden, "um so die Gegner des Paulus als falsche Propheten der Endzeit zu kennzeichnen, der Briefsammlung selbst ein apokalyptisches Siegel und unanfechtbare, testamentarische Gültigkeit zu verleihen und damit zugleich dem Bild des Apostels selbst einen vermehrten Glanz zu geben" (G. BORNKAMM 258). Die sekundär eingeschobene Apologie in 2,14-7,4 zeige "die Anschauung eines späteren Sammlers und Herausgebers, der rückblickend auch jene Reise des Paulus von Ephesus über Troas nach Mazedonien im Lichte des Triumphzuges sieht, den der Völkerapostel vollbracht hat" (260). Diese Annahmen sind mehrfach kritisiert worden und werden heute kaum mehr vertreten. Immerhin hat sich G. BORNKAMM aber über die Intention und Vorgehensweise des Redaktors Gedanken gemacht, was seinen Entwurf gegenüber vielen anderen auszeichnet. Erstaunlicherweise spielt die Frage nach vergleichbaren Briefkompilationen außerhalb des NT in der Forschung so gut wie keine Rolle. Dabei liegt es doch nahe, antike nichtchristliehe Briefkorpora auf analoge Erscheinungen hin zu untersuchen. Wenn es damals wirklich möglich gewesen sein sollte, Briefe miteinander zu verschmelzen, dürfte das auch in anderen Zusammenhängen erkennbar sein. Erst in neuester Zeit gibt es Versuche, speziell die Cicerobriefe (als das für unsere Frage ergiebigste Korpus) zu analysieren (H.J. KLAUCK, Compilation; T. SCHMELLER, Cicerobriefe). Daraus ergibt sich: l. In den Korpora der Cicerobriefe sind in der Tat viele Kompilationen enthalten. 2. Diese Kompilationen sind z. T. wohl zufällig entstanden (Verlust eines Blattes, Übersehen eines Briefendes durch den Abschreiber), z. T. technisch bedingt (Arbeitsökonomie, Einsparen von Schreibmaterial), z. T. auch mit
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
literarischen, biographischen oder historiographischen Motiven zu erklären. 3. Die Redaktion ist konservativ, nimmt sich also wenige Freiheiten heraus. Aus den Einzelbriefen wird häufig durch serielle Addition bei Bewahrung der Briefanfänge und -schlüsse eine fortlaufende Erzählung in Form von Briefen. Für den 2 Kor bedeutet das: Man könnte seine Einheitlichkeit trotz Spannungen damit verteidigen, dass auch Cicero seine Briefe z. T. im Verlauf mehrerer Tage verfasst hat oder an fertige Briefe nach dem Eintreffen neuer Nachrichten ein Postskript angehängt hat. Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass Postskripte bei Cicero immer als solche kenntlich gemacht werden. Auch die Annahme von Uneinheitlichkeit kann sich auf Cicero berufen. Allerdings ist die Dreiteilung dann unwahrscheinlich, denn es findet sich bei Cicero keine Interpolation eines eigenständigen Briefs oder Brieffragments. Die Zweiteilung mit redaktioneller Umkehrung der Abfolge (A. HAUSRATH, J. H. KENNEDY u. a.) ist ebenfalls nicht wahrscheinlich zu machen, denn zu solchen Umstellungen ist es bei Cicero nur durch Zufall gekommen. Die Überlieferungsbedingungen der Paulusbriefe sind aber (schon wegen der geringen Zahl) so verschieden, dass mit zufälligen Umstellungen hier nicht zu rechnen ist. Von Cicero her lässt sich allenfalls eine Briefverschmelzung in der richtigen Reihenfolge annehmen. Auch dabei gibt es aber Probleme, denn in den Cicerobriefen wird gerade kein Anschein von Einheitlichkeit erweckt, sondern die Kompilationen sind den Leser/innen ohne weiteres als solche erkennbar. Insgesamt wird man sagen müssen, dass mit Blick auf die Briefkorpora Ciceros allenfalls eine addierende Verschmelzung chronologisch geordneter Paulusbriefe zu 2 Kor plausibel erscheint. Allerdings wäre auch eine solche Verschmelzung unter anderen Bedingungen und mit anderen Zielen entstanden, als wir das bei den Cicerobriefen beobachten können.
2.1.5 Auswel1ung Nach wie vor scheint mir die Beweislast nicht gleichmäßig auf die Verfechter und die Bestreiter von Teilungstheorien verteilt. Die Tatsache, dass 2 Kor uns nur als einheitlicher Brief überliefert ist, stellt ein wichtiges Argument für die Einheitlichkeit dar, dem die Befürworter der Teilung kein einzelnes Argument gleicher Qualität entgegensetzen können. Dennoch ist es schwierig, die Einheitlichkeit des 2 Kor zu vertreten. Während manche Probleme heute als weitgehend ausgeräumt gelten (bes. der angebliche Einschub 2,14-7,4 und die KollektenkapiteI9f.), bestehen an anderen Stellen nach wie vor große Schwierigkeiten. Das betrifft zum einen die KontextsteIlung und die Authentizität von 6,14-7,1, zum anderen das Verhältnis von Kap. 1-9 und 10-13.
D.V. Der zweite Korintherbrief(Thomas Schmeller)
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2.2 Die Entstehungsverhältnisse
Jeder Versuch, die Abfolge von Besuchen und Briefen zu rekonstruieren, ist natürlich von Entscheidungen in der Frage der Einheitlichkeit abhängig. Hier können nicht alle möglichen Optionen verfolgt werden. Deshalb beschränke ich mich im Folgenden auf eine Abfolge, die auf der Annahme von Einheitlichkeit beruht. Ein erster Brief (Brief I) an die korinthische Gemeinde, der in 1 Kor 5,9 erwähnt ist, muss zwischen 51 und 54 n. Chr. geschrieben worden sein. I Kor (= Brief 1I) wurde vermutlich im Frühling 54 oder 55 von Ephesus aus geschickt (-+ D.IV.2.3). Etwa zur seI ben Zeit fand wahrscheinlich ein erster Besuch des Titus in Korinth statt, der die Kollekte in Gang bringen sollte (2 Kor 8,6). Paulus selbst hatte geplant, nach dem Pfingstfest vermutlich des Jahres 55 über Makedonien nach Korinth zu kommen und dort längere Zeit zu bleiben (I Kor 16,5-8). Diesen Plan hat er in der Folgezeit mehrfach geändert, wobei nicht mehr alle Details erkennbar sind. Die erste Änderung war, dass er der Gemeinde offenbar statt eines einfachen einen doppelten Besuch abstatten wollte (2 Kor I, 15f.). Auch von diesem Plan wich er aber ab, vermutlich deshalb, weil gegnerische Missionare in Korinth aufgetaucht waren und in der Gemeinde gegen Paulus Stimmung machten. Entsprechende Nachrichten des Timotheus, evtl. auch des Titus, veranlassten ihn zu einem sog. Zwischenbesuch. Dieser ist nicht eindeutig bezeugt, aber aus 2 Kor 12,14; 13, I mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erschließen. Er führte zu einer für Paulus schmerzhaften Konfrontation mit einem Gemeindemitglied (2,5; 7,12). Worum es ging, ist kaum metu· zu erhellen. Jedenfalls kündigte Paulus beim Zwischenbesuch einen weiteren, diesmal schonungslosen Besuch an (13,2). Auch diesen Plan änderte er aber später. Statt erneut zu kommen, schrieb er von Ephesus aus den sog. Tränenbrief (2,1-4; 7,8), den wohl Titus überbringen sollte. Nachdem Titus mit dem Brief abgereist war, unternahm Paulus eine weitere Missionsreise nach Troas (oder in die Landschaft Troas; 2,12). Die Mission dort verlief vielversprechend. Dennoch reiste er aus Sorge um die korinthische Gemeinde vorzeitig nach Makedonien ab (2,13). Als er dort schließlich Titus traf, erhielt er von ihm gute Nachrichten aus der Gemeinde: Sie hatte sich mehrheitlich auf die Seite des Paulus gestellt und das Gemeindemitglied, das gegen Paulus aufgetreten war, bestraft (7,6f.; 2,6). Damit waren allerdings noch nicht alle Probleme gelöst. Es gab in der Gemeinde offenbar immer noch Vorbehalte gegen Paulus, die der Tränenbriefvielleicht sogar verschärft hatte. Zudem waren die Gegner nach wie vor aktiv. Deshalb schrieb Paulus einen weiteren Brief, unseren 2 Kor (= Brief 1II, vermutlich 55 n. Chr.), den wahrscheinlich Titus und zwei Brüder überbrachten (8,16-24). Er drückt die Freude des Paulus über die erzielte Gemeinschaft aus (7,5-16). Vor allem aber wirbt Paulus um eine tiefer gehende Gemeinschaft (1,12-7,4), die sich auch in der Kollekte für Jerusalem manifestieren soll (8f.). Gleichzeitig kämpft er gegen diejenigen, die diese Gemeinschaft gefährden (10-13). Mit
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Blick auf die gegnerischen Fremdmissionare kündigt er einen dritten, diesmal schonungslosen Besuch an (13,2). Über den weiteren Verlauf der Beziehung zur Gemeinde besitzen wir keine direkten Nachrichten. Immerhin kann man aus Apg 20,2f.; Röm 15,26; 16,23 wahrscheinlich schließen, dass Paulus wirklich ein drittes Mal nach Korinth reiste, dort die KoUekte abschloss und den Röm schrieb (56 n. Chr.). Das würde bedeuten, dass er den Kampf um die Gemeinde flir sich entscheiden konnte.
3. Diskurs Der 2 Kor ist in gewissem Sinn der persönlichste Paulusbrief. Er lässt besonders gut erkennen, wie Paulus seinen Dienst verstanden hat. Ausgehend von Angriffen der Gegner und Vorbehalten der Gemeinde, aber ohne bei diesen stehen zu bleiben, entwickelt Paulus eine eigene Konzeption des apostolischen Dienstes. Einige Aspekte soUen im Folgenden skizziel1 werden.
3.1 Die Gegner in Korinth Beim Überblick zu den Entstehungsverhältnissen spielten bereits Personen eine Rolle, die in der korinthischen Gemeinde gegen Paulus auftraten. Wir unterschieden zwischen einem einzelnen Gemeindemitglied und einer Gruppe von Missionaren, die von außen (11,4) in die Gemeinde kamen. Diese Personen gilt es jetzt genauer in den Blick zu nehmen. Zunächst ist das Verhältnis von gemeindeinterner und -externer Opposition näher zu bestimmen. Der in 2,5; 7,12 (und wohl auch in 12,21) angesprochene VorfaU hat sehr verschiedene Rekonstruktionen erfahren, weil der Täter, seine Tat und die Reaktionen der Gemeinde sehr unbestimmt bleiben. Die traditioneUe, bis ins 20. Jh. hinein übliche, heute aber nur noch selten (z. B. von U. BORSE 290-292; B. BOSENIUS 31-39; D. R. HALL 227-235; N. HYLDAHL 305f.) vertretene Erklärung verbindet den VorfaU mit 1 Kor 5,1-5, wo Paulus die Bestrafung eines Christen fordert, der eine sexueUe Beziehung zu seiner Stiefmutter hatte. Trotz einiger Ähnlichkeiten zwischen den beiden Fällen ist eine Gleichsetzung schwer möglich. Das Hauptproblem dieser Deutung ist die Art der von Paulus geforderten bzw. vorausgesetzten Bestrafung: In I Kor 5 fordert er den dauerhaften Ausschluss des Übeltäters, der offenbar erst bei der Parusie Begnadigung erfahren soU, während 2 Kor 2 nicht den Eindruck macht, als habe Paulus je eine so weitgehende Strafe im Sinn gehabt. Die heute meistvertretene Erklärung sieht den Bestraften als ein Gemeindemitglied, von dem Paulus bei seinem Zwischenbesuch beleidigt und gedemütigt (12,21) wurde. Oft, aber nicht immer wird eine Beziehung zu den von außen kommenden Gegnern angenommen. Eine Umkehr der Gemeinde war
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deshalb nötig, weil sie sich zunächst jedenfalls nicht klar auf die Seite des Paulus gestellt hatte. Erst nach dem Tränenbrief ergriff sie deutlich Partei und bestrafte den betreffenden Christen. Auch wenn diese Annahmen nicht ohne Probleme sind (vgl. M. E. THRALL, ICC 66-68.171 f.), werden sie m. E. dem Textbefund am ehesten gerecht. Schon der Zwischenbesuch selbst war ja wohl durch Nachrichten über die erfolgreiche Agitation gegnerischer Missionare veranlasst. Der Eklat bei diesem Besuch ist deshalb davon kaum unabhängig. Damit stehen wir bei der Frage nach den von außen kommenden Gegnern, die vor allem, aber nicht nur (vgl. 2,17; 3, I; 5,12) in den Kap. 10-13 begegnen. Die exegetische Forschung ist bei ihrer Rekonstruktion zurückhaltender geworden, als sie es früher war. Es gibt im Wesentlichen vier große, breit rezipierte Hypothesen zur Identität der Gegner. I. Sie waren judaisierende Gegenmissionare, wie sie z. B. auch in Phil 3 erkennbar sind (vgl. Phil3,4f. mit 2Kor 11,2If.; so J.GNILKA 213; E. E. ELLis 108f.). Der Konflikt mit Paulus liegt in dieser Sicht darin, dass die Gegner die korinthischen Heidenchristen auf das ganze Gesetz, also auch auf die Beschneidung und die jüdischen Reinheitsgebote, verpflichten wollten. 2. Die Gegner sind wegen ihres pneumatischen Enthusiasmus als Gnostiker zu bestimmen. Sie gehörten zur seI ben Front wie die in I Kor bekämpften Gegner (so W. SCHMITHALS, Gnosis und NT 28-33). 3. Die Gegner waren jüdisch-hellenistische Wandermissionare, die sich als 8ELOL ävlipE!; (göttliche Männer) verstanden (so D. GEORGI). Sie demonstrierten ihren Geistbesitz durch ekstatische Phänomene, Wunder und ihre Interpretation der Schrift. 4. Die Gegner (= die IVEUÖa.1t6crtOAot [falsche Apostel] von 11,13) waren apostolische Visitatoren, die im Auftrag der Urapostel in Jerusalem (= die u7lSpAlav anocrtoAotlSuperapostel von 11,5) die apostolische Autorität des Paulus in Frage stellten (so E. KÄSEMANN). Die Probleme und Unsicherheiten der Rekonstruktion sind so groß, dass solche Entwürfe heute oft mit Skepsis betrachtet werden. Man beschränkt sich gerne auf das, was dem 2 Kor eindeutig zu entnehmen ist (wobei in der Regel angenommen wird, dass die Gegner in Kap. 1-7 und in Kap. 10-13 dieselben waren [vgl. J. L. SUMNEY, Identifying 182f.], auch dann, wenn diese Texte zwei verschiedenen Briefen zugeschrieben werden). Die Gegner waren Judenchristen. Sie waren stolz auf ihre jüdische Herkunft (11,22). Eine Beschneidungsforderung ist allerdings nicht belegt. Sie verstanden sich als "Apostel", auch wenn sie für Paulus "falsche Apostel" waren (11,13). Offenbar unterschied sich ihr Apostelbegriff von dem des Paulus. In der Sicht der Gegner gehörte es zu einem Apostel, den göttlichen Geist zu besitzen. Dies sollte er durch rhetorische Qualitäten (11,5f.), durch Visionen (12,1) und durch Wundertätigkeit (12, Ilf.) beweisen können. Außerdem sollte ein Apostel in ihrer Sicht in eine Art Austausch mit der Gemeinde eintreten, d. h. das Evangelium gegen Unterhalt verkünden (11,20). Die Gemeinde sollte also für den Apostel sorgen. Dazu gehörte auch, dass sie ihm über Empfehlungsbriefe den Weg zu
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anderen Gemeinden öffnete (3,1). In beiden Punkten blieb Paulus hinter den Erwartungen zurück. Den Gegnern und manchen Gemeindemitgliedern war sein Auftreten nicht eindrucksvoll und kraftvoll genug, um das Wirken des Geistes anzuzeigen (10, I 0). Außerdem verzichtete er bewusst und mit Entschiedenheit auf sein Unterhalts recht und verdiente sich lieber seinen Lebensunterhalt durch eigene Handarbeit (I 1,7). Aus diesem Überblick ergibt sich: Der Hauptstreitpunkt war, dass die Gegner die apostolische Legitimität des Paulus bezweifelten, weil er ihre Kriterien für einen Apostel nicht erfüllen konnte oder wollte. Weniger wichtig waren dagegen Differenzen im Blick auf die Evangeliumsverkündigung (auch wenn Paulus davon spricht, dass die Gegner "einen anderen Jesus" und "ein anderes Evangelium" mitbrachten, I 1,4). Die fremden Missionare betrieben - anders als die Gegner etwa in Galatien - keine programmatische, judaistische Gegenmission zu Paulus. Hinter ihrer Polemik gegen den Gemeindegründer standen wohl nicht so sehr theologisch begründete Differenzen als vielmehr der Wunsch, in der Gemeinde persönlichen Einfluss und Prestige zu gewinnen.
3.2 Das Verhältnis zur Gemeinde
Nirgends im 2 Kor werden die Gegner direkt angesprochen. Durchweg ist der Adressat des Briefs die Gemeinde. Allerdings sind bes. in Kap. 10-13 die Gegner im Hintergrund der Kommunikation zu erkennen. Der Brief setzt eine gestörte Beziehung zur Gemeinde voraus und versucht, diese Störung zu beheben. Das sei an zwei Texten verdeutlicht.
3.2.1 Die Texteinheit 1,12-14 Paulus formuliert im Anschluss an das Proömium, am Beginn des eigentlichen Briefkorpus, thesenartig Thema und Anliegen des gesamten Briefs. Vieles ist dabei schwer verständlich, weil wir nicht sicher wissen, ob er hier auf konkrete Vorwürfe reagiert und wie solche gegebenenfalls aussahen. Am ehesten lässt sich wahrscheinlich machen, dass ihm zum einen im Zusammenhang mit der Kollekte zweifelhafte, selbstbezogene Motive unterstellt wurden (EV ooct>t.;t oapKLKU/in fleischlicher Weisheit): Paulus verzichte nur dazu auf finanzielle Unterstützung, um sich dann an der Kollekte schadlos zu halten (vgl. 12,1618). Zum anderen ist von einer anderen Stelle her unbestreitbar, dass ihm der Vorwurf gemacht wurde, seine Briefe und sein persönliches Auftreten passten nicht zusammen: "Denn die Briefe - so wird gesagt - sind gewichtig und stark, seine körperliche Präsenz aber ist schwach und seine Rede nichts wert" (2 Kor 10,10). Eben dieser Vorwurf könnte hinter 1,13 stehen; dann wäre etwa zu übersetzen: "Denn wir schreiben euch nichts anderes, als was ihr beim Lesen (wieder) erkennt". Möglich ist allerdings auch, dass Paulus in diesem
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Vers die Eindeutigkeit seiner Briefe verteidigt. Dann wehrt er sich gegen VorwUrfe, die Briefe seien entweder schwer verständlich und unklar, oder sie seien sogar bewusst zweideutig und mit verstecktem Sinn geschrieben; jedenfalls sei den Briefen seine wahre Meinung nicht zu entnehmen. Wie dem auch sei: Thema des Briefs ist die richtige Beurteilung der paulinischen Tätigkeit und seines Verhältnisses zur Gemeinde. Das Briefanliegen besteht darin, die bisherige Beurteilung durch die Adressaten an die anzugleichen, die Paulus selbst vornimmt. Dadurch soll der Ruhm, den er sich und seinem Wirken zuschreibt, zu gegenseitigem Ruhm werden. Dazu mUssen existierende Vorbehalte ausgeräumt werden.
3.2.2 Die Texteinheit 1,15-17 Bisher hat sich ergeben: Das Verhältnis zur Gemeinde war belastet. Die Gemeinde hatte ein negatives Bild von Paulus, das sich vermutlich aus mehreren verschiedenen Vorbehalten speiste. Neben den bereits genannten Punkten (fj·agwUrdiger Unterhaltsverzicht, mangelnde Transparenz, schwaches Auftreten) wurde ihm wohl auch Unzuverlässigkeit vorgeworfen. In 1,15-17 verteidigt er sich gegen den Vorwurf der EAacj>pLa/Leichtfertigkeit im Zusammenhang mit seinen geändelten Reiseplänen. Es ist unmöglich, die Reihenfolge der Pläne, die GrUnde ihrer Änderung und die Umstände ihrer Kommunikation an die Gemeinde im Detail nachzuvollziehen. Klar ist jedenfalls, dass Paulus seine Besuchspläne in Korinth mehrfach geändelt hat, wobei wohl auch die unangenehme Erfahrung anlässlich des Zwischenbesuchs (~ 2.2) eine Rolle spielte. Aus I, 17a ist zu erschließen, wie das bei der Gemeinde (oder Teilen von ihr) ankam: Sie hatte den Eindruck, er verspreche leichtfertig Besuche und nehme dann ebenso leichtfeltig davon wieder Abstand. Das war mehr als nur der Vorwurf einer gewissen Oberflächlichkeit. In I, I 7b wird nämlich die Deutung auf der Gemeindeseite erkennbar, er plane KatcX oapKa (dem Fleisch entsprechend), also außerhalb der Sphäre des Geistes. Diesem Problem sind wir schon in 1,12 begegnet (vgl. 10,2). Dass es sich um einen ernsten Vorwurf handelt, wird dadurch bestätigt, dass Paulus mit einem grundsätzlichen theologischen Exkurs darauf reagiert (1,18-22). Den Bezug und die Funktion dieses Exkurses zu bestimmen, ist nicht ganz einfach. Vermutlich ist der Gedankengang so: Die paulinische Verkündigung ist zuverlässig und entspricht darin der Zuverlässigkeit Gottes, der in Christus seine Verheißungen eingelöst hat. Diese Entsprechung bestätigen die Korinther selbst, die auf die paulinische Predigt hin zum Glauben gekommen sind und damit an der Verlässlichkeit Gottes Anteil bekommen haben. Wie weit an diesen Belastungen die Gegner schuld sind, können wir nicht mehr rekonstruieren. Immerhin entsprechen zwei der genannten VorwUrfe dem, was wir von den Gegnern wissen: Sie legten Wert auf ein eindrucksvolles Auftreten, in dem ihrer Meinung nach die Präsenz des Geistes erkennbar
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
war; und sie hielten es für angemessen, dass Apostel ihren Unterhalt von der Gemeinde bezogen.
3.3 Der Dienst des Paulus Wie gesagt: Paulus geht von den Vorwürfen der Gegner und den Vorbehalten der Gemeinde aus, bleibt aber nicht bei ihnen stehen, sondern entwickelt eine ganz eigene, besondere Konzeption seines apostolischen Dienstes. Diese Konzeption ist nirgends in der paulinischen Korrespondenz so explizit und klar formuliert wie im 2 Kor. Das Problem des Unterhaltsverzichts spielt dabei nur eine relativ geringe Rolle. Zwar hebt Paulus diesen Verzicht wiederholt hervor, verteidigt ihn gegen Missdeutungen (12,14-18) und nennt ihn seinen "Ruhm" (KIUJXTJO u;, I I, I 0), den er den Gegnern voraus hat und auf den er auch in Zukunft nicht verzichten will. Aber das ist nur ein besonderer Aspekt der umfassenderen Frage, wie Paulus sich als Apostel legitimiert. Eigentlich ist es diese größere Frage, um die es geht. Die Antwort fallt ambivalent aus: Den Erwartungen der Gemeinde, die von den Gegnern offenbar glänzend erfüllt wurden, wird Paulus einerseits ebenso glänzend gerecht wie diese. Zum anderen werden solche Erwartungen aber als unangemessen zurückgewiesen. Beides steht zu einander in einer gewissen Spannung, die nicht aufgelöst wird. Einerseits besteht Paulus darauf, dass er "die Zeichen des Apostels" (12,12), also das, woran die Gemeinde ihn als Apostel erkennen kann, vorgelegt hat, und zwar in "Zeichen, Wundern und Krafttaten" (12,12), also eindrucksvollen Erweisen des Geistbesitzes. Außerdem kündigt er an, beim bevorstehenden dritten Besuch die Gemeinde nicht mehr zu schonen, d. h. sich nicht mehr demütigen zu lassen (12,21), sondern mit Kraft durchzugreifen (13,1-4.10). Gleichzeitig begegnen aber Sätze wie: "Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark" (13,10), oder: "Die Kraft wird in der Schwachheit vollendet" (12,9). Besonders deutlich wird diese Ambivalenz in der Narrenrede (11,16-12,13). Paulus schlüpft in die Rolle des Narrs, um sich selbst rühmen und mit seinen Gegnern nach deren Maßstäben konkurrieren zu können. Er konkurriert auch tatsächlich, indem er auf seine Herkunft (11,22), auf seinen Einsatz im Dienst Christi (11,23), auf seine Visionen und Offenbarungen (12,1-10) und auf sein Wunderwirken (12,12) verweist. Dieser Selbstruhm wird aber nicht nur dadurch gebrochen, dass er sich eben als Ruhm eines Narren ausgibt. Sogar in der Narrenrede selbst treten andere Kriterien hervor, die Paulus offenbar viel wichtiger sind. In 11,23-33 zählt er gerade nicht das auf, was ihn konkurrenzfahig macht. Er listet vielmehr Begebenheiten auf, die in den Augen der Gegner alles andere als typisch apostolisch sind, also gerade nicht Zahlen von Bekehrungen, Gemeindegründungen und missionierten Provinzen, sondern Zahlen seiner vielfaltigen Leiderfahrungen, seiner Demütigungen und Hilflosigkeiten.
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Während die Anlage der Narrenrede insgesamt eine deutliche Ambivalenz in der Darstellung des Dienstes erkennen lässt, muss man bei manchen konkreten Texten in ihr und im 2 Kor eher von Paradoxie sprechen: Die Wirklichkeit dieses Dienstes ist ganz anders, als er nach außen hin, nach gängigen Maßstäben beurteilt, zu sein scheint. Diese Paradoxie ist gebündelt in den bereits zitierten Sätzen: "Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark" (13,10), und: "Die Kraft wird in der Schwachheit vollendet" (12,9). Ein schönes Beispiel ist der Abschnitt 2,14-17, der etwas genauer besprochen werden soll. Mit reicher Metaphorik beschreibt Paulus hier die Bedeutung und die Wirkung seines Dienstes. Er ist an einem Triumphzug Gottes und an der Verbreitung von Gotteserkenntnis beteiligt. An der Reaktion auf sein Wirken entscheiden sich Rettung oder Vernichtung, Leben oder Tod der Hörer/innen. Ein Dienst mit einem so hohen Anspruch bedarf besonderer Eignung. Daraus ergibt sich das Thema, das in V. 16 als Frage (Wer ist geeignet fur diesen Dienst?) formuliert und in V. 17 thetisch beantwortet wird: Geeignet ist Paulus, weil er ein aufrichtiger Diener des Wortes Gottes ist und seine Verkündigung von Gott ausgeht. Was zunächst wie ein klares Bekenntnis zur besonderen Hoheit dieses Dienstes aussieht, hat in Wirklichkeit paradoxen Charakter. Insbesondere die mit 8puxlJ.ßeuov'tL ~lJ.äC; (V. 14) begonnene Metaphorik bringt einen anderen Aspekt ein. Das Verbum 8pux!J.ßeuw wird an unserer Stelle sehr verschieden übersetzt und gedeutet. Die schwierige Diskussion kann hier nicht einmal angedeutet werden. Eine Herleitung von der Institution des römischen Triumphzugs ist zwar nicht unumstritten, aber die wahrscheinlichste Möglichkeit. Vermutlich heißt 8pLIXIJ.ßeuw hier "im Triumphzug mitführen". Was ist aber damit gemeint? Ist Paulus einer der mitfeiernden Teilnehmer des Triumphzugs, z. B. einer der siegreichen Generäle bzw. Soldaten (so z. B. C. K. BARRETT) oder der (weihrauchtragenden) Sklaven (so z. B. J. KÜGLER 155.170-173)? Oder wird er als einer der besiegten Feinde mitgefiihrt, die im Verlauf des Triumphs in der Regel hingerichtet werden (so z. B. M. E. THRALL, ICC 195)? Der lexikalische Befund spricht eindeutig für Letzteres: In allen vergleichbaren nichtchristlichen Belegen steht das Objekt von 6puxIlllEIi<.> auf der Seite der Besiegten. Andererseits scheint der Kontext gerade zu empfehlen, Paulus auf der Seite Gottes zu sehen. Dafiir spricht schon die Einführung mit einem Dank an Gott (2,14). Die Fortfiihrung in (j)avEpoüvtl/der offenbar macht, das zu 9PllliJ.ßEUOVtl para\lel steht, hat eindeutig einen positiven Inhalt: Gott offenbart seinen Duft gerade durch Paulus, der in V. 15 sogar selbst zum Duft wird. Dass hier ein großer Anspruch geltend gemacht wird, zeigt auch die Frage V. 16b. Der Kontext verträgt sich also schlecht mit der Annahme, Paulus werde in V. 14a als erniedrigter, entehrter Gefangener auf dem Weg zur Hinrichtung vorgefiihrt, zumal er ja - anders als der im Triumphzug Vorgefiihrte - nicht (mehr) Gottes Feind war. Besser würde es passen, ihn im Gefolge des Siegers und auf dessen Seite zu sehen. Wegen der Duftmetapher käme eher die Rolle eines Weihrauch tragenden Sklaven als die eines siegreichen Generals oder Soldaten in Frage. Wie soll man mit dieser Spannung umgehen? Eine einseitige Auflösung zugunsten des Lexikons oder des Kontexts ist nicht angezeigt.
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Mir scheinen am ehesten die Deutungen im Recht, die mit einer gewissen Paradoxie rechnen, ohne diese zu genau festlegen zu wollen. Der Ausgangspunkt ist die Leidensexistenz des Paulus, die das Bild vom Triumphzug evoziert. Diese Leidensexistenz wird als solche positiv gedeutet. Der Kontext hebt aus dem Bild vom Triumphzug eine (lexikalisch) ganz unerwartete Seite hervor, den Anteil, den Paulus am Triumph Gottes hat. Erst hier kommt die rür Metaphern typische Zumutung an die Leser/innen ins Spiel, die sich fragen müssen, ob sie eine so gewagte Verbindung mit zu vollziehen bereit sind. Gott ilihrt Paulus in einem Triumphzug besonderer Art mit, in dem zugleich die Leidensexistenz des Apostels wie seine großartige Aufgabe anschaulich werden. Paradoxie und Ambivalenz sind ilir den in 2 Kor beschriebenen Dienst des Paulus typisch. Sie begegnen z. B. in den Leidens- oder Peristasenkatalogen (4,7-12; 6,4-10; 11,23-29; 12,10), die in den Paulusbriefen nirgendwo so gehäuft auftreten wir im 2 Kor (vgl. M. EBNER). Sie begegnen z. B. auch im Nebeneinander von Kap. 3 und 4: In Kap. 3 wird dem Aposteldienst größere Herrlichkeit als dem Dienst des Mose zugesprochen; in Kap. 4 wird mit einem Peristasenkatalog (4,8f.) illustriert, dass Paulus an seinem geschundenen Leib "die Todesleiden Jesu" (4,10) herumträgt. Anders als seine Gegner, ilir die das Apostelsein auch von außen an einem eindrucksvollen Auftreten erkennbar sein musste, vertrat Paulus eine Konzeption des apostolischen Dienstes, bei dem dessen Hoheit gerade in der - als Christusförmigkeit interpretierten Niedrigkeit zu finden ist. Eine knappe Zusammenfassung bietet 4,7: "Wir haben diesen Schatz in zerbrechlichen Getaßen".
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D.VI. Der Galaterbrief (Michael Theobald)
Der Gal ist Zeugnis eines scharfen Konflikts zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden um die Berechtigung der beschneidungsfreien Heidenmission. Dabei argumentiert Paulus erstmalig ausführlich mit der sog. Rechtfertigungsbotschaft, die ein neues Verhältnis zur Tora begründet.
I. Struktur Beim Präslcript (1,1-5) sind die Erweiterungen bemerkenswert, die Paulus vornimmt. Wenn er sich als "Apostel nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen" vorstellt (I, I), greift er bereits dem Themasatz von I, Ilf. vor, und wenn er die salutatio V. 4f. mit einer traditionellen Dahingabefonnel samt Doxologie verknüpft, was er sonst nie tut, dann benennt er sogleich den Grund, auf dem sein bei den Galatern in die Krise geratenes Evangelium ruht. Weil die dortige Situation wegen Umtrieben von Fremdmissionaren so kritisch ist, erübrigen sich im Anschluss daran auch Danksagung oder Eulogie (die normalerweise zum Repertoire einer pln Brieferöffnung gehören). Stattdessen bietet Paulus ein Proömium, das mit einem scharfen Tadel einhergeht und auf eine verfremdete Selbstempfehlung hinausläuft (F. SCHNIDERIW. STENGER 57). Briefeingang 1,1-10 Briefkorpus 1,1 Hi,1O
Präskript 1,1-5 Proömium 1,6-10 Eröffnung: Propositio: Das Evangelium - "nicht nach Menschenart" 1,11r. l.
Narratio: Der Weg des pln Evangeliums 1,13-2,21 I. Die Berufung des Paulus und seine erste Missionstätigkeit 1,13-24 2. Die Anerkennung des pln Evangeliums durch die Jerusalemer Autoritäten 2,1-10 3. Der antiochenische Zwischenfall samt Rede des Paulus an Petrus 2,11-21
11. Argumentatio: Beweise fiir die Wahrheit des Evangeliums 3,1-5,12 I. 2. 3. 4. 5. 6.
Appell an die Geisterfahrungen der Galater 3,1-5 Schriftbeweis 13,6-18 Die wahre Heilsfunktion des Gesetzes 3,19-4,7 Erneuter Appell an die Einsicht der Galater 4,8-20 Schriftbeweis 114,21-31 Letzter Appell an die Galater, im Stand christlicher Freiheit zu bleiben 5,1-12
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Briefschluss
D. Die Briefe - Paulusbriefe
111. Adhortatio: Verantwortung in der Freiheit des Geistes 5,13-6,10 I. Christliche Freiheit als Dienst der Liebe am Nächsten 5,13-15 2. Leben gemäß dem Geist, nicht nach dem Fleisch 5,16-25 3. Weitere Mahnungen 5,26-6,6 4. Eschatologischer Abschluss 6,7-10 Postskript 6,11-18
6,11-18
Das Briejkorpus umfasst drei große Teile. Paulus beginnt mit einem weit ausholenden autobiographischen Rückblick (I), in dem er belegt, was er im Themasatz 1,11 f. vorweg behauptet: Sein Evangelium ist "nicht nach Menschenart", denn er hat es "nicht von einem Menschen übernommen oder gelernt, sondern durch Offenbarung Jesu Christi" empfangen. Allein vor diesem verantwortlich zu sein, bedeutet für Paulus, menschlichen Autoritäten gegenüber, so gewichtig sie sein mögen (vgl. 2,6), Selbststand bewahren zu können. Das ist das Leitmotiv seines Rückblicks insgesamt, der in eine fiktive Rede an die Adresse des Petrus samt einem Summarium seiner "Rechtfertigungslehre" einmündet (2,15-21). Diese entfaltet er sodann in der ausladenden argumentatio (11), die nacheinander die Geisterfahrung der Galater (11.1), das Zeugnis der Schrift (11.1 und 5), Tauftraditionen (3,26-29), christologisches Glaubensgut (4,4--6) und schließlich auch Kontrasterfahrungen aus deren heidnischer Vergangenheit sowie sein einst flir sie doch glaubwürdiges missionarisches Auftreten bei ihnen (11.4) als Beweisgründe rur die Wahrheit seines Evangeliums heranzieht. Im dritten paränetischen Teil (111) erteilt Paulus Weisungen zur praktischen Lebensgestaltung, wobei er zugleich verdeutlicht, dass die Freiheit vom Gesetz nicht ethische Freizügigkeit meint, sondern Verantwortung flireinander in der Kraft des Geistes einschließt. Der Briefschluss fasst noch einmal seine Position gegenüber den in Galatien eingedrungenen Gegnern in einer "Richtschnur" (kanon) prägnant zusammen (V. 15) und endet mit einem Gnadenwunsch (V. 18). Grüße und Grußaufträge, die Paulus sonst nie vergisst, lässt er hier wohl mit Absicht weg. Wichtig rur die Erforschung auch anderer Paulusbriefe ist die rhetorische Dispositionsanalyse, die H. D. BETZ vor Jahren vorgelegt hat. Die anschließende Diskussion zum Verhältnis von Rhetorik und Epistolographie hat grundsätzlich die Fruchtbarkeit seines Ansatzes erwiesen, auch wenn es für eine Übertragbarkeit sowohl der Rede-Genera als auch von rhetorischen Dispositionsschemata (in denen zum Beispiel ethische Weisungen keinen Platz haben) auf Briefe Grenzen gibt. Aber wo ein Brief (wie Gal oder Röm) nur ein einziges Thema behandelt (was rur eine Rede selbstverständlich ist) und zugleich einen Öffentlichkeitsanspruch erhebt (wie das für alle Gemeinde-Briefe des Apostels gilt), da ist es legitim, ihn auch unter rhetorischen Gesichtspunkten zu analysieren. H. D. Betz deutete das Schreiben als apologetische (Gerichts-)Rede vor dem Forum der Gegner mit dem Ziel, die Galater sollten entscheiden, wer Recht hat. Doch nur die beiden ersten Hauptteile weisen apologetische Züge auf, im dritten überwiegt das deliberative Moment.
D.VI. Der Galaterbrief(Michael Theobald)
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Präskript 1,1-5 Exordium 1,6-11 Briejkorpus I. Narratio 1,12-2,14 11. Propositio 2,15-21 III. Probatio 3,1-4,31 (mit sechs Beweisgängen) IV. Exhortatio 5,1-6,10 (mit drei Teilen) Postskript (conclusio) 6,11-18 Auch folgende Punkte der Dispositionsanalyse von H. D. Betz bedürfen der Diskussion: Nach Form und Inhalt handelt es sich bei I, II f. um den Themasatz (propositio), der eine grundsätzliche Aussage zum Evangelium trifft, dem anschließenden Abschnitt gemäß mit apologetischem Tenor ("nicht ... , sondern ... "). Dieser Themasatz - das zeigt V. 12 deutlich - fungiert als Überschrift über dem crsten narrativen Hauptteil (I). Man kann aber erwägen, ob er nicht weiter reicht. Dass das Evangelium des Paulus "nicht nach Menschenart" ist, haben z. B. die Galater selbst bestätigt, als sie ihn bei seinem Gründungsbesuch nicht nach menschlichen Maßstäben - nach der "Schwachheit seines Fleisches" - beurteilten, sondern ihn trotz seines erbarmungswürdigen Auftritts wie einen Boten Gottes aufnahmen, ja wie Christus Jesus selbst (4, I3f.). Dass das Evangelium "nicht nach Menschenart" ist, zeigt im Grunde die ganze argumentatio, wenn sie seine Legitimation an hand göttlicher Instanzen - Geisterfahrungen, Schrift etc. - aufweist. Nun hat aber H. D. Betz die Rolle der propositio (Leitsatz) 2,15-21 zugewiesen, einem Absatz, der von der antiochenischen Szene 2, I f. nicht abgelöst werden darf und der auch mit Rede und Gegenrede eher im Diatribenstil gehalten ist. Freilich enthält er in seiner Mitte den .. Basissatz" der pln RechtfCl1igungslehre, der in Kap. 3 entfaltet wird, und nimmt von dahcr eine wichtige dispositioneIle Schaltstelle ein. Wie aber Gal 1,llf. an Röm 1,16f. erinnert (vergleichbare Themasätze sind I Kor 1,18; Phil 1,12f.), so Gal 2,15-21 an Röm 3,21-31. Danach bietet Gal I, I I f. vielleicht doch den ranghöheren Themasatz. - Gegen H. D. Betz scheint es außerdem passender, die eigentliche Paränese des Briefs nicht schon mit 5, I beginnen zu lassen (letzter Appell an die Galater, sich von den Gegnern nicht die Freiheit in Christus rauben zu lassen), sondern mit 5,13 (zur näheren Begründung vgl. F. MUSSNER 366 Anm. 5).
2. Entstehung Die Umstände der Entstehung des Schreibens aufzuhellen, setzt ein ungefahres Bild seiner Vorgeschichte voraus: Wer sind die Adressaten des Briefes, wo sind sie zu Hause? Unter welchen Umständen missionierte sie Paulus? Was wollten die Fremdmissionare bei ihnen und woher kamen sie? Eine wichtige Rolle in der jüngeren Debatte spielt die Apg, obwohl sie nur an zwei Stellen ihrer Paulus-Erzählung ausdrücklich vom "galatischen Land" spricht, in Apg 16,6 und 18,23 ("Galatia" im NT sonst nur noch 2 Tim 4, I 0 und I Petr I, I).
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
2.1 ..... an die Gemeinden in Galatjen" (1,2) Paulus richtet sein Schreiben wohl an ,,(Haus-)Gemeinden" in unterschiedlichen Orten, denn er nennt in der Adresse keine bestimmte Stadt, sondern einen größeren Bezirk bzw. eine Landschaft. Gewiss sind diese christlichen Kleingruppen (von "Ortsgemeinden" kann noch nicht die Rede sein!) miteinander vemetzt und sind auch mit denselben Fragen konfrontiert, denn sonst würde sie Paulus nicht zusammen anschreiben. Wo sind sie zu lokalisieren?
2.1.1 Galatien und die Galater Die Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten, beginnen schon damit, dass der Name "Galatia" zur Zeit des Paulus Unterschiedliches bezeichnen konnte (vgl. H. D. BETZ, Hermeneia 34-37 [Lit.]; C. BREYTENBACH 149-152). Ursprünglich wurde er für Gallien gebraucht. Dass er in hellenistischer Zeit dann auf die Landschaft in der Mitte Kleinasiens um die Städte Pessinus, Ancyra und Tavium herum (im heutigen Zentralanatolien; -+ Karte 2, S. 594) übertragen wurde, hängt damit zusammen, dass drei keltische/gallische Stämme aus ihrer Heimat zwischen Donau und Adria sich hier unter kriegerischen Begleitumständen 278/77 v. Chr. niedergelassen hatten. Pausanias bemerkt: .. Spät erst kam bei ihnen der Name Galater in Gebrauch. FrOher hießen sie unter sich und bei den anderen Kelten" (I 4,1). Demnach wurden die beiden Bezeichnungen Kellen und Galater synonym benutzt. Lokalen Machthabern dienten diese Galater als Söldner und taten sich oft genug bei Plünderungen von Städten hervor. Das änderte sich erst, als 189 v. Chr. die Römer ins Land kamen und die Galater in zwei Schlachten vernichtend schlugen. Von da an stellten sie sich auf deren Seite, unterstützten sie bei ihren kleinasiatischen Eroberungen und wurden bei der Reorganisation des Landes unter Pompeius für ihre Loyalität mit einem Vasallenkönigtum belohnt, das über die Landschaft Galatien hinaus auch noch weitere Gebiete beherrschte.
Nach dem Tod des galatischen Königs Amyntas 25 v. Chr. schuf Augustus aus diesem sehr heterogenen Gebilde die römische Provinz Galatia, die neben der (zentralanatolischen) Landschaft Galatien auch Paphlagonien, Phrygien, Pisidien, Lykaonien, Isaurien und Teile von Pamphylien umfasste. Sie erstreckte sich also über die heutige mittlere Türkei vom Mittelmeer bis fast hinauf an das Schwarze Meer im hohen Norden. Die Eingliederung der Galater in den Herrschaftsbereich der Römer hatte die allmähliche Hellenisierung ihrer wenigen Städte zur Folge (vgl. K. STROBEL 129), so dass sich auch hier das Griechische verbreitete, während das Keltische auf dem Land noch bis ins 4. Jh. vorherrschte (H. D. BETZ, Hermeneia 35 Anm. 8). Wenn die Adressaten des Paulus Galater im ethnischen Sinne waren, dann sind ihre "Gemeinden" in Städten zu suchen, was aber nichts Auffälliges an sich hat, da Paulus ja durchweg Stadtrnission betrieb. Aber richtet sich sein Schreiben überhaupt an Christen in der Landschaft Galatien oder nicht vielmehr im
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Süden der Provinz, vielleicht in Perge (Pamphylien), Antiochien (Pisidien), Ikonium, Lystra und Derbe (Lykaonien), wo er nach dem Zeugnis der Apg zusammen mit Bamabas auf der sog. ersten Missionsreise mehrere Gemeinden gründete (Apg 13f.; vgl. auch 2 Tim 3,1I)?
2.1.2 Zur Relevanz der Alternative: "Landschafts"- oder "Provinzhypothese" Lange Zeit vertrat die Forschung mehrheitlich die "Landschaftshypothese" (H. Oepke, H. Schlier, F. Mussner, H. D. Betz etc., heute 1. Becker, F. Vouga, U. Schnelle etc.), inzwischen ist die Zuversicht, mit der dies geschah, geschwunden, da eine wachsende Anzahl von Autoren sich mit beachtlichen Argumenten fur die "Provinzhypothese" stark macht (e. Breytenbach, J. D. G. Dunn, C. J. Hemer, R. N. Longenecker, S. MitcheII, M. Öhler, R. Riesner etc.). Bevor man sich das Für und Wider der beiden Hypothesen vor Augen fuhrt, sollte klar sein, welche Relevanz die Entscheidung in der einen oder anderen Richtung besitzen könnte. Wer die südgalatische oder Provinzhypothese vertritt, findet die Gründungsgeschichte der galatischen Gemeinden in Apg 13f. wieder - mit dem (erwünschten) Nebeneffekt, dass die Annahme der historischen Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte gerade bei der ersten Missionsreise bestärkt würde, die doch kritische Forscher wie H. Conzelmann und E. Haenchen einst als lukanisches Konstrukt einer missionarischen "Modell reise" abgetan hatten. Wer dann in Gal 4,13 zwei Galatien-Besuche des Apostels im Vorfeld seines Schreibens angedeutet findet, wird für den zweiten Besuch (nach dem Gründungsaufenthalt) Apg 16,1-5/6 reklamieren, was die Möglichkeit einer Frühdatierung des Gal eröffnet, nämlich auf den Anfang der pln Mission in Europa (Philippi, Thessaloniki) (so u. a. T. ZAHN und R. RIESNER 259 mit Anm. 60 [Lit.]; außerdem P. STUHLMACHER 226f.). Dann wäre Gal womöglich der älteste uns erhaltene Paulusbrief(dagegen spricht aber GaI2,IO)! Anders stellt sich die Situation bei der nordgalatischen oder Landschaftshypothese dar. Den Gründungsbesuch bringen deren Vertreter in Apg 16,6 zu Beginn der sog. zweiten Missionsreise unter, den zweiten Besuch in Apg 18,23 zu Beginn der dritten Missionsreise - mit der Konsequenz, dass dann Gal in die Spätphase des pln Wirkens im Osten des Reiches und somit zeitlich in die Nähe von Phil und Röm rücken würde. Allerdings könnte Gal 4,13 auch nur den Gründungsbesuch des Paulus in Galatien im Blick haben, so dass man nicht unbedingt noch einen zweiten Besuch in der pln Chronologie unterbringen müsste. Das würde die Möglichkeit eröffnen, dass Paulus während seines dreijährigen Aufenthalts in Ephesus von dort aus die Gemeinden in Galatien gegründet hat (zugunsten dieser Annahme jetzt U. SCHNELLE I 15f.). Und D. A. KOCH (Barnabas 105) hält es fur "denkbar, dass die in 1 Kor 15,32 und Apg 19,23-40 erkennbaren Konflikte Paulus veranlasst haben könnten, die Provinz Asia insgesamt fiir einige Zeit zu verlassen und sich in eine Nachbarprovinz zu begeben. Dass dies dann eher Nordgalatien war als der Süden der Provinz, wo ja ,Christus schon längst verkündigt worden war' (vgl. Röm 15,20), ist naheliegend." Allerdings bleibt bei dieser Annahme ungeklärt, wie man dann noch den
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
durch Phi! bezeugten Gefängnisaufenthalt des Paulus in seiner Ephesus-Zeit unterbringen soll (..... D.VII.). Für die Rekonstruktion der pln Theologie hat die Alternative "Landschafts"oder "Provinzhypothese" große Bedeutung. Würde man sich zu einer Frühdatierung des Gal entschließen, dann hieße das, dass Paulus seine "Rechtfertigungslehre" schon sehr zeitig ausgebildet hätte, was eine entwicklungsgeschichtliche Deutung seiner Theologie praktisch unmöglich machte. Anders verhielte es sich bei einer Spätdatierung. Dann stünde der Annahme nichts im Weg, dass Paulus erst im Laufe der Zeit, bedingt durch die ihm gestellten Fragen, zur Ausarbeitung der Rechtfertigungsbotschaft gelangt ist. Auch Paulus hätte sich entwickelt, seine Theologie wäre ihm nicht schon bei seiner Berufung vor Damaskus in den Schoß gefallen. Methodisch sind beide Hypothesen mit dem Problem behaftet, wie die Quellen Apg und Gal sachgerecht einander zuzuordnen sind. Als Prinzip sollte gelten, dass die pln Zeugnisse den Vorrang haben. Bevor man ihnen das lukanische Geschichtswerk beigesellt, müssten dessen Zeugnisse kritisch auf ihren Quellenwert hin durchleuchtet sein. Wie stellt sich die Argumentationslage unter solchen Voraussetzungen im Einzelnen dar?
2.1.3 Das Für und Wider der beiden Hypothesen Argumente zugunsten der Provinzhypothese: (I) Missionsstrategisch denkt Paulus in der Größenordnung der römischen Provinzen. Sie will er durchmessen, um die Welt mit dem Evangelium zu erfullen (Röm 15,19). Dazu passt, dass er zumeist Provinzbezeichnungen benutzt (vgl. I Thess 1,7f.; 4,10; Phil 4,) 5; ) Kor 16,5.) 5; 2 Kor), 1.8.16 etc.; Röm 15,) 9.26; 16,5). Da er "nur im Osten, wo die Römer bis zu den Flaviern Syrien als ihre östlichste Provinz betrachteten, fur Judäa und Arabia Landschaftsnamen ohne weitere Qualifikation benutzt, ist es wahrscheinlicher, dass er in Gal 1,2 und 1 Kor 16,1 die Gemeinden der Provinz Galatien und nicht die der galatischen Landschaft gemeint hat" (C. BREYTENBACH 151 f.). (2) In der Landschaft Galatien sind jüdische Siedler bislang nicht nachgewiesen, im Unterschied zum Süden der Provinz (vgl. C. BREYTENBACH ) 44146. ) 67f.). Paulus hätte seine Mission aber gewöhnlich in den Synagogen begonnen, und auch Gal selbst setze mit seiner reichen Schriftargumentation die geistige Präsenz jüdischen Lebens in unmittelbarer Nachbarschaft voraus. R. Riesner meint überdies, dass die aus Palästina gekommenen judaisierenden Gegner des Paulus gewiss erst in Süd-Galatien (Tora-)Ordnung geschaffen hätten, bevor sie in den Norden weiter gezogen wären. C. Breytenbach bezweifelt überhaupt jüdische (und judenchristliche) Mission zum Zweck der Proselytengewinnung (Mt 23,15 misstraut er), weshalb er Synagogen vor Ort postulieren muss, aus denen heraus die Judaisierung der heidenchristlichen Gemeinden des Paulus betrieben worden wäre. Das ruhrt ihn zwingend zur Provinzhypothese (Apg 13f.).
D.VI. Der Galaterbrief (Michael Theobald)
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(3) Nach Apg 20,4 seien unter den Reisebegleitern des Paulus (wahrscheinlich handelt es sich um Gemeindedelegierte fur die Übergabe der Kollekte in Jerusalem) Christen aus dem Süden der Provinz Galatien gewesen, nämlich Gaius aus Derbe und Timotheus aus Lystra, aus dem Norden der Provinz aber niemand. Da Paulus nach Ausweis von I Kor 16, I f. auch in Galatien zur Kollekte angehalten hätte, spräche dieser Befund rur die Provinzhypothese.
Argumente gegen die Provinz- bzw. für die Landschaftshypothese: Wer sich gegen eine Identifizierung der "Gemeinden Galatiens" mit denen von Apg \3f. ausspricht, plädiert in der Regel rur die Landschaftshypothese. Zwingend scheint das nicht, da die Provinz Galatiaja noch andere Regionen umfasste als nur die südgalatische von Apg 13f. und das galatische Kernland im Norden. (I) Auch die Vertreter der Provinzhypothese geben zu, dass sprachlich in Gal 1,2 und I Kor 16, I "bei des möglich" ist (C. BREYTENBACH 152): der Bezug auf die Provinz wie auf die Landschaft. 1m ersten Fall würde man an Pisidien und Lykaonien aber nur dann denken, wenn man sogleich Apg 13f. mit heranzöge. Beachtlich ist, dass Paulus im Gal nur Landschaftsbezeichnungen benutzt: neben "Arabia" (1.17; 4,25) und ,,Judäa" (1,22) (siehe oben) auch "Syrien" und •. Kilikien" (1.21). Von der Provinz Syrien, die auch ludäa einschlösse, will er gerade nicht sprechen (vgl. 1,22). Sollte das bei 1,2 (Galatien) anders sein?
(2) In 3,1 redet Paulus seine Adressaten mit ,,0 ihr unverständigen Galater!" an. Damit charakterisiert er sie nach gängiger Anschauung als Menschen keltischer Abstammung (vgl. nur H. SCHLIER, Gal 16; P. VIELHAUER 104f.; C. BREYTENBACH I49f.). Früher hat man das umstandslos zugunsten der Landschaftshypothese ausgewertet, inzwischen rät eine genauere Betrachtung der Verwendung des Wortes z. B. bei Pausanias und Strabon zur Vorsicht. Beide bezeichnen nämlich mit dem Ausdruck nicht nur die keltischen Einwohner in der Landschaft Galatien, sondern auch Kelten bzw. Gallier anderswo (vgl. Pausanias I 3,5; X 3,4; 7,1; 8,3 etc.: C. BREYTENBACH 149f.). So kann man aus Gal 3,1 nicht unbedingt auf den Wohnort schließen. Vielleicht, so meint C. Breytenbach, rede Paulus "Hausgemeinden" an, "deren Mitglieder zwar keltischer Abstammung waren, aber in den südlichen Städten der Provinz Galatien ... als Teil der hellenisierten Mischbevölkerung lebten" (ebd. 153). Aber wie soll man sich das vorstellen? Waren die kleinen ,,(Haus-) Gemeinden Galatiens" etwa "Iandsmannschaftlich" organisiert? M. E. liegt immer noch die Annahme näher, dass Paulus tatsächlich Menschen der Landschaft Galatien vor Augen hat. Vergleichbar mit 3, I ist in seinen Briefen sonst nur die Rede von den "Makedoniern" 2 Kor 9,2.4, womit die Provinzialen gemeint sein können, aber zugleich auch - da die Provinz "Makedonia" lange nicht so amorph war wie "Galatia" - Menschen griechisch-makedonischer Abstammung und Kultur.
(3) Dass in Nordgalatien kein jüdisches Leben nachzuweisen sei, ist ein gewichtiges Argument. Doch redet Paulus seine Adressaten als ehemalige Heiden an, die "Gott nicht gekannt und Göttern gedient" hätten, "die in Wirklich-
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keit keine sind" (4,8). Wenn Paulus in der Apg seine Messiasverkündigung regelmäßig in einer Synagoge bzw. an einer jüdischen Gebetsstätte beginnt (nicht in Lystra; in Athen zusätzlich auf der Agora), dann verdankt sich das auch der lukanischen Absicht einer Typisierung (vgl. 3,26; 13,46 etc.) und schließt nicht aus, dass es unter besonderen Bedingungen anders lief. Und dass Paulus bei seinen Adressaten Schriftkenntnis voraussetzt, führt nicht zwingend auf die Existenz von Judenchristen in den Gemeinden. Da die Fremdmissionare mit der Tora argumentiert haben, musste Paulus schrifttheologisch reagieren. Gegen die Zweifel von C. Breytenbach am Auftreten von weither gereisten judenchristIichen Fremdmissionaren in "Galatien" (vgl. oben), ist (mit D. A. KOCH, Barnabas 87) auf das in 2,12 erwähnte Auftreten der Jakobusleute aus Jerusalem in Antiochien (2,12) zu verweisen. Beide Gruppen scheuten keine Wege, um in den Gemeinden des Messias Jesus die Tora durchzusetzen. (4) Wenn die galatischen Gemeinden die sind, die Paulus auf seiner sog. "ersten Missionsreise" gegründet hat, warum sagt er dann nicht in 1,21: "danach ging ich in das Gebiet von Syrien und Zilizien und zu euch"? Denn das wäre in der narratio genau die Stelle gewesen, an der er seine Mission bei ihnen hätte erwähnen müssen (anders z. B. M. ÖHLER 59-62, der die erste "Missionsreise" auf die Zeit nach dem "Apostelkonvent" verlegen möchte). (5) Merkwürdig ist auch, dass er dort, wo er auf seinen ersten Besuch bei den Galatern zu sprechen kommt (in 4,12-20; vgl. auch 3,1-5), nichts von Barnabas sagt, vielmehr den Eindruck erweckt, für die "gesetzesfreie" Mission bei ihnen ganz alleine verantwortlich zu sein (vgl. 1,8f.; 4,19; auch 1,15f.). Anders sieht das Bild der ersten "Missionsreise" nach Lk aus. Sie hatte er zusammen mit Barnabas im Auftrag der antiochenischen Gemeinde unternommen, wobei Apg 13,1-3.7 und 14,12 zufolge Bamabas sogar den Vorrang vor ihm besaß. Hinzu kommt, dass Paulus in 2,11-14 eine Konfliktsituation benennt, "in der er mit dem anderen Grundungsapostel der südgalatischen Gemeinden, Barnabas, in offenen Widerspruch geraten ist" und in der "Barnabas einer judenchristlichen Forderung gerade nicht widersteht, sondern ihr nachgibt. Die Gegner des Paulus in Galatien, wenn sie denn in Südgalatien anzusiedeln wären, hätten ja nur auf den von Paulus selbst dargestellten offenen Dissens zwischen Barnabas und ihm gegenüber judenchristlichen Forderungen hinzuweisen brauchen, um die gesamte Argumentationskraft des Galaterbriefs zu neutralisieren" (D. A. KOCH, Barnabas 96; anders M. ÖHLER 27, der meint, Paulus habe in 2,13 die Haltung des Barnabas im antiochenischen Konflikt bewusst "weniger polemisch dargestellt als die des Petrus"; aber dann hätte er seine Rolle gleich verschweigen können).
(6) Problematisch ist eine Vereinnahmung der lukanischen Reisenotizen Apg 16,6; 18,23 für die Provinzhypothese, aber auch ihre Kombination mit der Landschaftshypothese geht nicht bruchlos auf. R. Riesner deutet die Notizen so, dass hier Lk Paulus nicht auf dem Weg durch die Landschaft Galatien im Innern Kleinasiens zeigt, sondern als Besucher der auf der ersten "Mis-
D.VI. Der Galaterbrief (Michael Theobald)
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sionsreise" gegründeten Gemeinden. Zu dieser Deutung gelangt er, indem er 16,6 (gegen die Leseanweisung von 18,23) mit "das phlygisch-galatische Land" wiedergibt (zur Übersetzung vgl. auch C. BREYTENBACH 113-115) und so den Besuch des Paulus im (angeblich schon phrygischen) Antiochien und in Ikonion dem in Derbe und Lystra 16,1-5 folgen lassen kann. Doch eine ungezwungene Lektüre von 16,1-5 sieht hier Paulus alle "Städte" (V. 4) von Apg 13f. ein zweites Mal besuchen, ihn in 16,6-8 hingegen darüber hinaus in das Innere Kleinasiens reisen. Hinzu kommt die Beobachtung, dass Lk die Städte von Apg 13f. (außer Ikonion) wohl Landschaften zuordnet (Pisidien und Lykaonien), aber dabei nirgends den Namen Galatia erwähnt. Offenbar ist "das galatische Lancf' (Lk meint nicht die Provinz, vgl. D. A. KOCH, Bamabas 89-91) mit den Gegenden von Apg 13f. nicht deckungsgleich. Der "Landschaftshypothese" sind die Notizen 16,6 und 18,23 durchaus dienlich, doch decken sie deren Annahmen auch nicht ohne weiteres ab. So wie der rätselhafte Text 16,68 gestaltet ist, scheint Lk bei den genannten Ländern nicht an eine Missionstätigkeit des Paulus und Timotheus zu denken, da er sie - gelenkt vom "heiligen Geist" - um Kleinasien (Ephesus) herum auf ihr eigentliches Ziel, Troas bzw. Makedonien, hinsteuern lässt. Oft sucht man das mit Gal 4,13-15 zu verbinden, indem man dort herausliest, Paulus hätte, durch eine (Augen-)Krankheit (V. 15) gezwungen, in Galatien haltgemacht und dabei die Gelegenheit zur Verkündigung genutzt. Aber der redaktionelle Text 16,6-8 (vgl. D. A. KOCH, Kollektenbericht 382-385) verrät, dass Lk über konkrete Überlieferungen zu einer pln Missionstätigkeit in Galatien nicht verfUgte, weshalb derartige Kombinationen fragwürdig bleiben müssen. Andererseits setzt Lk dann aber in der Notiz zum zweiten Besuch des Paulus im "galatischen Land und Phrygien" (18,23) überraschenderweise die Existenz von Christen dort voraus ("er stärkte alle Jünger"). Wie erklärt sich das? Möglicherweise wusste er tatsächlich 11m die Existenz von Gemeinden in Galatien, konnte diese aber nicht dem Missionswerk des Paulu5 zuordnen (50 D. A. KOCH, ebd.).
(7) Zur Liste der Kollektendelegierten Apg 20,4 ist zu bemerken, dass der Konflikt des Apostels mit den Galatern, über dessen Ausgang wir nichts wissen, es überhaupt sehr ungewiss erscheinen lässt, ob es je zu einer förmlichen Übergabe einer Kollekte aus den Händen der Galater gekommen ist. Sollten sie durch Übernahme von Beschneidung und Tora auf die Seite der judaisierenden Fremdmissionare (aus Jerusalem?) übergewechselt sein, dann hätte sich eine weitere Beteiligung an der vom Apostel organisierten heidenchristlichen "Gabe" für die "Heiligen" in Jerusalem (GaI2,10) erübrigt (zur fragwürdigen Identität des "Gaius aus Derbe" [vgl. Apg 19,29] siehe D. A. KOCH, Kollektenbericht 375 mit Anm. 22). Fazit: Gegen die südgalatische oder Provinzhypothese sprechen gewichtige Gründe. Wenn man deshalb zur Landschaftshypothese neigt, darf man aber nicht meinen, mit ihr seien alle Fragen beantwortet. Warum z. B. reiste Paulus überhaupt in jenes feme und nur mühsam zu erreichende Land im Inneren Kleinasiens (das Straßennetz dort bauten die Römer erst in flavianischer Zeit aus; vgl. D. H. FRENCH; S. MITCHELL, Anatolia I 124-126). Und verfolgte er sonst nicht die Strategie, in größeren hellenistischen Städten zu missionieren? Es bleiben Rätsel, die wir nicht lösen können,
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2.2 Das Profil der Fremdmissionare Paulus schreibt den Galatern, weil fremde Missionare bei ihnen agieren (was er selbst in Gemeinden, die er nicht gegründet hat, nie tun würde: vgl. Röm 15,20f.; 1 Kor 3, I 0; 2 Kor 10, 15f.). Sein Stil ist leidenschaftlich (vgl. etwa 1,6-10; 3,1-5; 4,12-20; 5,7-12 etc.), mitunter sarkastisch (vgl. 5,12). Schon das zeigt, dass es nicht nur um Differenzen in der Sache, sondern auch um seine eigene Person geht. Wie und von wem Paulus über die galatische Situation in Kenntnis gesetzt wurde (schriftlich oder mündlich), wissen wir nicht. Aber wir dürfen annehmen, dass er ausreichend informiert war und die Lage beurteilen konnte. Dennoch müssen wir bei der Erhebung des gegnerischen Protils aus seinem Schreiben - andere Quellen haben wir nicht! - Vorsicht walten lassen, denn auch Paulus agiert parteiisch (vgl. J. ECKERT). Er reklamiert "die Wahrheit" des Evangeliums (vgl. 2,5.14; 5,7) fiir sich und spricht sie seinen Gegnern ab. Wenn er ihnen z. B. unterstellt, "sie wollten das Evangelium Christi verkehren" (1,7; vgl. auch 3,1; 4,7; 5,12), und behauptet, ihre Botschaft enthielte "ein anderes Evangelium" bzw. sei in Wahrheit überhaupt keines (1,6f.), dann klingt das aus seiner Perspektive so, als hätten sie tatsächlich eine völlig andere Heilslehre gebracht. Sie selber werden das aber anders gesehen haben, nämlich so: Paulus hat den heidnischen Galatern den Messias Jesus verkUndigt, was gut und recht ist, aber das allein genUgt noch nicht. Sie mUssen sich gemäß der Tora auch beschneiden lassen! Aus ihrer Perspektive ging es also nicht um ein Entweder-Oder, sondern um zusätzliche Anforderungen, oder anders gesagt, um eine Nachbesserung der pln Erstrnission. Manches, was für eine Beurteilung der Situation wichtig wäre, ist uns unbekannt. So sagt Paulus z. B. nichts zu den Motiven, welche die Galater den Fremdmissionaren gegenüber bereitwillig werden ließ, sondern behauptet nur, "diese zwingen euch zur Beschneidung" (6,12; das Verb "zwingen" auch in 2,3.(4). Aber inwiefern tun sie das? Hatten sie für ihre Position nicht auch gute GrUnde? Dass die Fremdmissionare die Forderung der Beschneidung erhoben haben, geht eindeutig aus 5,2 und 6,2f. hervor. Außerdem spielt die Beschneidung noch im Rückblick auf das Jerusalemer Treffen ( - D.n.3.) in 2,3 ("selbst Titus, mein Begleiter, der Grieche ist, wurde nicht zur Beschneidung gezwungen") und in der antiochenischen "Richtschnur" (Kanon) eine Rolle, die Paulus im Gal gleich in zwei Varianten bietet (5,6/6,15 vgl. auch I Kor 7,19: dazu M. THEOBALD, Kanon 174-182): In Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der in der Liebe wirksam ist.
Weder Beschneidung ist etwas noch Unbeschnittensein, sondern neue Schöpfung
Auf die Frage, warum die Fremdmissionare die Beschneidung verlangten, gibt es nur eine Antwort: Wer an den Messias Jesus glaubt, muss ihrer Meinung nach auch in den Bund Gottes mit Israel aufgenommen werden, wofür seit
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Abraham, Israels Stammvater, die Beschneidung das von Gott gebotene "Zeichen" darstellt (vgl. Gen 17,11). Sollten sie von den Galatern insgesamt ToraGehorsam erwartet haben (darauf deuten 4, I und 5,4 hin), dann wäre das nur konsequent gewesen. Freilich sagt Paulus dazu nichts; das einzige, was er konkret nennt, ist die Kalenderfrömmigkeit: "Tage beobachtet ihr und Monate und Zeiten und Jahre" (4,10). Wenn er gerade darauf abhebt und das in einer so allgemeinen und scheinbar unspezifischen Weise tut (im Unterschied zu Kol 2,6, wo in biblischer Terminologie von Neumond und Sabbat die Rede ist), dann hängt das wohl damit zusammen, dass er die Form solcher Frömmigkeit der angeblich überwundenen früheren heidnischen Frömmigkeit der Galater gleichsetzen will: Früher haben sie Göttern gedient, "die in Wirklichkeit keine sind" - "schwachen und armseligen Elementen" (4,8f.; vgl. auch 4,3: "unter die Elemente der Welt versklavt") -, und was tun sie jetzt anderes? Die Brücke solchen Vergleichs, der für jüdische Ohren unerhört klingen musste, ist die weit verbreitete jüdische Überzeugung von der inneren Zusammengehörigkeit von Schöpfungs- und Toraordnung, wie sie in der jüdischen Kalenderfrömmigkeit mit ihrer Orientierung am Lauf der Gestirne zum Ausdruck kommt (dazu F. MUSSNER 298-303). Zur Veranschaulichung einige Beispiele: I QH I 23f.: "alles ist aufgczeichnet vor dir mit einem Griffel des Gedächtnisses für alle ewigen Zeiten, und die Wenden der Zahl der Jahre auf ewig mit all ihren bestimmten Festzeiten"; I QM X 15: Gott hat geschaffen "heilige Festzeiten und Wenden der Jahre und ewige Zeiten" (v gl. auch XIV 13f., wo deutlich wird, dass diesc "Zciten" mit der von Gott gesetzten astronomischen Weltordnung zusammenhängen); äthHen 79,1t:: "Und nun, mein Sohn, habe ich dir alles gezeigt, und (der Bericht über) das Gesetz aller Sterne der Himmel ist zu Ende. Und er zeigte mir das ganze Gesetz fiir diese für jeden Tag und jede (Jahres-)Zeit, die (gerade) herrscht, (für) jedes Jahr und seinen Ausgangsort nach dem Gesetz und für jeden Monat und jede Woche ... " (JSHRZ V/6, 662); vgl. auch 82,4.7-10 u. Ö.
Wie die Galater die kosmischen Elementarmächte vor ihrer Konversion verehtt haben, so würden sie sich mit der Übernahme jüdischer Kalenderfrömmigkeit erneut ihrem Regime unterwerfen, meint Paulus. Woher kommen die Fremdmissionare? Handeln sie im Auftrag anderer? Dazu schweigt Paulus, aber sein autobiographischer Rückblick (I) enthält doch einige versteckte Hinweise: (a) Zweimal erinnert Paulus an Situationen, in denen die antioehenische Gemeinde wegen ihrer Offenheit heidnischen Konvertiten gegenüber durch Judenchristen von außen unter Druck gesetzt worden sei: im Vorfeld des Jerusalemer Treffens wegen ihres Verzichts auf die Beschneidung als conditio sine qua nO/1 ihrer Aufnahme in die Gemeinde (vgl. 2,3f.) und beim sog. antiochenischen Zwischenfall, als ,.Leute von Jakobus" die Tischgemeinschaft von Juden- und Heidenchristen hintertrieben (2, 12f.). Beidesmal lässt Paulus die Identität der "Eindringlinge" (2,4) in der Schwebe, aber verschleiert nicht, dass sie aus Jerusalem kamen. Die Gruppe von 2,4f. nennt er polemisch "Falschbrüder" und grenzt sie von "denjenigen, die etwas gelten" (2,6), also von den Autoritäten der Jerusalemer Gemein-
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de (Jakobus, Kephas, Johannes) ab. Die zweite Gruppe ("einige von Jakobus") bringt er "in irgendeinen Zusammenhang" mit dem Herrenbruder, "ohne dass dieser näher beschrieben würde"; doch trotz dieser den Jerusalemer Gemeindeleiter schonenden Formulierung dürfte es sich um seine "Abgesandten" handeln, "weil sonst kaum erklärbar" wäre, "wieso Petrus durch ihr Erscheinen in Furcht versetzt wurde" (F. MUSSNER 139). Auf diesem Hintergrund, den Paulus um der Analogie mit der galatischen Krisensituation willen gezielt entworfen hat, scheint nun die Annahme plausibel zu sein, dass auch die "Eindringlinge" in Galatien aus Judäa gekommen sind, genauerhin aus Jerusalem, wobei die Autorität, die sie fiir sich in Anspruch nahmen, in der Schwebe bleibt: Konnten sie sich als "Visitatoren" auf die Jerusalemer Gemeindeleitung selbst berufen oder vertraten sie nur eine bestimmte Fraktion der dortigen Gemeinde oder kamen sie gar im eigenen Namen? Dass die Galater sich ihnen gegenüber bereitwillig zeigten, deutet eher auf einen beachtlichen Autoritätsvorsprung hin. (b) Der autobiographische Rechenschaftsbericht (1) lässt sich nur verstehen, wenn die Fremdmissionare auch gegen Paulus selbst agitiert haben, wobei sein Verhältnis zu Jerusalern offensichtlich eine wichtige Rolle spielte (vgl. 1,17-19; 2,1-10; 4,25). Anders ist die Penetranz, mit der er behauptet, von Jerusalem unabhängig zu sein, sowie seine Betonung der Gott-Unmittelbarkeit seines Apostolates (1,11-16) kaum verständlich, zumal sich entsprechende Aussagen in seinen anderen Briefen gerade nicht finden. Seine Hinweise auf seinen selbständigen Weg, den die Jerusalemer Säulen beim Jerusalemer Treffen auch bestätigt hätten, lassen dann aber die Annahme wahrscheinlich werden, dass die Fremdmissionare sich rur ihr Auftreten in Galatien auf ihre Beziehungen zu Jerusalem berufen und zugleich Paulus als einen von Jerusalem abhängigen Apostel zweiter Klasse abqualifiziert haben. Vielleicht haben sie ihm auch vorgeworfen, dass er mit seiner beschneidungsfreien EvangeliumsverkUndigung unter den Heiden nur "den Menschen gefällig sein" wollte (vgl. 1,10). (c) 6,12 bekräftigt die Annahme judäischer bzw. Jerusalemer Herkunft der Fremdmissionare. Denn wenn ihnen Paulus hier als Motiv fiir ihre offensive Propagierung der Beschneidung Angst vor Verfolgung unterstellt, womit nur Verfolgung von jüdischer Seite aus gemeint sein kann, dann führt das nach Judäa bzw. Jerusalem (vgl. auch 4,25.29!). Wenn dort der offizielle Druck auf die "Judenchristen" im Laufe der Jahre zugenommen hat, dann würde das auch das Abrücken der bzw. einiger Jerusalemer vom einstigen Zugeständnis einer beschneidungsfreien Heidenrnission auf dem Jerusalemer Treffen erklären. Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei den Gegnern des Paulus in Galatien sehr wahrscheinlich um judenchristliche Missionare aus Judäa/Jerusalem handelt, die Heiden in der Versammlung (ekklesia) des Messias Jesus nur als Proselyten zu akzeptieren bereit waren. Auch für sie war der Glaube an den Messias Jesus heilsnotwendig, aber nur im überwölbenden Rahmen des Bundes Gottes mit Israel, für den die Beschneidung das toragemäße "Zeichen" ist. Wir wissen nicht, mit welchen Argumenten sie ihre Position im Einzelnen verfochten, aber man kann sich lebhaft vorstellen, dass sie dabei auch auf Jesus selbst verwiesen, der beschnitten war (vgl. Lk 2,21). Gal 4,4 (der Sohn Gottes, "unter das Gesetz gestellt") könnte darauf ein Reflex sein (vgl. auch Röm 15,8: "Christus ist Diener der Beschneidung [= der Beschnittenen] geworden") (gegen die Überzeugung von N. WALTER, Paulus, die Gegner seien Juden, keine Christen, spricht 1,6f.; 3,26-4,7).
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Dass es sich bei den Gegnern nicht um eine einheitliche Front, sondern verschiedene Gruppen gehandelt hätte, wie immer wieder behauptet wird, geben die Texte nicht her. Weder lässt sich aus 5,13-26 eine Frontstellung gegen libertinistische Tendenzen aus gnostischem Erlösungsbewusstsein heraus ableiten, noch erlaubt es die präsentische Fonnulierung von 6,13 ("denn auch diejenigen, die sich beschneiden lassen, halten das Gesetz nicht"), an Heidenchristen zu denken, die nun ihrerseits die Heilsnotwendigkeit der Beschneidung propagierten. Dass Paulus in der adhortatio (III) die christliche Freiheit vom Gesetz gerade als geistgewirkte Ermöglichung der Erfüllung des Gesetzes in der Liebe auslegt, wird mit dem mutmaßlichen Vorwurf der Gegner zusammenhängen, dass eine tora-freie Existenz der ethischen ZOgellosigkeit Vorschub leiste (vgl. Röm 3,8). Offenkundig zielt das argumentative Geflille des Schreibens nur in eine Richtung.
2.3 Zeit und Ort der Abjassung Ernsthaft in Frage kommt nur eine Spätdatierung des Briefs (- 2.1.2), wobei der zeitliche Spielraum gering ist: Entweder hat Paulus den Brief noch in Ephesus verfasst - gegen Ende seines dreijährigen Aufenthalts dort (Apg 20,31; vgl. 19,8.10.22) und zwar nach I Kor -, oder bereits während seiner Kollektenreise durch Makedonien nach Griechenland (vgl. Apg 20, I f.). Folgende Indizien haben wir: (a) Die Kollektenl1otizel1 1 Kor 16.1 und Gal 2.10: Wenn Paulus den Korinthern von Ephesus aus (I Kor 16,1) seine praktischen Regelungen zur Kollekte in Galatien als vorbildhaft hinstdlt, JOrten wir annehm.:n, dass er dies.: erst vor kurzem "angeordnet" hat (während seines zweiten Besuchs dort [Apg 18,23]) und dass zur Zeit der Abfassung von I Kor noch gutes Einvernehmen zwischen ihm und den galatischen Christen herrschte. Und wenn er in Gal 2,10 zu der beim Jerusalemer Treffen Obernommenen Verpflichtung für "die Armen" betont, er sei ihr voll und ganz nachgekommen, und das Thema im Schreiben danach nicht mehr berührt, dann deutet das darauf hin, dass es darüber mit den Fremdmissionaren nicht zum Dissens gekommen war. Weil die Galater das Geld bereits beisammen hatten, war für sie das Thema zunächst erledigt. Gal 2, 10 setzt wohl auch schon die BemUhungen des Paulus für die Kollekte voraus, die 2 Kor 8f. dokumentieren, was eine Datierung des Gal nach diesen "Kollektenschreiben" nahelegt, also auf seinen Aufenthalt in Makedonien (vgl. 2 Kor 8, I). - (b) Die Nähe des Gal zu Röm ist beachtlich! Röm (verfasst im Winter 56/57 in Korinth) liest sich wie eine Retractatio des Gal (vgl. M. THEOBALD, Studien 255-274). Dabei flillt auf, mit welchen Sorgen Paulus vor seiner geplanten Reise nach Jerusalem erfiillt ist (vgl. Röm 15,30-32). Wird die von ihm organisierte Kollekte seiner heidenchristlichen Gemeinden "den Heiligen" dort Oberhaupt "willkommen" sein? Man begreift die GemOtslage des Apostels besser, wenn man mit möglichen Verhärtungen dort rechnet und auch damit, dass die Krise in Galatien von Jerusalemer Kreisen verursacht worden und die Vorgänge samt der Reaktion des Paulus in der Heiligen Stadt sattsam bekannt waren.
Es sprechen also gute Gründe für die Annahme, dass die schlechten Nachrichten aus Galatien Paulus gegen Ende seines Ephesusaufenthalts oder während seiner Reise durch Makedonien erreichten und dass er den Galatern dann von dort aus seinen Brief schrieb (55/56 n. Chr.).
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
3. Diskurs Welcher Argumentationsinstanzen bedient sich Paulus? Welche Denkform bestimmt sein Schreiben? Und wie setzt er sein Programm "Heil allein durch Christus" im Einzelnen um? 3.1 Die Argumentationsinstanzen des Briefs: Erfahrung, Überlieferung und Schrift
Paulus vertritt im Gal einen biographischen Ansatz, da er seinen eigenen Erfahrungen (Gal If.; 4,12-20) wie denen der Galater (3,1-5.26-29; 4,14) die Dignität eines theologischen Arguments zuschreibt. Was ihn betrifft, so geht es vor allem um seine Berufung (1,15f.), die er unter Zuhilfenahme biblischer Kategorien (vgl. Jer 1,5; Jes 49,1.5; 6,1-13 etc.) als Berufung zum Heidenapostolat deutet. Seine späteren Erfahrungen im Umgang mit den Jerusalemer Autoritäten (Gal 1,17-2,21) begreift er durchweg unter dem Vorzeichen dieser ersten Gnaden-Erfahrung (1,15), die für ihn zum Quellgrund seiner Theologie überhaupt geworden ist (wobei hier von der Frage abgesehen werden kann, ob ihm bei seiner Berufung schon alle theologischen Implikationen klar waren, was eher zu verneinen ist). Was die Galater betrifft, so kann er in 3,1-5 auf "Krafterweise" des Geistes (Wundertaten?) im Gefolge ihrer Konversion Bezug nehmen, welche die Wahrheit seines "gesetzesfreien" Evangeliums bei ihnen erweisen. Schon das Präskript (1,1.4) zeigt, wie wichtig für Paulus der Rekurs auf vorgeprägte Überlieferungen ist, in denen sich der christologische Konsens der frühen Gemeinden formelhaft niedergeschlagen hat (~ I.). Die Reihe ist lang: Auferweckungsformel (I, I), Formelgut zum soteriologischen Sinn des Todes Jesu (1,4; 2,10), Sendungsschema (4,4f.), theologische Sentenzen oder "Kanones" zur Taufe (3,28), zur Beschneidung (5,6; 6,15) und zur Rechtfertigung (2,16), aber auch Sprichwörter (5,9; 6,5.7b.9) sowie Laster- und Tugendkatalog (5,20f.22f.). Der Ruf "Abba, Vater" (4,6) erweist sein Alter schon aufgrund seiner Zweisprachigkeit.
Mit solchem breit angelegten Rekurs auf Überlieferungen will Paulus verdeutlichen, dass sein Verständnis des Evangeliums, mag es für manche ,Judenchristliche" Ohren noch so provokant sein, doch den anerkannten Christusglauben zum Rückgrat hat. Manches davon hat Paulus in Antiochien gelernt, bei der Gemeinde, die sich zum ersten Mal programmatisch den Heiden öffnete. Die dritte Argumentationsinstanz ist die Schrift. Zehn markierte Zitate bietet Paulus, acht aus der Tora, zwei aus den Propheten, die meisten in 3,6-16. Die Allegorese 4,22-30 dürfte der Tradition entstammen (1. BECKER 71). 3,6 (Gen 15,6); 3,8 (Gen 12,3118,8); 3,10 (Dtn 27,26); 3,11 (Hab 2,4); 3,12 (Lev 18,5); 3,13 (Dtn 21,23); 3,16 (Gen 13,15 etc.); 4,27 (les 54,1); 4,30 (Gen 21,10); 5.14 (Lev 19.18).
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4,22 bietet ein zusammenfassendes Referat von Aussagen aus Gen 16f.21. Hinzu kommen noch einige Schriftanspielungen (vgl. 1,15; 2,6e; 2,I6fin ete.).
Innovativ ist vor allem die Exegese von Gen 15,6 und Hab 2,4, der bei den wichtigsten Schriftstellen für die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus. Doch wird er mit seiner Schriftargumentation in Kap. 3 insgesamt Erstaunen hervorgerufen haben.
3.2 "Entweder-Oder" statt .. Sowohl-als-auch ": Die Denkform des Briefs
Müssen Heiden zum Judentum übertreten, um vollgültige Mitglieder der eschatologischen ,,(Heils-)Gemeinde" Jesu Christi zu werden, oder ist allein ihr Glaube an Christus heilsnotwendig? Die Fremdmissionare vertraten ein "Sowohl-als-auch" - Messiasglaube und Toragehorsam -, aber indem sie den Heidenchristen Toragehorsam abverlangten, rückte dieser nach Meinung des Paulus zum Rang eines mit Christus konkulTierenden Heilskriteriums auf. Darauf konnte er nur mit einem "entweder Christus oder das Gesetz" reagieren: "wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit (kommt), ist folglich Christus umsonst gestorben" (2,21). Es ist verständlich, dass Paulus in dieser zugespitzten Diskussionslage manche Aspekte einer Existenz "unter dem Gesetz" abblendete - das Syntagma "Gesetz Gottes" benutzt er im Gal nicht, wohl in Röm 7,22 (vgl. 7, 12.14)! -, denn es ging ihm allein um die innere Konsequenz (er sagt: "die Wahrheit") des Evangeliums. Alle Polemik in Gal ist deshalb letztendlich Ausdruck für die klare Alternative, die er von seinen christologischen Voraussetzungen her bei seinen Adressaten anmahnen musste: Erkennen sie an, dass Christus "sich für unsere Sünden dahingegeben hat, um uns aus der gegenwärtigen bösen Welt zu erretten gemäß dem Willen Gottes" (1,4), oder verlassen sie sich darauf nicht und wollen sich noch zusätzlich durch "Werke des Gesetzes" (Beschneidung etc.) absichern?
3.3 Die Durchfohrung des Programms
Dreh- und Angelpunkt des Briefs (zwischen narratio und argumentatio) ist die Rede des Paulus an Petrus, in der er ihm den Basissatz der Rechtfertigungsbotschaft entgegenhält: "Der Mensch wird nicht auf Grund von Werken des Gesetzes gerechtfertigt, sondern durch den Glauben an Jesus Christus" (2,16). Die Wahrheit dieses Satzes holt Paulus in verschiedenen Schritten ein, von denen im Folgenden einige benannt seien: (a) Der Streit mit den Fremdmissionaren nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Frage, wer den legitimen Anspruch auf die Kindschaft Abrahams erheben kann. Nur diejenigen, die nach seinem Vorbild auch beschnitten sind? Nein, sagt Paulus, "die aus Glauben sind, das sind (die) Söhne Abrahams" (3,7),
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D. Die Briefe - Pau1usbriefe
denn auf Grund seines Glaubens wurde Abraham von Gott gerechtfertigt (vgl. Gen 15,6). Abrahams Nachkommenschaft ist also weltweit, denn es heißt, dass in ihm "aHe (Heiden-)Völker gesegnet werden" (Gen 12,3 = GaI3,8). (b) Dieser "Segen" (vgl. auch 3,9.14) ist die "Verheißungsgabe des Geistes" (3,14; vgl. 3,2-5.22; 4,6), weIche die an Christus Glaubenden empfangen. "Wenn ihr Christi seid, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung" (4,29). Typisch für die Argumentationsstruktur des Gal ist der Versuch, die Abraham gewährte Verheißung universalen Segens auf Christus engzuführen mit der Behauptung, dass er sein eigentlicher Nachkomme sei (vgl. 3,16). Nur wer "in Christus Jesus" (3,26) ist, hat dann auch Anteil an dem durch ihn vermittelten Segen. (c) Die Gegenprobe auf die Wahrheit des Basistextes strebt Paulus mit der Behauptung an, dass "es offenkundig sei, dass durch das Gesetz niemand vor Gott gerechtfertigt werde" (3,11). Einen Nachweis für das, was "offenkundig" zu sein scheint, liefert er aber nicht (das tut er in Röm), sondern beruft sich dafür nur auf Hab 2,4, wonach das Prinzip der Rechtfertigung der Glaube ist. Das Gesetz beruhe demgegenüber auf dem Prinzip des Tuns, weshalb nur derjenige, der tut, was die Gebote der Tora sagen, "durch sie leben werde" (Lev 18,5); wer sie nicht tut, stehe unter dem vom Gesetz angedrohten "Fluch" des Todes (Dtn 27,26). Nun läuft das Gefälle der Argumentation in Kap. 3 insgesamt auf die Behauptung hinaus, dass alle unter diesem Fluch stehen (vgl. 3,22), dass niemand das Gesetz erfüHt und dieses auch unfähig ist, "lebendig zu machen" (3,21). Das ist nach Paulus kein Unfall der Geschichte, sondern von Gott so gewollt, um ausnahmslos alle an Christi Erlösungstat zu verweisen. Paulus ordnet also das Gesetz in Gottes "Heilsplan" ein, aber als Faktor, der Christus auf negativem Weg zuarbeitet. (d) Entscheidender Baustein der Argumentation ist die Überzeugung, dass Christus den Fluch des Gesetzes in seinem stellvertretenden Tod "für uns" und uns zugute getragen hat (3,13). Dies ist der Grund dafür, dass den Heiden der Segen Abrahams durch den Glauben an diesen Christus zuteil wird. Summa summarum: Paulus kämpft leidenschaftlich für den voHgültigen ekklesiologischen Status der von ihm bekehrten Heidenchristen. Er tut dies, indem er schrifttheologisch auf der Basis der Überlieferung und unter Rekurs auf die Geisterfahrung seiner Adressaten den Glauben an Christus Jesus als den einzig heilsnotwendigen Weg erweist. Literatur Kommentare: J. BECKERIU. Luz(NTD 8/1)
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D.VII. Der Philipperbrief (Michael Theobald)
Den Phi) richtet Paulus an die erste von ihm auf dem europäischen Festland gegründete Gemeinde, mit der ihn ein besonders freundschaftliches Verhältnis verband - nur von dieser Gemeinde nahm er sogar Geld an. Trotzdem nimmt Paulus der Gemeinde gegenüber kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Sache des Evangeliums geht.
1. Struktur Das Präskript 1,1 f., in dem neben Paulus auch Timotheus (vgl. zu ihm 2,1923) als Mitabsender auftritt, ist einfach gehalten; nur die Nennung von "Episkopen und Diakonen" als Mitadressaten fällt auf. In der anschließenden brieflichen Danksagung (1,3-11), die mit einer eschatologischen Klimax endet (1,6.10f.; vgl. auch I Thess 1,10 etc.; F. SCHNlDERIW. STENGER 46), ist Paulus ganz auf seine Adressaten konzentriert, fUr deren aktive Mithilfe bei der Verkündigung des Evangeliums er dankt. In der "brieflichen Selbstempfehlung" (1,12-30; vgl. F. SCHNlDER/W. STENGER 50-68) ändelt sich die Perspektive: Jetzt spricht Paulus von sich selbst und seiner persönlichen Lage im Gefängnis, wobei er aber alles auf das Geschick des Evangeliums absteHt. Das zeigt schon der "Leitsatz" V. 12, den er dem ganzen Abschnitt voranstellt: "Ich will euch kundtun, Brüder, dass das, was mich betrifft (ta Kat' EilE), eher zum Fortschritt des Evangeliums geführt hat." Was er dazu anschließend mitteilt, gliedert er in zwei Hälften: Zuerst spricht er davon, wie sich seine Situation und die des Evangeliums zur Zeit darstellt (1,12-18a), dann richtet er seinen Blick aus der Gegenwart in die Zukunft (1,18b-26). Das Scharnier zwischen diesen beiden Hälften ist V. 18: "Doch was soll's? Jedenfalls wird auf jede Weise, ob aus Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündigt. Und darüber freue ich mich. - Aber ich werde mich auch weiterhin freuen!"
In 1,27-30 wechselt Paulus erneut die Perspektive. Blickte er in 1,12-26 auf EilE (V. 12), so geht es ihm jetzt um ta lTEPI. Ullwv, also um das, was die PhiIipper betrifft (vgl. auch 2,19). Wie er alles, was ihm zugestoßen ist und noch zustoßen wird, unter dem Gesichtspunkt des Evangeliums sieht (V. 12), so erbittet er in 1,27 jetzt auch von seinen Adressaten die gleiche Einstellung: "Nur lebt als Gemeinde würdig des Evangeliums Christi, damit - ob ich komme und euch sehe oder abwesend das euch Betreffende (ta lTEPI. Ullwv) höre - (ich erfahre), dass ihr in einem Geist steht, mit einer Seele für den Glauben des Evangeliums zusammen kämpfend ... " Auch wenn er in 1,30
ta Kat'
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
noch einmal aufseinen eigenen "Kampf' von 1,12-26 zurückkommt (weshalb F. SCHNIDERIW. STENGER 55 auch 1,27-30 zur "brieflichen Selbstempfehlung" ziehen), so kündigt die Mahnung 1,27f. (in Anknüpfung an 1,12) doch an, worum es im anschließenden Briefkorpus gehen soll: um die Mahnung zu einem Lebenswandel dem Evangelium gemäß! Das Briejkorpus selbst ist komplex. Ein erster Block (A) mit dem "Christuslob" als Motivationsgrund im Zentrum bietet positive Weisungen zur Gestaltung des Gemeindelebens. Sie ersetzen sozusagen die "Anwesenheit" des Apostels in Philippi (vgl. 2,12). Doch im Anschluss daran (in B) kommt Paulus gleich auf die Reisepläne seiner Mitarbeiter zu sprechen, wobei niemand ihn bei den Philippern besser vertreten könne, meint er, als Timotheus. Aber er habe die Hoffnung, "bald auch selbst zu ihnen zu kommen" (2,24). In der Zwischenzeit haben sie seinen Brief, den Epaphroditus ihnen überbringen wird. Nach einem holprigen Übergang (3,1 f.) ändert sich der Ton. Jetzt warnt Paulus seine Adressaten vor "Irrlehrern" und versucht, sie gegen diese durch Blick auf seine eigene Biographie zu immunisieren (0 = 3,1 b-21). Doch das Gewitter verzieht sich schlagartig. Paulus ruft seine Adressaten wieder zur "Freude" auf und setzt zur Schlussparänese an (4,1-9). Doch bevor er im Postskript mit den üblichen Grußaufträgen und -ausrichtungen endet (4,2123), formuliert er noch einen warmherzigen Dank für die Gaben, mit denen die Philipper ihn im Gefangnis unterstützt haben (F). Briefeingang 1,1-11 BriefKorpus 1,12-4,20
Briefschluss 4,21-23
Präskript 1,1-2 Proömium 1,3-1 I: Danksagung Eröffnung: Selbstempfehlung 1,12-26.27-30 A. Mahnungen "in Christus" 2,1-18 (a) Mahnung zur Einheit 2,1-4 (b) "Christuslob" im Zentrum 2,5.6-11 (c) Unterschiedliche Mahnungen 2,12-18 B. Reisepläne rur die Mitarbeiter (Timotheus und Epaphroditus) 2,19-24.25-30 C. Aufruf zur Freude 3,la D. Warnung vor "Irrlehrern" 3,lb-21 E. Schlussparänese 4,1-9 (mit zwei Friedensgrüßen: 4,7.9c) Abschluss: Dank rur die Gaben der Philipper 4,10-20 (mit filrbittendem Segenswunsch und Doxologie: V. 19f.) Postskript: Grußauftrag, Grußausrichtungen, Segenswunsch 4,21-23
2. Entstehung Ist der Brief einheitlich? Aus welchem Gefangnis heraus schrieb ihn Paulus? Was sind das für Gegner, vor denen er warnt? Das sind die wichtigsten Fragen, denen wir uns stellen müssen.
D.VlI. Der Philipperbrief (Michael Theobald)
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2.1 Einheitlichkeit des Schreibens? Die Diskussion über die Einheitlichkeit des Schreibens ist seit Beginn des 19. Jh. im Gang (vgl. J. GNILKA 6 mit Anm. 24). Sah es in der 2. Hälfte des 20. Jh. so aus, als obsiegten die Vertreter von Teilungshypothesen (W. Schmithals, G. Bornkamm, J. Gnilka, W. Schenk etc.) über die Verfechter der Einheitlichkeit (W. G. Kümmel), so melden sich letztere inzwischen wieder verstärkt zu Wort (M. Bockmuehl, R. Brucker, H.-J. Klauck, B. Mengel, M. Müller, U. Schnelle, D. F. Watson etc.). Alle Argumente dürften ausgetauscht sein, und man fragt sich, ob es bei ihrer Bewertung letztlich nicht doch nur um "Einschätzungsfragen" geht, "die man unterschiedlich beurteilen kann und rtir die objektive Kriterien fehlen" (so I. BROER II 382). Man begreift, dass in solcher Situation die Neigung wächst, am einheitlich überlieferten Text des Phil festzuhalten. Doch zunächst: Wie sieht die Argumentationslage aus? 2.1.1 Argumente zugunsten der Uneinheitlichkeit des Schreibens (I) Unbestritten ist der abrupte Wechsel im Ton zwischen 3,1 und 3,2-11 bzw. besser 3, I a und 3, I b-Il. Gerade noch rief Paulus seine Adressaten auf, "sich im Herrn zu freuen" (3,la), und schon warnt er sie schroff und sarkastisch vor fremden Missionaren, die rtir ihren Christusglauben offenkundig eine Gefahr darstellen. Er leitet seine Warnung mit den Worten ein: "dasselbe zu schreiben, ist mir nicht lästig, geschieht es doch zu eurer Sicherheit" (3, I b). Wenn man diesen metareflexiven Satz (vgl. etwa I Thess 5,1) zuweilen gegen seine ursprüngliche Intention nach rückwärts auf 3, I a bezieht, dann hängt das damit zusammen, dass hier Paulus sein neues Thema selbst nicht benennt, vielmehr, ohne irgendein Signal zu setzen, das Register wechselt, so dass der Leser gar nicht weiß, was denn zu wiederholen für die Adressaten mehr Sicherheit bringen soll. Der Aufruf zur Freude kann es doch nicht sein! Hinzu kommt, dass auf diese Warnung vor den fremden Missionaren in Kap. If. nichts vorbereitet. Im Gegenteil! Der Brief ist bis dahin auf einen "freudigen und herzlichen Grundton" abgestimmt, "wie man ihn in dieser Helligkeit und Häufigkeit in keinem anderen Paulusbriefmehr antrifft" (1. BECKER 325). In 1,15-17 deutet Paulus zwar an, dass es in der Stadt, in der er in Gefangenschaft liegt, auch "einige" gäbe, "die Christus aus Neid und Streitsucht verkündeten" (von Glaubensstreitigkeiten sagt er nichts), aber man wundert sich doch, dass er nicht hier schon durchscheinen lässt, dass es Konflikte auch andernorts, z. B. bei den Adressaten, durchzustehen gäbe. Die briefliche "Danksagung" (1,3-11) hebt ganz ab auf die "Gemeinschaft" der Adressaten "am Evangelium vom ersten Tag an bis zum gegenwärtigen Augenblick" (\,5), was 2,12 noch einmal bekräftigt. Und in 2,19 zeigt sich Paulus guten Mutes, dass er, wenn er Timotheus zu ihnen schicken kann, durch gute Nachrichten von ihrer Seite "erquickt" werden wird. "Wer so eine deutliche Sprache von Lob und Zuversicht gegenüber der Gemeinde äußert, kann nicht plötzlich in harte Polemik gegenüber Fremdmissionaren verfallen, um die Gemeinde aus anstehender großer Gefahr zu retten. Die Angst um die Gemeinde in 3,2f. ist unvereinbar mit der Gelassenheit und
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Problemlosigkeit, mit der Paulus im sonstigen Brief die Zukunft der Gemeinde sieht" (J. BECKER 325f.). Überrascht stellt der Leser fest, dass der Aufruf zur Freude "im Herrn" unmittelbar vor der Gegner-Polemik im Anschluss an sie in 4,4 wieder aufgegriffen wird diesmal sogar verstärkt! -, als hätte es zuvor überhaupt keine Probleme gegeben.
(2) Gerne führt man an, dass die Situation des Briefschreibers in Kap. I f./4 eine andere sei als die in Kap. 3. Dort spreche Paulus sehr persönlich unter dem Eindruck von Gefangenschaft und Todesgefahr, hier blende er in Sorge um die Gemeinde seine aktuellen Lebensumstände aus. Befand er sich, als er Kap. 3 schrieb, überhaupt noch im Gefängnis? Nun sind argumenta e silentio immer misslich, aber man kann schon fragen, ob nicht 3, I Of. ein "vorzüglicher Anlass" gewesen wäre, "um eine eventuell noch bestehende Todesgefahr des Apostels anklingen zu lassen" (1. BECKER 326). Doch nichts dergleichen liest man dort. N. Walter verweist noch auf ein weiteres Indiz in Kap. 3, das auf eine gegenüber Kap. I veränderte Situation hindeuten könnte: V. 20f. zufolge sei Paulus jetzt "nicht mehr in einer Lage", "die ihn mit der Möglichkeit des Todes jetzt, also vor der himmlischen Ankunft des Herrn konfrontiert [so 1,21-23]; der Gefängnisaufenthalt mit seinem ungewissen Ausgang liegt offenbar jetzt hinter ihm. Wie in I Kor 15,51-53 setzt er hier voraus, dass er die Ankunft Christi vom Himmel her erleben wird und dass sein Leib dann, fUr die ,Heimholung' in den Himmel, verwandelt werden wird" (Phil 87).
(3) Bemerkenswert sind folgende Doppelungen: (a) Zweimal hebt der Text mit einem "im übrigen, (meine) Brüder" an (3, 1a/4,8), einer stereotypen Floskel, die in einigen Paulusbriefen den paränetischen Schlussteil einleitet (F. SCHNIDERIW. STENGER 76), so in I Thess 4,1; 2 Kor 13, I I ("im übrigen, Brüder, freut euch!"); Eph 6,10 und 2 Thess 3,1. Nur in Phil begegnet diese Wendung zweimal! - (b) Zur brieflichen Schlussparänese der Paulusbriefe gehört ein [ürbittender Segenswunsch, der jüdischem Gebetsstil entsprechend die Gottesbezeichnung mit einem Genitiv verknüpft (ebd. 87f.). Die Wendung "der Gott des Friedens" begegnet hier gleich siebenmal (Röm 15,33; 16,20a; 2 Kor 13,11; Phil4,9b; 1 Thess 5,23f.; 2 Thess 3,16; Hebr 13,20). Auffallig ist nun, dass Phil zweimal einen solchen Friedenswunsch bietet, in 4,7 ("der Friede Gottes ... ") und 4,9 ("der Gott des Friedens ... ") (sonst findet sich eine solche Doppelung nur noch in Röm 15,33; 16,20a, wobei aber die Ketzerpolemik 16,17-20a sekundär interpoliert sein dürfte: F. SCHNIDERIW. STENGER 82; M. THEOBALD, SKK.NT 6/2 [- 0.111.], 249-253). (4) 4,10-20, der Dank für die finanzielle Unterstützung aus Philippi, komme, so meinen einige Kritiker (W. Schenk etc.), in doppelter Hinsicht zu spät. Zum einen literarisch. Denn bereits in 2,25-30, wo sich Paulus lobend über Epaphroditus, den Überbringer der Gabe (4,18), äußert, wäre der Dank angebracht gewesen, aber nichts dergleichen liest man dort. Außerdem hätte Paulus sich für diesen Dank ungebührlich viel Zeit gelassen, wenn man bedenke, dass er ihn erst nach mehreren Wochen ausspreche. 2,25-30 zufolge
D.VII. Der Philipperbrief(Michael Theobald)
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war ja Epaphroditus nach seiner Ankunft bei Paulus auf den Tod erkrankt und musste sich erst erholen, bevor dieser ihn dann mit seinem Brief nach Philippi zurückschicken konnte. Daraus schließt man, dass 4,10-20 ein ursprünglich selbständiges Dankesschreiben sein müsse, das Paulus unmittelbar nach dem Eintreffen des Epaphroditus mit der Geldgabe aus Philippi verfasst habe. Es sei wahrscheinlich das älteste Stück seiner Korrespondenz mit Philippi. (5) Ein äußeres Zeugnis rur das Vorliegen einer Briefkomposition meint man dem Brief des Polykarp an die Philipper (ca. 135 n. Chr.) entnehmen zu können (so 1. GNILKA), der in 3,2 von "Briefen" (im Plural!) an die Philipper spricht. Doch mahnt jüngst 1. 8. Bauer zur Vorsicht, wenn er die alte VemlUtung, dass Polykarp die Existenz mehrerer Briefe des Paulus nach Philippi aus 3, I ("euch dasselbe [wieder] zu schreiben") erschlossen haben könnte, "ansprechend" nennt (J B. BAUER 46). In 11,3 spricht Polykarp übrigens nur von dem einen bestimmten Brief, an dessen Anfang "der selige Paulus" die Philipper gelobt habe.
2.1.2 Argumente zugunsten der Einheitlichkeit des Schreibens Insgesamt haben die Teilungshypothesen die Forschung dadurch befruchtet, dass man sich durch sie gezwungen sah, den Brief verstärkt auf seine fonnale und semantische Kohärenz hin zu befragen, und dazu, inspiriert durch die antike Epistolographie und Rhetorik, auch neue methodische Wege suchte. Wie lauten die Argumente der Verteidiger der Einheitlichkeit des Schreibens nun im einzelnen? (I) Was den abrupten Wechsel im Ton zwischen 3,la und 3,lb-11 angeht, so hatte man sich diesen lange Zeit damit erklären wollen, dass Paulus nach 3,la eine Diktierpause eingelegt habe und dann, von neuen Nachrichten (aus Philippi) überrascht, zu einer Änderung seiner Briefstrategie gezwungen gewesen sei. Tatsächlich lassen sich Diktierpausen in der antiken Briefliteratur nachweisen. Z. B. spricht M. Caelius Rufus in einem Schreiben an Cicero von dem, was er diesem "oben geschrieben habe", und bemerkt zu den Aktivitäten eines Konkurrenten im politischen Geschäft: "Das hatte er noch nicht getan, als ich den ersten Teil dieses Briefes schrieb" (Cicero, Farn VJIl 6,5; bei H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 132). In Phil 3,1f. fehlt allerdings ein derartiger Hinweis.
Inzwischen versucht man, den sperrigen Versen eher mit literarischen Mitteln beizukommen. Man deutet V. I b als "Übergangsvers" und fragt, ob denn das dreifache ßAE1TE"rE mit Akk. in V.2 wirklich mit "hütet euch vor ... " zu übersetzen sei oder nicht eher mit: "schaut euch die Hunde an, schaut euch die schlechten Arbeiter an ... !" (D. F. WATSON 82; R. BRUCKER 283; M. MÜLLER I 99f.). Dann wäre V. 2 keine Warnung aus heiterem Himmel, sondern nur die Aufforderung, sich diese (durchaus bekannten) Fremdmissionare genau anzusehen. Oder man stellt den Bezug von V. 2-11 konkret zu den Adressaten überhaupt in Frage, so dass Paulus hier eigentlich nur prophylaktisch rede:
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
"Disconcerting news may have reached hirn ofthe activities of ludaizers in Rome or elsewhere (though probably not in Philippi, as Lightfoot thought: the attack is too unspecific in character, and unexpected news from Philippi would surely have been acknowledged as such)" (M. BOCKMUEHL 183). .
Schließlich betont man (siehe unten), dass die Angriffe des Paulus gegen die Fremdmissionare keineswegs unvorbereitet kämen, denn schon in 1,28 warne er die Adressaten vor "Widersachern" und in 1,27; 2,1~ rufe er sie zur Einmütigkeit auf. Allerdings sind diese "Widersacher" von 1,28 nicht "Irrlehrer", "die sich in der Gemeinde erhoben hätten oder, von draußen kommend, die Philipper in ihrem Glauben zu erschüttern trachteten", sondern Gegner der Gemeinde in der heidnischen Bevölkerung von Philippi (J. GNILKA 99; auch M. BOCKMUEHL 28f.), haben also mit den Fremdmissionaren von 3,2-11 nichts zu tun. Das ersieht man eindeutig daran, dass Paulus das, was seine Adressaten von diesen zu "erleiden" hätten (1,29), mit seinem eigenen "Kampf' vergleicht, den er als Gefangener durchzustehen hat (1,30).
(2) Die epistolographische Beobachtung, dass 1:0
ÄOLTTOV
(3, I; vgl. 4,8)
(= übrigens oder schließlich/finally) eine "Conc1usion"-Formel sei, erkennt M.
BOCKMUEHL an (ebenso M. E. THRALL 28), fragt aber, ob man Paulus deshalb in eine formale "Zwangsjacke" stecken müsse: "He beginns to conclude in 3, I - and then goes on concluding for some considerable time. An important additional matter comes to mind - triggered perhaps by the word ,safeguard' in V. I: ,Olt, and speaking of safeguards, you must remember to beware of the ,dogs' ... '" (Phil 176). Man beachte, wie diese Paraphrase über den harten "Übergang" V. If. hinweggleitet!
Andere stellen die funktionale Eindeutigkeit des Signals 1:0 ÄOLTTOV überhaupt in Frage; R. BRUCKER 282 z. B. hält es in Phil 3, I ftlr eine schlichte Überleitungsformel = übrigens (vgl. auch M. MÜLLER 183f.). Und was die bei den Friedenszusagen 4,7.9 betrifft, so hebt Müller ebd. auf ihre unterschiedlichen Formulierungen ab (er versteht sie als "Verheißungen" im Anschluss an die jeweils voranstehenden ethischen Weisungen, nicht als "Gebetswünsche"), womit er die Annahme, es handele sich um "Dubletten", zu unterlaufen sucht. (3) Dass Paulus seinen Adressaten nicht schon in 2,25 für ihre Gabe dankt, sondern erst am Ende des Schreibens, mag damit zusammenhängen, dass er nicht dem Eindruck Vorschub leisten wollte, der Dank ftlr das Geld sei der eigentliche Anlass seines Schreibens. Übrigens kommt er auch im I. Korintherbrief erst an dessen Ende in 16, I~ auf die Geldsammlung der Gemeinde zu sprechen (J. BECKER 327). Dazu passt, dass er in 4,10-20 von der Geldgabe nicht gerade heraus redet, sondern vom "für mich Sorgen" der Adressaten oder von ihrer "Teilhabe an meiner Bedrängnis" auf einer eher spirituellen Ebene. Wenn er betont, dass er eigentlich gar keinen "Mangel leide", sondern in Christus "alles vermöge", dann erweckt er zudem den Eindruck, statt Ab-
D.Vll. Der Philipperbrief (Michael Theobald)
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hängigkeit von den mit ihm seit langem "im Geben und Nehmen" verbundenen Philippern die Partnerschaft mit ihnen betonen zu wollen. Und auf Grund welcher Indizien wollte man behaupten, dass Paulus seinen Philippern reichlich spät gedankt hätte? "Man kann sich vorstellen" - meint J. GNILKA -, "dass der Apostel seinen Dank zuerst mündlich ausrichten ließ, dass er - in das Gefängnis geworfen - andere Sorgen zu tragen hatte und dass die Sorge der Gemeinde um ihn, auf die er ja in Kap. I eingeht, und umgekehrt seine Sorge um die Gemeinde ihm wichtiger dünkten" (10). (4) Zugunsten der ursprünglichen Einheit des Schreibens verweist man gerne auf das Netz von Stichworten, Motiven und Themen, welches den Brief überzieht und gerade das umstrittene Kap. 3 in seinen Kontext einbindet (D. E. GARLAND 158f.; R. BRUCKER 286-290; vgl. auch J. GNILKA 9). Folgende Motiv-Bögen docken in diesem Kap. an: (a) "der bei euch das gute Werk begonnen hat, er wird es bis zum Tag Christi auch vollen.den" (1,6; vgl. 1 Kor 1,8): dazu vgl. man die Termini der "Vollendung" in 3,12.15! (b) "dass ... Christus durch meinen Leib verherrlicht werde" (1,20): dazu vgl. das Thema "Leiblichkeit" in 3,21, implizit auch in 3,10! (c) "Christushymnus" 2,6-11: "die Gestalt (lloPcjl~v) eines Sklaven" (2,7): ,,gleichgestaltet (aull-llopcjlL(6IlEVO~) mit seinem Tod" (3,10); vgl. auch 3,21 (Olill-lloPcjlov t<\i aWlllt:tL tii~ 1i6~TJ~) (vgl. R. 8RUCKER 288f.). (d) "erflillt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch 1esus Christus ... " (1,11): vgl. 3,6.9, wobei sich aber das typische Sprachspiel der Rechtfertigung vom unspezifischen Wortgebrauch in 1,7.11; 4,8 deutlich abhebt (1. 8ECKER 326). (e) .,nur rührt euer Gemeilldeleben (TToALtfUa6f) wUrdig des Evangeliums Christi" (1.27): damit vgl. 3,20 ("unser 8Urgerrecht [TTOALtEUIJIX) ist in den Himmeln"). (f) "dasselbe denken" (tb exutb cjlpovELV): 2,2; 4,2 (eine stereotype Mahnung: vgl. Röm 12,16; 15,5; 2 Kor 13,11). (g) Gedanke der Nachahmung
372
D. Die Briefe - Paulusbriefe D. F. Watson ( 1988) (= Geotfrion
Bloomquist ( 1993)
R. Brucker (1997)
Black ( 1995)
1,3-11
1,3-11
1,3-11
1,12-14
1,12-26
1,12-26
1,15-18a
1,27-30
1,27-30
1,18b-4,7 (a) 1,18b-2,18 (confirmatio, exhortatio) (b) 2,19-4,7 (exempla, reprehensio, exhortatio
2,1-3,21 (a) 2,1-11 (b) 2,12-18 digressio: 2,19-30 (c) 3,1-21
2,1-30
~1993Jl
exordium
1,3-26
narratio 1,27-30 propositio (partitio) probatio
peroratio
2,1-3,21 (a) 2,1-11 (b) 2,12-18 digressio: 2,19-30 (c) 3,1-21
4,1-20
4,1-20
3,1-21 (refutatio) 4,1-9 (4,10-20: narratio)
Im Einzelnen sind bei diesen Analysen folgende Punkte problematisch: (I) Wenn "die Widersacher" von 1,28 (vgl. I Kor 16,9) Feinde der christlichen Gemeinde sind, nichl aber christliche "Irrlehrer" (siehe oben), dann deckt die propositio 1,27-30 (= Themasatz) Kap. 3 gerade nicht ah! - (2) R. Brucker versteht 1,27-30 als propositio (1,27a) und partiUo (= Angabe der Brietgliederung), wobei der Textblock (a) den Satzteil 1,27b ("in einem Geist stehen") entfalten soll, der Textblock (b) den Satzteil 1,27c (zusammen kämpfen fur den Glauben des Evangeliums) und der Textblock (c) 1,28 (sich von den Widersachern nicht schrecken lassen). 2,19-30 (digressio = Abschweifung) bringt R. Brucker in diesem Schema aber nicht unter! - (3) An sich beinhaltet eine refutatio die Zurückweisung von Einwänden gegen die propositio, die Hauptthese der Rede. Inwiefern 3,1-21 solches im Blick auf 1,27-30 leistet (D. A. BLACK), bleibt schleierhaft. - (4) Nach D. E. GARLAND (173) ist 3,1-21 eine digressio (= Abschweifung), was dem Befund eher entspricht als der Vorschlag, den Text als Teil der probatio zu lesen. Kurzum: Die rhetorischen und strukturanalytischen Versuche (vgl. auch P. WICK) vermögen die konzeptionelle Verankerung des sperrigen Abschnitts 3,1b-21 im Briefganzen auch nicht zu erweisen.
2.1.3 Wie ist zu entscheiden? Gibt es in dieser Sache tatsächlich keine "objektiven Kriterien" (so I. BROER) oder können wir den klassischen Kriterien der Literarkritik wie "Spannungen" und "Doppelungen" noch trauen? Welche Rolle spielen strukturelle und epistolographische "Gegenproben"? Unter dieser Rücksicht scheint mir aus den unterschiedlichen Angeboten von Teilungshypothesen (vgl. die Übersicht bei L. BORMANN 110.115) die nachstehende Lösung immer noch die beste (vgl. J. GNILKA und J. BECKER).
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D.VII. Der Philipperbrief(Michael Theobald)
Sie hält an der bis heute durch nichts entkräfteten Einsicht fest, dass zwischen 3,1 a und 1b-Il eine literarkritisch relevante "Spannung" besteht, woraus zu folgern ist, dass mit 3,lb-ll ein Brieffragment (Phi! B) beginnt, das von der Redaktion in den vollständig erhaltenen Brief Phi! A eingeschoben wurde: Phi! A: 11,1-3,1~ Phi! B:
@,2-71
@,10-231
ß,lb-4,11
Auf die gewiss ernsthaft zu diskutierende Annahme, auch noch 4,10-20 als eigenes Dankesschreiben herauszunehmen, soHte man verzichten. L. Bormann meint zwar, dass Paulus hier direkJ auf die Gabe der Philipper reagiere, wenn er in 4,18 ihren Erhalt "quittiere" (dazu auch J. GN1LKA 179) und hinzufiIge, er habe jetzt Überfluss und sein Bedarf sei gedeckt. Das könne "nicht viele Wochen oder einige Monate nach der Überbringung der Gabe der Philipper geschrieben worden sein", und er meint: "Daran schließen sich die in 2,25-30 erwähnten Ereignisse an" (113). Dagegen spricht aber V.14, dem zu entnehmen ist, dass Paulus ihre Unterstützung im GejQngnis erhielt, denn "eA"i.\IIL~ fasst die ganze abschnürende Bedrängnis der Gefangenschaft zusammen (vgl. 1,17; 2 Kor 1,8)" (1. GNILKA 177), und Phi! A samt Dank ftir ihre Gabe ist ja im Gefängnis geschrieben! Wenn Paulus überdies in V.14 von ,,Anteilnahme an meiner Bedrängnis" (OUY-KOLVWVELV) spricht, dann nimmt er exakt die Terminologie der brieferöffnenden .,Danksagung" 1,5.7 auf (zu weiteren Verbindungen zwischen dieser und 4, I0-20 vgl. R. BRUCKER 287). So gewiss das Fragment Phil B mit 3, I b einsetzt, wo und wie es endet, ist unklar. Die Dublette der Formel "im übrigen/schließlich, meine Brüder" 3,114,8 rät aber dazu, 4,8f. noch Phil B zuzuschlagen. Gestützt wird dieser Entscheid durch die dazu genau passende zweite Duhlette. nämlich die doppelte Friedenszusage in 4,7 und 4,9b, von denen die erste zu Phil A und die zweite zu Phil B gehört. Da diese Friedenszusage nicht mit einem briet:. abschließenden Segenswunsch verwechselt werden darf (so richtig M. MÜLLER 140), ist davon auszugehen, dass der eigentliche Briefschluss von Phi! B verlorengegangen ist (auch sonst folgt bei Paulus auf einen Friedenswunsch o. ä. noch der eigentliche Briefabschluss). Davon wie von der Brieferöffnung abgesehen, scheint aber mit dem Fragment Phi! B, einem in sich wohlstrukturierten und abgerundeten Stück (vgl. R. BRUCKER 297 mit Lit.), das Corpus des Briefs (einschließlich der paränetischen Schlussfolgerung 4, I) integer erhalten zu sein.
Was Phi! A, den Gefangenschaftsbrief, betrifft, so gibt er nach Abzug von Phi! B einen unter epistolographischen wie rhetorischen Gesichtspunkten plausiblen und in sich abgerundeten Aufbau zu erkennen. Die propositio 1,27-30 am Ende der narratio 1,12-26, also der Themasatz des Schreibens ("als Gemeinde würdig des Evangeliums leben" - "in einem Geist stehen"), deckt jetzt das Briefkorpus 2,1-18 tadellos ab, und die Mitteilungen zu den Reiseplänen seiner Mitarbeiter, 2,19-30, leiten, wie auch sonst in den Paulinen, zum Briefende über (F. SCHNIDER/W. STENGER, Studien 92f.98f.). Die 1:0 ÄOL1Tov-Formel in 3,1 signalisiert, wie üblich, eine ethische (Abschluss-)Weisung, die ihrerseits in einem konkreten Fall (4,2f.) das Leitmotiv der Einmütigkeit noch einmal aufgreift.
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Die semantische Kohärenz des Schreibens ist dicht. Durchgängiges Motiv ist das der Freude (1,4.18; 2,2.17f.28f.; 3,1; 4,4.10) - trotz Todesgefahr und Leiden (2,17). Brieftypische Elemente (F. SCHNIDERIW. STENGER) durchziehen das Schreiben, das Parusia-Motiv (I,26f.; 2,24: abwesend/anwesend), Artikulationen der Hoffnung, sich wiederzusehen (1,26; 2,24) oder zumindest durch Boten über den Partner informiert zu werden (1,27; 2,19) etc. Beachtlich sind auch die Anleihen bei der hellenistischen Freundschaftssprache, vor allem in 4, I 0-20 (1. REUMANN). Insgesamt gibt der "Gefangenschaftsbrief' ein bewegendes Zeugnis von der besonderen Beziehung, die Paulus zu seiner "Lieblingsgemeinde" unterhält (er selbst spricht dabei vom KOLVWVELV: 4,14f.; vgl. auch 1,5.7; 2,1). Wie das Wortfeld der "Freude", so ist auch die mehrfache Rede vom "Evangelium" (1,5.7.12.16.27 [2x]; 2,22; 4,3.15; vgl. auch 1,14f.17f.) auf den "Gefangenschaftsbrief' beschränkt. Der Terminus hat wesentlich mit dem Ziel des Schreibens zu tun. An seiner eigenen Person veranschaulicht Paulus nämlich zunächst, dass das Evangelium - trotz der Gefangenschaft seines Boten! - nur "Fortschritte" macht (1,12). Verbunden im Dienst am Evangelium von Anfang an (1,5;4,15), geht sein Anliegen dahin, dass auch seine "Lieblingsgemeinde" weiterhin "würdig dieses Evangeliums" lebt - vor allem angesichts des gesellschaftlichen Drucks, den beide zu erleiden haben, der Apostel wie seine Gemeinde (vgl. 1,30)! Und das heißt für ihn: dass sie die Einmütigkeit im Geist Christi bewahren (vgl. die Kontrasterfahrung von 1,15.17; 2,21 einerseits und die Mahnungen von 1,27; 2,1-4; 4,2f. andererseits)! Sieht man die Leitfunktion gerade dieser Weisung (1,27 ist propositio!), dann kann man den Brief dem genus deliberativum zuweisen (so auch D. F. WATSON 59).
2.1.4 Anschlussprobleme (I) Ein wichtiger Einwand gegen die Teilungshypothesen lautet, dass sie die Probleme nur verschieben: vom Briefautor auf den Redaktor (vgl. R. BRUCKER, Stilwechsel 281f.). Dem Apostel wolle man den Bruch 3,la;Ib-11 nicht zutrauen, wohl aber dem Redaktor! Und welche Grunde soll dieser überhaupt gehabt haben, eine derartige Briefkomposition herzustellen? Zum zweiten Punkt ist zu sagen, dass man von Anfang an die Briefe des Apostels in der Gemeindeversammlung vorlas (vgl. I Thess 5,27; Kol 4,16), eine Praxis, die nach dem Martyrium des Paulus schon bald zu einem "gottesdienstlichen" Akt wurde: Man räumte dem Wort des Apostels bleibende autoritative Bedeutung ein! Nicht umsonst enden auch fast alle Paulusbriefe in der (sicher sekundären) handschriftlichen Bezeugung mit einem "Amen". Das dürfte den "Sitz im Leben" signalisieren, der auch rur die Herstellung der Briefkomposition maßgeblich war (vgl. J. GNILKA 14-16). Entstanden ist diese gewiss in Philippi (G. BORNKAMM). Man wollte die beiden Briefe des Apostels an die eigene Gemeinde in einem einzigen Schreiben vereinen, das seine literarische Hinterlassenschaft an sie dokumentiert und rur die gottesdienstliche Verlesung geeignet war. Wenn man dabei die Ränder des jüngeren Schreibens wegließ, dann ist das vergleichbar z. B. mit Teilen der frühen handschriftlichen Überlieferung des Röm, die angesichts des Interesses an der universal-kirchlichen Rolle des Apostels auf die ortsgebundenen Details des Briefschlusses (Röm 15f.) gut und gern verzichten wollte. Grund rur die Einbettung der jüngeren "Kampfepistel" in den älteren "Freundschaftsbrief' war vielleicht auch die Überlegung, "solche
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wuchtige Ketzerpolemik" nur in einem solchen Rahmen ..dauernd generalisieren" zu können (J. BECKER 326). Zum konkreten Redaktionsvorgang ist soviel zu sagen, dass nach dem Martyrium des Paulus Phil A mit seinem Bild vom gefangenen und dennoch zur Freude aufrufenden Apostel nicht grundlos zur Basis der Komposition gewählt wurde. Seinen Aufruf zur Einmütigkeit (Phil A) und seine Warnung vor den "Hunden" (Phil B) schaute man, wiewohl für Paulus selbst noch zu trennen, als apostolisches Vennächtnis in eins. Dass in der Redaktion der Aufruf zur Freude (3, la;4,4) jetzt den Kampfbrief umgibt, war vielleicht so gewollt (W. SCHMITHALS, dem 1. GNILKA 17 folgt). (2) Auf ein weiteres Problem kann nur hingewiesen werden: Gibt es Analogien zur postulierten Briefkomposition in antiken Briefsammlungen? Die wenigen Studien dazu (D. Trobisch, H.-J. Klauck, T. Schmeller), die vor allem auf die Briefkorpora des Cicero rekurrieren, lassen folgendes erkennen: "Partition theories are not apriori implausible, but they should be kept rather simple, serial addition being more probable than interpolation of fragments" (H.-1. KLAUCK, Compilation 337). Allerdings wird man einschränken müssen: "Für die Paulusbriefe muss nicht dasselbe gelten wie flir die Cicero briefe" (T. SCHMELLER, Cicerobriefe 205).
2.2 Das Profil der Fremdmissionare nach Phi! B
Paulus warnt in 3,2-11 seine Adressaten vor Missionaren, die "heidenchristlichen" Gemeinden (wie der von ihm in Philippi gegründeten) die Übernahme der Beschneidung als Zeichen ihrer heilsnotwendigen Eingliederung in das Bundesvolk aufdrängen (vgl. V.2c.3). Soweit besteht Konsens in der Forschung. Schwierig wird es, wenn man weiterfragt: (a) Ging es um ,judenchristliehe" Missionare (so etwa 1. GNILKA 211-2(8) oder um .. Missionare des Judentums", ..die auf den Spuren einer anderen, eben der paulinischen, Mission die (in ihren Augen) erst halb Gewonnenen nun ganz für das Judentum zu gewinnen suchten" (N. WALTER 89; unentschieden K.-W. NIEBUHR, Heidenapostel 92)? - (b) Waren diese Missionare bereits in die Gemeinde eingedrungen (1. GNILKA; M. MÜLLER 203) oder warnt Paulus erst vor ihrem Kommen (1. BECKER; M. D. HOOKER rechnet mit ..Gegnern" nur am Ort von Pauli Gefangenschaft)? (c) Was prägte ihr Profil über die Beschneidungsforderung hinaus? Konkret: Waren sie von einem "Vollkommenheitsenthusiasmus" bestimmt, der .. über Kreuz und Auferstehung hinwegsah", um sich am irdischen Jesus als einem göttlichen Heros zu orientieren (1. GNILKA 214. 2(8)? Oder fließen in 3,10-16, worauf sich derartige Annahmen stützen, Erfahrungen des Apostels ein, die er andernorts, insbesondere in Korinth, gemacht hat (N. WALTER 89f.)?
Zu (a): Der Tenninus "Arbeiter" (epYIl"taL) in V.2 ist offenkundig eine christliche Selbstbezeichnung von Missionaren, was außer 2 Kor 11,13 auch Mt 9,37f. und 10,10 belegen. Der von Paulus in 3,3-6 inszenierte Vergleich mit den Gegnern setzt voraus, dass auch diese Jesus-Missionare sind, allerdings ,judaisierende", die (wie die galatischen Gegner) die Beschneidung fordern, Zu (b): Die Frage ist schwer zu entscheiden. Da Paulus 3,lb zufolge die PhiIipper vor den Fremdmissionaren schon mündlich (vgl. unten) gewarnt hat, ist ihm die Sache jetzt offenkundig sehr dringlich. Aber er deutet nicht an, dass
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sie ihnen schon entgegengekommen wären. - Zu (c): Die Vorbehalte gegen ein enthusiastisches Selbstbewusstsein, das vom errungenen Siegespreis schon erfüllt ist (vgl. 3,14), könnten sich in der Tat gegen die Fremdmissionare richten, was die spen-ige Verwendung der Vollkommenheitsterminologie in V. 15 ("Alle nun, die vollkommen sind, das lasst uns bedenken!"; vgl. auch V. 12) erklären würde (ein Stichw0l1 der Gegner!). Aus der Ketzerpolemik V. 19 lässt sich nicht auf libertinistische Tendenzen der Gegner schließen. Näher liegt ein stark pneumatisches Selbstverständnis, wie man es im Bereich des hellenistischen Judentums (Phi!o!) findet und sich auch im Jesus-Bild der Gegner niedergeschlagen haben dürfte (vgl. 1. GNILKA 218).
2.3 Orte und Zeiten der Abfassung von Phi! A und B Wenn man sich zur Teilung des Phi! entschließt, wird man für beide Briefe, Phi! A und S, die Situation ihrer Entstehung erheben und sie in die Chronologie des paulinischen Missionswerks einordnen müssen. Auszugehen ist dabei vom älteren "Gefangenschaftsbrief' (Phi! A). Oft genug war das Gefangnis Schicksal des Paulus, wie er in 2 Kor 6,5; 11,23 (vgl. auch Röm 16,7; 1 Clem 5,6), also noch vor seinem letzten Leidensweg schrieb, der ihn als Gefangenen von Jerusalem über Cäsarea nach Rom führen sollte. Wo lag der Kerker, aus dem er an die Philipper schrieb?
2.3.1 Die Rom-Hypothese Die Antwort der kirchlichen Tradition auf diese Frage lautet seit frühester Zeit bis zu Beginn des 20. Jh. fast einhellig: in Rom. Und auch heute noch gibt es Exegeten, die dieser Tradition folgen (U. SCHNELLE 153 mit Anm. 427 [Lit.]; neuerdings M. GIELEN). Ihre Wirkung verdankte sie immer schon dem Umstand, dass man die sog. "Gefangenschaftsbriefe" des Apostels (Phlm, Phi!, Kol, Eph und auch 2 Tim) durchweg von seinem Ende, dem römischen Martyrium, her las und dafür auch genügend Indizien in diesen Briefen selbst fand (vgl. Kol 1,24; 2 Tim 2,9; 4,6f.16). Was Phil angeht, so konnte man auf zwei Angaben verweisen, die sich trefflich mit der Hauptstadt in Einklang bringen lassen: auf 1,13, wonach Paulus sich im "Prätorium" befindet, und 4,22, wo er die Grüße "derer aus dem Haus des Kaisers" übermittelt (zur Funktion dieser Grüße vgl. F. SCHNlDERIW. STENGER, Studien 127). Außerdem schien wichtig, dass die Apostelgeschichte nur von zwei längeren Inhaftierungen des Apostels weiß, nämlich der in einer römischen Mietswohnung und der vorangehenden in Cäsarea; auch die lockeren Haftbedingungen von Apg 28,16-31 passen mit denen von Phi! I f. gut zusammen.
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An Zusatzargumenten werden genannt (vgl. U. SCHNELLE 153f.): (I) Im Phi! fehlen Kollektennotizen. Das deute darauf hin, dass die Kollekte in Jerusalem schon übergeben worden und abgeschlossen sei. (2) Das Verhältnis des Apostels zur Gemeinde des Ortes, an dem er sich befindet, sei 1,15-17 zufolge distanziert gewesen, woraus zu schließen sei, dass die Gemeinde nicht von ihm gegründet sei. (3) Der in den authentischen Paulusbriefen nur in Phil 1,1 begegnende Terminus ETT(aKoTTo~ (= Aufseher) (vgl. sonst Apg 20,28; I Tim 3,2; Tit 1,7) sei Indiz für eine späte Abfassung des Briefs.
2.3.2 Die Ephesus-Hypothese Nun hat die Forschung des 20. Jh. (vgl. die Hinweise bei J. GNILKA 18-20) die Selbstverständlichkeit der Rom-Lokalisierung nachhaltig in Zweifel gezogen. Sie hat gezeigt, dass das lateinische Lehnwort to 1Tpattwptov nicht nur das Gebäude der römischen Prätorianergarde, sondern auch z. B. "die offizielle Residenz" eines "Provinzstatthalters" bezeichnen kann (J. GNILKA 57f. mit einer Übersicht zur vielfältigen Verwendung der Vokabel). Und die Rede von "denen, die aus dem Haus des Kaisers sind" (4,22; vgl. Philo, Flacc 35; Josephus, Ant Xlii 142), womit hier Sklaven und Freigelassene gemeint sein dürften, führt auch nicht zweifelsfrei nach Rom, da "das Haus oder (die) Familie des Kaisers nach Tausenden zählte, alle kaiserlichen Bediensteten vom höchsten Beamten bis zum letzten Sklaven umfasste" und "es solche nicht nur in Rom, sondern auch in allen Provinzen des Reiches, vor allem in deren Metropolen. gab" (J. GNTLKA 182). Zweifel an der Rom-Hypothese nähren aber vor allem die Angaben im Brief selbst, soweit sie die Geschichte des Apostels mit seiner "Lieblingsgemeinde" betreffen. So scheint 1,26.30 zufolge Paulus die Gemeinde seit ihrer Gründung auf der zweiten "Missionsreise" (vgl. Apg 16,12-40) nicht mehr gesehen zu haben. Seinen zweiten und dritten Besuch bei ihnen sollte er ihnen dann auf seiner "Kollektenreise" nach Jerusalem abstatten, und zwar auf seinem Weg nach Korinth (vgl. Apg 20,1 f.) und von dOtt wieder zurück auf dem Landweg in die Asia (vgl. Apg 20,6). Hätte Paulus, als er den Phil schrieb, auf diese mehrfachen Begegnungen mit ihnen schon zurückgeblickt, würden 1,26 ("wenn ich wieder zu euch komme") und I ,30 anders lauten. Dort stellt er nämlich lediglich den "Kampf', den die Philipper bei der Missionierung der Gemeinde an ihm gesehen haben, und den, von dem sie jetzt bei ihm (in der Situation der Gefangenschaft) hören, gegenüber, wobei auch das ,Jetzt" auffallt. Denn hätte Paulus den Brief aus Rom geschrieben, lägen schon zwei Jahre Haft in Cäsarea und weitere Monate der Gefangenschaft in Rom hinter ihm, so dass man sich verwundert fragen müsste, warum die Philipper erst ,Jetzt" und nicht schon seit geraumer Zeit von seiner Not gehört haben sollten (U. B. MÜLLER, Brief 158). Definitiv gegen die Rom-Hypothese spricht die Erwartung, die Paulus in 1,26 und 2,24 äußelt, falls sein Prozess (vgl. 1,7) günstig ausgeht: "Ich vertraue aber im Herrn darauf, dass auch ich selbst bald (zu euch) kommen
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werde." Das passt nicht zu den Plänen, die Röm 15,23f. zufolge Paulus von der Hauptstadt aus zu realisieren gedenkt: Da er im Osten "kein Arbeitsfeld" mehr habe, wolle er von Rom aus im Westen missionieren. Sollte er diesen Plan in der römischen Haft - gesetzt den Fall, er würde freigelassen - abgeändert haben? Welchen Grund könnte er dafiir gehabt haben? Wenn man den Brief teilt und sieht, dass die Reisepläne Richtung Makedonien nur in Phil A stehen, dann entfiele auch der Grund, in Philippi wegen der drohenden Gefährdung der Gemeinde durch die "Irrlehrer" nach dem Rechten sehen zu wollen. Und in Phil A ist die vorgesehene Reiseroute Richtung Makedonien so selbstverständlich, dass der Gedanke an eine bewusste Änderung der Route (vor Spanien noch einmal ein Abstecher nach Makedonien!) völlig fern liegt (vgl. zum Kontrast 2 Kor 1,15f., wo Paulus die Abänderung seiner Reisepläne ausdrücklich begründet). Die einzige Folgerung aus diesen Beobachtungen kann nur lauten, dass der Brief, und jetzt genauer Phil A, nicht in der römischen Gefangenschaft verfasst worden sein kann, sondern in die Lebensphase des Apostels gehört, die seinem zweiten Besuch der philippischen Gemeinde auf der Kollektenreise voraus liegt. Das heißt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit: Paulus hat ihn während seines dreijährigen Aufenthalts in Ephesus geschrieben! Allerdings bezeugt die Apostelgeschichte rur diese Phase keinen Gefängnisaufenthalt des Paulus, wohl aber einen durch die Silberschmiede der Stadt ausgelösten Tumult gegen Paulus, der ihr Geschäft mit dem Artemiskult verdorben haben soll (Apg 19,23-40). Was die Rolle der städtischen Autoritäten betrifft, so fällt auf, wie wohlgesonnen Paulus gegenüber Lukas diese darstellt (vgl. Apg 19,31.35-40). Ihn selbst hält er aus der ganzen turbulenten Szene heraus. "Kann aber die apologetische Tendenz des Schriftstellers Lukas so weit gehen, dass er eine mögliche Gefangenschaft des Paulus, ausgelöst durch den Demetriusaufruhr, verschwiegen hat? Wenn er den römischen Tod des Paulus nicht berichtet, den er faktisch voraussetzt und auf ihn nur anspielt (vgl. die Abschiedsrede in Milet 20,18f.; besonders V. 25), kann er wohl auch die ephesinische Gefangenschaft übergehen, ja ausdrücklich verschweigen" (U. B. MÜLLER, Brief 161, mit weiteren Argumenten). Paulus selbst legt eine Spur in 2 Kor 1,8-10, wenn er dort im Rückblick auf seinen Ephesus-Aufenthalt den Korinthern (wohl aus Makedonien) schreibt: "Denn wir wollen euch, Brüder, die Bedrängnis nicht verschweigen, die uns in der Provinz Asia widerfahren ist, wo wir über die Maßen bedrückt wurden, über unsere Kraft, so dass wir auch am Leben verzweifelten, ja sogar bei uns selbst das Todesurteil sprechen mussten, damit wir nicht auf uns selbst vertrauten, sondern auf Gott, der die Toten erweckt, welcher uns aus so großer Todesnot errettet hat ... ". Es ist plausibel, in diesen Zeilen den Dank des Apostels ftlr die glücklich überstandene Gefangenschaft in Ephesus zu sehen. Dass Paulus in der Situation von Phil A nichts zur Kollekte für Jerusalem schreibt, ist nur verständlich; ihn plagten andere Sorgen, auch lag ihm der Dank an die Philipper für ihre Großherzigkeit ihm gegenüber näher (..... 2.3.1[1]). 1,15-17 geben in der Tat zu erkennen, dass sich einige Christen in Ephesus vom gefangenen Paulus distanzieren, doch die Mehrheit nahm laut V.14 unmittelbar an seinem Geschick Anteil (..... 2.3.1[2]). Was unter den
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"Episkopen und Diakonen" zu verstehen ist, wissen wir nicht, vielleicht sind "die Vorsitzenden der dortigen Hausgemeinden" (1. ROLOff 142) samt ihren Helfern gemeint. Es ist ernsthaft mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sich die Wendung der Briefredaktion verdankt (vgl. W. SCHENK 1984,78-82; F. SCHNTDERIW. STENGER 23), sie also als Indiz für den Charakter des Phil als "Spätschrift" ausfällt (-+ 2.3.1[3]). Schließlich wird man zugunsten der Lokalisierung von Phil A in Ephesus anfUhren, dass die in ihm vorausgesetzten Botengänge zwischen Philippi und dem Ort des Gefängnisses (mindestens fUnt) wesentlich besser zu ihr passen als zu Rom. 2.3.3 Die Abfassungszeiten von Phil A und B Phil A wird man auf das Ende des ephesinischen Aufenthalts des Paulus datieren (also in jedem Fall nach 1 Kor), denn Paulus dürfte die Stadt Richtung Makedonien unmittelbar nach seiner Freilassung verlassen haben (vgl. Apg 20,1). Zugunsten der Datierung von Phil B im Anschluss an seinen zweiten Aufenthalt in Philippi (dazu vgl. 2 Kor 2,13; 7,5) sprechen 3,lb ("Euch dasselbe zu schreiben, wird mir nicht lästig") und 3,18 ("viele nämlich, von denen ich zu euch gesprochen habe, jetzt aber unter Tränen sage, wandeln als Feinde des Kreuzes Christi"). Gewiss hat Paulus von diesen "Feinden des Kreuzes" nicht bei seinem Gründungsbesuch gesprochen, wohl aber bei seinem zweiten Besuch (die galatische Krise war gerade virulent) (vgl. 2 Kor 7,5; 8,1-5). Jetzt aber schreibt er ihnen "dasselbe" noch einmal von Korinth aus, und wir dürfen annehmen, dass ihm inzwischen Nachrichten über die seine "Lieblingsgemeinde" jetzt auch unmittelbar bedrohenden Aktivitäten der ,judaisierenden" Gegenmission erreichten. Gestützt wird diese Darstellung durch die theologische Nähe von Phil B zu Gal und Röm. Dabei ist es fiir ein Gesamtbild der paulinischen Theologie gewiss sehr wichtig zu sehen, dass Röm - wohl nach Phil und Gal verfasst manches ins theologische Gleichgewicht zu bringen versucht, was Paulus in diesen Briefen polemisch zuspitzen musste (vgl. auch U. B. MÜLLER, Brief).
3. Diskurs Die vorliegende Briefkomposition hat zwei "Gipfel" (M. MÜLLER 177 .202), das "Christuslob" 2,6-11 (-+ 3.1) und die angewandte Rechtfertigungsbotschaft in 3,1 b-ll (-+ 3.2). Charakteristisch ist auch der futurisch-eschatologische Grundduktus, der die Briefkomposition insgesamt durchzieht (-+ 3.3).
3.1 Das "Christuslob" 2,6-11 als Zentrum von Phi! A Nach wie vor sprechen gute Argumente fiir die verbreitete Annahme, dass das "Christuslob" (zur Gattungsproblematik vgl. R. BRUCKER 308-319) nicht von Paulus stammt, sondern als geprägte Überlieferung ihm vorgegeben war (vgl.
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die erneute Beweisführung bei N. WALTER, Phil 56-59; anders, aber ohne Angabe von Gründen, M. REISER 176: "unwahrscheinlich"; außerdem R. BRUCKER). Möglicherweise hat Paulus das "Christuslob" mit kleinen Zusätzen (in Klammern) versehen: (Er,) der in der Gestalt Gottes war und das Gott-gleich-Sein nicht als Raub ansah, sondern sich selbst entleerte, indem er die Gestalt eines Sklaven annahm; den Menschen gleich geworden und der Erscheinung nach wie ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst, gehorsam geworden bis zum Tod, Ga, zum Tod am Kreuz). Deshalb über-erhöhte ihn auch Gott und verlieh ihm den Namen, den über jeden (anderen) Namen (erhabenen), damit sich im Namen Jesu jedes Knie beugt (der himmlischen und irdischen und unterirdischen [Mächte)) und jede Zunge bekennt: HERR ist Jesus Christus (zur Ehre Gottes des Vaters). Radikale Kenose (= Entleerung/Aufgabe der präexistenten göttlichen Gestalt) - "Erniedrigung" his zum Tod - österliche ,.Erhöhung" über dic ganze Schöpfung samt Verleihung des göttlichen KI)pw~-Namens: das sind die drei Stufen dieses wohlgeformten narrativen "Christuslobs" (zur Form vgl. J. JEREMIAS, O. BOFlUS, N. WALTER, C.-H. HUNZINGER etc.). Religionsgeschichtlich fUhrt es in eine griechisch-sprachige judenchristliche Szene, entweder die Antiochiens oder besser noch die Alexandriens (durch Vermittlung des Apollos: Apg 18,24-28; 1 Kor 1,12 etc. [N. WALTER 59)). "Das Erdenleb~:n lesu wird als verborgene Epiphanie eines angelomorphen Himmelswesens gezeichnet", wobei ein hellenistisch gefltrbtes "epiphaniales" Muster, das aber erheblich transformiert ist, zugrundeliegt (S. VOLLENWEIDER, Metamorphose 124). Im Schlussteil, V. 9-11, der das Achtergewicht besitzt, ist es dem Erhöhungs-Gedanken dienstbar gemacht, der in Abhebung von der Rhetorik antiker Herrscherkulte die Weltherrschaft gerade des demütigen Kyrios Jesus proklamiert, der sich selbst erniedrigt hat Daran knüpft Paulus an, der das "Christus10b" im Zentrum seines Briefs der Paränese dienstbar macht. Das Scharnier bietet der schwer zu übersetzende V.5 ("darauf seid untereinander gesinnt, worauf auch in Christus Jesus [zu sinnen ist]"). Beides wird mitklingen: der Gedanke des Exempels (wie Christus demütig war, so sollt auch ihr es untereinander sein: V.4) und der Gedanke der Ermöglichung ("in Christus" könnt ihr es, vgl. auch 2,13).
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3.2 Die Rechtfertigungsbotschaji von 3,1 b-11 Wie in den zeitlich benachbarten Briefen an die Galater und Römer, so bringt Paulus auch in Phil 3,9 den "Basissatz" von der Rechtfertigung allein aus Glauben an Christus, nicht aufgrund des Gesetzes, als das entscheidende Glaubenskriterium zum Zug, hier um die Position der Gegner einer BeUlteilung zu unterziehen (vgl. Gal 2,16; Röm 3,28) (M. THEOBALD, Paulus 353369). Das Besondere an Phil B ist, dass er den Satz auf seine eigene Biographie anwendet, konkret auf seine Berufung, die sein Leben in zwei Hälften teilt, die überwundene Phase seiner Existenz Ka,eX VOflOV - der Tora gemäß -, und sein jetziges Leben "in Christus". Doch was er aufgrund eigener Erfahrung von sich selbst sagt, hat paradigmatischen, exemplarischen Wert. So wenig er seine Existenz wieder auf die Tora und ihre Gerechtigkeit gründen wollte und könnte, so unmöglich sollte ein solcher Anachronismus auch für die Philipper sein, die er zu seiner "Nachahmung" (3,17) aufruft. Und das Zweite, was die Rezeption des "Basissatzes" in Phil B auszeichnet, ist, dass Paulus diesem eher juridisch geprägten Sprachspiel, das am Anfang des Christwerdens orientielt ist, in V. 10 sogleich das eher ontische Sprachspiel von der "Gleichgestaltung" mit Christus beigesellt, das von der Spannung der gegenwärtigen "Teilhabe an seinem Leiden" und der Hoffnung auf die "Auferstehung der Toten" bestimmt ist. Mit diesem zweiten Motiv schlägt Paulus einen Ton an, der bis zum Ende des Kap. maßgebend bleiben wird, wo er vielleicht ,.unter Verwendung vorgegebenen formelhaften Gutes" (l. GNILKA 209) - von der Erwartung des "Kyrios Jeslls Christus" als des "Retters" spricht, "der den Leib unserer Niedrigkeit verwandeln wird, gleichgestaltet dem Leibe seiner Herrlichkeit ... " (3,21 ).
3.3 "Nach dem, was vor mir liegt, strecke ich mich aus ... " (3,13) Nicht nur das Fragment Phil B endet gezielt mit einer eschatologischen Klimax (vgl. einerseits 3,19a, andererseits 3,20f.). Auch Phi! A richtet den Blick durchgehend in die Zukunft - gerade angesichts der hier artikulierten Erfahrung von Leid. Dreimal ist vom zukünftigen "Tag Christi" die Rede, jedes Mal an neuralgischen Punkten: am Ende der Danksagung (I, I 0; vgl. auch 1,6) sowie am Ende des Briefkorpus (2,16) (im übrigen vgl. 4,3.7.9b.17b.19f.). Beeindruckend ist auch 1, 18b-26: Wie auch immer seine Gefangenschaft enden wird - mit seinem Freispruch oder mit seiner Verurteilung zum Tod-, "für mich heißt Leben Christus und Sterben Gewinn!" (l ,21). Was er den Philippern zuspricht, gilt auch für ihn: "der in euch das gute Werk begonnen hat, wird es auch vollenden bis zum Tag Christi" (1,6).
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D.VIl. Der Philipperbrief (Michael Theobald)
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D.VIII. Der erste Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber)
Mit dem I Thess liegt uns das älteste schriftliche Dokument des Christentums vor; wir stehen am Beginn der (ur)christlichen Literaturgeschichte. Wahrscheinlich handelt es sich auch um den ersten Gemeindebrief, den Paulus schrieb. Wir erhalten einen frühen Einblick in die Gestaltwerdung einer jungen Christus-Gemeinde und in das Selbstverständnis des Paulus.
I. Struktur 1.1 Der Brie/rahmen
Anfang und Ende des Briefes sind stark von der Briefform geprägt. Der Briefeingang 1,1-10 beginnt in 1,1 mit dem Präskript, das in knapper Fonn superscriptio (Absender), adscriptio (Adressat) und salutatio (Gruß: "Gnade euch und Friede") umfasst. Es handelt sich um das kürzeste Präskript aller Paulusbriefe, da es kaum Erweiterungen beinhalte!. In den späteren Brieten .:rweilerl Paulus die sa/ufafja durch die Qualifizierung "von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus"; bei Absender und Adressat kann bereits die Problemlage angesprochen werden. Vielleicht "entdeckt" Paulus mit 1 Thess erst den Brief und seine Möglichkeiten für sein apostolisches Anliegen.
Das Proömium ist gestaltet als Danksagung (in der Form des Gebets zu Gott) für die sichtbare christliche Existenz der Thessalonicher als Reaktion auf das Auftreten des Verkündigerteams. Dabei werden schon wichtige Themen des Briefkorpus präludielt: Rückblick auf die Wirkung des Evangeliums (1,5); Ausblick auf die Parusie (1,10); ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Wirken der Erstverkündiger und dem Leben als Gemeinde (1,7). Die rhetorische Funktion des Proömiums lässt sich als captatio benevolentiae beschreiben (vgl. H.-J. KLAUCK 272; B. C. JOHANSON 158f.), die aber in der Sache (der Annahme des Evangeliums) begründet ist und so zugleich die gemeinsame Gesprächsbasis bewusst macht. Umstritten ist, wo die Danksagung des 1 Thess endet. Da in 2,13 und 3,9 der Dank nochmals aufgegriffen wird, erklärt der Großteil der Ausleger die Danksagung als erst in 3,13 abgeschlossen (z. B. E. REINMUTH 111; T. HOLTZ 29-32; G. HAUFE 7f.; P.-G. MÜLLER 4447 [1,2-3,13 als Proömium]; A. J. MALHERBE, AncB 32B, 78 [Danksagung 1,2-3,10». Für ein Ende der Danksagung mit 1,10 spricht das Vorliegen eines formelhaften Abschlusses in 1,10 (Zusammenfassung von Gottes Handeln in Christus), die Aufnahme der Thematik des ,.Eingangs" (E'(aoöo~ 1,9; 2,1) Pauli in Thessaloniki als eigener Abschnitt in 2,1-12 und die
D. VIII. Der erste Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber)
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sinnvolle Gewichtung der Briefteile: 2,1-12 in der Funktion der Selbstempfehlung als Eröffnung des Briefkorpus. Der Dank in 2,13 und 3,9 entspricht dann der jeweiligen Sachaussage.
Den Briefschluss kann man sachgemäß in 5,23-28 erkennen. Der Epilog besteht aus einem Segenswunsch (mit Treuespruch) in 5,23f., der der Danksagung im Proömium korrespondiert, und der Bitte des Paulus um das Gebet der Gemeinde in 5,25. Als Postskript lassen sich schließlich folgende drei Elemente fassen: Grußauftrag (5,26), dringliche Bitte um Verlesung des Briefs (5,27) und abschließender Gnadenwunsch (5,28). 1.2 Das Briejkorpus Das Briefkorpus in 2,1-5,22 enthält die zentrale Argumentation des Schreibens. Eine sinnvolle Zuordnung der Briefteile kann folgende Struktur plausibel machen: • Die Eröffnung des Briefkorpus 2,1-12 besteht in einer brieflichen Selbstempfehlung, in der Paulus seine persönliche Redlichkeit, sein am Evangelium und am Wohl der Adressaten orientiertes Wirken beim Gründungsaufenthalt in Thessaloniki rückblickend in Erinnerung ruft. Den Rückblick tragen Erinnerungsphrasen: "ihr selbst wisst" (2, I), "wie ihr wisst" (2,5), ..ihr erinnert euch ja" (2,9)...ihr seid Zeugen" (2.10), "wie ihr wisst" (2. 11).
Ziel der Ausftihrungen ist es, über die Verbindung zu ihren Gründern die Identität der jungen Gemeinde zu stärken, was eine wichtige Basis ftir die folgenden Themen bereitstellt. Deutlich ist der Übergang zum ersten Thema des Briefes: 2,12 endet mit einem allgemein formulierten Ausblick auf die Berufung durch Gott, 2,13 setzt einen neuen Auftakt mit einer wiederholten Danksagung.
• Thema I - Besuchswunsch und Botensendung 2,13-3,13: Hier geschieht eine Thematisierung und zugleich Aktualisierung der Beziehung zwischen Apostel und Gemeinde. Dabei greift 2,13-16 mit der Sprache der Danksagung auch das Thema des Proömiums (1,2-10), das Leben der Thessalonicher gemäß der apostolischen Verkündigung trotz sozialer Marginalisierung und Diskriminierung, noch eimnal auf. Der Abschnitt endet in einer damit zusammenhängenden (erklärungsbedürftigen) scharfen Judenpolemik (2, I 5f.). Paulus beteuert in 2,17-20 seine Besuchsabsicht und seine Verbundenheit mit der Gemeinde, doch blieb ein persönlicher Besuch bislang unmöglich. Daher sandte Paulus Timotheus, der bei der Gründung beteiligt war, nach Thessaloniki, um zu erfahren, ob die Gemeinde den Schwierigkeiten standhalten kann, und um die Gemeinde zu stärken (3,1-5). Nach dessen Rückkehr dankt er ftir die guten Nachrichten aus der Stadt und die unvermindert intensive Verbin-
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
dung zwischen Paulus und der Gemeinde (3,6-10). Ein zusammenfassender Gebetswunsch (3,11-13) schließt den Gedankengang des ersten Themas ab. Er umfasst die Bitte an Gott sowohl um ein baldiges Gelingen der Besuchsabsicht als auch um Identitätsstärke und eine Praxis der Liebe unter den Thessalonichem. Der ganz am Ende formulierte Ausblick auf die Parusie des Herrn Jesus leitet zugleich über zum zweiten Hauptthema des Briefes, das das christliche Leben vor und angesichts der Parusie in den Blick nimmt.
• Thema 2 - Leben in der Endzeit 4,1-5,11: Der Briefteil beginnt in 4,1 mit sprachlichen Signalen, die auf einen Gedankenfortschritt aufmerksam machen: AOLlIOV oUv, Anrede &1iEA$OL, verbaler Ausdruck von Bitte und Zuspruch (~P(i)'twIlEV, lIapllKaA.oÜj.LEv).
Ein erster Abschnitt 4,1-12 beschäftigt sich mit der Frage des christlichen, Gott gefallenden Lebenswandels, wobei zwischenmenschliche Verhaltensweisen und am Ende (4,llf.) das Leben im Gegenüber zur städtischen Gesellschaft angesprochen werden. Eine spezielle Fragestellung greift Paulus (mittels der Präposition TTEpLlüber, womit auf eine Anfrage oder Nachricht aus Thessaloniki Bezug genommen sein könnte) in 4,13-18 auf: die Teilhabe der "Entschlafenen" bei der Parusie Christi. 5,1-11 (mit TTEPI. eingeleitet) führt den Gedanken an die Parusie weiter, erörtert aber nun Auswirkungen des nicht bekannten Parusiezeitpunkts auf das gegenwärtige Leben, in dem Wachsamkeit und Aufmerksamkeit für die Vorgänge des Alltags entscheidend werden.
öe
Für 4,1-5,11 lediglich von "Paränese" zu sprechen (wie in der Literatur üblich), untergewichtet die Aussagen .
• Den Abschluss des Briefkorpus 5,12-22 bildet eine Zusammenstellung einzelner Mahnungen, die in einer Reihe kurzer Imperativsätze ausmündet.
1.3 Strukturschema Briefeingang 1,1-10 Briefkorpus 2,1-5,22
Präskript I, I Proömium 1,2-10: Danksagung und Thematisierung des Verhältnisses Apostel - Gemeinde Eröffnung: Selbstempfehlung 2,1-12 Thema I: Besuchswunsch und Botensendung 2,13-3,13 Bedrohtes Glaubensleben 2,13-16 Besuchsabsicht und Verbundenheit mit der Gemeinde 2,17-20 Sendung und Rückkehr des Timotheus 3,1-10 Zusammenfassender und überleitender Gebetswunsch 3,11-13
D.VIII. Der erste Thessalonicherbrief(Stefan Schreiber)
Briefschluss 5,23-28
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Thema 2: Leben in der Endzeit 4.1-5.11 Lebenswandel 4, 1-12 Tote in der Gemeinde 4, \3-18 Wachsamkeit vor dem Ende 5, I-li Abschluss: Mahnungen 5,12-22 Epilog 5,23-25: Segenswunsch, Zuspruch, Bille um Gebet Postskript 5,26-28: Grußauftrag, Verlesungsbine, Gnadenwunsch
2. Entstehung
2.1 Traditionen In einzelnen Aussagen des Briefes ist die urchristliche Sprache der Verkündigung noch sichtbar, die Paulus seit seiner Berufung kennen lernte. Es handelt sich um die Anfänge der Bildung von Lehr- und Bekenntnistraditionen. Ein wichtiger Ort solcher Traditionsbildung dürfte die Gemeinde von Antiochia (in Syrien) gewesen sein, in deren Auftrag Paulus selbst bis zum JerusaIemer Treffen als Verkündiger tätig war. Urchristliche Traditionen und Sprechweisen liegen z. B. vor in der Sterbens-/Auferstehungsforrnel 4,14, dem Sterben Christi "filr uns" 5,9f. (vgl. I Kor 15,3b-5), dem Herrenwort bzw. der apokalyptischen Tradition 4,15-17, dem Thema der Plötzlichkeit des Endes 5,2f. (vgl. Mt 24,43 par Lk 12,39; Lk 21,34f.), der Liebe zum Bruder 4,9, vielleicht auch in der Trias Glaube/Liebe/Hoffnung 1,3; 5,8. Aus paganer (und jüdischer) Umwelt speist sich die Judenpolemik 2,15f. Aus jüdischer Tradition stammt der Gegensatz Söhne des Lichts bzw. der Finsternis 5,4f. (I QS 3,13-4,26) und die Vorstellung von Golt als Richter 4,6. Auf das AT begegnen nur Anspielungen, z. B. 1,8 (Ps 19,5); 2,16 (Gen 15,16); 4,5 (Jer 10,25; Ps 79,6).
2.2 Einheitlichkeit Die Strukturanalyse zeigt einen stringenten, geschlossenen Aufbau, der keine Ansätze für Teilungshypothesen bietet. Angebliche "Doppelungen" (wie die dreifache Danksagung 1,2; 2,13; 3,9 oder die einander ähnelnden FürspracheGebete 3,11-13; 5,23f.) sind im Anliegen und der spezifischen Darstellung des Briefes begründet und legen Briefteilungen nicht nahe. Den jüngsteIl Versuch einer Briefteilung legte E. J. RICHARD 1995 vor: Brief I: I Thess 2,13-4,2 (ohne 2,14-16), Brief 11: I Thess 1,1-2,12 + 4,3-5,28). - Versuche, einzelne Passagen aus dem I Thess als Interpolationen auszuscheiden (v. a. die "Judenpolemik" 2,13/15-16), konnten sich zu Recht nicht durchsetzen.
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
2.3 Verfasser Das Präskript in I Thess I, I nennt als Absender Paulus, Silvanus und Timotheus. Aus der Apg erfahren wir Näheres: Silvanus (Lukas verwendet die gräzisierte Namensform Silas) begleitete Paulus nach dem Jerusalemer Treffen bei seiner Griechenlandmission bis Korinth (Apg 15,40; 16,19.25.29; 17,4; 18,5). Auf dieser Reise war auch Timotheus bei Paulus (Apg 17,14; 18,5), den Paulus in Lystra getroffen hatte (16,1-3) und der ihm auch bei den anschließenden Reisen nach Makedonien und schließlich nach Jerusalem folgte (19,22; 20,4). Dass es sich bei Timotheus um den bedeutendsten Mitarbeiter des Paulus handelte, der große Verantwortung fur die Verkündigung übernahm, geht einmal daraus hervor, dass Timolheus im Präskript von vier Briefen als Mitabsender genannt wird (I Thess, 2 Kor, Phil, Phlm), zum anderen aus den eigenständigen Gemeindebesuchen des Timotheus (in Thessaloniki 1 Thcss 3,1-6; in Korinth 1 Kor 4,17; 16,1 Of.; angekündigt fiir Philippi PhiI2,19-22; verkündigte laut 2 Kor 1,19 in Korinth). (Später wurde er zum fiktiven Adressaten zweier Briefe: -+ D.XlIl.)
Die Bedeutung der beiden Mitabsender erlaubt die Frage, ob es sich auch um Mitverfasser des I Thess handelte. Das in I Thess auffallend dominierende briefliche "Wir" könnte alle drei Absender umfassen. Doch findet auch die I. Pers. Singular Verwendung (I Thess 2,18; 3,5; 5,27), in 3,lf. kann das "Wir" Timotheus nicht einschließen, und in 2,7.11 steht eine persönliche Aussage des Paulus. Da Paulus an erster Stelle der Absender genannt ist, liegt es nahe, ihn als Hauptabsender zu verstehen, der den Brief verfasste (d. h. diktielte). Für das" Wir" kommen daher unterschiedliche Referenten in Betracht: o Es erfüllt einerseits eine stilistisch-rhetorische Funktion: Paulus (bzw. die Absender) steht in Gemeinschaft mit der Adressatengemeinde, das Gespräch findet auf der gleichen sozialen Ebene statt, der Ton baut mögliche Barrieren ab. o Andererseits sind die Mitabsender wesentlich einbezogen: Mit ihnen hat Paulus den Brief besprochen, sie gehölten zum Missionsteam des Anfangs und waren so mit der Situation vertraut (dazu S. BYRSKOG 238). Wichtig ist, dass dabei die grundsätzliche Gleichrangigkeit der drei Missionare zum Ausdruck kommt.
2.4 Adressaten Adressatin des Briefes ist die "Gemeinde der Thessalonicher", wobei es sich um eine Hausgemeinde gehandelt haben dürfte (vgl. Apg 17,5; I Thess 5,27), die sich im Atrium eines Privathauses versammeln konnte. Ein solches Atrium fasste etwa 30 bis (seltener) 50 Personen, was einen Eindruck von den Größenverhältnissen der Gruppe vermittelt. Die Mehrzahl der Gemeindeglieder werden Nichtjuden gebildet haben, wie die in I Thess 1,9 erwähnte Bekehrung "weg von den Götterbildern" vermuten
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lässt. Man wird die meisten von ihnen wohl unter den sog. "GottesfUrchtigen" (Apg 17,4), also heidnischen Sympathisanten der Synagoge, zu suchen haben. Auch einzelne Juden gehörten wahrscheinlich zur Gemeinde. Für einen jüdischen Hintergrund spricht, dass die Sprache in 1 Thess an mehreren Stellen deutlich jüdisch geprägt ist (z. B. 1,9f.; 4,13-5,11 apokalyptische Motive). Manche Forscher schätzen den jüdischen Einfluss in der thessalonikischen Gemeinde freilich sehr gering ein und gehen unter Berufung auf 1,9 davon aus, dass (fast) ausschließlich Heiden zur Gemeinde zählten (z. B. G. HAUFE 10; A. J. MALHERBE, AncB 32B, 56.59f.). Obwohl archäologische Zeugnisse fehlen, wird die Existenz einer (kleinen) jüdischen Synagoge in Thcssaloniki im I. Jh. meist angenommen. Eine Synagoge ist in Apg 17, I vorausgesetzt und bei Philo, LegGai 281 f. impliziert. der von jüdischen Kolonien in Makedonien weiß (zur Diskussion C. vom BROCKE 207-233). Thessaloniki war die zweite Stadt, in der Paulus bei seiner Griechenlandmission etwa im Jahr 49/50 n. Chr. eine Gemeinde gründete (I Thess 1,1.5.9; 2,2.13; 3,2.6; vgl. narrativ ausgestaltet Apg 17,1-9). Zuvor war er mit den beiden Verkündigern Silvanus und Timotheus in Philippi tätig gewesen, wo er im Zuge der dortigen Gemeindegründung eine behördliche Gefangenschaft erdulden musste (I Thess 2,2; Apg 16,11--40). Soziale Anknüpfungspunkte werden die Missionare im Raum der jüdischen Synagoge in Thessaloniki gefunden haben (vgl. Apg 17, I f.). Etliche Wochen oder einige Monate dürfte der Aufenthalt gedauert haben, wie I Thess voraussetzt: Paulus wirkte einige Zeit dOlt (2,1-12), eine Gemeinde entsteht, Paulus findet Arbeit (2,9), erhält zweimal Unterstützung aus Philippi (Phil4,16). (Die Angabe der Dauer mit "drei Sabbaten" in Apg 17,2 greift zu kurz und will vielleicht nur offen einen gewissen Zeitraum andeuten.) Nicht recht ersichtlich ist der Grund rur die Abreise der Missionare aus Thessaloniki. Meist nimmt man eine unfreiwillige Trennung wegen sozialer und politischer Nachstellungen an (T. HOLTz 10; E. REINMUTH 105f.; G. HAUFE 11; P.-G. MÜLLER 35). Der Begriff "verwaist" in I TIless 2,17 könnte ebenso darauf hindeuten wie die Darstellung in Apg 17,5-9. Doch da in der Apg die Anklage gegen die Gemeinde im Zentrum steht, könnten sich darin soziale Anfeindungen nach dem Weggang der Missionare spiegeln. Vielleicht erfolgte die Abreise lediglich in der Absicht, an einem anderen Ort zu verkündigen. Die Gründung liegt zur Zeit des Briefes noch nicht lange zurück; es handelt sich also um eine junge Gemeinde, deren Identität als Christen noch ungefestigt war und die ihre eigenen Überzeugungen erst anfanghaft durchdrungen hatte (vgl. 1 Thess 3,10). Auch die Struktur der Gemeinde entwickelte sich erst; die partizipialen Formulierungen in 5,12 "Sich Mühende, Vorstehende im Herrn, Mahnende" deuten auf noch nicht institutionalisierte, nicht-amtliche Strukturen, die sich sozialen Gruppenprozessen und vielleicht charismatischen Erfahrungen (vgl. 5,19-21 und I Kor 12; Röm 12) verdanken. Die Gemeinde stellte eine verschwindend kleine Minderheit in der hellenistischen Großstadt Thessaloniki (dazu C. vom BROCKE) dar. Die Stadt besaß
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
als Sitz der Verwaltung der römischen Provinz Makedonien und des Prokonsuls große politische Bedeutung; als "Freistadt" (civitas libera, seit 42 v. ehr.) eignete ihr teilweise Souveränität gegenüber Rom - eigene Institutionen der Verwaltung mit Volksversammlung, Rat und Politarchen (Stadtpräfekten). Ihre wirtschaftliche Bedeutung resultierte aus ihrer günstigen geographischen Lage an der Via Egnatia, der Hauptverkehrsachse zwischen Rom und dem Osten, lind am Thennäischen Golf, der einen natürlichen Hafen bot; weitere Handelswege führten nördlich auf den Balkan bzw. in den Donauraum. In religiöser Hinsicht bot die Stadt attraktive, gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeiten, v. a. die offiziellen Kulte des Stadtgottes Kabirus und des Dionysos sowie private Kultvereine, sog. Mysterien, zur Verehrung des Dionysos und der ägyptischen Götter Isis, Osiris und Serapis. Den religiösen Bedürfnissen der Menschen wollten am Modell der Kyniker orientierte Wanderphilosophen Rechnung tragen, die Heilslehren verbreiteten, freilich auch im Ruch standen, andere auszunutzen und sich selbst zu bereichern. In diesem Umfeld wird die Bildung und Abgrenzung einer eigenen Identität zur Voraussetzung für die Existenz der Gemeinde.
2.5 Ort und Zeit Nach dem Grundungsaufenthalt in Thessaloniki reisten die Missionare über Beröa (Apg 17,10-15) nach Athen (17,16-34), von wo aus Paulus den Timotheus nach Thessaloniki sandte (I Thess 3,1f.). Mit guten Nachrichten kehrt dieser zurück (3,6); wahrscheinlich trafen sich die Missionare in Korinth wieder, wo sich Paulus in den Jahren 50-52 etwa 18 Monate aufhielt (Apg 18,117). Auf die Nachrichten aus Thessaloniki reagierte Paulus mit einem Brief: dem 1 Thess. Paulus verfasste 1 Thess also zu Beginn seines Korinth-Aufenthalts Ende SO/Anfang 51. Für Korinth spricht, dass dort alle drei Missionare wieder zusammen waren (Apg 18,5) und so als Absender in I Thess 1,1 fungieren konnten; mit "Achaia" in 1,7.8 dürfte konkret Korinth gemeint sein (vgl. den Sprachgebrauch in 1 Kor 16,15; 2 Kor 9,2; 11,10; Röm 15,26). Die Abfassung erfolgte eher zu Beginn des Aufenthalts, weil aus 1 Thess 3,6-10 hervorgeht, dass Timotheus erst kürzlich aus Thessaloniki zurückgekehrt war, und weil am Briefende keine Grüße stehen - es gab wohl noch keine Gemeinde in Korinth. Lukas vereinfacht den Ablauf: In Beröa trennt sich das Missionsteam (Apg 17,14), Paulus zieht allein nach Athen (17,16-34); erst in Korinth stoßen Silas und Timotheus wieder zu Paulus (17,16; 18,5). Damit bietet Lukas ein anschauliches Beispiel für eine Geschichtserzählung.
3. Diskurs Vielleicht schon während der Zeit der Gemeindegrundung, auf jeden Fall aber bald nach der Abreise der Missionare sah sich die junge Gemeinde in Thessa-
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loniki sozialen Bedrängnissen gegenüber (l Thess 1,6; 2,14; 3,3-5), die von ihrer städtischen Umwelt, ihren "Mitbürgern" ausgingen. Die Christen erschienen als Fremdkörper in der hellenistischen Kultur, was durch ihre Nichtteilnahme an deren Kulten augenfällig wurde; sie gehörten nicht zur paganen Bevölkerung und nicht mehr eindeutig zur Synagoge. Sie bildeten eine Minderheit, die zudem schnell politisch verdächtig werden konnte, wurde doch Christus als herrscherlic\le Gestalt verkündet (vgl. 4,15-17). Daneben sind auch Anfeindungen durch die Synagoge denkbar, weil die ChristUS-Gruppe als Konkurrenz und latente politische Gefahr für die den Juden gewährten Privilegien wahrgenommen werden konnte (vgl. Apg 17,5) - für die im I. Jh. wohl noch kleine Synagoge in Thessaloniki eine ernst zu nehmende Gefährdung; auf diesem Hintergrund würde sich die scharfe Polemik gegen Juden in 2,14-16 als Reaktion des Paulus (wenigstens teilweise) verstehen lassen.
Als Folge muss man sich Verdächtigungen, Diskriminierung, soziale Isolation und Marginalisierung denken. Konkret bedeutet dies z. B. den Ausschluss aus wichtigen sozialen Bezügen, wobei familiäre Bindungen ebenso betroffen waren wie wirtschaftliche Beziehungen. Weil die Gemeinden wirtschaftlich angewiesen waren, konnten sie durch soziale Isolation empfindlich getroffen werden. Die wenigen Hinweise deuten auf eine sozial sehr gemischte Gruppe: Viele lebten von "Handarbeit" (4,11f.), wobei an kleine "selbständige" Handwerker, aber auch Lohnarbeiter und Sklaven zu denken ist; manche trieben Handel (vgl. 4,6), was auf Kaufleute deutet; bei den vornehmen Frauen, die Apg 17,4 erwähnt, bleiben Status und Zahl offen (vielleicht nur eine wohlhabende Witwe?): 2 Kor 8.2 erinnert Paulus an die "tiefe Armut" der makedonischen Gemeinden.
Soziale und wirtschaftliche Marginalisierung kann eine Bedrohung der eigenen Identität bedeuten. Was spricht eigentlich noch dafür, bei der jungen Christus-Gruppe zu bleiben? Die Attraktivität der städtischen Kulte wird die Fragwürdigkeit dieser Zugehörigkeit eher erhöht haben.
3.1 Selbstvergewisserung der Gemeinde
Um die angefochtene Identität der Gemeinde zu stärken, arbeitet Paulus mit einzelnen Elementen eines theologischen Überzeugungssystems, das er so als Grundlage christlichen Lebens erinnert. • Das Bewusstsein ihrer Erwählung durch Gott soll die Identität der Gemeinde bestimmen; wiederholt weist Paulus auf diese Erwählung hin (1,4; 2,12; 4,7; 5,9.24). Die Gemeinde zählt zu den Geretteten der Endzeit, weil Gott selbst sie erwählt hat. Sichtbarer Ausdruck dafiir ist ihre Abwendung von den Göttern der hellenistischen Kultur und ihre Zuwendung zu dem einen Gott Israels, der ihr in Jesus Christus begegnet (I ,9f.) . • Träger und Gestalt dieser Überzeugung ist das Evangelium, das beim Auftreten des Missionsteams in Thessaloniki seine "Kraft" entfaltete (1,5). Die
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Formulierung "unser Evangelium" (1,5) drückt die untrennbare Verbindung des Evangeliums Gottes und der menschlichen Verkündigung aus: Nur durch Worte eines Menschen ist das Evangelium zu hören, und doch bleibt es stets Wort Gottes, seine gültige Zusage an die Menschen. In der Beziehung zum Verkünder erfuhr die Gemeinde das Evangelium, das als Wort Gottes zur Basis des Gemeindelebens wird (2,13) . • Leben gemäß dem Evangelium bedeutet Nachahmung der Verkünder. Die Thessalonicher ahmten den Verkünder und damit den Herrn nach, indem sie sein Wort trotz Drangsal annahmen (1,6; 2,13f.; 3,3-5). Die Beziehung der Gemeinde zum Verkünder wird dabei transparent für die eigentlich sinnstiftende Beziehung zum Herrn (3,1-13), dem der Verkünder dient.
3.2 Lebenspraxis der Gemeinde
Mit der Begriffstrias Glaube - Liebe - Hoffnung fasst Paulus die Identität der Gemeinde zusammen (1,3; 5,8); das bedeutet konkret: Die Überzeugung schlägt sich im Verhalten nieder und besitzt eine Zukunftsperspektive. Ihr Verhalten, ihre besondere Lebensweise zeichnet die Gemeinde aus und unterscheidet sie von ihrer Umwelt (4,1-12). Respektvolles Verhalten in der ehelichen Beziehung und ein Miteinander im geschäftlichen Leben (4,4-6) ermöglichen den Zusammenhalt und geben dem Gemeindeleben Profil. Die gegenseitige Liebe (innerhalb der Gemeinde und gegenüber Nachbargemeinden) ist notwendige Bedingung für die Existenz der kleinen Randgruppe (4,9f.). Die Mahnung zu einem stillen, ehrbaren Leben und zur eigenen Arbeit für den Lebensunterhalt (4,llf.) soll sicherstellen, dass die Gemeinde ihrer Umwelt nicht noch mehr Anstoß liefert (als es durch ihre Lebensweise ohnehin schon geschieht) und sie so weit wie möglich ihre Unabhängigkeit bewahlt. Sie darf darauf vertrauen, dass der Geist ihre Existenz schützt und leitet (4,8; 5,19).
3.3 Glaubwürdigkeit der Missionare
Entscheidend ist dabei die Glaubwürdigkeit des Paulus (und des Missionsteams), weil auf seiner Verkündigung des Evangeliums die Überzeugung der Gemeinde gründet: Er verkündete das Evangelium trotz gesellschaftlicher Widerstände (2,2), verhielt sich aufrichtig, ohne Hintergedanken, Gewinnsucht oder Ehrstreben (2,3-6.9f.), ließ seine persönliche Zuneigung zur Gemeinde erkennen, indem er ihr Anteil an seinem eigenen Leben gab und wie eine "Mutter", ein "Vater" an ihr Erziehungsarbeit leistete (2,7f.llf.). Brisant werden diese Versicherungen im kulturellen Milieu der Stadt Thessaloniki: Die Formulierungen des Paulus verraten Anklänge an die Sprache populärer Wanderphilosophen, die, nach dem Modell kynischer Wanderprediger (vgl. Diogenes), an öffentlichen Plätzen auftraten und Lehren verkündeten, die zu
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einem heilvollen, gelingenden Leben anleiten sollten; da auch etliche Scharlatane unter diesen Wanderphilosophen waren, mussten sie sich gegenüber verbreiteter Kritik selbst rechtfertigen (zum Phänotyp vgl. J. HAHN 33-45; A. 1. MALHERBE, Popular Philosophers 103f.). Anschauliche Beispiele für die dabei berühlten Themen bietet das Werk des Rhetors Dion von Prusa (t nach 112), der sich gegen potentielles. Misstrauen seitens der Bevölkerung abzugrenzen sucht und seine Redlichkeit verteidigt (bes. Or. 12,5.1 0.15f.; 32,9-12; 77/78,40-42). Sensible Bereiche sind (1) die äußere Wirkung der Prediger, ihre Wortgewalt, ihr Aussehen, die Zahl ihrer Schüler; dagegen steht das Ethos des wahren Kynikers und seine Legitimation durch göttliche Bestimmung. (2) Schmeichelei als Charakteristik der Rede; dagegen steht die direkte, freimütige Rede. (3) Täuschung, Verheimlichung der eigenen Absichten durch illusionäre Glücksversprechen und Verführung einerseits, harsche, schmähende Rede andererseits; dagegen steht die echte Sorge um die Hörenden. (4) Das Streben nach materiellem Gewinn und Ruhm; dagegen steht der Uneigennutz. Um in diesem kulturellen Milieu nicht falsch eingeschätzt zu werden und damit den Erfolg der gesamten Verkündigung zu gefährden, "empfiehlt" sich Paulus seiner Gemeinde, indem er zu diesen Themen Stellung bezieht und die Gemeinde an ihre eigenen Erfahrungen mit ihm erinnelt. Vielleicht befürchtete Paulus auch, auf seine Person könnte ungünstiges Licht fallen, weil er zu früh aus Thessaloniki abgereist sei und sich zu wenig um die Gemeinde gekümmert habe. Nicht nur die Ausführungen in 2,1-12, sondern gerade auch sein Bemühen, die Ebene der Beziehung stark in den Vordergrund zu rücken, lassen sich als Reaktion darauf lesen: Wiederholt betont Paulus seine Besuchsabsicht, die durch höhere Gewalt vereitelt wurde; großen Wert legt er auf die Sendung des Timotheus, die in diese Lücke eintritt, auf seine Unruhe und emotionale Verbundenheit mit dem Geschehen in Thessaloniki und auf seine befreite Reaktion auf die guten Nachrichten des Timotheus (2,17-3,10). In der Sicht des Paulus jedenfalls besteht die Beziehung zu seiner Gemeinde in unverminderter Intensität fort.
3.4 Probleme der Parusie-Erwartung Zahlreiche Fragen wirft die pln Behandlung des Themas "Parusie Jesu" in 4,13-18 auf. Der Text bedient sich apokalyptischer Vorstellungsmuster, um einige Stationen der Parusie zu zeichnen: Den Zeichen der Ankündigung folgt das Herabsteigen des machtvollen Kyrios vom Himmel, wobei "zuerst" die Toten in Christus auferstehen; "dann" werden die noch Lebenden zusammen mit den Toten in die Luft entrückt zur "Einholung" des Herrn (4,16f.). Begründend steht in 4,14 eine Glaubensformel - "Jesus ist gestorben und auferstanden" -, die das für die christliche Hoffnung über den Tod hinaus grundlegende Denkmodell trägt: Weil Jesus gestorben und erweckt ist, haben die zu ihm Gehörenden (die durch die Taufe an seinem Tod Anteil haben) auch an
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
seiner Erweckung teil (vgl. 5,10; 1 Kor 6,14; 15,12-22; 2 Kor 4,14; Röm 6,35.8; 8,11); in diesem Sinne ist Jesus der "Erstling der Entschlafenen" (I Kor 15,20). Unklar bleibt der Anlass für diese Ausführungen. Die Frage ist wichtig, weil die Wirkung eines Textes davon abhängt, was die Hörer/innen vor der Rezeption über Totenerweckung und Parusie dachten. Der Situationsbezug der Argumentation ist durch das sprachliche SignallTEpUüber in 4, \3 erkennbar. Die Forschung bietet mehrere Möglichkeiten der Rekonstruktion an: (I) Das Schicksal der Verstorbenen überhaupt sei fraglich gewesen, Zweifel an deren Heilsteilhabe seien laut geworden. Voraussetzung darur ist, dass die Missionspredigt das Schicksal der Verstorbenen nicht thematisierte; alle seien davon ausgegangen, die Parusie lebend zu erfahren. Todesfälle in der Gemeinde ruhrten entsprechend zu großer Verunsicherung (z. B. T. HOLTZ 186f.; G. HAUFE 80-82; C. R. NICHOLL 47f.; nach M. KONRADT 128-134 war die antike Vorstellung der Entrückung Lebender dominant). Schwer vorstellbar ist aber, dass die Frage nach dem Tod bislang völlig ausgeklammert blieb - der apokalyptische Hintergrund des gesamten Denkmodells um Jesu und der Christen Erweckung schließt diese Frage notwendig ein. (2) Der Modus der Auferstehung sei fraglich gewesen, v. a. ihr Zusammenhang mit der Parusie. Im Hintergrund stehe die apokalyptische Vorstellung, dass die Auferstehung erst nach dem Kommen des Messias erfolge (Belege: 4 Esr 7,26-44; syrBar 28f.; 49-51). Die Übrigbleibenden wären so im Vorteil gegenüber den Verstorbenen (z. B. E. REINMUTH 142). Offen bleibt aber, warum die Parusie überhaupt so wichtig rur die Gemeinde war; die Schriften 4 Esr und syrBar sind später als Paulus (Ende 1./Anfang 2. Jh.). (3) Falsche Propheten seien aufgetreten, die eine Verzögerung der Parusie lehrten; weil für die Gemeinde die Gemeinschaft mit dem Parusie-Christus hcilsentscheidend war, wird diese rur die Lebenden fraglich und fällt für die Toten ganz aus, was Trauer hervorrufe (A. J. MALHERBE, AncB 32B, 283-285). Falschpropheten lässt der Brief aber nicht erkennen, die Nähe der Parusie ist nicht das Problem.
Der Textbefund erlaubt zwei Aussagen: (I) Der Akzent liegt in 4,15 eindeutig auf der Parusie und der Frage, ob die Toten daran Anteil haben. (2) Auslöser der Unsicherheit war die aktuelle Konfrontation mit einigen (wenigen) Todesfällen (4,13). Eine Erklärung dafür, warum die Teilhabe an der Parusie so wichtig ftlr die Gemeinde war, lässt sich hypothetisch im Blick auf die städtische Alltagswelt versuchen. In Mysterienkulten, von denen in Thessaloniki wenigstens die rur Dionysos und die rur Isis/Osiris nachweisbar sind, wird das Anliegen, Teilhabe an göttlicher Lebenskraft, Überschreitung der Grenzen des Alltags, Jenseitshoffnung über den Tod hinaus zu finden, im Mythos erzählt und im Ritus eindrücklich inszeniert; konkrete Vollzüge, geheimnisvolle Zeremonien vermitteln Erfahrungen und Vorstellungen von einem postmortalen Leben (z. B. die Schilderung bei Apuleius, Met. XI 23,7: Einweihung in die Isis-Mysterien). Die ästhetische Kraft der inszenierten Bilder wirkte identitätsbildend. Vielleicht setzte die Verkündigung des Paulus gegen diese kulturelle Semantik die Vorstellung der Parusie, die ebenfalls konkret war und jedeln Einzelneln betraf; die Denkstruktur ist vergleichbar: Wie man im Leben Anteil an DionysoslIsislChristus hat, so auch nach dem Tod. So würde die Bedeutung der Parusie verständlich, die rur die Toten ausfällt (vgl. S. SCHREIBER, Jenseitshoffnung 339344 unter Einbezug der Vielfalt hellenistischer Jenseitsvorstellungen).
D. VIII. Der erste Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber)
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Zur Lösung des Problems bringt Paulus die bekannte apokalyptische Tradition in die "richtige Reihenfolge", so dass klar wird: Die Verstorbenen erleben die Parusie voll mit. So kann die Parusie als christliches Identitätsmerkmal präsent bleiben. Zugleich setzt Paulus einen eigenen Akzent: Eigentliches eschatologisches Ziel ist (über Einzelheiten apokalyptischer BildweIten hinaus) in personaler Bestimmung die dauernde Gemeinschaft mit Christus; nach der Parusie "werden wir allezeit mit dem Herrn sein" (4,17). Diese Ausführungen implizieren überdies eine geschichtliche Standortbestimmung der Gemeinde. Sie lebt bereits in endzeitlicher Qualität, in der Zeit kurz vor der Parusie des Herrn. Dem gemäß wendet sich Paulus in 5,1-11 gegen Spekulationen über den Tennin der Parusie, den allein Gott kennt, und fordert zu einem Leben in der Ausrichtung am neuen Glauben, als "Kinder des Lichtes und des Tages" (5,5) auf. In der Lebensgemeinschaft mit Christus ist die Gerichtsangst überwunden und die Hoffnung auf ein unbegrenztes Leben mit dem Herrn begründet (5,9f.).
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396
D. Die Briefe - Paulusbriefe
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D.IX. Der Philemonbrief (Martin Ebner)
Der Phhn ist mit seinen 44 Nestle-Zeilen und 1575 Wörtern der kürzeste aller Paulusbriefe. Es handelt sich um eine briefliche Intervention in einem Konfliktfall, bei dem das Verhältnis von Theologie und sozialer Wirklichkeit auf dem Spiel steht. Konkret geht es darum, ob ein Sklave, der Christ geworden ist, im Haushalt seines (ebenfalls christlichen) Herrn künftig eine andere soziale Stellung hat oder nicht.
I. Struktur Phlm zeigt den klassischen Briefaufbau (- 0.1.3.) mit folgenden Besonderheiten: Im Präskript (V. 1-3) stellt sich Paulus nicht als Apostel, sondern als "Gefangener Jesu Christi" vor und nelmt als Mitabsender den "Bruder Timotheus". Neben Philemon als Adressaten werden zusätzlich "die Schwester Apphia", "der Mitstreiter Archippus" sowie die Ekklesia genannt, die sich im Haus des Philemon versammelt (Kat' otKOV OOU EKKA.Tjota). Das Proömium (V. 4-7) bezieht den brieftypischen Dank auf das Wirken des Philemon, das Paulus mit Freude erfüllt (V. 7). Im Zentrum des Briejkorpus (V. 8-20) steht die Bitte des Paulus (ab V. 10), die von einer Selbstdarstellung des Paulus (V. 8n sowie einer Selbstverpflichtung (V. 19) gerahmt wird. Beides ist im Blick auf Philemon formuliert. In V. 8f. geht es um die Form der Autoritätsstruktur zwischen Paulus und Philemon; V. 20 spricht davon, welche Rückwirkung sich Paulus von der Reaktion des Philemon auf seine Selbstverpflichtung (V. 19) erhofft. Mit der Reflexion auf den Schreibakt in V. 21 setzt der Epilog ein, der Motive des Präskripts in umgekehl1er Perspektive (V. 4: meine Gebete; V. 22: eure Gebete) bzw. verstärkend (Philemons Glaube wird aktiv in der Praxis [V. 6] - über das hinaus, was Paulus schreibt und fordert [V. 21]) aufgreift. Die Gruß liste (V. 23f.) des Postskripts (V. 23-25) wird durch einen Schlussgruß (V. 25) abgeschlossen, der erneut die Mitadressaten anspricht (vgl. V. 2), die in die unmittelbare Kommunikation zwischen Paulus und Philemon im Briejkorpus nicht einbezogen waren. Briefeingang 1-7 Brietkorpus 8-20 Briefschluss 21-25
Präskript 1-3 Proömium 4-7 Selbstdarstellung des Paulus im Blick auf Philemon 8r. Briefbitte 10-18 Selbstverpflichtung des Paulus und erhoffte Reaktion 19f. Epilog2lf. Postskript 23-25
398
D. Die Briefe - Paulusbriefe
Die Kommunikationsstruktur sieht also folgendermaßen aus: Die im Proömium und Postskript genannte Hausgemeinde hört zu, wie Paulus im Briefkorpus (samt Präskript und Epilog) mit Philemon ("du") über seinen Sklaven Onesimus ("er") verhandelt. Philemon
Paulus
~----------+
Onesimus
"er"
'--------------v--------------~ Hausgemeinde hört zu
Argumentationsziel des Paulus ist es, den Philemon dazu zu bewegen, dass er seinen Sklaven Onesimus, der sich für kurze Zeit außerhalb des Hauses aufgehalten hat (-+ 2.2) und Christ geworden ist (Geburtsmetapher in V. 10), bei seiner Rückkehr als "geliebten Bruder" aufnimmt (V. l5f.), also auf seine gesellschaftliche Rolle als Herr des Sklaven verzichtet. Oder in den Kategorien des Briefes ausgesagt (V. 16): Die Sinnwelt des Glaubens (EV KUPl
gesellschaftliche Welt "im Fleisch": V. 16 Philemon (Herr)
Philemon (Mitarbeiter)
Onesimus (Sklave)
•
•
Es liegt an Philemon, ob er die "Gemeinschaft" (KoLVwvLa) im Glauben, die ihn zu konkreten Hilfeleistungen (in seiner Hausgemeinde) beflügelt hat (V. 5) und über die er Paulus zum "Gemeinschaftspartner" (V. 17: KOLVWV~), "Bruder" (V. 7.20) und "Geliebten" (V. I) geworden ist, entsprechend auch auf seinen Sklaven Onesimus ausdehnt, der von Paulus schon längst in diese Gemeinschaftsbeziehung aufgenommen worden ist, was in V. 12 in äußerst emo-
D.lX. Der Phiiemonbrief(Martin Ebner)
399
tionaler Sprache ("mein eigenes Herz") zum Ausdruck gebracht wird (M. WOLTER 256-258).
Philemon
,, ,, '~
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Paulus
, Onesimus
"mein Kind" ( I0); "mein Herz" (12); "geliebter Bruder" (16) Besonders süffisant klingt es, wie Paulus in V. 17-19 mit Termini aus der Geschäftssprache spielt: Philemon soll alles, was Onesimus ihm "schuldet", Paulus "in Rechnung stellen". Paulus seinerseits stellt eine förmliche Schuldverschreibung aus, zu deren Rechtsverbindlichkeit die Namensnennung sowie die ausdrückliche Versicherung der Eigenhändigkeit der Ausfertigung gehören (T. 1. KRAus 190-194). Auf der metaphorischen Ebene jedoch erinnert Paulus den Philemon an dessen "Grundschuld". eben dessen Bekehrung zum Christentum, die er Paulus "verschuldet" (C. 1. MARTIN 337). Auf diesem Hintergrund bekommt V. 17 eine ganz eigene Note: Philemon ist seinem "Geschäftspartner" Paulus, der seinerseits Onesimus als seinen Repräsentanten zu Philemon schickt, hoch verpflichtet. Es liegt also an Philemon, ob er weiterhin mit Paulus "im Geschäft" bleiben will ...
2. Entstehung
2.1 Gattung Legt man die Brieftypen des Pseudo-Demetrius (Ho-J. KLAUCK 157-164)
zugrunde, dann ist Phlm formal gesehen ein Bittbrief (vgl. V. 10), von der Sache her gesehen jedoch ein Empfehlungsbrief. Typisch dafiir ist das folgende Kommunikationsdreieck: Person Aals Briefschreiber empfiehlt einer ihm befreundeten Person B (Briefadressat) eine Person C, die diesen Brief eben als Empfehlungsschreiben - überbringt: Im Brief wird Person C als Freund oder Geschäftspartner von Person A ausgewiesen. Das bereits bestehende Band der Freundschaft zwischen Briefschreiber A und Adressat B wird als Basis dafiir aktiviert, dass Person B als Gastgeber Person C freundlich aufnimmt und auf sie die gleichen Gefühle überträgt, die sie dem Briefschreiber A gegenüber empfindet. Phlm entspricht diesen typischen Konstellationen geradezu musterhaft.
400
D. Die Briefe - Paulusbriefe
Formal steht im Zentrum eines Empfehlungsbriefes die briefliche Bitte, die gewöhnlich mit dem formelhaften lTIXPIXKIXA.W (jE (vgl. V. 10) eingeleitet wird. Der Empfehlungsbrief integriert also den Bittbrief, um eine dritte Person in das zwischen Briefschreiber und Briefadressaten bereits bestehende Freundschaftsverhältnis aufzunehmen. Im Phlm wird diese Grundkonstellation leicht differenziert aufgegriffen: Es geht darum, das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Adressatem und empfohlener Person (Herr - Sklave) bei der Rückkehr des von Paulus empfohlenen Onesimus in ein Bruderverhältnis zu transformieren, wie es zwischen Paulus und Onesimus aufgrund dessen Konversion zum Christentum bereits besteht. Wenn Onesimus zu Philemon zurückkehrt, trägt er den Phlm als Empfehlungsschreiben in der Hand (vgl. M. WOLTER 229; K. WENGST 42).
2.2 Rekonstruktion der Vorgeschichte Onesimus ist Sklave im Haus des Philemon. Nach römischem Recht hat er damit keine eigene Rechtspersönlichkeit (caput), sondern gehöl1 als Sache (res) bzw. als "sprachfiihiges Instrument" (instrumentum vocale: Varro, Res rusticae I 17, I) zum Eigentum seines Herrn. Der Sklave selbst hat kein Recht auf Eigentum. Er darf weder eine Ehe schließen noch eine Familie gründen. Umgekehrt hat der Herr über ihn volle Jurisdiktionsgewalt (vitae necisque
potestas). Als Paulus den Phlm schreibt, ist Onesimus bei ihm im Gefängnis. Wie LInd warum es dazu kam, darüber macht der Brief nur Andeutungen. Zur Rekonstruktion der Vorgeschichte sind folgende Anhaltspunkte (in der Abfolge des Briefes) wichtig: Onesimus wurde von Paulus im Gefiingnis zum Christentum bekehl1. Paulus schickt ihn wieder zu seinem Herrn Philemon zurück (V. 10-12). Onesimus (der "Nützliche") macht seinem typischen Sklavennamen (P. ARZT-GRABNER 86) keine Ehre: Für seinen Herrn hat er sich offensichtlich als "unbrauchbar" (äXPT]o"toc;) - sozusagen als Nichtsnutz - erwiesen, während Paulus ihn jetzt nach seiner Bekehrung als "gut brauchbar" (EÜXPT]O"tOc;) bezeichnet: Am liebsten möchte er ihn für die Verkündigungsarbeit einsetzen (V. 11.13). Eine Deutung auf "Nicht-Christ" bzw. "guter Christ" (itazistisch wird griechisches 11 wie "i" ausgesprochen: M. WOLTER 263f.) ist nach P. ARZT-GRABNER (206f.) weder stichhaltig noch nötig (gemäß Apg 11,26; 26,28 und I Petr 4,16 lauten die Ableitungen zu Christus XpLOtLllv6~/Christianer).
-
Onesimus hat sich rur kürzere Zeit aus dem Haus seines Herrn Philemon entfernt (V. 15). Zu dieser aktiven Auflösung von E)(WPL08T] unter Berufung auf literarische und dokumentarische Texte vgl. P. ARZT-GRABNER, Onesimus 136-140, im Gegensatz zum Versuch, in die Form ein passivum divinum einzulesen (z. B. J. GNILKA 50) oder aus der Form eine Delegation des Onesimus herauszulesen (S. C. WINTER, Letter 3).
D.lX. Der Phiiemonbrief(Martin Ebner)
401
-
Gemäß V. 18 liegt möglicherweise ein Rechtsverschulden vor (';ÖLKTJOEV) und/oder eine materielle Schuld (OcpEL)..EL). Aufgrund dieser Angaben ist in der Forschung nahezu unstrittig, dass Onesimus sich ohne Erlaubnis seines Herrn aus dessen Haus entfernt und sich damit dessen Verfügungsrecht entzogen hat. Diskutiert wird, (I) wie die Rechtslage präzise zu fassen ist und (2) weIche Motive hinter der "Flucht" des Onesimus stehen. 2.2.1 Die Rechtsfigur:jUgitivus oder erro? Die ältere Forschung sieht Sklavenflucht vorliegen (jugitivus). Nach einem flüchtigen Sklaven wird gefahndet. Gewöhnlich muss der Besitzer Suchtrupps in privater Initiative organisieren bzw. Steckbriefe verbreiten (S. R. LLEWEL YN, Pursuit 9-26). Sofern der Sklave wieder gefasst wird, muss er mit drakonischen Strafmaßnahmen rechnen. Sie reichen vom Prügeln bis zur Brandmarkung bzw. zur Versetzung in härteste Arbeitsbereiche (Steinbruch, Bergwerk). Die ÜbersteIlung eines entflohenen Sklaven ist ein öffentlicher Akt. Paulus hätte Onesimus nicht einfach zurückschicken können (P. ARZT-GRABNER, Onesimus 140f.). Umgekehrt gilt: Sofern Onesimus seinem Herrn tatsächlich auf Dauer entkommen wollte, warum hat er sich dann zu Paulus geflüchtet? P. LAMPE (Sklavenflucht) hat (mit Rückgriff auf H. BELLEN 18.78) im Blick auf die Dreieckskonstellation des Briefes sowie unter Berufung auf römische Rechtstexte und auf einen konkreten Fall, von dem Plinius d. J. erzählt (Ep IX 21.24), folgende Rechtsfigur in die Diskussion gebracht: Ein Sklave, der sich vom Haus seines Herrn entfernt, um auf eigene Faust sozusagen einen Mediator ("Freund des Herrn") für einen vorliegenden Konfliktfall zu suchen, ist von einem jugitivus zu unterscheiden und darf auch nicht wie ein jUgitivus behandelt werden. Rechtstexte sprechen von einem erro (J. A. HARRIL, Jurists 135). Nach J. A. HARRIL (Jurists) ist es jedoch fraglich, ob Meinungen römischer Rechtsgelehlter, fixiert im 6. Jh. n. ehr., deren Differenzierungen im Rahmen akademischer Diskussionen zu lesen sind und allenfalls stadtrömische Verhältnisse im Blick haben, wirklich auf die Verhältnisse in den Provinzen und die Beurteilungskriterien vor Ort angewendet werden können (vgl. auch S. R. LLEWELYN, Pursuit 4~6). P. ARZT-GRABNER (Onesimus 141143) betont, ebenfalls mit RUckbezug aufrömische Rechtstexte, am erro dessen Hang zum "Herumtreiben", einer Art eigenmächtiger Freizeitbeschaffung, und sieht darin das eigentliche Motiv rur den Konflikt mit Philemon.
2.2.2 Motive: Diebstahl oder Arbeitsausfall? Mit Bezug auf V. 18 wird erwogen, ob Diebstahl (ocpeL)..EL) vorliegt (J. GNILKA 84) oder eine andere Straftat (f}öLKTJOEV) (G. LÜDEMANN 77). Die konditionale Formulierung ("wenn er irgendein Unrecht getan hat ... ") deutet nach M.
402
D. Die Briefe - Paulusbriefe
WOLTER (231 f.) darauf hin, dass Onesimus zwar eines Vergehens beschuldigt wurde, sich selbst aber fUr unschuldig hält. Im Blick auf den "Sklavenhalter" Philemon ist der Befund nach K. WENGST (33) jedoch anders aufzulösen: Es liegt an der Einschätzung durch Philemon, ob ihm durch die Abwesenheit des Onesimus, also aufgrund von Arbeitsausfall, finanzieller Schaden entstanden ist, evtl. auch eine Wertminderung aufgrund des bleibenden Makels der Flucht (vitiosum; vgl. Horaz, Ep 11 2,2-9) oder Unkosten aufgrund von Nachforschungen und Suchaktionen. Analog lässt sich ~liLKT)OEV folgendennaßen auflösen: Was seinen Sklaven angeht, ist Philemon selbst Herr der Rechtslage. Es liegt an ihm, ob er im Verhalten des Onesimus ein Unrecht erkennt oder nicht. Auf jeden Fall ist folgende Ambivalenz zu bedenken: Philemon hält Onesimus in seiner Funktion als Sklave für einen "Nichtsnutz", während der Sklave seinen Herrn, der doch ein Christ ist, fUr so unerträglich hält, dass er das Weite sucht. Dass er in diesem Konflikt Paulus, der wiederum fUr Philemon eine Respektsperson ist, als Mediator angeht, macht Sinn.
2.3 Adressaten Der Brief ist an Philemon als Gastgeber einer Hausgemeinde (Kal:' otKov oou EKKA.T)OLa) adressiert. Apphia und Archippus werden ihm zum Teil familiär zugeordnet: als Frau (P. STUHLMACHER 30; als Möglichkeit: M. WOLTER 245) und als Sohn (altkirchliche Tradition; kaum mehr vertreten). Dem steht grammatikalisch entgegen, dass von "deinem" und nicht von "eurem Haus" die Rede ist (U. SCHNELLE 167). Idiomatisch werden die Mitglieder eines Hausverbandes in Papyrusbriefen nie mit der von Paulus gebrauchten Wendung (Kal:' otKov/hausweise), sondern mit EV o'LK~/im Haus bezeichnet (P. ARZTGRABNER 166). Das Epitheton "Mitstreiter" weist Archippus als aktiv in die Missionsarbeit eingebunden aus (M. WOLTER 245). Unabhängig davon, ob Apphia tatsächlich die Frau des Philemon ist (vgl. I Kor 9,5), wird sie im Präskript unter dem Aspekt genannt, dass sie sich - wie Philemon als "Mitarbeiter" und Archippus als "Mitstreiter" - fUr die Hausgemeinde besonders engagiert. Philemon stellt zusätzlich sein Haus als Versammlungsort zur VerfUgung. Im Haushalt des Philemon gibt es nicht nur einen einzigen Sklaven, sonst könnte Paulus nicht insgeheim darauf spekulieren, dass Philemon ihm Onesimus zur Evangeliumsverkündigung überlässt (V. 13f.). Nachdem Onesimus erst durch die Begegnung mit Paulus Christ wird, ist der Haushalt (Oikos) des Philemon, zu dem auch Sklaven gehören, mit der Hausgemeinde nicht identisch. Philemon hat seine Sklaven nicht zur Bekehrung gezwungen. Wo ist diese Hausgemeinde zu lokalisieren? Im Brief selbst findet sich keine Ortsangabe. Wegen der auffälligen Bezugnahmen des Kol auf das Personentableau des Phlm wird die Hausgemeinde gewöhnlich nach Kolossä verlegt (K. WENGST 29; M. WOLTER 238). Kol 4,9 kündigt den Besuch "des treuen
D.lX. Der Philemonbrief (Martin Ebner)
403
und geliebten Bruders Onesimus" an und kennzeichnet ihn als "einen aus euch", was kombiniert mit den Angaben des Phlm bedeutet: Er stammt aus der Hausgemeinde des Philemon. In Kol 4,17 wird dem Archippus bezüglich des "Dienstes, den er im Auftrag des Herrn erfüllt", eine Paränese erteilt. Der in Phlm 2 genannte "Mitstreiter" ist also in Kolossä tätig. Die Parallelität der Namen Epaphras, Markus, Aristarchus, Demas und Lukas in der Grußliste der beiden Briefe (Phlm 23t: vgl. Kol 4,10-14), in denen Paulus seine Mitarbeiter aufzählt, sagt über den Ort der Adressaten wenig aus (so aber in einem Großteil der älteren Kommentare funktionalisiert: A. SUHL 19; J. GNILKA 6). Allerdings steht die Beweisführung mit Kol auftönemen Füßen. Denn es handelt sich um einen pseudepigraphischen Brief (M. WOLTER 238f.; M. GrELEN 91 f.). Mit der Bezugnahme auf die Personenkonstellationen des Phlm soll auf der Seite des Paulus die gleiche Situation, für die Hausgemeinde in Kolossä dagegen eine Weiterentwicklung im Sinn des Phlm suggeriert werden: Onesimus ist tatsächlich von Philemon für die Evangeliumsverkündigung "freigestellt" worden. Archippus versieht weiterhin seinen Dienst, der zumindest in der Bezeichnung schärfere "amtliche" Konturen (ÖL/xKovLalDiakonie) bekommen hat. Bedenkt man zusätzlich, dass Kolossä im Jahr 61 n. Chr. durch ein Erdbeben zerstört worden ist - dokumentarische Erwähnungen finden sich erst wieder ab dem Ende der Regierungszeit von Kaiser Trajan, ab 114 n. Chr. (vgl. M. WOLTER 35) - so schildert der pseudepigraphische Autor, zeitlich anzusetzen zwischen 70 und 80 n. Chr. (--+ D.XI.2.2.4), im Kol Verhältnisse, die in seiner Gegenwart gar nicht mehr gelten - und auch nicht überprüfbar sind. Es könnte der Glaubwürdigkeitsfiktion sogar entgegen kommen, dass die vom Autor vorausgesetzten Konstellationen einer Hausgemeinde des Philemon in Kolossä mit Archippus als "Diakon" und Onesimus als pln Gesandten zu der Zeit, als der vermeintlich von Paulus stammende Kol auftaucht, gerade nicht mehr verifizierbar sind, weil diese "paulinische" Vergangenheit von einem Erdbeben überrollt wurde und die entsprechenden Personen das Weite gesucht haben (gegen I. BROER 403). Für die Verortung der Hausgemeinde des Philemon ist also alles offen.
2.4 Verfasser Wo befindet sich der Absender Paulus? In Apg werden als Orte längerer Gefiingnisaufenthalte des Paulus erwähnt: Cäsarea (Apg 23,23-26,32) und Rom (Apg 28,16-31). Wegen der Verortung der Hausgemeinde des Philemon in Kolossä jedoch nimmt ein großer Teil der Kommentatoren Ephesus als Ort der Gefangenschaft an - mit Rekurs auf 1 Kor 15,32; 2 Kor 1,8f.; 11,23 (erstmals: A. DEiSSMANN 20If.). Diese Lesart wird neuerdings von M. GrELEN heftigst in Frage gestellt - insbesondere im Blick auf die präzise chronologische Rekonstruktion der Ephesuszeit des Paulus auf der Basis seiner Reisenotizen.
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
Außerdem hätte Onesimus etwa 170 km zu Fuß gehen müssen: für die Suche nach einem Mediator ziemlich weit, wenn er nicht doch in den Verdacht kommen wollte, ein wirklicher jugitivus zu sein. Als Alternative bietet sich Rom an, also die Gefangenschaft am Lebensende des Paulus (J. ROLOFF 145; U. SCHNELLE 166; M. GIELEN 82: mit Forschungsüberblick). Dazu passt die Kennzeichnung des Paulus als lTPEoßut1lc;l alter Mann in V. 9 (vgl. Lk 1,18; Tit 2,2; U. SCHNELLE 166; M. WOLTER 260). Entsprechend wäre dann auch die Hausgemeinde des Philemon in Rom anzusiedeln. Die Suche nach einem Mediator ist im stadtrömischen Milieu gut vorstellbar, der Besuchswunsch des Paulus nach seiner erhofften Haftentlassung (V. 22) in diesem Fall real. Dass Paulus Besucher empfangen kann (V. 10-12) und einen Mitarbeiterstab um sich hat (V. 23f.), ist rur die Verhältnisse in antiken Gefiingnissen keine Besonderheit. Die Antike kennt keine Strafhaft, sondern nur Sicherungshaft. Anders als in neuzeitlichen Gefiingnissen sind in der Antike die Gefangenen von der Umwelt gerade nicht isoliert. Besucher von außen sind nicht nur erlaubt, sondern sogar lebensnotwendig, um die Versorgung mit Essen und Kleidern zu gewährleisten (J.-U. KRAUSE).
2.5 Zeitliche Einordnung
Wird die (wenig wahrscheinliche) Ephesus-Kolossä-Konstellation fiir die Abfassungsverhältnisse vorausgesetzt, kommen wir an das Ende der Ephesuszeit des Paulus, etwa 55 n. Chr. (~D.11.). Spielen die Ereignisse jedoch in Rom, ist Phlm Anfang der 60er Jahre, also am Lebensende des Paulus geschrieben, vielleicht sein letzter uns erhaltener Brief.
3. Diskurs Gemäß dem Tauflied Gal 3,28 (vgl. 1 Kor 12,13) werden durch Eintritt in die religiöse Sinnwelt (EV XPLO"t(\i/EV KUp(~: Gal 3,28; Phlm 8.16) die typischen gesellschaftlichen Markierungen hinsichtlich Religion, Status und Geschlecht aufgehoben: "Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht männlich und weiblich. Alle nämlich seid ihr ein einziger in Christus Jesus." Für den Sklaven Onesimus, der Christ geworden, also in die religiöse Sinn welt eingetreten ist, wird die Magna Charta des Tauflieds für die soziale Welt im Haus des Philemon von Paulus eingefordert: Er soll ihn "nicht mehr wie einen Sklaven, sondern über einen Sklaven hinaus, als einen geliebten Bruder" empfangen, "sowohl im Fleisch als auch im Herrn" (V. 16). Ist damit auf die Freilassung angespielt (K. WENGST 42f.)? Oder würde durch den rechtlichen Akt der Freilassung doch wieder nur ein neues Unterordnungsverhältnis rechtlich begründet (M. WOLTER 233-235)? Denn durch den Akt der Freilassung würde Onesimus niemals zu einem "Freigeborenen"
D.lX. Der Philemonbrief(Martin Ebner)
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(ingenuus), der Philemon tatsächlich rechtlich und sozial gleichgestellt wäre, sondern nur zu einem "Freigelassenen" (libertus), der seinem ehema,ligen Herrn weiterhin als patronus verpflichtet bleibt: zur Ehrerbietung und Gehorsam (reverentia. obsequium. honor), aber auch zu bestimmten Dienstleistungen (operae). Tatsächlich ist im Phhn von "Freilassung" nirgends die Rede, aber von Konsequenzen des "Im-Herrn-Seins" auf das "Im-Fleisch-Sein" (V. 16). Konkret ist an das Herrenmahl zu denken. Wenn Philemon die Bitten des Paulus ernst nimmt, dann liegt Onesimus zukünftig "als geliebter Bruder" zusammen mit Philemon und seinen weiteren christlichen Mahlgenossinnen und Mahlgenossen auf den Liegen im Triklinium, vielleicht sogar auf dem Ehrenplatz: als "Stellvertreter" des Paulus, wie der Empfehlungsbrief in V. 17 rät. Das ist im Rahmen antiker Verhältnisse gesehen eine Revolution mit Innen- und Außenwirkung. Ein antikes Symposion ist geradezu die Plattform dafür, Beziehungsverhältnisse auf der symbolischen Ebene der Tischordnung zu demonstrieren. Wer mit wem speist, soll bekannt werden (M. EBNER, Mahl 67-69). In der Außenwirkung rüttelt Philemon an der gesellschaftlichen Ordnung, wenn er einen Sklaven beim GastmahllHerrenmahl wie seinesgleichen behandelt. Auch innerhalb seines eigenen Hauses wird es Schwierigkeiten geben, wenn die anderen Sklaven miterleben, dass einer von ihnen plötzlich "mit den Herren" speist: Hass auf Onesimus oder Anreiz dazu, ebenfalls Christ zu werden, sind mögliche Reaktionen. Es bleibt Faktum, dass das frühe Christentum trotz seiner Magna Charta Gal 3,28 nicht öffentlich gegen die Sklaverei Stellung bezogen und deren Abschaffung gefordert hat. Aber aus der Innensicht zumindest des Theologen Paulus gesehen, geschieht tatsächliche gesellschaftliche Veränderung über die christlichen Hausgemeinden. Seiner Meinung nach sind die Hausgemeinden sogar der eigentliche Ort der letztlich von Gott verfügten gesellschaftlichen Veränderung. Denn dort treffen sich diejenigen, die an das Christusgeschehen glauben und damit schon "in dieser Zeit" die "neue Schöpfung" leben. Paulus nennt die Hausgemeinden EKKA.TJoLa./Bürgerversammlung und sieht in ihnen, die er vor allem in den Hauptstädten der Provinzen des Römischen Reiches gründet (M. EBNER, von den Anfängen 35f.39-42), die eigentlichen neuen politischen Zentren der Städte, die sich allerdings von Gott und seiner Weltordnung her definieren (EKKATJOLa. -roD Ot-oißEkklesia Gottes). Demgegenüber scheinen die Äußerungen des Paulus in I Kor weniger mutig, wenn er dort den Sklaven rät: "Bist du als Sklave berufen worden, lass es dich nicht kümmern! FaUs du aber frei werden kannst, ~AAOV xpijoa.L/mache umso mehr daraus - oder: bleibe umso lieber Sklave!" (I Kor 7,21). Im Blick auf Phlm lässt sich differenzieren: Nicht jeder Sklave hat einen christlichen Herrn, an den Paulus wie im Phlm appellieren kann. Die generellen Maximen in 1 Kor 7,21 haben auch die anderen Fälle im Blick, also Sklaven, die in einem Haushalt leben, dessen Herr kein Christ ist (vgl. die Grußliste in Röm 16,3-16 und die "Aufteilung" der genannten Personen auf unterschiedlich strukturierte Hausgemeinden: P. LAMPE, Missionswege). Konkretisiert bedeutet das: Sklaven im Haushalt eines nicht-
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D. Die Briefe - Paulusbriefe
christlichen Henn bleiben dort Sklaven, sollen sich jedoch - im Blick auf die religiöse Sinnwelt (ev KupL~) - frei fühlen. Aber bei den Versammlungen, bei denen sie mit anderen Christen als Ekklesia zusammenkommen, sind sie auch "im Fleisch" Brüder. Wenn es sich dagegen um einen christlichen Herrn handelt, wie im Fall des Philemon, beharrt Paulus auf einer tatsächlichen Statusveränderung des christlich gewordenen Sklaven in dessen eigenem Haushalt (Phlm).
Allein die Tatsache, dass Phlm erhalten geblieben ist, zeigt, dass Philemon die Mahnung des Paulus nicht einfach ins Feuer geworfen hat (K. WENGST 42). Vielleicht wurde das auch durch den klugen Schachzug des Paulus unterstützt, den Empfehlungsbrief fiir Onesimus an die gesamte Gemeinde im Haus des Philemon zu schreiben. Die pseudepigraphische Paulusschule jedenfalls sieht in Kol 4,9 Onesimus als pln Mitarbeiter agieren und unterstreicht damit noch einmal den verdeckt geäußerten Wunsch des Paulus in Phlm 13. Phlm ist ein Musterbeispiel dafür, dass Theologie bzw. Christologie praktische Konsequenzen haben müssen. Der "alte" Paulus steht dafür ein.
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D.lX. Der Philemonbrief (Martin Ebner)
407
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D.X. Der Epheserbrief (Michael Theobald)
I. Struktur Zwei große Teile hat Eph, einen lehrhaften (l ,3-3,21) und einen mahnenden (4,1-6,9). Daran schließt sich in 6, I 0-17 noch eine zusammenfassende Schlussmahnung an (= peroratio oder conclusio). Ein knapper brieflicher Rahmen umschließt das Ganze (1,1 f.l6, 18-24). Die beiden Briethälften sind jeweils konzentrisch gebaut (vgl. G. SELLIN, Paränese 282 Anm. 11; 297). Die erste ist stark vom Gebet geprägt. Mit einem feierlichen Lobpreis (Eulogie) beginnt sie (A = 1,3-14), mit einer Doxologie schließt sie (A' = 3,20f.). Danksagung (B = 1,15-23) und Fürbitte für die heidenchristlichen Adressaten (B' = 3,14-19) rahmen die mittleren Stücke, wobei der Apostel schon in 3,1 zur Fürbitte ansetzt, sie aber erst in 3,14f. ausfühlt. Im Zentrum der Komposition (D = 2,11-22) steht die Erinnerung an die "Heilsgüter", die den Adressaten aus der Völkerwelt durch ihre Eingliederung in die eine Kirche aus Juden und Heiden zuteil wurden. Eingerahmt wird dieses Herzstück von zwei weiteren Rückblenden: Die eine thematisiert Konversion und Taufe der Adressaten (C = 2,1-10), die andere die Berufung des Paulus zum Apostel der Heiden (C' = 3,1-13). Die Erinnerung ist danach die Basis des ersten lehrhaften Briefteils, der Ort, an dem das theologische NachDenken einsetzt! Auch die zweite Briethälfte ist spiegelbildlich um eine zentrale Mittelachse herum gebaut. In ihrem Zentrum (0 = 5,lf.) steht eine grundsätzliche Weisung, die das Prinzip christlichen Ethos benennt: Nachahmung Gottes am Modell Christi! Gerahmt wird sie von Mahnungen, die schon von ihrer Form her (katalogartige Auflistungen) miteinander verwandt sind (C = 4,25-32/ C' = 5,3-14). Was der erste Briefteil mit Blick auf die Taufe in Erinnerung ruftden dOlt in Christus vollzogenen Wandel vom alten zum neuen Menschen (2,1-10) -, das setzen die Mahnungen BIB' der zweiten Briethälfte (4,1724/5,15-20) in konkrete ethische Weisungen um. Aufschlussreich sind die Bezüge zwischen der grundlegenden ekklesiologischen Mahnung A (4,1-6.716) und den Weisungen der "Haustafel" am Ende der zweiten Briefhälfte in A' (5,21-6,9): Beidemal geht es um gelebte Einheit, dort in den übergreifenden Bezügen von Kirche, hier in denen des Hauswesens. Das Gebetsthema tritt in der zweiten Briefhälfte zurück, bleibt aber ihrem Charakter gemäß in Form von Mahnungen präsent (v gl. 5,18-20; 6,18f.). Der Schlusssegen 6,23f. mit seinen beiden Leitworten "Friede" (vgl. 2,14f.17; 4,3; 6,15) und "Gnade" (vgl. 1,6f.; 2,5.7f.; 3,2.7f.; 4,7.29) nimmt den Eröffnungsgruß von 1,2 in umgekehrter Reihenfolge wieder auf, so dass das Schreiben damit insgesamt gerahmt wird (F. SCHNlDERfW. STENGER 132f.).
D.x. Der Epheserbrief (Michael Theobald)
Lehrhafter Briefteil (1,3-3,21 )
Mahnender Briefteil (4,1--6,9)
Briefschluss (6,10-24)
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Präskript (1,1-2) A. Feierlicher Lobpreis (Eulogie) (1,3-14) B. Danksagung mit Fürbitte (1,15-23) C. Erinnerung der Adressaten an die in ihrer Taufe geschehene Rettung (2,1- 10) D. Erinnerung der Adressaten an ihre Eingliederung in die eine Kirche aus Juden und Heiden (2,11-22) C'. Erinnerung an die dem Apostel vor Damaskus zuteil gewordene Offenbarung des Mysteriums Christi (3,1-13) B'. Fürbitte (3,14-19) A'. Kurzer Lobspruch / Doxologie (3,20f.) A. Die Einheit des Leibes Christi: Grundlegende Mahnung samt Unterweisung zu den Ämtern in der Kirche (4,1--6.7-16) B. Der alte und der neue Mensch (4,17-24) C. Katalogartige Mahnungen (4,25-32) D. Das Prinzip des christlichen Ethos: Nachahmung Gottes am Modell Christi (5,1f.) C'. Katalogartige Mahnungen (5,3-14) B'. Das törichte Leben des allen und das geisterftillte Leben des neuen Menschen (5,15-20) A'. Das christliche Haus als Zelle und Bild der Einheit (5,21--6,9) Zusammenfassende Schlussmahnung (6, I0-17) (peroralio oder conc/usio) Mahnung zu Gebet und Fürbitte (6,18--20) Notiz zum Brieftiberbringer (6,21 f.) Segenswunsch (6,23f.)
2. Entstehung 2.1 Der Epheserbriejals Pseudepigraphon
Wenn feststeht, dass Kol ein Pseudepigraphon ist (- D.X1.2.I), dann besteht kein Zweifel daran, dass dies auch für Eph gilt - vorausgesetzt, Kol ist Prätext des Eph (- 2.2.1). Offenbar hielt der Autor Kol für einen authentischen Paulusbrief (bzw. dieser war inzwischen als ein solcher anerkannt), weshalb er damit rechnen konnte: Wer Kol kennt und als Paulusbrief schätzt, wird auch aus seinem Schreiben dessen Tonfall heraushören und ihn gleichfalls für einen Brief des Apostels halten. Aber abgesehen von dieser Entstehungshypothese erweist sich das Schreiben auch auf Grund interner Merkmale als geschicktes pseudepigraphisches Schreiben (- D.1.7) bzw., wenn man die genetische Kette Phlm - Kol- Eph bedenkt (- D.XI.2.1 sowie H. HÜBNER 272f.), als frito-pln Dokument. Zweifel an seiner pln Herkunft äußerte man schon gegen Ende des 18. Jh., aber "erst der Engländer E. Evanson [1792], der Schweizer L. Usteri [1824], dann De Wette [1826] sowie vor allem F. C. Baur und seine Schule sprachen den Brief dem Apostel ab" (R. SCHNACKENBURG 20). Heute hat sich diese Einschätzung weithin in der Forschung durchgesetzt.
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Stil: Schon Erasmus von Rotterdam bemerkte den von Paulus abweichenden Stil des Schreibens, das "barock" und rullig anmutet: pleonastische Häufungen von Synonymen, viele Genitivverbindungen, kaum Konjunktionen und Partikel, Repetitionen bestimmter Wendungen etc., was alles sehr an Kol erinnert (- D.X1.). Spezifisch für Eph ist aber sein weithin hymnischer Ton mit liturgischen Anklängen, auch seine Vorliebe fiir Satzungetüme (1,3-14 [die längste Satzperiode im NT!]; 1,15-23; 2,1-7; 3,1-7.14-19; 4,11-16; 5,7-13; 6,14-20). Die briefliche Form: Schon die Art und Weise ihrer Adaption im Schreiben lässt die nach-pln Situation durchscheinen. Eine lebendige briefliche Kommunikation, wie wir sie von Paulus her gewohnt sind, suchen wir im Eph vergebens. Obwohl Paulus drei Jahre lang in der kleinasiatischen Metropole gewirkt hat (Apg 20,31), bleiben seine anvisierten Empfanger merkwürdig schemenhaft. Der Apostel scheint sie persönlich nicht zu kennen, von ihrem Glauben und ihrer Liebe hat er nur "gehört" (1,15). Akute Fragen und Konflikte spielen keine Rolle. Von Reiseplänen des Apostels hören wir nichts. Grußaufträge und Grußausrichtungen, die rur seine authentischen Briefe typisch sind, fehlen. Und wie spricht der "Paulus" des Schreibens über sich selbst? Aus einer Perspektive, die nicht die seine ist, sondern die eines Betrachters der nachapostolischen Generation. Für ihn ist Paulus der "Gefangene Christi Jesu" (3, I; vgl. 3,13; 4, I; 6,20), der privilegierte Mittler göttlicher Offenbarung (3,2f.8f.), der wichtigste Repräsentant der "Apostel und Propheten", die als "Fundament" der Kirche in ihrer Frühzeit gelten (vgl. 2,20; 3,5; 4,11), kurzum: der Garant "apostolischer" Tradition. So wirkt die briefliche Form des Schreibens tatsächlich eher "wie eine Nachahmung" (R. SCHNACKENBURG 18). Aber handelt es sich deswegen schon um einen "theologischen Traktat" (E. KAsEMANN, RGG3 II 517.520), eine "Weisheitsrede" (H. SCHLIER 21) oder eine in die Form eines Briefes gekleidete liturgische (Tauf-)Homilie (P. POKORNY; J. GNlLKA)? Richtig daran ist nur so viel, dass das Schreiben - ein "Gebetsbrief" (U. Luz)! - dank seiner liturgischen Stilisierung, die seinen brieflichen Duktus mehrfach in eine feierliche Tonlage hinauftransponiert (s.o.), den "Sitz im Leben" durchscheinen lässt, fiir den es geschaffen wurde: die Verlesung in der Gemeindeversammlung, wie das seit den Anfängen der pln Gemeinden Usus war (vgl. 1 Thess 5,27f.; Kol 4,16). Aber auch hier macht sich wieder der beobachtete geschichtliche Abstand zu Paulus bemerkbar: Ihm, dem von Gott eingesetzten Apostel, wird jetzt im Gottesdienst ein autoritatives Wort eingeräumt.
Theologie: Da Eph als "Fortschreibung" des Kol zu verstehen ist (die freilich über diesen hinaus verstärkt spezifisch pln Theologumena einbringt, s. u.), sind es zunächst dieselben theologischen Befunde wie beim Kol, welche die Differenz zu Paulus markieren: die kosmische Christologie (1,10.21f.; 3,9f.); die präsentische Eschatologie (1,3.9f.; 2,4-10), in der die Zukunftsdimension zurücktritt (Paulus könnte nie sagen, wir seien schon auferweckt: vgl. Röm 6); die Ekklesiologie (Kirche ist nicht mehr die Ortsgemeinde, sondern die Kirche als ganze: insgesamt 9 Mal der Terminus ekklesia in diesem Sinn: 1,22; 3,10.21; 5,23.24.25.27.29.32; Kol: 1,18.24).
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D.x. Der Epheserbrief(Michael Theobald)
Zwei weitere Differenzpunkte zu Paulus sind aber über Kol hinaus signifikant: die ausgeprägte nachapostolische Ämter-Theologie von 4, 7-16 (dazu H. MERKLEIN, Amt; M. THEOBALD, Eph 133-141) sowie die Ausführungen zur Ehe im Rahmen der "Haustafel": Paulus war ehelos, er sah seine Lebensform unter dem Vorzeichen der vergehenden "Gestalt dieser Welt" (I Kor 7,31); für die Ehe brachte er kein besonderes Verständnis auf (vgl. I Kor 7,1 f.68.26.32-38). Anders der Autor des Eph: Er entwickelt in 5,21-33 eine Theologie der Ehe, nach der die eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau das Geheimnis Christi und der Kirche abbildet, also leibhaftiges Zeichen für die Gegenwart der rettenden Liebe Gottes unter den Menschen ist (vgl. M. THEOBALD, Eph 175-179; DERS., Hochzeit 220-254). Hier hat der anonyme "Lehrer", der vielleicht selbst einem Haus vorstand und verheiratet war, sein großes Vorbild nun wirklich "umgeschrieben", oder wie U. Luz feststellt: "Die einzige Ausnahme von seiner Paulustreue ist sein Verständnis der Ehe (5,22-33), das sich m. E. direkt gegen das paulinische richtet" (NTD 8/1, 110). 2.2 Prätexte und Bausteine
Was lässt sich zum Entstehungsprozess des Schreibens ausmachen? Welche Paulusbriefe kalmte der Autor? Über welche Überlieferungen verfügte er? 2.2.1 Der Kolosserbrief - Prätext des Epheserbriefs Der Autor des Eph hat sich nicht nur an zahlreiche Formulierungen des Kol eng angelehnt, er hat auch, wie die strukturvergleichende Synopse der beiden Schriften zeigt, den Aufbau seines Prätextes in Grundzügen bewahrt: Präskript - belehrender Teil mit den beiden einander korrespondierenden Hälften (an den Adressaten/am Autor orientiert) - Paränese (hier sind die Bezüge besonders eng) - Briefschluss. Ein Vergleich der beiden Schreiben hilft, das Profil des Eph zu schärfen: Epl,eser
Kolosser
Präskript (1,1-2)
Präskript (1,1-2)
I. Belehrender Teil (Eph 1-3) bzw. Brieferöffnung (Kol 1,3-2,5) A
Eulogie (1,3-14) An den Adressaten orientiert
B
Danksagung mit Fürbitte 1,15-23)
C
Einst/Jetzt: Die Wende zum Heil 2,1-10)
Danksagung mit Fürbitte (1,3-8/9-14)
D. Die Briefe - Deuteropaulinen
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D
Einst/Jetzt (2,11-13) Christuslob (2,14-18) Applikation auf die Adressaten (2,19-22)
Christuslob (1,15-20) Applikation auf die Adressaten (1,21-23)
Am Autor orientiert
C' B' A'
Paulus, sein Amt und sein Wirken als Apostel (1,24-2,5)
I Fürbitte (3,14-19) I Doxologie (3,20-21) 11. Argumentation (Kol 2,6-23)
Argumentation gegen die "Irrlehrer" (2,6-23) 111. Mahnender Teil (Eph A
B
C D
I Grundsatz der Paränese (4,1-6) 417-520 , , Alter und neuer Mensch (4,17-24) Weisungen (4.25-32) Prinzip (5,1-2)
C'
Weisungen (5,3-14)
B'
Torheit des alten, Weisheit des neuen Menschen (5,15-20)
A'
I Haustafel (5,21~,9)
~
bzw. KoI3,1-4,1)
I Grundsatz der Paränese (3,1-4) 35-17 , Weisungen gegen den alten Menschen (Lasterkatalog) (3.5-11 ) Weisunge/l zum /leuen Menschen (Tugendkatalog) (3,12-15) Gottesdienst-Regel (3,16) Abschließende Lebensregel (3,17)
I Haustafel (3,18-4,1)
IV. Briefschluss (Eph 6,10-24 bzw. KoI4,2-18) A
Schlussmahnung (6,10-17)
I Grundsatz der Paränese (3,1-4) Gebet lind Außen bezug der Gemeinde (4,2-6) Auftrag an die Briefuberbringer (4,7-9)
I Grußaufträge von Mitarbeitern (4,10-14) Grüße und Aufträge des Verfassers (4,15-17)
I Eschatokoll (6,23-24)
Eschatokoll (4,18)
D.X. Der Epheserbrief(Michael Theobald)
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Beachtlich ist zunächst, was sein Autor nicht übernommen hat. Vor allem konnte er die Argumentation gegen die "Irrlehrer" (Kol 2,6-23) nicht gebrauchen. Seine Situation war eine andere. Statt Konfrontation ging es ihm um das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen in der einen Kirche. Sodann hat er die Personaltraditionen des Briefschlusses Kol 4,7f. - abgesehen vom Auftrag an den Brieftiberbringer Tychikos (Eph 6,21 f.) - samt Grüßen und Grußaufträgen einfach gestrichen, mit dem Effekt, dass sein Schreiben einen viel weniger lokal bezogenen Eindruck hinterlässt als Kol. Strukturell neu in der ersten Briefhälfte sind die "gottesdienstlich" geprägten Stücke bzw. besser: die brieflich eingebundenen Gebetsvollzüge Eulogie (1,314), Fürbitte (3,14-19) und Doxologie (3,20f.) sowie die gewichtigen ekklesiologischen Abschnitte 2,1-10 und 11-13. Gleich zweimal kommt hier das Einst/Jetzt-Schema aus Kol 1,21-23 zur Anwendung, wobei deutlich wird, dass der Autor seine Vorlage konsequent zu einem Schreiben des VölkerApostels (3, I) aus Israel an die Heidenchristen ausgebaut hat (vgl. 2,11; auch 1, 13f.; 3, I f.). "Einst" (2,11; vgl. 2,2) lebten diese fern von Israel, ,jetzt" (2,13) haben sie Anteil an seinen "Vorzügen" in der einen Kirche aus Juden und Heiden. Gemäß der zentralen Position von 2,11-22 im Bauplan der ersten Briefhälfte (= D) können wir hier das Leitthema des Schreibens greifen. In der zweiten Briefhälfte ist der Absatz 4,7-16 zum Amt in der Kirche strukturell neu. Nun darf man nicht meinen, diese laut Synopse hinzugewachsenen Stücke des Eph seien Neubildungen ohne jeden Anhalt an Kol. Auch sie schöpfen zum Teil aus Kol, so z. B. die Eulogie (vgl. Eph 1,7 mit Kol 1,14; Eph I, \0 mit Kol 1,18/20), die der Autor zum Eröffnungstext seines Schreibens ausgebaut hat, in dem seine wichtigsten Themen und Motive bereits anklingen. Trotz Bindung an den "Prätext" ist der Umgang mit ihm souverän und kreativ. Vergleicht man das konzeptionelle Profil des Eph mit Kol, dann zeichnet sich noch Folgendes ab: (I) Mit dem Leitthema Kirche aus Juden und Heiden verbindet sich eine erhöhte Sensibilität für das Erbe Israels in der Kirche (vgl. 2,12f.), was vor allem der Einsatz des heilgeschichtlichen Terminus der "Verheißung" erweist. In Kol begegnet dieser noch nicht, dafür verstärkt im Eph (1,13; 2,12; 3,6), pln Terminologie gemäß (vgl. Gal 3,14.22.29; Röm 4) nur im Singular. Gemeint ist die eschatologische Gabe des "Geistes" (-+ 3.3), während in 6,2t: (Elterngebot des Dekalogs) eine begrenzte Verheißung vor Augen steht. (2) Kol rekurriert nirgends auf die "Schrift" Israels, wohingegen der Autor des Eph des Öfteren mit Zitaten und Anspielungen aufwartet. Eine ausdrückliche Zitationsformel begegnet zwar nur einmal, in 4,8 (Ps 68,19), doch anderweitig markierte Zitate kommen mehrfach vor: 1,22 (Ps 8,7); 5,31 (Gen 2,24) und 6,2f. (Ex 20,12 bzw. Dtn 5,16). Bemerkenswert sind auch die zahlreichen Anspielungen auf die Schrift: 2,13.17 (Jes 57,19); 2,14 (Jes 9,5; Mi 5,4); 2.17 (.les 52,7); 4,25 (Sach 8,16); 4,26 (Ps 4,5); 4,28 (Ex 20,15); 4,30 (Jes 63,10); 6,14.17 (Jes 59,17; Weish 5, 18f) usw. (vgl. M. GESE 101-105). (3) Kol hat ein pneumatologisches Defizit. Nur einmal kommt die Rede auf den Geist (Goltes), und da auch nur formelhaft (1,8). Demgegenüber entwickelt der Autor des Eph eine regelrechte ,.Pneumatologie" (F. MUSSNER 27; vgl. 1,13.17: 2,18.22; 3,5.16; 4,3.4.23.30;
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
5,18; 6,17.18), die er stringent in seine Gottes- und Christusrede einbaut. Laufend begegnen im Schreiben "triadische" Strukturen mit der Grundform: "Gott" - "durch Christus" - "im heiligen Geist" (1,3.13f.; 2,12.18.22; 3,4f.14.16.17; 4,4--6; 4,30.32; 5,18.19.20). (4) Schon der Eintrag des Themas "Verheißung" in die Koordinaten der kosmischen Christologie des Kol wie auch die Reflexion auf das Wirken des endzeitlichen Geistes Gottes verraten die Absicht einer verstärkten Paulinisierung des überkommenen Erbes. Offenkundig wird das in 2,5.8f., wo der Autor die Basisformeln der pln Rechtfertigungslehre reproduziert, allerdings in einer transformierten Gestalt, die zu erkennen gibt, dass man die Leitworte des Paulus ("rechtfertigen", "Gerechtigkeit") inzwischen nicht mehr verstand bzw. anders gebrauchte (vgl. Eph 4,24; 5,9; 6,14) und deshalb durch neue ("gerettet werden" etc.) ersetzen musste (vgl. M. THEOBALD, Kanon 207-210). (5) Der Autor des Kol unterstellt sich der Autorität des Paulus, andere Apostel kennt er nicht oder will er nicht kennen. Auch rur den Autor des Eph ist Paulus der Apostel schlechthin, aber er sieht ihn als Glied eines größeren Kreises, nämlich "der Apostel und Propheten" (2,20; 3,5; 4,ll), denen er (aus nach-apostolischer Perspektive!) kirchliche "Fundament"-Funktion zuschreibt. Die von ihm gewollte "Paulinisierung" des überkommenen Erbes ruhrt also nicht zu einem Mono-Paulinismus (anders dann die Past). Auch in dieser Hinsicht erweist er sich als ökumenisch!
2.2.2 Kenntnis weiterer Paulusbriefe? Das zuletzt beobachtete Phänomen der Paulinisierung hängt wohl auch damit zusammen, dass dem Autor des Eph - über mündliche Paulus-Traditionen hinaus - nun auch die literarische Hinterlassenschaft des Apostels in viel stärkerem Maße als Bezugsgröße zugänglich war als noch dem Autor des Kol (-+ 2.2.1). Kleincorpora paulinischer Briefe sind gegen Ende des I. Jh., der wahrscheinlichen Abfassungszeit unseres Schreibens (s. u.), in verschiedenen Gemeinden "vermutbar" (U. LUZ, Überlegungen 390 Anm. 56f.). Wichtig rur den Autor war gewiss Röm, nicht nur als Vorbild rur die Zweiteilung seines Schreibens (lehrhaft/mahnend: Röm 1-11/12-15; vgl. insbes. Eph 4,1.4.7 mit Röm 12,1.5.3), sondern auch wegen seiner profilierten Israel-Theologie (vgl. Eph 2,9 mit Röm 11,18; Eph 2,llf. mit Röm 9,4f. [paulinische Liste der Privilegien Israels]; Eph 3,6 mit Röm 11,17: M. THEOBALD, Eph 90-96). Hinzu kommt 1 Kor, der in Eph 3,8 (vgl. I Kor 15,9) und 4,28 (vgl. 1 Kor 4,12) seine Spuren hinterlassen hat. Aber neben diesen beiden Hauptschriften des Apostels dürfte der Autor auch noch weitere Briefe aus seiner Feder gekannt haben (M. GESE 54-85).
2.2.3 Mündliche Überlieferungen? Hat der Autor, von konventionellen frühchristlichen Sprachkonventionen einmal abgesehen, auch über geprägte Überlieferungen verfügt, hymnisches Gut, wie man es für die Eulogie, aber auch für 1,20-23 und das Christuslob 2,1418 vermutet hat (vgl. etwa J. GNILKA 147-152)? In dem Maße man lernt, sol-
D.x. Der Epheserbrief (Michael Theobald)
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che Passagen als Produkt kreativer Relecture des Kol-Prätextes zu lesen, erübrigen sich derartige Hypothesen. Durchweg beschränkt sich ihr liturgischer Charakter auf das gewählte Kolorit, man denke an die doxologische Formel "zum Lob seiner Herrlichkeit" (1,6.12.14), den plerophoren Stil, z. B. die Wendung "Reichtum seiner Gnade" (1,7; 2,7), oder die Bekenntnisformeln in 1,20. Eine Überlieferung aber gibt es, die der Autor sogar mit einer Zitationsformel versehen hat, den liturgischen Zuspruch an den Täufling in 5,14, der aus einem Weckruf samt Verheißung besteht: "Darum heißt es: Erheb dich, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und aufstrahlen wird dir Christus!" In 4,5f. könnte eine gottesdienstliche Akklamation vorliegen (vgl. M. THEOBALD, Eph lI5f.).
2.3 Veranlassung und Zweck des Schreibens Eine konkrete Veranlassung gibt Eph nicht zu erkennen. Von Häresien, die zu bekämpfen wären (Kol!), ist, abgesehen von der usuellen Warnung 4,14, nicht die Rede. Auch der eher grundsätzliche Charakter der Paränese deutet nicht auf spezifische Missstände hin, die das Schreiben veranlasst haben könnten. Was sind aber dann seine Gründe? Der synoptische Vergleich mit Kol (Stichwort: "Paulinisierung" etc.) wie der Aufbau des Schreibens liefern dazu Hinweise. Was letzteres betrifft, so ist bemerkenswert, dass der lehrhafte Teil des Schreibens in einen umfangsmäßig zumindest gleichwertigen mahnenden Teil einmündet, woraus zu schließen ist, dass alles "Lehrhafte" der ersten drei Kapitel nicht Selbstzweck ist, sondern der Grundlegung der ethischen Weisungen der zweiten Briefhälfte dient. Die wichtigsten Themen der ersten Briefhälfte werden auch in der zweiten noch einmal aufgegriffen (Einheit der Kirche: 2,14-18/4,1-6.13; Christus, Haupt der Kirche: 1,22f.14,15f.; 5,23f.; der neue Mensch: 2,15/4,13.24). Leitend ist danach die Absicht, den Adressaten in der Paränese zu einer Lebensgestaltung aus dem Geist Christi (vgl. 5, I f.) zu verhelfen, wobei es weniger um die Einzelnen als vielmehr um den Lebensstil der Getauften als Gemeinde geht. Früher hatte man noch alles Gewicht auf den ersten Briefteil gelegt und von ihm her das ganze Schreiben gelesen (H. SCHLIER 21f.: eine "Weisheitsrede"; A. LINDEMANN. ZBK.NT, 13f.: "eine Art theologische ,Abhandlung"', eine "Grundsatzerklärung" des Apostels). Inzwischen ist das Pendel umgeschlagen und man stellt das ethische Interesse des Autors in den Mittelpunkt (so vor allem U. Luz, NTD 811, 108). Aber vielleicht wird man beides nicht
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
alternativ sehen. Die Frage: Was sollen wir tun? hängt ja doch entschieden von der anderen ab, wer wir sind. Deshalb begreift man auch gut, warum der Autor seine Adressaten zunächst auf ihre Biographie hin anspricht und sie an das erinne,.t, was sie vor ihrer Taufe gewesen sind (2,1-3.11 f.19a), und welche Sinn-Räume ihnen die Taufe erschlossen hat. Darum zu wissen, sollte jetzt auch ihr Handeln bestimmen.
Wertet man das im Vergleich zu Kol erhobene Profil des Eph für die Frage nach seiner leitenden Intention aus, dann stößt man zunächst auf seine Absicht, das kirchliche Selbstverständnis der angesprochenen Heidenchristen einer Klärung zuzuführen. Dabei verschiebt sich die Perspektive von der ersten zur zweiten Briefhälfte: In der ersten spricht der Autor die Adressaten als Heidenchristen an und erinnert sie daran, was sie dem Erbe Israels, wie es der Kirche von ihrem Ursprung her eingestiftet ist, alles zu verdanken haben (2,11 f.). Angesichts eines heidenchristlichen Dünkels gegenüber "Judenchristen" (vgl. 2,8: "damit sich niemand rühmt", mit Röm 11,18), der möglicherweise auf dem Boden der "gesetzesfreien" pln Mission gewachsen ist, will er die Einheit der Kirche befördern, im Großen wie im Kleinen. In der zweiten Briefhälfte ändert sich die Blickrichtung. Jetzt spricht er seine Adressaten nicht mehr daraufhin an, dass sie zur Kirche aus Juden und Heiden hinzukommen durften, sondern als Christen, die sich von ihren ehemaligen heidnischen Mitbürgem durch den Kontrast ihres Christus gemäßen Lebensstil zu unterscheiden hätten. Es geht ihm also um gelebte Kirche, die ihre hohe Attraktivität in der römisch-hellenistischen Umwelt zunächst dadurch zu erweisen habe, dass sie in sich vereint, was in der Gesellschaft verfeindet ist - Juden und Heiden -, sowie darüber hinaus auch grundsätzlich von einem "Wandel in Liebe" (5,1) bestimmt sein sollte, der sich bis in die Sozialgestalt des antiken Oikos hinein zu konkretisieren vermag (5,21-33). Ist soweit die eigentliche Intention des Schreibens inhaltlich erfasst - der Aufbau eines übergreifenden kirchlichen Selbstbewusstseins in der Differenz zur umgebenden heidnisch-profanen Gesellschaft -, so fehlt noch ein wichtiger Baustein, der eher die formale Seite des Pseudepigraphon betrifft: Sein Verfasser will die Autorität des Paulus stark machen, ja, wie die "Paulinisierung" überkommener kosmischer Christologie und Gemeindetheologie des Kol in seinem Schreiben elweist, ihn umfassend als apostolische Autorität im Gesamt der Kirche zur Geltung bringen. So ist der Grund des anonymen Paulus-"Schülers", den Eph zu schaffen, wohl in seiner Absicht zu suchen, seinen ekklesiologischen Entwurf eines christlichen Lebensstils aus biblischem Geist als bleibendes "Vermächtnis" (M. GESE) des Apostels an die nachapostolische Kirche zu legitimieren und so Paulus indirekt selbst zu Wort kommen zu lassen.
D.X. Der Epheserbrief(Michael Theobald)
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2.4 Zeit und Ort der Entstehung Letzterer muss nicht, kann aber mit der Adresse des Schreibens übereinstimmen. Diese ist freilich textkritisch nach wie vor umstritten. In den ältesten Handschriften (p46 N B) fehlen die beiden Worte "in Ephesus" \,1, erst vom 5. Jh. an sind sie in den Bibelabschriften bezeugt. Andererseits gilt das Schreiben nach dem Zeugnis verschiedener Kirchenväter - Irenäus v. Lyon, Tertullian, Clemens v. Alexandrien - seit dem Ende des 2. 1h. als Schreiben des Apostels nach Ephesus und ist auch seit seiner Aufnahme in die Sammlung der Paulusbriefe, also gewiss schon im 2. 1h., mit der inscriplio "An die Epheser" verbunden. Daraus lässt sich die Ursprünglichkeit der Ephesus-Adresse aber noch nicht ableiten. Möglich wäre ja die Annahme, dass die Adresse des Rundschreibens mit einer Lücke arbeitete (.,an die Heiligen, die sind in ... "), in welche der Ort der Empflingergemeinde jeweils einzutragen war (H. SCHLIER 31 f.). Spätere Abschreiber des Briefes bzw. diejenigen, die ihn in die Sammlung der Paulusbriefe aufgenommen haben, hätten dann die Adresse nach Ephesus erschlossen; immerhin gehört ja Tychikus (6,2\) laut Apg 20,4 nach Kleinasien bzw. 2 Tim 4,\2 zufolge nach Ephesus. Doch gegen diese Hypothese spricht u. a., dass mit einer Lücke in der Adresse operierende Rundschreiben in der Antike nicht belegt sind und vor allem Paulus sich solchen Mittels nie bedient hat. Und unser Autor wollte doch im Anschluss an Kol einen Paulusbrief fingieren und musste sich deshalb ganz an die ihm vorgegebenen Konventionen halten. Daraus lässt sich dann auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit folgern, dass das Schreiben - wie alle authentischen Paulusbriefe (inklusive der Prätext Kol!) - die Ortsangabe ursprünglich enthielt. Die Gegenprobe liefert der Kurztext, dem keine sinnvolle Deutung abzuringen ist: .,an die Heiligen. die auch in Christus Jesus gläubig sind". Will der Autor also sagen. dass es auch Heilige gibt. die sich nicht zu Christus bekennen. etwa die Juden (vgl. die Diskussion bei P. POKORNY 50)? G. SELLIN (Adresse \ 77f.) und ihm folgend I. BROER (Einleitung 5\\) verharmlosen die Schwierigkeiten, wenn sie die Adresse so paraphrasieren: "an die Heiligen und Gläubigen in Christus Jesus". Wer flir die Ursprünglichkeit der Ephesus-Adresse plädiert, muss allerdings ihre nachträgliche Tilgung erklären, was möglich ist. Die Absicht war die, den allgemeinen, d. h. "katholischen" Charakter des an alle Gemeinden gerichteten Schreibens herauszustreichen. Den sich dadurch ergebenden Kurztext nahm man in Kauf. Dass diese Hypothese sinnvoll ist, zeigt die Textgeschichte von Röm \,7.\5, wo die Rom-Adresse in einem Teil der Handschriften aus genau denselben Gründen weggebrochen wurde. Somit scheint es aus inneren Gründen immer noch die beste Lösung zu sein, dem Schreiben die Ephesus-Adresse zu belassen, wobei man sehen muss, dass es sich \, I zufolge nicht nur an "die in Ephesus" selbst richtet, sondern auch an die "Gläubigen in Christus Jesus" über die Hauptstadt der Provinz hinaus. Wir haben also tatsächlich ein Rundschreiben vor uns.
Wenn Kol in Kleinasien entstanden ist, dann wohl auch Eph. Die Fiktion ist die, dass der in Rom "gefangene" Apostel (vgl. 3,1.13; 6, 19f.) in einem Rundschreiben nach Kleinasien noch einmal sein "Vermächtnis" festhalten wollte. Deshalb kann man nicht ausschließen, dass es auch dort entstanden ist, wo die Erinnerung an den Apostel "in Ketten" (6,20) am lebendigsten war: in Rom. Die für 2,11-22 vorausgesetzten Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen deuten indes eher nach Kleinasien, wo es infolge von Einwanderung aus Palästina nach dem jüdisch-römischen Krieg (66-70 n. ehr.) (vgl. Euse-
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
bius, Hist Eccl III 37.39) beachtliche jüdische Minoritäten in den dortigen christlichen Gemeinden gab (-+ E.I1.). Damit sind dann auch schon die Eckpunkte für eine Datierung des Schreibens im Blick: einige Jahre nach dem Tod des Apostels, gewiss nach 70 n. Chr. Da nichts im Schreiben auf eine Verfolgung der Christen durch heidnische Kreise hindeutet - auch nicht 6,10-17.18-20, wo man derartiges erwarten dürfte -, wird es vor den größeren sozialen Konflikten in Kleinasien in spätdomitianischer Zeit (96 n. Chr.) zu datieren sein, wie sie auch durch Oftb bezeugt werden (-+ E.Il.2.5). Das führt auf die Jahre "zwischen 8090 n. Chr." (F. MUSSNER 36).
3. Diskurs 3.1 .. Weltanschauliche" Vorgaben
Beim Eph tritt die Bedeutung des "weltanschaulichen" Rahmens für die theologische Aussage in seltener Klarheit zu Tage. Der Autor hat seine Christologie in die ihm vorgegebene WeItsicht eingetragen bzw. diese umgekehrt seiner Heilslehre anverwandelt. Diese besitzt "weltbildliches Gepräge" (R. SCHWINDT, Weltbild 511). Dabei zeigen sich Zusammenhänge, die wohl auch schon Kol voraussetzt, aber erst der Autor des Eph expliziert.
3.1.1 Der Weltaufbau Mehrfach spricht der Autor vom "All" (ta panta: 1,11; 3,9; 4, I 0.15) bzw. von "Himmel und Erde" (1,11; 3,15; 4,9f.), was eine prinzipiell einheitlich konzipierte WeItsicht andeutet. "Gott hat das All geschaffen" (3,9); auch "die Mächte und Gewalten" (3,10; vgl. Kol 1,16), alle geistbegabten Potenzen unterstehen ihm. Doch die Menschen erfahren die Welt nicht so - als Schöpfung, die vom Schöpfer allein erfüllt ist -, sondern im Gegenteil als in sich zerrissen, beherrscht von einer Vielzahl widergöttlicher Kräfte. Woher diese kommen (Engel sturz? Kosmische Katastrophen? etc.), sagt der Autor nicht, die Frage nach dem Ursprung des Bösen stellt sich ihm nicht (J. GNILKA 182 Anm. 2). Ihm geht es um die faktischen Erfahrungen der Menschen, ihre "existentiale Dämonenphobie" (R. SCHWINDT, Weltbild 511) einerseits, ihr Verfallensein an das Böse, das er mit pln Kategorien ("Begierden des Fleisches": 2,3) interpretiert und auf das Wirken des ,,Herrschers über das LuftReich" (= des Teufels; 2,2) zurückführt, andererseits. Der Terminus "Herrscher über das Luft-Reich" setzt ein Denken voraus, das in der Antike weit verbreitet ist: Welt-"Mächte" und Raum-Vorstellung gehören zusammen. "Mächte" gestalten sich nur als "Mächte" "in und über Räume" (R. SCHWINDT, Weltbild 509). Auch wenn die entsprechende Terminologie im
D.X. Der Epheserbrief(Michae1 Theobald)
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Eph nicht trennscharf ist, so verrät sie doch folgendes Bild eines "Weltaufbaus" (vgl. F. MUSSNER 2If.; R. SCHWINDT, Weltbild 351-399): Der Thron Gottes (und Christi)
" Über allen Himmeln" (4, 10)
("hoch über jeglicher Macht "die Höhe" [4,8))
... "
[1,21];
.. Die himmlischen Bereiche" (1,3.20; 2,6; 3,10; 6,12) "Luftreich" (2,2) "Erde" (1,10; 3,15; 4,9; 6,3)
(1,20; 2,6)
Reich der dämonischen Mächte (des Teufels) (1,21; 2,2; 3,10; 6,12)
Die Menschen
Umstritten ist, ob man aus dem Descensus Christi "in die unteren Teile der Erde" (4,9) zusätzlich auf eine Totenwelt unter der Erde schließen darf (so F. MUSSNER; unentschieden R. SCHWINDT) oder ob "die unteren Teile" des Alls, nämlich die Erde (Gen. app.), als die dem Thronbereich Gottes "über allen Himmeln" am weitesten entfernte Welt-Gegend gemeint ist (so z. B. R. SCHNACKENBURG 181). Schlüssiger ist das zweite Verständnis der Stelle, zum einen wegen des Kontextes (es geht nur darum, dass der das All von unten nach oben durchmessende Christus "alles ertullt"), zum anderen wegen des vorausgesetzten Weltbilds. Zweifel an Unterweltsvorstellungen lagen im Trend des geozentrischen aristotelisch-stoischen Kosmosmodells, das sich in der Kaiserzeit weithin durchgesetzt hatte (dazu R. SCHWINDT, Weltbild 193-245). Maßgebend war tur dieses Modell aber die Vorstellung von um die Erde herum gelagerten Sphären. Auch die Seelen der Toten fanden dort Platz (vgl. Plutarch), nach dem slHen, einer jüdisch-hellenistischen Schrift des I. Jh., war der dritte Himmel (von sieben) tur Paradies und Hades reserviert. Die Terminologie des Eph-Autors ist biblisch-jüdisch ("Sitzen zur Rechten" [Ps 110, I]: Thron Gottes; "Mächte und Gewalten": äthHen 61, 10; TestLevi 3,4-8 etc.) und zugleich so offen und umfassend (vgl. nur die symbolisch eine Ganzheit bezeichnende Vier-Zahl von Tennini in 1,21: R. SCHNACKEN BURG 76f.), dass darin alle möglichen göttlichen Kräfte inbegriffen sein können, z. B. planetarische Kräfte, Astralgottheiten oder dämonische Mächte im "Luftraum" (2,2) (zur kosmischen Rolle etwa der Ephesia Artemis vgl. R. SCHWINDT, Weltbild 103-134). Zauberei und Magie dürften im Hintergrund von 1,21 (,jeder Name, der angerufen wird") stehen, was zum kleinasiatischen Milieu passt (vgl. Apg 19,17-19) (C. E. ARNOLD).
3.1.2 Religionsgeschichtliche Einflüsse Nichts ist so umstritten wie die Antwort auf die Frage nach den religionsgeschichtlichen Einflüssen im Eph. Vieles wurde durchgespielt und wieder verworfen (Gnosis; stoische Popularphilosophie; hellenistische Allgott-Anschauungen; Qumran; hellenistisches Judentum etc.), zumindest mit dem Ergebnis, dass man monokausalen Erklärungen misstraut. Im einzelnen geht es um den Hintergrund der Aussagen über Ab- und Aufstieg des Erlösers (4,7-11), die Kirche als Leib Christi (1,22f.; 2,15; 4,3f. etc.) mit ihm als seinem Haupt, die
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Paargenossenschaft (Syzygie) von Christus und Kirche als Braut (5,22-32), die Termini "Fülle" (pLeroma), "Anthropos" oder "vollkommener Mann". Was die Gnosis-Frage betrifft, so stellt einerseits der Schöpfungsglaube des Autors eine unbestrittene Barriere gegen jegliche gnostische Weitabwertung dar, während andererseits das weithin zeitunabhängige gnoseologische Heilsdenken (man beachte das Gewicht der Erkenntnisterminologie: 1,18; 3,18f.; 4,13 etc.), das Konzept geistgewirkter Weisheit (1,9.17; 3,3f. etc.) oder die Hereinholung der Auferstehung in die Gegenwart (2,6; vgl. 2Tim 2,18: "die Auferstehung ist schon geschehen"; EvPhil [NHC 1I/3, p. 37,2-8]; Irenäus, Haer II 31,2 etc.) "Systemteile" sind, die nach Prä-Gnosis aussehen. Doch berücksichtigt man die starke Rezeption des Eph in gnostischen Texten des 2. Jh. (vgl. E. PAGELS I 15133), dann erscheint das Schreiben eher als "Motivspender und Anreger späterer gnostischer Ideen und Weltentwiirfe" (R. SCHWlNDT, Weltbild 508) denn selbst schon als gnostischer Zeuge. Was nach Affinitäten aussieht, hat seinen Wurzelboden in einer dritten Größe, dem hellenistischen Judentum alexandrinischer Prägung, das einiges an "gnostischem Rohmaterial" (H. CHADWICK bei R. SCHWINDT, Weltbild 350) bereitgestellt hat. So wird auch die Bedeutung Philos als Repräsentant hellenistischen Judentums fur ein Verständnis des Eph heute immer mehr erkannt (E. FAUST, G. SELLIN, R. SCHWINDT etc.). Der Alexandriner zeigt, wie profanhellenistisches Denken, Mittel-Platonismus, neupythagoreisches Gedankengut etc. mit dem biblisch-jüdischen Glauben verbunden werden konnte, ein Amalgam, wie man es auf seine Weise auch in Kol antriffi. Ein Beispiel dafür bietet die Vorstellung vom Makrokosmos als einem riesigen Organismus, der von einem "Haupt" regiert wird, wie der Leib von der Seele. Diese Vorstellung findet sich schon bei Platon (Tim 30: "diese geordnete Welt ist als ein beseeltes und in Wahrheit vernunftbegabtes Wesen aufgrund der Vorsorge des Gottes entstanden"), ist aber auch im I. Jh. verbreitet, vgl. z. B. Seneca, Ep XV 95,52: "Alles, was du siehst, wodurch Göttliches und Menschliches zusammengeschlossen sind, ist eins. Wir sind Glieder eines großen Leibes". Ein orphischer Hymnus sieht in Zeus, dem Göttervater, das "Haupt" der Welt: ,,zeus ist das Haupt, aus Zeus hat alles sein Dasein ... Alles (Feuer, Wasser, Erde und Luft, Nacht und Tag etc.) liegt in dem einen großen Leib des Zeus" (bei Eusebius, Praep Ev III 9,2). Philo hat derartige Vorstellungen auf den Logos übertragen, also auf das machtvolle Wort Gottes, durch das er die Welt erschaffen hat, und meinte, er sei "das Haupt aller Dinge" (Quaest in Ex Il I 17), das "die Welt, den größten Körper", erfülle und mit seinen Kräften durchwalte (Plant 7-9). Hier findet man dann auch die Matrix ftir die kosmische Christologie des Eph, deren Attraktivität nicht zuletzt darin bestand, ftir ganz unterschiedliche religiöse Sehnsüchte "anschlussfähig" gewesen zu sein. Wer nach einer Pazifizierung des zerrissenen Kosmos Ausschau hielt, der musste beim Sinnangebot des Eph hellhörig werden.
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3.2 Die Christologie
Die Pazifizierung des Kosmos geschieht nach Eph durch Christus, "der unser Friede ist" (2,14). Seine österliche Inthronisation zur Rechten Gottes über alle Mächte und Gewalten ist das Grundereignis, das die "Zusammenfassung des Alls" (1,10) unter seinem "Haupt" (1,22) ermöglicht. Diese österliche Christologie besitzt verschiedene Seiten: die Einung der in sich zerrissenen Welt durch Unterwerfung der "Mächte" (1,22), was allen, die "in Christus" sind, die Angst vor ihnen nehmen kann, aber auch die Einung dessen, was geschichtlich getrennt und verfeindet ist, der Juden und Heiden in der einen Kirche; schließlich die Einung aller, so unterschiedlich ihre sozialen Rollen auch immer sein mögen (5,21-6,9: Mann/Frau; Eltern/Kinder; Herren/Sklaven), durch das "Band des Friedens" (4,3) und der Liebe. Zuletzt strahlt der Grundgedanke der Einung auch auf das Konzept des kirchlichen Amtes aus, dessen WorumwiIlen der Dienst an der "Einheit des Glaubens" ist (4,13). Wichtig ist, dass die österliche "Haupt"-Stellung Christi zwei Seiten besitzt: gegenüber der Welt und ihren von den Mächten besetzten Räumen die der zwingenden Herrschaft vom Thron Gottes aus (1,22: "alles hat er unter seine Füße getan!"); gegenüber denen, die zum Glauben an ihn "erwählt" sind (1,4f.II), die eines "Hauptes", das seinen "Leib" - die Kirche - mit Leben erfüllt. [m Unterschied zu den religionsgeschichtlichen Vorgaben reserviert der Eph-Autor (vgl. auch Kol 1,18) die Leib-Metaphorik für die Relation Christus-Kirche, eben weil dieser vom Geist Gottes durchpulste "Organismus" (4, 15f.) qualitativ ganz anders zu sehen ist als die Herrschaftsslellung Christi über die Welt insgesamt (vgl. 1,22f.). Hinzu kommt, dass die Relation Christus-Kirche (nach 5,21 f. eine solche von Bräutigam und Braut) nicht allein von der österlichen Inthronisation her erfasst werden kann, sondern vorgängig von seiner Hingabe im Tod am Kreuz (2,16; 5,2.25), welcher der Erweis seiner "Liebe" (5,2) ist und damit auch der Quellgrund für die "Liebe", welche fortan den Organismus seines Leibes durchwirken soll (4,15).
3.3 Ekklesiologie und Eschatologie
Die Ekklesiologie steht nicht für sich, sondern ist in die Christologie "eingelagert". Was der Autor über die Erhöhung und Inthronisation Christi sagt, gilt einschlussweise auch für diejenigen, die an ihn glauben: Sie sind mit ihm (in der Taufe) auferweckt, in die himmlischen Bereiche versetzt und dort mitinthronisiert worden (2,6; vgl. 1,3), mit der Folge, dass die perspektivlosen Welt-Räume für sie aufgebrochen sind: Erhaben über die zwingenden Astralmächte und dem Raum des Todes und der Gottesferne (2,1-3) entronnen, hat sie der versöhnende Gott "mit Christus lebendig gemacht" und ihnen Anteil am "Reichtum seiner Gnade" geschenkt (2,7). Wichtig ist, dass man die zugrunde liegende Denkform erfasst: Der Autor begreift die Kirche nicht als eine
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eigene Entität oder einen Heilsraum hier auf Erden dem himmlischen Christus gegenüber, sondern als seinen eigenen "Leib", dessen "Haupt" er ist, als den lebendigen Christus selbst. Das sagt er nicht begrifflich, sondern mittels einer reichen Metaphorik. "Raumübergreifend", d. h. Himmel und Erde für einander öffnend, ist z. 8. das Bild vom Tempel Gottes, seiner "Wohnung im Geist", die fest gegründet, doch im äußeren und inneren Wachstum begriffen ist. Eine gedankliche Struktur, um solche "raum übergreifende" Konzeption einer christologischen Ekklesiologie denken zu können, zeichnet sich ab: Es ist die Wirklichkeit des "Geistes Gottes", der den "Zugang" zum Thronbereich offen hält und den Leib Christi mit Leben "erfüllt". Damit ist auch die Dimension der Kirche im Blick, welche nach dem Eph-Autor ihre Israel-Kontur begründet: Die "Verheißung", die Gott in mehrfachen "Setzungen" (2,12: diathekai [Plural!]) der "Politeia Israel" kundgetan hat, zielte nicht auf irdische Realitäten (Land, Nachkommenschaft, diesseitiger Segen) (vgl. auch die Rede von der äußerlichen Beschneidung in 2,11), sondern auf die Verwirklichung der "Hausgenossenschaft" mit ihm selbst (2,19). Anders gesagt: Der Inhalt der "Verheißung" ist sein eigener "Geist" (l,13f.; vgl. Gal 3,14; Apg 2,33), dieser "das Unterpfand des Erbes" (1,14; vgl. 1,18; 5,5), welches nicht Landbesitz, sondern himmlischen Raumgewinn meint. Auch hier hat das hellenistische Judentum (Philo!) mit seiner "Spiritualisierung" zentraler biblischer Theologumena vorgearbeitet. Dass in 2,11-21 das vorfindliehe Israel, das sich Christus versagt hat, nicht (wie in Röm 9-11) vor Augen steht, darf man dem Autor nicht als Israel-Vergessenheit ankreiden, zumal seine Stoßrichtung gegen heidenchristlichen Antijudaismus geht (s.o.).
Wenn die Gabe des Geistes "Unterpfand des Erbes" ist (mit 1,14 vgl. auch 4,30), dann bedeutet das auch, dass die präsentische Eschatologie des Schreibens der Zukunftsdimension nicht völlig entraten kann (vgl. 1,14.21; 2,7; 4,30; 6,8f.13). Freilich wird nicht recht deutlich, wie diese aussieht, ob der "Tag der Erlösung" (4,30; vgl. 1,14) noch der Tag des weltöffentlichen Gerichts am Ende der Zeiten ist oder nicht eher schon von einer auf den Tod des je Einzelnen bezogenen Eschatologie her zu denken ist. Jedenfalls ist dieser "Tag" angesichts dessen, was an "himmlischem" Heilsraum bereits in der "Auferweckung" der Getauften erschlossen wurde, seiner Dramatik offenkundig beraubt. 3.4 Die Ethik Es käme dem Autor nicht in den Sinn, den in der Taufe gewonnenen "himmlischen" Heilsraum (2,6) ontologisch zu verfestigen. "Sein Geschöpf sind wir", sagt er 2,10, "in Christus Jesus zu guten Werken geschaffen, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln". Das neu geschenkte Sein der in Christus "Auferweckten" - es zeigt sich nirgends anders als in einem von Gott
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selbst ermöglichten Tun "guter Werke"! Daran erinnert die Paränese der Kap. 4-6, auf die alles zuläuft (s.o.), wenn sie "den nach dem Bild Gottes geschaffenen neuen Menschen" (4,24) konkret vor Augen fUhrt. Materialiter transportiert die Ethik des Schreibens jüdisch-weisheitliches Erbe (vgl. 4,25f. etc.). Das "Neue" des "neuen Menschen" ist überdies nicht derart, dass es das soziale Geflige des antiken Oikos revolutionieren würde. Das Ordnungsgefälle vom pater familias hin zur Frau, von den Eltern zu den Kindern, von den Herren zu den Sklaven bleibt, selbst die Sprache der "Liebe" orientiert sich an der Perspektive des Mannes (5,25.28.33: "ein jeder liebe seine Frau wie sich selbst, die Frau aber ehre den Mann"). Doch hat der Autor (was oft übersehen wird) seine Kol-Vorlage dadurch neu gepolt, dass er über sie das Motto gesetzt hat: "Ordnet euch einander unter - in der Furcht Christi!" (5,21). Wurde dies beim Wort genommen, musste es die vorgeprägten Handlungsmuster und Rollen im Oikos von innen her umwandeln! Literatur Kommentare: E. BEST (ICC) 1998. M. EDWARDS (Ancient Christian Commentary on Scripture) 1999. J. GNILKA (HThK XI2) 1971 eI982). H. HÜBNER (HNT 12) 1997. A. LINDEMANN (ZBK.NT 8) 1985. U. Luz (NTD 8/1) 18 1998. M. MAcDoNALD (Sacra Pagina 17) 2000. F. MUSSNER (ÖTBK 10) 1982. P. POKORNY (ThHK 10/11) 1992. H. SCHLIER 1957 (1971). R. SCHNACKENBURG (EKK X) 1982. G. SELLIN (KEK 8) 2007. M.oTHEOBALD, Mit den Augen des Herzens sehen. Der Epheserbrief als Leitfaden rur Spiritualität und Kirche, Würzburg 2000 (= Eph). Einzelstudien: C. E. ARNOLD, Ephesians. Power and Magie. The Concep! of Power in Ephesians in Light of its Historical Setting (MSSNTS 63), Cambridge 1989. C. COLPE, Zur Leib-Christi-Vorstellung im Epheserbrief, in: Judentum, Urchristentum, Kirche (FS 1. Jeremias) (BZNW 26), Berlin 1960, 172-187. N. A. DAHL, Studies in Ephesians (WUNT 131), Tübingen 2000. E. FAUST, Pax Christi et Pax Caesaris. Religionsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Studien zum Epheserbrief (NTOA 24), Freiburg (Schweiz) 1993. K.-H. FLECKENSTEIN, Ordnet euch einander unter in der Furcht Christi. Die Eheperikope in Eph 5,21-33. Geschichte der Interpretation, Analyse und Aktualisierung des Textes (FzB 73), Würzburg 1994. M. GESE, Das Vermächtnis des Apostels. Die Rezeption der paulinischen Theologie im Epheserbrief(WUNT lU99), Tübingen 1997. T. K. HEcKEL, Juden und Heiden im Epheserbrief, in: Kirche und Volk Gottes (FS 1. Roloff), Neukirchen-Vluyn 2000, 176--194. R. HOPPE, Theo-Iogie und Ekklesio-Iogie im Epheserbrief, in: MThZ 46 (1995) 231-245. R. KAMPLING, Innewerden des Mysteriums. Theologie als traditio apostolica im Epheserbrief, in: K. Scholtissek (Hrsg.), Christologie in der Paulus-Schule. Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums (SBS 181), Stuttgart 2000, 104-123. A. LINDEMANN, Die Aufhebung der Zeit. Geschichtsverständnis und Eschatologie im Epheserbrief(StNT 12), Gütersloh 1975. DERS., Bemerkungen zu den Adressaten und zum Anlass des Epheserbriefes (1976), in: Ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tilbingen 1999,211-227. U. Luz, Überlegungen zum Epheserbriefund seiner Paränese, in: Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), Freiburg i. Br. 1989, 376--396. A. C. MAVER, Sprache der Einheit im Epheserbrief und in der Ökumene (WUNT IlII50), Tilbingen 2002. H. MELZER-KELLER, Der Brief an die Gemeinde in Ephesus. Gemeinsinn und Wertkonservatismus als Überlebensstrategie kleinasiatischer Gemein-
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
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D.XI. Der Kolosserbrief (Michael Theobald) I. Struktur
Das Schreiben setzt mit einem stilgerechten Präskript in der orientalischen Form ein, wie man es von einem Paulus-Brief erwartet. Eine großräumige Brieferöffnung (1,3-2,5) folgt. So unübersichtlich diese auf den ersten Blick zu sein scheint, ihre Struktur erschließt sich, wenn man sie von der brieflichen Kommunikationssituation her liest: Der Autor ist in Dank, Fürbitte und Erinnerung zuerst ganz bei seinen Adressaten (1,3-23), dann wechselt er die Perspektive und spricht von sich selbst, von seiner Rolle als Apostel und seinem Verhältnis zur Gemeinde (1,24-2,5) (F. SCHNIDERIW. STENGER 42-49; ihm folgend M. WOLTER 49.98; I. MAISCH 53). Die persönlichen Aussagen 1,3 (wir danken) und 1,24 (jetzt freue ich mich) markieren jeweils den Einsatz der bei den Hälften der Brieferöffnung, während 1,23 (" ... das Evangelium, dessen Diener ich, Paulus, geworden bin") als Überleitung fungiert .. Andere Gliederungsvorschläge setzen beim "Christushymnus" 1,15-20 an. So meint 1. GNILKA: .,Der vom Hymnus beherrschte Teil ist so gewichtig, dass er nicht zum Proömium geschlagen werden kann" (30): der erste Abschnitt des Briefkorpus beginne schon mit 1,9 (ähnlich E. SCHWEIZER, EKK XII). Es ist aher zu beachten, dass gemäß antiker Briefkonvention bereits das Proömium Anlass und Inhalt des Briefes thematisieren kann (F. SCHNIDERIW. STENGER 47), was auch hier der Fall ist: Mit dem Zitat des "Hymnus" gibt das Proömium der im Briefkorpus anstehenden Auseinandersetzung mit der gegnerischen "Philosophie" die Richtung vor. Dissens herrscht auch bei der Frage, wo 1,12-14 hingehören. NA27 setzt zwischen V. II und 12 eine Zäsur. Dem entspricht die imperativische Übersetzung des Partizips fUXIXPLOtOÜV"tE~ V. 12a durch Luther und die EÜ ("dankt dem Va/er mit Freude!") sowie der Vorschlag, die Verse als Einleitung zum "Hymnus" zu ziehen bzw. zusammen mit 1,21-23 als dessen "Rahmung" zu begreifen (E. SCHWEIZER, EKK XII, 44). Gegen die Zäsur von V. 11/12 spricht aber das Motiv des "Danksagens", das noch zur brieflichen Eucharistia (seit 1,3) gehört, gleichgültig, ob man das Partizip (als letztes Glied der Partizipienreihe V. 10f.) auf die Adressaten bezieht (so M. WOLTER) oder (in Anknüpfung an das "dankende" und "Fürbitte" einlegende Subjekt von V. 3/9) auf den Apostel (so I. MAlSCH).
Das Proömium (1,3-23) spannt einen weiten Bogen (vgl. die inclusio Glaube[Liebe]-Hoffnung V. 4f.lV. 23 sowie das Motiv von der weltweiten Wirksamkeit des pln Evangeliums in V.5f. und V.23). Die Rahmenteile - 1,3-14 einerseits, 1,21-23 andererseits - sind brieflich gestaltet ("ihr"). Der christologische Referenztext im Zentrum (1,15-20) ist nicht isoliert, sondern findet in V. 21-23 Anwendung auf die Adressaten. Die anschließende Selbstempfehlung (1,24-2,5; inclusio: "ich freue mich" [1,24/2,5]) setzt den Apostel zweifach ins Licht: zunächst grundsätzlich mit
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
seinem apostolischen Dienst für die "Völker" (V. 27), den er "allen Menschen" (V. 28) schuldet (1,24-29), dann konkret mit seinem Einsatz für die Adressaten - die in Kolossä, in Laodizea (der benachbarten Stadt im Lykostal) sowie für alle, die ihn persönlich nicht kennengelernt haben (2,1-5). Aufgabe seines Dienstes ist es (nach beiden Hälften dieser "Selbstempfehlung"), das "Geheimnis" Gottes kundzutun, das heißt Christus zu verkünden (I,26f. par 2,2f.), wobei die im überleitenden metareflexiven Satz 2,4 geäußerte Sorge (,,dieses sage ich, damit niemand euch durch Überredungskunst täusche") den Grund des Schreibens aufscheinen lässt, nämlich die Gefährdung der Adressaten durch die betörende Rhetorik fremder Propagandisten. Damit leitet der Autor zum Briejkorpus über, der Auseinandersetzung mit der gegnerischen "Philosophie". Diese verläuft in drei Schritten, einer grundsätzlichen christologischen Weisung (2,6f.), einer am Initiationsgeschehen der Taufe sich orientierenden pos itiven Darlegung der Christuslehre (2,8-15) sowie einer Zurückweisung zusätzlicher Heilslehren (2,16-23). Will man das in rhetorischen Kategorien ausdrücken, kann man sagen: 2,6f. sind die propositio, 2,8-15 die probatio und 2,16-23 die refutatio (anders M. WOLTER). Wieder helfen literarische Signale, die Struktur zu klären: Zwei gleichgebaute Sätze eröffnen probatio und refutatio, nämlich 2,8 ("Gebt acht. dass euch niemand ... verfUhr!') und 2,16 ("Darum soll euch niemand verurteilen ... "). Gerahmt sind die beiden Teile der argumentatio von einer inclusio, die fiir das Ganze Signalcharakter besitzt, nämlich die Opposition: "gemäß der Überlieferung der Menschen ... nicht gemäß Christus" (2,8) - "gemäß den Satzungen und Lehren der Menschen" (2,22).
Der zweite Hauptteil des Briefkorpus (3,1-4,1) ist paränetisch. Schon die argumentatio empfing ihre Ausrichtung von der christologischen Weisung her: "Wandelt in ihm!" (2,6). Diese wird jetzt in der Paränese entfaltet, zunächst grundsätzlich (3,1-4), dann in konkreten Weisungen, die sagen, weIcher Lebensstil zu überwinden ist ("Unzucht, Unreinheit, schändliche Leidenschaft ... ": vgl. die Lasterkataloge 3,5 und 3,8f.), und welcher dem "Wandel in Christus" entspricht (vgl. den "Tugendkatalog" 3,12 sowie die Beschreibung des gemeindlichen Miteinanders in V. 13-15). Die anschließende ,,Haustafel" (3,18-4,1) bringt für eine christliche Lebensgestaltung der familia im umfassenden antiken Verständnis sozialethische Aspekte bei. Der Briefschluss (4,2-18) (zu seinen einzelnen Formelelementen im Rahmen des pln Briefformulars vgl. F. SCHNIDERIW. STENGER 71-167) umfasst eine Schlussparänese, Informationen zu den Briefüberbringern (Tychikus und Onesimus), Grüße und Aufträge sowie ein "Eschatokoll" (= Schlussgruß mit Eigenhändigkeitsvermerk samt Namensunterschrift). Da die Schlussparänese (4,2-6) Person und Aufgabe des Apostels in die Mitte rückt (V.3f.: Paulus bittet um Fürbitte für sich!), ergibt sich formal und inhaltlich eine Entsprechung zum Abschnitt "Selbstvorstellung des Autors" 1,24-2,5 in der Brieferöffnung (I. MAISCH 260), so dass man sagen kann: Das Briefkorpus wird
DJO.
Der Kolosserbrief(Michael Theobald)
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gerahmt von Personalnotizen zum Apostel (vgl. das Motiv des leidenden bzw. gefangenen Apostels in 1,24 und 4,3, sodann 4,7f. und 4,18b)! Brieferöffnung 1,3-2,5
Briefkorpus 2,6-4,1
Briefschluss 4,2-18
Präskript 1,1-2 Proömium (1,3-23) I. Briefliche Danksagung mit Fürbitte (1,3-8/9-14) 2. Christologisches Zwischenstück: Christus - Schöpfer und Versöhner (1,15-20) 3. Anwendung auf die Adressaten (1,21-23) Selbstvorstellung/Selbstempfehlung des Autors (1,24-2,5) 1. Der apostolische Dienst des Paulus (1,24-29) 2. Der Einsatz des abwesenden Paulus rur seine Gemeinde (2,1-5) Argumentation gegen die "Philosophie" der Gegner (2,6-23) I. Orientierung grundsätzlicher Art (2,6-7) 2. Positive Darlegung der Christuslehre (2,8-15) 3. Zurückweisung zusätzlicher Heilslehren (2,16-23) Mahnungen, dem Sein "in Christus" zu entsprechen (3,1-4,1) \. Grundsätzliche Paränese (3,1-4) 2. Konkrete Weisungen (3,5-17) 3. Die Haustafel (3,18-4,1) \. Schlussparänese (4,2-6) 2. Auftrag der Brieruberbringer (4,7-9) 3. Grußaufträge von Mitarbeiten! (4,10-14) 4. Grüße und Aufträge des Verfassers (4,15-17) 5. Eschatokoll (4,18)
2. Entstehung 2. J Der Kolosserbrief als Pseudepigraphon Im ersten und letzten Vers des Briefs behauptet der Autor, Paulus zu sein (1,1; 4,18; auch in 1,24). Das zog man erstmals im 19. Jh. ernsthaft in Zweifel (Mayerhoff (1838); zur Geschichte vgl. E. PERCY 5f.). Inzwischen hat sich die nicht-pln Verfasserschaft des Schreibens weithin durchgesetzt, zumindest in der deutschsprachigen Exegese, während es die englischsprachige zuweilen immer noch für Paulus selbst beansprucht (vgl. z. B. M. BARTH/H. BLANKE; C. E. ARNOLD). Auch eine literarkritisch zu erhebende Urform des Briefs meint man hin und wieder für ihn retten zu können (Ut. bei E. SCHWEIZER, EKK XII, 25f.). Doch die Annahme, dass Kol ein Pseudepigraphon ist - das erste im NT überhaupt! -, ist gut begründet. Stil: Wo Paulus knapp und präzis formuliert und seine Argumentationen mit-
tels syntaktischer Signale ("denn", "aber" etc.) und Schlussfolgerungen ("also") durchsichtig zu gestalten sucht, wird der Autor des Kol wortreich, arbeitet mit
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
lockeren Assoziationen unter weitgehendem Verzicht auf Konjunktionen und setzt verstärkt Partizipien und Relativsätze ein. Auffällig ist seine Vorliebe für plerophore Redeweise (Reichtum an Synonymen, Genitivattribute). W. BUJARD stellt in seinen richtungsweisenden "Untersuchungen" zum Stil des Schreibens fest: "Während im Kol meist Massierung und Häufung den besonderen Nachdruck schaffen, zieht Paulus es vor, durch bestimmte, häufig ausgefallene Wortbildungen steigernde Effekte zu erzielen: Er hantiert nicht mit dem Säbel, sondern mit dem Florett" (164f.). Theologie: Dass typisch pln Vorstellungen wie die von der Rechtfertigung allein aus Glauben an Jesus Christus im Schreiben fehlen, ist an sich nicht auffällig (vgl. auch I Thess und I Kor, abgesehen von I Kor 1,30; 6,11), befremdet aber angesichts der Polemik gegen die kolossische "Weisheitslehre" mit ihrer Aushöhlung des solus Christus unter Voraussetzung pln Verfasserschaft sehr. Gegen Paulus spricht vor allem, dass die zentralen Theologumena des Schreibens entweder Paulinisches tiefgreifend transformieren oder aber an Außer-Paulinisches anknüpfen. Zu nennen sind im Einzelnen: • die kosmische Christologie (I, 15-20; 2,15); • die präsentische Eschatologie (Auferstehung in der Taufe: eine außer-pln Lehre); • die Ekldesiologie ("Kirche" nicht mehr die Ortsgemeinde, sondern die universale Kirche; die Leib-Metaphorik knüpft nicht, wie noch in I Kor 12,12-27 und Röm 12,4f., an stoisch-soziale Vorstellungen an, sondern ist kosmisch geprägt: vgl. 1,18.24; 2,19); • mangelndes Interesse an Israel und am Judentum (vgl. 4, 11); • ein Bild des Paulzls Getzt deI" Apostel schlechthin!), das nach Art einer Ikone gezeichnet ist (so ungebrochen und exklusiv wie in 1,24 könnte Paulus von seinen "Leiden" nicht reden, hier spricht ein anderer über ihn!).
Die Brieffiktion: Auch sie lässt die nach-pln Situation durchscheinen. Auffällig ist zunächst, was nicht gesagt wird. In seinen authentischen Briefen äußert Paulus regelmäßig seine Sehnsucht, die Adressaten zu sehen (Röm 1,11; 15,23; I Thess 2,17 etc.), bzw. verspricht ihnen sein Kommen (Röm 15,28; 1 Kor 4,19; 2 Kor 12,14; Phil 2,24 etc.) - wir reden vom Topos der "apostolischen Parusie" (R. W. FUNK; vgl. F. SCHNIDER/W. STENGER 92-107)! In Kol (und Eph) hingegen kündigt er nur den Besuch eines apostolischen Abgesandten an (Kol 4,7f.; Eph 6,21 f.; auch schon 1 Kor 16,lOf.; Phil 2,19-24 etc.). Tut dies Paulus sonst, um durch seine Schüler über den Zustand seiner Gemeinden selbst unterrichtet zu werden (vgl. 1 Kor 16,11; Phil2, 19; 1 Thess 3,5), so wird in Kol (und Eph) Tychikus zur Gemeinde "gesandt", "damit ihr erfahrt, wie es um uns steht" (Kol 4,3; vgl. Eph 6,22)! Es geht also um die Adressaten, d. h. die nachapostolische Gemeinde, der "die vorbildhafte Leidensexistenz des Apostels dauernd vor Augen" gestellt und "seine fortdauernde Präsenz durch seinen Schüler, seinen ,(geliebten) Bruder, treue(n) Diener und Mitknecht im Herrn' (KoI4,7; vgl. Eph 6,21) vermittelt" werden soll (F. SCHNIDER/W. STENGER 103). Auch der briefliche Topos, dass der Apostel "leiblich abwesend, geistig aber anwesend ist" (2,5; vgl. 1 Kor 5,3), passt gut.
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Dass das Schreiben an eine Gemeinde gerichtet ist, die nicht Paulus, sondern sein Mitarbeiter Epaphras gegründet hat (1,7f.; 4, I 2f.), bietet dem realen Autor die Gelegenheit, die fiktiven Adressaten ausdrücklich zur Schar "all derer" zu erweitern, "die mich persönlich nicht kennen gelernt haben" (2, I) was natürlich erst recht für die realen Adressaten des Schreibens der nach-pln Zeit gilt. Der "Eigenhändigkeitsvermerk" samt Namensunterschrift in 4,18 (vgl. I Kor 16,21; Gal 6, 11; Phlm 19) spricht nicht gegen die Annahme eines Pseudepigraphons, sondern dient im Gegenteil der Authentizitätssimulation (so die gewöhnliche Deutung) bzw. der "Intensivierung" der "Gegenwärtigkeit des Apostels in der nachapostolischen Kirche" (F. SCHNIDERIW. STENGER 159). So gewiss es sich dabei um eine gewagte Fälschung handelt, das damit verbundene Interesse der "Fortschreibung" pln Tradition wird man bei ihrer BeUlteilung mitberücksichtigen. Angemerkt sei noch, dass Paulus in aUen seinen Briefen die Adressaten mit dem Brudernamen anredet, nur in Kol nicht (auch in Eph und den Past nicht) (E. SCHWEIZER).
2.2 Prätexte und Bausteine Natürlich reichte für eine gelungene Autorfiktion der Name des Paulus nicht aus, das Schreiben bedurfte auch insgesamt des pln Kolorits, das als solches erkennbar sein musste. Wie bewerkstelligte das der Autor?
2.2.1 Der Philemonbrief - Prätext des Kolosserbriefs Wie die frappierenden Übereinstimmungen des Kol mit Phlm in den zahlreichen Namen der Mitarbeiter des Apostels zeigen, muss der Autor den Philemon brief des Paulus gekannt und ihn für die Ausgestaltung seines Briefrahmens (Präskript, Danksagung und Schluss) benutzt haben (E. LOHSE 246f.; M. KILEY 83f.; H HÜBNER 9).
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PRÄSKRIPT Absender
D. Die Briefe - Deuteropaulinen Kol
Phlm
Paulus + Timotheus (I, I; vgl. auch 2 Kor 1,1; Phi! 1,1)
Paulus + Timotheus (I f.)
Adressaten
DANKSAGUNG
Glaube-Liebe (-Hoffnung) (4f.) (vgl. auch 1 Thess 1,3) Epaphras, ein "Diener" für die Kolosser (7f.)
BRIEFCORPUS
--
Philemon und seine Hausgemeinde (u. a. ,.,A.rchippus. unser Mitstreiter") Liebe-Glaube (5f.)
"ich bitte rur mein Kind ...
Ir Onesimus" (10) BRIEFSCHLUSS
Grußausrichtung
Grußauftrag
Gesandte des Apostels: Tychikus + Onesimus, "einer der Euren" (4.7f.) (a) Aristarch: Markus. Vetter des Bamabas; Jesus (= Justus) (= Judenchristen) (4,10f.) (b) Epaphras ("einer von den Euren"); Lukas. der Arzt; Demas (= Heidenchristen) (4,12-14) an Archippus (der mit einem besonderen "Dienst" beauftragt ist) (4,17) Eigenhändigkeitsvermerk samt Namensunterschrift (4,18a)
~ Epaphras ("mein Mitgefangener"), Markus. Aristarch Demas. Lukas (= "meine Mitarbeiter")
Eigenhändigkeitsvermerk samt Namensunterschrift (im Briefkorpus: 19a)
Warum hat er gerade Phlm zu seinem Prätext erkoren? Zum einen wohl deshalb, weil auch er einen "Gefangenschaftsbrief' schaffen wollte (Phlm 1,1: "Paulus, Gefangener Christi Jesu"), wobei man vor allem wegen 1,24 geneigt ist, an des Apostels letzte Gefangenschaft in Rom zu denken, in der sich sein Leben "erfüllen" sollte. Aber wenn es ihm nur um das Bild des leidenden Apostels gegangen wäre, hätte er auch Phil zum Vorbild wählen können. Es muss also noch einen weiteren Grund geben. Den aber wird man nirgends anders suchen als in der Annahme, dass schon die Hausgemeinde des Philemon, an die Paulus geschrieben hat, in Kolossä beheimatet war. Was lag da flir den Autor eines mit demselben Namen verbundenen Pseudepigraphons näher, als sich bei seiner Fiktion an den authentischen "Kolosserbrief' des Apostels anzulehnen! Er rechnete damit, dass die Rezipienten des pseudonymen Kol die Verbindung mit den in Phlm vorausgesetzten Verhältnissen durchschauen konnten, was die Autorsimulation nur bestärken musste. Interessant sind die Personaltraditionen, die der Autor des Kol über Phlm hinaus bietet (Lukas, der Arzt; Markus, der Vetter des Barnabas), aber auch das von ihm eingebrachte Wissen über die Anfänge des Christentums im Lykostal (z. B. dass Epaphras dort als Mis-
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sionar und Gemeindegründer im Namen des Paulus tätig war). Überprüfen lassen sich diese Traditionen nicht (M. WOLTER 217, vermutet "eine selbständige Mitarbeitertradition"). Doch man muss auch mit perspektivischen Verschiebungen rechnen, die mit der nachapostolischen Situation zu tun haben, was man an der Figur des Archippus veranschaulichen kann: Nach Phlm 2 war er ein "Mitstreiter" des Apostels, Kol 4,17 sieht in ihm jetzt einen Amtsträger in Kolossä. Hat der Autor weitere Paulusbriefe gekannt und benutzt? O. LEPPÄ (Making) vertritt dazu eine Maximalposition und meint, alle sieben authentischen Briefe des Apostels seien dem Autor bekannt gewesen. Das setzt aber schon den Abschluss eines Corpus Paulinum voraus, was für die Abfassungszeit des Schreibens nicht wahrscheinlich ist. Es gibt zwar Indizien, die auf eine Bekanntschaft des Autors mit weiteren Paulusbriefen hinweisen könnten (vgl. die Listen bei E. P. SANDERS. Dependence. und W. SCHENK 3341). Doch die festgestellten "Berührungen" bleiben fast allesamt ambivalent, da sie sich auch auf "subliterarisch vermittelte Sprachtraditionen" zurückfuhren lassen, ob diese nun "gemeinantiker und gemeinchristlicher Provenienz" sind oder "paulinische Verkündigungsund Gemeindetraditionen" weiterfUhren (M. WOLTER 33). M. WOLTER selbst meint (33. \3lf.), "mit einiger Wahrscheinlichkeit" eine literarische Abhängigkeit nur noch von Röm aufweisen zu können (vgl. KoI2,12/Röm 6,4, außerdem KoI3,9/Röm 6,6 ["der alte Mensch"); Kol 2,20/Röm 6,8 ["mit Christus sterben"); Kol 2,13/Röm 6,8 ["mit ihm leben"/ "mit ihm lebendig gemacht")). Und M. KILEY (69f.) sieht in den beiden "Gefangenschaftsbriefen" des Paulus (Phlm und Phil) "primary models of construction" (91) fUr den Autor des Kol. Aber diese und weitere Annahmen (vgl. Kol I, I f. mit den Präskripten der beiden Korintherbriefe oder Kol 2,8.20 mit Gal 4,3.9 etc.) bleiben hypothetisch (zu Kol/Röm vgl. im Anschluss).
2.2.2 Rezipierte Überlieferungen Wahrscheinlich greift der Autor in seinem Schreiben mehrfach Überlieferungen unterschiedlicher Herkunft auf: in 2,13 eine alte Taufüberlieferung aus der Gemeindetradition, die auch Paulus in Röm 6,3f. zur Verfügung stand (R. HOPPE 230-243; A. STANDHARTINGER, Studien 136-140. 145f.; I. MAISCH 168-170), in 3,18-4,1 eine leicht christianisierte "Haustafel" aus der Tradition antiker Oikonomik (vgl. M. GIELEN; A. STANDHARTINGER, Studien 247f.) sowie vor allem den herkömmlich "Christushymnus" genannten Abschnitt 1,15-20, der sich durch seine gehobene Sprache und seine durchstilisierte Gestalt (relativisch eingeführte Prädikationen; Parallelismen; Strophen-Form etc.) deutlich von seiner Umgebung abhebt. Herrscht weithin Einmütigkeit darüber, dass dabei Überlieferung vorliegt. so gehen die Einschätzungen, wo der Autor des Kol sie bearbeitet hat, auseinander. Immerhin zeichnet sich als Ergebnis ab, dass die kosmische Christologie der Vorlage durch ekklesiologische (V. I8a: "die Kirche") und soteriologische Zusätze (V. 20b: "Blut des Kreuzes") korrigiert wurde (vgl. C. MAURER und O. HOFlus). Die Vorlage selbst besteht aus zwei Hauptstro-
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phen (NC), die gleich gebaut sind (jeweils 2 Christus-Prädikationen + drei weitere Glieder [in einem "denn"-Satz]), samt einer Zwischenstrophe B (mit drei Gliedern) (in eckigen Klammem die Zusätze des Kol-Autors!). Thematisch geht es um den präexistenten Christus, dessen überragende Rolle für den Kosmos in zweifacher Hinsicht gewtlrdigt wird: als Schöpfungsmittler (Strophe A) und als österlicher Versöhner (Strophe C). Die Zwischenstrophe (B) spricht von ihm als dem Garanten des inneren Zusammenhalts im kosmischen Makro-"Leib". Über die dunklen Seiten der Welt-Erfahrung, über Störungen des kosmischen Friedens durch feindliche Mächte, die das Versöhnungswirken des österlichen Christus überhaupt erst notwendig machten, sagt der Text nichts. Aber wir wissen ja auch nicht, ob der Autor des Kol seine Vorlage vollständig zitiert hat. Was die Gattung des Stücks betrifft, so ist man heute auf Grund formkritischer Vergleiche eher vorsichtig. Antike und frühchristliche Hymnen sehen anders aus (G. KENNEL; M. REISER 173-178). C. STETTLER spricht von einem ,,(Christus)psalm" (51.103 u. ö.), A. DETTWILER von einem "Christuslob" (86 u. ö.), 1. MAISCH dagegen von einem ,,(christologischen) Lehrgedicht" (78).
A. 1 Er ist das Bild [des unsichtbaren] Gottes, 2 Erstgeborener vor aller Schöpfung, I denn in ihm wurde alles geschaffen 2 in den Himmeln und auf der Erde, [das Sichtbare und das Unsichtbare, seien es Throne, seien es Herrschaften, seien es Mächte, seien es Gewalten;) 3 alles ist durch ihn lind auf ihn hin geschaffen. B. I Und er ist vor allem. 2 lind alles hat in ihm Bestand, 3 und er ist das Haupt des Leibes [d. h. der Kirche]. C. I Er ist der An fang, 2 Erstgeborener aus den Toten, [damit er in allem der Erste sei,] I denn in ihm gefiel es der ganzen Fülle zu wohnen, 2 und durch ihn alles zu versöhnen auf ihn hin, [indem er Frieden schuf durch das Blut seines Kreuzes, durch ihn] 3 sei es [filr) das auf der Erde, sei es [filr) das in den Himmeln.
Wie die mehrfachen Anspielungen auf diesen Text im weiteren Briefverlauf zeigen (vgL 1,24 mit 1,18a; 2,9f. mit 1,19.16; 2,15 mit 1,16; 2,19 mit 1,18), muss er für den Autor den Rang eines Basistextes besessen haben. Das "alles durch ihn und auf ihn hin" (= A 3/C2) bzw. das "in ihm" (= Al/8 2/Cl) (vgL 2,9.10.11) lieferte ihm das Kriterium, an dem seiner Ansicht nach die über das solus Christus hinausgehende gegnerische "Weisheitslehre" (Philosophie) zu messen sei. Wir dürfen annehmen, dass auch die Adressaten das "Christuslob" kannten, so dass der Autor hier anamnetische Theologie betreibt, wenn "er die Lesergemeinde an den christologischen Grund ihrer religiösen Identität erinnert" (A. DETTWILER 84).
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2.2.3 Die gegnerische "Philosophie" als Grund des Schreibens Bei der schwierigen Frage, was für einen Konflikt der Autor des Kol in seiner argumenlatio bearbeitet, empfiehlt es sich, vorweg die möglichen Modelle zu klären, von denen her man die wenigen Textdaten zu interpretieren gedenkt. Grundsätzlich ist dabei zu beachten: Wenn der Autor "seinen" Paulus die fiktiven Adressaten in Kolossä vor einer gewissen "Philosophie" warnen lässt, dann darf man davon ausgehen, dass ihm entsprechende Gefahren der eigenen Zeit vor Augen standen. Die wenigen Stichworte (Speise, Trank, Feste, Engelverehrung, Gebote) mussten den Lesern genügen, um darin gegenwärtige Gefahren wiederzuerkennen (zumal "Paulus" ja auch nicht zu deutlich sprechen konnte, sondern die Gefahren vorerst nur heraufziehen sehen durfte, rechnet man den Zeitfaktor in die Fiktion mit ein, vgl. 2,8: "seht zu, dass da nicht jemand sein wird [Futur!], der euch einflingt ... "). Jedenfalls war der reale Autor darum bestrebt, dass sein Leserkreis verstand, worum es ging. Wir hingegen verfugen nur über die spärlichen Indizien des Textes, um uns aus ihnen in Verbindung mit anderweitig zu erhebenden religionsgeschichtlichen Daten und unter Voraussetzung soziologischer Einsichten (zu Konversion, Identitätsbildung religiöser Gruppen, Frömrnigkeitsformen etc.) ein plausibles Bild zurechtlegen, weshalb das FehlelTisiko auch sehr hoch ist. Der zeitliche Abstand des Kol von den christlichen Anfängen, die pagane Herkunft der angezielten Lesergruppe, der Synkretismus und die religiöse Pluralität in Kleinasien des 1. Jh. wie schließlich die Offenheit des Textes selbst (2,18 z. B. ist schon von seiner Übersetzung her höchst umstritten!) tun das ihre, um eine große Bandbreite an Hypothetik zu generieren. Die wichtigsten WeichensteIlungen, die sich in der gegenwärtigen Forschungssituation aufdrängen, sind wohl die folgenden: (a) War die falsche Heilslehre hausgemacht, d. h. stammte sie aus dem angesprochenen Leserkreis bzw. den vor Augen stehenden Gemeinden selbst (a I) oder drohte sie ihnen von außen her (a2)? Nur im ersten Fall kann man von einer "Häresie" (P. MÜLLER 70), einer "Sekte" (J. GNILKA 169) oder von "Apostaten" sprechen. (b) Trifft der zweite Fall zu (a2), dann tut sich eine weitere Alternative auf: Entweder ging die Bedrohung von nicht-christlicher Seite aus (bl) oder von christlicher (b2). Für "nichtchristlich" nennt die Forschung alle nur denkbaren "Kandidaten". Das sind (in Auswahl): Jüdische Mystiker und gesetzestreue Juden (C. STETTLER 58-74; W. SCHENK), ein jüdischhäretischer Synkretismus (R. HOPPE 137-145), Mysterienkulte (M. DIBELlUsIH. GREEVEN), philosophische Richtungen (R. E. DEMARIS, Controversy), Gnosis (P. POKORNY) etc. Bei der "christlichen" Konkurrenz denkt man an asketische Judenchristen (U. Luz), judenchristlichen Synkretismus, judenchristlich-gnostische Richtungen (H.-M. SCHENKE), Judenchristen mit außerjüdisch-philosophischen Elementen (E. PERCY). Da man im Brief für jüdische und pagan-hellenistische Frömmigkeit und Philosophie (Weltelemente: 2,8.20) Indizien finden kann, tendiert man oft - dem kleinasiatischen Synkretismus gemäß - zu Mischlösungen. (c) Hat der Autor eine konkrete Oppositionsgruppe im Blick (so a und b) oder denkt er eher an allgemeine Verunsicherungen (A. STANDHARl1NGER, Studien)? Wenn letzteres zutriffi, woher stammen solche Verunsicherungen? Eine Antwort lautet: Aus der paganen Vergan-
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genheit der angesprochenen Kreise selbst, sei es, dass sie ihr noch immer anhingen, zum Beispiel weiterhin Tabus pflegten (vgl. 2,20f.), sei es, dass sie von Vertretern der paganen Religionen, aus denen sie herkamen, noch gegenwärtig beeinflusst oder gar unter Druck gesetzt wurden (2,16-18) (I. MAISCH 32-40).
Will man zu einer Eingrenzung dieses weiten Spektrums gelangen, muss man sich klarer methodischer Grundsätze befleißigen (U. Luz 215f.): Vorrang der Textanalyse vor religionsgeschichtlichen Konstruktionen; Ausgang bei den eindeutigen Warnungen (2,8a[?].16.l8a.b.21.23a.b); Sensibilität fIlr die Wertungen des Autors, die nicht unbesehen fIlr bare Münze genommen werden dürfen. Dann zeichnen sich folgende Textbefunde ab, die eine entscheidende Rolle spielen: (1) Der Autor vermeidet eine aggressive Sprache, hält sich in puncto Ketzerpolemik zurück und gibt von einer drohenden oder schon eingetretenen Spaltung der Gemeinden nichts zu erkennen (I. MAISCH 32.38). Das spricht eher gegen Lösungsweg al, kann aber auch mit der Brieffiktion zusammenhängen, da "Paulus" ja nur prophylaktisch warnen kann. (2) Es gibt deutliche Signale jüdischer Frömmigkeit, wohingegen die pagan deutbaren Elemente eher unspezifisch sind. Die Trias "Fest, Neumond oder Sabbat" (2,16) ist biblisch-frühjüdisch (Ez 45,17; Hos 2,13; IQM 2,4; vgl. auch Jes 1,13f.; Jub 1,10.14). Ob man sie mit Hinweis u. a. auf die sprachliche Nähe von Sabbat/Sabazios (= kleinasiatischer Hochgott) (vgl. M. P. NILSSON 662.665-667) als Anspielung auf lokale Kulte oder heidnische Glückstage deuten darf (C. E. ARNOLD 148f. 232; M. BARTHIH. BLANKE 14f.; I. MAISCH 185f.), ist eher fragwürdig (vgl. auch M. WOLTER 143). Es geht doch wohl um jüdische Kalenderfrömmigkeit. (3) Speisegebote spielen, wie ihre zweifache Erwähnung 2,16 ("Speise und Trank") und 2,21 zeigt, eine wichtige Rolle, wobei die biblisch nicht belegte Trias V. 21 wie ein Zitat tatsächlicher Verbote klingt: "du sollst nicht anfassen. du sollst nicht kosten. du sollst nicht berühren". Vielleicht sind auch nicht nur Speisegebote, sondern auch andere Reinheitsvorschriften oder sexuelle Tabus im Blick (U. Luz 216). (4) 2,23 (das aus biblischem Sprach milieu stammende Stichwort "Demut" bereits in V. 181) weist überdies auf strenge Askese hin ("Schonungslosigkeit gegenüber dem Leib"), die von den konventionellen jüdischen Normen nicht gedeckt ist. (5) Rätselhaft ist 2,18: Die Rede von einer "Verehrung von Engeln" (vgl. C. E. ARNOLD 91f.) muss nicht auf jüdisches Milieu verweisen (vgl. aber Oftb 19,10; 22,8f.), sie kann auch an pagane Magie oder lokale Götter des klein asiatischen Volksglaubens denken lassen (die Bezeichnung angelos [= Engel] ist dort weit verbreitet: vgl. I. MAISCH 193-199). Konkret wäre die Anrufung dieser Wesen gegen böse Geister und Mächte gemeint. Mehrdeutig ist auch der Hinweis auf Visionen (V. 18 wörtlich: "niemand, der auf Demut macht und Engelverehrung, eintretend in das. was er geschaut hat"). Auf eine Initiation in Mysterienkulte bezieht sich das wohl nicht, himmlische Visionen (von Engeln?) liegen näher. (6) Man zögert, 2,8 rur die gegnerische Seite auszuwerten. Mag sie das Schlagwort "Weisheit" rur sich beansprucht haben (vgl. 2,23 mit 1,9.28; 2,3), so dürfte die Apostrophierung ihrer Heilslehre mit dem nur hier im NT begegnenden Terminus "Philosophie" (= menschliche Weisheitslehre) doch eher auf den Autor des Kol zurückgehen. Auch aus der Rede von den "Elementen der Welt" (Erde, Wasser, Luft und Feuer) wird man nicht allzu viel machen dürfen, denn der Topos (Philo z. B. spricht von solchen, "welche die Elemente verehren" statt des einzigen Gottes: Vit Cont 3f.) könnte die gegnerische Frömmigkeit (vielleicht gerade ihre" Verehrung der Engel") polemisch als weltkonform abqualifizieren wollen.
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Unter der Voraussetzung, dass man die aufgeführten Textdaten nicht auf eine diffuse Gefährdungslage aus unterschiedlichen Richtungen bezieht, sondern sie zusammenschaut, spricht einiges dafür, dass der Autor "asketische Judenchristen" im Blick hat (das ModeIl b 2), die Engel verehren und der Gemeinde zusätzliche Auflagen und religiöse Angebote machen (U. Luz 219). Diesen Konflikt zu bearbeiten und dabei die bleibende Autorität des Paulus zur Geltung zu bringen, wird der Grund des Schreibens gewesen sein. Für das jüdische Profil der christlichen Konkurrenzgruppe spricht neben dem Hinweis auf jüdische Kalenderfrömmigkeit auch, dass der Autor die Taufe eine nicht von Händen gemachte Beschneidung nennt (2,11), ohne dass daraus Beschneidungsforderungen von ihrer Seite her abzuleiten wären. Zugunsten des christlichen Charakters der gegnerischen Seite wird man V. 19 geltend machen, wo der Autor den Gegnern (dreimal spricht er von einem ,Jemand": 2,8.16.18) vorwirft, sie hielten sich nicht an "das Haupt, von dem her der ganze Leib zusammengehalten wird". Beachtlich ist schließlich die Rezeption des Kol durch Eph (-+ D.X.), der eine Verhältnisbestimmung von Juden und Heiden in der einen Kirche vornimmt, die man als Neubewertung des Kol in puncto "Judenchristen" (vgl. auch Kol 4,11 !) lesen kann. Nachträglich wirft das Licht auch aufKol selbst.
2.2.4 Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung Die Frage nach dem Verf. war lange Zeit durch die Diskussion um die Authentizität des Schreibens belastet, die man dadurch zu "entdramatisieren" meinte, dass man den realen Autor, durch die literarischen Befunde genötigt, zwar von Paulus unterschied, ihn aber in der RoIle eines Sekretärs oder Mitarbeiters doch möglichst nahe an ihn selbst heranzurücken suchte (so E. SCHWEIZER und U. Luz). Dagegen spricht indes das Paulus-Bild des Schreibens, das den Apostel als "Diener" der ganzen Kirche in einer Weise zeichnet, die so eigentlich erst im Rückblick auf sein Lebenswerk insgesamt möglich war (vgl. 1,24f.). Man wird also im Autor einen Anonymus sehen, der in lebendiger Paulustradition stand (ohne deswegen die Hypothese einer Paulus-Schule bemühen zu müssen [vgl. T. SCHMELLER]) und das Schreiben wohl erst nach dem Tod des Paulus 62 n. Chr. verfasst hat. M. GESE meint: "Vielleicht kann man in Kol 1,24 einen ersten Versuch erkennen, den Märtyrertod des Paulus theologisch zu verarbeiten" (Vermächtnis 267). Zeichnet sich im Schreiben ein Corpus Paulinum (oder eine Vorform davon) noch nicht ab, dann wird man es auch nicht zu spät datieren. VieIleicht ist es noch in den 70er Jahren entstanden. Entstehungsort ist gewiss Kleinasien. Darauf deuten nicht nur die Lokaltraditionen hin, sondern auch die Rezeption des Schreibens durch Eph. Neben Kolossä nennt es noch andere Städte im Lykostal: Hierapolis (4,13) und Laodizea (2,1; 4,13.15.16), wobei die dortigen Christen angeblich auch ein
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Schreiben von Paulus erhalten hätten, das die Adressaten im Austausch mit dem ihrigen zu lesen bekommen sollten (4,16). Abgesehen davon, dass diese Notiz ganz allgemein die Zirkulation von Paulusbriefen voraussetzt (vgl. schon I Thess 5,27), wird man aus ihr nicht allzu viel ableiten dürfen, vor allem nicht die Vermutung, die realen Adressaten säßen in Laodizea (so A. LINDEMANN, ZBK 10, 36). Gesetzt den Fall, diesen Laodizea-Brief gab es überhaupt nicht (der apokryphe Brief an die dortige Gemeinde [2.-4. Jh.?] will diese Lücke schließen: vgl. NTApo 11 41-44), dann hätte der Autor des Kol "seine Adressaten ohne Not auf einen Brief an(gesprochen), den diese nicht erhalten haben", womit er "mittelbar die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Autorfiktion" beeinträchtigt hätte (M. WOLTER 221). Kolossä fällt als Heimat der intendierten Leserschaft des Kol aus folgenden Gründen aus: Bei Tacilus heißt es: "Im sei ben Jahr [dem 7. des Nero = 60/61 n. Chr.] stürzte eine der bedeutenden Städte Asiens, Laodizea, infolge eines Erdbebens zusammen, konnte sich aber ohne jede Hilfe unsererseits aus eigener Kraft wieder aufhelfen" (Ann XIV 27, I). Wahrscheinlich wurde auch Kolossä in der unmittelbaren Nachbarschaft von jenem Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen, was Euseb bestätigt, wenn er in seiner Chronik zur Regierungszeit des Nero mitteilt, dass "in Asien drei Städte durch ein Erdbeben zu Fall kamen: Laodizea, Hierapolis, Kolossä" (GCS Eus. VII 183,21 f.). Während Laodizea rasch wieder aufgebaut wurde (eine christliche Gemeinde dort bezeugt um 96 n. Chr. Offb 3,14-22 [unter den in Offb 2f. genannten kleinasiatischen Städten fehlen aber Kolossä und Hierapolis)), nimmt man aufgrund auch sonst fehlender literarischer Erwähnungen der Stadt an, dass die Zerstörung von Kolossä nachhaltiger war. M. WOLTER (35) weist auf zwei in Kolossä gefundene Inschriften aus der Spätphase der Regierungszeit des Kaisers Trajan (nach 114) und der des Hadrian (117-138) hin, woraus man auf einen Wiederaufbau der Stadt spätestens gegen Ende des I. Jh. schließen kann. Viel hat die folgende Annahme für sich: Der Anonymus konnte seine Fälschung in die Welt setzen, weil die frOhe christliche Tradition von Kolossä nach dem verheerenden Erdbeben von 60/61 n. Chr. abgebrochen war. Deshalb war man auch später dazu bereit, ein plötzliches Auftauchen eines bis dahin unbekannten Paulusbriefs zu akzeptieren.
Kurzum: Nicht nur der Absender des Schreibens ist fiktiv, auch die Adresse ist es. So empfiehlt es sich nicht, den Adressatenkreis des Kol im Dreieck Kolossä - Laodizea - Hierapolis zu suchen, sondern eher im weiteren Umkreis der Metropole Ephesus, und zwar dort, wo die bekämpfte ,Judenchristliche" Bewegung werbend tätig war. Das bedeutet auch, dass man weniger an eine "konkrete Ortsgemeinde, sondern eine Gruppe von Christen - eventuell über mehrere Städte verstreut - zu denken" hat (so 1. MArSCH 51, zum Fehlen des Terminus ekklesia im Präskript). 3. Diskurs (I) Schon der Stil des Schreibens (- 2.1) ven·ät, dass nicht die rationale Entfaltung des Glaubensgutes sein primäres Anliegen ist. Ihm liegt die Erinnerung am Herzen (1,3-8.13.2If.; 2,11-15 etc.), die sich auf Gestalt und Ver-
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kündigung des Apostels richtet (1,24-2,5). Aus ihr erhofft er sich die Kraft für die Gestaltung der Gegenwart (1,6; 2,20; 3, I f.). Konkret wird das in der Paränese des Schreibens. Alles Tun sieht er aber umfangen von Danksagung (I,3f.12; 3,15.17; 4,2) und Gebet (4,2f.; vgl. 1,3f. 9f.; 3,16). Das ist die Form, in der er seine Leserschaft gegen die Zumutungen der gegnerischen "Philosophie" immunisieren will! (2) Fragt man nach dem Grundaxiom, das ihn in der Auseinandersetzung mit den ,judenchristlichen" "Superfrommen" (U. Luz 217) leitet, dann stößt man rasch auf seine Christusfrömmigkeit. Christus genügt, denn "in ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen" (2,3). Was bedarf es da noch religiöser Sonderleistungen, der Einhaltung von Speise- und Reinheitsgeboten? In der Taufe mit Christus auferweckt, ist der Glaubende auf himmlische Visionen oder ähnliche religiöse Erlebnisse nicht angewiesen. (3) Wir sehen die sog. Gegner nur durch die Brille unseres Autors, der ihre Frömmigkeit als "Aufgeblasenheit" (2,18) abtut. Wollte man ihnen gerecht werden, müssten wir mehr über sie wissen, über die existentiellen Ängste und Befindlichkeiten, die ihre Frömmigkeit prägten, auch über ihre theologischen Motivationen. Welche Rolle spielte für sie z. B. die Erfahrung der "Mächte und Gewalten", von denen unser Autor mehrmals beteuert, sie seien durch Christi Herrschaft entmachtet (1,16; 2, I 0.15; -> D.X.3.I)? (4) Vom Christusglauben spricht der Autor nicht abstrakt, sondern bezogen auf die Biographie der Adressaten. Es geht ihm um ihre Konversion, die er radikal interpretielt, als einen Existenzwandel, als ein "Sterben mit Christus" (vgl. 2,12.20). I. MAISCH fragt, ob diese Sicht, die eine "Totalhingabe" der Getauften an Christus einschließt, auch die der Adressaten gewesen sei, und meint, sie hätten "die radikale Konversion im Sinne eines biographischen Bruchs nicht vollzogen" (Kol 35). Dafür kann sie sich aber nur auf die präsentisch formulierte Frage 2,20 berufen: "was lasst ihr euch Satzungen auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welf'? Sonst spricht der Autor im Modus der Mahnung. Jedenfalls legt er Konversion so aus, dass sie als ein Verlassen der "Welt" und damit des Bereiches erscheint, auf den die Speise- und Reinheitsgebote der Gegner bezogen sind (vgl. 2,20-23; auch 2,17). Deshalb sind sie nach ihm auch gegenstandslos und greifen nicht mehr. Neuralgischer Punkt des Existenzwandels des Menschen ist die ihm in der Taufe gewährte "Vergebung aller seiner Sünden" (2,13; vgl. 2,14b.22). (5) Die Konkurrenzlosigkeit Christi grundet flir den Autor darin, dass in ihm (dem "Christus lob" 1,15-20 zufolge) "die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt" (2,9 im Anschluss an 1,19). Und das bedeutet für die Adressaten, dass auch sie - Kraft der Taufe - "in ihm erfüllt sind" (2,10) - von göttlichem Leben durch Christus, wie die "Spitzenaussage des ganzen Briefes" (I. MAISCH 30) feststellt. (6) Dieses göttliche Leben pulst im "Leib" der Kirche, dessen "Haupt" Christus ist (1,18; vgl. 2,19; 3,15). Es gründet aber im Kreuzestod Jesu, in der Hingabe seines ,,(Sühn-)Blutes", wie der Autor das Christuslob in 1,20 kOIl1-
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mentiert (vgl. auch 2, I 4f.) (vgl. R. HOPPE). Die Sündenvergebung (2, 13.1 4b.22) kommt also von dort her! Freilich dominiert im theologischen Geftige des Schreibens der Glaube an die österliche "Herrschaftsstellung Christi über Weit und Gemeinde", dem "die Aussagen über das Kreuz Jesu ein- und untergeordnet" sind (A. DETIWILER 104). (7) Dem entspricht die präsentisch-eschatologische Perspektive des Autors auf der Linie der von ihm rezipierten Taufüberlieferung, der zufolge die Christen jetzt schon mit Christus in der Taufe "auferweckt sind" (2,12; 3,1). Danach ist ihr "Hoffuungsgut" (l,5) - das "Leben" - verborgen bereits da (G. BORNKAMM, Hoffnung), wird aber erst am Ende der Zeit "offenbar" werden. Es sind die Kategorien von Offenbarung und Verborgenheit, mit deren Hilfe der Autor die sachlich nachgeordnete futurische Dimension des Glaubens denkt und festhält (3,3f.; vgl. auch 1,26; 2,3). Leitend sind die räumlichen Kategorien "unten" - "oben" / "Erde" - "Himmel", was "hellenistischer Eschatologie" (N. WALTER 260-263) entspricht. (8) Könnte das Taufverständnis des Autors eine "Entweltlichung" des Glaubens nahelegen (vgl. 2,20, 3,5), so belehrt einen das in 3,18-4, I angemahnte Sozialethos der "Haustafel" eines Besseren. Diese verbindet "mit einer Eschatologie hellenistischen Typs eine geschichtsbezogene Ethik der Verantwortung des Glaubens in der Welt und der gemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Welt durchaus folgerichtig" (N. WALTER 250). (9) Ein wichtiges Schlagwort des Paulus fällt im Kol nicht, das der "Freiheit". Da aber der Autor "die von den Vertretern der kol. ,Philosophie' geforderten Strategien der zusätzlichen Heils- bzw. Identitätsvergewisserung als heillosen Anachronismus zu entlarven vermag", hat er "den eminent kritischen Impuls des paulinischen Evangeliums der Freiheit in einer veränderten zeitgeschichtlichen Situation durchgehalten" (A. DETIWILER 105).
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DJ{1. Der Kolosserbrief (Michael Theobald)
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D.XII. Der zweite Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber)
Zwischen 2 Thess und I Thess bestehen auffallende Ähnlichkeiten, die 2 Thess als eine frühe Auslegung des I Thess verstehen lassen. Das ist spannend, weil es zu der Frage fllhrt, welche Entwicklungen in den pln Gemeinden diese "Nachjustierung" nötig gemacht haben. I. Struktur olm Briefeingang (1,1-12) und Briefschluss (3,14-18) begegnen typische Formelemente eines Briefes. Dabei flillt das Proömium im Vergleich zum Gesamtumfang des Briefes relativ lang aus (1,3-12). Es übernimmt aber bereits eine thematische Funktion (und wohl auch schon die Aufgabe der Eröffnung des Brietkorpus, die dann fehlen kann). Der Exkurs in 1,5-10 fUhrt das apokalyptische Szenarium von Parusie und Endgericht als zentrales Briefthema ein. Ein Gebetswunsch (1,11 f.) erfllllt die Funktionen des Abschlusses des Eingangs und der Überleitung zum Korpus. Im Postskript flillt das offenkundige Bemühen um Authentizität durch den Verweis auf den eigenhändigen Gruß des PaultlS (3,17) auf. Die Tatsache eines eigenhändigen Grußes nach Diktat eines Briefes ist in der Antike nicht unüblich (vgl. auch Gal 6,11; I Kor 16,21; Kol 4,18); hier aber wird diese Eigenhändigkeit als "Zeichen in jedem Brief' betont.
o Gliederungsmerkmal im Brietkorpus ist die häufige Anrede "Brüder (und Schwestern)" in 2,1.13.15; 3,1.6, womit jeweils ein neuer Gedankenabschnitt eingeleitet wird, und in 3,13, wo mit dieser Anrede das Briefkorpus abgeschlossen wird. Zusätzlich signalisiert der formale Neueinsatz mit einer Danksagung in 2,13, dass jetzt ein neues Thema beginnt. Im letzten Abschnitt 3,613 finden sich Elemente einer brieflichen Selbstempfehlung (z. B. VorbildGedanke), die in anderen Briefen früher platziert sind. Ein Schema veranschaulicht die Struktur des Briefes: Briefeingang 1,1-12
Briet1l.orpus 2,1-3,13
Präskript I, I f. Proömium 1,3-12: Danksagung 1,3f. Exkurs: Bedrängnis und eschatologische Vergeltung 1,5-10 Gebetswunsch 1,11 f. Thema I: Die Parusie und ihr Verhältnis zur Gegenwart 2. 1-12 Einfilhrung: das Problem 2, I f. Die Ereignisse der Endzeit 2,3-12
D.XIl. Der zweite Thessalonicherbrief (Stefall Schreiber)
Briefschluss 3,14-18
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Thema 2: Festhalten am Glauben nach der Überlieferung des Paulus 2.13-3./3 Erwählung und Berufung 2,13f. Aufforderung zum Festhalten an der pln Überlieferung 2,15-17 Ablehnung durch Menschen und Treue Gottes 3,1-5 Das Alltagsethos gemäß der Überlieferung des Paulus 3,6-13 Epilog 3,14-16: Positive Rezeption des Briefes als Identitätsfaktor 3,14f. Wünsche: Frieden und Gegenwart des Herrn 3,16 Postskript 3, 17f.: Eigenhändiger Gruß und Gnadenwunsch
Eine ähnliche Gliederung bietet H.-J. KLAUCK 293-297 (der Korpuseröffnung und -abschluss in 2, I f. bzw. 3,6-13 bestimmt). Alternativen finden sich bei M. J. J. MENKEN: drei etwa gleich lange Teile (neben Briefanfang und -schluss) 1,3-12; 2,1-17; 3,1-16; und A. J. MALHERBE 358f.: zweimal Thanksgiving and Exhortation (1,3-2,12; 2,13-3,5); Commands (3,6-15).
2. Entstehung 2.1 Das Verhältnis von 1 Thess (1) und 2 Thess (11)
Auffallende Übereinstimmungen finden sich in der Gesamtkonzeption der Briefe, besonders was Anfang und Schluss sowie einige Übergänge betriffi: • (Nahezu) identisch lautet das Präskript in I 1,1 bzw. Il 1,1f.: "Paulus und Silvanus und Timotheus der Gemeinde der Thessalonicher in Gott (unserem) Vater und dem Herrn Jesus Christus, Gnade euch und Friede". Damit gibt 11 zu erkennen, dass er I als intertextuellen Prätext verstanden wissen will. Durch die (in allen späteren Paulusbriefen übliche) Erweiterung des Gnaden- und Friedenswunsches durch "von Gott [unserem] Vater und dem Herrn Jesus Christus" macht 11 zugleich deutlich, dass er alle ihm bekannten Paulusbriefe formal einbezieht. • Das Proömium beginnt mit einer Danksagung (I 1,2 "Wir danken Gott allezeit für euch alle", 1,4 "Brüder"; II 1,3 "Danken müssen wir Gott allezeit für euch, Brüder"). Das Thema ist die Identität der Gemeinde und ihre Bedrängnis (vgl. die Stichworte "Werk des Glaubens" I 1,3; I\ 1,11; "Liebe", "Geduld" I 1,3; II 1,3f.; "Bedrängnis" I 1,6; 1I 1,4.6f.; "Erwählung" I 1,4 bzw. "Berufung" II 1,11; "zu erwarten seinen Sohn aus den Himmeln ... Jesus, der uns rettet aus dem kommenden Zorn gericht" I 1.10 bzw. "euch aber ... Ruhe zu geben ... bei der Offenbanmg des Herrn Jesus vom Himmel ... Vergeltung zu üben" Il 1,7f.). • Der Beginn eines Themas geschieht mit einer erneuten Danksagung: "Und deswegen danken wir auch Gott unablässig" (+ Annahme des Wortes Gottes) 12,13 bzw. "Wir müssen aber Gott danken allezeit" (+ Erwählung und Berufung durch das Evangelium) 11 2,13f. • Zu Beginn eines Abschnitts findet sich die gleiche Formulierung "Im übrigen ... Brüder" I 4, I; I\ 3, I. • Im Epilog des Briefschlusses liest man ,.Er selbst aber. der Gott des Friedens, heilige euch" I 5,23 bzw. "Er selbst aber, der Herr des Friedens, gebe euch" 11 3,16.
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
• Das Postskript endet mit dem Wunsch: "Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus mit euch" I 5,28; 11 3,18; zuvor stehen Grüße ("Grüßt alle Brüder mit dem heiligen Kuss" I 5,26; "Der Gruß mit meiner, des Paulus, Hand" 11 3,17).
Weitere wörtliche Übereinstimmungen oder Anklänge zeigen die Aufnahme einzelner Motive und Begriffe fUr die eigene Argumentation des 2 Thess; einige Beispiele: J Thess 4,5 die Gott nicht kennen 3,8 feststeht im Herrn 3, I I Er selbst aber, Gott, unser Vater, und unser Herr Jesus ... 3,13 um eure Herzen zu stärken 3,2 euch zu stärken und zuzusprechen 5,24 Treu ist, der euch ruft 4, I Brüder, wir bitten und ermuntern euch im Herrn Jesus .. , wie ihr empfangen habt von uns, wie ihr leben sollt. 5,14 Sprecht den Unordentlichen zu 1,6 Nachahmer, 1,7 Vorbild 2,9 unsere Mühe und Anstrengung, indem wir nachts und tags arbeiteten, um niemandem von euch zur Last zu fallen; 4, I I ruhig zu leben und das Eigene zu tun und mit den eigenen Händen zu arbeiten
2 Thess 1,8 die Gott nicht kennen 2,15 steht nun fest 2,16 Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater 2,17 spreche euren Herzen zu und stärke 3,3 Treu aber ist der Herr 3,6 Wir gebieten euch, Brüder, im Namen des Herrn Jesus Christus: Zieht euch zurück von jedem Bruder, der unordentlieh lebt und nicht nach der Überlieferung, die ihr von uns empfangen habt. 3,7.9 nachahmen, 3,9 Vorbild 3,8 sondern mit Mühe und Anstrengung nachts und tags arbeiteten, um niemandem von euch zur Last zu fallen; 3,12 mit Ruhe arbeiten und ihr eigenes Brot essen
Demgegenüber sind nun aber auch deutliche Differenzen zwischen beiden Briefen wahrnehmbar. In inhaltlicher Hinsicht fallen auf: • Die Darstellung der Parusie ist, obwohl sie auf der gleichen religionsgeschichtlichen Basis apokalyptischer Vorstellungen erfolgt, different: 14,13-18 stellt sich der Frage nach der Teilhabe der Verstorbenen an der nahen Parusie, 5,1-11 fordert an Stelle sinnloser Terminspekulationen Wachsamkeit vor dem Ende; eine Naherwartung der Parusie ist vorausgesetzt. 11 2,1-12 fUhrt dagegen den Nachweis, dass die Parusie noch lange nicht eirigetreten ist, da die komplexen Ereignisse in ihrem Vorfeld noch ausstehen. • Der Hinweis auf die "Handarbeit" des Paulus zum Erwerb seines Lebensunterhalts besitzt jeweils eine andere rhetorische Funktion: I 2,9 Abgrenzung gegenüber Wanderphilosophen, 11 3,8 Entwicklung eines Vorbilds gegen Müßiggang in der Gemeinde. • Die Thematik der "Überlieferung" in 11 2,15; 3,6.14 kann zwar indirekt an die Überlegungen zum Verhältnis Wort des Verkünders - Gotteswort in I 1,5; 2,13 anknüpfen, doch erhält die Überlieferung stärker den Charakter eines verlässlichen und daher verbindlichen Maßstabs als eines aktuell-lebendigen Prozesses zwischen Paulus und der Gemeinde (wie z. B. in I Kor 11,2 sichtbar). Der Bezug zum Apostel geschieht über die "Tradition"! Unterstützt wird
D.xII. Der zweite Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber)
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dies durch die Stilisierung eines Paulusbildes: 11 3,2 Konflikte als Apostel, 3,4 voll mächtiger Lehrer, 3,8f. Vorbild im Lebenswandel: eigenhändige, zurückgezogene Arbeit - ihn soll man "nachahmen" 3,7.9. • In 11 fehlen Aussagen, die das persönliche Verhältnis betreffen (z. B. I 2,112 Auftreten des Paulus, 2,17-20 Besuchsabsicht, 3,1-13 Besuch des Timotheus). Schließlich entdeckt man sprachliche und stilistische Unterschiede. An einigen Stellen (11 1,4f.12; 2,15; 3,2.5-9) wird pln Vokabular in deutlich anderen Sinnkontexten als in den Paulusbriefen verwendet (P. METZGER 55-70). In 11 fehlen direkte Gegenüberstellungen (wie Licht/Finsternis), metaphorische Aussagen (außer 3, I "das Wort laufe"), dialogartige Passagen und echte Fragen (außer 2,5); die Argumentation ist weniger lebendig, dafür stärker lehrhaft und strenger thematisch bezogen. Im Ergebnis wird deutlich, dass in 11 andere Inhalte im Vordergrund stehen, die aber mit deutlicher Anlehnung an I in Struktur, Motiven und Sprache formuliert werden. Dabei nimmt 11 an keiner Stelle direkt Bezug auf I, d. h. die neuen Aussagen stehen unverbunden neben den alten, die Hörer/innen müssen mögliche Verbindungen auf Grund intertextueller Referenzen erst herstellen. Diese Beobachtungen legen die Hypothese einer literarischen Abhängigkeit des 2 Thess von I Thess nahe. Für diese Reihenfolge der Briefe spricht die Qualität der inhaltlichen Unterschiede, der Bezug auf frühere Briefe in 11 2,2.15; 3,17 (fehlt in I) und die Möglichkeit der Rekonstruktion der Geschichte des Paulus mit der Gemeinde aus I - nach dem Gründungsaufenthalt und vergeblichen Besuchsabsichten gibt sich I als erste direkte Kontaktaufnahme zu erkennen. Die 2 Thess prägende Form referentieller Bezugnahme und "Imitation" von I Thess stellt einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis von 2 Thess dar.
2.2 Verfasser 2 Thess fUhrt sich selbst als Paulusbrief ein. Gewichtige Indizien sprechen allerdings gegen diese Identifizierung des Verfassers: • Er benutzt I Thess als literarische Vorlage und setzt sich zugleich mit deutlich gewandelten Inhalten auseinander. • Auffällig sind die Hervorhebung der Überlieferung (und früheren Lehre) des Paulus, verbunden mit der Stilisierung eines Paulusbildes (s.o.). • Ebenfalls auffällig ist die Betonung der Authentizität durch den eigenhändigen Gruß in 3,17. Die Indizien deuten auf einen späteren Verfasser, der auf Paulus als zentrale Autorität zurückgreift und ihn interpretiert. Er versteht sich und die Adressaten in der Tradition des Paulus; es handelt sich also um ein Mitglied einer pln Gemeinde. Sonst bleibt er für uns unbekannt (Autorenfiktion). Wir sprechen von einem pseudepigraphischen Brief.
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Wäre im 2 Thess Paulus selbst am Werk gewesen, hätte er seine Anliegen sprachlich frei formulieren und sich erklärend auf seine früheren Aussagen beziehen können. In der (deutschsprachigen) Forschung setzt sich die Erkenntnis des pseudepigraphischen Charakters von 2 Thess immer mehr durch; vgl. W. MARXSEN; U. SCHNELLE, Einleitung; W. TRILLlNG; H.-J. KLAUCK; E. REINMUTH; P.-G. MÜLLER; P. METZGER. Dennoch bleiben Stimmen, die die Authentizität des Briefes verteidigen. Sie müssen freilich die großen Übereinstimmungen beider Briefe erklären. Es flillt auf, wie unterschiedlich diese Erklärungen ausfallen. K.-W. NIEBUHR 275f. z. B. versteht 2 Thess als Präzisierung von 1 Thess angesichts neu aufgetretener Probleme in der Gemeinde. Dazu muss er "Agitatoren" postulieren, die erst nach 1 Thess aufgetreten seien (wo werden diese in 2 Thess sichtbar?). Bei der Abfassung von 2 Thess seien Paulus manche Aussagen noch aus dem kurz zuvor verfassten I Thess vertraut gewesen. A. J. MALHERBE 355f.430 geht von Fehldeutungen und Textänderungen in Kopien aus, die nach dem Empfang von 1 Thess gemacht worden seien (was äußerst fraglich ist!). Paulus wolle nun mit 2 Thess die Verursacher solcher Irrtümer umgehen; Hauptadressat von 2 Thess sei eine andere Gruppe in der Gemeinde als bei I Thess (welche?). T. HOLTZ 418-420 nimmt an, 2 Thess sei vielleicht von Paulus inauguriert, aber von einem Mitarbeiter verfasst, mit Wissen des Paulus und wohl sogar mit seiner Bestätigung (3,17). C. R. NICHOLL ebnet die Unterschiede in den eschatologischen Problemen beider Briefe ein (vgl. G. K. ßEALE 29-31). Problematisch an diesen Entwürfen bleibt m. E., dass sie die Veränderungen in der zugrundeliegenden Sprechsituation (-+ 2.1) untergewichten.
2.3 Ort und Adressaten Der Ort der Entstehung ist unbekannt. Bei einer pseudepigraphischen Schrift könnte es sich um den Ort der genannten Adressaten handeln, also Thessaloniki, wofUr man auch die Nähe zu 1 Thess anfuhren könnte, der offenbar bei den Adressaten vorhanden war. Wir wissen aber, dass Paulusbriefe sehr bald unter den Gemeinden ausgetauscht wurden (vgl. Kol 4,16). 1 Thess lag also auch an anderen Orten vor. Damit müssen wir wohl auch von einer Adressatenfiktion ausgehen. Sichtbar ist nur der "geistige" Ort von Verfasser und Adressaten: Sie verstanden sich in pln Tradition und lebten irgendwo im pln Missionsgebiet.
2.4 Zeit Eine zeitliche Ansetzung von 2 Thess lässt sich nur grob aus dem Vergleich einiger inhaltlicher Aspekte gewinnen. Als virulente Probleme und Fragen des Briefes sind die Verzögerung der Parusie, die Etablierung eines Überlieferungs-Prinzips (die Suche nach zuverlässiger Orientierung) und evtJ. ein verstärktes Bemühen um gesellschaftliche UnauffiilIigkeit zu erkennen; dies deutet auf ein fOltgeschrittenes Stadium der Gemeindeentwicklung. Verführungen und Bedrohungen der Endzeit werden in christlichen Schriften, die eher gegen Ende des 1. Jh. verfasst wurden, häufiger thematisiert (vgl. I Tim 4,1; 2 Tim 3,1-9; Jud 17-19; 2 Petr 3,3-13; Did 16,3f.). Wahrscheinlich wird
O.xll. Oer zweite Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber)
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damit eine Entstehung von 2 Thess in einer der Generationen nach Paulus, also im ausgehenden I. Jh. Über das I. Jh. wird man dabei besser nicht hinausgehen, da 2 Thess bereits Bestandteil von frühen Paulusbriefsammlungen des 2. Jh. war (z. ß. Markion); nach K. ALAND existierten ab ca. 90 n. ehr. verschiedene anfanghafte Sammlungen von Paulusbriefen. Nicht eindeutig sind Anspielungen bei Polykarp, Phil 11,3f. auf2 Thess 1,4; 3,15.
3. Diskurs 3.1 Rekonstruktion der Kommunikationssituatiol1
Wenn man die Textaussagen auf ihre Transparenz für die (vom Verfasser wahrgenommene) Kommunikationssituation hin befragt, werden vier Bereiche sichtbar: • Verfolgungen und Bedrängnisse werden genannt (1,4.6f.; vgl. 3,2f.), womit gesellschaftliche Konflikte und Konfrontationen mehr angedeutet als beschrieben sind. • Eine theologische Position wird greifbar in der Parole: "Der Tag des Herrn ist schon da" (2,2); der Parusie-Tag (die Vollendung des Eschaton) ist demnach bereits Gegenwart, Ereignis. • Mit "wir hören" scheint ein direkter Situationsbezug hergestellt: "dass einige bei euch unordentlich leben und nicht arbeiten" (3, 11). Einige in der Gemeinde distanzietten sich offenbar von den normalen Vollzügen des Alltags. • Ethos-Mängel führt der Verfasser auf ein problematisches Verständnis der Überlieferung zurück: 2,2 konstatiert in Bezug auf die Parusie eine Verunsicherung durch ,,(prophetische) Geist(rede), WOJt(verkündigung), Brief wie von uns", und 3,6 kreidet den Lebenswandel an als "unordentlich lebend und nicht nach der von uns empfangenen Überlieferung". Es existierten wohl in der Gemeinde unterschiedliche Interpretationen der pln Verkündigung und seiner Briefe. Meine Rekonstruktion versucht, diese Beobachtungen zusammenzufassen: Eine christliche Prophetengruppe aus dem Raum der Adressaten selbst (also keine "Gegner" von außen) reagierte auf das Ausbleiben der Parusie und auf anhaltende gesellschaftliche Marginalisierung mit einer konsequent eschatologischen Interpretation von pln Aussagen über die Naherwartung (I Thess 4,15.17) und der pln Überzeugung, dass bereits in der Gegenwart die Christen an Gottes endgültiger Rettung teilhaben und entsprechend leben können (vgl. I Thess 5,5 "Kinder des Lichts, des Tages"). Diese Interpretation wird fassbar in der These "Der Tag des Herrn ist schon da", d. h. die Parusie, die Vollendung des Plans Gottes, vollzieht sich gerade in der Gegenwalt. Die Gegenwart wird also als Zeit der Vollendung verstanden. Dies erlaubt eine Deutung der negativen Erfahrungen der Gegenwart als Begleiterscheinungen der Parusie, aber auch die Praxis eines "Parusie-Ethos", bei dem die "Welt" keine
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Rolle mehr spielt, quasi schon überwunden ist - die Anhänger leben jetzt schon in der "neuen Welt". Der Anfangs- und Anbruchscharakter der (auch nach Paulus) schon jetzt wirklichen und erfahrbaren Rettung wird übergangen; dass eine Diskrepanz zur Realität des gesellschaftlichen Alltags besteht, wird ausgeblendet. Konkrete Konsequenzen führten zu Formen des Realitätsverlusts: Einige in der Gemeinde wollten nicht mehr arbeiten, gaben ihre soziale Verantwortung auf, durchbrachen die gesellschaftliche Ordnung des alltäglichen Lebens (2 Thess 3,6-12). Das aber gefährdete nicht nur den gemeindlichen Zusammenhalt, sondern barg auch die Gefahr neuerlicher Konfrontationen mit der Gesellschaft. Diese Gruppe berief sich vielleicht speziell auf I Thess als theologische Grundlage, was erklären würde, warum der Verfasser von 2 Thess gerade I Thess "imitiert": weil die Themen des I Thess in der Diskussion standen. Möglicherweise deutet der Hinweis auf einen "Brief wie von uns" in 2 Thess 2,2 auf den I Thess, der in bestimmter Weise verstanden wurde (so U. SO'INELLE, Einleitung 364; W. TRILLlNG, EKK XIV, 76f.; W. MARXSEN 80; E. REINMUTH 162).
Die Folge war eine Verunsicherung der Adressatengemeinde sowohl hinsichtlich der theologischen Beurteilung der Gegenwart als auch der Gestaltung der christlichen Lebenspraxis. Dabei steht die "richtige" Interpretation der pln Überlieferung insgesamt in Gefahr, also die Frage einer Hermeneutik der pln Tradition. 2 Thess entwirft eine AntwOlt darauf 3.2 Die Strategie des 2 Thess 2 Thess entfaltet seine Sinnkonstruktion als Auslegung von I Thess, wobei es sich in der Brieffiktion um eine Selbstauslegung des Paulus handelt. Damit schlägt er für die Lektüre von I Thess eine neue Leseperspektive vor (methodologische Konsequenzen bei H. ROOSE), die zugleich eine Korrektur der "Prophetengruppe" beinhaltet. Grundlinien dieser Strategie sind: • Innerhalb eines apokalyptischen Modells der Wirklichkeit, das der Verfasser mit den Adressaten (und der pln Tradition) gemeinsam hat, setzt er Akzente: (I) Er motiviert zum Durchhalten, zur "Geduld" angesichts der Hoffnung, in der Zeit der (zukünftigen) Parusie "Ruhe" zu finden, in die "Königsherrschaft Gottes" zu gelangen und die göttliche Vergeltung an denen, die jetzt die Bedrängnis bewirken, zu erleben (2 Thess 1,4-10); impliziter theologischer Denkhintergrund ist die Überzeugung von Gottes sich letztlich durchsetzender Gerechtigkeit. (2) Er leitet zur Reflexion der Erfahrungen der Gegenwart an, indem er Etappen der Endereignisse schildert (2,3-12): drohender Abfall (von Gott, von der Gemeinde Christi) Auftreten des "Menschen der Gesetzlosigkeit" (= endzeitlicher Gegenspieler Gottes politische Gestalt?)
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dessen Aufgehaltenwerden: das/der "Aufhaltende" (er ist aber dennoch schon wirksam) schließlich die Offenbarung des "Gesetzlosen", der mit satanischer Macht zur Ungerechtigkeit verfUhrt dann erst erfolgt die Parusie Christi (der den "Gesetzlosen" im Gericht vernichtet)
Diese Etappen stehen größtenteils noch aus - die Parusie kann also noch nicht eingetreten sein. Die negativen Erfahrungen der Gegenwart kann der Verfasser ebenso gut integrieren wie die "Prophetengruppe", weil sie gemäß Gottes Heilsplan die Zeit vor dem Ende prägen. Zudem bietet die Schilderung durch das apokalyptische Personeninventar ein Rätselpotential, das für die kritische Wahrnehmung der politisch-gesellschaftlichen Umwelt sensibilisieren will: Wer ist der "Widersacher", wer der "Aufhaltende"? Wo ist die "Gesetzlosigkeit" jetzt schon am Werk? Die gegenwärtige Forschung tendiert zu einer theozentrischen Deutung des "Aufhaltenden", die von einer apokalyptischen Tradition der Verzögerung des Endes (Grundtext Hab 2,3f.) ausgeht und den Willen Gottes, Gott selbst, fonnal mit diesem Begriff bezeichnet sieht (W. TRILLlNG, EKK XIV, 91f.; E. REINMUTH 180; P.-G. MÜLLER 268f.; A. 1. MALHERBE 433). Fraglich bleibt, ob der endzeitliche Wille Gottes nicht geschichtliche Konkretionen besitzt. Andere identifizierten den "Aufhaltenden" mit dem heiligen Geist und der Evangeliumsverkündigung, mit Paulus oder mit Engelmächten (Überblick bei P. METZGER 15-47). Eine schon in der alten Kirche (seit Hippolyt von Rom und Tertullian, kurz nach 200) vertretene Deutung denkt unter Identifizierung mit dem vierten und letzten Weltreich von Dan 2; 7 an das römische Reich, das noch Gesetz und Ordnung aufrechterhält. Diese positive Sicht des Imperium Romanum ist rur die Apokalyptik untypisch (und wird vom jüngsten Vertreter dieser Deulerichtung auch nicht mehr behauptet: P. METZGER, bes. 283293). Angesichts des apokalyptischen Sitzes im Leben in politisch-gesellschaftlicher Bedrohung wäre m. E. eine politische Deutung erwägenswert, die im "Widersacher" das römische Imperium (den Kaiser, die Kultur), im "Aufhaltenden" den politischen Widerstand dagegen (z. B. Aufstände, Bürgerkriege) entdeckt.
• 2 Thess stärkt das Überlieferungsprinzip und gibt dazu einen "hermeneutisehen Schlüssel" an die Hand. Bindende Orientierung an der Lehr-Tradition des Paulus (Terminus: nrJ.p6.öorJLr,./paradosis) wird wichtig für die Identität, die "Sinnwelt" späterer Generationen in den pln Gemeinden. An einzelnen Textelementen wird dies deutlich: So reflektiert in 2 Thess 1,10 "unser Zeugnis, das geglaubt wurde", den Traditionsbeginn (vgl. 2,5.14). 2,15 ermutigt zum Festhalten an den Überlieferungen, in denen die Adressaten gelehrt wurden durch Wort oder Brief, was die mündliche und briefliche Paulus-Tradition umfasst; dabei greift der Terminus "Brief' wohl über 2 Thess hinaus auf eine frühe, kleine Sammlung von Paulusbriefen. Die Metareflexion in 3,14 legt die Funktion des vorliegenden Briefes (dem man "gehorchen" soll) offen: Er liefert eine verbindliche Orientierung für das Verständnis der Überlieferung und damit der christlichen Praxis (vgl. 3,6), die sich als Gegenüber zu den in 2,2 angeprangerten Fehlinterpretationen versteht. Dazu tritt unterstützend die Stilisierung eines Paulusbildes (--+ 2.1) . • 2 Thess rät zur Einordnung der Gemeinde in die Gesellschaft. Dabei wird
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Paulus zum Vorbild für ein Leben, das nicht "unordentlich" ist (das Adjektiv ä:r:cx.Ktoc:,lataktos setzt als Maßstab die Gewohnheit der Gesellschaft voraus). Besonders hervorgehoben ist dabei seine eigene Erwerbsarbeit für seinen Lebensunterhalt. Dementsprechend soll sich auch die Gemeinde unauffällig ("mit Ruhe arbeitend ihr Brot essen", 3,12) in die Gesellschaft eingliedern, d. h. keinen Anstoß erregen durch Lebensformen, die die Ordnung der Gesell-' schaft in Frage stellen (3,6-13). Ein solches geregeltes Alltagsleben dient der Sicherung der Stabilität nach innen und des Geduldetseins von außen - ein soziales Modell, dessen Gültigkeit freilich untrennbar mit der Minoritätensituation urchristlicher Gemeinden verbunden ist. Mit 2 Thess werden für uns erste Schritte einer schriftlichen Paulus-Hermeneutik sichtbar. 2 Thess will also 1 Thess nicht ersetzen bzw. als Fälschung diskreditieren (wie in der Forschung z. T. angenommen, z. B. A. LfNDEMANN 39; W. MARXSEN 32-35; F. LAUB 49f.) - er würde sich ja die eigene Autorisierungsbasis entziehen, wenn er die Gültigkeit von Paulusbriefen in Frage stellt -, sondern interpretieren, auf eine neue Situation hin auslegen. Die Wirkung der "Imitation" besteht dann im Wiedererkennen, Sich-Wiederfinden in den vertrauten Formulierungen des Paulus, was der Identitätssicherung einer nach-pln Gemeinde dient.
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D.xU. Der zweite Thessalonicherbrief (Stefan Schreiber)
449
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D.XIII. Die Pastoralbriefe (1 Tim/2 Tim/Tit) (Gerd Häfner)
Unter dem Begriff "Pastoralbriefe" (= Past) werden die beiden Timotheusbriefe und der Titusbrief zusammengefasst. Die Bezeichnung greift ein Charakteristikum dieser Schreiben auf: Zwar nicht ausschließlich, aber wesentlich geht es ihnen um Fragen der Gemeindeleitung. Auffällig ist außerdem die Adressierung an Mitarbeiter des Paulus, die sonst im Corpus Paulinum nicht mehr begegnet. Deshalb werden diese drei Briefe, jedenfalls sofern ihre Abfassung durch Paulus bestritten wird (- 2.4), meist als ein einheitliches Korpus angesehen. Die einzelnen Briefe gehören demnach nicht in eine spezifische Situation; sie sind vielmehr von vornherein als zusammengehörende Sammlung angelegt. Daher ist es sachgerecht, diese drei Schreiben gemeinsam zu besprechen (- 2.2).
I. Struktur 1.1 Der 1. Timotheusbriej
Im Vordergrund des Briefeingangs (1,1-20) steht nach dem Präskript (I, I f.) die Beauftragung des Briefempfängers zu seinem Wirken in Ephesus, an die dieser erinnert wird (1,3). Dabei scheint das für die Briefe insgesamt zentrale Thema der Gegnerbekämpfung auf, in das eine Selbstvorstellung des Absenders eingeschoben ist (1,12-17). Der folgende Abschnitt 2,1-3,16 hat das rechte Gemeindeleben und die rechte Gemeindeordnung vor Augen. Hier erfolgen Weisungen zum Gebet (2,1-7), zum angemessenen Verhalten von Männern und Frauen im Gottesdienst (mit besonderem Interesse an der Frauen-Rolle; 2,8-15), zum Amt des Episkopos und der Diakone (3,1-13). Erst nach Darlegung dieser Weisungen erscheint der Adressat als derjenige, der für die Umsetzung dieser Ordnung verantwortlich ist, auch wenn er nicht direkt dazu aufgefordert wird (3,14f.). Nach Abschluss der Ausführungen zum Gemeindeleben durch einen ekklesiologischen (3,15b) und einen christologischen Basistext (3,16) tritt wieder das Thema der Gegnerbekämpjung in den Vordergrund (4,1-11), die unmittelbar als Aufgabe des Adressaten erscheint. Im Anschluss geht es erneut um das Gemeindeleben. "Timotheus" wird in die RoHe eines Gemeindeleiters eingewiesen (4,12-16), ehe das von ihm erwartete Verhalten gegenüber den unterschiedlichen Gruppen in der Gemeinde entfaltet wird (5,1-6,2). Der Schlussabschnitt (6,3-21), der nur einen Gnadenwunsch als brieftypisches Element enthält, ist durch die Gegnerpolemik gerahmt (6,3-5.20f.). Den
O.xIII. Oie Pastoralbriefe (I Tim/2 Timffit) (Gerd Häfuer)
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Falschlehrern ist auch eine falsche LebensfUhrung vorzuwerfen, besonders im Blick auf das Verhältnis zu Reichtum und Besitz. Etliche Bezüge des Schlussabschnitts zum Eingangsteil (vgl. L. OBERLINNER, HThK XII2, I, 270) deuten auf eine den ganzen Brief übergreifende Komposition, auch wenn es bisweilen schwer ist, den gedanklichen Zusammenhang nachzuzeichnen. Briefeingang 1,1-20
ßriefl
Präskript I, I f. Proömium 1,3-20 Erinnerung an den Auftrag zur Bekämpfung der Falschlehrer mit Selbstvorstellung des Absenders Weisungen zur Gemeindeordnung 2,1-3,16 Aufforderung zum Gebet für alle Menschen 2,1-7 Verhalten von Männern und Frauen im Gottesdienst 2,8-15 Voraussetzungen für das Episkopen- und Diakonenamt 3,1-13 Die Kirche als "Säule und Fundament der Wahrheit" 3,14-16
Einsatz gegen die Falschlehre 4,1-11 Zurückweisung asketischer Forderungen 4,1-5 Der Gegensatz von Frömmigkeit und Falschlehre 4,6-11
Weisungen fiir die Gemeindeleitung 4,12-6,2 Grundsätzliche Mahnung 4,12-16 Verhalten gegenüber verschiedenen Altersstufen 5, I f. Verhalten gegenüber den Witwen 5,3-16 Verhalten gegenüber den Presbytern 5,17-25 Verhalten gegenüber Sklaven 6,lf.
Mahnung zur Bewahrung des Glaubens angesichts der Bedrohung durch Falschlehre und Gewi1mstreben 6,3-2 la
ßriefschluss 6,21b
Warnung vor Gewinnsucht am Beispiel der Falschlehrer 6,3-10 Mahnung zu Ausdauer im Einsatz für den rechten Glauben 6,11-16 Aufforderung zur Mahnung an die Reichen 6,17-19 Aufforderung zur Bewahrung des Glaubens gegen die Falschlehrer 6,20-21 a Gnadenwunsch 6,21 b
1.2 Der Titusbrief
Dem Präskript (1,1-4) dieses Briefes, der im Korpus wohl die MittelsteIlung eingenommen hat (- 2.2), folgt ähnlich wie in 1 Tim 1,3-7 eine Erinnerung an die dem Adressaten übertragene Aufgabe, hier allerdings bezogen auf die Einsetzung von Amtsträgern in jeder Stadt Kretas (1,5-9): Wer die Gemeindeleitung !1bernimmt, muss die "gesunde Lehre" vertreten und "die Widersprechenden überführen können". Mit dieser Anforderung wird übergeleitet zum Thema der Gegner, die scharf zurückgewiesen werden müssen (1,10-16).
452
D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Als Gegengröße wird sodann entfaltet, was der "gesunden Lehre" entspricht. Die Aufforderung an den Briefadressaten "du rede"/"dies rede" (2,1.15) bildet den Rahmen des Abschnitts. Er bietet zum einen in einer Gemeindeparänese Weisungen zum erwünschten Rollenverhalten von älteren und jüngeren Männern und (ausführlicher) Frauen sowie von Sklaven (2,2-10). Zum anderen wird die Paränese theologisch begründet im rettenden Handeln Gottes bzw. Christi, auf das zurückgeblickt und das für die Zukunft erwartet wird (2, I 114). Beide Dimensionen bleiben auch im folgenden Abschnitt präsent (3,1-8). Der Schwerpunkt liegt jetzt allerdings auf der Außenperspektive, die zuvor nur indirekt zur Sprache kam (2,5.10). Der Adressat soll die Gemeinde im Blick auf ihr Verhältnis zu den Machthabern ermahnen (3,lf.). Wiederum schließt sich eine heilsgeschichtliche Begründung an, nun jedoch deutlicher gekennzeichnet als Überwindung einer heillosen Vergangenheit (3,3-7). Dass sich aus dieser Überwindung die Forderung nach guten Werken ergibt, wird eigens betont und zur Absetzung von den Falschlehrern genutzt (3,9-11). Damit spannt sich ein Bogen zum Eingangsteil des Briefes. Anders als I Tim hat Tit einen ausgearbeiteten Briefschluss mit der Übermittlung von Aufträgen und Grüßen sowie dem Gnadenwunsch (3,12-15). Briefeingang
Präskript 1,1-4
1,1-4 Briefkorpus 1,5-3,11
Einsetzung von Gemeindeleitern zur Bekiimp[ung der Falschlehre /,5-16 Anforderungen an den Presbyter/Episkopos 1,5-9 Polemische Charakterisierung der Falschlehrer 1,10-16
Gemeindeparänese mit theologischer Grundlegung 2, 1-15 Aufforderung zur Elmahnung der verschiedenen Gruppen 2,1-10 Theologische Begründung der Mahnung 2,11-15
Das rechte Verhältnis zur Außenwelt 3,1-8 Aufforderung zu Unterordnung unter die Obrigkeit und zur Milde allen Menschen gegenüber 3, I f, Theologische Begründung aus der gnädigen Rettung durch Gott
3,3-8 Briefschluss 3,12-15
Einsatz gegen die Falschlehrer 3,9-11 Aufträge 3,12-14 Grußmitteilung, Grußauftrag und Gnadenwunsch 3,15
1.3 Der 2. Timotheusbrief
Der Beginn des Brietkorpus - nach Präskript (1, I f.) und Proömium (1,3-5) greift sogleich die Beziehung zwischen "Paulus" und "Tirnotheus" auf und erinnert den Adressaten an seine Aufgabe (1,6-2,13). Diese besteht in einem ersten Durchgang (1,6-14) im freimütigen Zeugnis für den Herrn, das Leiden
D.XIII. Die Pastoralbriefe (I Tim/2 Tim/Tit) (Gerd Häfner)
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bedeuten kann (wie für "Paulus": 1,8.12). "Tirnotheus" wird aufgefordert, das anvertraute Gut (die TTa.pa.e~KT]) zu bewahren. Damit ist ein SchlüsselbegritTfur das Traditionsdenken der Past eingebracht. Nachdem das Verhältnis zum Apostel an negativen und positiven Beispielen veranschaulicht worden ist (1,1518), rückt erneut der Adressat in den Fokus der Betrachtung. Seine Aufgabe ist es, das überlieferte Gut an "zuverlässige Menschen weiterzugeben, die in der Lage sind, andere zu lehren" (2,2 als Teil von 2,1-13). Dadurch ötTnet sich der Adressatenkreis: Angesprochen sind alle, die Lehrfunktion in paulinischer Tradition ausüben (2,1-7). Dabei sollen sie sich nicht nur am Beispiel des Apostels orientieren, sondern vor allem am Weg Jesu (2,8-13). Ab 2,14 steht, nur locker angebunden, in einem bis 3,9 reichenden Abschnitt (vgl. A. WEISER, EKK XVIII, I 85f.) die Gegnerji'age im Mittelpunkt. Trotz der scharfen Abgrenzung (2,14-21) gehört es zur Aufgabe des Adressaten, die Vertreter der Gegenseite wieder für die "Erkenntnis der Wahrheit" zu gewinnen (2,22-26). Dennoch darf die Falschlehre nicht unterschätzt werden, ist sie doch als Phänomen endzeitlicher Bedrohung gekennzeichnet (3,1-9). Diese Gefahr bleibt auch im abschließenden Teil des Briefkorpus präsent, doch tritt nun wieder stärker die Gestalt des Adressaten in den Vordergrund, dem das angemessene Verhalten angesichts der breit ausgemalten Gefahr ans Herz gelegt wird (3, I 0-4,8). Der Ausblick auf den bevorstehenden Märtyrertod des Absenders (4,6-8) unterstreicht die Dringlichkeit der Mahnung nicht nur dieses Abschnitts, sondern des ganzen Briefes (~2.3b). Der Briefschluss (4,9-22) ist der ausfuhrlichste aller drei Briefe. Besonders auffällig sind die zahlreichen persönlichen Mitteilungen und Aufträge (4,918.20.2Ia), ehe Grüße und Gnadenwunsch den Brief beschließen. Briefeingang 1,1-5 Briefkorpus 1,6-4,8
Präskript 1,1 f. Proömium 1,3-5 Dank an Gott beim Gedenken an das Verhältnis zu Timotheus Aufforderung zum Zeugnis nach dem Vorbild des Paulus 1.6-2./3 Mahnung zur Bewahrung des Glaubensgutes in furchtlosem Dienst 1,6-14 Beispiele mrdie Abkehr von Paulus und der Treue zu ihm 1,15-18 Aufforderung zu unerschrockener Weitergabe des Glaubens 2,1-7 Erinnerung an die Verheißung des Evangeliums 2,8-13
Die Gefährdung durch die Falschlehre 2.14-3.9 Die nötige Abgrenzung von der Falschlehre 2,14-21 Zum Umgang mit den "Abgeirrten" 2,22-26 Die Falschlehrer: endzeitliche und heilsgeschichtliche Einordnung3,1-9
Der Dienst der Gemeindeleitung angesichts der Gefährdung durch Falschlehrer 3.10-4.8 Das Gemeindeleiterideal: orientiert an Paulus und den Schriften 3,10-17 Mahnung zu treuem Dienst als "Ietzter Wille" des Paulus 4,1-8
454 Briefschluss 4,9-22
D. Die Briefe - Deuteropaulinen Aufträge und Mitteilungen 4,9-18 Grüße, Mitteilungen, Erinnerung an den Auftrag, zu Paulus zu kommen 4,19-21 Gnadenwunsch 4,22
1.4 Die Pastoralbriefe als "Erzählung"
Wenn die drei Briefe von vornherein als Korpus angelegt sind, kann man fragen, ob sich bei fortlaufender Lektüre eine Geschichte zu erkennen gibt. Dass die Briefabfolge einen zumindest rudimentären Handlungsfaden konstruiert, lässt sich vermuten aufgrund der zahlreichen Namensnennungen und persönlichen Angaben (vor allem in den Schlussteilen von Tit und 2 Tim). Gewöhnlich werden diese Passagen als Versuch gelesen, durch Nachahmung des pln Briefschlusses den Anschein von Echtheit zu erwecken. Es steckt aber mehr in jenen Notizen, wie sich auch aus Berührungspunkten der Past mit dem antiken Briefroman ergibt (- 2.3c). a) Dies lässt sich am Bild zeigen, das die Past vom Wirken des Paulus zeichnen. Er erscheint als Verkünder, Apostel und Lehrer, der zur Erfüllung dieser Aufgabe den Mittelmeerraum von Osten (Ephesus: I Tim 1,3) nach Westen (Nikopolis: Tit 3,12; schließlich Rom: 2 Tim 1,17) durchzieht und außerdem durch die Briefe an seine Mitarbeiter rur die rechte Ordnung sorgt. Offensichtlich soll das Briefkorpus einen umfassenden Anspruch zum Ausdruck bringen. b) Im Verhältnis des" Paulus" zu namentlich genannten Gegnern ergibt sich bei fortlaufender Lektüre eine Entwicklung vom ersten zum zweiten Timotheusbrief. Was zunächst nur knapp benannt wird, die Verbindung der Falschlehre mit bestimmten Personen (Hymenaios und Alexander, 1 Tim 1,20), wird später in zwei Richtungen entfaltet: zum einen inhaltlich, indem Hymenaios mit einem zurückzuweisenden Satz zitiert wird (2 Tim 2,17f.); zum anderen personal, indem Alexander als Gegner erscheint, der dem Apostel "viel Böses angetan hat" (4,14). Zugleich lässt sich eine "Geschichte" des Verhältnisses zwischen "Paulus" und den beiden Gegnern erkennen. Sollten sie nach 1 Tim I,20 dazu gebracht werden, nicht mehr zu lästern, so erscheint dieses Ziel nach 2 Tim nicht erreicht. Auf diese Weise wird die Gefahr der Entfernung von der pln Tradition inszeniert. c) Auch im Verhältnis zu den Mitarbeitern kann man die Past als Erzählung lesen. Nach Tit 3,12 befindet sich Tychikus in Nikopolis, und "Paulus" erwägt, ihn nach Kreta zu schicken. Folgt man 2 Tim 4,12, wurde dieser Mitarbeiter nach Ephesus gesandt. "Paulus" hat also Mitarbeiter um sich, die er zu unterschiedlichen Zwecken einsetzen kann. Die Differenz zwischen Planung und Ausführung lässt das Bild von Dynamik in der Missionsarbeit des Apostels entstehen. Er ist damit beschäftigt, auf die Situation an den verschiedenen Orten zu reagieren.
D.XIII. Die Pastoralbriefe (I Tim12 Timffit) (Gerd Häfuer)
455
2. Entstehung 2.1 Quellen und Traditionen
a) Die Nähe zur pln Tradition zeigt sich nicht nur in der Wahl des fiktiven Verfassers, sondern auch (bei aller sachlichen Differenz, --+ 2.4) in Bezügen auf Theologie und Selbstverständnis des Apostels. Welche Briefe der Verfasser der Past gekannt und benutzt hat, ist umstritten. Gewöhnlich gelten Röm und I Kor als die sichersten Kandidaten (vgl. z. B. I Tim 1,81Röm 7,12.16; I Tim 2,71Röm 9,1; 2 Tim 1,71Röm 8,15; Tit 1,1-4/Röm 1,1-7; 2 Tim 1,2/1 Kor 4,17; I Tim 1,20/1 Kor 5,5); aufPhlm oder Kol scheinen Namensangaben zurückzugreifen (2 Tim 4,lOf.lPhlm 24; Ko14, 10.14). Wer der These zustimmt, die Past seien im Zuge der Neuedition des Corpus Paulinum herausgegeben worden (vgl. P. TRUMMER, Corpus; A. MERZ210f.), geht von der Kenntnis der ganzen Paulusbriefsammlung aus. Eine solche Kenntnis bedeutet aber nicht, dass die Sammlung als Quelle benutzt worden wäre. Der Verfasser der Past schöpft vor allem aus der lebendigen Paulusüberlieferung, die er eigenständig bearbeitet. Nur in der Gestaltung des Briefformu lars orientiert er sich recht stark an den literarischen Vorgaben.
b) Jesusüberlieferung spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle, und in keinem Fall wird Jesus als Sprecher eines Wortes vorgestellt. Es ist der Briefabsender, der sich über die Sendung Christi zur Rettung der Sünder äußert (I Tim 1,15; vgl. Lk 19,10), zur Selbsthingabe Jesu als Lösegeld (I Tim 2,6; vgl. Mk 10,45 par) und zum Verleugnen Jesu und dem daraus folgenden Verleugnetwerden (2 Tim 2,12b; vgl. Lk 12,9 par). Die mögliche Anspielung auf das Vaterunser (2 Tim 4,18; vgl. Mt 6,13) wird ebenfalls nicht kenntlich gemacht als Bezug auf das Gebet des Herrn. Knapp wird der Prozess Jesu wachgerufen (1 Tim 6,13). Umstritten ist die Beurteilung des Schriftzitats in I Tim 5,18, das in der zweiten Hälfte mit Lk 10,7b übereinstimmt ("der Arbeiter ist seines Lohnes wert"). Eine Kenntnis des LkEv oder der Logienquelle Q lässt sich aus diesem Spruch nicht ableiten (vgl. G. HÄFNER 192.201-203). Die Verbindung zur Apostelgeschichte wird von manchen Autoren als so eng angesehen, dass sie dem Verfasser des lukanischen Doppelwerks auch die Past zuschreiben (vgl. z. B. S. G. WILSON) - ein Urteil, das allerdings keine breitere Zustimmung gefunden hat. Es ist überhaupt fraglich, ob die Past auf die Apg zurückgreifen, da auch Widersprüche zwischen beiden Werken bestehen (vgl. J. ROLOFF 40).
c) Für die Past kennzeichnend ist der reiche Einsatz von Traditionsstücken, die verschiedenen Gattungen zuzuordnen sind. Aus der liturgischen Überlieferung finden sich Bekenntnis (I Tim 2,5f.), Doxologie (I Tim 1,17; 6,15f.) und Hymnus (I Tim 3,16). Katechetisches Gut dürfte in 2 Tim 2,11-13 verarbeitet sein, vielleicht auch in Tit 3,4-7. Paränetisches Material begegnet in Pflichtenkatalogen (I Tim 3,1-7.8-13; Tit 1,6-9; auch in I Tim 5,3-16), in Haustafeln (1 Tim 2,8-15; 6,lf.; Tit 2,2-10) sowie in Tugend- und Lasterkatalogen
456
D. Die Briefe - Deuteropaulinen
(1 Tim 1,9f.; 6,11; 2 Tim 3,2-4.10; Tit 2,2.5; 3,3). Dabei werden vor allem
Vorgaben aus der hellenistischen Umwelt rezipiert - ein für die Past insgesamt charakteristischer Zug. Er zeigt sich besonders in der Aufnahme von Traditionen für die Gemeindeparänese (vgl. A. MALHERBE); auch die theologische Begriftlichkeit ist stark hel1enistisch geprägt (-+ 2.4e; 3.4). 2.2 Die Komposition eines Briejkorpus a) Dass die beiden Timotheusbriefe und der Titusbrief ein zusammengehörendes Korpus bilden, kann als Mehrheitsmeinung kritischer Forschung bezeichnet werden. Unbestritten ist dieses Urteil nicht. Zwar wird die "Korpus-These" auch im Rahmen der Annahme pseudepigraphischer Abfassung in Zweifel gezogen (W. R. RICHARDS), verstärkt geschieht dies aber bei Autoren, die die Echtheit der Briefe verteidigen (vgl. z. B. L. T. JOHNSON 63f.89f., R. FUCHS, P. H. TOWNER 88f.; 1. HERZER 1278f. hält nur 1 Tim für eindeutig pseudepigraphisch). Hingewiesen wird auf den individuellen Charakter der einzelnen Briefe, die keineswegs durchweg als Kirchenordnungen zu bezeichnen seien. Besonders für 2 Tim wird eine Sonderstellung herausgearbeitet (M. PRIOR 6167, J. MURPHY O'CONNOR). Gegen diese Einwände lassen sich aber gute Gründe für die Zusammengehörigkeit der Briefe anführen. In inhaltlicher Hinsicht sind die drei Briefe durch drei markante Merkmale miteinander verbunden. (1) Jeder Brief richtet sich an einen Mitarbeiter des Paulus, der im Präskript mit "Kind" angesprochen wird. Was diesen Mitarbeitern gesagt wird, betrifft die Gestaltung des Gemeindelebens (I Tim 3,14f.; 5,3-16.17-22ffit 1,5-912 Tim 2,2). (2) Die Briefempfänger sind zu Idealbildern des Gemeindeleiters stilisiert; die Aufgabenbeschreibungen zwischen Adressaten und Gemeindeleitern überschneiden sich (~ 2.5). Dies gilt auch für 2 Tim: Die Paulus-Nachfolge bleibt nicht beschränkt auf den Apostelschüler (2,2); zweimal öffnet sich der Text auf eine allgemeinere Bezeichnung eines Funktionsträgers (2,24; 3,17); und in 4,2-5 werden Aufforderungen formuliert, die die Briefsituation übersteigen ("es wird eine Zeit kommen"). (3) In allen drei Briefen spielt, auf vergleichbare Art, die Bekämpfung von Gegnern eine wesentliche Rolle: durch Gegenüberstellung von falscher und "gesunder Lehre", ohne dass inhaltliche Kriterien für die Unterscheidung gegeben werden. In sprachlicher Hinsicht bieten die drei Briefe auffallende Gemeinsamkeiten, wenn man sie mit den übrigen Paulusbriefen vergleicht. Nur in I Tim, 2 Tim und Tit finden sich folgende Wörter und Wendungen: das Wortfeld "gesund sein" im übertragenen Sinn; die 1TLa'[o~-o-A6yo~-Formel ("zuverlässig ist das Wort"); Ell[yvwaL~ aA1'\SE[~ (Erkenntnis der Wahrheit); WCPEALj.LO~ (nützlich), f{JOEßELa (Frömmigkeit); '1'\t~aEL~ (Streitigkeiten, immer im Plural); llapaLtEoj.LClL (zurückweisen, immer Imp. Singular); j.LÜSOL (Mythen, immer im Plural, zur Bezeichnung der gegnerischen Position); apVEOj.LClL (verleugnen).
D.XIII. Die Pastoralbriefe (I Tim/2 TimITit) (Gerd Häfner)
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Diese gemeinsamen Merkmale sprechen für einen Zusammenhang zwischen den drei Briefen. Dass dieser Zusammenhang als ursprüngliche Zusammengehörigkeit zu verstehen ist, legt sich aus zwei Gründen nahe. (I) Es gibt Aussagen, die erst im Rahmen der anderen Briefe verständlich werden. (a) Das Gegnerporträt in 2 Tim ist für sich betrachtet schwierig. Warum wird ausgerechnet der Satz von der Gegenwärtigkeit der Auferstehung als Inhalt der Falschlehre angegeben, die in einem anderen Paulusbrief als Aussage des Apostels erscheint (Kol 2, 12f.; ---+ 3.1)? (b) Der Erfolg der Gegner bei Frauen (2 Tim 3,6f.) wird im Rahmen dieses Briefes nicht einsichtig, wohl aber durch den Blick auf I Tim (und Tit): Die Gegner vertreten eine Frauenrolle jenseits ihrer Funktion in Haus und Familie (I Tim 4,3f.; dagegen I Tim 2,11-15; Tit 2,3-5). (c) Aus Tit allein wird kaum klar, warum das in 2,1-15 Ausgeführte als Entfaltung der "gesunden Lehre" einen Gegensatz zur bekämpften Position darstellen soll. Im Vorteil ist, wer I Tim gelesen hat und im Blick auf die Rolle von Frauen (s.o.) und Sklaven (I Tim 6,lf.) von den gegensätzlichen Auffassungen weiß. (d) Der seltsame Übergang von den Presbytern zum Episkopos in Tit 1,6f. wird bei Kenntnis von I Tim und seinem Interesse am Episkopenamt verständlicher. (2) Die obige Skizze der Past als "Erzählung" (---+ 1.4) hat gezeigt, dass es zwischen den Briefen Verbindungen gibt, die auf eine fortschreitende Lektüre . verweisen. Wenn sich eine zumindest rudimentäre Geschichte zu erkennen gibt, ist angesichts der sonstigen, bislang aufgezeigten Zusammenhänge die Annahme begründet, dass diese Geschichte nicht erst in der Rezeption der Briefe als Korpus entsteht, sondern schon bei der Produktion der Schreiben eine RoIIe gespielt hat. Darauf kann außerdem auch das Fehlen eines eigentlichen Briefschlusses in I Tim hinweisen. Dieses ist besonders auffällig, weil der Absender (nach der Brieffiktion) zum Adressaten kommen wiII (3,14f.). Erklärlich ist die genannte Besonderheit, wenn die Fiktion von vornherein auf die Forstsetzung in 2 Tim angelegt ist; aIIe in I Tim mitgeteilten Pläne (typisches Merkmal von Briefschlüssen) wären überholt durch den folgenden Brief. b) Wenn die Past als Einheit konzipielt wurden, ist die Reihenfolge der Schreiben nicht nebensächlich. Da 2 Tim eindeutig als Abschiedsbrief angesichts des umriittelbar bevorstehenden Todes gestaltet ist, steht seine SchlussSteIlung im Korpus außer Frage. Nicht eindeutig ist dagegen, ob Tit oder I Tim am Beginn der Sammlung stand. Für die erste Möglichkeit wird das ausführliche Präskript in Tit 1,1-4 angefühlt: Es solle nicht nur diesen Brief, sondern die ganze Sammlung eröffnen (J. D. QUINN, AncB 35, 7; R. 1. PERVO 36; H.-J. KLAUCK 244). Zusätzliches Gewicht scheint diese Beobachtung durch die Entsprechung am Ende der Sammlung zu erhalten, denn in 2 Tim findet sich der ausführlichste Briefschluss. Setzt man aber nicht das Präskript in Beziehung zum Briefschluss, sondern - formal passender, da das Pendant zum Präskript nur das Postskript ist - die ganze Brieferöffnung, ergibt sich ein anderes Bild. Dann entspricht dem ausgestalteten Schluss der ganzen Samm-
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
lung (2 Tim 4,9-22) der breite Eingangsteil von I Tim (1,1-20). Außerdem ist, wie oben vennerkt, Tit besser zu verstehen, wenn zuvor 1 Tim gelesen wurde.
2.3 Gattungsfragen
a) Im Blick auf die Gattung sind 1 Tim und Tit gemeinsam und abgesetzt von 2 Tim zu behandeln. Mit Recht hat der Vorschlag breite Zustimmung gefunden, den M. Wolter mit Rückgriff auf Ansätze bei C. Spicq und B. Fiore in die Diskussion eingebracht hat. Beide Schreiben lassen sich demzufolge "geschlossen verstehen als briefliche Instruktionen an weisungsbefugte Amtsund Mandatsträger durch ihren Mandanten" (M. WOLTER 196). Die vorhandenen Gattungsparallelen zu I Tim und Tit (vgl. ebd. 157-174) erklären nicht nur die lokale (1 Tim 1,3; Tit 1,5) und zeitliche Begrenzung (l Tim 3,14; 4,13; Tit 3,12) des erteilten Auftrags, sondern auch, und wichtiger noch, die dreigliedrige Kommunikation im Rahmen eines Autoritätsgefälles: Der Absender schreibt an einen Weisungsempfänger, der in seinem Verantwortungsbereich die Weisungen durchsetZen soll. Ordnet man I Tim und Tit der genannten Gattung der brieflichen Instruktion zu, so ist überdies die Differenzierung zwischen Briefadressat und Amtsträger besser zu verstehen (--+ 2.5). b) 2 Tim gehört einer anderen Gattung an und kann als "testamentarisches Mahnschreiben in Form eines Freundschaftsbriefs" verstanden werden (A. WEISER, Freundschaftsbrief 169). Die Elemente des antiken Freundschaftsbriefos zeigen sich vor allem im Proömium (1,3-5), doch auch sonst wird die Gemeinschaft zwischen Absender und Adressat besonders betont (vgl. A. WEISER, EKK XVIII, 30.33f.). Daneben finden sich Topoi, die dem literarischen Testament zuzuordnen sind: Der Brief erscheint als letzte Mahnung einer unumstrittenen Autorität der Vergangenheit kurz vor deren Tod, womit die Mahnung an Bedeutung gewinnt (4,6-8); der in den Tod Gehende wird als Vorbild dargestellt (l,8.llf.; 4,7); das von der Vergangenheit her Überlieferte soll an künftige Generationen weitergegeben werden (2,2; 1,3.5); vor den in der Zukunft drohenden Gefahren wird gewarnt (3,1-7; 4,1-4) - vor eben jenen Gefahren, die die Gegenwart des tatsächlichen Autors bestimmen (vgl. zu den testamentarischen Elementen M. WOLTER 226-235 sowie den Überblick bei A. WEISER, EKK XVIIl, 38f.). c) Der Abschluss eines Briefkorpus durch einen Abschiedsbrief ist auch in der Chion von Heraklea zugeschriebenen Briefsammlung zu finden, die man als Briefroman einordnen kann (vgl. N. HOLZBERG, Briefroman 28-32; H.-J. KLAUCK 99). Für die Past trifft diese Klassifizierung nur eingeschränkt zu, doch kann man zumindest Elemente des Briefromans in der Sammlung entdecken. Die obige Betrachtung hat gezeigt, dass die drei Briefe auch als fortlaufende Erzählung gelesen werden können, und Charakteristika des Briefromans lassen sich auch in den Past wiederfinden: pseudonyme Abfassung,
o.xm. Die Pastoralbriefe (I Tim/2 TimITit) (Gerd Häfner)
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Schaffung eines geschichtlichen Rahmens, Aussagen über den Charakter benannter Personen, moralerzieherische Zielsetzung (vgl. zu den Merkmalen des Briefromans R. I. PERVO 29f.). Unabhängig von der Frage eines "erzählenden" Charakters kann man für die Past als Korpus auf pseudepigraphe Briefsammlungen in der griechisch-römischen Literatur als Parallele verweisen. Solche Sammlungen von Briefen, die mit paränetischer Absicht im Namen eines bekannten Lehrers aus der Vergangenheit geschrieben wurden, sind ab dem I. Jh. v. Chr. nachweisbar und auch noch im 2. Jh. n. Chr. verbreitet (vgl. J. SYKUTRIS, in: PRE.S V 211).
2.4 Verfasser Nachdem F. Schleiermacher im Jahr 1807 wirkungsvoll die Authentizität von I Tim bestritten hatte, war es in erster Linie die Untersuchung von H. J. Holtzmann (1880), die der These vom pseudepigraphen Charakter aller drei Briefe zum Durchbruch verhalf. Zwar herrscht heute in der kritischen Forschung diese Einschätzung eindeutig vor, doch fehlt es gerade in jüngerer Zeit auch nicht an Bestreitungen. Diese können aber den etablierten Konsens nicht erschüttern. Auf fünf verschiedenen Feldern lassen sich Differenzen zu den unumstritten echten Paulusbriefen ausmachen - Differenzen von solchem Ausmaß, dass die Past aus einer späteren Zeit stammen müssen. a) Biographische Daten: Am wenigsten tragen zu diesem Urteil Nachrichten über Paulus und seine Mitarbeiter bei, die nicht zu vereinbaren sind mit der Chronologie, wie sie aus den unumstritten echten Briefen und der Apg bekannt ist (vgl. z. B. I Tim 1,3/Apg 20,4f.; Tit 1,5/Apg 27,7-13). Aufgrund der Lückenhaftigkeit unserer Kenntnis zum Wirken des Paulus können die Eigenheiten der biographischen Notizen in den Past für sich genommen keinen Zweifel an der Autorschaft des Paulus begründen. Ihnen kann nur im Verbund mit anderen Beobachtungen ein begrenzter argumentativer Wert zugestanden werden. b) Sprache und Stil: Dass in der Sprache, vor allem im verwendeten Vokabular, markante Unterschiede zu den übrigen Paulusbriefen bestehen, steht kaum zur Debatte. Die Bewertung dieser Differenzen aber ist umstritten. Eine Argumentationslinie ist rein statistisch ausgerichtet und stützt sich auf das Sondervokabular. Der Anteil von Wörtern, die ausschließlich in einem Brief oder dem Briefkorpus vorkommen, sei, so das Argument, in den Past sehr viel höher als in den unumstritten echten Paulusbriefen (p. N. HARRISON; K. GRAYSTON/G. HERDAN). Die erhobenen Werte hängen allerdings von der Zusammenstellung der Briefe ab. Ein signifikant hohes Sondervokabular ergibt sich für die Past nur, wenn man diese als Gruppe mit einzelnen Briefen vergleicht (vgl. T. A. ROBINSON). Mit rein statistischen Mitteln ist der unpaulinische Charakter der Sprache also nicht zu erweisen.
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Wie soll man aber die sprachlichen Differenzen, die ja als solche nicht zu bestreiten sind, erklären, wenn die Briefe von Paulus stammen? Ein Zusammenhang von Situation und sprachlicher Gestaltung lässt sich nicht erweisen (gegen L. T. JOHNSON 60.71) - weder im Blick auf die bekämpfte gegnerische Position (markante Begriffe können nicht auf gegnerische Vorgaben zurückgeführt werden) noch auf die persönliche Lage des Paulus als langjähriger Gefangener (der Zusammenhang bleibt spekulativ) oder die hellenistische Prägung der Adressaten bzw. ihrer "Einsatzgebiete". Eine solche Prägung bestimmt das ganze Missionsgebiet des Paulus, so dass die charakteristischen Eigenarten der Past auf sie nicht zurückgefiihrt werden können. Die Annahme, Paulus habe bei der Abfassung seiner Briefe verschiedene Sekretäre eingesetzt, und diese seien fiir die Differenzen verantwortlich (so wieder W. D. MOUNCE cxxvn--cxxlx), bleibt eine unbeweisbare Vermutung. Die Eigenart von Sprache und Stil der Past lässt sich also nicht durch spezifische Bedingungen erklären, unter denen Paulus sie abgefasst haben soll.
Entscheidend für die Beurteilung des sprachlichen Befundes ist nach den obigen Bemerkungen zur Wortstatistik nicht seine Besonderheit allein, sondern die Tatsache, dass er mit inhaltlichen Eigentümlichkeiten gekoppelt ist, die eine Rückführung auf Paulus ausschließen. Dies gilt fl.ir den Zusammenhang mit der Gegnerbekämpfung (z. B. 'T}t~ouc;/Streitigkeiten; napaLtEof.Lcu/zurückweisen; f.Lü9OL/Mythen) und Gemeindeordnung und -leben (npEoßUtEpoc;/Presbyter; x~pa/Witwe [als Gemeindeamt]; uYLaLvw/gesund sein; EuoEßua/Frömmigkeit u. a. m.), aber auch für theologische Termini. Gerade für die Past grundlegende theologische Begriffe wie OWt~P (Retter), E1TL
D.xlll. Die Pastoralbriefe (I Tim/2 TimlTit) (Gerd Häfner)
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rechten Zustand der Gemeinde Sorge tragen soll. Außerdem ist die Rede von Ämtern, deren Aufgaben sich mit denen der Paulus-Mitarbeiter überschneiden (~ 2.5). In den unumstritten echten Paulusbriefen gibt es diese Funktion von Verantwortlichen nicht, auch nicht in Phil I, I ("Episkopen und Diakone") und Röm 16, I f. (Phoebe als Diakon). Wie auch immer diese Stellen zu verstehen sind, so hat bei Paulus die Gemeinde als ganze dafiir zu sorgen, dass ihr Leben ihrer Existenz in Christus entspricht. Zwar spricht Paulus von Vorstehern (I Thess 5,12) und vom Charisma der Leitung (I Kor 12,28), doch steht diese nur kurz gestreifte Personengruppe der Gemeinde nicht so gegenüber, dass sie fiir Paulus in seinen Briefen zum eigentlichen Ansprechpartner werden könnte. Sie hat weder einen durch das Amt gesicherten Status, noch sieht sie Paulus als verantwortlich fiir das, was in der Gemeinde geschieht. Wenn er Autoritätsfiguren ins Spiel bringt (1 Kor 16,15-18), dann gründet deren Position nicht auf einem Amt, sondern auf persönlicher Autorität ("Erstling der Asia"; ,jeder, der mitwirkt und sich abmüht"). Dies stellt einenfundamentalen strukturellen Unterschied zu den Past dar. e) Theologie: In den Past zeigen sich zum einen erhebliche Verschiebungen in der theologischen Begriff1ichkeit, zum anderen ist auch eine gegenüber Paulus andere eschatologische Perspektive zu konstatieren. Von Naherwartung und eschatologischer Spannung ist in den Past nichts zu spüren, obwohl die Erwartung der Wiederkunft Christi deutlich bezeugt wird (I Tim 6,14; 2 Tim 4, I; Tit 2,13). Eine eschatologisch motivierte Distanz zur Welt (wie in I Kor 7,29-31) gibt es nicht. Man richtet sich ein in dieser Welt und entwickelt ein nicht nur rückwärts, sondern auch vorwälts gerichtetes Traditionsdenken, das die Weitergabe an künftige Generationen im Blick hat (2 Tim 2,2; auch I Tim 5,22; Tit 2,3-5). Die terminologischen Verschiebungen äußern sich auf verschiedene Weise. (I) Paulinische Begriffe werden aufgegriffen, aber anders verwendet. Die Rede vom Gesetz (vojJo,) ist abgekoppelt von der Frage nach seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung. Von der Gerechtigkeit (öLKaLOOUVT\) sprechen die Past im Sinne von Rechtschaffenheit (I Tim 6,11; Tit 3,5). Der Glaube (lTLOtL,) erscheint nicht als Gegensatz zu Gesetzeswerken, sondern wird vor allem verstanden als "Rechtgläubigkeit" und wie "Gerechtigkeit" mit Tugenden zusammengestellt (weitere Beispiele für Verschiebwlgen: Gebrauch von "Charisma" und die Wendung "in Christus"). (2) Zentrale Begriffe des Paulus fehlen, obwohl sie von der Thematik der Past her zu erwarten wären. Angesichts des starken Gewichts, das den Fragen von Ekklesiologie und Gemeindeleben zukommt, ist das Fehlen des Leib-Christi-Begrif!s rur die Verfasserfrage auswertbar. Gegen asketische Forderungen (I Tim 4,3) und die Bindung an "Genealogien und das Gesetz betreffende Streitigkeiten" (Tit 3,9) hätte Paulus wohl mit dem Verlust der in Christus gewonnenen Freiheit argumentiert. (3) Neue Begriffe rücken ins Zentrum des theologischen Denkens. Die ,,(gesunde) Lehre" (uYLaLvouoa öLöaoKaHa) und das "überlieferte Gut" (lTapa6~KT\) kennzeichnen das Traditionsdenken der Past. Die Sorge um die rechte Lebensfiihrung drückt sich in anderen Begriffen aus: Frömmigkeit (EuoEj3ELa), gute Werke (ipya KaW&.ya6a.), reines Gewissen (OUVElÖT\OL, Ka6apa.). In der Theologie und Christologie werden "Retter" (owt~p) und "Erscheinung" (E1TLcj>a.VELa) zu tragenden Begriffen (..... 3.4).
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Als Fazit der Überlegungen ergibt sich: Die Past sind ein pseudepigraphisches Werk und reagieren auf Probleme von Gemeinden in nach-pln Zeit. 2.5 Adressaten
Aus dem Ergebnis des vorigen Abschnitts folgt: Timotheus und Titus sind nur auf der literarischen Ebene die Empfanger, nicht aber auf der historischen. Die Frage nach den Adressaten wird zur Frage nach der Bedeutung der Adressatenfiktion. Warum wählt der Autor dieser Briefe nicht Gemeinden als Empfanger (wie in Kol und Eph), sondern Einzelpersonen? Eine Antwort lässt sich in zwei Dimensionen entfalten. (1) Als Apostelschüler garantieren Timotheus und Titus die unverfälschte Weitergabe des Evangeliums von Paulus her; sie stehen als Bindeglied zwischen der Zeit des Paulus und der Gegenwart der Past (vgl. 2 Tim 2,2). Der Verfasser verlängert sozusagen literarisch die Aufgabe der historischen Paulus-Begleiter Timotheus und Titus als Vertreter des Apostels in den Gemeinden (z. B. 1 Kor 4,17; 2 Kor 8,16f.). Sie handeln im Auftrag des Paulus und fllhren sein Werk weiter (I Tim 1,3f.; vgl. 1,18-20; Tit 1,5). (2) Die Briefadressaten werden auch durchsichtig ftlr die besonderen Anforderungen, die der Autor der Briefe in seiner Zeit sieht. Zwar werden Timotheus und Titus nie als Amtsträger in der Gemeinde angesprochen - das verhindert ihr Charakter als Apostelschüler. Aber was den beiden Briefadressaten ans Herz gelegt wird, ist vor allem an die Gemeindeleiter in der Zeit der Pasl gerichtet. Es gibt nämlich auffallende Parallelen zwischen den Anforderungen an den Gemeindeleiter und den Ermahnungen der Briefadressaten. Sie betreffen die Ausübung der Lehre (z. B. Tit 1,911 Tim 4,11-16), den Einsatz gegen die Falschlehrer (z. B. Tit 1,9/1 Tim 1,3), die vorbildliche Lebensftlhrung (z. B. I Tim 3,2f.ll Tim 6,11), den Ritus der Handauflegung (I Tim 5,22/2 Tim 1,6). 2.6 Zeit und Ort der Abfassung
Meist werden die Past bei Annahme pseudepigraphischer Abfassung um 100 n. ehr. datiert. Für diese Einschätzung wird angeftlhrt: die noch lebendige Paulusüberlieferung; die Gemeindestruktur als Zwischenstadium zwischen Paulus und den Deuteropaulinen einerseits, Ignatius und Polykarp andererseits; die bekämpfte Lehre als Frühform der Gnosis; die Aufnahme der Briefe in ein kirchlich akzeptiertes Korpus von Paulusbriefen; die Benutzung der Past durch Polykarp; die Fiktion, das von Paulus Gesagte solle über seinen Schüler an Gemeindeverantwortliche weitergegeben werden, die auf Adressaten in der dritten christlichen Generation weist (vgl. im Einzelnen J. ROLOFF 45f.; A. LINDEMANN 222f.; zu den Problemen der Datierung A. MERZ 72-86). Diese Argumente schließen eine frühere Ansetzung als die Jahrhundertwende aus, nicht aber eine spätere.
D.XIll. Die Pastoralbriefe (1 Tim12 Timffit) (Gerd Häfner)
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Recht vage bleibt der Bezug auf die "Iebendige Gemeindetradition" oder die Frühform von Gnosis, die wohl vor allem deshalb als Frühform bestimmt wird, weil sonst die Ansetzung um 100 schwierig würde. Auch die Formung des Corpus Paulinum bietet keinen sicheren Anhaltspunkt. Die Entwicklung zum Monepiskopat, auf den hin die Past unterwegs sind, kann nur durch die Ignatiusbriefe im Sinne eines terminus ante quem datiert werden, doch ist der Zeitpunkt ihrer Abfassung umstritten. Dass Polykarp, der das Amt des Episkopos nicht erwähnt, auf die Past zurückgreift, ist (trotz A. MERZ 114-140) nicht sicher. Das Argument aus der Generationenfolge bleibt zwiespältig, da nach 2 Tim 1,5 der Apostelschüler bereits zur dritten Generation der Gläubigen gehört. Es scheint nicht ausgeschlossen, die Past später als heute allgemein üblich anzusetzen. Immerhin ist eine sichere Rezeption in altkirchlicher Literatur erst im letzten Viertel des 2. Jh. nachweisbar. Wenn die Past "in die zeitliche, räumliche und geistige Nähe Polykarps" gehören (P. VIELHAUER 237, im Anschluss an Beobachtungen H. von Campenhausens), käme man in die 30er oder 40er Jahre des 2. Jh. Eine solche Spätdatierung kommt auch mit der Warnung vor der "fälschlich so genannten Gnosis" in I Tim 6,20 besser zurecht, denn man müsste nicht mehr auf eine Frühform der Gnosis rekurrieren, die zwar nicht unmöglich ist, aber doch nur postuliert werden kann. Auch der theologisch pointierte Gebrauch von EOOE~ELa (Frömmigkeit) verweist eher in die Mitte des 2. Jh. (vgl. A. STANDHARTINGER 80). Die Datierung um 100 ist also nicht so gesichert, wie dies durch die "Mehrheitsverhältnisse" nahe gelegt wird. Auch eine spätere Ansetzung (um 140) ist möglich. In der Diskussion um den Abfassungsort stehen sich im Wesentlichen zwei Vorschläge gegenüber: Kleinasien bzw. Ephesus und Rom. Für die Reichshauptstadt ließen sich vor allem Berührungspunkte zum I. Klemensbrief anführen, der in Rom entstanden ist. Diese Parallelen (Amtsverständnis, Zurückdrängung von Frauen, positives Verhältnis zum Staat) sind jedoch kaum so spezifisch, dass sie für den Abfassungsort auszuwerten sind. Deshalb dürfte im Ganzen mehr für Kleinasien sprechen. Ephesus wird recht häufig genannt (1 Tim 1,3; 2 Tim 1,18; 4,12), auch die Provinz Asia (2 Tim 1,15); der Adressat der Timotheusbriefe hält sich der Fiktion zufolge in Ephesus auf, und der in 2 Tim 4,12; Tit 3,12 erwähnte Tychikus ist auch sonst mit Kleinasien und Ephesus verbunden (Apg 20,4; Eph 6,2 I; Kol 4,7). Außerdem weist die Rezeptionsgeschichte der Past in diesen Raum.
3. Diskurs
3.1 Polemik gegen Opponenten Versucht man die von den Past bekämpfte Position religionsgeschichtlich einzuordnen, so werden meist zwei Größen ins Spiel gebracht. Judenchristliche Elemente zeigen sich, wenn die Gegner als Gesetzeslehrer bezeichnet werden (I Tim 1,7). Außerdem erkennt der Autor der Past unter
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
den Angegriffenen auch "solche aus der Beschneidung" (Tit I, I 0) und kennzeichnet ihre Position durch ,jüdische Fabeln und Gebote von Menschen" (Tit 1,14). Schließlich warnt er vor Streitigkeiten um das Gesetz (Tit 3,9). Dass die gegnerische Position jüdische Einflüsse aufweist, wird deshalb überwiegend angenommen. Nicht ganz so einheitlich ist die Forschungsmeinung, wenn es um die Gnosis geht. Für einen gnostischen Charakter der bekämpften Lehre sprechen verschiedene Hinweise. (I) Der stärkste begegnet in I Tim 6,20. Dort wird gesprochen von den "Antithesen (Gegensatzsprüchen) der fälschlich so genannten Erkenntnis" (YVWOLC;). Die Formulierung belegt, dass der Anspruch der Gegner, über Erkenntnis zu verfügen, als Besonderheit der bekämpften Gruppe auszumachen ist. (2) Auch die Aussage, die Auferstehung sei schon geschehen (2 Tim 2,18), ist am besten in gnostischen Kontext einzuordnen. Es muss etwas anderes gemeint sein als eine Aussage über die Gegenwärtigkeit der Auferstehung, wie sie im Kol und im Eph formuliert ist (vgl. Kol 2,12f.; Eph 2,4-6; 5,14), da diese im pln Traditionszusammenhang kaum kontrovers gewesen sein dürfte. Hinter dem "Auferstehungsmodell" der Gegner steht also ein neues Paradigma, wie es aus gnostischen Zeugnissen bekannt ist (vgl. z. B. NHC 11 3 [PhilEv] 63c; 90a; NHC I 4 [Rheginus-Brief] p. 49; Irenäus, Haer 11 31,2). (3) Die asketischen Forderungen (I Tim 4,3f.) lassen sich am besten erklären, wenn man auch gnostische Tendenzen einschließt. Das Heiratsverbot lässt sich nicht aufjudenchristliche Einflüsse zurückführen. (4) Die bekämpfte Position war für Frauen attraktiv (2 Tim 3,6f.). Auch dies deutet in Richtung Gnosis. In gnostischen Gemeinden konnten Frauen leitende Positionen einnehmen; dort bot sich ihnen die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme an der Lehre. Die judenchristlichen und gnostischen Tendenzen gehören zu einer gegnerischen Front. Hinweise auf mehrere Gruppen gibt es nicht. In den kritisierten "Mythen und Geschlechtsregistern" sind zudem judenchristliche und gnostische Elemente wohl miteinander verbunden, denn: Einerseits werden diese Mythen in die Nähe jüdischer Traditionen gerückt (Tit 1,14; 3,9; vgl. auch I Tim 1,4.7); andererseits lässt sich die Anstößigkeit der Mythen aus diesen Traditionen allein nicht erklären. In der Gnosis begegnet ein Zusammenhang, in dem Mythen, Geschlechtsregister und Gesetz miteinander verbunden sind, wenigstens in sachlichem Sinn als Spekulationen über Archonten- und Äonenreihen, die auf die Urgeschichte und Geschlechtsregister der Genesis zurückgreifen. Dies könnte der Ansatzpunkt für die Polemik in den Past sein (Näheres bei G. HÄFNER 34-41). Die Grenze zu den Gegnern wird scharf gezogen: zum einen durch den Einsatz von Stereotypen der Ketzer-Polemik, die die Gegenseite pauschal abqualifiziert und so die Abwendung der Adressaten von dieser Gruppe befördern will (I Tim 1,4.6f.9f.; 4,lf.7f.; 6,3-5.20f.; 2 Tim 2,16-18; 3,1-5.13; 4,3f.; Tit 1,10-16; 3,9); zum anderen wird auch ausdrücklich das Streiten mit den Gegnern untersagt (2 Tim 2,14.23f.; Tit 3,9) und gefordert, sie abzuweisen (I Tim 4,7; Tit 3, I 0; auch 2 Tim 3,5). Dies bedeutet aber nicht, dass jeglicher Kontakt
D.XII\. Die Pastoralbriefe (I Tim/2 TimlTit) (Gerd Häfner)
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zu den Gegnern zu vermeiden wäre. Denn an mehreren Stellen wird die "Rückgewinnung" als Anliegen erkennbar (2 Tim 2,24f.; auch 3,16; I Tim 1,20; Tit 1,13). Die Schärfe des Konflikts rührt wohl daher, dass im seI ben Umfeld um Einfluss gekämpft wird. Der Autor der Past beansprucht die Autorität des Paulus für seine Seite. Durch die Schaffung eines pseudepigraphischen Briefkorpus drückt er die Überzeugung aus, die Tradition zu repräsentieren, die sich in Wahrheit aufPaulus berufen kann. 3.2 Neuordnung der Gemeinde a) Die Past bieten im Vergleich zu Paulus eine neue ekklesiologische Leitmetapher: nicht mehr "Leib Christi", sondern "Haus Gottes". Und wie sich bei Paulus die Vorstellung von der Kirche als Leib Christi in Analogie zum menschlichen Leib konkretisiert (I Kor 12), so besteht auch in den Past ein innerer Zusammenhang zwischen ekklesiologischer Leitmetapher und der Vorstellung von der Gemeindeordnung: Kirche als "Haus Gottes" ist von den zeitgenössischen Vorstellungen des "Hauses" bestimmt. Ihnen zufolge wird das "Haus" (oi KOS", oikos) konstituiert durch einen bestimmten Personenkreis und Besitz, ist also Sozial- und Wirtschaftsform. Die Beziehungen der in einem Haus zusammenlebenden Personen werden aus der Perspektive des Hausherrn wahrgenommen. Bestimmend ist eine Struktur von Über- und Unterordnung: Dem pater familias wird in der ökonomischen Literatur gesagt, wie er sich Frau, Kindern und Sklaven gegeniiber verhalten soll. Die Wirkbereiche von Frauen und Männern sind aufgeteilt: Der Mann arbeitet außerhalb des Hauses und bringt ins Haus, was er erwirtschaftet; der Ort der Frau ist innerhalb des Hauses. Auch wenn diese Aufteilung als Oberschicht-Ideal zu kennzeichnen ist, weist ihre dauerhafte Präsenz in der Fachliteratur darauf hin, dass sie der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht grundsätzlich widerspricht. Dabei kann aber durchaus gegen eine ungehemmt autoritäre MachtausObung des pater familias Stellung bezogen werden (vgl. Columella, Rust XII praef. 7f.; Xenophon, Oec VII 42; Plutarch, Praec Coniug 33, 142E).
Aus der Orientierung am Haus ergeben sich zwei für das Gemeindeleben wichtige Konsequenzen: Von grundsätzlicher Bedeutung ist jetzt eine hierarchische Struktur; konkret-inhaltlich wird sie gefüllt mit Rollenzuschreibungen aus dem antiken Hauswesen. b) Die Struktur von Über- und Unterordnung prägt schon die Briefgattung von I Tim und Tit ("briefliche Instruktion an weisungsbefugte Amts- und Mandatsträger": M. WOLTER 196; -> 2.3a). Diese Anlage hat zur Folge, dass die von den Anordnungen betroffenen Gruppen nicht unmittelbar angesprochen werden; sie kommen vielmehr als Empfanger von Weisungen durch übergeordnete Autoritäten in den Blick. Insofern die Briefadressaten transparent sind für die Amtsträger zur Zeit der Past sollen diejenigen Passagen, die die Autorität von "Timotheus" und "Titus" stärken wollen (I Tim 4,12; Tit 2,15), auch die Anerkennung der Amtsträger unterstützen.
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
Besonders deutlich wird der Zusammenhang von Über- und Unterordnung mit der "HausEkklesiologie" bei der Beschreibung der Anforderungen rur das Amt des Episkopos. Für dieses Amt, das besonders empfohlen wird (I Tim 3, I), kommt nur in Frage, wer seinem eigenen Haus gut vorsteht (3,4). Der Episkopos muss sich also als pater familias bewährt haben, er muss ein Haus leiten können, denn andernfalls ist nicht zu erwarten, dass er rur die Gemeinde sorgen kann (3,5; Tit 1,6).
Die Kompetenzen der drei in den Past genannten Ämter (Episkopos, Presbyter, Diakon) voneinander abzugrenzen ist schwierig. Die Hinweise in den Briefen reichen für solche Definitionen nicht aus. Symptomatisch für diese Fehlanzeige ist die Liste der Anforderungen für das Episkopenamt (I Tim 3,2-7). Außer der Fähigkeit zu Leitung und Lehre werden keine spezifischen Voraussetzungen benannt, sondern Eigenschaften, die über eine alIgemeine Anständigkeit nicht hinausgehen. Der angeschlossene ,,Diakonenspiegef"' (3,8-13) verleiht diesem Amt ebenfalls kein Profil. Aus der Anforderung, nicht doppelzüngig und nicht gewinnsüchtig zu sein (3,8), lässt sich nicht schließen, dass Diakone sozial ausgerichtete Tätigkeiten ausgeübt und deshalb Verfügungsgewalt über gewisse Geldmengen gehabt hätten. Da auch der Episkopos nicht geldgierig sein darf (3,3), sind hier a1lgemein Tugenden aufgezählt, die auf ein positives Erscheinungsbild der christlichen Gemeinde in der Umwelt zielen. Eine Aufteilung in verschiedene Aufgabenbereiche (Episkopos: Lehre; Diakone: Caritas) ist aus diesen Listen nicht zu begründen (vgl. L. OBERLINNER, HThK XI/2,3, 94). Nach 1 Tim 5,17 besteht die Aufgabe der Presbyter in Leitung und Lehre. Der abrupte Wechsel von den Presbytern zum Episkopos in Tit 1,6f. könnte einen Hinweis auf die vom Autor favorisielte Ämterordnung geben. An der Spitze der Gemeinde s01l nach seiner Vorste1lung der eine Episkopos stehen, der wohl aus den Reihen des Presbyteriums kommt (vgl. J. ROLOFF 176). Dieses Ideal könnte auch erklären, warum unter den Ämtern einzig vom Episkopos ausschließlich im Singular die Rede ist. Es passt zudem grundsätzlich zur Vorstellung von der Kirche als "Haus Gottes", das in Analogie zum antiken Haus strukturiert ist (ausführliche Begründung der hier dargestellten Konturen des Episkopenamtes bei J. SCHLOSSER, v. a. 580-591). c) Rollenzuschreibungen, die aus dem antiken Hauswesen übernommen werden, beziehen sich auf geschlechtsspezifische und personrechtliche Merkmale: Es geht um die Rolle von Frauen und Sklaven. Die Sklaven werden zu Unterordnung und treuem Dienst ermahnt (Tit 2,9f.; 1 Tim 6,1), auch für den Fall, dass ihr Herr selbst Christ ist (1 Tim 6,2). Frauen sollen, entsprechend dem Ideal antiker Ökonomik, im Haus und bezogen auf die Familie wirken, und sich den Ehemännern unterordnen (Tit 2,3-5; auch 1 Tim 2,15). Dies schließt eine aktive Beteiligung in der Lehre aus - begründet mit einem einseitig zugespitzten Rückgang auf Schöpfung und Sündenfall (\ Tim 2,11-15). Außerdem zeigt sich das Moment der Zurückdrängung von Frauen aus aktiver Teilhabe an der Gestaltung der Gemeinde im Fall der Witwen. An wenigstens zwei Stellen wird die Orientierung der Weisungen an der "OikosOrdnung" ersichtlich: Frauen, die das Alterskriterium erfüllen (mindestens 60
O.xIII. Die Pastoralbriefe (I Tim/2 Timrrit) (Gerd Häfner)
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Jahre), müssen sich in der üblichen Rolle bewährt haben (1 Tim 5,9f.);jüngere Frauen sollen diese Rolle ausfüllen und sind deshalb nicht in den Witwenstand aufzunehmen (5,14). Dies macht außerdem deutlich, dass der Verfasser den Witwenstand beschneiden will: Das Mindestalter wird hoch angesetzt (5,9); Bedingungen für die Aufnahme werden formuliert (5,9f.); Möglichkeiten, eine Aufnahme zu verweigern, sollen genutzt werden (neben 5,14 auch 5,4.8). Tätigkeiten von Witwen werden nur kurz gestreift (5,5), mit einem negativen Gegenbild der im Luxus lebenden Witwe versehen (5,6) oder polemisch verzerrt wiedergegeben (5,13). Es geht also bei den Regelungen um die Zurückweisung von Führungsansprüchen, die Frauen im Witwenamt erhoben haben eine Rolle, die den Vorstellungen des Verfassers der Briefe widersprach (vgl. zu I Tim 5,3-16 v. a. U. WAGENER). Die Ausführungen beschreiben nicht einen Ist-Zustand, sondern wollen ein bestimmtes Ideal durchsetzen. Dies zeigt auch I Tim 3,11, wo aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von den Frauen der Diakone, sondern von Frauen als Diakoninnen die Rede ist. Der Verfasser kann diese Wirklichkeit nicht einfach übergehen, versteckt sie aber nach Möglichkeit (vgl. dazu J. ROLOFF 164f.; L. OBERLINNER, HThK XI/2,1, 139-142). d) Im Vergleich zu Paulus zeigen sich ganz grundlegende Verschiebungen, sowohl in der Struktur der Gemeinde als auch in der Beteiligung von Frauen an verantwortlicher Mitgestaltung. Zur Frage nach den Gründen für diesen Wandel lassen sich zwei Überlegungen ins Spiel bringen: (I) Die Gemeindestruktur, die den Past vorschwebt, zielt darauf, im gesellschaftlichen Umfeld keinen Anstoß zu erregen. Deshalb wird sehr deutlich zwischen "innen" und "außen" unterschieden (1 Tim 3,7; Tit 3,3.14; auch Tit 2,8). Dabei ist der Wunsch erkennbar, ungestört in einer Welt zu leben, die von den Mächten "draußen" bestimmt ist (1 Tim 2,2). Der Autor richtet sein Augenmerk sehr stark auf das Urteil "von außen". Die Christen sollen in ihrem Verhalten keinen Anlass geben zu übler Nachrede (1 Tim 5,14; Tit 2,8) oder gar zur Lästerung des Namens oder des Wortes Gottes (I Tim 6, I; Tit 2,5; auch Tit 2,9f.). Die Mehrzahl der Belege gehört in den Zusammenhang der Erfüllung einer bestimmten Rolle (Frauen: 1 Tim 5,14; Tit 2,5; Sklaven: 1 Tim 6, I; Tit 2,9f.). Der Autor der Past sieht das positive Urteil der Umwelt also in Abhängigkeit von der Erfüllung der dort etablierten Rollenmuster. (2) Auch die Absetzung von den bekämpften Gegnern könnte die restriktiven Äußerungen in den Past motiviert haben. Der Autor wirft den Gegnern das Verbot der Heirat vor (I Tim 4,3). Was er selbst als angemessene Rolle der Frau vorschreibt, wird von seinen Widersachern abgelehnt (zu hermeneutischen Folgerungen aus diesem Befund ~ 3.4d).
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
3.3 Das Paulusbild a) GlUndlegend wird das Paulusbild der Past dadurch bestimmt, dass Paulus als die entscheidende Autorität mittels seiner Briefe die fLir die Gegenwart gültige Weisung gibt. Er ist der Apostel, neben dem keine anderen erwähnt werden. An zwei Stellen ist diese Exklusivität allerdings aufgebrochen, indem der Apostel-Titel mit zwei weiteren Funktionen verbunden wird: Verkünder (Kflpu~) und Lehrer (öLMoKIXAOC;). Vor allem durch die Kennzeichnung als "Lehrer" wird eine wesentliche Funktion der Gemeindeleitung (z. B. I Tim 5,17; 2 Tim 2,2) an Paulus ruckgebunden. Wer dieses Amt ausübt, kann und soll sich in der Nachfolge des Lehrers Paulus verstehen - des Paulus, wie ihn die Past auslegen. Durch die fingierte briefliche Kommunikation wird das Bild von der Aufgabe des Paulus auch indirekt bestimmt: Er erscheint als Gestalter der Gemeindeordnung. Er trifft Vorsorge fLir die Zeit seiner Abwesenheit (1 Tim 3, 14f.; 2 Tim als Testament), ohne dass seine Autorität an Gemeinden gebunden wäre, die er gegründet hat. So sind die Briefe lokal breit gestreut (Ephesus, Kreta, Rom; ,jede Stadt" Tit 1,5). Die gemeindeordnenden Maßnahmen sollen also nicht nur ein spezifisches Problem an einem bestimmten Ort lösen. Die Autorität des Apostels wird an manchen Stellen außerdem dadurch unterstrichen, dass betont mitgeteilt wird, was Paulus will oder verbietet. Sachlich geht es dabei vor allem um die Zurückdrängung von Frauen aus verantwortlichen Positionen in der Gemeinde. also um glUndlegende stlUkturelle Fragen (I Tim 2,8.12; 5,14). b) Hinsichtlich seiner Herkunft wird Paulus in 1 Tim 1,12-17 als Modell des bekehrten Sünders stilisiert. Dagegen heißt es in 2 Tim 1,3, Paulus diene Gott "von den Vorfahren her in reinem Gewissen". Die Spannung lässt sich wahrscheinlich aus der jeweiligen Kontexteinbindung erklären. Einerseits soll Paulus als derjenige erscheinen, der mit seiner Existenz fLir den Willen Gottes steht, die Sünder zu retten. Er selbst verkörpert die Botschaft des Evangeliums (wenn auch anders als in 2 Kor 4,7-12). Am Beginn von 2 Tim wird Paulus andererseits, einem Grundanliegen des Briefes entsprechend, als Paradigma der Einbindung in die Tradition präsentiert und der Bruch in seiner Biographie übergangen. c) Was die Zukunft betrifft, sind die Aussagen in 2 Tim 4,6-8.18 klar: Paulus blickt aus auf den sicheren Tod. Die Aufträge (4,9.11.12f.21) zeigen das Vorbild des unermüdlichen Einsatzes fLir das Evangelium, relativieren aber nicht die Todesgewissheit. Paulus schaut auf sein abgeschlossenes Wirken zurück. Er erscheint als fragloses Vorbild, das angesichts des nahen Todes in Aussicht auf den endzeitlichen Lohn beruhigt sein Leben bilanzieren kann. Die in diesen Passagen erkennbare "Paulologie" ersetzt keineswegs die Christologie. Dies zeigt sich deutlich darin, dass die Stärkung durch den Herrn als Klammer das ganze Wirken des Paulus umgreift: von der Berufung (I Tim 1,12) bis zur Verkündigung angesichts des gewissen Todes (2 Tim
D.XIII. Die Pastoralbriefe (I Tim/2 Timn-it) (Gerd Häfner)
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4,17). Die Gewissheit eschatologischer Rettung lässt nicht vergessen, dass es der Kyrios ist, der rettet.
3.4 Theologische Grundlinien
a) Ihrem Traditionsdenken entsprechend zeichnen sich die Past durch umfangreiche Aufnahme von geprägtem theologischen und christologischen Überlieferungsgut aus. Vor allem zur Christologie wird diskutiert, ob diese verschiedenen Traditionen in ein einheitliches Konzept integriert sind (Einblick in unterschiedliche Wertungen gibt T. SÖDlNG 149-152). Trotz der traditionsorientiet1en Theologie ist ein das Ganze prägender theologischer Leitgedanke erkennbar. Er lässt sich im Rahmen einer universal ausgerichteten Soteriologie umschreiben, in der sich theologische, christologische und indirekt auch ekklesiologische und ethische Linien treffen: Gottes Wille ist es, in Christus alle Menschen zu retten; die Kirche wird diesem Ziel zugeordnet; die Glaubenden sollen es durch ihr Verhalten fördern. Der Verfasser der Past entspricht selbst diesem Ziel, wenn er zwei neue theologische Leitbegriffe einbringt, die das hellenistische Umfeld und damit die Welt der Adressatengemeinden und ihre Verstehensvoraussetzungen berücksichtigen. b) Zum einen gewinnt der Hoheitstitel Retter (awtf}p) grundlegende Bedeutung. In der LXX ist der Begriff als Gottesbezeichnung belegt, er wird aber auch für Menschen verwendet, die rettend eingreifen. In der griechisch-römischen Welt ist der Titel ebenfalls in dieser Doppelung bezeugt; vor allem für den Herrscher- und Kaiserkult finden sich zahlreiche Belege (ausführliche Diskussion bei F. JUNG 45-261). Dieser Hintergrund ist gerade für die Past bedeutsam, da sie "die bei weitem größte Nähe zum Sprachgebrauch der hellenistisch-jüdischen Umwelt" aufweisen (ebd. 331; Einzelnachweis ebd. 324331). Sie gebrauchen den Titel ebenfalls in doppelter Ausrichtung: für Gott (1 Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10; 3,4) und für Christus (2 Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6). Auch das zum Wortfeld gehörende Verb (retten, 041(Elv) ist nicht auf eines der beiden Subjekte festgelegt, wenngleich ein Übergewicht für die Aussagen zum Handeln Gottes besteht. Der knapp skizzierte Befund ist in verschiedener Hinsicht theologisch aufschlussreich. (1) Zunächst zeigt die Einbindung in christologische Bekenntnisaussagen oder die kontextuelle Nähe zu solchen Passagen, dass die Rede von Gott oder Christus als Retter wirklich in gefülltem soteriologischen Sinn gemeint ist und nicht nur den Befreier aus Not und Bedrängnis bezeichnet - auch dort, wo der Retter-Titel nicht näher entfaltet wird (vgJ. L. OBERLINNER, HThK XJl2,3, 155f.). (2) Sodann wird die innere Zusammengehörigkeit der Aussagen über Gott und derjenigen über Christus deutlich. Beide sind als Retter zu bezeichnen, weil Gottes Heilshandeln durch Christus wirksam wird und dieser umgekehrt nur dann recht verstanden ist, wenn seine Erscheinung als Offenbarung des Heilswillens Gottes verstanden ist. Die Einheit von Theo-
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
logie und Christologie ist in den Past sehr deutlich akzentuiert. (3) Schließlich ist die universale Ausrichtung des Evangeliums dort ausdrücklich zur Sprache gebracht, wo von Gottes Willen zur Rettung durch Christus die Rede ist: "Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (I Tim 2,4, vor der Aussage über die Mittlerschaft Christi in 2,5; die Hingabe "für alle" in 2,6). In Tit findet sich derselbe Zusammenhang. Von der Gnade Gottes heißt es, sie bringe allen Menschen Rettung (2, I I: aWt~pLo<;;). Wenn nachfolgend die Selbsthingabe Jesu Christi auf die Glaubenden bezogen wird (2,14: "für uns"), ist deshalb die Bedeutung des "für" nicht in dem Sinn eingeschränkt, dass die Grenze zwischen Gemeinde und "Außenwelt" die Reichweite des göttlichen Rettungswillens definieren würde. c) Der zweite für die Past signifikante Leitbegriff ist Epiphanie (Enu!>avEux, Erscheinung). Im Hellenismus verbindet sich mit diesem Terminus die Vorstellung vom hilfreichen Eingreifen einer Gottheit, das in der Menschenwelt erfahren werden kann. Auch Herrscher konnten als eine solche Erscheinung der Gottheit bezeichnet werden, erkennbar in dem Beinamen Epiphanes (vgl. zum religionsgeschichtlichen Hintergrund K. LÄGER 111-113). Die in der hellenistischen Welt häufige Verbindung mit dem Retter-Titel findet sich auch in den Past (Tit 2,13; 2 Tim 1,10), die die Erscheinungs-Terminologie überwiegend, vielleicht ausschließlich christologisch verwenden. Nur in Tit 2,13 kann auch an die Erscheinung Gottes gedacht sein Gedoch ist das Verständnis dieser Stelle umstritten). Der Begriff "Erscheinung" bezieht sich zunächst auf das geschichtliche Kommen Christi (2 Tim 1,10) und auf seine Wiederkunft (Tit 2,13; I Tim 6,14; 2 Tim 4,1). Allerdings würde beim bloßen Blick auf Vergangenheit und Zukunft die Besonderheit der Rede von Erscheinung in den Past nicht erfasst. Die Epiphanie des Retters zielt ganz wesentlich auf die Gegenwart (vgl. L. OBERLINNER, Epiphaneia 200-203). Die erschienene Gnade (2,11) erzieht zu einem gerechten und frommen Leben in der Jetztzeit (EV t
D.xm. Die Pastoralbriefe (1 Tim/2 Timrrit) (Gerd Häfner)
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Teil an der erörterten soteriologischen Bestimmung des Gottesbekenntnisses. Ihr Leben muss sie so gestalten, dass der Retterwille Gottes unter den Bedingungen ihrer Zeit aufscheinen kann. Diese Forderung zeigt sich in den Past auf zwei Ebenen. Zum einen bildet die Gemeinde Strukturen, die mit den Wertmaßstäben der Umwelt kompatibel sind (~3.2d). Zum anderen werden die Glaubenden zu einem Verhalten aufgerufen, das positiv auf ihr Verhältnis zur außergemeindlichen Mitwelt wirken soll: Gebet für alle Menschen (I Tim 2,1 f.), tadellose Erfüllung der Sklaven- und Frauenrolle (1 Tim 6, I; Tit 2,5.9f.), Unterordnung unter die politischen Machthaber (Tit 3, I), friedliches Zusammenleben mit allen Menschen (3,2). Dass der Verfasser der Past anders als Paulus nicht auf das Wirken des Geistes in der Kirche vertraut, mag als Verarmung erscheinen und sein Konzept der streng geordneten Gemeinde als zu statisch. Doch ist zu bedenken, dass die Etablierung einer solchen Struktur nicht allein darauf zielt, angesichts einer als bedrohlich erfahrenen Umwelt ein ruhiges Gemeindeleben zu ermöglichen (l Tim 2,2); es soll vor allem die Botschaft vom Rettergott zur Geltung gebracht werden. So fremd die Betonung von Über- und Unterordnung sowie die vertretenen Rollenmuster heute sein mögen, so vertraut erscheint auf der anderen Seite die "offene" Soteriologie der Past. Erkennt man, dass beides zusammenhängt, erschließt sich das erhebliche hermeneutische Potenzial dieser Schreiben. Ihr Verfasser hat mit Rücksicht auf die Wertmaßstäbe seiner Zeit Tradition umgestaltet. Die Gemeindestruktur wird angepasst an Vorstellungen, die außerhalb der Gemeinde als plausibel erscheinen, "damit das Wort Gottes nicht geläste11 werde" CQt 2,5). Nimmt man dieses Vorgehen zum Vorbild, kann man gerade unter Berufung auf die Past zu einer Gemeindeordnung kommen, die inhaltlich ihrem Modell entgegengesetzt ist. Die Vorstellung vom Hausvater, der als pater familias für die Seinen sorgt, und von der ins Haus zurückgezogenen, untergeordneten Frau ist heute kein plausibles Modell mehr. Könnten dann die Past nicht gerade Anstoß sein, die Rolle von Frauen in der Gemeinde neu zu bestimmen? Wäre die Verkündigung, Gott wolle die Rettung aller Menschen, nicht glaubwürdiger zu vertreten, wenn sie nicht durch anstößige Strukturen verstellt würde? Der Verfasser der Past hat sich nicht gescheut, die Frage zu bejahen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Sein Werk erscheint vordergründig als hoffnungslos patriarchalisch und, weil sein Modell sich durchgesetzt hat, als Rechtfertigung unveränderlicher Strukturen. Durch die geschichtliche Betrachtung könnte es sich aber geradezu als biblische Basis für Neuaufbrüche erweisen. Literatur Kommentare: N. BROX (RNT) 51989. R. F. COLLINS (NTLi) 2002. M. DIBELlUs/H. CONZELMANN (HNT 13) 41966. A. T. HANSON (NCBC) 1982. H. J. HOLTZMANN 1880. L. T. JOHNSON (AncB 35A) 2001 (1/2 Tim). G. W. KNIGHT (NIGTC) 1992. I. H. MARSHALL (ICC) 1999. H. MERKEL(NTD 9,1) 1991. W. D. MOUNCE (Word Biblical Commentary 46)
472
D. Die Briefe - Deuteropaulinen
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D.XIV. Der Hebräerbrief .(Martin Karrer)
In großen Teilen der Alten Kirche galt die heute Hebräerbrief genannte Schrift als ein Werk des Paulus. In vielen alten Sammelhandschriften findet sie sich unter den Paulusbriefen (im ältesten Textzeugen, dem p"6, sogar unmittelbar hinter dem Röm). Unangefochten war das jedoch nie. Der Humanismus setzte die Kritik an der Autorschaft des Paulus durch. Martin Luther äußerte daraufhin in seiner Vorrede (WA.DB 7,344f.) neben einem Lob der priesterlichen Christologie und der Schrifttheologie scharfe Bedenken gegenüber der Bußtheologie von Kap. 6 und 10. Er wies dem Hebr einen Platz unter den Schriften zu, denen mit Distanz zu begegnen sei, und stellte ihn in seiner deutschen Bibel nach hinten (zwischen Johannesbriefe und Jakobusbrief). Die kritischen Textausgaben folgen dieser rigorosen Umstellung nicht. Sie bieten den Hebr im Anschluss an die Paulusbriefe. Aber die Zweifel an der Theologie des Hebr kamen nicht zum Erliegen. Sie verbreiteten sich über die Konfessionsgrenzen und drängten ihn im Allgemeinbewusstsein in eine RandsteIlung. Diese RandsteIlung wird ihm nicht gerecht, wie eine Eruierung seines Ortes im frühen Christentum erweist: Der Hebr ist das eleganteste Schreiben des NT mit ausgefeilter Syntax und ausgesuchtem Wortschatz (150 Hapaxlegomena, mehr als in jeder anderen ntl Schrift). Zehn Ausdrücke, gemäß einer hellenistischen Vorliebe seiner Zeit vorzugsweise Komposita, könnte der Autor überhaupt neu geschaffen haben (von aYEvEIXA.OYTltoc;;/ohne Stammbaum in 7,3 bis oUYKIXKouXElo91XL/mit anderen zusammen schlecht behandelt werden in 11,25; vgl. C. SPICQ I 157). Er liebt Metaphern verschiedenster Felder von Bildung und Erziehung (5,12-14; 12,7-11) über Landwirtschaft (6,7f.; 12,11), Architektur (6,1; 11,10) und Seefahrt (6,19) bis hin zum Sport (12,1). Sein hervorragender Stil und eine Vorliebe für rhetorische Figuren zeugen von hoher sprachlicher Schulung und Kenntnis der antiken Kultur (Alliteration in 1,1; Antithesen in Kap. 7 u. ö.; Vergleich [OIJYKPLOLC;;] in 3,1-6 usw.). Der Autor hat allem Anschein nach eine rhetorische Ausbildung genossen. Der Schluss liegt nahe, der Autor habe zu den gehobenen Schichten seiner Zeit gehört. Umso mehr fällt auf, dass er deren Ehrenkodex modifiziert. Wie die Kulturanthropologie erarbeitete, vertraten diese Schichten (und die Antike überhaupt) nämlich eine Lebenshaltung der Ehre (wvoc;;, tLl..I:r\ u. ä.) und verachteten jede Art von Schande (lXtoXUVTl). Als eine der schlimmsten Beschämungen aber galt das Kreuz (eine Strafe für Sklaven, undenkbar in höheren Schichten). Unser Autor wagt daraufhin, die Schande des Kreuzes neu zu bewerten. Er durchdringt die soziale Mitte der antiken Rhetorik spezifisch
DJCIV. Der Hebräerbrief(Martin Karrer)
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christlich: Gerade der am Kreuz beschämte Christus (12,2) besitzt die höchste Ehre des Sohnes Gottes (2,7-9; 3,3 usw.; D. A. DESILVA). Dieser Umbruch erinnert an Paulus. Die rhetorische Kunst jedoch ist Paulus überlegen.
I. Struktur
1.1 Der Aufbau des Gesamttextes In der Forschung konkurrieren ein fünf- und ein dreiteiliges Gliederungsmodell. Wer die herkömmliche Sichtweise bevorzugt, im Hebr wechselten einander lehrhafte und mahnende (paränetische) Abschnitte ab, dem kommt das fünfteilige Schema entgegen, das durch bedeutende Vertreter, A. VANHOYE und H. AlTRJDGE, subtil differenziert wurde. Das dreiteilige Schema, dessen jüngeren Rang A. NAUCK begründete, erleichtert dagegen rhetorische Reflexionen (ohne dass solche durch das fünfteilige Schema ausgeschlossen würden). In letzter Zeit gewinnt es Vorrang (z. B. K. BACKHAUS, Bund). Stellen wir die Modelle in einer Übersicht nebeneinander (vgl. M. KARRER, ÖTBK 20/1, 73). Dreigliedriges Schema (Paradigma A. NAUCK)
Fünfgliedriges Schema (Paradigma A. VANHOYE; 1 = lehrhaft, p = paränetisch)
11,1-4,13
1,1-4 I 1,5-2,181 11 3,1-5,10 11 4,14-10,31 3,1-4,14 P 4,15-5,10 I
11110,3213,17
III 5,11-10,39 5,11-6,20 P 7,1-281 8,1-9,281 10,1-181 10,19-39 P
IV 11,1-12,13 1l,1-40 I 12,1-13 p
Rhetorisches Schema
Schwierigste Entscheidungsbereiche
(Paradigma K. BACKHAUS)
1,1-4 Exordium I 1,5-4,13 Narratio 114,14-10,18 Argumentatio 4,14-16 Propositio zu: 4,14-5,10
4,14-16 sind schwer auseinander zu reißen und korrespondieren zu 10,19f.; die Eintei5,11-6,20 paränet. Exkurs lung des 2. und 3. Teils im fiinfgliedri7,1-28 gen Schema wird frag8,1-10,18 rhetor. Zentrum lieh.
III 10,19-13,21 Peroratio
Der dritte Teil des dreigliedrigen Schemas kann 10,19 oder 10,32 beginnen. Der Einschnitt beider Stellen ist aber deutlicher
476
13,18-25 umstrittener Briefschluss
D. Die Briefe - Deuteropaulinen
V. 12,14-13,19 P 13,20--21 13,22-25 13,22-25 Postskript umstrittener Briefschluss
als die Textmarke für Vanhoyes IV (11,1 wird durch 10,37-39 vorbereitet). Der Übergang zum BriefschlusslPostskript erfolgt gleitend und ist durch die Paränese des Kap. 13 im Textaufbau vorbereitet. Das verwehrt, den Schluss zu stark abzuheben.
Wie das Schema zeigt, grenzt die Forschung Teile des Hebr leicht unterschiedlich ab. Das verweist nicht auf eine Unklarheit im Stil, sondern auf die eigentümliche Leserfuhrung: Der Autor schafft gleitende Übergänge (bes. bei 10,19-3 I) und unterstreicht den Zusammenhang durch Vor- und Rückverweise über die Text-Teile hinweg (das Hohepriesteltum Christi wird in 2,17 und 3,1 angerissen, aber erst ab 4,14 in die Mitte gerückt). Selbst Kap. 13, in dem der Autor stärker als sonst das Genus rhetorischer Mahnung pflegt, ist mit dem vorangehenden Text deutlich verflochten (s. z. B. 13,3 neben 10,34 oder 13,9 neben 9,10). Die gelegentlichen Thesen, der Hebr sei aus Redeteilen kompilielt (vgl. P. GARUTI) oder das Kap. 13 nachträglich eingefügt (A. 1. M. WEDDERBURN), erübrigen sich.
1.2 Leitthemen und Rhetorik Wählen wir das dreigliedrige Schema, so zeigt sich: Alle drei großen Teile sind auch in sich wie kleine Reden mit Eröffnung, zentraler Argumentation und Intensivierung am Schluss aufgebaut. Thematische Umschließungen (Inklusionen) sorgen nicht nur rur ihre Rundung, sondern signalisieren die Leitthemen: in I die Theologie des WOItes Gottes (I, I f.; 4,12f.), in 11 das Hohepriesteltum Jesu (4,14-16; 10,19-23), in III den Glauben, der - gestützt auf Wort Gottes und Hohepriestertum Jesu (die Erträge von I und 11) - himmlisches Leben gewährt und sich an Vorbildern orientiert (10,22 bzw. 10,38f.; 13,7). Die Antike unterscheidet die rhetorischen Aufgaben des Lobes, des Rates und der Gerichtsdarlegung. Unser Autor kennt alle drei und verzahnt sie. In I (1,1-4,13) und 11 (4,14-10,18/25/31) gibt er der aufweisend-lobenden, maßgeblich theologisch-christologischen Rede den Vorrang (im Fachausdruck der Epideixis), in III (10,19/26-32-13,19121) der Beratung und Ethik (deliberativer Rede). Doch stets berücksichtigt er auch die anderen Genera (z. B. die beratenden Schlussfolgerungen in 3,7-4,11 und die christologischen Grundlagen in 13,8.11 f.20) und unterstreicht durch Figuren des dritten, juridischen
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Genus den Ernst der Darlegung (übertragen auf Perspektiven des Gerichtes Gottes). Juridischer Herkunft ist namentlich die sog. lTpoaoxNProsoche, gemäß der antiken Rhetorik ein Passus zwischen Einleitung (Prooemium sowie erster Darlegung der These) und Argumentation. Sie schärft die Aufmerksamkeit durch aufrüttelnde Ausblicke auf Drohendes, das keinesfalls geschehen dürfe. 2,1-4 und 5,11-6,20 lehnen sich an diese Form an, im dritten Redeteil (der die Thesen der Teile I und 2 voraussetzt und den Aufbau daher modifiziert) wichtige Elemente aus (je nach Abgrenzung) 10,19 bzw. 10,32-10,39. Die rhetorische Erkenntnis zeitigt eine überraschende Folge für das Gemeindebild des Hebr. Denn der Hebr bietet seine harschen, viel zitiel1en Entwürfe einer Gemeindesituation, die sich nach großen Anfangen in Glaubensmüdigkeit verliere, ausschlaggebend in den Abschnitten der Prosoche. Diese Redeteile skizzieren, wie gesagt, was droht, ohne zu sein und ohne sein zu dürfen. Die bis in jüngste Zeit hinein beliebte Lektüre des Hebr als Aufrüttelung aus Müdigkeit des Glaubens (vgl. z. B. G. SCHUNACK 16) geht zu rasch über die Hinweise hinweg, die Adressaten gehörten nicht zu den von der Drohung Betroffenen (6,9 und 10,39). Überspitzen wir die Alternative nicht. Einige exegetische Argumente für eine Ermattung der Gemeinde bleiben (12,4f.; Weiteres z. B. H. LÖHR, Umkehr 53-55). Doch im Ganzen werden wir zu einem modifizierten Bild gezwungen: Der Autor des Hebr ahnt die Möglichkeit, der große Aufschwung der frühchristlichen Gemeinde lasse nach (13,25). Aber weit größer ist seine positive Erwal1ung. Die Gemeinde strahlt für ihn in endzeitlichem Glanz des WOJ1es Gottes (ab 1,2) und erfüllt hohe Ansprüche im Leben wie intellektuell. Das in die Gottes Höhen wandernde Gottesvolk des Hebr (um ein Leitmotiv E. KÄSEMANNS zu zitieren) ist nach der Vorstellung des Hebr mehrheitlich keine schwache, absinkende, sondern eine ethisch wie sprachlich zu Perfektion fahige Gemeinde. Der elaboriel1e Stil des Autors korrespondiert seiner hohen Erwartung an die Leser/innen.
2. Entstehung
2.1 Autor 2.1.1 Der Schluss 13,22-25 und die Kontaktaufnahme zum Paulinismus Hebr 1,1-13,20 erwähnen weder Paulus noch einen Paulusschüler, und so viele Berührungen die Forschung zu pln Theologie sucht (K. BACKHAUS, Hebräerbriet), die Unterschiede überwiegen (die Melchisedek-Christologie findet bei Paulus keinen Anhalt usw.). Ab 13,15 aber nehmen die Berührungen zum Paulinismus auffällig zu (ohne dass dies einen Iiterarkritischen Einschnitt bedeuten muss; s. die Auseinandersetzung bei E. GRÄSSER, 011 766f., mit W. SCHMITHALS). 13,22 schließlich gebraucht nicht nur eine paulinische Eröffnungsformel (lTapaKaAw öl: ullä.<;/ich rede euch zu; vgl. Röm 15,30 usw.) und
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am Versende den aus Paulusbriefen bekannten Briefaorist (vgl. BOR § 334). In 13,23 folgt sogar eine Erwähnung des Timotheus, den wir als Paulusbegleiter aus Apg 16, I und bes. durch die Pastoral briefe kennen (vgl. auch Röm 16,21). Die Häufung der paulinisch-brieflichen Motive ist zu groß, um zufallig zu sein. Ein gewichtiger Teil der Forschung vermutet, 13,22-25 (und evtl. einige vorangehende Verse) seien sekundär eingefügt worden, um dem Hebr einen Ort in der entstehenden Paulusbriefsammlung zu sichern (z. B. E. GRÄSSER, EKK XVIIII, 17f.,22; EKK XVIII3, 409f.). Andererseits sind alle Teile des Kap. 13 (einschließlich 13,22-25) vom ältesten Zeugen (p46) an fest in den Handschriften verankert und brauchte die Alte Kirche keine paulinische Zuschreibung, um dem Hebr hohen Rang einzuräumen (TertulIian, Pud 20,2 vertritt eine kanongeschichtlich interessante Zuschreibung an Barnabas). Daher spricht mehr dafür, dass 13,22-25 einen ursprunglichen Bestandteil des Hebr bilden und von Anfang an als Kontaktaufnahme zum Paulinismus gedacht waren. Die Literarkritik bescheidet sich damit nicht. Einige vertreten, 13,22-25 seien ein kleines Begleitschreiben gewesen, das der Autor dem Hebr beigab (zuletzt G. SCHUNACK 12.238f.). Näher liegt, dass der Autor vom antiken Usus Gebrauch machte, sein Schreiben zu diktieren und nur am Ende Zeilen eigener Hand beizufügen. Diesen Brauch kennen wir ntl wiederum von Paulus (GaI6,11 u. ö.; vgl. H.-J. KLAUCK 61--65, der die Beobachtung freilich 252254 noch nicht auf den Hebr anwendet). Ein vergleichbarer Wechsel der Feder würde die Integrität des Hebr wahren und den Einschnitt zu 13,22 einfach erklären. So oder so ist die Tendenz in Hebr 13 für dessen Ortsbestimmung im frühen Christentum entscheidend: Der Autor vertritt eine nichtpaulinische Theologie und überspielt das im Duktus von Kap. I bis 13 nicht. Dann, am Ende, jedoch zeigt er seinen Leser/innen, es gebe trotz theologischer Differenzen eine tiefe Lebensverbundenheit zum paulinischen Kreis. Die frühchristliche Theologie entwickelt - so gelesen - schwerwiegende Differenzen und sieht doch die Einheit im christlichen Miteinander dadurch in keiner Weise geflihrdet (vgl. mutatis mutandis 2 Petr 3,15f.). Theologische Vielfalt und Bemühung um Einheit kennzeichnen den Stand des Christentums im späten I. Jh. gleichermaßen (in diese Zeit gelangen wir, wenn wir die Verse zum Hebr zählen und beachten, dass Paulus selbst keine Kontaktperson mehr ist, sondern auf die Zeit der Paulusschüler verwiesen wird). 2.1.2 Die altkirchliche Einordnung unter die Paulusbriefe und die Adresse "an Hebräer" Bleiben wir beim Schluss des Hebr. Nicht nur Motive, das Formschema insgesamt mit der Bitte um Gedenken (\ 3, 18; vgl. Röm 15,30), Mahnung, Grüßen und Gnadenwunsch gemahnt an Paulus (zu V.24 vgl. 1 Kor 16,19f., zu
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V.25 vgl. Tit 3,15). Der pln Briefstil hat sich im späten I. Jh. weit über den Paulinismus hinweg durchgesetzt (was die Rezeption des paulinischen Brieffonnulars in der Offb bestätigt). Die Rezeption zog im Verlauf des 2. Jh. den weitergehenden Schluss, der Autor müsse mit Paulus vertraut sein. Dieses Kriterium erfüllte der erwähnte Barnabas, der in der kirchlichen Erinnerung Paulus nahestand (Apg 11,30 usw.) und im Konflikt von Gal 2,13 eine Affinität zu jüdischen Traditionen erwies, die zum Hebr zu passen schien. Allerdings streitet Barnabas in Gal 2 mit Paulus gerade um Speisefragen, die der Autor des Hebr diskreditiert (9,10; 13,9). Der Brief ist ihm nicht zuzuschreiben, sondern anonym (ein Bewusstsein, das lrenaeus, Haer III 6 u. Ö. noch zu wahren scheint). Die Mehrheit der altkirchlichen Skriptorien schloss kühner, der Hebr gehöre unter die Paulusbriefe selbst. Dass ein Präskript fehlte, störte nicht (keine Handschrift ergänzt ein solches vor 1,1). Das bietet ein wichtiges Indiz für den Überlieferungsprozess: Der Blick auf den Textschluss war in der Sammlungsgeschichte wesentlicher als der auf den Textanfang. Gelegentliche Erwägungen, vor Hebr I, I sei ein paulinisches (F. RENNER) oder nichtpaulinisches Briefpräskript (F. OVERBECK 12-17) abgebrochen, erübrigen sich deshalb. Am Textschluss erfolgten in der Antike auch die bibliothekarischen Kennzeichnungen (tituli). Sie sind keine Schöpfungen des Autors, jedoch alt. Die Rezeption des Hebr setzt ab Hippolyt, Irenäus (beide bei Photius, BibI. 232 [PG 103,1 103D)) und Clemens Alex. (bei Eus., Hist Eccl VI 14,2-4) ein "an Hebräer" (T!PO~ 'E/lplllou~) voraus (in etlichen Handschriften mit Erweiterungen). Wieder verrät schon der Stil Wichtiges: Nur bei den Paulinen nennen die tituli Adressen (bei den katholischen Briefen dominiert der Autorname [im Genitiv), bei den Evangelien eine Kennzeichnung mit KIl'toc/gemäß [Matthäus usw.)). Die Skriptorien verwiesen den Hebr also an Paulus oder in die unmittelbare paulinische Nachbarschaft. Sobald sich die paulinische Autorschaft durchsetzte, bedurften die stilistischen Unterschiede zu Paulus einer Erklärung. Thesen einer Übersetzung des Hebr aus dem Hebräischen und Sekretärshypothesen (Niederschrift durch Lukas oder Timotheus) entstanden, die ihre Spuren bei den Kirchenvätern (ab Clemens Alex. bei Eus., Hist Eccl VI 14,2-4) und gelegentlich sogar in Handschriften hinterlassen (Minuskeln 104, 1739, 1881; vgl. Majuskel 0285 Vid ). All diese Thesen sind inzwischen überholt.
Auch die Bestimmung der Adressaten geht nicht unmittelbar aus dem Hebr hervor (ihm fehlt nicht nur eine Adressatennennung im Präskript, sondern der Ausdruck "Hebräer" ['Eßpaloc;] überhaupt). Am leichtesten erklärt sie sich, wenn die Skriptorien ihre Beobachtung am Hebr und ihre Erinnerung an Paulus kombinierten: Der Hebr benützt in größtem Umfang Schriften und Gedanken Israels und ignoriert zugleich eine Eigendynamik der Völker (er verwendet nicht einmal den paulinischen Leitbegriff tUr die Völker, e9voc; und dessen Derivate). Wenn der Hebr von Paulus stammte, konnte er sich deshalb schwerlich an die Völker richten. Nun hielt aber Paulus selbst fest, stolz auf eine Herkunft von Hebräern (dem Volk, das Gott in der Geschichte einzigartig erwählte) zu sein (2 Kor 11,23; Phil3,3.5). Das galt unabhängig von den Auseinandersetzungen um die Beschneidung. Paulus konnte deshalb an seine Mithebräer geschrieben haben, auch wenn er sich zu den Völkern und nicht zur "Beschneidung" gesandt wusste (Gal 2,9).
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Der titulus "an Hebräer" griff aller Wahrscheinlichkeit nach diesen Gedanken auf und verstand die "Hebräer" im Sinne eines Ehrbegriffs ("Menschen, die dem einen Gott zugehören"). Die heutige (und durch Apg 6,1 vorbereitete) Assoziation einer Sprachbezeichnung ("Menschen, die Hebräisch sprechen") spielte keine Rolle (das antike Sprachbewusstsein musste wahrnehmen, dass alle Schriftzitate nicht neu aus dem Hebräischen übersetzt sind, sondern der Septuaginta entstammen), erlaubte lediglich sekundär die erwähnte Übersetzungsthese.
2.1.3 Die Anonymität des Autors Die ersten Empfänger dürften den Autor (aufgrund der maskulinen Selbstreferenz im Partizip von 11,32b müssen wir beim "Er" bleiben) gekannt oder seinen Namen zumindest durch den Boten erfahren haben, der den Hebr überbrachte (vgl. E1TEOtELAa/ich sende [Briefaorist] in 13,22). Uns ging ihr Wissen verloren, da der Text in sich anonym ist. Die hohe Bildung und der souveräne theologische Ausdruck machen aber wahrscheinlich, dass es sich um eine weit bekannte Persönlichkeit handelt. Angesichts dieses Indizes begannen die Ausleger mit einer Spurensuche im Neuen Testament. Bal11abas wurde zum Kandidaten, wie wir hörten, daneben der hoch gebildete Apollos (LUTHER, WA 10/la, 143; 44,709; 45,389; vgl. H. F. WEISS 62-65). Wo das Maskulinum in 13,22 als soziale Verhüllung in Frage gestellt wurde, kam selbst eine AutOl'in (Priszilla) in Frage (A. HARNACK 32-41, R. HOPPIN). Keinem der Vorschläge eignet zwingende Kraft (Weiteres bei R. KAMPLING 17-24). Überschauen wir die Beobachtungen, hängen die Zuschreibung an Paulus, die Formbestimmung als Brief und die Identifikation der Adressaten zusammen. Alle drei Elemente markieren eine große Phase der Rezeptionsgeschichte, bedürfen indessen heute der Hintelfragung. 2.2 Gattung
2.2.1 Die entscheidende Selbstangabe: Wort der Zurede Die Zuweisung an Paulus zerbrach, wie notiert, nach einzelnen Vorläufel11 im Humanismus. Die Neubestimmung der Form folgte in der großen Ära der aufklärerischen Bibelkritik. J. BERGER erklärte den Hebr 1797 statt über die schriftlichen Formen des Buches, der Abhandlung und des Briefes von der mündlichen Rede her. Der SchlUsselausdruck "Wort der Zurede" (A6yo<;; 1TIXPIXKÄ';OEW<;; 13,22), erinnerte ihn an Apg 13,15 und damit die Rede einer christlichen Leitgestalt. Der Hebr wurde zur nachträglich versandten "Homilie" eines bedeutenden "Lehrer(s) des Christenthums" (459, 452f.). Es entging J. BERGER, dass die Reden der Apg und des Hebr von deren Autoren schriftlich entworfen sind. Trotzdem erwies sich seine Grundentscheidung als tragfähig: Der Hebr ist aus dem Genus der Rede, nicht des
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Briefes zu erklären, und noch die Verschriftung spielt mit Fiktionen von Mündlichkeit (s. "wir reden" in 2,5 und 6,9, Rhythmen u. ä.; vgl. F. SIEGERT). Die heutigen Formbestimmungen kreisen zu Recht um Homilie, Mahn- und Trostrede oder übersetzen 13,22 direkt ("Wort der Zurede"). Die selten belegte Wendung ,t6yoC;; 1T(lp(lKÄ~aEwc;; erlaubt, das zu präzisieren. In Apg 13 führt sie eine Rede mit gewichtigen Schriftauslegungen ein, und Schriftauslegungen dominieren im Hebr. Wenn der Autor den Hebr so zusammenfasst, versteht er ihn speziell als Rede, die unter Darlegung an den Schriften Israels zum Leben mit Gott und Christus herausfordert (heute fällt das unter die Homilie). Ein zweiter Vergleichstext, I Makk 10,24, lenkt uns in eine andere Richtung. "Wort der Zurede" umschreibt dort ein autoritatives Wort, das Recht setzt und einen Rechtszustand erklärt. Die Schrift Israels spielt keine Rolle. Der Hebr kann auf diesen Gestus nicht zurückgreifen (es handelt sich um einen Herrscherbrief), und doch gibt es eine verblüffende Gemeinsamkeit: Der Hebr versteht seine Darstellung der priesterlichen Christologie als Darlegung von Gottesrecht (in Kap. 7 u. ö. unter Auseinandersetzung mit dem aaronitischen Priesterrecht). D. h. sein Wort der Zurede ist für ihn Dar- und Auslegung der Schrift in höchster rechtlicher Verbindlichkeit. Recht ruft - so ein letztes - nach Handlung. Die Weisungen des Hebr fallen deshalb mit unter das Wort der Zurede. Das ethisch bewusste Leben vor Gott unter dem Geleit Christi wird dessen Fluchtpunkt, und 13,22 steht aus gutem Grund gerade am Ende der in engerem Sinn ethischen Abschnitte des Hebr (Kap. 12-13). 2.2.2 Die Auswirkung auf das Verständnis von Parakiese
Diese soweit klare Linie gewinnt jüngst durch einen alten Gelehrtenstreit neuen Belang. Die Forschung kann sich seit über 100 Jahren schwer einigen, wie Paränese und Parakiese zu unterscheiden seien. [n Oslo definierte sie daraufhin 2001, Paränese formuliere eine angestrebte ethische Praxis vor dem Hintergrund gemeinsamer Weitsicht und ohne mögliche Ablehnungen zu antizipieren. Solche Paränese enthält der Hebr auch. Doch der Autor bevorzugt den Ausdruck Parakiese (und vermeidet im ganzen Hebr Ableitungen von 1!IlPIlLVELV), wahrscheinlich deswegen, weil ihm das erlaubt, Konflikte zu thematisieren und die Ethik mit transethischen Aspekten zu kombinieren (W. G. ÜBELACKER, Paraenesis). Sollte sich diese Beobachtung durchsetzen, würde der Hebr helfen, die ethisch-theologische Terminologie für das Neue Testament insgesamt zu klären. 2.3 Adressaten 2.3.1 Die Diskussionslage: intendierte Adressaten zwischen Israel und Völkern
Nach der Ablehnung der paulinischen Autorschaft und Neubestimmung der Form musste auch das letzte der altkirchlichen Postulate hinterfragt werden: Wandte der Hebr sich wirklich an "Hebräer" und damit Juden bzw.
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Judenchristen, wie der alte titulus vorschlug? Die einstige Leitbeobachtung, der Hebr nehme Kontakt zum Paulinismus auf, entkräftete diese Auffassung. Denn Paulus gründete seine Gemeinden gezielt unter den Völkern. Das avisierte Kommen des Timotheus zu den Adressaten (13,23) evoziert eher heidenchristliche Leser/innen, die zum paulinischen Gemeindkreis oder in dessen Umgebung gehören. Eine zweite SteHe tritt dem mit Nachdruck zur Seite. Der Anfangsgrund, auf dem die Gemeinde der Adressaten entstand, die Umkehr von toten Werken und das Eintreten in den Glauben an Gott (6, 1), ist von judenchristlichen Leser/innen gut nachvollziehbar, gewinnt aber seine eigentliche Tiefe bei den Völkern: Diese schufen, wie Israel wieder und wieder geißelte, in ihren Götterbildern Werke, die tot waren (totes Material und Zeugnis toten = gottfernen Verhaltens; s. bes. Weish 13,10.18 und vgl. JosAs 11,8; 12,5). Ihre Abwendung von den Götterbildern und Hinkehr zu dem einen Gott bildete laut 1 Thess 1,9 die Grundlage der paulinischen Mission. Hellhörig werden wir fUr die Ausweitung des Hauses Gottes in 3,2-4, fUr universale Anspielungen im Texthintergrund ab 1,6, fUr die Berücksichtigung religionsgeschichtlicher Gemeinsamkeiten zwischen Israel und den Völkern in 5,1-4 und andere Indizien bis hin zur Rezeption von LXX Dtn 29,17 in Hebr 12,15. Keine bittere Wurzel soll demnach unter den Adressaten ausschlagen. Die Tora wehrte damit ab, den Göttern der Völker zu dienen. Der Hebr zitiert diese Konkretisierung nicht; doch wer sich an die Schrift erinnert (oder in ihr nachschlägt), findet sie. Adressaten aus den Völkern werden ebenso dezent wie deutlich davor gewarnt, den Göttern ihrer Herkunft Raum gegen das von ihnen gewonnene Leben mit dem einen Gott Israels zu gewähren. Starke Argumente plädieren mithin dafür, dass der Autor sich maßgeblich Menschen aus den Völkern als Leser/innen vorstellte (mit der Mehrheit der deutschen Forschung, bes. den Kommentaren von H. BRAUN 2; E. GRÄSSER, EKK XVll/l, 24; H. HEGERMANN 10 und H. F. WEISS 71). International allerdings hielt sich daneben die judenchristliche Bestimmung der Leser/innen (W. L. LANE, Word Biblical Commentary 47A, LIIIf.; D. J. HARRINGTON 7). Für sie spricht, dass alle entscheidenden Argumente ausschließlich aus Israels Schriften stammen und dabei sogar eine Sondersyntax der Septuaginta begegnet, deren Erkenntnis höchste Ansprüche an Leser/innen aus den Völkern stellt (Et als Negation 3,11 nach LXX Ps 94,11), dass der Autor den Namen der Gemeindeversammlung (E1rLauvaywy~ 10,25) an den der jüdischen Versammlung anlehnt sowie dass die Rezeption von LXX Dtn 29,17 durch ein innerjüdisches Beispiel vertieft wird (Esau in 12, 16f.). Der Sachverhalt ist deshalb nicht entschieden. Wer angesichts dessen fUr einen gemischten Adressatenkreis plädiert (vgl. D. A. DESILVA 6f.), stößt auf eine auffällige Vernachlässigung der Identitätsmerkmale, an denen eine jüdische Gruppe im I. Jh. erkannt wurde. Der Hebr thematisiert Beschneidung, Sabbat und Feste überhaupt nicht, wertet die fUr ein Zusammenleben einer jüdischen Gemeinde mit Nichtjuden wesentlichen
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Speisefragen ab (9,10; 13,9; Weiteres C. KOESTER 77) und geht auf die gesetzliche Problematik von Mischehen nicht ein (obwohl er das an 13,4 hätte anschließen können). Die Gemeinde des Hebr böte somit ein hochinteressantes Beispiel für die Durchdringung des frühen Christentums durch Schrift und Gedanken Israels und gleichwohl ihre Einftigung in die Mehrheitsgesellschaft, die zum Abschleifen der nach außen sichtbaren jüdischen Identitätsmarkierungen führt. Das wäre gegen Ende des I. Jh. gut denkbar und böte zudem eine religionsgeschichtliche Grundlage dafür, dass die neue Gruppe in der Außensicht allmählich zum "dritten Geschlecht" (tertium genus) neben Judentum und Völkerreligionen wurde (mit dieser Außensicht setzt sich erstmals Tertullian, Nat I 8, 9f. auseinander).
2.3.2 Konsequenzen für die Debatte um einen Antijudaismus des Hebr Die unklare Situation ist insofern beschwerlich, weil sich die Koordinaten für eine der härtesten derzeitigen Debatten um den Hebr je nach Position grundlegend verschieben. Ursache sind die scharfen Kritiken des Hebr daran, wie aaronitisches Priestertum das Leben mit dem einen Gott gewährleistete. Gewiss sei, meint er, dessen Kult den Konditionen der Welt angemessen, jedoch genüge er nicht für den Zugang zu Gottes himmlischem Heiligtum (Kap. 7 und 9-10). Diesen Zugang eröffnen ihm zufolge der neue Bund (Kap. 8) und das Priestertum Christi nach der Ordnung Melchisedeks, die von den Priestern trennen, die in aaronitischer Tradition dienen (13, I 0). Lediglich wenn Autor und Adressaten gleichermaßen jüdischer Herkunft sind, handelt es sich hier um eine innerjüdische und daher von vornherein einem Antijudaismus entzogene Auseinandersetzung (analog zu anderen innerjüdischen Auseinandersetzungen um den Kult Jerusalems wie der nicht minder scharfen Konfrontation aus Qumranschriften). Das christlich-jüdische Gespräch sucht deshalb hier gerne den Anschluss. Attraktiv sind dann bes. eine Lektüre des Hebr als innerjüdisch-messianische Bußpredigt (G. GELARDINI, Herzen) und Interpretation des neuen Bundes auf eine Verheißung für Israel hin (B. KLAPPERT). Jede andere Lektüre muss sich mit der Gefahr auseinandersetzen, dass Völkerchristen sich als Gemeinschaft des neuen Bundes über Israel erheben. Von dieser Gefahr ist der Hebr noch frei, weil er den Völkern, wie vermerkt, eine religiöse Würde abspricht (übrigens auf seine Weise auch ein religionstheologisches Problem; exegetische Aspekte bei M. KARRER, Weltkreis). Indessen tritt die Gefahr des Antijudaismus durch den Barnabasbrief kurz nach dem Hebr deutlich zutage und erfordert heute eine Abwehr von Missverständnissen und hermeneutische Bemühungen (K. BACKHAUS, Bundesmotiv; DERS., Gottesvolk; W. KRAUS 78 u. a.).
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2.4 Ort Zum Olt besitzen wir einen etwas besseren Ausgangspunkt, jedenfalls wenn wir den Schluss des Hebr, wie vorgeschlagen, für literarisch integer erachten. 13,24 enthält nämlich Grüße von Personen aus der Italia (der Mitte Italiens mit dem Zentrum Rom). Diese Grüße erklären sich am leichtesten, wenn der Hebr in oder bei Rom entstand. Gut zu Rom passen denn auch weitere Indizien. Dort gab es ein schweres Pogrom unter Nero, worauf 10,33f., 12,4 und 13,3 indirekt anspielen könnten (der Hinweis in 12,4, die Adressaten hätten "noch nicht bis aufs Blut widerstanden", gewinnt an Prägnanz, wenn es am Absendeort dieses größere Leiden durch die neronischen Todesopfer gab). Dort war durch den Römerbrief des Paulus eine Variante des Moseliedes Dtn 32,35a bekannt, die in Hebr 10,30 wieder auftaucht (vgl. außerdem Hebr 7,25 mit Röm 8,34 und die Zitation von LXX Hab 2,4 in Hebr 10,38 mit Röm 1,17). DOIt rezipiert schließlich I Clem 36 kurz vor 100 n. ChI'. eine Schriftkatene, die Hebr I sehr ähnelt, in Verbindung mit einer Bezeichnung Jesu als Hohepriester. Verständlich wird, dass die tituli ab dem 5. Jh. Italien bzw. Rom als Entstehungsort favorisieren (A, P). Etwas schwerer sind die genannten Indizien zu erklären, wenn der Hebr nach Rom geschickt (und dOlt vom I Clem benützt) wurde. DelID wieso übergeht dann 12,4 die Todesopfer unter Nero? Die Deutung muss eine ethisch übertragene Deutung des "Blutes" aus diesem Vers wählen. Andererseits gibt es ein interessantes Indiz in der Textüberlieferung: Die älteste Handschrift (p46) stellt den Hebr, wie bereits angesprochen, direkt hinter den Röm. Falls der Papyrus die Briefe des Paulus nach Adressaten ordnete (vgl. das Ordnungsschema bei 1/2 Kor bis heute), schlägt er um 200 oder im frühen 3., jedenfalls lange vor A und P, vor, der Hebr wende sich an die Judenchristen ("Hebräer") zu Rom und ergänze in dieser Weise den Röm (vgl. K. BACKHAUS, Hebräerbrief 198). Wer sich daraufhin für Rom als Adresse entscheidet, gewinnt beim Absendeort Raum etwa für Alexandria, das Zentrum antiker Bildung. Wer bei Rom als Entstehungsort bleibt (wohin sich die Waage nach wie vor leicht neigt), wird sich die Adressaten im paulinischen Gemeindegebiet zwischen Kleinasien und Griechenland denken. Dritte Orte verdienen weniger Beachtung (wegen der kultischen Thematik des Hebr wird namentlich Jerusalem seit Minuskel 81 [11. Jh.] gelegentlich als Adresse vorgeschlagen). 2.5 Zeit
2.5.1 Die Datierungen zwischen 60 und 100 n. Chr. Da Adressaten, Autor und Ort nach dem Gesagten nicht sicher zu entscheiden sind, kommt es fast notwendig auch zu Unklarheiten in der Datierung. Eindeutig ist immerhin, dass wir uns deutlich nach der Gründungszeit der
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Gemeinden befinden. Denn der Hebr blickt auf die Anfange zurück (2,3; 5,11 f.; 6, I f.) und weiß vom wachsenden Druck der umgebenden Gesellschaft auf die christlichen Gemeinden (10,32-34 usw.; s.o.). Das schließt eine Datierung vor 60 aus. Zu streiten ist jedoch zwischen einer (Früh-)Datierung zwischen 60 und 70 und einer (Spät-)Datierung gegen Ende des 1. Jh. Die Gemeindeentwicklung des Hebr passt besser zur Spätdatierung (H. BRAUN 3, H. HEGERMANN 11, C. P. MÄRZ, NEB.NT 16, 20, F. LAUB 19, E. GRÄSSER, EKK XVll/I, 25 usw.). Die in den Paulusbriefen der 50er Jahre noch hoch virulente Debatte um die jüdischen Identitätsmarkierungen (Beschneidung etc.) hinterlässt keine Spur mehr, und der Hebr erweist Paulus nicht direkt, sondern über einen Paulusschüler die Referenz (Timotheus: 13,23). Das verweist uns in die Ära der Deuteropaulinen. Traditionsgeschichtliche und sprachliche Details unterstreichen die Tendenz. Namentlich ist die Auffassung, Abraham erwarte eine Stadt, die nicht irdisch ist (11,10), mit keiner Quelle vor dem syrBar (4,5) zu vergleichen und entsteht die Zitateinleitung "der heilige Geist spricht" von Hebr 3,7 erst in spät-nt! Zeit (vgl. Apg 4,25; 1 Clem 13, I; 16,2). Trotzdem findet die Frühdatierung international zunehmend Vertreter (von W. L. LANE, Word Biblical Commentary 47A, LXI-LXVI bis D. A. DESILVA 20f.). Ihr wichtigstes Argument bilden die Stellen des Hebr, die ein Bestehen (s. o1:a.oLC; 9,8) und eine Gegenwart des irdischen Kultes vorauszusetzen scheinen (8,4; 9,8 und 13,11), obwohl der Jerusalemer Tempel 70 n. Chr. zerstört wurde. Dem lässt sich entgegen halten, dass der Hebr durchgängig vom herodianischen Tempel abstrahiert (er richtet sich am LXX-Pentateuch aus, der ausschließlich von Zelt und Stiftshütte spricht) und im griechischen Tempus einen Aspekt, keine Zeitfixierung in unserem Sinn wiedergibt; dem Hebr vergleichbare Hinweise auf den jüdischen Kult im Präsens finden sich I Clem 40,4-5; 41,2 und Josephus, Ap Il 77 ifacimus [ ... ] sacrijicia/wir bringen Opfer dar, sicher nach 70 n. Chr. formuliert; vgl. Mt 5,23). Dennoch bleibt ein Reiz des Vorschlags. 12,4 passt zu einer Adresse nach Rom, sofern die Abfassung des Briefes in der Zeit vor der neronischen Verfolgung erfolgt ist. Zu geistreich freilich ist die Konkretisierung A. STROBELS (40), bei einer Übertragung der 40 Jahre von 3, \0 auf die Geschichte ab dem Tod Jesu erwarte der Hebr ca. 70 die Erflillung seiner Hoffnungen (3.10 spricht von der Geschichte der Väter, nicht der Gegenwart). Vollends würde sich die Waage zur Frühdatierung erst neigen, wenn der I Clem gleichfalls umzudatieren wäre (K. ERLEMANN, Datierung). Das ist bis auf weiteres nicht durchsetzbar. Deshalb unterstreichen die vielen Parallelen zwischen Hebr und I Clem derzeit am vielleicht klarsten die Spätdatierung (über die erwähnten Querlinien hinaus bezeugt der I Clem zweiundzwanzig der ntl Hapaxlegomena des Hebr und I Clem 17, lohne Drittparallelen die Prophetenbekleidung von Hebr 11,37).
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2.5.2 Konsequenzen am Beispiel der Institutionsgeschichte Wer unangreifbar sein will und den Spielraum auf die ganze Ära zwischen 60 und 100 öffnet (H. W. ATIRIDGE 6-9), erschwert Schlussfolgerungen auf die Geschichte des ersten Christentums. Nennen wir als Beispiel die Institutionsgeschichte: • Hebr 3,6; 10,21 nennt die Gesamtgemeinde ein otKoC;, "Haus". Unwillkürlich denkt die Auslegung an Hausgemeinden (vgl. W. L. LANE, Word Biblical Commentary 47A, 216f., C. KOESTER 74). Doch nicht mehr die Gemeinde des einzelnen Hauses trägt diesen Namen (so dass es mehrere Hausgemeinden nebeneinander gäbe), sondern die große Gemeinschaft des Volkes Gottes. Das kollektive "Haus", dem Mose diente und das in Chris.tus den Sohn Gottes und seinen Hohenpriester erkennt (3,6; 10,21), integriert die vielen Häuser, die es in der Geschichte des ersten Christentums real gab (und die Hebr nicht mehr erwähnt, was wiederum gut zu einer fortgeschrittenen Gemeindesituation um 100 stimmt). • Die Leitungsaufgabe in diesem Haus schreibt der Hebr ';YO\)~EvoL/Führen den bzw. Leitenden zu (\3,7.17.24; D* 13,7 synonym lTP01lYOU~EVOL). Zugleich schweigt er von Episkopen und Diakonen. Er verwehrt also, christliche Aufsichts- (ElTLOKOlTE1v) und Dienstaufgaben (öLaKovELv) im Sog gesellschaftlicher Institutionalisierungsprozesse an Ämter zu delegieren, und hebt sich dadurch unbeschadet der Erwähnung des Timotheus von den Past ab. Neuerlich wäre eine solche Tendenz (bei allen Differenzen zur Ämtertheologie des 1 Clem) in Rom um 100 gut vertretbar, da die die dortige Gemeinde unseren allgemeinen Leitungsbegriff besonders lange hochhielt (~YOU~EVOL I Clem 1,3; lTPOTWOU~EVOL 21,6; vgl. etwas jünger Herrn, vis II 2,6; III 9,7, zum breiteren christlichen Kontext Lk 22,26; Apg 15,22).
2.6 Ergebnis Überschauen wir die Daten, bleibt der Hebr ein höchst ungewöhnliches Dokument des frühen Christentums und löst sich das vielzitierte Rätsel seiner Entstehung nicht auf (vgl. F. OVERBECK I). Gleichwohl zeigt sich eine bemerkenswerte Richtung: Der Hebr erhält bei der Suche der intendierten Leser/innen unter den Völkern (gegebenenfalls mit starken judenchristlichen Anteilen), bei einer Lokalisierung nach Rom und Datierung in die 90er Jahre einen plausiblen Ort. Bei dieser Verortung gewährt er die tragfähigsten historischen Aufschlüsse.
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3. Diskurs
3.1 Die Basis: ein griechischer Text mit offenen Stellen Die Handschriftenlage erlaubt den kritischen Editionen, den ältest erreichbaren Text des Hebr relativ sicher herzustellen. p46 bietet um 200 einen zentralen Ausgangspunkt, auch wenn er Sonderlesarten und Fehler enthält (Lit. bei H. F. WEISS 128). Jüngere Papyri besitzen für die von ihnen bezeugten Passagen kein minderes Gewicht (bes. p 12, p 1\ die Haupthandschriften des 4.-5. Jh. manchmal größeres (B, N, A). Da der Vaticanus (B) zum Hebr unvollständig erhalten ist, ergibt sich eine Aufwertung von A. Z. B. wahrt A in 10,34 den besseren Text "ihr littet mit den Gefesselten", während der ältere Sinaiticus der Zuschreibung des Hebr an Paulus erliegt und korrigiert "ihr littet mit meinen (= des Paulus) Fesseln". Der Codex D verdient vor allem Aufmerksamkeit, wo er (bzw. seine prima manus) mit p46 gegen die großen sog. alexandrinischen Handschriften iibereingeht, so in der Rekonstruktion I:lipplX o1:Ei.plXlunfruchtbare Sara in 11,11 Nestle-Aland 27 (sie wird von der Einheitsübersetzung fiilschlich ignoriert). Übersetzungen, Zitate bei den Kirchenvätern und einzelne bedeutende Minuskeln (bes. 33 und 1739) kommen hinzu (P. ELLINGWORTH 8185). Angesichts dessen verloren früher verbreitete Konjekturen und Emendationen ihren Rang (s. 5,7 A. HARNACK; 10,20 HOLSTEN und die weiteren Vorschläge bei H. SAHLIN 84-86) und zerrinnt selbst die bis heute gängige Abtrennung von 13,22-25 (oder 13,18/20-25), wie geschildert. Lediglich, wo die Handschriften selbst schwerwiegende Bedenken nahelegen, ist die älteste Textform noch nicht verbindlich ausgelotet. Allerdings betrifft Letzteres immer wieder theologisch hoch bedeutsame Stellen. Die Entscheidung, ob Jesus "durch Gottes Gnade" oder "getrennt von Gott" den Tod schmeckte (2,9) und ob das Gesetz ein Bild der Sachverhalte oder kein Bild besitzt (10,1; Mehrheit der Zeugen OÖK IXU'tf]V, p46 KIXL), ändert religions- und theologiegeschichtliche Koordinaten des Diskurses im Hebr. Je nachdem rückt der Hebr näher an die paulinische Gnadentheologie oder an die Reflexion von Jesu Gottverlassenheit am Kreuz heran, wirkt er gemäßigt oder radikal gesetzeskritisch. Die Theologie des Hebr muss das beachten und die Varianten einbeziehen (1,8; 2,9; 4,2; 9,2-3; 10,1.2; 11,4.37; 12,7.11). Namentlich steht an, die herkömmliche Auffassung von der radikalen Gesetzeskritik des Hebr zu überprüfen; die Debalte über seine Israeltheologie (--+ 2.3.2) könnte dadurch sehr gewinnen.
3.2 Das Rückgrat: SchriJtzitate 3.2.1 Schriftzitate und Theologie des Wortes Gottes Der Hebr zitiert umfangreicher als alle anderen Schriften des Neuen Testaments, doch ausschließlich aus Israels maßgeblichen Schriften, nie aus einer nichtjüdischen Quelle. In ihm finden sich deshalb das umfangreichste Schriftzitat des Neuen Testaments (LXX ler38,31-34 [MT ler31,31-34] in Hebr 8,8-12; A. SCHENKER; K. BACKHAUS, Bund; 1. FREY) ebenso wie zentrale Rezeptionen der im frühen Christentum christologisch überragenden Ps 2 und LXX 109 (MT Ps I 10). LXX Ps 109 (MT Ps 110) wird sogar zum Leitpsalm, der den Text von Kap. 1-12 näher zu strukturieren erlaubt: Von der Christolo-
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gie des Herrn und herrscherlichen Sohns (Hebr 1,3.13; vgl. Ps 110,1) lenkt dieser Psalm zum Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks (Hebr 5,6.10; 7,17.21; 8,1; vgl. Ps 110,4); er verleiht der Christologie des Hebr ihren spezifischen herrscherlich-priesterlichen Ton. G. J. C. JORDAAN gewahrt im Aufbau der Zitate den Fortgang und eine große Umschließung (Inklusion) des Hebr (IO,12f. und 12,2 konzentrieren sich wie Hebr 1 auf Ps 110,1). Der oben beschriebene Anspruch des Hebr, nichtjüdische Leser müssten ihr Leben durch den Gott Israels bestimmen lassen, bestätigt sich durch die Fülle dieser Zitate. Mehr noch, eine spezifische Theologie des Wortes Gottes vertieft das (M. THEOBALD, T. LEWICKI): Häufigster Sprecher der insgesamt 35 (ohne Mehrfachnennungen 29) Schriftzitate ist Gott (ca. 22 mal; die Zählung erlaubt leichte Abweichungen). Die berühmte Eröffnung des Hebr in I, I begründet das programmatisch darin, dass Gott zu den Vätern sprach. Die Schriftzitate werden demnach zum Rückgrat allen theologischen Redens, weil sie das Wort Gottes enthalten. Dass sie niedergeschrieben sind, ermöglicht ihr Zitieren. Aber falsch wäre, mit Geschriebenem in die Ferne zu schweifen. Gott spricht das geschriebene Wort aktuelI, ins Jetzt. Es wird wirksame, lebendige, im Iingustischen Fachausdruck: performative Rede (vgl. 4,12f.). Stets wählt der Hebr dem entsprechend Zitateinführungen mit Verben des Redens und Bezeugens (nie eine solche mit der frühchristlich ansonsten beliebteren Zitatformel "es ist geschrieben").
3.2.2 Schriftzitate und Septuaginta-Text Textgeschichtlich bedeutsam ist ein Zweites. Trotz seines Gewichts auf dem gesprochenen Wort folgt der Hebr im Zitat weitmöglichst den von ihm benUtzten Handschriften der Septuaginta. Das macht ihn zu einem Zeugen tur die Septuaginta-Textgeschichte (G. J. STEYN; U. RÜSEN-WEINHOLD; vg1. R. GHEORGITA). Derzeit wird erwogen, sogar den Septuagintatext an einer Stelle aufgrund dieser AufWertung des Hebr zu korrigieren und in LXX Ps 39,7 (MT 40,7) mit Hebr 10,5 aWf.UX/Leib gegen die Edition von A. RAHLFS (dort uhLcx/Ohren) zu rekonstruieren (M. KARRER, LXX Ps 39). 3.2.3 Schriftzitate und Kanon Nicht minder aufschlussreich ist die Verteilung der Zitate. Bieten wir eine Übersicht (nach Zählung der LXX; im MT weicht die Zählung der Psalmen oft um einen Psalm ab und erscheint Jer 38 als Jer 31): 1,5a 1,5b 1,6
Ps 2,7 1 Chr 17,13/ 2 Reg 7,14 Dtn 32,43 / OdSa12,43; vg1. Ps 96,7
1,7 1,8-9 1,10-12 1,13 2,6--8 2,12
Ps 103,4 Ps 44,7-8 Ps 101,26-28 Ps 109,1 Ps 8,5-7 Ps 21,23
2,13a 2,l3b 3,7-11(-4,7) 4,4 5,5 5,6
Jes 8,17 Jes 8,18 Ps 94,7-11 Gen 2,2b Ps 2,7 Ps 109,4
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D.XIV. Der Hebräerbrief(Martin Karrer) 6,13-14 7,17 7,21 8,5 8,8-12 9,20 10,5-10
Gen 22,16-17 Ps 109,4 Ps 109,4 Ex 25,40--39 Jer 38,31-34 Ex 24,8 Ps 39,7-9
10,16-17 10,30a 1O,30b 11,18 11,21
Jer 38,33-34 Dtn 32,35/ OdSa12,35 Dtn 32,36/ OdSal2,36 Gen 21,12 Gen 47,31
12,5--6 12,20 12,26 13,5 13,6
Prov 3,11-12 Ex 19,13 Hag 2,6.21 Dtn 31,6 Ps 117,6
Die meisten Kommentare fügen hinzu: 3,2,5
Num 12,7
17,1-2
Gen 14,17-20
1 10,37-38
Jes 26,20; Hab 2,3-4
Der Hebr bevorzugt den Pentateuch (13x), die Psalmen (14x) und die Propheten (5x große, 2x kleine Propheten). Die Geschichts- und Weisheitsliteratur fallen an Bedeutung ab. Est, dessen Durchsetzung im Judentum noch im Gange ist, findet keine Beachtung. Kein einziges Zitat führt schließlich über den Bestand hinaus, der später die hebräische Bibel ausmacht, obwohl der Hebr zusätzliche Schriften (bes. Weisheitsliteratur und Makkabäerbücher, in Kap. 11 auch Targumüberlieferungen) berührt (F. SCHRÖGER; P. ELLINGWORTH 38f., C. ROSE). Der Autor vernachlässigt selbst außerkanonische Melchisedektexte, die seine Christologie in einigen Aspekten zu akzentuieren verhülfen (11 QMelch, slavHen; s. aber C. BÖTTRICH). Damit hält sich der Hebr auffällig an die Grenze bindend anzuerkennender Schriften, die sich im zeitgenössischen Judentum formt (vgl. bes. Josephus, Ap I 38-46), und verschiebt nur innerhalb dessen die Gewichte auf die Psalmen. Gezielt fedel1 er seine Kontroverse mit einem aaronitisch-kultisch geprägten Verständnis Israels durch den Anspruch ab, seine Theologie innerjüdisch zu entwickeln; paradigmatisch sieht er Christi Priestertum nach der Ordnung Melchisedeks dank Gen 14,17-20 nicht minder in der Tora begründet als das aaronitisch-Ievitische Priesterrecht und dank des Schwurs Gottes in Ps 109 [MT 110] V, 4 sogar überlegen für rechtsverbindlich erklärt (Hebr 7). Jüdische Leser/innen werden die Gewichtung hinterfragen (der Schwur des Psalms wird höher bewertet als Festlegungen in der Tora). Höchste Aufmerksamkeit verdient jedoch auch dann die kanongeschichtliche Tendenz: Der Hebr bringt, obwohl er nach der Septuaginta zitiert, die Auffassung ins Christentum ein, alle Theologie müsse sich an den heiligen Schriften Israels im engeren Sinn (den ursprünglich hebräischen Schriften von Tora, vorderen und hinteren Propheten, Ketubim mit Schwerpunkt Psalmen) messen. Diese Linie setzte sich im Kanon der Kirche nicht durch (durch die Septuaginta gelangten zahlreiche weitere Schriften in allgemeinen Gebrauch), wirkte aber auf die Gewichtung der Schriften im Kanon indirekt ein (bekannt ist die Einschränkung des Kanons in der Reformationszeit, die den Hebr nicht benützte, indes heute durch ihn eine ntl Stütze findet).
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
3.3 Die Orientierung: Bekenntnis undfrühchristliche Tradition
Die Schriftauslegung des Hebr ist in ihrer Eigenwilligkeit alles andere als selbstverständlich. Richtung gibt ihr das Bekenntnis, das der Autor in den Gemeinden Jesu vorfindet. Dem Bekenntnis (der Homologie) verdankt er laut 3,1 das Verständnis Jesu als "Gesandter", von dem aus sich die soteriologische Bewegung des Hebr erklären lässt (sie beginnt in Kap. I beim Himmel und leitet unter der Anführung Jesu dorthin zurück; 2,10 usw.). Und weiterhin der Homologie (3, I) verdankt er die Erkenntnis, Jesus sei der Hohepriester schlechthin, obwohl er weder einem priesterlichen Stamme entspross noch priesterlich am Jerusalemer Altar zu wirken vermochte (7, I 3f.); daraus ergibt sich für den Autor der Zwang, das Priestertum Jesu aus einer anderen Priesterordnung zu erklären, die Jerusalems Zion im Himmel verankert, und somit der entscheidende Impuls zur Melchisedek-Christologie (Verbindung zu Jerusalern nach Gen 14, himmlische Ausrichtung nach LXX Ps 109 [MT 110]). Auffälligerweise sind "Gesandter" und "Hoherpriester" als christologische Schlüsselprädikate im Neuen Testament nicht nochmals belegt. Das erklärt sich einfach, wenn sie ans Ende der ntl Zeit gehören (man vergleiche zu Q.mlo-coAoc;/Gesandter die Sendungschristologie des Joh und zum Verständnis Jesu als himmlischer Hohepriester die frühnach-ntl Belege bei I Clem 36, I; Ign., Phld 9,1 und Polyc. 12,2). Die Spätdatierung des Hebr gewinnt eine wichtige Unterstützung. Allerdings löst diese Beobachtung nun zugleich eine weitergehende Suche aus: Das Christentum kennt schon in der ersten Generation wichtige christologische Formeln, und solche Formeln verdichten sich bis zum Ende der ntl Zeit. Sollte der Hebr sich dann mit der Orientierung an Schlüsselbegriffen wie den genannten bescheiden und nicht auch christologische Formeln und Lieder aufnehmen? Die Nachfrage der Forschung nach Bekenntnistexten und Formeln im Hebr wird verständlich. Das Hauptinteresse galt einem Taufbekenntnis (postuliert nach 4,14: "Jesus [ist] der Sohn Gottes"; G. BORNKAMM u. a.) sowie Grundlagen für die Sohnes- und Melchisedek-Christologie (erstere bes. in 1,2b--3, letztere in 5,7-10 und 7,1-3.26 vermutet; H. ZIMMERMANN u. a.). Würde die Rekonstruktion gelingen (manchmal gibt es signifikante Indizien wie den Partizipialstil in 1,3), erführen wir im Hebr eine Durchdringung des Gottesdienstes der Gemeinde (in dem es neben der Sohnes- auch schon eine Melchisedek-Christologie gegeben hätte) durch einen exponierten Autor. Das hat großen Reiz (vgl. E. KÄSEMANN \05-110 u. v. a.) und scheitert doch an der Sprachkraft des Hebr-Autors. Seine beschriebene Souveränität, im Stil erlaubte ihm, Stilmittel des frühchristlichen Bekenntnisses selbständig zu verdichten (Partizipien in 1,2f., Rhythmen und Parallelismen in 7,1-3.26). Nach gegenwärtigem Stand ist möglich, dass er das Gebäude der MelchisedekChristologie anhand der genannten Schriftzitate als erster auf dem in seiner Zeit gerade entstandenen Bekenntnis errichtete, Jesus wirke als Hohepriester für die Seinen bei Gott (Weiteres bei F. LAUB; W. R. G. LOADER; eine kaum
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konsensfähige rechtliche Erschließung des Bekenntnisbegriffs versucht S. FUHRMANN 59-61.65-70). Daneben nimmt der Hebr selbstredend theologische und ethische Traditionen in beträchtlichem Umfang auf (nicht selten in Berührung zu pln Gemeinden; K. BACKHAUS, Hebräerbrief). Die immer wieder vermutete Relevanz von eucharistischen Überlieferungen (zuletzt U. WILCKENS 326) ist allerdings nicht minder umstritten als die des Taufbekenntnisses (das Motiv des neuen Bundes in Hebr 8 und das Bundesblut in 9,20; 10,29; 13,20 erinnern an die Mahlworte Jesu, ohne einen klaren Bezug dorthin herzustellen).
3.4 Impulse: die re/igionsgeschichtlichen Kontexte Die Eigenwilligkeit des Hebr ist ohne Impulse durch die religions- und philosophiegeschichtlichen Strömungen seiner Zeit nicht erklärbar. Entsprechend große Mühe verwandte die Forschung darauf, diese Strömungen zu identifizieren, freilich ohne einen Konsens zu erreichen: In der Mitte des 20. Jh. dominierte die Erklärung des Hebr vor dem Hintergrund der entstehenden Gnosis (durchgesetzt durch E. KÄSEMANN). Sie verlor mit der zunehmend späteren Datierung der gnostischen Vergleichstexte an Bedeutung, wird aber nicht ganz schwinden, da der Hebr in seiner Liebe zum Unsichtbar-Himmlischen und Distanz zum Materiellen manche Züge der Gnosis vorbereitet (vgl. bes. die Erklärung von 2,10-13 bei E. GRÄSSER, EKK XVllll, 130-133). Gleichzeitig lenkte HOFIUS die Aufmerksamkeit auf jüdisch-apokalyptische Strömungen mit weisheitlich-mystischen Seitenlinien, die viele Details zu verstehen helfen (die Vorliebe des Hebr für das himmlische Heiligtum samt Vorhängen, Räumen etc. begegnet dort; EtOE:Pxoj.J.E8a/ wir kommen hinein, in 4,3 könnte ein futurisches Präsens sein etc.). Dritte machen die Einflüsse des jüdischen Hellenismus und mittleren Platonismus stark, unter den Kommentaren am eindrücklichsten C. SPICQ (I 39-91, II 70 u. ö.; vgl. außerdem J. W. THOMPSON). Im zugespitztesten Fall wird das von Ex 25,40 angestoßene und in Hebr 8-10 grundlegende Schema von himmlischem Ur- und irdischem Abbild (bes. 8,5) ein Zeugnis philosophischer Durchdringung. Das himmlische Heiligtum und die himmlische Stadt des Hebr (in der gnostischen Deutung Zeugnis der Abkehr vom Kosmos, in eschatologischer Sicht Ziel einer endzeitlich drängenden, geschichtlichen Bewegung) verweisen dann auf die ontologisch-ideelle Wirklichkeit des mittleren Platonismus (W. EISELE 377-380 u. ö.). Die Mehrheit der derzeitigen Forschung zieht aus den Kontroversen den naheliegenden Schluss, der Hebr verweigere sich einer einseitigen Festlegung (vorbereitet schon bei F. J. SCHIERSE). Der Autor erweise seine Kraft des Denkens vielmehr in der Synthese der vielfältigen Anregungen, die ihm entgegenströmten (vgl. H. F. WEISS 114; W. KRAUS 71). So gelesen, lassen sich Beziehungen wie Differenzen gleichermaßen würdigen, löst sich etwa das viel dis-
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D. Die Briefe - Deuteropaulinen
kutierte Beziehungsfeld zu Philo auf (ein verwandtes Interesse an gedanklicher Durchdringung äußert sich in zentralen Fragen bis hin zur Differenz zwischen Philos noetischer Abstraktion des Logos und Hebr 4,12f. verschieden; R. WILLIAMSON, K. L. SCHENCK u. a.). Folgen wir dieser Spur, vereint der Hebr das Interesse am Unsichtbaren aus Eschatologie und Philosophie in einer Theologie, die eigenständig zu einem Auszug aus der vorfindlichen Wirklichkeit in Gottes andere Welt ermuntert. Der Autor negiert das Irdische nicht (s. die Anweisungen zum irdischen Leben in Kap. 13). Allein, er relativiert es, weil das Himmlische Vorrang verdient; sogar die antik selbstverständliche Gastfreundschaft begründet er in 13,2 nicht als irdisch-soziale Pflicht, sondern mit der Möglichkeit überirdischer Gäste. Seine Sehnsucht nach dem Nicht-Irdischen (in seiner Sprache: die Verankerung seiner Hoffnung hinter dem himmlischen Vorhang; 6,18-20) liegt zeitlich eindeutig vor der Gnosis und bereitet doch den Grund für die späteren gnostischen Entwürfe. Noch haben wir damit freilich nicht das entscheidende Integrationsmoment erreicht: Der Hebr richtet sein Denken auf ein kultisches Ziel aus, die Gegenwart des Menschen vor Gott in dessen himmlischem Heiligtum (4,16 usw.). Der Nachvollzug dieses Denkbereichs fälIt heute besonders schwer, weil der spätantike Siegeszug des Christentums die Kulte verdrängte, aus denen der Hebr seine Beschreibungen schöpft. Doch die Neuerschließung ist in vollem Gange (angeregt nicht zuletzt dadurch, dass die Qumranfunde kultisches Denken in die Mitte des Judentums rückten). Die wichtigste aus ihr sich ergebende Frage betrifft die Relation zwischen Himmel und Erde: Wenn der Hebr den kultischen Dienst Christi strikt auf das himmlische Heiligtum konzentriert, wird das irdische Leben zum Raum des Profanen (im Wortsinn: des vor dem Heiligtum Liegenden). Der Hebr befreit das irdische Leben trotz seines kultischen Interesses paradox zu kultfreiem Gehorsam (G. GÄBEL; dort auch die religionsgeschichtlichen Quellen). Eine Ethisierung des Glaubens lässt sich anschließen, wie die Forschung sie seit E. GRÄSSER (Glaube) diskutiert (nicht ohne auf die Spannungen zum reformatorischen G1aubensverständnis hinzuweisen). Wenn der Hebr dagegen bereits die Präexistenz Jesu priesterlich-kultisch durchdringt (worauf das Reinigungsmotiv in 1,3 verweist), ist Jesu irdisches Wirken in sein Priesteramt einzubeziehen (die Darbringung von 5,7 überträgt ein Kultmotiv; M. KARRER, ÖTBK 20/1,271-273). Das kultische Denken des Hebr strahlt aufs irdische Leben aus. Das Glaubensverständnis gewinnt an Tiefe (der Glaube von 11,1 meint primär eine Zuverlässigkeit des Erhofften und Verankerung im Nichtseienden, erst sekundär, von dort abgeleitet, einen ethischen Impuls). Doch die Hermeneutik muss sich der schwierigen Aufgabe einer Vermittlung vergangenen Kultdenkens stellen.
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3.5 Der Anspruch des Christentums als Religion
Die Theologie muss sich dem eigentümlichen Denken des Hebr widmen (über das Gesagte hinaus bes. seinem Iiminalen Ansatz, der Sünd- und Bußtheologie [kontrovers H. LÖHR, Umkehr; S. FUHRMANN]) und die angedeuteten Kontroversen von der Israel- bis zur Kulttheologie austragen. Religionsgeschichtlich ist schon unsere vorsichtige Feststellung des Befundes von hohem Belang. Denn sie geleitet uns, mit antiken Augen gelesen, zur ausschlaggebenden Leistung des Hebr: Die Antike erwartete von jeder Religion, d. h. jeder "Ehrung der Götter" (so die griechische Herleitung des Religionsbegriffs; z. B. Sophokles, Antig. 745; Aischylos, Agam. 637) und jedem religiös festgelegten Durchgehen dessen, was für den Kultus der Götter festgelegt ist (Cicero, Nat Deor n 72), einen eigenen Kult und von Priestern vollzogene Opfer. Das frühe Christentum war darum erst als eigene Religion erkennbar, wenn es Kult und Priestertum in spezifischer, sich abhebender Weise reflektielte. In den Anfängen des Christentums spielte dieses Problem noch keine zentrale Rolle; die engen Bande zum Judentum boten eine Brücke. Als sich diese verlor, stand die Suche nach einer Lösung an. Der Hebr stellte sich dieser Aufgabe und bot einen Entwurf, der die Bande zum Judentum nach Ansicht des Autors aufrecht erhielt (Jesus ist für ihn Priester nach einer Ordnung der Schrift), ein Heiligtum für die Glaubenden bestimmte (das himmlische Heiligtum des einen Gottes) und ihnen dennoch die gewonnene Distanz zu allen Kulten der Völker auferlegte (diese Kulte sind irdisch vergänglich und dem einen Gott fremd). Ab dem Hebr lässt sich insofern das Christentum Religion nennen. Wie immer seine theologischen Akzente im Einzelnen zu bewerten sind, religionsgeschichtlich ist er - wie sprachlich und durch seine Gedankenleistung - als eine der bedeutendsten Schriften des Neuen Testaments wiederzuentdecken. Ihn aus der RandsteIlung zu befreien, steht an. Literatur Kommentare: H. W. ATTRlOGE (Hermeneia) 1989. H. BRAUN (HNT 14) 1984. P. ELLINGWORTH (NIGTC) 1993. D. A. DES1LVA, Perseverance in gratitude. A socio-rhetorical commental)' on the Epistle "to the Hebrews", Grand Rapids (MI) 2000. E. GRÄSSER (EKK XVIIII-3) 1990/93/97. D.1. HARRINGTON (The New CollegeviIle Bible Comment8l)' 11) 2005. H. HEGERMANN (ThHK 16) 1988. M. KARRER (ÖTBK 20/1) 2002. W. L. LANE (Word Biblical Commentary 47A-B) 1991. F. LAUB (SKK.NT 15) 1988. C. KOESTER (AncB 36) 2001. C. P. MÄRZ, (NEB.NT 16) 2 1990 ('1989). G. SCHUNACK (ZBK.NT 14) 2002. C. SPICQ (EtB) '1952/53. A. STROBEL{NTD 9/2) 41991. H. F. WEISS (KEK 13)1991. Eüzzelstudien: K. BACKHAUS, Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule, in: BZ 37 (1993)
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D.xIV. Der Hebräerbrief(Martin Karrer)
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D.XV. Der Jakobusbrief (Matthias Konradt)
Die Sicht des Jak hat sich in der neueren Forschung zum Teil grundsätzlich verändert. Dies gilt sowohl im Blick auf die literarische Einschätzung als auch hinsichtlich der theologischen Würdigung. Verschiedentlich ist von einer "Rehabilitierung" des Briefes die Rede. Sie bedeutet eine Gegenbewegung zu seiner traditionellen Abwertung, vor allem in der lutherischen Theologie, der es nach dem Urteil vieler heutiger Exegeten nicht gelungen ist, dem Jak Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
I. Struktur Schon Martin Luther konnte im Jak "kein ordo noch methodus" entdecken (TR 5, 157) und hielt seinem Verfasser vor, dass er "so vnordig eyns yns ander" werfe (WA, DB 7, 386). Forschungsgeschichtlich folgenreich war die formgeschichtliche Profilierung dieses Urteils durch M. DIBELIUS in seinem. 1921 erschienenen Kommentar (13-23): Der Jak sei der Gattung nach Paränese, zu deren Merkmalen weitgehender Eklektizismus, Zusammenhangslosigkeit und Situationslosigkeit gehören. Mit einer durchgeführten Disposition war daher gar nicht zu rechnen. Man kann höchstens versuchen, Sprüche zu Spruchgruppen zu ordnen. Ausnahmen sah Dibelius allein in den "drei abhandlungsartigen Ausführungen" (14) 2,1-13; 2,14-26; 3,1-12. In ein Bild gefasst: Der Jak erschien als eine "freischwebende ethische Hausapotheke" (C. BURCHARD, Stellen 354). In der neueren Forschung ist demgegenüber - angestoßen durch Veränderungen in der Methodenlandschaft (Redaktionskritik, synchrone Lektüre) eine radikale Neubewertung des Jak als eines theologisch reflektierten Schreibens mit durchdachter Gliederung und situativem Bezug vorgenommen worden (H. FRANKEMÖLLE, C. BURCHARD u. a.). Unter den Gliederungsversuchen hat die Grobgliederung in Prolog, Hauptteil und einen mit 5,7 beginnenden Schlussteil relativ breiten Zuspruch gefunden. Umstritten ist, ob der Prolog mit 1,27, mit 1,18 oder schon mit 1,12 bzw. 1,11 endet. Für 1,2-12 ist darauf zu verweisen, dass hier stichwortartig Themen exponiert werden, die im Hauptteil ziemlich genau in der Reihenfolge ihres Vorkommens im Prolog entfaltet werden (vgl. das Schema auf S. 499). 1,2-12 fungiel1 also als eine Art "summarische Exposition" (H. VON LIpS 424). Darin stellt 1,2-4 in programmatischer Weise das Grundanliegen vor: Die Vollkommenheit bildet das ideale Ziel christlichen Lebenswandels (l,4b); das Standhalten in den Prüfun-
D.XV. Der Jakobusbrief (Malthias Konradt)
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genlVersuchungen (= was ein Christ zu lassen hat, das Verbotene) in 1,2f. hier liegt insgesamt der Schwerpunkt des Briefes - und das Tun des positiv Gebotenen (l,4a) benennen elementarisiert und einander ergänzend die beiden diesem Ziel zugeordneten Seiten christlicher Existenz. 1,5-11 füllt das in 1,24 aufgestellte Grundgerüst durch die Einführung gewichtiger Aspekte auf, die das Grundanliegen entfalten: die Weisheit (l,5), die GespaItenheit (1,6-8), die DemutlNiedrigkeit (1,9) und das dem jetzigen Anschein entgegenstehende eschatologische Ergehen der (unsozialen) Reichen (I, IOf.). Mit dem Makarismus in 1,12 wird die Thematik von 1,2( in einen eschatologisch-soteriologischen Horizont gestellt. In 1,13-25 folgt eine theologische Grundlegung zu den beiden in 1,2-4a eingeführten Seiten christlichen Lebenswandels: 1,13-18 nimmt die Versuchungsthematik aus 1,2f. auf, aber nun negativ gewendet unter der Perspektive, dass jemand der Versuchung erliegt; 1,18-25 ergänzt dies analog zu 1,4a um den positiven Aspekt des Tuns des Wortes. 1,18 fundiert beide Aspekte in Gottes Heilshandeln am Christen und bildet insofern die Achse bzw. das Zentrum der Einheit (-+ inhaltlich Näheres unter 3.1). Ob man im Rahmen der dreigliedrigen Makrostruktur 1,13-25 mit 1,2-12 zu einem zweigliedrigen Prolog zusammenzieht (beide Abschnitte enden mit einem Makarismus) oder - wie im Schema auf S. 499 - zum Hauptteil nimmt, ist von untergeordneter Bedeutung. Oder anders: 1,13-25 ist ein Zwischenschritt zwischen der summarischen Exposition und ihrer Entfaltung, der dazu dient, das theologische Fundament der Entfaltung bereitzustellen. Wie die summarische Exposition in das grundlegende Programm (1,2-4) und dessen Ausgestaltung (1,5-11) zu unterteilen ist, lassen sich im Hauptteil (nach 1,13-25) zwei große Blöcke unterscheiden: 1,2-4 wird in 1,26-3,12 entfaltet, 1,5-11 in 3,13-5,6. In 1,26-3,12 fungiert 1,26f. als eine Art Obersatz zu den drei Einheiten 2,1-13; 2,14-26; 3,1-12, der die Entfaltung von 1,2-4 unter die Überschrift des wahren Gottesdienstes stellt und dessen drei Glieder (1,26.27ab.27c) in inverser Reihenfolge den drei Abschnitten in 2,1-3,12 zuzuordnen sind. In 2,1-13 .14-26 werden die beiden Seiten des christlichen Lebenswandels (1,2-4a) unter Aufnahme der 7TLoH~/Glaube als Leitwort vertieft. So entfaltet 2,1-13 die Versuchungsthematik (I,2f.) anhand der mit dem Glauben an die Herrlichkeit Christi (2, I) inkompatiblen Ungleichbehandlung von Armen und Reichen - die Reichtumsproblematik steht im Jak im Zentrum der Versuchungsthematik -, und exemplifiziert damit, was es heißt, sich von der "Welt" unbefleckt zu halten (1,27c). 2,14-26 nimmt - in Korrespondenz zur Sorge um die Armen als Ausdruck des wahren Gottesdienstes in 1,27abdie zum Glauben hinzugehörenden Werke in den Blick (vgl. l,4a) und weist ihre soteriologische Relevanz auf. In 3,1-12 schließlich wird die in 1,4 exponierte Vollkommenheitsthematik aufgenommen (3,2) und mit dem Problem der Zungensünden (vgl. 1,26) verknüpft. Der Funktion von 1,26f. als Obersatz zu 2,1-3,12 fügt sich ein, dass Jak in allen drei Abschnitten von 2,1-3,12 seine Ausführungen mit Beispielen aus dem Bereich der gottesdienstlichen
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
Feier illustriert, die sich als (überspitzende) Darstellungen der "nichtigen Frömmigkeit" von 1,26 lesen lassen (2,2f.; 2,15f.; 3,9f.). 3,13-5,6 hebt sich von den vorangehenden Textsegmenten im Tonfall deutlich ab. Die zuvor geläufige Bruderanrede (1,2.16.19; 2,1.5.14; 3,l.l0.12) begegnet in 3,13-5,6 nur in 4,11, um dann im Epilog wieder hervorzutreten (5,7.9.10.12.19). Stattdessen werden die Adressaten in 3,13-5,6 als "Ehebrecher" (4,4), "Sünder" und "Zweiseeler" (4,8), also als Leute, die sozusagen ein Doppelleben führen, gescholten. In 3,13-4,12 entfaltet Jak die Weisheitsthematik (I,5), die Gespaltenheit (1,6-8) und die Demut (1,9) in der Weise, dass er Missstände bei den Adressaten attackiert: Während die von Gott kommende Weisheit sich in Sanftmut (3,13), Friedfertigkeit und anderen Tugenden zeigen würde (3,17), sind bei den Adressaten offenbar Eifer- und Selbstsucht (3,1416) sowie Streitigkeiten (4,1) anzutreffen, die aus ihrer "weltlichen" (4,4) Grundorientierung, ihrem eigensüchtigen und hedonistischen (4,1.3) Streben (nach materiellen Gütern) folgen und Ausdruck der Gespaltenheit der Adressaten zwischen Gott und "Welt" sind (4,4). 4,7-10 fügt einen Aufruf zur Umkehr an. Die Mahnung in 4,11 f., nicht (vor anderen) schlecht über einen "Bruder" zu reden oder ihn (endgültig) zu verurteilen, bedeutet gegenüber 3,134, I 0 einen Perspektivenwechsel, der im Kontext aber guten Sinn macht: Dem Appell an die "Sünder" zur Umkehr wird eine Ermahnung der ,,Brüder" zum rechten Umgang mit Ersteren an die Seite gestellt. In 4,13-5,6 baut Jak mit den großspurig planenden, nur auf ihren Gewinn fixierten Kaufleuten (4,13-17) und den unsozialen, sich schwelgerisch ihrem Luxus hingebenden reichen Landbesitzern (5,1--6) einen "uneigentlichen" Adressaten auf. Entscheidend für das Verständnis ist es, die Funktion des Abschnitts im Gesamtzusammenhang zu bestimmen: Jak zeichnet hier ein polemisches Bild der Leute, die den weltzugewandten Christen in ihrem Streben nach Reichtum und Sozialprestige als Orientierungsfiguren dienen, und sucht deren Lebenssituation auf anthropologischer (4,14) und eschatologischer Ebene (5,1) als Lebensideal zu destruieren. Der Epilog wird in 5,7-11 durch eine Art Reprise eröffnet: Ging es zuvor um das Durchhalten der Differenz zur "Welt", so wendet sich Jak in 5,7-11 der ausharrenden Geduld angesichts der sozialen Schikanierung zu, die auf Christen zukommt, wenn sie die zuvor geforderte Abgrenzung von der Umwelt leben. In 5,12-18 folgen einige Grundmahnungen rur jedermann, die thematisch um "religiöses Sprechen" kreisen: Schwören auf Gott als Missbrauch des Namens Gottes, Lobsingen und Beten in seinen verschiedenen Varianten. Die Schlussverse in 5,19f. bringen das eigene Anliegen des Jak zum Ausdruck und zielen zugleich darauf, dass die Adressaten sich dieses zu eigen machen und also die doppelseeligen, vom "Weg der Wahrheit" abgeirrten Christen, die Freunde der "Welt", zur Umkehr zu bringen suchen.
1,2-12 Prolog (Stichwortl ieferant) I 2-4 Programm
1,13-5,6 Hauptteil (entfaltet die im Prolog stichwortartig angeführten Themen)
5,7-20 Epilog
5,7-11 ReQrise Seid ausdauernd und geduldig in den Schikanierungen, die ihr als ungeteilte 1,2f. Bewährung des Christen erfahrt, und seid Glaubens in den auch im Umgang mannigfaltigen miteinander geduldig. Das Versuchungen Ende ist nahe. Wer 1,4 und dem Glauben durchhält, der wird das Heil gemäße Werke empfangen, denn Gott ist barmherzig. mit dem Ziel, dass 5,12-18 Grundmahnungen das Werk und man für immer und jedermann selbst vollkommen ist. Sagt ohne Eid immer die Wahrheit und missbraucht 1,5-11 Ausgestaltung Gott nicht in eurem Reden. 1,5 Dabei hilft die Weis3,13-4,12 Wo die von Gott kommende Weisheit ist, sind Sanftmut und Friedfertigkeit Bringt euer Leben im Gebet anzutreffen. Eifersucht und Selbstsucht zeugen dagegen gegen den Besitz von heil, die Gott gibt, - in Bitte, Lobpreis, SündenWeisheit. - Streitereien kommen vielmehr aus dem Begehren (nach Gütern und 1,6-8 aber nur den ungebekenntnis und Fürbitte - vor damit verbundenem Sozialprestige) und sind Ausdruck von Gespaltenheil teilten Christen, Gott. 1,9 den demiJtigen, die zwischen Gott und Welt. - Solch hochmütigen Menschen wird Gott widerstehen, I I aber den DemiJtigen gibt er Gnade. Die gespaltenen Christen haben die Chance zur 5,19f. Abschluss sich ihrer Höhe Bringt verlorene Sünder zu- I Umkehr. In Demut sollen sie sich Gott unterordnen, dann wird Gott sie erhöhen. rühmen dürfen, rock (zugleich das Anliegen I, IOf. während die gottlo- 4,13-5,6 Kehren sie nicht um, können sie anhand der selbstherrlichen und unsozial des Schreibens selbst). handelnden Reichen ihre eigenen schlechten Zukunfts chancen studieren. sen Reichen niedergehen werden. 1.12 abschließende Seligpreisung derer, die in der Versuchung - standhalten - - - - - - - -----------1,13-25 Theologische Grundlegung (tur die Entfaltung des Programms) 1,13-18 VersuchfWe"den durch die Begierde als mit Gottes Heilshandeln unvereinbares Fehlverhalten des Christen 1,18-25 Annahme des Wortes in Hören und Tun des Werks als dem Heilshandeln Gottes entsprechendes Verhalten des Christen
1,26-3 12 Entfaltung des Programms unter der Überschrift wahren Gotte~dienstes (I 26[) Wahrer, und das heißt: ethischer Gottesdienst ist: a) 1,27b sich von 2,1-13 illustriert an der Unparteilichder Welt unbekeit gegenüber Reichen und Armen fleckt zu halten als Bewährung des Glaubens an die b) 1,27a sich der Herrlichkeit Jesu Christi Armen anzuneh- 2,14--26 grundlegend ausgeführt men; anhand der Bedeutung der Werke für rechten, rettenden Glauben c) 1,26 keine 3,1-12 die Zunge ist ein brandgeungezügelte flIhrliches Übel. Könnte jemand sie Zunge zu haben. vollständig beherrschen, hätte er das Ziel der Vollkommenheit erreicht.
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
2. Entstehung
2. J Quellen und Traditionen Mit der neueren Tendenz, den Jak auf Anlass und Anliegen seines Verfassers hin zu befragen, ist nicht in Abrede gestellt, dass der Verfasser häufig nicht freihändig fonnulierte, sondern auf Traditionen rekurrierte. Sehr enge Berührungen sind verschiedentlich mit der Jesustradition konstatiert worden (F. MUSSNER, P. H. DAVIDS, P. J. HARTlN, James, u. a.), vor allem mit der Spruchüberlieferung, wie sie in der Logienquelle gesammelt ist. Verschiedentlich ist Abhängigkeit von Q (bzw. einer Rezension von Q) postuliert worden (P. H. DAVIDS, P. J. HARTlN, James). D. B. DEPPE (219f.) hingegen geht nur flir acht Stellen von einer bewussten Anspielung aus: Jak 1,5; 4,2c-3 (Mt 7,7 par); 2,5 (Mt 5,3 par); 4,9 (Lk 6,21.25b); 4,10 (Mt 23,12 par), 5,2-3a (Mt 6, 19f. par); 5,12 (Mt 5,33-37); 5, I (Lk 6,24). Eine wirklich enge Übereinstimmung im Wortlaut besteht dabei nur beim Schwurverbot (Jak 5,12). Ein Grundproblem ist, dass beim Vergleich von Jak mit syn Tradition häufig andere eng verwandte Texte nicht einbezogen werden. So ist z. B. für die paränetische Fassung des Logions aus Mt 23,12 par in Jak 4,10 auf die Parallele in 1 Petr 5,6 zu verweisen (M. KONRADT, Kontext 193-196 mit weiteren Beispielen). Im Einzelfall ist also damit zu rechnen, dass Jesusgut in die sonstige paränetische Tradition eingeflossen ist und über diesen Zwischenschritt Eingang in den Jak gefunden hat. Zugleich besteht umgekehrt die Möglichkeit, dass Jesuslogien sekundär gebildet wurden. So könnten die Berührungen von Jak2,13; 3,18 mit den (sekundären) Makarismen in Mt 5,7.9 auf paralleler Rezeption von Gemeindetradition beruhen. Dies führt freilich nur zu einer Modifikation der These einer besonders dichten Beziehung zwischen Jak und Jesustradition, nicht aber zu deren grundsätzlichen Bestreitung: Der Befund im Jak verweist auf einen Kontext, in dem es zu einer intensiven Wechselwirkung zwischen Jesustradition und sonstiger Überlieferung gekommen ist. Aufgrund der besonderen Affinität zum MtEv, die nicht nur einzelne Traditionen (Schwurverbot), sondern auch die theologische Ausrichtung betrifft, liegt es nahe, den Jak im Umkreis des Traditionsraumes zu lokalisieren, der das MtEv geprägt hat. Literarische Kenntnis des MtEv wird aufgrund der Differenzen zwischen Jak 5,12 und Mt 5,33-37 gerade nicht nahe gelegt. Kontrovers diskutiert wird gegenwärtig die Frage der Beziehung zur pln Tradition. Die These, dass Jak 2,14-26 sich entweder direkt mit Paulus oder mit einer die pln Rechtfertigungsaussagen verkürzenden Rezeption auseinander setzt, bildete lange einen magnus consensus. In der neueren Diskussion sind auf der einen Seite weitere Texte neben 2,14-26 (z. B. 2,8-11: Stellung des Liebesgebotes, 1,25: Gesetz der Freiheit) mit Paulus in Beziehung gesetzt worden (extrem M. HENGEL und K. SYREENI, s. ferner W. POPKES, ThHK 14, 36-39; M. KLEIN 197-204), auf der anderen Seite ist auch flir 2,14-26 Abhängigkeit von Paulus (zugunsten einer Erklärung der Affinitäten über eine
D.XV. Der Jakobusbrief{Matthias Konradt)
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gemeinsame jüdische Traditionsgrundlage) bestritten (T. C. PENNER, Eschatology 47-74; M. KONRADT, Kontext 172-190; K. HAACKER 219-22) bzw. nur noch eine "sprachliche Vorarbeit" des Paulus konzediert worden, ohne Jak 2,14-26 als Auseinandersetzung mit Paulus zu lesen (e. BURCHARD, HNT 15/1, 126). Mehrere sehr enge Berührungen sind mit dem I Petr zu verzeichnen (v. a. Jak 1,2f./1 Petr 1,6f.; Jak 1,18.2111 Petr 1,22-2,2; Jak 4,6-1011 Petr 5,5c-9; Jak 5,20/1 Petr 4,8). Sie sind nicht, wie zuweilen postuliert wurde, durch literarische Abhängigkeit zu erklären, sondern verweisen auf gemeinsame Tradition, die in beiden Schriften jeweils unterschiedlich ausgestaltet wurde. Instruktiv ist insbesondere Jak 1,18.2111 Petr 1,22-2,2, weil sich zu den einzelnen Gliedern auch im Corpus Paulinum Parallelen finden, Jak und I Pelr diesen gegenüber aber einen eigenen Traditionszweig repräsentieren: Die Interpretation der Konversion als (Wieder-) Geburt begegnet auch anderOrlS (z. B. Tit 3,5), aber nur in Jak und 1 Petr erscheint das Wort als Wirkmittel der "Geburt"; das zweigliedrige paränetische Schema in Jak 1,21; 1 Petr 2,1 f. hat Parallelen in Röm 13,12.14; Eph 4,22-24; Kol 3,8-10, aber nur in Jak und 1 Petr steht dem Ablegen des Alten im positiven Glied die Annahme des Wortes gegenüber, und nur in Jak lind 1 Petr sind "Geburtsaussage" lind paränelisches Schema miteinander verbunden. Der breiten Rezeption frühchristlicher Tradition steht die Veltrautheit mit frühjüdischer Tradition zur Seite. Jak 2,21-23 schreibt frühjüdische Abrahamtradition fOlt (vgl. Sir 44,20; I Makk 2,52). Die Rede von Hiobs Geduld in Jak 5,11 bezieht sich weniger auf das biblische Hiobbuch als auf frühjüdische Hiobhaggada (vgl. TestHiob). Die Sozialkritik des Jak (v. a. 5,1--{)) zeigt den Einfluss prophetisch-apokalyptischer Tradition. Zudem ist Jak "die ntl Schrift ... , die am stärksten in der Tradition der atl-jüdischen Weisheit steht" (H. von LIpS 434). Weisheitliches bestimmt den Jak aber nicht so, dass man ihn eine Weisheitsschrift nennen könnte.
2.2 Teilungshypothesen Der Jak weist keinerlei Indizien auf, die Anlass zu Zweifeln an seiner literarischen Integrität geben könnten.
2.3 Gattung Der briefliche Charakter des Jak ist in der älteren Forschung häufig bestritten worden, weil Jak zwar ein (griechisches) Präskript aufweist, im Vergleich zu den Paulusbriefen aber ein Briefschluss fehlt. Unter den Vorschlägen zur Gattung (Diatribe, Homilie, protreptische, weisheitliehe Rede, halachischer Traktat, Sammlung katechetischen Materials, Neophytenbelehrung etc.) hielt
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
Dibelius' These, der Jak sei der Gattung nach Paränese, über viele Jahrzehnte die Spitzenposition. Zuletzt haben sich aber die kritischen Stimmen gemehrt, denn Paränese "ist Gattungsbezeichnung für Reihen kurzer Mahnsprüche, die es bei Jak kaum gibt (allenfalls 5,12f.), oder aber Sammelbegriff für sittliche Mahnungen verschiedener Form" (C. BURCHARD, HNT 15/l, 9). Der Jak ist mehr als dies. Gegenwärtig wird der briefliche Charakter wieder stärker gewichtet (H. FRANKEMÖLLE, ÖTBK 17/1, 64-70; R. HOPPE, Jakobusbrief 171175 u. a.). Einige Ausleger stellen Jak aufgrund der adscriptio ("zwölf Stämme in der Diaspora") in die Tradition der jüdischen Diasporabriefe (z. B. M. TsUH 18-37; K.-W. NIEBUHR, Diasporabriefe; D. J. VERSEPUT 99-104, kritisch dazu R. HOPPE, Jakobusbrief 173-175). Sachlich kann man nur auf einer recht abstrakten Ebene Affinitäten finden, und man kann kaum mehr sagen, als dass Jak sich die (literarische) Tradition (fiktiver) jüdischer Diasporabriefe in der adscriptio zunutze macht und darauf anspielt. Wenn man über die Zuweisung zur Rahmengattung "Brief' hinaus präzisieren will, kann man am ehesten von einem "Mahnbrief' sprechen (C. BURCHARD, HNT 15/[, 9).
2.4 Verfasser Es besteht ein breiter Konsens, dass der im Präskript genannte Jakobus nur der Bruder Jesu (Mk 6,3) sein kann, der in der Jerusalemer Urgemeinde eine leitende Position innehatte (Gall,19; 2,9; Apg 12,17; 15,13-21; 21,18-25); 62 n. Chr. nutzte der Hohepriester Ananos eine Statthaltervakanz, um Jakobus wegen angeblicher Verletzung der Tora steinigen zu lassen (Josephus, Ant XX 200). Die These, dass der Brief tatsächlich vom Herrenbruder selbst verfasst wurde - dann wurde er vor 62 n. Chr. in Jerusalem geschrieben -, findet nach wie vor Zuspruch (F. MUSSNER, M. HENGEL, L. T. JOHNSON, AncB 37A, u. a.). Die Mehrheit votielt aber für Pseudepigraphie. Nicht alle dafür angeführten Indizien sind in gleicher Weise stichhaltig. Dass "typische Probleme der 2.-3. Generation ... sichtbar [werden]: Nachlassen der Spannkraft und der Tätigkeit des Glaubens, Welt-Zugewandtheit, Wohlstand und Prestigedenken, soziale Unterschiede, Gruppenegoismus" (W. POPKES, ThHK 14,43), ist zumindest kein zwingendes Ausschlusskriterium für eine frühere Ansetzung. Falls Jak 2,14-26 auf Paulus' Rechtfertigungsaussagen bzw. ihre Rezeption reagiert (-> 2.1), muss dies nicht gegen den Herrenbruder sprechen, denn zum einen gab es schon früh Missverständnisse (vgl. Röm 3,8!), zum anderen hat Jakobus zwar auf dem Jerusalemer Treffen (~ D.lI.) der beschneidungsfreien Völkermission zugestimmt (GaI2,1-1O; Apg 15), doch kann sich seine Einschätzung des "Völkerapostels" zwischen Jerusalemer Treffen und letztem Jerusalembesuch von Paulus (Apg 21,18-26) oder auch danach noch aufgrund der weiteren Entwicklungen verändert haben. Andere Indizien sprechen jedoch - zumal in ihrem kumulativen Gewicht - für Pseudepigraphie:
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(1) Das Argument, dass Jakobus das rhetorisch gepflegte Griechisch nicht zuzutrauen ist, kann man zwar mit dem Verweis auf die Verbreitung der griechischen Sprache in Palästina und mit dem Postulat zu entkräften suchen, dass Jakobus, auch wenn er als galiläischer Handwerkersohn so nicht hätte schreiben können, als FUhrungskraft der Jerusalemer Urgemeinde einen bilingualen Bildungsschub erlebt haben oder sich eines Sekretärs bedient haben mag. Es kommt aber hinzu, dass rezipierte Traditionen wie z. B. bei 1,2f. (vgl. 1 Petr 1,6f.) offenkundig in griechischer Sprachgestalt umliefen. Von daher liegt es wesentlich näher, an ein Entstehungsgebiet zu denken, in dem Griechisch selbstverständlich Verkehrssprache war. (2) Das Gedankengut des Jak ist an gewichtigen Stellen stark hellenistisch geprägt (Bedeutung der Begierde [1,14f.], Gesetz der Freiheit [1,25; 2,12]; Rückführung der Streitigkeiten auf die Lüste [4,1-3]; Gott als der wesenhaft und unveränderlich Gute [1,17] u. a.), was, ohne damit hellenistischen Einfluss in Jerusalem gänzlich in Abrede zu stellen, sich in der Summe erheblich besser durch das hellenistische Diasporajudentum vermittelt denken lässt. (3) Der Verfasser bezeichnet die Adressaten in 1,1 als die "zwölfStämme", womit, da der Jak eine rein binnenkirchliche Kommunikation ist, nur die Christenheit gemeint sein kann. Diese selbstverständliche Identifikation der Kirche mit Israel (vgl. 1 Petr 2,9) passt schwerlich zum Herrenbruder Jakobus. Und auch das schriftgelehlte Namensspiel in 1,1 - "zwölf Stämme" lässt an den Patriarchen Jakob denken (vgl. Gen 29f.; 35,16-26), d. h. der Verfasser "spielf' mit einer assoziativen Verknüpfung des Herrenbruders mit dem Stammvater Israels - ist kaum Jakobus selbst zuzuweisen. Der Jak ist also ein Pseudepigraphon. Der entscheidende Grund, warum der Brief gerade unter die Autorität des Jakobus gestellt wurde, dürfte dabei Jakobus' Nachwirkung als ethisches Vorbild gewesen sein, die sich recht bald in seinem Beinamen "der Gerechte" (EvThom 12) verdichtete und ihn für ein ethisches Korrekturschreiben wie den Jak als passende Autorität erscheinen ließ. Über den tatsächlichen Verfasser kann man nur Vermutungen aufgrund des Briefes anstellen. Inhaltliche Indizien und rhetorisches Niveau lassen auf einen Verfasser mit guter hellenistischer Bildung schließen. Er ist mit dem AT und frühjüdischer Tradition bestens vertraut. Dass er ein gebürtiger Jude war (anders M. KLEIN 206f.), ist wahrscheinlich, aber nicht zwingend. Das "Wir" in 3, I b könnte darauf hindeuten, dass er ein Lehrer war. Fragt man, wo der Verfasser lebte, ist Syrien die beste Adresse (und auch Mehrheitsmeinung). Darauf weist nicht nur die Nähe zum MtEv, sondern auch, dass Jakobus hier als Autorität galt, wie die in GaI2,11-14 bezeugte erfolgreiche Einflussnahme des Jakobus ("Leute von Jakobus") auf die Mahlpraxis der antiochenischen Gemeinde zeigt.
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2.5 Adressaten Die offene Adresse (1,1) bedeutet nicht, dass nicht primär die Christenheit in einem bestimmten Gebiet anvisiert ist. Sollte der Jak als eine Auseinandersetzung mit einem pln Christentum, das sich die Verkündigung des Meisters zur Legitimation eines weltoffenen und sozialethisch unengagierten Lebensstils zurechtgelegt hat, zu lesen und in die Entwicklungsgeschichte des nach-pln Christentums einzuzeichnen sein (W. POPKES, Adressaten 111-118.120f.), wäre entsprechend an den pln Missionsbereich zu denken (M. KLEIN 207). Man kann aber die im Jak ansichtig werdenden ethischen Defizite schlecht zu einem spezifischen oder gar exklusiven Problem (nach-)pln Gemeinden machen. Geht man von der Verortung des Verfassers aus, liegt es nahe, auch das Christentum, das er primär vor Augen hat, im syrischen Bereich zu suchen. Wenn man Jak 2,1-7.15f. als Fenster zur gemeindlichen Wirklichkeit benutzen darf, handelt es sich um ein sozial geschichtetes Christentum, in dem die besser situierten Gemeindeglieder ihrer Verantw0l1ung gegenüber den Ärmeren nicht hinreichend nachkommen und in der Sicht des Verfassers die Differenz zwischen christlichem Lebenswandel und gesellschaftlich etablierter Wel1eorientierung missachten. Die starke jüdische Prägung des Briefes und das in 1,1 artikulierte Israelbewusstsein sind keine hinreichenden Gründe, um in den Adressaten ausschließlich Judenchristen zu sehen. Das Missverständnis über die Rede vom "rettenden Glauben", das 2,14-26 auszuräumen sucht (-+ 3.4), lässt sich jedenfalls besonders gut auf dem Hintergrund eines paganen Verstehenshorizontes von 1TLotL<;/Glaube erklären (vgl. M. KONRADT, Existenz 211 f.). Jüdische "identity markers" wie Beschneidung, Speisegebote oder Sabbat werden nirgends erwähnt. Gehört der Jak in das Ausstrahlungsfeld Antiochiens, ist es ohnehin wahrscheinlicher, auch mit Heidenchristen unter den Adressaten zu rechnen. Die Gemeinde hat Presbyter (5,14); ansonsten werden nur Lehrer (3, I) genannt.
2.6 Zeitliche Einordnung Stammt der Brief nicht vom Hen-enbruder selbst, ist mit seinem Tod im Jahre 62 n. Chr. der terminus post quem gegeben. Für den terminus ad quem kann man darauf verweisen, dass der Verfasser des Jud den Jak offenbar kennt (Jud I). Weiter helfen vor allem die Affinitäten zum MtEv, wenn es richtig ist, dass diese nicht auf literarischer Kenntnis beruhen. Da nämlich das MtEv sehr schnell Verbreitung fand, kann man den Jak, je nach Datierung des MtEv, kaum später als etwa 80/85 n. Chr. ansetzen. Der Jak dürfte also zwischen 70 und 80/85 n. Chr. geschrieben sein.
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3. Diskurs Luther kritisierte den Jak nicht nur in literarischer, sondern auch in theologischer Hinsicht. Berühmt ist sein Diktum aus der Vorrede zur Septemberbibel von 1522, der Jak sei "eyn rechte stroern Epistel", da sie "keyn Euangelisch art" an sich habe (WA, OB 6, 10). Der Jak gebe "stracks widder Sanct Paulon vnnd alle ander schrifft, den wercken die rechtfertigung" (WA, OB 7,384). In der Kritik steht hier Jak 2,20-26, wo der Gegensatz zu Paulus (Röm 3,28; Gal 2,16), vergleicht man nur die einzelnen Sätze, allerdings evident ist. Zum anderen walf Luther dem Jak vor, er wolle "Christen leutt leren, vnnd gedenckt nicht eyn mal ynn solcher langer lere, des leydens, der aufferstehung, des geysts Christi" (WA, OB 7, 384). Tatsächlich ist nie ausdrücklich vom Gekreuzigten die Rede. Zur Einschätzung dieser und anderer theologischer Leerstellen mag ein Vergleich hilfreich sein: Wäre von Paulus nur der I Thess erhalten, der umfangsmäßig ungefähr dem Jak entspricht, wüssten wir nichts von seiner Rechtfertigungslehre, seinem Sündenverständnis oder seiner Kreuzestheologie. Dies mahnt zur Vorsicht, aus den Leerstellen des Jak weitreichende Schlüsse zu ziehen. Im Bild gesprochen: Es macht wenig Sinn, an einem Streichquartett zu bemängeln, dass nicht gesungen wird. Der Jak ist kein theologisches Kompendium, sondern ein "Korrekturschreiben" (W. PopKES, Adressaten 209). Sein Ziel ist, ethische Missstände zu beheben. Im Rahmen dieses Anliegens gibt er durchaus eine die Ausführungen leitende theologische Konzeption zu erkennen. Diese ist "stark jüdisch grundieI1(]" (e. BURCHARD, HNT 15/1, 20); auch und insbesondere die große Bedeutung, die Jak dem Handeln zuweist, ist jüdisches Erbe.
3.1 Theologie des Wortes Der Jak vertritt eine im Wort zentrierte Theologie. Jak 1,18 ist nicht nur formal das Zentrum der theologischen Grundlegung in 1,13-25, sondern als solches zugleich der soteriologische Basissatz der theologischen Konzeption des Briefes. Die auf die Konversion zurückblickende Geburtsmetapher besagt, dass Gott den Christen aus seiner früheren Todesexistenz, in der er sich als gottferner Sünder befand (Jak 1,15; 5,19f., vgl. z. B. Lk 15,24.32; Eph 2,1-5; Kol 2,13), hinausgeführt und ihm Leben (im qualifizierten Sinn) geschenkt hat. Das W011 erscheint dabei nicht bloß punktuell als Wirkmittel der Gebul1 (1,18), sondern nach 1,21 b zugleich als eine bei der Konversion eingestiftete (nicht: zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehörende [anders zuletzt M. A. JACKSON-McCABE)) Kraft des christlichen Lebens im Ganzen. Als solche fungiel1 das W011 als Gegenmacht zum Treiben der Begierde, die den Christen in den Versuchungen (1,2) zur Sünde zu verführen und ihn so in die Todessphäre zurückzuführen sucht (1,14f.). Durch das Wort ist der Christ prinzipiell befeHligt, der Versuchung standzuhalten (Jak steht hier dem sich
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später in der rabbinischen Literatur findenden Gedanken nahe, dass die Tora den bösen Trieb zu beherrschen hilft). Zugleich ist mit der Einstiftung des Wortes christlicher Lebenswandel positiv grund gelegt, denn dieser vollzieht sich durch die sich nicht im Hören erschöpfende, sondern das Tun einschließende Annahme des inhaltlich als differenzierte Einheit von "Evangelium und Gesetz" strukturierten Wortes (1,21-25). Jak 1,13-25 macht deutlich, dass die Frage der Soteriologie des Jak nicht monoperspektivisch von der Christologie her zu beantworten ist; das den Christen geschenkte Heil wird hier theozentrisch begründet (zur Theozentrik s. bes. H. FRANKEMÖLLE).
3.2 Die Weisheit
Der Jak ist verschiedentlich als eine weisheitstheologische Schrift interpretiert worden (E. BAASLAND, U. LUCK, R. HOPPE, P.1. HARTIN, James, H. FRANKEMÖLLE). Neben der Rezeption weisheitlicher Traditionen (- 2.1) wurde dabei auf die Rolle der Weisheit selbst verwiesen (1,5; 3,13-18), die mit dem Wort in 1,18-25 identifiziert wurde (R. HOPPE, Hintergrund 51.86.147) und so zu einer rettenden (vgl. Weish9,18) und neuprägenden Kraft avancierte (49.70); aus 2,1 wurde ferner eine Weisheitschristologie herausgelesen (72-99). Dem ist mit Recht widersprochen worden (H. von UPS 431-437; T. C. PENNER, Eschatology 217-223 u. a.). Die Weisheit ist in der theologischen Konzeption des Jak zwar von Gewicht, aber nicht sie, sondern das W0I1 bildet die zentrale Größe, und der Versuch, sie mit dem Wort zu identifizieren, hat gegen sich, dass das Wort den Christen seit der Konversion eingestiftet ist, es nach 1,5 aber - selbst ungeteilt auf Gott hin ausgerichtete Christen geben kann, denen es noch an Weisheit fehlt. Die Weisheit steht also nicht auf der Geburtsurkunde der Christen, sondern kommt hinzu. Sie ist dabei praktische, d. h. auf den Lebenswandel bezogene Weisheit: Als eine der guten Gaben Gottes (1,5) "von oben" (3,15; vgl. 1,17) hilft sie, die Versuchungen (I,2f.) zu erkennen und zu bestehen, und das im Gesetz Gebotene in Alltagspraxis umzusetzen. Entsprechend ist ein weiser Mensch an einem tugendhaften Wandel zu erkennen (3,13.17). Im Vergleich zur Weisheitsspekulation in Prov 8, Sir 24 oder Weish 6-9 ist die Weisheit des Jak eher bescheiden ausgestattet.
3.3 Inhaltliche Bestimmungen christlichen Lebenswandels
Die Zitation von Dekaloggeboten (2,11) und des Nächstenliebegebots (2,8), das im Jak als eine summarische Formulierung des sozialen Willens Gottes fungiert, die durch Einzelweisungen - wie in 2,9 durch das Verbot des Ansehens der Person (vgl. Lev 19,15) - konkretisiert wird (vgl. G. THEISSEN 124135), gibt einen selbstverständlichen Bezug auf die Tora zu erkennen. Von
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großer Bedeutung ist fiir Jak die barmherzige (2,13) Zuwendung zu den Armen (I,27; 2, 15f.). Dabei geht es, wie 2,1-13 zeigt, umfassend um das rechte Verhalten gegenüber sozial Schwachen, das mit ihrer Wertschätzung und würdevollen Behandlung beginnt. Almosen von oben herab wäre nicht das, was Jak von einem Christen erwartet. Als die Gefahrenquelle für die Integrität der Glaubenden erscheint im Jak der Reichtum. Zentrales Kennzeichen der "Welt" (4,4) ist entsprechend der egoistische, unsoziale Umgang mit Besitz und das Streben nach materiellen Gütern (4,1-3) im Zusammenhang eines mit dem Glauben an die einzig wahre ö6~o:lHerrlichkeit des erhöhten Herrn (2, I) unvereinbaren, an irdischer "Herrlichkeit" orientierten Wertesystems (2,1-4). Die dezidierte Alternative von Gottes- und Weltfreundschaft (4,4) erinnert an den joh Dualismus (vgl. I Joh 2,15-17), ist aber sachlich bereits in der Gegenüberstellung von Gott und Mammon in Mt 6,24; Lk 16,13 grundgelegt, und eben dieses Logion dürfte in Jak 4,4 nachwirken (vgl. 2 CI em 5f.). Große Aufmerksamkeit widmet der Jak ferner der Sprachethik (I,19f.26; 3,1-12; 4,11 [dazu W. R. BAKER]). Über Sexualethisches hingegen schweigt Jak (mit Ausnahme der Zitation des Ehebruchverbots in 2,11).
3.4 Rechtfertigung, Vollkommenheit und Gericht Nach Jak 1,18 ist der Übertritt ins heilvolle Leben Werk Gottes. Mit dem Hören und Tun des Wortes erwirbt sich der Christ das Heil also nicht, sondern er nimmt es an und bleibt in ihm, und auch dies nicht nur aus eigener Kraft, sondern durch das wirkmächtige Wort (1,21) unterstützt. Für das Verständnis von Jak 2,14-26 ist dies von weichenstellender Bedeutung. Unabhängig von der Frage, ob Jak hier in irgendeiner Weise auf Paulus reagiert oder sich abseits missverstandener pln Slogans mit müßiggehenden Christen auseinander setzt (-+ 2.1), ist zu beachten, dass "Rechtfertigung" für Jak kein Interpretament des Konversionsgeschehens ist, sondern etwas Zweites danach, nämlich die Anerkennung, dass sich ein Christ dem von Gott eröffneten Lebensverhältnis gemäß verhält. Im Kontext erscheint 2,14-26 als eine Variation von 1,22-25 mittels einer Reflexion über die frühchristliche Grundüberzeugung, dass der Glaube rettet (vgl. Mk 16,16; Lk 8,12; Apg 16,30f. u. ö.). Jak lehnt diese Überzeugung keineswegs ab, sondern sucht in 2,14-26 zu klären, von weichem Glauben sie gilt, indem er werklosen Glauben, der fiir ihn so nutzlos (und absurd) ist wie die bloßen Worte an die Armen in 2,15f., und durch Werke zur Ganzheit gebrachten (2,22b) und daher rechtfertigenden Glauben (2,22f.) einander gegenüberstellt. Rechtfertigung Abrahams durch Werke (2,21) und die Anrechnung seines Glaubens zur Gerechtigkeit (2,23) sind fiir Jak keine gegensätzlichen Aussagen, sondern meinen beide Rechtfertigung durch einen Glauben, der sich in Werken manifestiert. Mit dogmatisch geläufigen Verstehensrastern, die mit einer Entgegensetzung von empfangendem Glauben und Werken als Leistung des Menschen operieren, ist der Befund des
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Jak nicht zu erfassen: Jak spricht sozusagen von einer Glaubensgerechtigkeit aufgrund von Werken. Und bei ihr geht es eben allein darum, im Heil zu bleiben. Wenn man Jak mit Paulus vergleichen will, geht dies nur auf der Ebene ihrer Konzeptionen und nicht anhand von einzelnen Wörtern oder Sätzen, denn öLK(nouo9(ulrechtfertigen, nLonc;/Glaube und Epya/Werke werden jeweils in unterschiedlichem Sinn gebraucht. Zu beachten ist dabei ferner, dass Jak 2,14-26 zwar ein theologisch gewichtiger Passus, aber nicht das theologische Zentrum des Briefes ist, als welches es in der durch die Auseinandersetzungen der Reformationszeit bestimmten theologischen Perspektive verhandelt wurde. Rechtfertigung setzt im Jak nicht Sündlosigkeit voraus (vgl. 5,15f.). Vollkommenheit fungielt als anzustrebendes Ideal, aber Jak ist realistisch genug zu sehen, dass sie normalerweise nicht erreicht wird (3,2). Jak erwartet eine ungeteilte Orientierung auf Gott hin, Fehltritte und Unzulänglichkeiten in der alltäglichen Umsetzung dieser Grundhaltung kommen jedoch vor. Sünden sollen in der Gemeinde einander bekannt werden, und ihnen soll durch Fürbitte begegnet werden (5,16). Entsprechend ist die Vorstellung vom Gericht nach den Werken (2,12f.) im Gesamtgefüge des Briefes durch die Rede von der Barmherzigkeit Gottes (5,11) ausbalanciert, die in der theologischen Konzeption des Jak ein wesentliches Strukturmoment des gesamten Lebensverhältnisses bildet, das Gott mit der GebUit durch das WOlt eröffnet hat. Zum Gottesbild des Jak gehört nicht nur, dass er der Gesetzgeber und Richter ist (4,12), sondern auch, dass von ihm nur gute Gaben kommen (1,17) und er den, der umkehrt, nicht zurückweist (4,7-10), sondern, ohne zu schelten, mit der tur einen Lebenswandel nach Gottes Willen nötigen Weisheit ausstattet (1,5). "Das theologische Gesamtprofil des Jak erfährt seine Rundung in der Zuwendung zu den Sündern" (M. KARRER 182). Ein Perfektionist oder gar Rigorist war Jak nicht. Den Jak wird man kaum als zentralen Bezugstext auswählen, wenn es um die grundlegenden Inhalte des christlichen Glaubens geht. Er hat aber ein gewichtiges Wort zur Bedeutung der Handlungsdimension des Glaubens zu sagen. Er diagnostiziert Missstände in einem Christentum, das zum einen meint, dass christlicher Glaube mit der Orientierung an "weltlichen" Weltrnaßstäben spannungsfrei vereinbar sei, und zum anderen die Behebung sozialer Not vernachlässigt. In seiner Kritik droht er keineswegs nur mit dem Gericht, sondern führt auch auf Gottes Heilsinitiative zurück, indem er seine Adressaten ermahnt, sich in ihrem alltäglichen Verhalten als Menschen zu zeigen, denen Gott durch das WOlt der Wahrheit das Leben geschenkt hat.
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D.XVI. Der erste Petrusbrief (Marlis Gielen)
1.R~tr~.iq!!l_eLsj<::h._~il1e..m_.~L!"!?'lg~~_IJ:!e.!!ll!,.ß~~I}.~itt~JQ?f._.~!l.J~rl.~fuegiJ;m mit der_ß~~ic~l!!I.!1!L.g~L~.
I;)iese Bezeichnung skizziert prägnant die Situation der Briefempfänger. Ihre Hinwendung zum Glauben an Jesus Christus, die unter der Perspektive des erwählenden HandeIns Gottes in den Blick gefasst wird, impliziert als Kehrseite eine Entfremdung von ihnen bisher vertrauten und praktizierten Denk- und Verhaltensweisen der heidnischen Gesellschaft. Verschärft wird diese Erfahrung gesellschaftlicher Entfremdung durch ihre Situation als Minderheit, die durch das Stichwort "Diaspora" (Zerstreuung) angesprochen ist. Ihre Abwendung von (bisher auch tur sie) selbstverständlichen Gepflogenheiten der Gesellschaft ruft bei den Heiden ihres familiären, beruflichen oder städtischen Umfeldes Befremden hervor (4,3f.), das sich etwa durch üble Nachrede (2,1.l2; 3,16), Beschimpfung (2,23; 3,9), Lästerung (4,4) oder gar Einschüchterung (3,6) Ausdruck verschafft. In dieser prekären Situation will I Petr seinem Adressatenkreis Ermutigung und Rat zu ihrer dem christlichen Bekenntnis angemessenen Bewältigung zuteil werden lassen. Das Schreiben bietet also keine theor~jj§p.h~.R~.t.lexion ~ber die Lebensbedingungen einer gesellschaftlichen und religiösen Minderheit. Es zi~lty'ie-'!TIe.I1~ irt_die konkre~_ Erfahrungs~~'Lseiner_..t;:"'!!!p'~!!.g~~__':l.!!.ral ausgerichtet. _
1. Struktur Die pastorale Pragmatik bestimmt auch die argumentative Struktur von 1 Petr, der als "Identifikationsangebot tur bedrängte und angefochtene Christen" (R. FELDMEIER, ThHK 15/1, 16) nicht nach dem Maßstab einer methodisch aufgebauten theologischen Abhandlung zu bemessen ist. Unter dieser Rücksicht "entbehrt" 1 Petr keineswegs "eines wirklichen Planes" (so aber I. BROER 11 613; N. BROX, EKK XXI 38: "Defizit an formaler Disposition"). Gerahmt durch Briefpräskript (I,lf.) und Briefschluss (5,12-14) gliedert sich das Briefkorpus in zwei Hauptteile, die jeweils eine der beiden in der Adressatenangabe des Präskripts (1,1) kombinierten, komplementären Perspektiven (Erwählung und Fremdheit) schwerpunktartig aufgreifen. Hauptteil 1 (1,3-2,10) richtet das Hauptaugenmerk zunächst auf den Status der Christen als Erwählte, den sie aufgrund göttlichen Erbarmens erhalten haben. Mit der expliziten Anrede der Adressaten als rtYIl1Tll1:01. (Geliebte) beginnt in 2,11 Hauptteil 2, der sich bis 5,11 erstreckt. Hier dominiert nun die Perspektive der Fremdheit. Konkret
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steht die Bewährung der Erwählten als der heidnischen Gesellschaft Fremdgewordenen im Blickpunkt. Im Dienst dieser Bewährung stehen die zahlreichen Mahnungen, die den Charakter von Hauptteil 2 prägen. Die Doxologie in 4,11, die in verkürzter Form das Briefkorpus in 5,11 auch beschließt, sowie die erneute Adressatenanrede in 4,12 mit Geliebte sind formale Indizien, die auf eine Untergliederung von Hauptteil 2 hinweisen. Dies bestätigt sich auch inhaltlich. Zwar zieht sich die Thematik "Christlicher Lebenswandel unter den Heiden" als roter Faden durch den gesamten zweiten Briefteil. Allerdings verschiebt sich die Akzentuierung. In 2,11-4,11 wird dieser Lebenswandel gleichermaßen als missionarische Chance wie als Ursache von Leidenserfahrungen thematisiert. In 4,12-5,11 dagegen findet der missionarische Aspekt keinerlei Beachtung mehr. Stattdessen rückt das Leiden bzw. die Ermutigung zur Standhaftigkeit in diesem Leiden ins Zentrum. Ein Schema verdeutlicht die Grundstruktur von I Petr: Briefeingang 1,1-2 Briefkorpus 1,3-2,10
Briefschluss 5,12-14
Die Christen im Spannungsfeld zwischen göttlicher Erwählung und gesellschaftlicher Entfremdung Haupt/eil I: Der Status der Christen als Erwählte aufgrund göttlichen Erbarmens 1.3-2.10
Hauptteil 2: Die Bewährung der Erwählten als Fremdgewordene in der heidnischen Gesellschaji 2,11-5,11 Christlicher Lebenswandel unter den Heiden: Möglichkeit gelingenden Glaubenszeugnisses und Ursache von Leidenserfahrungen 2,11-4.11 Christlicher Lebenswandel unter den Heiden: Ermutigung zur Standhaftigkeit im Leiden 4,12-5,11 Zielsetzung des Schreibens und Schlussgrüße
2. Entstehung
2.1 Quellen und Traditionen Verschiedentliche Bemühungen, literarische Abhängigkeit des I Petr von schriftlich fixierten Quellen nachzuweisen, haben zu keinen überzeugenden und konsensfahigen Ergebnissen geflih11 (N. BROX, Tradition). Allerdings ist I Petr ein Schreiben, dessen Sprache in hohem Maß von Tradition(en) geprägt ist. Alttestamentliche Zitate und Anspielungen, vor allem prophetischer und weisheitlicher Herkunft, finden sich in großer Zahl. Charakteristisch ist dabei, dass der Verfasser von I Petr die biblische Sprache - und zwar nahezu durchgängig in der Version der Septuaginta - so sehr internalisiert hat, dass sie flir ihn zum selbstverständlichen Ausdrucksmittel wird. Entsprechend gibt es auch nur zwei ausdrückliche Hinweise auf ein nachfolgendes Schriftzitat (1,16; 2,6). Ist damit die alttestamentlich-biblische Tradition - und zwar in der Ver-
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mittlung des griechischsprachigen Diasporajudentums, dem sich u. a. auch die Kennzeichnung der Adressaten als Fremde (1,1.17; 2,11) oder das Motiv von der Wiedergeburt (1,3.23; 2,2) verdanken (R. FELDME[ER, ThHK 15/[, 18f.)der eine Grundpfeiler der Argumentation in I Petr, so die urchristliche Überlieferung der andere. Berührungen mit der lesustradition zeigen etwa 2,12 (vgl. Mt 5,16: der aus den guten Werken erwachsende Lobpreis Gottes); 3,14; 4,13 (vgl. Mt 5, I0: Seligpreisung der um der Gerechtigkeit willen Verfolgten); 4,13f. (vgl. Mt 5,11 f. par Lk 6,22f.: Seligpreisung der um Christi willen Geschmähten mit Ausblick auf den eschatologischen Lohn). Ferner finden sich z. B. in 1,18-21; 2,21-25 oder 3,18-22 Anleihen bei liturgisch geprägten Überlieferungsstücken. Am Beispiel von 2,21-25 lässt sich im Übrigen gut die Komplexität der überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge aufzeigen, mit denen in I Petr zu rechnen ist: Nicht der Briefverfasser selbst rezipiert hier das deuterojesajanische vierte Gottesknechtslied, sondern die Rezeption ist bereits urchristlich vermittelt und wird von ihm entsprechend seiner Aussageabsicht adaptiel1 (M. G[ELEN 488-495). Die souveräne und kreative Integration urchristlicher Traditionen in die spezifische Thematik von I Petr lässt sich z. B. auch ausgezeichnet am Abschnitt 2,13-3,7 beobachten. So sind die Bezüge von 2,13-17 zur Staatsbürgermahnung in Röm 13,1-7 ebenso unübersehbar wie die Bezüge von 2,18-25; 3,[-6 zur Haustafeltradition in KoI3,18-4,[ und Eph 5,21-6,9. Doch werden in I Petr die Vorgaben zu einer Loyalitätsmahnung gegenüber dcn grundlegenden (staatlichen und häuslichen) Ordnungsstrukturen bzw. Autoritätsträgern der heidnischeIl Gesellschaft ausgestaltet. Entsprcchcnd haben etwa die Mahnungen an die Sklaven (2,18-25) und an die Fraucn (3.1-6) anders als in KolfEph kein Hauswesen mit einem christlichen, sondern mit einem heidnischen Hausherrn im Blick. Nur in einer solchen Konstellation kann der von den Briefadressaten eingeforderte "gute Lebenswandel" als Gratwanderung zwischen einer tätigen Akzeptanz heidnischer Autorität und einer Ablehnung aller mit dem christlichen Bekenntnis unvereinbaren heidnischen Verhaltensweisen (2,11 f.) zum Glaubenszeugnis werden, das ebenso mit der Hoffnung auf missionarischen Erfolg (3,1) wie mit der Bereitschaft zum Leiden verbunden (2,19-21) ist. Zudem werden in der Staatsbürgermahnung des 1 Petr - entsprechend der angemahnten Gratwanderung kritischere Akzente gesetzt als in Röm 13,1-7, so etwa durch die Qualifizierung staatlicher Autorität als menschliche Schöpfung (2,13) oder durch die klare Abgrenzung des Kaisers vom Kyrios (2,13) bzw. von Gott (2,17).
Zugleich gibt der Abschnitt 2,13-3,7 eine Nähe zu Paulus und zur Paulustradition zu erkennen, die für I Petr insgesamt kennzeichnend ist. So lehnt sich etwa die Gestaltung des Briefformulars (1,lf.; 5,12-14) eng an die Vorgaben pln Briefe an; die Eulogie beginnt in 1,3 in wörtlicher Übereinstimmung mit 2 Kor 1,3 (vgl. Eph 1,3) und bemüht ebenso das Motiv des göttlichen Erbarmens. Das Gebot der Feindesliebe und des Vergeltungsverzichts steht in der Diktion Röm 12,14.17 näher als der Q-Tradition (Mt 5,38-48 par Lk 6,2736). Überhaupt ist die Sprache pln geprägt (vgl. die "in-Christus-Formeln" 3,16; 5,10.14) und weist pln Theologumena aufwie das Charismenverständnis (4,1Of.) oder die Interpretation christlichen Leidens als Anteilhabe am Leiden
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Christi (2,19-21; 4,1.13). Allerdings betreibt der Verfasser von I Petr keine gezielte Fortschreibung pln Theologie in eine neue Situation hinein, wie dies in den Deuteropaulinen geschieht. Vielmehr steht ihm eine Vielzahl unterschiedlicher Traditionen, die er gleichermaßen verinnerlicht hat, zu Gebote, die er zu einer neuen Einheit im Dienst seiner spezifischen Thematik verschmilzt. Dass hierbei der pln Überlieferung und Sprache ein besonderer Stellenwert zukommt, ist keinesfalls erstaunlich, umschließt doch die lokalisierung der Adressaten in I, I zentrale Bereiche des pln Missionsgebietes. So durfte der Verfasser von I Petr also erwarten, dass diese Beheimatung des Adressatenkreises eine Beheimatung in der Paulustradition einschloss und die Akzeptanz eines pln gefärbten Schreibens beförderte. Zudem lässt seine Entscheidung, sich an die Christen dieses Gebietes zu wenden, berechtigterweise eine Beziehung dorthin vermuten (--+ 2.4), hätte er doch 5,9b folgend auch Christen jeder anderen Region des römischen Weltreichs als Empfängerkreis wählen können. Angesichts dessen besitzt auch eine zumindest partielle Kenntnis der pln und deuteropaulinischen Briefe, die schon bald in den Gemeinden gesammelt und untereinander ausgetauscht wurden (vgl. Kol 4,16), durch den Verfasser des 1 Petr eine gewisse Plausibilität. Unwahrscheinlich ist dagegen, dass er diese Briefe (oder auch andere Schriften) bei der Abfassung seines Briefes vor sich liegen hatte (N. BROX, Tradition 191). Vielmehr schöpft er hier aus der Fülle der ihm gedächtnismäßig präsenten biblischen, frühjüdischen und urchristlichen Traditionen und gestaltet daraus sein Schreiben in der ihm eigenen theologischen Originalität, das aus sich selbst verstanden werden will (H. FRANKEMÖLLE 25).
2.2 Teilungshypothesen In der älteren Forschung während der Hochblüte der Literarkritik wurde auch die literarische Einheitlichkeit von I Petr wiederholt in Zweifel gezogen. Die Begründung ftir das Ansetzen des literarkritischen Seziermessers wurde aus zwei Beobachtungen gewonnen: Zum einen konstatierte man einen Mangel an typisch brieflichen Merkmalen in 1,3-5,11 (-+ 2.3), zum anderen unterschied man zwei situativ inkompatible Perspektiven des Leidens, nämlich das Leiden als bloße Möglichkeit (1,3-4,11) und das Leiden als aktuelle Erfahrung (4,12-5,11). Fonnal schien die Nahtstelle durch die Doxologie in 4,11 bestätigt zu werden. Als forschungsgeschichtlich einflussreich (N. BROX, EKK XXI 18-21) erwies sich die 1911 von R. PERDELWITZ vorgelegte These, I Petr setze sich zusammen aus einer liturgischen Ansprache an Neugetaufte (1,3-4,11) und einer Trostrede angesichts aktueller Leidenserfahrungen (4,12-5,11 mit 1,1f.). Demnach wären also die beiden Hauptteile des Briefes erst sekundär zusammengeftigt und mit einem brieflichen Rahmen versehen worden.
In der gegenwärtigen Forschung, die Iiterarkritischen Hypothesen zumal bei der Briefliteratur zunehmend skeptisch gegenübersteht, wird dagegen durchweg die Einheitlichkeit von I Petr vertreten. Textpragmatisch verfolgt das gesamte Schreiben ein einziges Ziel, nämlich seine Adressaten zu ermutigen, sich in der prekären Situation als gesellschaftliche und religiöse Minderheit im
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Bewusstsein ihrer göttlichen Erwählung zu bewähren. Diese Situation wird ebenso durchgehend als aktuell vorausgesetzt wie die daraus resultierenden Leiden. Nur wird ab 4,12 die Wucht dieser Leidenserfahrungen nicht mehr durch den Aspekt der potentiell missionarischen Kraft des unterscheidend christlichen Lebensstils abgefedert.
2.3 Gattungsfragen Mit Präskript (1, I f.), Eulogie (1,3-10) und Postskript (5,12-14) ist I Petr nicht nur formal als Brief ausgewiesen. Zudem lehnt er sich mit der semantischthematischen Gestaltung dieser gattungstypischen Passagen auch eng an das pln Briefformular an. Im Unterschied aber zur pln Korrespondenz (mit Ausnahme des Röm) spiegelt das Briefkorpus von I Petr keine unmittelbar persönliche Beziehung des Verfassers zu seinen Adressaten wider. Dies sollte allerdings nicht dazu verleiten, 1 Petr als bloß fiktives Schreiben (N. BROX, EKK XXI 23; als Möglichkeit auch R. FELD MEIER, ThHK 15/1, 23) zu beurteilen. Im Unterschied nämlich zu den Paulusbriefen verbietet allein die Größe des Adressatenkreises, der geographisch fast das gesamte Kleinasien umfasst (---+ 2.5), persönliche Bemerkungen in den Brief einfließen zu lassen, würden diese doch geradezu zwangsläufig immer nur partiell verständlich und bedeutsam sein. Alle Adressaten verbindet dagegen die prekäre Lebenssituation, die aus ihrem Status als gesellschaftlicher lind religiöser Minderheit erwächst. Entsprechend konzentriert sich der Verfasser von 1 Petr auf Hilfestellung zur Bewältigung genau dieser Situation. Dabei greift er - durchaus im Einklang mit antiken Briefkonventionen - zurück auf verschiedene traditionelle Vorgaben (---+ 2.1), die er im Blick auf sein pragmatisches Anliegen, seine Adressaten zu ermutigen und zu stärken, auswählt und gestaltet (H. FRANKEMÖLLE 17f.).
2.4 Verfasser und Ort Seit frühester Zeit wurde 1 Petr gemäß der Verfasserangabe im Präskript (1,1) dem Apostel Petrus zugeschrieben. Die älteste erhaltene Erwähnung dieser Zuschreibung findet sich um 180/190 n. ehr. bei Irenäus (Haer IV 9,2; 16,5; V 7,2). Mit der historisch-kritischen Exegese setzten im 18.119. Jh. aber Zweifel an der petrinischen Verfasserschaft des Briefes ein. Heute gilt I Petr der überwiegenden Mehrheit seiner Interpreten als pseudepigraphisches Schreiben. Diese Beurteilung gründet sich auf verschiedene Beobachtungen, deren argumentatives Gewicht gebündelt als erdrückend zu bezeichnen ist. Als wichtigste sind hier zu nennen: (1) I Petr ist im gehobenen Stil eines literarischen Koinegriechisch verfasst, das auf einen griechischen Muttersprachler als Autor hindeutet, der zugleich über eine gewisse Bildung verfügte. Mag Petrus
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als aramäischsprachiger Fischer aus Galiläa angesichts des Stellenwerts, den das Koinegriechisch als globales Verständigungsmittel genoss, über eine umgangssprachliche Kompetenz verfügt oder sie angesichts seiner nachösterlichen Aufgaben erworben haben, so ist dennoch unwahrscheinlich, dass seine Beherrschung des Griechischen literarisches Niveau erreichte, denn dies setzte eine entsprechende Schulbildung in hellenistischer Literatur voraus. (2) Zudem bleibt es unter Voraussetzung einer Autorschaft des Petrus unerklärlich, warum er sich als palästinischer Judenchrist bei biblischen Anspielungen und Zitaten fast ausnahmslos am Wortlaut der Septuaginta und damit an der Tradition des Diasporajudenchristentums orientiert haben sollte. (3) Überhaupt spricht die starke sprachliche wie inhaltliche Traditionsgebundenheit von I Petr (- 2.1) im Kontext fehlender persönlicher Erinnerungen gegen einen Augenzeugen aus dem engsten Jüngerkreis Jesu als Verfasser. Dieses Argument wird keineswegs durch die Selbstbezeichnung als "Zeuge der Leiden Christi" (5, I) entkräftet. Denn die Evangelientradition stützt solche Augenzeugenschaft mit den Passionserzählungen keineswegs. Innerbrieflich aber greift die Erwähnung der "Leiden Christi" unmittelbar zurück auf 4,13. Heißt es dort von den Adressaten, dass sie durch ihre gesellschaftliche Diskriminierung Anteil haben an den Leiden Christi, könnte 5, I folgendel1naßen verstanden werden: Der Verfasser von I Petr wird Zeuge der Leiden Christi gerade angesichts der leidvollen Situation seiner Adressaten. So verstanden, ergibt sich aus 5, I auch ein interessantes Indiz für die Klärung der Frage, wo I Petr geschrieben wurde. Insofern nämlich das Präskript die Adressaten geographisch in Kleinasien lokalisiert und der Verfasser sich als Zeuge der an ihnen sichtbar werdenden Leiden Christi bezeichnet (5, I), dürfte er selbst im kleinasiatischen Gebiet ansässig sein. Dem korrespondiel1, dass er sich den Ältesten gegenüber, die er auf ihre Leitungsfunktion in den kleinasiatischen Adressatengemeinden hin anspricht, als Mitältester zu erkennen gibt, sich damit also dem solchermaßen lokalisierten "Kollegenkreis" zuordnet. Damit stützen also die Selbstbezeichnungen des Verfassers in 5, I eine Entstehung des I Petr im kleinasiatischen Bereich, auf die nicht zuletzt auch die Nähe des Briefes zu Paulus und zur Paulustradition (- 2.1) verweist. Schließlich ist auch die Tatsache, dass die frühesten Hinweise auf eine Rezeption des I Petr aus Kleinasien stammen (vgl. etwa Polyc., 2 Phil 1,3; 2,lf.; 8, I f.) als wichtiges Indiz für eine Abfassung in diesem Raum zu werten. Mit dem Schlussgruß der "mitauserwählten [Gemeinde] in Babylon" (5,13) deutet 1 Petr allerdings einen Entstehungsort außerhalb des Adressatengebietes an. Einigkeit herrscht darüber, dass hier weder das mesopotamische BabyIon noch der ägyptische Ort gleichen Namens gemeint ist, sondern Babyion als Deckname für Rom steht. Unter der Voraussetzung einer fiktiven Verfasserangabe ist aber grundsätzlich auch die Fiktionalität dieser Ortsangabe in Betracht zu ziehen. Berücksichtigt man, dass der Gebrauch der Chiffre BabyIon für Rom gerade in Schriften aus dem syrisch-kleinasiatischen Raum belegt ist (4 Esr 3,lf.; syrBar 11,1; Sib 5,143.159; Offb 14,8; 16,19; 17,5; 18,2.10.21), ist da-
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mit ein weiterer Anhaltspunkt für die Abfassung des I Petr im Bereich der Adressatengemeinden gewonnen (C.-H. HUNZINGER 77). Zudem stützt der pejorative Deckname Babyion für Rom, der unter dem Eindruck der Zerstörung Jerusalems durch die Römer (70 n. Chr.) entstand, die These der pseudepigraphischen Velfasserangabe in 1,1. Denn zur Ausprägung dieses Decknamens im Gefolge des traumatischen Ereignisses ist realistischerweise eine gewisse Zeit zu veranschlagen. Wir gelangen damit in die beiden letzten Jahrzehnte des I. Jh. und damit sicher jenseits der Lebenszeit des Petrus (C.-H. HUNZINGER 73-77). In dieselbe Zeitphase verweist auch die fortgeschrittene Ausbreitung christlicher Gemeinden über ganz Kleinasien. Die Sekretärshypothese, die in Silvanus (5,12) einen Mitarbeiter des Petrus sieht, der entweder bei der Abfassung des Briefes geholfen oder der den Brief eigenständig im "petrinisehen Geist" verfasst habe, ist untauglich, den pseudepigraphischen Charakter von I Petr zu entkräften. Denn im letzteren Fall läge faktisch Pseudepigraphie vor (vergleichbar den Deuteropaulinen), im ersteren Fall, in welchem Petrus der für das Schreiben Hauptverantwortliche bliebe, kann die Sekretärshypothese zentrale Einwände gegen eine petrinische Verfasserschaft keinesfalls beseitigen. Entsprechend hat sich die Sekretärshypothese nicht durchgesetzt.
2.5 Adressaten Pontus, Galatia, Kappadokia, Asia und Bithynia (--+ Karte 4, S. 595) - mit dieser Auflistung von Namen, deren Interpretation als römische Provinzbezeichnungen sich eines breiten Konsens erfreut, steckt der Verfasser von I Petr in I, I einen geographischen Raum ab, der im Uhrzeigersinn von Nordosten nach Nordwesten (mit Ausnahme einiger südlicher Gebiete) das gesamte Kleinasien umfasst. An die Christen, die in diesem riesigen Gebiet leben, wendet er sich mit seinem Schreiben. Mehrheitlich entstammen seine Adressaten dem Heidentum, wenngleich durchaus mit einem geringen Anteil judenchristlicher Mitglieder in den meisten Gemeinden gerechnet werden darf (I. BROER Il 624). Doch stellt der Verfasser von I Petr, dessen Velirautheit mit der Septuaginta und anderen Traditionen des hellenistischen Judentums (--+ 2.1) auf eine judenchristliche Identität hindeutet, seine Briefkonzeption ganz auf heidenchristliche Rezipienten ab. Wiederholt spielt er auf die heidnische Herkunft seiner Adressaten an (z. 8. 1,14.18; 2,10; 3,6; 4,3f.). Diese Konzentration auf die heidenchristliche Mehrheit seines Adressatenkreises dürfte sich aus der Pragmatik des Schreibens erklären. Denn es zielt darauf, die Empfänger zu bestärken und zu unterstützen, sich in ihrer schwierigen Situation als gesellschaftliche und religiöse Minderheit im Bewusstsein ihrer göttlichen Erwählung zu bewähren. Diese Minderheitssituation aber war für die Heidenchristen im Unterschied zu den Judenchristen eine völlig neue Erfahrung. Umgekehrt war auch das Befremden bei den heidnischen Mitbürgern, Nachbarn, Verwandten oder Kollegen groß. Denn galten ihnen die Angehörigen der Syn-
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agoge seit jeher als Außenseiter, so mussten sie jetzt zur Kenntnis nehmen, dass Menschen aus ihrer unmittelbaren Umgebung sich vom bisher geteilten Ethos und von der bisher gemeinsamen Lebensweise abgrenzten (4,3; vgl. 1,14.18). Entsprechend heftig fiel ihre Reaktion gegen die aus, die nicht mehr "mitliefen" (4,4). Verleumdungen als Übeltäter (2,12) dürften an der Tagesordnung gewesen sein. Je enger die persönliche Beziehung und je ausgeprägter das Machtgefälle war, desto eher konnte das Unverständnis der Heiden in psychische (3,6: Einschüchterung der christlichen Ehefrau) oder gar physische (2,19f.: körperliche Züchtigung christlicher Sklaven) Gewalt umschlagen. Ein Rückzug von gesellschaftlichen Verpflichtungen wie etwa der Verzicht auf Teilnahme an privaten Gastmählern oder öffentlichen Festen, die stets auch einen kultischen Aspekt besaßen (vgl. den Lasterkatalog in 4,3), konnte unter Freunden, Nachbarn oder Kollegen leicht den Verdacht der gesellschaftlichpolitischen Illoyalität und umstürzlerischer Tendenzen aufkommen lassen, zumal sich die Christen zu Gemeinden zusammenschlossen. Hinzu kommt, dass der Kaiserkult vor allem in Kleinasien einen hohen Stellenwert besaß (R. FELDMEIER, ThHK 15/1, 7-9). Erwachsen aus dem Wohltäter- und Heroenkult war der Herrscherkult hier bereits seit der Zeit Alexanders des Großen (4. Jh. v. Chr.) ein selbstverständlicher Faktor des öffentlichen Lebens und ein probates Mittel der Loyalitätsbekundung. Gerade Kleinasien, das seit 133 v. Chr. zum römischen Weltreich gehörte, hatte nun besonders unter den Bürgerkriegswirren der ausgehenden römischen Republik zu leiden gehabt. Entsprechend groß war die Dankbarkeit der Bevölkerung ftir den mit der frühen Kaiserzeit einkehrenden Frieden, die sie im Kaiserkult angemessen zum Ausdruck bringen wollte. Umgekehrt musste vor diesem Hintergrund Unverständnis und Misstrauen gegenüber Mitgliedern der Gesellschaft elwachsen, die sich plötzlich dem Kaiserkult verweigerten und sich daftir auf eine neu gewonnene religiöse Überzeugung beriefen. Diese gespannte Atmosphäre konnte sich immer wieder einmal auch durch Anzeigen der Christen bei den lokalen Behörden entladen, wie dies zu Beginn des 2. Jh. n. Chr. ftir die Provinz Pontus-Bithynien durch den Brief des Statthalters Plinius an Kaiser Trajan (Plinius, Ep X 96) belegt ist. Eine behördliche Vorladung mit Befragung oder gar Bestrafung als mögliche Folge solcher Anzeigen bietet jedenfalls eine plausible Erklärung für Äußerungen wie I Petr 3,13-17 und 4,14-16.
2.6 Zeitliche Einordnung
Bereits bei der Erörterung der Verfasserfrage (-+ 2.4) erwies sich das Jahr 80 als realistische Orientierungsmarke für die frühestmögliche Abfassungszeit des I Petr. Die Bezeugung von I Petr im Polykarpbrief (1 ,3; 2, I f. u. ö.) und in 2 Petr 3, I belegt, dass das Schreiben bereits um 120 nicht nur bekannt, sondern auch anerkannt gewesen sein muss. Innerhalb dieser Zeitspanne von 4 Jahrzehnten ist m. E. die Annahme einer Abfassung von I Petr während der
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Regierungs~~tJ;>.Qgtm!!.t:I.s.. (~J=96). ~!!I_ plausibelsten. Denn als erster Kaiser forderte Domitian für sich schon zu Lebzeiten im gesamten Reich eine kultische Verehrung als Loyalitätsbeweis. Am Hof war offensichtlich die Anrede KUPLOI; KaI. Se<>1; (Herr und Gott [Iat. dominus ac deus]) gebräuchlich. In der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit wurde der Kaiserkult zunehmend als gezieltes Mittel zur Überprüfung staatsbürgerlicher Loyalität eingesetzt. In diesem Fall seinen Vollzug abzulehnen, wurde als Majestätsbeleidigung und Gefährdung des Staatswohls mit dem Tod bestraft. Die dezidierte Qualifizierung des Kaisers und seiner Statthalter als "menschliche Schöpfung" in I Petr 2,13 ebenso wie die Rahmung der Staatsbürgermahnung durch die zweifache Differenzierung zwischen Kaiser und Kyrios (2,13) sowie Kaiser und Gott (2,17) dürfte damit als präzise Zurückweisung des domitianischen Selbstanspruchs zu verstehen sein (M. GIELEN 393-404.419-421). Zur Regierungszeit Domitians passt auch, dass_?..9.!:>'.. .Q!~§.ltuation der Christen weltweit, d. h. im gesamten Imperium Romanum als gleich~~~äßen·prekäi--·bezeichnet. Denn im Unterschied zu seinen Vorgängern legte sich Domitian mit seinem Anspruch auf göttliche Verehrung in der westlichen Reichshälfte (insbesondere in Rom und Italien) keine Zurückhaltung auf. Für eine exaktere Datierung von I Petr in die zweite Hälfte der Regierungszeit Domitians könnte sprechen, dass vor allem in 2,11-4,11 der Loyalitätsaspekt einen zentralen Stellenwert erhält, indem leitmotivartig ein "guter Lebenswandel" bzw. "Gutes tun" als ein auch für die Heiden erkennbar positives Verhalten eingefordert wird. Nicht zuletzt die für Christen unüberschreitbare Grenze zum kultischen Loyalitätserweis impliziert aber die Leiden, von denen I Petr in 2,11-5,11 immer wieder spricht. Dass dabei Martyrien unerwähnt bleiben, spricht nicht gegen eine Datielung des Briefes in die Spätphase domitianischer Herrschaft. Denn das für Christen vorbildhafte Leiden Christi (2,21) führte ihn in den Tod. Das aber schließt für I Petr den Tod als letzte Konsequenz in der Nachfolge Christi selbstredend ein. Faktisch allerdings wird diese Konsequenz selbst unter Domitian die Ausnahme geblieben sein (---+ 2.5).
3. Diskurs lf.etr rJ~!!.t~t .~.!.<::I:l ...I!!1 .. e.i!1~.~ .!!l!~sc::!tli~ßli~h. c~E.istUC::~~.n..~E.~.C?~~~!~!l.k.~~J~,- ~~~It aber pragm.atiSc.o Iil.u{ ein~11 christlich-heidnischen Diskurs. Denn die konkreten Mahnungen des Briefes, wie die Adressaten sich angesichts ihrer leidvollen Minderheitensituation verhalten sollen, erliegen nicht der Versuchung zweier extremer Alternativen. Die eine Alternative wäre ein Appell zur inneren Emigration in den Raum der Gemeinde in Verbindung mit einer rigorosen Verweigerungshaltung gegenüber den Rollenerwartungen der heidnischen Gesellschaft gewesen. Die andere Alternative hätte in einem Plädoyer bestanden, sich utilitaristisch mit den Gegebenheiten zu arrangieren und sich den heidnischen Rollenerwartungen gegenüber möglichst konform zu verhalten. In
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beiden Fällen hätte ein konstruktiver christlich-heidnischer Diskurs keine Chance erhalten: im ersten Fall nicht, weil sich die Christen von vornherein dem Gespräch verweigert hätten, im zweiten Fall nicht, weil die Heiden gar keinen Anlass zum Diskurs gesehen hätten. Stattdessen tritt nun der Verfasser von 1 Petr nachdrücklich ein rür die schwierige Gratwanderung zwischen einem unverzichtbaren, unterscheidend christlichen Lebensstil und einem auch für Heiden als "gur' zu qualifizierenden Verhalten (2, ll f.). Er fordert also von seinen Adressaten, konsequent die Handlungsfelder zu nutzen, in denen die heidnischen Rollenerwartungen nicht mit dem christlichen Bekenntnis in Konflikt geraten. Offenbar erhofft er sich davon Anknüpfungspunkte zur Kommunikation mit den Heiden, die zur Einsicht ihres Fehlurteils über die Christen führt. Ohne Zweifel ist sich der Verfasser von I Petr bewusst, dass seine "Strategie" nicht zu einem schnellen Erfolg auf breiter Basis führen wird. Entsprechend dominiert der Aspekt des Leidens I Petr wie kaum eine andere biblische Schrift (R. FELDMEIER, ThHK 15/1, 1). Letztlich aber sieht er die mühevolle und heikle Gratwanderung, auf die er seine Adressaten verpflichtet, als ihre einzige Chance, sich eine Existenzmöglichkeit in der heidnischen Mehrheitsgesellschaft zu bewahren, ohne ihre christliche Identität zu verlieren.
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D.XVI. Der erste Petrusbrief (Marlis Gielen)
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D.XVII. Der zweite Petrusbrief (Marlis Gielen)
I. Struktur 2 Petr besitzt eine einsichtige Struktur, die unverkennbar von brieflichen Formelementen geprägt ist. Auf das Präskript (1,lf.) folgt in 1,3-11 das Briefproömium, das gattungskonform wichtige Themenaspekte des Schreibens intoniert: zum einen die ethische Verpflichtung zu einer tugendhaften LebensfUhrung (1,5-7), in der sich die (An-)Erkenntnis Gottes und Jesu Christi erweist (l,3f.) und durch die sie zugleich gestärkt wird (I,8f.); zum anderen der Zugang zum endzeitlichen Reich Jesu Christi, der entsprechend einem der göttlichen Berufung und Erwählung angemessenen Verhalten in Aussicht gestellt wird (1,1 Of.). Mit dieser Absage an einen ethischen Libertinismus und der Bekräftigung der eschatologischen Hoffnung skizziel1 der Verfasser bereits hier die entscheidenden Kritikpunkte, die er im Briefkorpus gegen die von ihm als *euöoöLÖlioKllloL (Falsch lehrer) (2,1) bekämpften Leute ins Feld fUhrt. Das Briefkorpus (1,12-3,13) gliedert sich in drei Teile. Teil 1 (1,12-21) erinnert in Gestalt eines testamentarischen Vermächtnisses (V. 13-15) (-+ 2.3.) an das Zeugnis des "Petrus" (-+ 2.4.) als der zuverlässigen Grundlage des eschatologischen Heilsglaubens. Im Zentrum steht dabei die Szene der Verklärung Jesu Christi (vgl. Mt 17,1-5 parr), deren Augenzeuge Petrus war und die nun die Gewissheit der endzeitlichen Parusie des Herrn verbürgen soll (V. 16-19). Teil 2 des Briefkorpus (2,1-22) ist durchgehend bestimmt von der Polemik gegen die als Falschlehrer (V. I) etikettierten Gegner, denen nicht nur ein libertinistischer Lebenswandel (2,2.3a.lOa.13b-14.l8) und eine Verachtung der Engelmächte (2,10) vorgeworfen wird, sondern ebenso die Verfuhrung anderer zu solchem Verhalten (2,2f.l4.l8f.). Entsprechend wird ihnen und ihren Anhängern aufgrund ihrer Ungerechtigkeit (2,9b.13a) unter Berufung auf biblische Beispiele (gefallene Engel 2,4; Sintflutgeneration 2,5; Bewohner von Sodom und Gomorra 2,6-8; vgl. Bileam 2,15f.), die als Typos des Endgerichts fungieren (2,9b), die endzeitliche VerU\1eilung angekündigt (2,3b.9b.12b.l3a.17b.19f.). Vor diesem Schicksal bewahrt allein die Orientierung an der Gerechtigkeit eines Noah und eines Lot (2,5.7f.), die den Frommen die Errettung aus der Versuchung durch den Kyrios in Aussicht stellt (2,9a). Teil 3 des Briefkorpus (3,1-13) widmet sich der energischen Zurückweisung der Parusiebestreitung durch die Gegner (3,4), die nun als EI-11TIlLKtIlL (Spötter) (3,3) charakterisiert werden. Diese Zurückweisung stellt verschiedene Aspekte zusammen: die Sintflut als typologisches Vorabbild fUr die apokalyptische Er-
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wartung des Weitendes (3,5-7); die Differenz zwischen göttlichem Zeitmaß und menschlichem Zeitempfinden (3,8); die Güte Gottes, der noch Gelegenheit zur Buße geben will (3,9); die Unberechenbarkeit, mit der der Tag des Herrn kommt (3, I Oa). 3, IOb-12 schließlich stellen den Adressaten eindringlich das apokalyptische Szenario des Weitendes und des damit verbundenen Gerichts vor Augen, das sie in der Hoffnung auf die von Gerechtigkeit bestimmte neue Schöpfung erwarten sollen (3,13). Der Brief schließt in 3,14-18 mit Mahnungen an die Adressaten, die Zeit bis zur Parusie so zu verbringen, dass sie im Gericht bestehen können (3,14), sich vor jeder Verführung durch die Gegner - zumal bei Berufung auf ein fehlgeleitetes Verständnis der Paulusbriefe (3, 15f.) - zu hüten (3,17) und sich stattdessen auf die Gnade und (immer tiefere) Erkenntnis lesu Christi auszurichten (3,18a), dem als Kyrios und Retter abschließend eine Doxologie gewidmet ist (3, 18b). Briefeingang 1,1-11
Briefkorpus 1,12-3,13
Briefschluss 3,14-18
Briefpräskript 1,1-2 Briefproömium 1,3-11 Verpflichtung auf eine der Erkenntnis Gottes und lesu Christi entsprechende und die endzeitliche Zukunft nicht verbauende Lebensillhrung Das Zeugnis des "Petrus" als zuverlässige Basis des eschatologischen Heilsglaubens 1,12-21 Die Vorwürfe gegen die Falschlehrer 2,1-22 Zurückweisung der Parusiebestreitung 3,1-13 Abschließende Mahnungen und Schlussdoxologie
2. Entstehung 2.1 Quellen und Traditionen Die wichtigste Quelle des 2 Petr bildet der lud (zum Abhängigkeitsverhältnis des 2 Petr von lud T. l. KRAUS 368-376), den der Verfasser schwerpunktmäßig, jedoch nicht ausschließlich in Kapitel 2 verarbeitete. Im Einzelnen finden sich klar erkennbare Rückgriffe auf den lud in 2 Petr 1,2a (lud 2), 1,12 (lud 5a), 2,1-3 (Jud 4),2,4 (Jud 6),2,6 (lud 7), 2,9b (Jud 6b), 2,10 (lud 7-8),2,11 (lud 9),
2,12 (lud 10), 2,13 (Jud 12), 2,15 (Jud 11), 2,17 (Jud 12-13), 2,18 (Jud 16); 3,2 (Jud 17) sowie 3,3 (Jud 18).
Der Verfasser von 2 Petr hält sich dabei keineswegs sklavisch an seine Vorlage. Trotz der unverkennbar engen Berührungen setzt er nicht nur sprachlich eigenständige Akzente. So verallgemeinert er etwa in 2,11 die sich auf apokryphe Moseüberlieferungen stützende Aussage von lud 9, die in lud 14f. christologisch rezipierte endzeitliche Gerichtsszene aus äthHen 1,9 berücksichtigt er gar nicht.
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Ob dies im Zusammenhang mit einer zunehmenden Reserviertheit gegenüber apokryphen frUhjüdischen Schriften bei fortschreitender Zeit zu sehen ist, muss letztlich otfen bleiben. Eine gewisse Skepsis gegenüber dieser Erklärung erwächst jedoch aus folgender Beobachtung: Der Verfasser von 2 Petr ändert in 2,4-8 die lud 5-7 vorliegende biblische Beispielreihe, indem er lud 5 mit dem Beispiel des murrenden Volkes in der Wüste aus Num 14 streicht und stattdessen unter BerUcksichtigung der im Buch Genesis vorgegebenen Reihenfolge nun als neues Beispiel Noah und die Sintflut einbringt (2,5). Somit treffen in V. 5.6-8 die Erzählungen von der Sintflut sowie vom Untergang Sodoms und Gomorras unmittelbar aufeinander. Diese beiden Erzählungen werden aber in der frühjüdischen Tradition wiederholt als Prototypen göttlichen Strafhandelns (durch Wasser und Feuer) zusammengestellt (VitAd 49,3; Philo, Vit Mos 11 53-65; Jos., Ant I 70f.; lub 20,5; TestNaph 3,4f.; 3 Makk 2,4f. u. ö.). Hinzu kommt, dass der Verfasser von 2 Petr in 3,5f.7 die Sintflut als göttliches Strafgericht durch Wasser in eine typologische Beziehung zum eschatologischen Gericht durch Feuer stellt, wie sie sich vergleichbar in äthHen 101,5.6-9 (vgl. äthHen 91,4.15) findet. Berührungsängste gegenüber apokrypher frUhjüdischer Literatur sind daher eher unwahrscheinlich. Näher liegend ist die Vermutung, dass in 2 Petr 3,5f.6 die Weichen gestellt werden sollten für eine im Vergleich zu lud 14f. dramatischere und furchterregendere Darstellung des eschatologischen Gerichtsszenarios (vgl. 3,10-12).
Auf jeden Fall beweist der Verfasser von 2 Petr eine Vet1rautheit mit alttestamentlich-frühjüdischer (einschließlich apokrypher) Tradition, die keinesfalls nur über Jud vermittelt ist. Darüber hinaus bestehen beachtliche Querverbindungen zur Evangelientradition: Verklärung Jesu (2 Petr I, 17f.; vgl. Mk 9,210; Mt 17,1-9; Lk 9,28-36); sechste Vaterunser-Bitte (2 Petr 2,9, vgl. Mt 6,13 par Lk 11,4); Verschlimmerung des Zustandes nach dem Rückfall (2 Petr 2,20; vgl. Mt 12,43-45; Lk 11,24-26); Hunde und Schweine (2 Petr 2,6; vgl. Mt 7,6); Sintflut/Sodom und Gomorra - Endgericht (2 Petr 2,5.6f.; 3,5f.7; vgl. Mt 24,37-39 par Lk 17,26-33). Eine besonders enge Beziehung zum Mt besteht nicht nur über das Syntagma vom Weg der Gerechtigkeit (2 Petr 2,21; vgl. Mt 21,32), sondern über die starke Betonung des Motivs der Gerechtigkeit überhaupt (2 Petr 1,1; 2,5.7.8; 3,13; vgl. Mt 1,19; 3,15; 5,6.10.20.45; 10,41; 13,17 u. ö.). Schließlich steHt der Verfasser von 2 Petr in 3,15f. selbst explizit die Verbindung zur pln Tradition her, der er sich auch durch das Briefpräskript (I, I: Name mit anschließender Selbstbezeichnung als "Knecht und Apostel Jesu Christi"; vgl. Röm I, I; I Kor I, I; 2 Kor I, I ; Gal I, I; Phi! 1, I) wie durch das Motiv vom Herrentag, der wie ein Dieb in der Nacht kommt (3, 10a; vgl. I Thess 5,2), verbunden zeigt. Dagegen ist - abgesehen von der wörtlichen Übereinstimmung zwischen 2 Petr 1,2a und I Petr 1,2b - weder eine literarische noch eine traditionsgeschichtliche Beeinflussung von 2 Petr durch 1 Petr zu erkennen, obwohl der Verfasser von 2 Petr dasselbe Pseudonym (I, I) wählt (--+ 2.4.) und sich in 3, I ausdrücklich auf "seinen" vorausgehenden Briefbezieht.
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2.2 Teilungshypothesen Die in der Forschungsgeschichte bisweilen vertretene Iiterarkritische Ausgliederung des 2. Kapitels aus dem Briefzusammenhang (Begründung: auffällige Abhängigkeit von Jud; differente Gegnergruppen) hat sich nicht durchgesetzt. Aktuell werden in der Forschung keine Teilungshypothesen zu 2 Petr vertreten.
2.3 Gattungsfragen Der Verfasser des 2 Petr bezeichnet seinen Text selbst als Brief (3, I), und dem entsprechen die Formelemente des Präskripts (I,lf.), des Proömiums (1,3-11) sowie der Schlussmahnungen (3,14-18), die dieser Text aufweist. Mit dem I. Teil des Briefkorpus (1,12-21) wird in den Brief das Gattungselement des literarischen Testaments integriert, das sich gerade auch im frühjüdischen Schrifttum zahlreich findet (u. a. TestXII; TestAbr; TestHiob; äthHen 10 1,11O.18f.; VitAd 25-29). Beispiele aus der christlichen Literatur bieten Apg20,17-34; ActPetr36-39; ActJoh 106f.; ActThom 159f. Charakteristisch für diese Testamentsliteratur ist, dass ein Verfasser seinem zeitgenössischen Adressatenkreis unter dem Pseudonym einer bedeutenden heilsgeschichtlichen Persönlichkeit, die bereits verstorben ist, in Form einer testamentarischen VerfLigung Weisungen zur Bewältigung der Gegenwart erteilt (0. KNOCH 20 I). Eine 2 Petr vergleichbare (und wohl traditionsgeschichtliche nahe stehende) Verbindung von Brief und Testament bietet 2 Tim (Vermächtnis des Paulus!). 2 Petr allerdings als "Testament in Briefform" zu bezeichnen (I. BROER 11 641) stellt die jeweiligen Gattungsanteile doch auf den Kopf. Angemessener dürfte es sein, von einem Brief mit testamentarischem Anspruch zu reden.
2.4 Verfasser Dass es sich bei 2 Petr um ein pseudonymes Schreiben handelt, wurde bereits in der frühen Kirche vermutet (Euseb., Hist Eccl 1lI 1,4; 25,3) und darf in der modernen Forschung als unbestritten konsensfähige Aussage bezeichnet werden. Wichtige Indizien, die auf eine pseudonyme Verfasserangabe hindeuten, sind u. a.: (I) Die literarische Abhängigkeit vom Jud, die im Fall eines authentischen Petrus, der sich in 2 Petr 1,16 zumal auf seine Augenzeugenschaft beruft, äußerst befremdlich wäre. (2) Die ausdrückliche Bezugnahme auf I Petr (vgl. 2 Petr I, I; 3, I). Beide Briefe aber sind sprachlich-stilistisch wie inhaltlich so unterschiedlich, dass sie nicht von einem Autor stammen können. Selbst wenn also I Petr kein pseudonymer Brief wäre (-+ aber D.XVI.2.4.), müsste 2 Petr dennoch als solcher gelten. Umgekehrt gilt erst
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recht: Der authentische Petrus hätte sich gewiss nicht auf ein pseudonymes Schreiben berufen. (3) Pseudonymität als konstitutives Gattungsmerkrnal der Testamentsliteratur (- 2.3.). (4) Die rückblickende Perspektive auf die apostolische Zeit (3,2.4). (5) Die beginnende Ausbildung einer Kriteriologie sachgemäßer Schriftauslegung (und zwar einschließlich der urchristlichen Schriften) (I,20f.; 3,15f.). (6) Das hohe, griechisch-hellenistisch geprägte Sprachund Bildungsniveau (T. 1. KRAUS 367f.). All dies in Verbindung mit der soliden Kenntnis der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition und ihrer souveränen Verwendung lässt nur den Schluss zu, dass es sich beim Verfasser des 2 Petr - ähnlich dem des lud (- D.XXI.2.4.) - am ehesten um einen gebildeten hellenistischen Judenchristen handeln dürfte, dessen Identität im Übrigen im Dunkel der Geschichte verborgen bleibt. Die Wahl des Pseudonyms war wohl primär bedingt durch den Stellenwert, den die Szene der Verklärung Jesu als Typos des Parusiechristus (1,16-18) im Gesamt des Briefes besitzt. Die Petrus zu Beginn des 2. Jh. bereits zukommende gemeindeübergreifende Autorität dürfte bei seiner Auswahl als Augenzeuge dieser Szene statt der Zebedäussöhne ein wichtiges Kriterium gewesen sein (A. VÖGTLE, EKK XXII 127). Große Unsicherheit herrscht in der Frage, wo der Autor des 2 Petr seinen Brief verfasst hat. Zur Diskussion gestellt werden regelmäßig Rom (wegen der Wahl des Pseudonyms und wegen der Verbindung zwischen Petrus- und Paulustradition, die gegen Ende des I. Jh. auch I Clem 5 bezeugt), Alexandrien (die wohl um 135 in Ägypten entstandene ApkPetr setzt 2 Petr voraus [T. J. KRAUS 390-396]; Origenes nennt 2 Petr erstmals explizit und anerkennt ihn als kanonisch) und Kleinasien (Verbindungen von 2 Petr zu I Petr und Jud; Paulusbriefsammlung und Kontroverse um pln Tradition). Ein Konsens in dieser Frage ist nicht in Sicht.
2.5 Adressaten Wie im Fall von Jud I (- D.XXI.2.3.) lässt sich auch aus der fehlenden Ortsangabe in der Briefadresse 2 Petr 1,1 keineswegs schließen, dass das Schreiben keine Adressatenschaft eines bestimmten Ortes bzw. Gebietes im Blick hat. Gegen solch offenen, "katholischen" Empfangerkreis spricht nicht zuletzt der konkrete Situationsbezug, der etwa in 3,3f. deutlich durchscheint. Dass der Verfasser von 2 Petr ausdrücklich auf einen vorausgehenden Brief (= 1 Petr) verweist (3,1) und in 3,15f. auf eine Sammlung von Paulusbriefen abhebt, lässt den begründeten Schluss zu, dass der Empfangerkreis von 2 Petr im pln Missionsgebiet Kleinasiens, wohin auch I Petr (vgl. I, I) gerichtet war, anzusiedeln ist. In diesem Fall ist mit einer überwiegend heidenchristlichen Prägung der Adressaten zu rechnen. Dazu würde sich gut fügen, dass in 2 Petr vor Spöttern gewarnt wird, die auf der Basis einer skeptizistisch-epikureischen Weitsicht die Parusie Christi bestreiten (3,3f.) (I. BROER II 650).
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2.6 Zeitliche Einordnung
Die Entstehung des 2 Petr ist nach I Petr und Jud, die jeweils an den Ausgang des I. Jh. zu datieren sind (-+ D.XVI.2.6; D.XXI.2.6.]), einerseits und vor der um 135 n. Chr. entstandenen ApkPetr anzusetzen. Die Bezugnahme auf I Petr und die Rezeption von Jud in 2 Petr setzt ebenso eine gewisse Zeit zum Bekanntwerden der beiden Schreiben voraus wie die Kenntnisnahme des 2 Petr durch ApkPetr kaum unmittelbar nach Abfassung des Briefes erfolgt sein dürfte. Dies legt eine Entstehung von 2 Petr um 120 n. Chr. nahe. Diese Datierung wird gestützt zum einen dadurch, dass die in 2 Petr 3, 15f. vorausgesetzte Sammlung von Paulusbriefen bereits ins 2. Jh. verweist (I. BROER II 649), zum anderen dadurch, dass die in 2 Petr bekämpften Gegner noch keineswegs als typische Gnostiker zu identifizieren sind, so dass es nicht ratsam ist, den Brief erst in die Mitte bzw. in die 2. Hälfte des 2. Jh. zu datieren (A. VÖGTLE, EKK XXII 129). Gleichwohl handelt es sich bei 2 Petr wohl um die jüngste Schrift des ntl Kanons.
3. Diskurs Wie schon Jud (-+ D.XX1.3.) ist auch 2 Petr von der pragmatischen Absicht bestimmt, die Empfanger gegen den Einfluss unter ihnen wirkender Leute zu immunisieren, die der Verfasser ausdrücklich als häretisch (2, I: Fa[schlehrer, die verderbliche Lehren einführen) abqualifiziert. Die Gegnercharakterisierung in 2 Petr weist ebenfalls Gemeinsamkeiten mit Jud auf, zugleich aber werden neue Akzente sichtbar (R. HEILIGENTHAL [50-155). Grundsätzlich verbindet die Gegner in 2 Petr und Jud die Ablehnung einer Engelverehrung (2, I 0.12 [Jud 8.1 0]) und eine libertinistische Lebensführung (2,2f. [Jud 4]; 2,10 [Jud 7f.]; 2,13 [Jud 12]; 2,14; 2,[8 [Jud 16]; 3,3 [Jud 18]). Einen pneumatischen Selbstanspruch der von ihm bekämpften Leute karikiert der Verfasser von 2 Petr anders als Jud 19 nicht ausdrücklich. Dieser Aspekt rückt in den Hintergrund. Er wird allenfalls implizit im Kontext adäquater Schriftauslegung thematisiert. So birgt [,20f. den Vorwurf, dass die Gegner als Pseudolehrer (2, I) ihre eigene, gerade nicht geistgeleitete Schriftauslegung betreiben. Eine solch unangemessene Auslegung wird auch ausdrücklich im Blick auf die Paulusbriefe festgestellt (3,16), auf die sich die Gegner zur Begründung ihres Freiheitsverständnisses (2, 18f.) berufen haben dürften. Die Parusiebestreitung durch die Gegner, die in Jud 4 (14f.) nur implizit anklingt (-+ D.XX1.3), wird dagegen in 2 Petr massiv herausgestellt und angegriffen. Zutreffend bringt A. VÖGTLE, EKK XXII 117 diesen Befund in Zusammenhang mit einem "gegenüber Jud offenbar fortgeschrittenen Stadium der Parusiebestreitung". Je länger die Parusie auf sich warten ließ, umso berechtigter mu~ste die Skepsis gegenüber dem Eintreten dieses Ereignisses erscheinen und umso wahrscheinlicher trafen die Voten der Parusieleugner auf
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
offene Ohren. Ein solches Votum zitiert 2 Petr 3,4 explizit: "Wo bleibt die Verheißung seiner Wiederkunft?" Und ein vergleichbares Votum klingt in 1,16 an, indem der Verfasser sich gegen den wohl gegnerischen Vorwurf(A. VÖGTLE, EKK XXII 117; 1. BROER II 644) verwalut, bei der Parusiehoffnung handele es sich um "ausgeklügelte Fabeln". Als Reaktion darauf sucht der Verfasser von 2 Petr nun nicht die argumentative Auseinandersetzung mit den Parusieleugnern. Vielmehr zielt der Diskurs darauf, die Briefempfanger auf apostolisch verbürgten, orthodoxen Kurs (1,12-21) zu halten bzw. dorthin zurück zu bringen. Dies geschieht zum einen durch die massive Abqualifizierung der Gegner, die als dem Gericht verfallen und als Gefährdung für die Briefempfänger präsentielt werden (2,1-22), und zum anderen durch die Zusammenstellung unterschiedlicher Aspekte, unter denen die Parusieerwartung für die Adressaten neue Plausibilität gewinnen soll (3,5-13), so dass die Mahnungen (1,5-7. 9f.; 3,1 f.14-18) auf fruchtbaren Boden fallen können.
Literatur Kommentare: R. J. BAtlCKHAM (Word Bibl.ical Commentary 50) 1983. W. F. BROSEND (New Cambridge Bible Commentary) 2004. H. FRANKEMÖLLE (NEB.NT 18) 2 1990. W. GRUNDMANN (ThHK 15) )1986. N. HILLYER (NIBC 16) 1992. O. KNOCH (RNT) 1990.1. H. NEYREY (AncB 37C) 1993. H. PAULSEN (KEK X1I/2) 1992. K. H. SCHELKLE (HThK XIII/2) 61988. W. SCHRAGE (NTD 10) 41993. P-A. SEETHALER (SKK.NT 16) 1985. A. VÖGTLE (EKK XXII) 1994. Einzelstudien: T. CALLAN, Use ofthe Letter of Jude by the Second Letter of Peter, in: Bib. 85 (2004) 42-64. P. H. DAVIDS, The use of second temple traditions in land 2 Peter and Jude, in: J. Schlosser (Hrsg.), The Catholic Epistles and Tradition (BEThL 176), Leuven 2004, 409-431. P. DSCHULNIGG, Der theologische Ort des Zweiten Petrusbriefes, in: BZ 33 (1989) 161-177. J. FREY, Retter, Gott und Morgenstern. Metaphorik und Christologie im Zweiten Petrusbrief, in: 1. Freyl1. RohlslR. Zimmermann (Hrsg.), Metaphorik und Christologie (TBT 120), Berlin 2003, 131-148. T. K. HECKEL, Die Traditionsverknüpfungen des zweiten Petrusbriefes und die Anflinge einer neutestamentlichen biblischen Theologie, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk) (MThSt 76), Marburg 2003, 189204. R. HOPPE, Parusieglaube zwischen dem ersten Thessalonicherbrief und dem zweiten Petrusbrief. Ein unerledigtes Problem, in: 1. Schlosser (Hrsg.), The Catholic Epistles and Tradition (BEThL 176), Leuven 2004, 433-449. T. J. KRAus, Sprache, Stil und historischer Ort des Zweiten Petrusbriefes (WUNT II1136), Tübingen 2001. H. 1. RIEDL, Anamnese und Apostolizität. Der Zweite Petrusbrief und das theologische Problem neutestamentlicher Pseudepigraphie (RSTh 64), Frankfurt a. M. 2005. K. M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung im Maskenspiel. Epistolographie, Rhetorik und Narrativik der pseudepigraphen Petrusbriefe (HBS 38), Freiburg i. Br. 2003. L. THUREN, The relationship between 2 Peter and Jude. A c1assical problem resolved?, in: 1. Schlosser (Hrsg.), The Catholic Epistles and Tradition (BEThL 176), Leuven 2004, 451-460. A. VÖGTLE, Christo-Iogie und Theo-Iogie im Zweiten Petrusbrief, in: Anflinge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991,383398.
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Forschungsüberblicke: R.1. BAUCKHAM, 2 Peter. An Account of Research, in: ANRW 11/25,5 (1988), 3713-3752. M. 1. GILMOUR, 2 Peter in Recent Research. A bibliography, in: JETS 42 (1999) 673-678. P. MÜLLER, Der 2. Petrusbrief, in: ThR 66 (2001) 310-337. Sonstige Literatur: I. BROER, Einleitung in das Neue Testament. Band 11: Die Briefliteratur, die Offenbarung des Johannes und die Bildung des Kanons (NEB Ergänzungsband 1112 zum Neuen Testament), Würzburg 2001, 641-656. N. BROX, Petrusbriefe, in: TRE 26 (1996), 308-319; U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830),62007,460-469.
D.XVIII. Der erste Johannesbrief (Joachim Kügler)
Der 1 Joh gehört sicher zu den meistgelesenen Texten des NT, denn seine Liebesbotschaft - mit ihrem Spitzensatz "Gott ist Liebe" (1 Joh 4,8.16) - entfaltet ein zentrales Thema des christlichen Glaubens auf eindringliche Weise: Glaube und Leben gehören zusammen; wer seine Lebenspraxis nicht von der Liebe leiten lässt, hat Gott nicht erkannt. Diese Lehre wird freilich nicht gelassen-ausgewogen vorgetragen, sondern polemisch zugespitzt, was bisweilen schon die Frage aufkommen ließ, wie ernst der Autor selbst das Liebesgebot hinsichtlich seiner Gegner nimmt.
1. Struktur Dass es schwer ist, den 1 Joh zu gliedern, hängt "mit der relativ gleichförmigen Denk- und Schreibweise" (H.-J. KLAUCK, EKK XXTlI/I, 27) des Verfassers zusammen. Viele Übergänge sind gleitend, und die Zuordnung von Übergangsversen oder -abschnitten löst viel Verwirrung aus. Die hier vorgeschlagene Gliederung geht davon aus, dass der Autor verschiedene Textsignale benutzt: • Meta-Äußerungen über sein Schreiben (z. B. "dies ist die Botschaft", "schreibe ich" oder "habe ich geschrieben"), die Abschnitte eröffnen und/oder abschließen, • die direkte Anrede der Adressaten/innen ("Kinder", "Geliebte" o. ä.), • Leitwörter (z. B. "Liebe" oder "Geist"). Allerdings ist I loh in einer assoziativen Verkettungstechnik gearbeitet: Leitbegriffe des neuen Abschnitts tauchen z. B. schon am Ende des vorhergehenden auf oder die Adressatenanrede erfolgt mitten im Abschnitt oder am Ende. Deshalb gibt es in der Frage der Gliederung des Texts auch keinen Konsens. A
Prolog (1,1-4): Das Ur-Wort des Lebens und seine authentischen Zeugen
B
Hauptteil (1,5-5,12): "und dies ist die Botschaft••. " I 1,5-3,10: "und dies ist die Botschaft" - Erster Durchgang 1,5-2,11: "und dies ist die Botschaft H: Gottesgemeinschaft und SUnde Mögliche Detailgliederung: 1,5-10: "und dies ist die Botschaft" 2,1-6: "ich schreibe euch" 2,7-11: "ich schreibe euch" 2,12-26: "ich schreibe euch/habe euch geschrieben" (je 3 Mal!): Der Heilszustand der Adressat/innen und die Herausforderung der "Letzten Stunde" Mögliche Detailgliederung: 2,12-17: "ich schreibe euch" 2,18-20: "Kinder ..... 2,21-26: .. nicht habe ich euch geschrieben" :... "dieses habe ich geschrieben"
D.XVlll. Der erste Johannesbrief(Joachim Kügler)
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2,27-3,10: "und ihr ... ": Die Geistsalbung der Gotteskinder bewährt sich in Sündlosigkeit. Sünde äußert sich als Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit. 3,11-5,12: "und das ist die Botschaft" - Zweiter Durchgang 3,11-24: "und das ist die Botschaft": tätige Geschwisterliebe statt Menschenmord 4,1-5,12: " Geliebte ... ": Gott ist Liebe; d. h., wer Gott erkennt, stammt aus Gott, liebt wie er, hat den Sohn und damit das Leben. Mögliche Detailgliederung: 4,1-6: .. Geliebte ..... 4,7-10: "Geliebte ..... 4,11-13: "Geliebte ... " 4,14-20: .. Wir haben geschaut und bezeugen ... " 4,21-5,10: .. dieses Gebot haben wir ..... 5,11-12: "und dies ist das Zeugnis ... "
C
Brierschluss (5,13): " ••• habe ich geschrieben ": Die Glaubenden haben Leben
D
Epilog (5,14-21): Freimut und Zuversicht der Glaubenden
2. Entstehung Da die drei Johannesbriefe traditionell zu einer Gruppe zusammengefasst wurden, können die Fragen zur Entstehung des 1 Joh nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind stets im Zusammenhang mit den beiden kleineren Briefen zu sehen. Darüber hinaus ist auch die Frage der Beziehung zum JohEv im Auge zu behalten. 2.1 Quellen, Traditionen und Endredaktion des Textes
Während in der älteren Literatur (z. B. R. BULTMANN) die Existenz einer Vorlage rur den 1 Joh diskutiert wurde, geht die jüngere Forschung in der Regel von der Einheitlichkeit des Briefes aus und betont, dass Bultmann ohne ausreichende Gründe seine dreistufige entstehungsgeschichtliche Hypothese, die er am JohEv entwickelte, auf 1 Joh übertragen hat (K. WENGST, ÖTBK 16, 20-24; H.-J. KLAUCK, EKK XXIII/l, 21-23). Die einzige "Vorlage", die noch ernsthaft diskutiert wird, ist das JohEv - freilich im Sinne einer intertextuellen Beziehung (= das JohEv ein Prätext flir den 1 Joh). Es ist nämlich deutlich, dass 1 Joh mannigfach Sprach- und Denkmuster, die aus dem JohEv bekannt sind, aufgreift. Stilistische Unterschiede liegen v. a. in der Differenz der Textsorten begründet. Ebenso auffallig sind allerdings semantische Verschiebungen in zentralen Begriffen, die eine Identität des Verfassers mit dem/der vorredaktionellen "Evangelisten/in" oder der joh Redaktion unwahrscheinlich machen. Der Text gehört aber sicher in den Bereich der joh Theologie hinein. Sie bildet den Traditionszusammenhang, auf den der Text sich v. a. bezieht. Was die Vermutung einer größeren redaktionellen Überarbeitung von 1 Joh angeht, so hat auch hier Bultmanns Lösung keine Mehrheit mehr. Die einzige
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
Ausnahme stellen die Schlussverse 5,14-21 dar, die auch unabhängig von Bultmanns Drei-Stufen-Modell als späte Zutat eingestuft werden. Die Argumente daftir sind einleuchtend: Diese Verse ignorieren den deutlichen Abschluss in 5,13 und stehen auch semantisch teilweise in deutlichem Widerspruch zu vorhergehenden Aussagen des Textes (vgl. K. WENGST, ÖTBK 16, 21; H.-1. KLAUCK, EdF 56-58; anders z. B. 1. BEUTLER, RNT 13f.). Evtl. wurde der Anhang unter dem Eindruck staatlicher Verfolgung in Kleinasien zur Aktualisierung des Briefs angefügt (K. WENGST, ÖTBK 16, 215-226).
2.2 Velfasserfrage Der I loh nennt seinen Verfasser so wenig wie das 10hEv, aber ebenso wie dieses will er von einem Augenzeugen geschrieben sein. Ist es im 10hEv der "geliebte lünger" (= 01), der in loh 21,24 zum Autor erhoben wird, so gibt sich der Autor des I loh zu Beginn seines Schreibens als Mitglied einer Gruppe (oder schriftstellerischer Plural?) zu erkennen, die lesus gesehen, gehört und berührt hat. Da dieser Anspruch historisch schwerlich zutrifft (----> 2.4), "Iiegt ein Fall von anonymer Pseudepigraphie vor" (H.-J. KLAUCK, EKK XXIIIlI , 45) - anonym deshalb, weil kein großer Name der Vergangenheit als Autorität in Anspruch genommen wird. Der reale Verfasser dürfte dem Bereich der joh Schule angehören, aus der auch das 10hEv und die anderen 10hBr stammen. Alle Versuche, seine Anonymität zu lüften, sind strittig. Die altkirchliche Festlegung auf den Apostel 10hannes, den Sohn des Zebedäus, ist durch die kritische Forschung falsifiziert, aber eine neue konsensfähige Lösung ist noch nicht elTeicht. Ohne dass zusätzliche Quellen auftauchen, dürfte eine solche Lösung außerhalb der Reichweite wissenschaftlicher Forschung liegen, weil der Text selbst keinen Anhalt gibt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen 1 loh und der Endredaktion des 10hEv legen es aber nahe, einerseits eine große theologische Nähe anzunehmen, aber keine Identität der Verfasser. Durch bestimmte Anspielungen auf den Anfang und den ersten Schluss des 10hEv (----> 2.4.1) suggeriel1 der I loh, dass er vom Autor des 10hEv (und zwar in seiner unredigierten Fassung) geschrieben sei. Zweck dieser Verfasserschaftsfiktion ist es, "die Autorität des Evangeliums, die auch von den Gegnern anerkannt wird, gegen diese selbst zu wenden" (K. WENGST, ÖTBK 16, 28).
2.3 Adressaten Das intertextuelle Spiel mit dem 10hEv (----> 2.4.1) deutet darauf hin, dass die Adressaten in demselben joh Milieu anzusiedeln sind. Es handelt sich sicher um Christ/innen, die - wie auch im 10hEv vorausgesetzt - überwiegend heidenchristIich waren, obwohl es zugleich einen starken jüdischen Hintergrund
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der joh Tradition gibt, wie auch an der Arbeit mit jüdischem Traditionsmaterial durch den 1 Joh zu sehen ist. Wenn es einen engen zeitlichen Zusammenhang mit der joh Redaktion des JohEv gibt (-+ 2.4.1) und für diese eine Lokalisierung in Ephesus nicht unwahrscheinlich ist, so gilt dies auch für 1 Joh.
2.4 Zeitliche Einordnung 1 Joh will von einem Augenzeugen der Jesusgeschichte geschrieben worden sein. Das würde für eine frühe Entstehung sprechen. Wenn es sich aber um einen pseudepigraphischen Text handelt (-+ 2.2), dann sind diese Angaben fiktional und helfen nicht zur Datierung. Da der Text sonst keine direkt verwe11baren Angaben zur Datierung macht, sind wir auf indirekte Rückschlüsse angewiesen, die auf einer Zuordnung zum JohEv und zu den anderen beiden Johannesbriefen beruhen müssen.
2.4.1 Verhältnis zum JohEv
Inwieweit ist das JohEv ein Prätext für den 1 Joh? Vor alIem der Beginn des Briefes scheint auf den Prolog des JohEv anzuspielen, aber auch sonst sind Ähnlichkeiten feststelIbar. Hier eine kleine Übersicht ohne Anspruch auf VolIständigkeit (vgl. H.-J. KLAUCK, EdF 94f.): I Joh 1,la Was von Anfang an war 1,1 c was wir gesehen haben I, I d was wir geschaut haben 1,lf. bezüglich des Logos/Wortes des Lebens 1,2a lind das Leben ist erschienen 1,2b und wir haben gesehen 1,2c und wir bezeugen 1,2e welches beim Vater war I ,3b verkündigen wir auch euch, lAb damit unsere Freude erfüllt sei
JohEv 1,la Im Anfang war der Logos/das Wort I, 18a niemand hat Gott je gesehen I, 14c und wir haben seine Herrlichkeit geschaut 1,4a in ihm (dem Logos/Wort) war Leben 1,14a und das Wort ist Fleisch geworden I, 14b und hat unter uns gewohnt I, 7b damit er bezeuge I, Ib und das Wort war bei Gott 1,18b der an der Brust des Vaters ruht 1, 18c jener hat Kunde gebracht 1,14e voll Gnade und Wahrheit 1, 16a aus seiner Fülle haben wir alle empfangen 1, 19a und dies ist das Zeugnis des Johannes 1,4b und das Leben war das Licht der Menschen 1,5a und das Licht scheint in der Finsternis 15,10 wenn ihr meine Gebote haltet 14,23 wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben 13,34 ich gebe euch ein neues Gebot
1,5a und dies ist die Botschaft 1,5d dass Gott Licht ist I ,Se und es in ihm keine Finsternis gibt 2,3c wenn wir seine Gebote halten 2,5ab wer aber mein Wort hält, wahrlich, in diesem ist die Liebe Gottes vollendet worden 2,8a wiederum schreibe ich euch ein neues Gebot 3,11 und dies ist die Botschaft, die ihr gehört 15,12 dies ist mein Gebot, dass ihr einander habt von Anfang an, dass ihr einander liebt liebt, so wie ich euch geliebt habe
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
3,12a weil seine (Kains) Werke böse waren 3, 14b dass wir hinübergegangen sind vom Tod zum Leben 3,16ab daran erkennen wir die Liebe, dass jener fiir uns sein Leben dahingab 4,9 darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt sandte, damit wir durch ihn leben 4,12a niemand hat Gott je geschaut
7,7d dass ihre (der Welt) Werke böse sind 5,24g sondern er ist hinübergegangen vom Tod zum Leben 5,13 eine größere Liebe hat niemand, als dass er sein Leben dahingibt fiir seine Freunde 3,16 denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er den eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern . ewiges Leben hat 1,18 niemand hat Gott je gesehen
Diese Allusionen sind trotz mancher semantischer Verschiebungen recht deutlich, und das hat Konsequenzen für die Diskussion des Entstehungszeitpunkts. Weiter ist mit H.-J. KLAUCK (EKK XXIII/l, 319f.) u. a. darauf hinzuweisen, dass das Ende des Briefs den ersten Schluss des JohEv in 20,31 aufnimmt. Auch hier sind semantische Verschiebungen festzustellen, aber die Ähnlichkeiten zwischen den Schlüssen sind noch deutlicher als bei den Textanfangen und zwingen zur Annahme einer imitierenden Wiederaufnahme: I Joh 5, \3 Dieses schrieb ich euch, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt, den Glaubenden an den Namen des Sohnes Gottes.
Joh 20,31 Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christos ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen.
Solche Ähnlichkeiten sind hinsichtlich des zweiten Evangelienschlusses in Joh 21,24f., der in der Regel der joh Redaktion zugewiesen wird, nicht festzustellen, wie generell anzumerken ist, dass in 1 Joh die Figur des OJ nicht erwähnt wird, obwohl sie der Brief für seine Velfasserschaftsfiktion (--+ 2.2) sehr gut hätte gebrauchen können. Offensichtlich war der OJ noch unbekannt. Sind die entsprechenden Texte im JohEv als redaktionell einzustufen, so ergibt sich insgesamt das Bild, dass I Joh einerseits das JohEv voraussetzt, aber andererseits seine endredaktionelle Fassung noch nicht kennt. Angesichts der unvermeidlichen Unsicherheiten bezüglich der Datierung der Endfassung des JohEv wird man bei einem Datierungsvorschlag für 1 Joh vorsichtig sein müssen. 2.4.2 Verhältnis zu 2 loh und 3 Joh Die Reihenfolge der Schriften im NT ist keine Aussage über das Alter, weil bei der kanonischen Anordnung andere Kriterien (wie z. B. die Länge) eine Rolle spielten. So ist also auch durch die ntl Reihenfolge der drei lohannesbriefe nicht festgelegt, dass 1 loh der älteste und 3 loh der jüngste der drei Briefe ist. Die Ähnlichkeiten zwischen 2 loh und 3 loh sind größer als die zwischen dem 1 Joh und den beiden kurzen Briefen. Das betrifft sowohl den Umfang - die beiden kleinen Briefe sind ja ungefähr gleich lang - wie auch
D.XVI\I. Der erste Johannesbrief (Joachim Kügler)
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einzelne Formulierungen (vgl. die Synopse bei H.-J. KLAUCK, EKK XXIII/2, Anhang). 2 Joh und 3 Joh stammen entweder von demselben Verfasser oder einer von beiden ist eine Imitation des anderen. Für eine Verfasserschaftsfiktion spricht allerdings bei den bei den kleinen Briefen nichts. Beide Schreiben gehören nicht zu den theologischen Schwergewichten im NT, weil sie nicht viel argumentieren. Sie wollen nicht eine groß angelegte Revision der joh Tradition mittels geliehener Autorität durchsetzen, sondern konkrete Angelegenheiten in einer Konfliktsituation regeln. Das spricht eher dafür, dass wir es mit echten Gelegenheitsbriefen zu tun haben, die vom sei ben Autor stammen. Was die zeitliche Reihenfolge angeht, so sind die Angaben über die Abfassungssituation zu ungenau für eine klare Entscheidung. Das ist für echte Briefe auch nicht erstaunlich, denn der Verfasser setzt bei seinen Adressaten eine gewisse Kenntnis der Lage, in der er schreibt, voraus. Diesen gemeinsamen Kommunikationshorizont können moderne Lesende nicht mehr teilen. Die Konfliktlage ist jedenfalls der von I Joh ähnlich. Es geht um binnenchristliche Konflikte. Zusammen mit dem großen Brief sollte man also die beiden kleinen Briefe zwischen der vorredaktionellen Fassung des JohEv und seiner Endredaktion ansetzen. Für eine Entscheidung darüber, ob 2 Joh älter ist oder 3 Joh, scheint die Informationsbasis zu gering zu sein. Das, was man aus den beiden kurzen Texten erschließen kann, reicht jedenfalls nicht aus, um von der überlieferten Reihenfolge abzuweichen. Das gilt im Grunde auch für die Einordnung von I Joh. Hier sieht die Sache allerdings so aus, dass durch die Verfasserschaftsfiktion ein qualitativer Unterschied gesetzt ist. Wenn man vermutet, dass der Autor seinen Adressaten so bekannt ist, dass er sich nicht mit Namen nennen muss, aber trotzdem den unzutreffenden Anspruch erhebt, er gehöre zur Augenzeugengeneration, dann kann man KLAUCK folgen und den großen Brief als ältesten Text einstufen, dem derselbe Autor bald die beiden anderen hat folgen lassen. Letzte Sicherheit ist hier aber auch nicht zu erreichen. Es bleiben Fragen: Konnten die Adressat/innen gegen Ende des I. Jh. (oder noch später) den "Alten" tatsächlich für einen Zeitgenossen Jesu halten? Ist es sehr wahrscheinlich, dass der Verfasser im ersten Schreiben eine Autorität aufbaut, die er dann, wenn der Konflikt sich zuspitzt, nicht einsetzt? Konnte der "Alte" mit seiner persönlichen Autorität etwas erreichen, was er mit der Autorität eines Augenzeugen, auf die er in den kleinen Briefen nun einmal nicht rekurriert, nicht hatte erreichen können? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass man zur Verfasserschaftsfiktion griff, als die persönliche Autorität nicht mehr ausreichte? Sind also die beiden kleinen Schreiben nicht vielleicht doch älter als I Joh? Gewiss wird man zugeben müssen, dass historische Entwicklungen nicht geradlinig verlaufen müssen, aber es wäre doch zumindest wahrscheinlicher, wenn man annähme, dass der "Alte" zunächst versucht, mit seiner persönlichen Autorität in das Geschehen einzugreifen, um dann, wenn das nicht ausreicht, die höhere Autorität eines Augenzeugen zu fingieren. Das kann er selbst getan haben oder jemand aus dem joh Kreis, der ihm theologisch und sprachlich sehr nahe stand. Die Vollendung dieser Entwicklung
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
wäre dann die redaktionelle Gestalt des GJ als fiktiver Autor des JohEv, wobei man nicht gezwungen ist, noch einmal denselben Autor anzunehmen. Dass sich aber die Autoren der Endredaktion des JohEv und der Briefe sehr nahe standen, alle der gemeinsamen joh Tradition entstammten und alle denselben Konflikt (in unterschiedlichen Stadien) bearbeiteten, scheint mir außer Zweifel zu stehen.
2.4.3 Chronologisches Fazit H.-J. KLAUCK (EKK XXlIIfI, 49), K. WENGST (ÖTBK 16,30) u. a. schlagen als Entstehungszeitraum fUr 1 Joh (und die anderen beiden JohBr) lOO-llO n. Chr. vor. Viel Zeit muss zwischen den drei JohBr jedenfalls nicht liegen, und auch nicht zwischen den Briefen und der Redaktion des Evangeliums. Da der früheste Zeitpunkt fUr die Endredaktion des JohEv vermutlich durch die Benutzung der synoptischen Evangelien (zwischen 70-90 n. Chr.) und der Terminus ante quem bis jetzt durch p 52 (125-150 n. Chr.) gesetzt wird (---+ B.VII.), ist das jedenfalls im Bereich des Möglichen, auch wenn man die Präzision des Vorschlags vielleicht als etwas zu wagemutig einschätzen mag. Die Reihenfolge "vorredaktionelle Fassung des JohEv - 2 Johl3 Joh - I Joh Endfassung des JohEv" scheint mir jedenfalls einiges für sich zu haben. Mehr als Wahrscheinlichkeitsaussagen sind bezüglich der Reihenfolge der Briefe untereinander allerdings nicht möglich.
2.5 Gattungsfragen Ist 1 Joh überhaupt ein Brief? Dass das in der Forschung immer wieder bezweifelt worden ist, hängt damit zusammen, dass der Text nicht die üblichen Formeln des Briefanfangs aufweist und am Ende auch der übliche Briefschluss mit Grußliste fehlt. Außerdem ist er fUr einen antiken Privatbrief deutlich zu lang, wobei wir aber durch die pln Hauptbriefe daran gewöhnt sind, dass frühchristliche Briefe in diesem Punkt aus dem Rahmen fallen. Wenn man den Römerbrief als Brief durchgehen lässt, dann fällt I Joh keinesfalls aus dem Spektrum der Briefgattung (---+ 0.1.) heraus. Was Anfang und Schluss angeht, so muss man nicht damit rechnen, dass hier etwas verloren ging, sondern kann die Besonderheiten auch auf die Verfasserschaftsfiktion zurückfUhren. Wird dies berücksichtigt, so spricht insgesamt nichts dagegen, I Joh in die Gattung der antiken Briefe einzuordnen, wie dies in der neueren Forschung auch meist geschieht (vgl. z. B. K. WENGST, ÖTBK 16, 27f.; J. BEUTLER, RNT 12f.).
D.XVIII. Der erste Johannesbrief (Joachim Kügler)
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3. Diskurs
3.1 "Gott ist Liebe" - ein theologischer Grund-Satz und seine Folgen Das eigentliche Thema des I Joh wird in der Regel in der Christologie gesehen. Die ethischen Probleme, die der Text bearbeitet, werden meist nur als Ausfluss christologischer Defizite gesehen. Dem gegenüber stellte H. THYEN kategorisch fest: "Im Zentrum steht nicht die Christologie" (TRE 190). In der Tat weist z. B. der Textanfang als wichtige Orientierung der Lesenden kein christologisches Problem, sondern eine theologische Grundaussage auf: "Gott ist Licht und Finsternis ist nicht in ihm" (I Joh 1,5). Im Textkorpus selbst dominieren schon rein statistisch Begriffe aus dem ethisch-praktischen Bereich, v. a. "Liebe/lieben" (über 40mal). Diese Zentral stellung des Liebesbegriffs wird auch theologisch fundiert: Gott selbst nämlich "ist Liebe" (I Joh 4,8.16). Aus diesen Aussagen über Gott werden Konsequenzen für die christliche Existenz gezogen. Weil nämlich Kinder ihrem Vater gleichen, sind die Glaubenden, weil sie ja aus Gott gezeugt/geboren (das gr. YEWUro kann beides meinen!) sind, liebende Menschen. Wenn die Glaubenden einander lieben, dann lieben sie darin auch Gott, weil er in seinen Kindern präsent ist. Weil Gott Liebe, Gerechtigkeit und Licht ist, praktizieren seine Kinder Liebe, Gerechtigkeit und begehen keine Sünde. Ganz deutlich spricht der Text seine Adressaten auf ihren Heilszustand als Gotteskinder an: Sie sind vom Tod ins Leben hinübergegangen (3,14), sie sind stark, ihre Sünden sind vergeben, sie haben Christus und den Vater erkannt, der Böse ist besiegt, der Logos Gottes bleibt in ihnen (I Joh 2,12-14), als Geistgesalbte sind sie Wissende (2,20), und ihre Geistbegabung ist dauerhaft, umfassend und bezüglich der Wahrheit absolut zuverlässig (2,27). Dieser Indikativ der Gnade, der sich eschatologisch bis hin zur Gottähnlichkeit steigern wird (I Joh 3,2), wird mit dem praktischen Imperativ verbunden: Erlöstes Kind-Gottes-Sein und praktische Liebe gehören zusammen. Umgekehrt gilt: Wer nicht liebt, ist nicht aus Gott gezeugt/geboren. Wie gehört die Christologie in diese Argumentation? Aus Liebe sendet Gott seinen Sohn in den Kosmos. So ist Jesus als der ins Fleisch gekommene Sohn Gottes die Offenbarung der Liebe Gottes in der Welt. Aus Liebe gibt er am Kreuz sein Leben hin und bewirkt Erlösung durch sein Blut. Die Liebe Gottes wird also christologisch enggeführt und auf das Kreuz ausgerichtet. Wer also im Glauben Gottes Liebe annimmt, nimmt nicht einen allgemeinen Liebesbegriff an, sondern die konkrete Liebe als Lebenshingabe. So sind auch die glaubenden Gotteskinder Menschen, die sich liebend hingeben, indem sie ihre Geschwister lieben bis zur Hingabe des Lebens (3,16), ja sogar des Vermögens (3,17).
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
3.2 Ein Konflikt: Wer ist" Kind Gottes?"
Dass 1 Joh einen innergemeindlichen Konflikt bearbeitet, ist von der For: schung mehrheitlich anerkannt. In der Vergangenheit hat man sich bisweilen so sehr mit den "Gegnern" des Autors befasst, dass man die eigentliche Botschaft des Briefes fast aus den Augen verloren hat. Im Gegenzug wird in neueren Arbeiten die Existenz von Gegnern sogar bestritten (vgl. z. B. H. SCHMID), was nun auch des Guten zuviel ist. Ein vernünftiger Mittelweg wird wohl darin bestehen, von den Bemerkungen in 1 Joh 2,18f. (aber auch 4,1-5 und 2 Joh 7-10; 3 Joh 9f.) auszugehen, ohne deshalb die Gegnerfrage überzubewerten. Dabei ist außerdem zu beachten, dass ein pseudepigraphischer Brief ein fiktionaler Text ist, der keine Beschreibung außertextlicher Wirklichkeit liefert. Es genügt deshalb nicht, mit polemischen Überzeichnungen zu rechnen, sondern man muss den Weg zu historischen Rückschlüssen über die pragmatische Intention suchen: Was will der Text erreichen? Und in welcher Situation ist diese Zielsetzung angemessen? In der Textwelt ist es offensichtlich zu einer Spaltung gekommen, etliche sind nicht "geblieben", sondern "hinausgegangen" (I Joh 2,19 - vgl. Judas in Joh 13,30!). Eine solche Situation der Trennung lässt die Verteilung von "gut" und "böse" offenkundig werden. Die Apostaten sind solche, die nie wirklich zur Gemeinde gehörten. Sie waren immer Ungläubige wie "die Juden". Diese dualistisch-deterministische Erklärung passt zu einer schon vollzogenen Spaltung. Die Verunsicherung, die sie bei denen auslöst, die bleiben, soll aufgefangen werden. Andererseits bemüht sich der Text, zu definieren, was rechter christlicher Glaube und rechtes christliches Leben ist. Charakteristisch rur dieses Bemühen um Orthodoxie- und Orthopraxie-Bildung sind die zahlreichen Definitionssätze (,,jeder, der .. , .. oder" wenn ... , dann ... "; vgl. dazu J. KÜGLER, Tat 66-74). Diese Definitionsarbeit, die den gesamten Text durchzieht, ist eher sinnvoll in einer Situation, in der ,,gut" und "böse" noch nicht ganz evident sind. Das Bemühen um Grenzziehung ließe darauf schließen, dass der Text sich eher im unmittelbaren Vorfeld einer Spaltung befindet. Um diese Spannung historisch zu erklären, kann man z. B. vermuten, der Teil der Gemeinde, der "gegangen" ist, sei die Mehrheit (oder zumindest etwa gleich stark wie der andere Teil) gewesen, so dass den "Bleibenden" erst noch gezeigt werden muss, dass sie die wahren Glaubenden und die anderen die Abtrünnigen sind. Man kann aber auch auf die Unabhängigkeit eines fiktionalen Textes verweisen, der als "alter" Text eine "damalige" Situation schildert. In diesem Falle könnte die innertextlich vollzogene Spaltung auch angesichts außertextlicher bevorstehender Spaltung als Abschreckung fungieren: Lasst es nicht so weit kommen! Eine zweifelsfrei begründete Entscheidung scheint auf der Basis von I Joh allein nicht möglich zu sein, aber man muss bedenken, dass in den beiden kleinen JohBr ja schon fortgeschrittene Auseinandersetzungen (Grußverbot; verweigerte Gastfreundschaft, übles Gerede und Gemeindeausschluss) erkennbar sind. Sollten 2 Joh und 3 Joh tatsächlich auch noch älter sein als I Joh, dann müsste die
D.XVIII. Der erste lohannesbrief (loachim Kügler)
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Zielsetzung des großen Briefs tatsächlich eine Nachbereitung der außertextlich schon weitgehend vollzogenen Trennung sein.
Was lässt sich über die Position der Gegenseite sagen? Nimmt man die ethisch-praktische Schwerpunktsetzung des Briefes als Signal dafür, wie der Verfasser die außertextIiche Wirklichkeit sieht, dann dürfte er das Hauptproblem darin gesehen haben, dass es an praktischer Liebe (auch im Sinne finanzieller Solidarität) fehlte. Diese Störung des sozialen Beziehungsgefllges der Gemeinde könnte das Resultat eines enthusiastisch überspitzten Erlösungsbewusstseins (vgl. J. BEUTLER, RNT 22-24) gewesen sein. Dass der Text nicht versucht, den Heilsstatus der Gotteskinder zu bestreiten, deutet darauf hin, dass diese soteriologische Konzeption von ihm und seinen Adressaten geteilt wird. Es dürfte sich hierbei also um festen Traditionsbestand handeln. Er wird nicht dekonstruiert, sondern den "Lieblosen" abgesprochen: Wer meint, sich als GeistgesaIbter von den sozialen Verpflichtungen in der Gemeinde dispensieren zu können, zeigt, dass er gar kein Kind Gottes ist. Dass sich eine solche Fehlhaltung auch im Bereich der Christologie auswirken konnte, wird man nicht prinzipiell bestreiten können, die Frage ist aber, ob hier ein besonderer Schwerpunkt der Auseinandersetzung zu suchen ist. Es gilt dabei auch zu beachten, dass der Text Gegner-Klischees der joh Tradition benutzt. So erwecken viele Stellen, an denen es um den Glauben an Jesus als Christus geht, den Eindruck, als ginge es bei den Gegner um "die Juden" (vgl. dazu J. KÜGLER, Tat 76f in Abgrenzung von H. THYEN, TRE 17, 193), obwohl es doch um (ehemalige) Mitchristen geht. Das hat seinen Grund nicht nur darin, dass ein pseudepigraphischer Text immer älter scheinen will, als er ist, sondern hat seine Logik auch darin, dass "den anderen" ja ihr Christsein abgesprochen wird, sie also wie die ungläubigen ,,Juden" sind, die man aus Joh 8 kennt. Die vereinzelten Äußerungen über das Kommen Jesu Christi "im Fleisch" (1 Joh 4,2; vgl. auch 2 Joh 7) und "im Blut" (1 Joh 5,6.8) können antidoketisch (vgl. z. B. W. UEBELE 118-146) oder als Gegenposition zu einer Trennungschristologie verstanden werden, aber man muss sich fragen, ob solche EinzelsteIlen allzu viel Beweislast tragen können, zumal es kaum gelingt, ein überzeugendes Gegnerbild zu zimmern: Die Kritik an der antidoketischen Deutung G. RICHTERs (ein "Wasserleib" ist religionsgeschichtlich nicht belegt - K. WENGST, Häresie 19f.) ist ebenso überzeugend wie die Gegenkritik an der Behauptung einer Trennungschristologie (geschieht das Herabkommen des Christus erst im Wasser der Taufe, dann ist das eine Bestätigung der Trennung zwischen Christus und Jesus - G. RICHTER 124f.). Vielleicht muss die Exegese des 1 Joh lernen, die Aussagen des Briefes zunächst in ihrem internen Kontext zu interpretieren. Man muss ja die Existenz von Gegnern nicht gleich leugnen, aber es ist notwendig, zuerst die Botschaft des Textes zu erheben, bevor man aus ihr eine Gegenposition rekonstruiert. Dieser interne Kontext ist das Programm einer theologischen und christologischen Begründung des christlichen Ethos. Dabei gewinnt die Chris-
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
tologie paradigmatische Funktion und kann so als Aussage über das christliche Leben gelesen werden: So wie Christus im Fleisch gekommen ist, nicht allein im Wasser der Taufe, sondern auch im Blut des Kreuzestodes, so kann auch christliche Existenz nicht allein im Geistbesitz bestehen, sondern muss als praktische Liebe "Fleisch und Blut" werden bis hin zur Vermögens- und Lebenshingabe für die Schwestern und Brüder. Ob man darüber hinaus dann noch ein christologisches Defizit bei den Gegner/innen des Verfassers rekonstruieren soll, wird vermutlich ebenso strittig bleiben wie die Frage, ob es sich hier schon um "beginnenden Gnostizismus" (z. B. J. BEUTLER, RNT 24; noch etwas zurückhaltender H.-J. KLAUCK, EdF 149-151) handelt. Vielleicht ist es aber rur das Verständnis des Textes weniger wichtig als meist angenommen, weil viele christologische Aussagen sich der fiktiven Konfliktsituation (ein "alter" Autor kämpft gegen ,jüdische" Gegner) eines pseudepigraphischen Schreibens verdanken.
3.3 .. Frühkatholische .. Orientierung an normativer Vergangenheit
Macht man sich von der kontroverstheologischen Tradition des Begriffs (kritisch dazu H.-J. KLAUCK, EKK XXIIIII, 344-347) frei, kann man "frühkatholisch" durchaus verwenden, um bestimmte Veränderungen in Kirchenbild und -struktur zu beschreiben, die sich Ende I. Jh./Anfang 2. Jh. vollzogen. Wichtige Kennzeichen dieses Wandels sind: • Orientierung an normativer Vergangenheit • Ausbildung stärkerer Amtsstrukturen inkl. Hierarchiebildung • Orientierung an konservativen Strukturmodellen der heidnischen Umwelt • Zurückdrängen von Frauen in der kirchlichen Rollenverteilung In diesen Ubergreifenden Strukturbildungsprozess scheinen auch die Redaktion des JohEv und die JohBr hineinzugehören, wobei die Frage, inwieweit der Konflikt, den I .loh erkennen lässt, auch ein Geschlechterkonflikt war, nicht gut zu beantworten ist. Einerseits fällt auf, dass der Text diejenigen, die er auf seine Seite ziehen will, nie als Frauen anspricht. Er benutzt entweder neutrale Begriffe ("Kindlein") oder männliche ("Väter"; "JUngIinge"). Das könnte doch ein gewisses Indiz sein. Andererseits werden die Glaubenden immer inklusiv als "Kinder Gottes" und nicht als ,.Söhne Gottes" bezeichnet, obwohl sich das wegen der Christusgleichheit durchaus nahe legen wUrde. Zudem werden die Gegner durchwegs mit männlichen Begriffen bezeichnet (,.Antichristusse", "Pseudopropheten'·). Ein klares Indiz für einen Geschlechterkampf ergibt der Befund im I Joh also nicht.
Dass es beim joh "Frühkatholizismus" um die Anpassung eines freien joh Charismatikeltums an eine "synoptisch-petrinische Großkirche" ging, ist wohl ein (immer noch von R. BULTMANN herrührender) Anachronismus. Die "Großkirche" entsteht erst allmählich, und man muss sich entsprechende Strukturbildungsprozesse vermutlich eher synchron und dezentral in jedem einzelnen (pln - synoptisch - joh) Traditionsbereich vorstellen. Im Hinblick
D.xVIII. Der erste lohannesbrief (loachim Kügler)
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auf den joh "Frühkatholizismus" geht es also zunächst vermutlich um ein inner-joh Phänomen, das gleichzeitig die Voraussetzung schafft für ein Zusammenwachsen mit Bereichen, die ähnliche Transformationen erfahren bzw. erfahren haben. In diesem Zusammenhang darf die Verfasserschaftsfiktion des I Joh nicht nur als literarisches "Glasperlenspiei" gesehen werden. Es geht vielmehr um eine neue Begründung von Autorität (vgl. J. KÜGLER, Belehrung), in einer Gemeinde, die in dem Sinn "unbelehrbar" ist, als alle ihre Mitglieder die "Salbung" durch den Geist erfahren haben (2,27). Männer und Frauen sind Wissende, die Gott und seinen Gesalbten erkannt haben. Um eine solche Gruppe belehren zu wollen, kann man sich nicht auf den Geist berufen, denn den haben ja alle. Deshalb wird der Begriff "Geist" (pneuma) in I Joh sparsam und ambivalent - man muss guten und bösen Geist unterscheiden! - verwendet. Um sich selbst eine Differenzposition gegenüber den Geistgesalbten zu schaffen, muss etwas Neues eingeführt werden, nämlich das Argument der Augenzeugenschaft. Mit dieser Form der "historischen" Autoritätsbildung ist eine Orientierung auf einen normativen Ursprung verbunden. Das Gute, Alte und Wahre liegt in der Vergangenheit, und nur wer "von Anfang an" dabei war, wer Jesus selbst gesehen und gehört hat, kann diese Ursprungswahrheit zuverlässig bezeugen. Hier geht es aber nicht nur um Jesus als Fundament und Ursprung des christlichen Glaubens, sondern im Konflikt mit der rivalisierenden Gruppe auch um die Frage inner-joh Kontinuität. Durch die "Historisierung der joh Theologie" (T. K. HECKEL) soll die joh Gruppentradition und die mit ihr verbundene Autorität der gegnerischen Teilgruppe entwunden werden. Die Nachahmung des vorredaktionellen JohEv deutet an, dass I Joh vom selben Autor geschrieben sein will. Bei Spaltungen geht es stets auch um die Frage, wer die bisher gemeinsame Tradition beerbt, sie richtig auslegt und in rechter Weise weiterfühJ1. So wird im joh "War ofthe Roses" um das gemeinsame Haus ein eindeutiges Signal gesetzt: Die Gruppe, an die sich I Joh richtet, soll erkennen und anerkennen, dass das JohEv als identitätssichernder Text des joh Kreises so zu verstehen ist, wie der "Augenzeuge" es auslegt. Im Ringen "um das rechte Verständnis des gemeinsamen Erbes" (H.-J. KLAUCK, EdF 147) beansprucht der Verfasser von I Joh (zugleich für die hinter ihm stehende Gruppe), dass seine Auslegung und nicht die der "Antichristusse" in Kontinuität zu der Wahrheit steht, die "von Anfang an" war und letztlich die Wahrheit Gottes ist. Deshalb kommt es für die Adressaten darauf an, Gemeinschaft mit denen zu haben, die die Position des I Joh vertreten. Diese Zeugen und Lehrer haben Gemeinschaft mit Gott und seinem Sohn: Wer diese Gemeinschaft mit Gott erlangen oder behalten will, muss sich auf ihre Seite stellen. Von hier aus fällt auch Licht auf 3 Joh und die Zuordnung von Petrus und GJ in Joh 21 (und den anderen GJ-Texten). Kämpft in 3 Joh "der Älteste" als Zeuge mit dem widerspenstigen Gemeindeleiter Diotrephes, der eben nicht die Gemeinschaft mit ihm sucht, so stellt die joh Redaktion - quasi als Gegenbild zu diesem Konflikt - in der Relation GJ - Petrus die ideale Beziehung eines
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
legitimen Hirten mit dem Zeugenjünger dar: Der Hirte erfüllt seine Aufgabe, indem er sich von Jesus dem Zeugen zuordnen lässt. Dieser ist es, der Jesus erkennt und weiß, wer die Ungläubigen und Verräter sind. Vorausgesetzt, dass I Joh tatsächlich der jüngste der drei JohBr ist, dann läuft vom Konflikt in 3 Joh über die autoritätsbegründende Verfasserschaftsfiktion in 1 Joh eine Entwicklungslinie zur Redaktion des JohEv hin.
Literatur --+
D.XX. (am Ende)
D.XIX. Der zweite lohannesbrief (Joachim Kügler)
Der 2 Joh gehört (mit dem 3 Joh) zu den kürzesten Texten des NT. Selbst der kürzeste Brief des Paulus, der an Philemon, ist länger als die bei den kleinen Joh. Sie werden nicht in Kapitel unterteilt (2 Joh 3 bedeutet also nicht Kapitel 3 des 2 Joh, sondern Vers 3!), sind theologisch nicht besonders bedeutungsschwer, geben aber einen guten Eindruck von Umfang und Charakter eines nonnalen antiken Privatbriefs: "Ihre Länge (2 Joh: 1126 Buchstaben, 3 Joh: 1105 Buchstaben) verrät uns, dass sie je ein Papyrusblatt von gleicher Größe füllten" (R. SCHNACKENBURG 295).
I. Struktur Da sich der 2 Joh weitgehend an übliche antike Fonntraditionen für Briefe hält, ist er recht einfach zu gliedern: 2 loh
1-3:
Präskripl (Absender - Adressatin - Gruß) Proömium (Freude/Lob) 5-11: 8riejkorpus (Liebesgebot - Warnung vor Irrlehrern - Mahnungen/Anweisung) 12f.: Schluss (Besuchankündigung - Grüße)
4:
2. Entstehung 2.1 Quellen, Traditionen und Endredaktion des Textes
Die Kürze des Textes lässt es nicht angeraten erscheinen, eine groß angelegte literarkritische Diskussion zu führen. Über Quellen einerseits und redaktionelle Überarbeitung andererseits wird auch kaum diskutiert. Wegen der Ähnlichkeit zwischen 2 Joh und 3 Joh wurde in der älteren Forschung auch erwogen, welcher der beiden Briefe eine Imitation des anderen sein könnte (vgl. z. B. R. BULTMANN 103f.). Davon ist man inzwischen abgekommen. 2 Joh ist wie der 3 Joh ein echter Brief. Eine Verfasserschaftsfiktion würde bei einem so kurzen, relativ untheologischen Text auch wenig Sinn machen (-+ 2.5). Damit sind intertextuelle Beziehungen des 2 Joh zu den anderen bei den Joh und dem JohEv natürlich nicht ausgeschlossen. Diese sollten aber nicht als Imitation aufgefasst werden. Weder imitiert der 2 Joh den 3 Joh oder I Joh noch umgekehrt. Die Gemeinsamkeiten in Sprache und Theologie fußen vielmehr auf der gemeinsamen joh Tradition, einer ähnlichen theologischen Kon-
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
zeption und einer ähnlichen Kommunikationssituation. Dass der jeweils jüngere Text mit Motiven eines älteren spielen kann, liegt auf der Hand, aber das könnte in der Interpretation nur dann voll ausgewertet werden, wenn genau zu entscheiden wäre, wie die joh Literatur chronologisch zu ordnen ist. Hier aber sind wir auf - mehr oder weniger wahrscheinliche - Vermutungen angewiesen (-+ 2.4).
2.2 Verfasserfrage Der Briefschreiber nennt seinen Namen nicht, sondern bezeichnet sich als "der Ältere/Älteste" (presbyteros). Auch wenn sich das deutsche Wort "Priester" aus dem Griechischen ableitet, ist der Ausdruck in 2 loh velmutlich keine Amts- oder Funktionsbezeichnung. Zwar gab es in jüdischen und christlichen Gemeinden der Antike bisweilen ein Presbyterium ("Ältestenrat") als Leitungsgremium, aber selbst wenn sich in diesem Kollektiv ein Mitglied besonders profilielte, konnte es sich kaum "der Presbyter" nennen. Es geht also vermutlich um eine individuelle Ehrenbezeichnung. Das könnte außerdem bedeuten, dass es sich tatsächlich um einen Mann vorgerückten Alters handelt. Der Verfasser muss jedenfalls seinen Namen nicht nennen, sondern kann darauf vertrauen, dass er bekannt ist. Leider ist seine Anonymität heute nicht mehr auflösbar. Alle Identifizierungsversuche schaffen mehr Probleme, als sie lösen. Am Ende übermittelt der Älteste dann noch Grüße der "Kinder" der "auserwählten Schwester" (V. 13) und zeigt damit, dass er fur eine Gemeinde spricht, die zu der angeschriebenen in einem geschwisterlichen Verhältnis steht. Ein Pseudepigraphieverdacht lässt sich nicht erhärten. R. SCHNACKENBURG spricht vom "originalen Briefcharakter" (295) und die rezente Forschung gibt ihm darin ganz überwiegend Recht. "Besonders geschickt angelegt oder im Endeffekt gelungen wäre dieses Unternehmen nicht; man vermag seinen Zweck auch nicht recht zu erkennen", so H.-J. KLAUCK (EKK XXIIII2, 21) treffend. Der einzige mögliche Sinn läge darin, in der Maske des Ältesten Handlungsanweisungen (Wanderprediger abweisen) in Umlauf zu bringen, die den Wünschen des 3 Joh (Wanderprediger aufnehmen) genau entgegengesetzt wären. Das scheitert aber daran, dass die wenigen inhaltlichen Hinweise zeigen, dass 2 Joh und 3 loh zu derselben Konfliktpartei gehören.
2.3 Adressatin Die Adressatin ist eine "auserwählte Herrin" mit "ihren Kindern" (2 loh I). Zwar könnten "Auserwählte" (Eklekte) oder "Herrin" (Kyria) theoretisch auch Frauennamen sein, aber jeder Name würde den bestimmten Artikel elfordern. Deshalb kann es schwerlich um eine Einzelperson gehen. Wir haben es vielmehr mit der mütterlichen Personifikation einer christlichen Gemeinde zu tun.
D.xIX. Der zweite lohannesbrief (loachim Kügler)
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Ihre Mitglieder werden als ihre Kinder aufgefasst. Ein Ehemann der Mutter Gemeinde wird nicht genannt, aber der Vater ihrer Kinder ist Gott (2 loh 3). Außer den Kindern der erwählten Herrin hat Gott auch noch den Sohn lesus Christus. Implizit ist damit gesagt, dass die Gemeindemitglieder in einer Geschwisterbeziehung zu lesus stehen. So drückt die Familienmetaphorik ebenso wie die respektvolle Bezeichnung der Gemeinde als Herrin eine hohe Wertschätzung der Angesprochenen aus. Sie haben einen besonderen Heilsstatus, denn sie stehen in engster Beziehung zu Gott und seinem Christus. Das bestimmt das kommunikative Verhalten des Absenders: Er bittet, warnt, zeigt Konsequenzen auf, aber er kommt nur beim Grußverbot in die Nähe eines Befehls.
2.4 Zeitliche Einordnung (--+ DXVIII.2.4) Bei der Datierung des 2 loh kommt man über Wahrscheinlichkeitsaussagen leider nicht hinaus. Wenn, wie oben vermutet, die beiden echten Briefe 2 loh und 3 loh älter als I loh sein sollten, dann entfaltet der große Brief Themen, die in den beiden kleinen erst anklingen. Ein großer zeitlicher Abstand zwischen den drei Briefen ist nicht beweisbar. 2 loh ist also ähnlich zu datieren wie I loh: nach der Grundfassung des 10hEv und vor seiner Endredaktion. Das früheste Datum für die Endredaktion des 10hEv wird durch die Fertigstellung der Synoptiker (letztes Viertel des I. lh.) festgelegt, während p52 (ca. 125-150) den spätestmöglichen Zeitpunkt markie11 (-+ B.VI\.2.5).
3. Diskurs
3.1 Liebe und Bekenntnis zum" Fleisch" Die pragmatische Intention des Briefs ist leicht zu erkennen: Der Älteste möchte die Aufnahme bestimmter Wanderprediger durch die angeschriebene Gemeinde unterbinden. Hier wird ein innerchristlicher Konflikt erkennbar, aber die Angaben bleiben vage, weil der Absender bei der angesprochenen Gemeinde die Kenntnis der Konfliktsituation voraussetzt und deshalb sich nicht mit weiteren Erläuterungen, für die historisch Interessierte heute dankbar wären, aufhält. Die wenigen Andeutungen lassen Folgendes erkennen: • Wichtig sind die gegenseitige Liebe als Erfüllung der Gebote Gottes (V. 5f.) und als negatives Gegenbild die "bösen Werke" (V. 11). • Auch Lehre und Bekenntnis spielen eine Rolle. Es geht darum, lesus Christus als "im Fleisch Kommenden" (V. 7) zu bekennen. Wie die beiden Aspekte zusammengehören, ist aus dem Brief nicht zu erkennen. Das kann nur von I loh her erschlossen werden. Was die Aussage über lesu "Kommen im Fleisch" bedeuten soll, ist ebenfalls unklar und dem-
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
entsprechend in der Forschung umstritten. Gewöhnlich wird 2 loh 7 wie I loh 4,2, wo davon die Rede ist, dass "lesus Christus im Fleisch gekommen ist", verstanden. Die präsentische Formulierung in 2 loh wird dann als unerhebliche Abweichung eingestuft, als sprachliche Nachlässigkeit oder als Abschreibfehler. Dagegen hat sich G. STRECKER (KEK 14, 332-337) entschieden dafiir eingesetzt, das Partizip Präsens ("kommend") in 2 loh 7 futurisch zu interpretieren, was grammatikalisch gut möglich ist. Es bezieht sich dann auf die endzeitliche Wiederkunft Christi (Parusie). Die Gegner des Ältesten hätten dann keine doketische Christologie vertreten, sondern die "futurischeschatologische Erwartung, die sich auf ein in irdischer Weise [sich] vollziehendes messianisches Reich richtet" (G. STRECKER, KEK 14, 336f.), geleugnet. FUr diese Lösung spricht zumindest, dass sie die Präsens-Formulierung ernst nehmen kann, nicht mit einer sprachlichen Schwäche des Verfassers rechnen muss und dass der Kontext von 2 Joh 7f. eindeutig endzeitlich ist. Ob freilich V.7 ausreicht, um den Ältesten zum "Chiliasten", also zum Prediger eines tausendjährigen messianischen Zwischenreiches zu stilisieren, erscheint höchst fraglich. Dass es aber im joh Kreis eine Gruppe gab, die mit der traditionellen Endzeit-Hoffnung ihre Probleme hatte, weil sie den gegenwärtigen Heilszustand der Kinder Gottes radikal betonte, lässt sich in I Joh und in den redaktionellen Texten des JohEv zeigen. So kann die futurische Deutung von 2 loh 7 auch den Blick auf eine einheitliche Konfliktlinie in den loh eröffnen. Die Lehrer/innen, vor denen der Älteste warnt, vertreten vermutlich wie die Gegner, die in 1 loh bekämpft werden, eine radikal gegenwartsbezogene Heilslehre, die das Kommen lesu im Fleisch deshalb leugnet, weil sie mit der Parusie (und anderen Endzeit-Vorstellungen) generell nichts anfangen konnte. Der Zusammenhang mit dem Liebesgebot müsste dann darin bestehen, dass die radikal präsentische Soteriologie zu einer Vernachlässigung des praktischen Liebeshandelns (im Sinne innerchristlicher Solidarität) verleitete. Ein enthusiastisch überspitztes Erlösungsbewusstsein könnte so zu einer massiven Störung des sozialen Beziehungsgeftiges der joh Gemeinden geftihrt haben. Der Älteste will nun fi·eilich nicht den Glaubenden ihr gegenwärtiges Heil absprechen, das zeigt sein respektvoller Umgang mit der Gemeinde als "erwählter Herrin", deren Kinder Gott zum Vater haben und seinen Sohn als Bruder. Vielmehr geht es ihm wie dem Autor von 1 loh, mit dem er ja vielleicht identisch ist, um die rechte Verbindung von Erlösungsbewusstsein und praktischer Umsetzung des Liebesgebots. Dass er selbst dabei recht lieblos mit seinen Gegnern umgeht, flmt als Schatten auf seinen Text und mag moderne Leserlinnen dazu herausfordern, über die bleibende Bedeutung der Feindesliebe - auch und gerade in innerkirchlichen Auseinandersetzungen - nachzudenken.
D.XlX. Der zweite Johannesbrief (Joachim Kügler)
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3.2 Altes und Neues - Bleiben und Weitergehen Modernen Menschen ist der Gedanke ziemlich fremd geworden, dass Fortschritt etwas Negatives sein könnte. Genau das aber behauptet 2 loh 9. Wer nicht bei der überlieferten Christus-Lehre bleibt, wer fortschreitet, verliert den Kontakt mit Gott. Wer dagegen beim Alten bleibt, so wie es der Älteste vertritt, bei dem bleiben auch Gott und sein Sohn. Auch das Liebesgebot, das der Älteste neu einschärft (2 loh 5f.), ist etwas Altes, das "von Anfang an" galt. Diese Aussagen signalisieren einen Kampf um die gemeinsame joh Tradition. Bei der Spaltung von Gruppen geht es ja stets auch um die Frage, wer die bisher gemeinsame Tradition beerbt, sie richtig auslegt und in rechter Weise weiterführt (- D.XVIIl.3.3). Diese Frage versucht der Älteste so zu entscheiden, dass er mit seiner Lehre der Bewahrer der joh Tradition ist und diese in rechter Weise weiterführt. Dass diese Frage bearbeitet werden muss, mag andeuten, dass für die angesprochene Gemeinde die Sachlage nicht ganz so evident war. Vermutlich betrachtete sich auch die andere Partei als legitime Erbin der gemeinsamen Tradition. Und in der Tat lässt sich eine radikale Gegenwartssoteriologie durchaus als Zuspitzung oder Überspitzung der joh Tradition, wie sie in der vorredaktionellen Fassung des lohEv noch greifbar ist, verstehen. Gerade deshalb muss der Älteste seinen Gegenspielern die Argumentationsbasis entziehen und verdeutlichen, dass er die Wahrheit repräsentiert, die "von Anfang an" galt.
Literatur - D.XX. (am Ende)
D.XX. Der dritte Johannesbrief (Joachim Kügler)
Der 3 loh ist nicht nur der kürzeste Text im NT, es ist vermutlich auch der am wenigsten gelesene. Das wird daran liegen, dass sein geistlicher "Nährwert" als recht gering empfunden wird. Und in der Tat könnten geistlich Lesende fragen, was eigentlich das Christliche ist an diesem Text, der als einziger im NT lesus Christus nicht erwähnt und sich nicht mit theologischen Fragen aufhält, sondern versucht, konkrete kirchenpolitische Angelegenheiten zu klären. Historisch interessant ist der 3 loh freilich allemal, weil er uns einige zusätzliche Informationen über Konflikte im joh Kreis gibt.
1. Struktur Da sich 3 loh (wie der 2 loh) weitgehend an üblichen antiken Formtraditionen der Privatbrief-Gattung orientiert, ist er gut zu gliedern: 3 Joh
I: Präskripl (Absender - Adressat) 2-4: Proömium (Wohlergehenswunsch/Freudenäußerung) 5-12: BriefkorplIs (Gastfreundschaft - der Gegner Diotrephes - Mahnungen - Empfehlung des Demetrius) 13-15: Schluss (Besuchankündigung - Grüße)
2. Entstehung Wegen der Ähnlichkeit zwischen 2 loh und 3 loh (vgl. die Synopse bei H.-l. KLAUCK, EKK XXIII/2, Anhang) wurde in der älteren Forschung auch erwogen, welcher der beiden Briefe eine Imitation des anderen sein könnte (vgl. z. B. R. BULTMANN 103f.). Das wird aber kaum noch diskutiert. 3 loh ist wie 2 loh ein echter Brief. Eine Verfasserschaftsfiktion würde bei diesem Text, der noch kürzer und noch untheologischer ist als 2 Joh, auch wenig Sinn machen. Die Gemeinsamkeiten in Sprache und Theologie mit dem 10hEv und mit den beiden anderen loh fußen auf der gemeinsamen joh Tradition, einer ähnlichen theologischen Konzeption und einer ähnlichen Kommunikationssituation. Im Verhältnis zu 2 loh kommt noch hinzu, dass die beiden Texte höchstwahrscheinlich von demselben Verfasser stammen.
D.XX. Der dritte lohannesbrief (Joachim Kügler)
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3. Diskurs: Interne Konflikte in frühchristlichen Gemeinden 3.1 Die Personen - " Who 's who?" Der Absender ist wie im 2 Joh "der Älteste" (presbyteros). Da der Absender damit rechnet, dass der Adressat weiß, wer er ist, wird die Anonymität des Ältesten nicht aufgelöst, ansonsten aber nennt der Brief konkrete Namen: Er ist adressiert an Gaius, er kritisiert Diotrephes und empfiehlt Demetrius. Wegen des Mangels an theologischem Stoff - 3 Joh setzt joh Theologie voraus, expliziert sie aber nicht - hat sich die Forschung auf diese Namen konzentriert: Der Alteste dürfte derselbe sein wie der Verfasser des 2 Joh, also eine uns namentlich nicht mehr bekannte Autorität des joh Kreises. Die oben (---+ D.xIX.2.2) angestellte Vermutung, dass es sich tatsächlich um einen Mann vorgerückten Alters handelt, erhält hier neue Nahrung, der Adressat wird den "Kindern" des Ältesten zugerechnet. Dieses paternalistische Auftreten wäre für einen jungen Mann ziemlich ungehörig (vgl. H.-J. KLAUCK, EdF 120). Gaius ist offensichtlich ein Christ in einer anderen Gemeinde als der des Ältesten. Dass er dort eine besondere Funktion hat, wird nicht deutlich, wohl aber, dass er in einem Vertrauensverhältnis zum Ältesten steht, der ihn mehrmals als "Geliebter" anspricht (vgl. die Anrede der Glaubenden als "Geliebte" in I Joh). Bei Diotrephes handelt es sich wohl um den Leiter einer Orts- oder Hauskirche. Er muss eine starke Stellung haben, denn sonst könnte er nicht Mitglieder aus der Gemeinde hinauswerfen. Der Älteste, dessen Autorität Diotrephes nicht anerkennt, bezeichnet ihn als einen, der "Erster sein will" (philopröteuön), und unterstellt damit, dass es sich nicht um einen legitimen Leiter handelt. Das mag Polemik sein, kann aber auch darauf hinweisen, dass wir es noch nicht mit festen Ämtern zu tun haben. Eventuell wuchs einem Mitglied eine Leitungsfunktion einfach dadurch zu, dass es wohlhabend genug war, um die Gemeinde im eigenen Haus zur Versammlung und zum Gottesdienst empfangen zu können. Mit dem normalen Hausrecht war damit zugleich die Ausschlussmöglichkeit von Einzelmitgliedern gegeben. "Hinauswurf aus dem Haus und Ausschluß aus der Gemeinde sind in dem Fall identisch" (H.-J. KLAUCK, EKK XXIII/2, 105). - Demetrius wird wohl der Überbringer des Briefes sein. Vermutlich ist er darüber hinaus zugleich als Wandermissionar tätig. Jedenfalls stellt ihm der Älteste ein glänzendes Zeugnis aus.
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
3.2 Die Situation: Beziehungsstörungen in einer Gemeinschaft von Geliebten Gaius, der Adressat des Briefes, wird gelobt dafür, dass er der christlichen Pflicht zur Gastfreundschaft nachkommt und Wanderprediger aufnimmt, sogar solche, die ihm fremd sind. Diotrephes dagegen tut dies nicht und hindert auch andere Gemeindemitglieder, dies zu tun. Ob Gaius in der Gemeinde des Diotrephes lebt, ist schwer zu sagen. Einerseits spricht der Älteste mit Gaius darüber, dass Diotrephes Erster von "ihnen" sein will, was auf Distanz zwischen Gaius und Diotrephes hindeutet, andererseits redet der Älteste davon, zu "kommen", um Diotrephes zur Rede zu stellen, was auf eine gewisse räumliche Nähe zwischen Gaius und Diotrephes hinweist. Eventuell erklärt sich diese Diskrepanz dadurch, dass Gaius zwar in derselben Ortschaft/Stadt lebt wie Diotrephes, aber entweder nicht zu dessen Hausgemeinde gehört oder zumindest nicht von ihm abhängig ist. Die von Gaius geübte Gastfreundschaft gegenüber Wandermissionaren könnte andeuten, dass er gut situiert ist und ebenfalls über ein größeres Haus verfügt. Dann könnte der Presbyter mit seinem Brief versuchen, durch Gaius eine neue Basis für eine Hauskirche neben der des Diotrephes zu gewinnen. Triffi dies zu, dann steht auch 3 Joh, wie vermutet, im Kontext der joh Spaltung. Der Älteste als Zeuge und Lehrer kämpft mit dem widerspenstigen Gemeindeleiter Diotrephes und versucht, Gaius als neue Leitungsfigur, die mit ihm Gemeinschaft hält und seine Autorität anerkennt, aufzubauen. Setzt man die Konfliktlage des 3 Joh mit der des JohEv in Verbindung, dann erscheint der Konflikt zwischen dem Zeugen und dem Leiter wie ein Gegenbild zur Beziehung GJ - Petrus in Joh 21. Vorbereitet durch die anderen GJ-Texte (in Joh 13; 19; 20) wird im Nachtragskapitel die ideale Zuordnung eines legitimen Hirten mit dem Zeugenjünger aufgezeigt: Der gute, von Jesus selbst eingesetzte Hirte erfüllt seine Aufgabe in der Nachfolge des Herrn, indem er sich von ihm dem Lehrer/Zeugen zuordnen lässt und anerkennt, dass er auf dessen Zeugnis verwiesen und angewiesen ist (vgl. B. BONSACK 57-59.62, der aber nicht genau genug zwischen Lehr- und Leitungsfunktion unterscheidet). Ob man dann die GJ-Texte des JohEv so verstehen sollte, dass sie dem Ältesten, der uns die beiden kleinen Joh (und evtl. auch 1 Joh) hinterlassen hat, "ein literarisches Denkmal" (H. THYEN, Entwicklungen 296) setzen wollen, muss trotz dieser Analogien offen bleiben. Ähnliches gilt auch für H.-J. KLAUCKS Erwägung, "ob nicht der Presbyter eine besonders herausragende, in eine führende Stellung hineinverwachsene Gestalt aus dem Schülerkreis des Lieblingsjüngers gewesen sein mag" (EdF 121). So sehr diese Frage das Recht hat, gestellt zu werden, so wenig dürfte sie je eine gültige Antwort finden, wenn das Wissen über den Ältesten und über den Ursprung des joh Christentums so dürftig bleibt, wie es ist.
D.XX. Der dritte lohannesbrief (loachim Kügler)
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D.XXI. Der Judasbrief (Marlis Gielen)
1. Struktur Der nur 25 Verse umfassende kurze Jud besitzt eine klare Struktur. Nach einem gattungstypischen (-+ 2.3) Briefeingang (V. I f.) schließt sich das Briefkorpus an, das die V. 3-23 umfasst. Es gliedert sich in eine kurze Einführung (V.3f.) und zwei Hauptteile (V. 5-16.17-23), die jeweils durch das Stichwort "Erinnerung" (V. 5.17) und mit einer direkten Adressatenanrede eingeleitet werden. Den Briefschluss bilden die V.24f. Innerhalb der ntl Briefliteratur bietet Jud neben dem von ihm abhängigen 2 Petr (-+ D.XVII.2.I) und dem sekundären Schluss des Röm (-+ D.II1.2.2) (vgl. 2 Petr 3, 17f.; Röm 16,25-27) einen der wenigen Belege für eine doxologische Gestaltung des Briefschlusses. Die das Briefkorpus einleitenden Verse umreißen Briefzweck (V. 3) und -anlass (V. 4): Briefzweck ist die Ermahnung der Adressaten, für den ihnen überlieferten Glauben zu kämpfen. Die Notwendigkeit dieser Ermahnung sieht der Verfasser des Jud durch das Wirken von Menschen in den Gemeinden gegeben, die er als Gottlose bezeichnet und denen er Ausschweifung unter missbräuchlicher Berufung auf die Gnade Gottes sowie die Leugnung Jesu Christi als des alleinigen Herrschers und Herrn vorwirft. V. 5-16 entfalten die in V.4 erhobenen Vorwürfe gegenüber diesen als Irrlehrer stilisiel1en Menschen, auf die wiederholt jeweils zu Versbeginn stereotyp-abwertend mit OU"WL (diese) (V. 8.10.12.16) verwiesen wird. Dabei werden mehrfach Beispiele aus alttestamentlich-frühjüdischer Tradition mit der Beschreibung der Irrlehrer verknüpft, entweder in der Weise negativer Entsprechung (vgl. V. 57 mit V. 8; V. 1I mit V. 12f.) oder in der Weise der positiven Abgrenzung des überlieferten Beispiels vom Verhalten der Irrlehrer (vgl. V.9 mit V. 10). Kennzeichnend für den deskriptiven I. Hauptteil ist zudem, dass die Beschreibung der Irrlehrer unter der Perspektive ihrer Gerichtsverfallenheit (vgl. V. 4a) erfolgt (V. 5-7.1 Of.13-15). Im Zentrum des appellativen 2. Hauptteils (V. 1723), der aufV. 3 zurückgreift, steht die Ermahnung der Gemeinde(n), sich von den unter ihnen wirkenden Menschen abzugrenzen. Das eingeforderte Verhalten wird nicht zuletzt durch die Aussicht auf die Rettung im eschatologischen Gericht (V. 21; vgl. V. 24) motiviert.
O.xXI. Der ludasbrief (Marlis Gielen) Briefeingang 1-2 Briefkorpus 3-23
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Briefzweck (3) und -anlass (4) 3-4 Ermahnung der Adressaten zum Kampf für den überlieferten Glauben angesichts des Wirkens von Irrlehrern unter ihnen J. Haupttei15-J6: Beschreibung der Irrlehrer unter der Perspektive ihrer Gerichtsverfallenheit 2. Hauptteil J 7-23: Ermahnung der Adressaten zur Abgrenzung von den Irrlehrern
Briefschluss (Doxologie) 24-25
2. Entstehung 2.1 Quellen und Traditionen Eine tragende Säule der Argumentation des Jud bildet die alttestamentlichfrühjüdische Tradition, die der Verfasser besonders intensiv im I. Hauptteil (V. 5-16) rezipiert. In V. 5-7 eröffnet er diesen Teil mit drei Beispielen aus der Tora, die vom Unglauben gegenüber Gottes Macht (V. 5: Num 14,1-4.2638) und von Fehlverhalten im sexuellen Bereich (V. 6: Gen 6, 1-4; V.7: Gen 19,4-25) erzählen. Diese Beispiele sündiger Taten und die daraus folgende göttliche Bestrafung der Täter sind auch frühjüdisch als traditionell geprägte Reihe (Sir 16,7-10; vgl. CD 2,17-3,12; TestNaph 3,4f.; 3 Makk 2,4-7) im Dienst der Warnung belegt. Der Verfasser des Jud bezieht sie typologisch auf die von ihm als Irrlehrer bekämpfte Gruppe (A. VÖGTLE 35). Der Weheruf über diese Gruppe in V. II stellt erneut eine Beziehung zu drei biblischen Gestalten her, deren sachliche Spitze sich nur über die nachbiblisch-frühjüdische Rezeption erschließt: Kain (Gen 4) als Egoist und Verführer zur Sünde (Jos., Ant 161; Philo, Post 38-52; Det 32.78), sowie als Leugner des endzeitlichen Gerichts (TargGen 4,8); Bileam (Num 22-24; 31) als Paradebeispiel für Bestechlichkeit, Habgier und Verführung (Philo, Vit Mos I 266-268.295-300; Jos., Ant IV 118-130; vgl. Offb 2,14); Korach (Num 16) als Rebell gegen die Autorität der Führer Israels (Moses und Aaron), der um den Preis von Streit und Spaltung durch Überredungskunst die Israeliten auf seine Seite bringen wollte (TargNeofNum 16,1; 26,9; TargPsJon Num 26,9; NumR 18,2; Jos Ant IV 15-21; vgl. I Clem 51,1-4) (A. VÖGTLE 65f.). In Jud 9 greift der Verfasser auf apokryphe Mosesüberlieferungen zurück, die an Dtn 34,6 anknüpfen (H. PAULSEN, KEK XIII2, 66f.; R. HEILIGENTHAL, Henoch 29-32). Und in Jud 14f. zitiert er eine endzeitliche Gerichtsszene aus äthHen 1,9, freilich in christologischer Rezeption.
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
Querverbindungen bestehen ferner vor allem zur paulinisch-deuteropaulinischen Tradition. Neben der Gestaltung des Briefpräskripts (-+ 2.3) fällt die Übereinstimmung in der Wahl des atl Beispiels zwischen Jud 5 und I Kor 10,10 ebenso auf wie die Nähe im Verständnis des Glaubens (als fest umrissener überlieferter Größe) zwischen Jud 3.20 und den Past (\ Tim 6,3. IOb.20f.; 2 Tim 1,12-14; Tit 1,13b; 3,8 u. ö.)
2.2 Teilungshypothesen Zum Judasbriefwerden in der Forschung keine Teilungshypothesen diskutiert.
2.3 Gattungsfragen Mit dem Präskript (V. If.), das unverkennbar in der paulinisch-deuteropaulinischen Brieftradition steht (vgl. 1 Kor 1,lf.; Röm 1,1.7; Phill,l; zu Jud 2: I Tim 1,2; 2 Tim 1,2), sowie mit der dezidierten Angabe seines Zwecks und Anlasses (V. 3f.) gibt sich der Jud deutlich als echter Brief zu erkennen (H. FRANKEMÖLLE 127; O. KNOCH 151; I. BROER II 630; U. SCHNELLE 456 u. a.), durch den eine konkrete Situation eines konkreten Adressatenkreises (V. 4a.12a) im Sinne des Verfassers beeinflusst werden soll. Zu Recht ist daraufhingewiesen worden, dass die zahlreichen Anleihen des Jud bei traditionellen Mustern von Gegnerpolemik keinen Widerspruch zu seiner Situationsgebundenheit bilden (U. SCHNELLE 456). Auch taugt der Befund, dass der Anrede (V. I) jeder Hinweis darauf fehlt, wo die Adressaten ansässig sind, keineswegs als Argument gegen einen dem Verfasser bekannten, fest umrissenen Adressatenkreis. Denn das Fehlen einer Ortsangabe im Präskript ist zwar in der nt! Briefliteratur nicht die Regel, entspricht aber antiker Konvention, nach welcher sich die Adresse üblicherweise außen auf der Briefrolle befand (H. FRANKEMÖLLE 127). Zeichnet sich in der jüngeren Forschung eine mehrheitliche Würdigung des Jud als echter Brief ab, so haben sich andere forrngeschichtIiche Qualifizierungen wie etwa "antihäretisches Flugblatt" (K.-H. SCHELKLE 137), "Rundschreiben" (A. VÖGTLE 4) oder "epistolary sermon" (R. J. BAUCKHAM, Word Biblical Commentary 50, 3) als nicht konsensfähig erwiesen.
2.4 Verfasser Durch die Angabe "Bruder des Jakobus" (V. I) beansprucht der Verfasser die Identität des Herrenbruders Judas. Denn die urchristliche Überlieferung kennt nur ein Brüderpaar Jakobus und Judas. Beide Männer aber sind Mk 6,3 par Mt 13,55 folgend zugleich Brüder Jesu. Dass diese Verfasserangabe als pseudepigraphisch zu beurteilen ist, erfreut sich heute eines breiten Konsenses (ab-
DXXl. Der Judasbrief(Marlis Gielen)
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weichend davon: R.l. BAUCKHAM, Word Biblical Commentary 50; DERS., lude; zur Auseinandersetzung mit ihm: A. VÖGTLE 5-11). Die wichtigsten Argumente, die zumal im Zusammenspiel schwer wiegen, lauten: (I) das hohe sprachliche Niveau, das auf einen griechischen Muttersprachler mit literarischer und rhetorischer Bildung verweist; (2) das den Past nahe stehende Verständnis des Glaubens als abgeschlossen und lehrmäßig definierbar (V. 3.20) (--+ 2.1); (3) der Rückblick auf die Apostel als eine vergangene Größe (V. 17); (4) die Auseinandersetzung um die Orthodoxie in Verbindung mit der Vorstellung des Auftretens von Irrlehrern in der Endzeit (V. 18) und (5) die durch die Gegnerpolemik durchscheinende geschwundene Naherwartung bei der bekämpften Gruppe, die wohl ihre Leugnung der Parusie und des Endgerichts (V. 14f.) (--+ 3.) begünstigte. Die Argumente (2}-(5) weisen ausnahmslos in eine Abfassungszeit des lud (--+ 2.6), die jenseits der realistischerweise zu erwartenden Lebenszeit eines Herrenbruders liegt. Hinter dem Pseudonym ludas verbirgt sich am ehesten ein gebildeter hellenistischer ludenchrist. Zwar darf eine Vertrautheit mit alttestamentlich-frühjüdischer Überlieferung (--+ 2.1) durchaus auch einem Heidenchristen der dritten Generation (--+ 2.5; 2.6) zugetraut werden. Doch spricht zumal die Hochschätzung der Engel eher für einen Autor mit jüdischem Hintergrund. Darauf verweist auch die midraschartige Schriftauslegung, die zusammen mit der Kenntnis des apokryphen Henochbuches auf eine Beziehung des Autors zu Palästina verweisen könnte ähnlich der des auch aus der Diaspora stammenden Paulus. Die formalen (Briefpräskript --+ 2.3) wie auch die inhaltlichen (den Past nahe stehender Glaubensbegriff --+ 2.1; Bedeutung des Engelthemas [V. 8-10.14; vgl. I Kor 6,3; 13,1; Röm 8,38f.; Kol 2,18]) Bezüge zum pln Traditionskreis deuten auf eine Beheimatung des Verfassers im pln Missionsgebiet (Kleinasien/Griechenland), so dass lud hier auch entstanden sein dürfte.
2.5 Adressaten Die Adressaten des lud sind wie der Verfasser wohl im pln Missionsgebiet (Kleinasien/Griechenland) ansässig. Dafiir spricht, dass es sich bei den vom Verfasser bekämpften Leuten, die die Adressaten beeinflussen wollen, am ehesten um Pneumatiker mit libertinistischen Tendenzen (V. 4.8.10-12.16.19) und fehlender eschatologischer Erwartung (V. 4.8.14f.) handeln dürfte (--+ 3.). Menschen dieser Ausrichtung hatten bereits in Korinth z. Zt. des Paulus für Unruhe gesorgt (--+ D.IV.3.2). Es ist nahe liegend, dass sich solche Pneumatiker angesichts schwindender Naherwartung bestätigt fühlten und sich erneut und verstärkt in pln Gemeinden zu Wort meldeten. Kaum zufällig greift der Verfasser des lud in V. 19f. die Diktion aus 1 Kor 2,14 (vgl. 15,44.46) auf; kaum zufällig karikiert er hier auch in pln Weise den vermutlich pneumatischen Selbstanspruch seiner Gegenspieler, indem er sie als "irdisch Gesinnte, die den Geist nicht besitzen" (V. 19) bezeichnet. Handelt es sich aber bei den
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
Empfängern des Jud um Gemeindemitglieder aus dem ehemals pln Missionsgebiet, so dürfte es sich bei ihnen zumindest mehrheitlich um Heidenchristen handeln. Dass sie als solche mit der intensiven Rezeption alttestamentlichfrühjüdischer Tradition im Jud überfordert gewesen sein sollten (1. BROER Il 637), ist - wie auch I Petr (- D.XVI.) zeigt - nicht anzunehmen. Denn immerhin handelt es sich bei ihnen um Angehörige der dritten urchristlichen Generation, so dass eine solide Kenntnis dieser Tradition als wichtiges Element der religiösen Basis auch unter Heidenchristen erwartet werden darf.
2.6 Zeitliche Einordnung Der Jud wird mehrheitlich um die Wende vom I. zum 2. Jh. datiert. Darauf deutet zunächst der interne Brietbefund selbst hin (- 2.1; 2.4; 2,5). Ein recht verlässlicher terminus ante quem ist durch die intensive Rezeption des Jud in 2 Petr gegeben, der in die ersten Jahrzehnte des 2. Jh. zu datieren ist (- D.XVII.). Dass der pseudonyme Judas sich in V. 1 in eine verwandtschaftliche Beziehung zu Jakobus setzt, deutet darauf hin, dass Jud nach Jak zu datieren ist. Doch angesichts der schwierigen Datierungsfrage bei Jak (I. BROER 11 598-602) ist daraus kein solider terminus post quem für Jud zu gewinnen.
3. Diskurs Der Diskurs des Jud zielt auf eine Immunisierung der Briefadressaten gegen den Einfluss, den eine vom Verfasser bekämpfte Gruppe von Leuten unter ihnen entfaltet. Ob sie genuine Gemeindemitglieder oder eher Wanderprediger sind, ist von V.4 kaum zu entscheiden, da der Formulierung vom Einschleichen eine topische Note anhaftet (I. BROER 11 631). Allerdings deutet die Metaphernwahl in V. 12f. (umhergetriebene Wolken, entwurzelte Bäume, Meereswogen, Wandelsterne) doch eher auf Wanderprediger hin (G. SELLIN 222). Ziemlich einmütig werden als charakteristische Merkmale der Gegner des Jud ihr pneumatischer Selbstanspruch und ihre libertinistische Grundeinstellung genannt. Während ihre theologiegeschichtliche Zuordnung zur (frUhen) Gnosis in der Forschung lange dominierte, werden sie in jüngerer Zeit zunehmend im Kontext einer Auseinandersetzung um die Paulustradition gesehen (Überblick bei R. HEILIGENTHAL, Henoch 128-140). Ihre Missachtung der Engelmächte (V. 8-10), die Anhaltspunkte in den pln Briefen findet (1 Kor 6,3; Röm 8,38f.), rückt die Gegner des Jud in die Nähe des Verfassers von - Kol (2,18) (G. SELLIN 222.224; R. HEILIGENTHAL, Henoch 102f.; I. BROER 11 631f.; U. SCHNELLE 458). Diese Missachtung erwuchs bei ihnen offenbar aus visionären, pneumatischen Erlebnissen (V. 8), aufgrund derer sie bereits gegenwärtig eine Gottunmittelbarkeit für sich reklamierten, die der Verfasser des
D.XXI. Der Judasbrief(Marlis Gielen)
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lud für seine Adressaten unter einen eschatologischen Vorbehalt stellt (V. 24). Genau dieser pneumatische Selbstanspruch und die aus ihm resultierende präsentische Heilsgewissheit führten die Gegner des lud wohl zu der Überzeugung, den Bedingungen dieser Welt schon enthoben zu sein und förderten eine libertinistische Einstellung. Selbst wenn man bei den in lud erhobenen Vorwürfen gewisse Konventionen der Gegnerpolemik konzediert, dürfte sich diese Einstellung durchaus konkret in egoistischem (Suche nach materiellen Vorteilen) wie opportunistischem (Streben nach Einfluss) Verhalten geäußert haben (V. 11 f.16) (- 2.1). Eine weitere Konsequenz aus der Überzeugung von Pneuma- und Heilsbesitz dürfte sich hinter dem Vorwurf der Gottlosigkeit und der Leugnung lesu Christi als Herrscher und Herr (V. 4) verbergen. Da dieser Vorwurf nicht uneingeschränkt gelten kann - andernfalls würden die Gegner kaum Aufnahme in die Gemeinde und sogar Zugang zur Mahlfeier (V. 12) gefunden haben (G. SELLIN 209) - steht dahinter vermutlich die Leugnung der Funktion lesu CIu'isti als eschatologischer Gerichtsherr und damit die Leugnung der Parusie (A. VÖGTLE 31-33.57). Entsprechend massiv ist die Betonung der Gerichtsperspektive durch den Verfasser des lud (V. 57.lOf.13.14f.21.24). Dabei verweist er kaum zufällig in V. 14f. in christologischer Rezeption von äthHen 1,9 auf die Funktion der Engel als Begleiteskorte des Parusiechristus, deutet er doch damit an, dass die Missachtung der Engelmächte beim Endgericht auf die Gegner zurückschlägt. Literatur Kommentare: R. J. BAUCKHAM (Word Biblical Commentary 50) 1983. W. F. BROSEND (New Cambridge Bible Commentary) 2004. H. FRANKEMOLLE (NEB.NT 20) 21990. W. GRUNDMANN (ThHK 15) 3 1986. N. HILLYER (NIBC 16) 1992. O. KNOCH (RNT) 1990.1. H. NEYREY (AncB 37C) 1993. H. PAULSEN (KEK XIII2) 1992. K. H. SCHELKLE (HThK XIIlI2) 61988. W. SCHRAGE (NTD 10) 41993. P.-A. SEETHALER (SKK.NT 16) 1985. A. VÖGTLE (EKK XXII) 1994. EillZe[Sludien: R. J. BAUCKHAM, Jude and the Relatives of Jesus in the Early Church, Edin-
burgh 1990. T. CALLAN, Use of the Letter of Jude by the Second Letter of Peter, in: Bib. 85 (2004) 42-64. P. H. DAVIOS, The Use of Second Temple Traditions in land 2 Peter and Jude, in: J. Schlosser (Hrsg.), The Catho1ic Epistles and Tradition (BEThL 176), Leuven 2004, 409-431. J. FREY. Der Judasbrief zwischen Judentum und Hellenismus, in: W. KrauslK.-W. Niebuhr (Hrsg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie. Mit einem Anhang zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (WUNT 11/162), Tübingen 2003, 180-210. F. HAHN, Randbemerkungen zum Judasbrief, in: Ders .• Studien zum Neuen Testament 11. Bekenntnisbildung und Theologie in urchristlicher Zeit (WUNT 192), Tübingen 2006, 643-{)52. R. HEILIGENTHAL, Zwischen Henoch und Paulus. Studien zum theologiegeschichtlichen Ort des Judasbriefes (TANZ 6), Tübingen 1992. R. HOPPE, Parusieglaube zwischen dem ersten Thessalonicherbrief und dem zweiten Petrusbrief. Ein unerledigtes Problem, in: J. Schlosser (Hrsg.), The Catholic Epistles and Tradition (BEThL 176), Leuven 2004, 433-449. S. J. JOUBERT, Facing the pas!. Transtextual Relationships and Historical Understanding in the Letter of Jude. in: BZ 42 (1998) 56-70.
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D. Die Briefe - Katholische Briefe
G. SELLIN, Die Häretiker des Judasbriefes, in: ZNW 77 (1986) 206--225. L. THUREN, Hey Jude! Asking for the original situation and message of a catholic epistle, in: NTS 43 (1997) 451-465. DERS., The relationship between 2 Peter and Jude. A c1assica1 problem resolved?, in: J. Schlosser (Hrsg.), The Catholic Epistles and Tradition (BEThL 176), Leuven 2004, 451-460.
Forschungsüberblicke: R. 1. BAUCKHAM, The Letter of Jude: An Account of Research, in: ANRW 11/25.5 (1988), 3791-3826. R. HEILIGENTHAL, Der Judasbrief. Aspekte der Forschung in den letzten Jahrzehnten, in: ThR 51 (1986) 117-129. P. MüLLER, Der Judasbrief, in: ThR 63 (1998) 267-289. Sonstige Literatur: I. BROER, Einleitung in das Neue Testament. Band 11: Die Briefliteratur, die Offenbarung des Johannes und die Bildung des Kanons (NEB.NT.Erg 2/11), WUrzburg 2001, 630-640. H. PAULSEN, Judasbrief, in: TRE 17 (1996), 307-310. 1. SCHLOSSER, L'epitre de Jude, in: D. Marguerat (Hrsg.), Introduction au Nouveau Testament. Son histoire, son ecriture, sa theologie (MoB i 41), Geneve 2000, 439-445. U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen ~007, 452-460.
E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber)
l. Apokalyptische Literatur
Beim Begriff "Apokalyptik" handelt es sich um eine metatheoretische Klassifizierung der modernen Forschung für eine bestimmte Weitsicht, eine nicht scharf abgegrenzte kultur- und geistesgeschichtliche Denkbewegung innerhalb des Frühjudentums, die ihre Anfänge im 2. Jh. v. Chr. nahm (Dan) und eng mit den politisch-gesellschaftlichen Zeitereignissen verbunden war. Als Trägerin kulturellen Bildungsgutes ist sie in jüdischen Bildungskonzeptionen und der Tradierung von theologischem Weltwissen kontextualisiert. Den Begriff selbst gewann die Forschung aus den ersten Worten der Johannesoffenbarung (cllroKaAUllnc; 'IT)ooü XPLotou/Offenbarung Jesu Christi, Offb 1,1), indem sie den dort zur Bezeichnung des Buchinhalts verwendeten Terminus technisch als Bestimmung für eine literarische Form verstand. Die Reichweite des Begriffs "Apokalyptik" wird in der Forschungsgeschichte bis heute kontrovers diskutiert (zuletzt kritisch M. WOLTER). Eine Formbestimmung "Apokalypse" (J.1. COLLINS, Morphology; A. YARBRO COLLINS) leidet an der Unschärfe der anzuwendenden Kriterien. Praktikabel erscheint es hingegen, von inhaltlichen Charakteristika apokalyptischer Weitsicht auszugehen (1. J. COLLINS, Imagination 206; J. MAlER 122125.263-266; K. MÜLLER 55) und aus dieser Perspektive von "apokalyptischer Literatur" zu sprechen.
Die Grundstruktur apokalyptischen Denkens besteht in der Mitteilung übernatürlicher Offenbarung in Bezug auf die verborgene Sinndeutung der Geschichte und auf zukünftige Ereignisse an eine ausgewählte Person im Medium von Vision und Audition (bzw. Traum). Bestimmte Zeit-Schemata ("Endzeit") sowie Darstellungsmotive und -techniken sind prägend: 1. Apokalyptische Theologie bedient sich einer Art "mythologischer Bildersprache", die nur für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe mit entsprechendem Bildungswissen verständlich ist ("Soziolekt", codierte Sprache). Die Bilder verdanken sich atl Tradition oder (seltener) paganer Mythologie, z. B. Tiere als Herrschaftssymbole. 2. Zahlenspekulationen ennöglichen eine Einteilung der Geschichtsabläufe und belegen so deren planmäßige Ordnung. 3. Die Visionen basieren auf dem Denkprinzip, dass die zukünftigen Ereignisse im Himmel bereits Wirklichkeit sind und sich von dOlt aus auch auf der Erde durchsetzen werden. Dabei bedürfen die Visionen in der Regel der Auflösung durch eine himmlische Gestalt (angelus interpres/Deuteengel), die sie dem Seher deutet.
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E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber)
4. Offenbarungsträger ist meist eine fiktive Gestalt der Vergangenheit, z. B. Henoch. Durch das Pseudonym gewinnt die Schrift Autorität. Und es können Ereignisse prophezeit werden, die sich bereits ereignet haben (vaticinia ex eventu), was die Glaubwürdigkeit der "echten" Voraussagen erhöht und einen Geschichtsüberblick erlaubt. Die Vergangenheit der Erzählung erfüllt ferner angesichts der politischen Brisanz der Inhalte eine Schutzfunktion für Verfasser und Leserschaft vor politischen Sanktionen, da die Schilderung (zumindest auf der Textoberfläche) ja nicht die politische Gegenwalt betrifft. So spielt die Handlung von Dan textimmanent in der Exilszeit (6. Jh. v. Chr.) unter dem babylonischen König Nebukadnezar, tatsächlich (textextem) aber steht sie im Kontext der Seleukidenzeit unter Antiochos IV. Epiphanes (Mitte 2. Jh. v. Chr.). Apokalyptische Literatur liegt in verschiedenen, traditionsgeschichtlich miteinander verbundenen Schriftkorpora vor, die vergleichbare politisch-kulturelle Geschichtserfahrungen mit analogen rhetorischen Strategien bearbeiten. Zu den apokalyptischen Schriften zählt man Dan, Jub, äthHen, 4 Esr, syrBar, Oflb; ein ausgeprägtes Geschichtszeit-Schema lassen die in QUlnran gefundenen Schriften erkennen.
Einen wesentlichen Entstehungsfaktor für apokalyptisches Denken und Erzählen bildet sozialgeschichtlich die Minderheitensituation der betreffenden Gruppen, die akute Bedrohung der politischen und kulturellen Identität bedeutet. Die in der apokalyptischen Literatur verwendeten Techniken der "Verschleierung" und der codierten Sprache ermöglichen dabei Rückschlüsse auf die Suche politisch in die Machtlosigkeit gedrängter Gruppen nach Sicherung ihrer Existenz und Identität gegenüber der beherrschenden politischen Macht. Die Reflexion der eigenen negativen Geschichtserfahrungen lässt die Geschichte in den Augen dieser Gruppen als globales Unheilsgeschehen erscheinen - die letzte Katastrophe hat begonnen. Apokalyptisches Denken kann daher nicht mehr auf die Heilsgeschichte als theologisches Paradigma setzen, sondern erwartet nun den Abbruch der Geschichte, ein endgültiges Gericht, bei dem Gott die Gerechten von den Gottlosen scheidet und eine völlig neue Heilszeit, einen neuen Äon schafft - die Erwartung einer nahe bevorstehenden schöpferischen Total-Erneuerung von Himmel und Erde, wofür die allgemeine Totenerweckung die Voraussetzung bildet (S. SCHREIBER 115-123). Alles Böse und Gottlose wird dabei vernichtet: Gott schafft endgültig Gerechtigkeit. Umso wichtiger ist es, in der Gegenwart die Ungerechtigkeit zu durchschauen: Mit der Bildgewalt und Drastik, mit der apokalyptische Literatur die gegenwärtigen Geschichtserfahrungen vor dem endgültigen Umbruch typisiert, will sie ein kritisches Bewusstsein für die Identitätsbedrohung vermitteln, die aus dem übermächtigen Einfluss der beherrschenden Strömungen in Politik und Gesellschaft letztlich resultiert.
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11. Die Offenbarung des Johannes
J. J. COLLlNS, Introduction: Towards the Morphology of a Genre, in: Apocalypse (Semeia 14), Missoula 1979, 1-20. DERS., The Apocalyptic Imagination. An Introduction to Jewish Apocalyptic Literature, New York 21998. J. MAlER, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels (NEB.Erg 3), Würzburg 1990. K. MÜLLER, Studien zur frühjüdischen Apokalyptik (SBB 11), Stuttgart 1991. S. SCHREIBER, Apokalyptische Variationen über ein Leben nach dem Tod. Zu einem Aspekt der BasileiaVerkündigung Jesu, in: M. Labahn1M. Lang (Hrsg.), Lebendige Hoffnung - ewiger Tod?! Jenseitsvorstellungen im Hellenismus, Judentum und Christentum (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 24), Leipzig 2007, 113-140. M. WOLTER, Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, in: NTS 51 (2005) 171-191. A. YARBRO COLLlNS, Cosmology and Eschatology in Jewish and Christian Apocalypticism, Leiden 1996.
11. Die Offenbarung des Johannes 1. Struktur Eine gliedernde Wirkung für die Gesamtschrift besitzen Oftb 1,19; 4,1 und 19,11: Offb 1,19 ypcil/lov ouv 1i EiB€~ Kat
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Kat ~ U.EU~LYEVEaa~! f.l.ETa taÜ1:CI.
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L!rrft Schreibe also was du gesehen hast und was ist und was geschehen soll danach.
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Und i~Jl.~ilh.Ql
und siehe, !
g~(j.((I}~h
g~9.((I}~.t.iroJ:1.imrol
und siehe, ein weißes Pferd
...
In 4,1 und 19,11 werden semantische Elemente der früheren Verse wieder aufgegriffen und weitergeführt, der Erzähler hält kurz inne und lässt vorausblicken auf die kommenden Visionen. Damit ist keine starre Abschnittsgliederung der Schrift bezeichnet, sondern ein Fortschritt im Offenbarungsempfang angedeutet: Die Erzählung bewegt sich auf ein Ziel zu. Die meisten Ausleger lesen hingegen 1,19 als Gliederungssignal und entwickeln daraus eine an den Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft orientierte Dreiteilung der Schrift: I. Beaull.ragungsvision 1,9-20; 2. Gegenwart der Gemeinden in den Sendschreiben Kap. 2-3; 3. Visionen ab 4,1 (z. B. U. B. MÜLLER; E. LOHsE). Nicht genügend gewürdigt wird dabei die Beobachtung. dass sich in Oftb die Zeitstufen ständig durchdringen. Auch bezeichnen in der Reihung 1,19 drei verschiedene Verben je unterschiedliche sachliche
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E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber)
Aspekte. - Einen eigenen Gliederungsvorschlag hat J. ROLOFF (23-25) unterbreitet. 1,93,22 fasst er zum ersten Hauptteil zusammen; das Zentrum des zweiten Hauptteils (4,122,5) bilde die Thronsaalvision 4,1-5,14, von der aus drei thematische Bezugsreihen entwickelt werden: 1. die Herrschaft Christi bis 11,19; 2. der Widersacher Gottes 12,1-19,10; 3. gleichsam "quer" dazu das Thema Gemeinde; ab 19,11 folgen die abschließenden Endereignisse.
Ein auffälliges Strukturelement bilden die drei großen Siebenerreihen der Offb - sieben Siegel, Posaunen, Schalen. Vorbereitet ist die Bedeutung der Sieben (als Zahl göttlicher Vollkommenheit) bereits in Kap. 1: sieben Gemeinden (1,4.11.20), sieben Geister vor Gottes Thron (1,4), sieben goldene Leuchter (1,12.20), sieben Sterne (1,16.20). Wie bei einer Spirale spielen lineares Fortschreiten und Gleichzeitigkeit der Handlung in der Erzählung der Offb zusammen. "Spiralförmig" entwickeln sich die Ereignisse in verschiedenen Anläufen mit Neueinsätzen und Unterbrechungen auf das Ende zu: den neuen Himmel und die neue Erde. Inhaltlich wird die Meta-Struktur der Erzählung durch den Kampf zweier Herrschaften konstituiert, wobei die harte Sprache des Krieges die Schärfe der kulturellen Auseinandersetzung spiegelt. Die Herrschaft Gottes setzt sich sukzessive gegen die Herrschaft Satans und seiner irdischen Handlanger durch; allein Gottes Plan bestimmt die Endereignisse. Die "spiralförmige" Erzählstruktur lässt sich in einem Schema nur behelfsmäßig darstellen: 1,1-3 1,4-8 1,9-20 2,1-3,22 4,1-5,14
6,1~,1 6,1~
6,9-11 6,12-17 7,1-17 8,1 8,2-11,19 8,2-9,21
Vorwort Prliskript (Briet) Beauftragungsvision Christus als Offenbarungsmittler sieben Sendschreiben Wahrnehmung der aktuellen Gemeindesituation Thronsaalvision • Gott als himmlischer König: Herr über Himmel und Erde • Buch mit 7 Siegeln: Suche nach einem Bevollmächtigten für die Endereignisse • Lamm: Repräsentant Gottes, kann die Siegel öffnen sieben Siegel-Visionen Beginn der Durchsetzung des Lammes • 1.-4. vier apokalyptische Reiter: "Plagen" betreffen die gesamte Gesellschaft, erweisen die "Welt" als uneinsichtig • 5. Märtyrer: sehnsüchtige Frage nach dem Eingreifen Gottes • 6. kosmische Erschütterung • Einschub: Versiegelung der 144000 und Blick auf die Erlösten (Hoffnung, "Ziel") • 7. Pause: setzt neue Vision frei als Entfaltung sieben Posaunen-Visionen "Signale" rur die beginnende Gottesherrschaft I.-{j. Plagen der Endzeit: die Gemeinden sind eingebunden in die "Plagen"
·
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10,1-11,14 11,15-19 12,1-14,20 12,1-17 12,18-13,18 14,1-5 14,6-20 15,1-16,21 15,1-8 16,1-21 17,1-19,10 17,1-18 18,1-24 19,1-10 19,11-22,5
19,11-21 20,1-{j 20,7-15 21,1-8 21,9-22,5 22,6-20 22,21
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• Einschub: erneute Beauftragung (10,1-11) und die zwei Zeugen/Märtyrer ( 11,1-14) • 7. Lobpreis: Gottes allmächtige Herrschaft ("Vollendung") Drache und Lamm: die Konfrontation Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft: aktueller Konflikt • Sternen frau, Drache, Engelskampf: Anbruch der Herrschaft Gottes - Not auf Erden • Die beiden Tiere: politisches Gegenbild zur Heilsgestalt des Lammes (Kap. 5) • Das Lamm und die Befreiten: Umschwung schon visionär "gesehen" • Vorausblick auf das Gericht sieben Schalen-Visionen endzeitliches Gericht Gottes über seinen Widersacher • Vorbereitung • Ausgießung Gericht über die Hure BabyIon Chiffre fUr die Stadt Rom und Gegenbild zur Sternenfrau (Kap. 12) • Die (wirtschaftlich attraktive) Hure BabyIon und das Tier • Der Untergang der Stadt BabyIon • Lobpreis des Königs Gott Visionen der endzeitlichen Neuschöpfung Konkretisierung von 17,1-19,10 und ROckbezug auf Kap. 12-13: Triumph über den Widersacher Gottes • Parusie und Gericht des Christus • Das tausendjährige Reich • Das endzeitliche Gericht • Neuwerdung von Himmel und Erde ("Braut" als Gegenbild zur "Hure") • Die neue Stadt Jerusalem (Stadt als Gegenbild zu "Babylon" und dem "Tier") Nachwort fUhrt die Leser wieder in die G~enwart Gnadenwunsch (Bri~
2. Entstehung
2.1 Traditionen Die absichtsvolle, konsistente Erzählstruktur zeigt die Offb als einheitlich konzipiertes Werk. Sie bezieht ihre Sprache und ihre Bildwelt aus dem breiten Strom der atl und frühjüdischen Tradition. Ihr hebraisierendes Griechisch (Tempusgebrauch, Verzicht auf Kongruenz u. a.; vgl. W. BOUSSET 159-177; D. E. AUNE I CLX-CCVII) bindet sie an die biblische Sprache (des AT) zurück. Wichtige Bilder, Motive und Handlungsfiguren gewinnt sie aus atl Texten, besonders aus den Propheten Ez, Jes, Jer, Sach, Joel und den Psalmen, und aus
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E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber)
der apokalyptischen Literatur, v. a. aus Dan. Beispiele sind die Thronsaalvision Offb 4 und Ez I, die Tiervision Offb 13 und Dan 7, die himmlische Stadt Offb 21 f. und Ez 40-48; die Sternenfrau in Offb 12,1-5 erinnert an die Stadt-Frau Jerusalem/Zion (z. B. Jes 66; Jer 4,31; 6,23f.; 4 Esr 9,38-10,24) bzw. die Metaphorik von Israel als Ehefrau JHWHS (z. B. Hos 2; Jer 3; Ez 16), ihre Wüstenflucht in Offb 12,6.13-16 an die Exodus-Tradition. Die Interpretation der Tradition geschieht dabei in poetischer Kraft und schriftgelehrter Reflexion zugleich und bewegt sich damit strukturell im Bereich der prophetischen Verkündigung, bei der die Person des Propheten ebenfalls mit ihrer ganzen Reflexions- und Sprachkraft an der Interpretation des visionär Geschauten beteiligt ist (vgl. Am 8,1-3). Es lässt sich vermuten, dass der Verfasser der Offb mit christlichen Kreisen in Verbindung stand, die die christliche Botschaft mit apokalyptischen Bildern zur Sprache brachten; dafür spricht auch seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe urchristlicher Propheten (Offb 22,6.9). In der neueren Forschung spielen Hypothesen, die eine jüdische bzw. judenchristliche Grundschrift als Vorlage rur die Offb postulieren, keine Rolle mehr. Diskutiert werden Vorschläge, die einzelne apokalyptische Überlieferungsstücke als Basis rur die schriftstellerische Arbeit des Verfassers annehmen (grundlegend W. BOUSSET 129). Zu Recht betont man heute die theologische und literarische Leistung des Verfassers (U. B. MÜLLER 38f.; 1. ROLOFF 21). D. E. AUNE (1 cXX-CXXXIV) konstruiert auf literarkritischem Weg ein zweistufiges Wachstum der Offb (erste Ausgabe: 1,7-12a; 4,1-22,5; zweite Ausgabe: 1,1-6; 1, 12b--3.22; 22,6-21), wobei der Autor über einen Zeitraum von zwanzig bis dreißig Jahren verschiedenes Material gesammelt und in zwei Anläufen mit je neuer theologischer Absicht zur Offb zusammengestellt habe. Mit großen Schwierigkeiten belastet ist die These von R. BEILE (20f.265-268), die Offb sei in mehreren Schüben im Laufe eines Vierteljahrhunderts seit dem Ende des Tempels ("Urapokalypse") bis zur Zeit nach der Ermordung Domitians entstanden und habe als seelsorgerlicher Kommentar zur Regierung Domitians gedient; es handle sich um eine Zusammenstellung von "Flugblättern", die zeitweise verteilt wurden, und ab 19,9 träten Einmischungen "innerkirchlich amtlicher Art" (z. B. "feuriger Pfuhl") hinzu. Problematisch ist bei diesem Entwurf die Einschätzung der Protestmöglichkeiten der Christen am Ende des I. Jh.; zu wenig Gewicht erhalten die zielgerichtete Konzeption und die narrative Kunst der Offb. Auffällig ist die hohe Präsenz hymnischer Stücke in der Offb (z. B. 4,8.1 I; 12,10-12), die eine Imagination der himmlischen Liturgie vermitteln und mit der deutenden Funktion des Chores im antiken Drama vergleichbar sind. Die gottesdienstliche Praxis des frühen Christentums lässt sich aus diesen Hymnen nicht rekonstruieren; vieIleicht spiegeln sich aber einzelne gottesdienstliche Sprachmuster (J. ROLOFF 22; K. P. JÖRNS 180-184).
11. Die Offenbarung des Johannes
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2.2 Literarische Form
Wenn Offb 1,1 mit der Wendung &1ToKaAul/lLC; '!T\OOÜ XPLO'tOÜ (Offenbarung Jesu Christi) überschriftartig einsetzt, handelt es sich nicht um die Angabe der literarischen Form (die als solche noch gar nicht eingefiihrt war), sondern im wörtlichen Sinne um eine Charakterisierung der Herkunft des Buchinhalts: Offenbarung bedeutet die Kundgabe durch den erhöhten Christus selbst, vermittelt durch Johannes als Zeugen (1,2) und Schreiber (1,11.19) an die Adressatengemeinden. Entsprechend sind die Sendschreiben (ab 2,1) als Briefe Christi an die Engel (als himmlische Repräsentanten) dieser Gemeinden stilisiert. Richtig ist allerdings, dass die Offb durch stilistische und inhaltliche Elemente in der Tradition der apokalyptischen Literatur des Frühjudentums steht. Charakteristisch dafür ist die Dominanz von Bildsprache (Tiere, Hure, Reiter), Zahlensymbolik (7, 666, 12,4, 3Y2) und Visionen. Besonders interessant sind jedoch die für apokalyptische Literatur untypischen Elemente: (I) Die Visionen erhalten (mit Ausnahme von 7,13-17; 17,7-18) keine Deutungen, so dass die unmittelbare Verständlichkeit der Bildsprache vorausgesetzt scheint. Folglich stammen Verfasser und Adressaten aus demselben Kulturraum und sind persönlich miteinander vertraut, teilen Sprache, Motive und Vorstellungen. (2) Der Verfasser nennt seinen Namen und verzichtet damit auf eine pseudepigraphische Autorisierung seines Buches; es soll unversiegelt bleiben (22, I 0), seine Botschaft offen vor die Gemeinden bringen. Folglich gewinnt das Buch seine Glaubwürdigkeit durch die Autorität des erhöhten Christus und die Person seines prophetischen Boten, des Verfassers. Die gemeinsame Betroffenheit von den Verunsicherungen durch die Lebenssituation kann die Einmischung des Verfassers bei den Gemeinden legitim erscheinen lassen. "Erfunden" hat der Verfasser apokalyptische Motive im christlichen Denken sicher nicht: In der Jesus-Tradition ist die Vorstellung der bereits begonnenen endzeitlichen Königsherrschaft Gottes prominent, die "synoptische Apokalypse" (Mk 13 parr Mt 24, Lk 21) setzt sich mit Phänomenen der hereinbrechenden Endzeit auseinander, Paulus bezeugt die urchristliche Hoffnung auf die baldige Wiederkunft Christi und die damit verbundene Vollendung (I Thess 3,13; 5,23; I Kor 4,5; 11,26; 16,22; Phil4,5; Röm 13,IIf.), worin die endzeitliche Totenerweckung eingeschlossen ist (I Thess 4,13-17; I Kor 15,12-58); noch im 2. Jh. entstehen christliche "Apokalypsen" (Herrn, PetrApk, AscJes), wobei hier wegen der kritischen Einstellung der Kirche gegenüber apokalyptischen Strömungen ab dem 3. Jh. viel verloren ist.
Auffallend ist nun das Vorkommen von Formelementen eines Briefes in der Offb (M. KARRER, Brief; H.-J. KLAUCK, Briefliteratur 263-266). Die briefliche Rahmung umfasst Präskript (1,4-8) und Schlussgruß (22,21), wobei das Präskript an pln Briefkonvention erinnert: • Absender/superscriptio (Johannes, V. 4a) Adressatenladscriptio (sieben Gemeinden in der Asia, V. 4a)
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E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber)
Gruß/salutatio (V.4b.5a), erweitert durch Doxologie (V. 5b.6), "Prophetenspruch" (V. 7), göttliche Selbstprädikation (V. 8) Dazu kommt die Stilisierung der sieben Sendschreiben (2,1-3,22) als briefliche Kommunikation. Es wird jeweils • die Adressatengemeinde genannt (bzw. der Engel der Gemeinde, nach dem Vorbild des in der apokalyptischen Tradition bekannten Völkerengels), • und (durch Christus selbst) ein Schreibbefehl erteilt. Dann folgt der eigentliche "Briet", der Formen atl Prophetenrede aufnimmt (grundlegend F. HAHN; vgl. U. B. MÜLLER 91-95): • Absender in Form der Botenformel taOE AEYEL (das sagt) (als überbietende Anspielung auf die Form kaiserlicher Briefe) • Situationsbezug - Vertrautheit (o'[oalich kenne) • Weckruf • Überwinderspruch Im Hintergrund erkennt man formal Prophetenbriefe, wie sie in Jer 29 und 2 Chr 21,12-15 vorliegen. Wichtig ist, dass der Verfasser damit die Funktion des Mediums Brief nutzt, die eine direkte Bezogenheit auf Adressaten und Situation ermöglicht und den Gemeinden aus der pln Tradition vertraut war, und so die Rezeption lenkt. Der Brief tritt an die Stelle des Abwesenden, der gleichsam im Brief präsent ist und Einfluss nehmen kann. Die "Theologie" der Oftb erweist sich so als situationsbezogener Diskurs! Da die angeschriebenen Gemeinden in Kleinasien durch das antike Straßennetz untereinander gut erreichbar waren, quasi auf einem Rundweg lagen, entsteht der Eindruck eines Rundbriefs, für den inhaltlich apokalyptische Elemente prägend wurden. So lässt sich eine Formbestimmung der Oftb als apokalyptischer Rundbriefvornehmen. •
2.3 Verfasser
Der Verfasser nennt seinen Namen "Johannes" (1,4.9; 22,8), der wohl als authentisch angesehen werden darf, jedoch so verbreitet war, dass Identifizierungsversuche mit anderen Personen des Urchristentums notwendig scheitern. Johannes dokumentiert ein prophetisches Selbstverständnis, indem er sich in den Bereich urchristlicher "Prophetie" einordnet (l,3; 19,10; 22,7.1 0.18f.); er "hört" und "sieht" 0,10-12), d. h. er erfährt Auditionen und Visionen. Wahrscheinlich war er ein führendes Mitglied eines urchristlichen Kreises von Propheten (22,6.9) und mit den angeschriebenen Gemeinden durch persönliche Kontakte (vielleicht als "Wanderprophet") vertraut. Als Prophet Christi besaß er bei den Gemeinden Anerkennung und Autorität. Eine weitere Selbstaussage bietet Johannes in 1,9, wo er sich gegenüber den Adressaten als "euer Bruder und Mitteilhaber an Bedrängnis und Königsherrschaft und Ausharren in Jesus" bezeichnet. Er weiß sich auf der gleichen Ebene mit seinen Adressaten stehend und beansprucht weder Titel noch ein
II. Die Offenbarung des Johannes
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gemeindliches Amt. Er versteht sich ebenso wie alle anderen Gemeindeglieder als ÖOUAO(; (Sklave; I, I). Dieser offenbar bewusste Verzicht auf jede Amtsautorität fällt gerade im pln Gemeindegebiet in Kleinasien auf, wo bereits die gemeindlichen Leitungsämter Episkop, Presbyter und Diakon etabliert sind (vgl. Phil I, I; Pastoralbriefe). Johannes erwähnt überhaupt nur die "zwölf Apostel" als grund-legende Gestalten der Anfangszeit (21,14) und eben Propheten. Er misst den Amtsträgern also für das Anliegen der Offb keine Bedeutung zu. Vielleicht kann man noch einen Schritt weitergehen, wenn man den traditionell oppositionellen Charakter der Prophetie in Israel bedenkt, die kritisch Missstände im politischen und kultischen Establishment anspricht (Kult- und Sozialkritik). Dann lässt sich die Offb als prophetischer Einspruch auch gegen innergemeindliche Entwicklungen, die eine Angleichung an die römische Kultur beinhalten, verstehen (--> 3.). Der Prophet, dessen Beauftragung zum Zeugnis für Gott Offb 10,1-11 metaphorisch charakterisiert, erteilt Weisung darüber, wie christliches Leben in der Gegenwart zu gestalten ist. Er wendet sich damit an jedes einzelne christliche Gemeindeglied, das seine Position als Teil des Volkes Gottes erkennen soll. Die einzige Autorität dabei ist letztlich Christus, dessen Offenbarung Johannes an die Gemeinden weitergibt. Das Amt besitzt keinerlei Funktion. Wenn Offb 11,1-13 leidvolle Erfahrungen von Judenchristen gegen Ende des jüdischrömischen Krieges spiegelt, lässt sich daran die Hypothese knüpfen, Johannes habe zu einer Gruppe von Judenchristen aus Palästina gehört, die gegen Ende der Kriegsereignisse um das Jahr 70 nach Kleinasien auswanderte (z. B. J. ROLOFF 17; H. GIESEN 40). Das bleibt m. E. aber äußerst unsicher.
Deutlich ist der kulturelle Hintergrund des Verfassers in der judenchristlichen Denkwelt, den er, offenbar berechtigt, auch rür die angeschriebenen Gemeinden Kleinasiens voraussetzt - am Ende des I. Jh. stehen Christen dem Judentum noch sehr nahe! Eine prinzipielle Anerkennung des (pln) Heidenchristenturns scheint dabei selbstverständlich gewesen zu sein (vgl. 5,9; 7,9). Die altkirchliche Tradition seit Justin (DiaI81,4) identifiziert den Verfasser der Offb mit dem des JohEv, bei dem es sich um den Zebedaiden Johannes (einen der Zwölf) handle. Schwerwiegende Einwände sprechen dagegen: (I) Nach eigener Aussage versteht sich der Verfasser der Offb als Prophet (nicht als Apostel oder Mitglied des Zwölferkreises). (2) Die altkirchliche Tradition verfolgt die "Tendenz", urchristliche Schriften durch Zuschreibung an apostolische Verfasser zu legitimieren. (3) Es bestehen signifikante Differenzen zum JohEv: Die Offb benutzt eine semitisierende Sprache; in der Christologie denkt das JohEv stärker von der Menschwerdung Christi her (Joh I), die Offb von der Einsetzung Christi ins endzeitliche Herrscheramt (Offb 5); im Gemeindeverständnis des JohEv ist die Bindung des Einzelnen an Christus und die Auseinandersetzung mit dem Judentum zentral, die Offb beschreibt Gemeinden als Volk Gottes, das sein Zeugnis vor der Welt in der Auseinandersetzung mit römischer Gesellschaft und "Staat" bewähren muss. Motivliche Berührungen bestehen z. B. in der Bezeichnung Christi als "Wort (Gottes)" Joh 1,118/0ffb 19,13 oder als "Lamm", wobei hier bereits wieder die Differenzen beginnen: fllr
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E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber)
"Lamm" werden verschiedene griechische Termini verwendet (loh 1,29.36 c4Lv6~, Offb 5,6 apvLov).
Nach eigener Aussage erfuhr Johannes seine Visionen auf der Insel Patmos (1,9), die im ägäischen Meer lag und mit dem Schiff von Ephesus aus etwa in einer Tagesreise erreichbar war. Die Insel war bergig und wahrscheinlich nur schwach besiedelt. Als Erklärung für seinen Aufenthalt auf Patmos gibt er an: "auf Grund (ÖLIX mit Akk.) des Wortes Gottes und des Zeugnisses von Jesus" (1,9). Die gleiche Begründung steht in 6,9 und 20,4 im Kontext tödlicher Maßnahmen gegen Christen. Die meisten Ausleger gehen davon aus, dass Johannes als Kritiker des Kaiserkults auf Patmos verbann! wurde. Schon Tertullian (PraescrHaer 36) verwendet dabei das lateinische Verb relegalur und spielt damit auf die römische Strafe der relegalio an, eine zeitlich befristete Form der deporlalio (bzw. des exilium), der Verbannung (Z. VEGH). Gegen diese Annahme sprechen zwei Beobachtungen: (\) Die Verbannung ersetzte in der römischen Strafpraxis die Todesstrafe ftir honestiores, Angehörige der Oberschicht (G. SCHIEMANN). Für einen judenchristlichen Propheten ist die Zugehörigkeit zur römischen Oberschicht am Ende des I. Ih. aber extrem unwahrscheinlich. Als Strafe filr Christen ist die Verbannung zu dieser Zeit nicht belegt (Plinius, Ep X 96f. kennt nur die Todesstrafe). Zur Exilliteratur (B. KVTZLER), die Erfahrungen und Empfindungen von Exilierten zum Ausdruck bringt (Cicero, Ovid, Seneca), lässt sich Offb sicher nicht rechnen. (2) 10hannes schreibt ohne Pseudonym und verzichtet so auf eine "Verschleierung" seiner Identität. Ein Schreiben von ihm hätte eine ernste Gefahr ftir die Adressaten dargestellt, wenn er bereits bei den Behörden als staatsgefährdend unter Strafe oder Verdacht gestanden wäre. - Eine Verbannung wird damit unwahrscheinlich (Diskussion bei F. W. HORN in: DERS.lM. WOLTER 139-[59).
Den historischen Verhältnissen entspricht die Annahme eines Rückzugs oder einer Flucht des Johannes vor einer drohenden Anzeige bei den römischen Behörden. Er wird die Erfahrung sozialer Bedrohung gemacht haben: Als prophetischer Zeuge Christi war er gesellschaftlich auffällig geworden und musste mit Anzeigen und Nachstellungen rechnen. In 18,4 mahnt er selbst gegenüber gesellschaftlicher Bedrohung den Rückzug aus der Stadt an, um kompromisslos die eigene christliche Identität bewahren zu können. Die Strategie "Rückzug zur Identitätsbewahrung" angesichts politischer Pressionen war auch in jüdischen Kreisen bekannt (AssMos 9: die Erzählfigur des gesetzestreuen Taxo zieht sich in eine Höhle zurück). Vielleicht erfuhr Johannes als "oppositioneller" Prophet auch innerhalb der Gemeinden Konflikte und Ablehnung. Von seinem Zufluchtsort aus konnte er jedenfalls den Kontakt mit den Gemeinden in schriftlicher Form pflegen und so weiterhin bei ihnen präsent sein. Dann liegt es nahe, dass Johannes auf Patmos nicht nur visionäre Erfahrungen machte, sondern dort auch die Offb verfasste, um sie wie einen Brief an sieben kleinasiatische Gemeinden zu senden.
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2.4 Adressaten In Offb I, II sind die sieben Adressatengemeinden in Kleinasien genannt: Sie leben in den Städten Ephesus, Smyma, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea (~ Karte 5, S. 595). Die Reihenfolge entspricht dem Verlauf der antiken Verkehrswege, wenn man von der Provinzmetropole Ephesus ausgeht, der Hauptstraße parallel zur Küste nach Pergamon folgt, dann auf die Magistrale ins Landesinnere abbiegt und bis nach Laodizea reist, um von dort auf der dem Flusslauf des Mäander folgenden Straße zurückzukehren an die Küste nach Ephesus. Das antike Straßennetz bietet eine relativ bequeme Reiseroute, die der Überbringer der Buchrolle benutzt haben kann. Die Konzentration auf gerade die sieben genannten Gemeinden wirft Fragen auf. Warum fehlen andere kleinasiatische Gemeinden wie die in Milet, Troas, Kolossä, Tralles oder Magnesia? Vielleicht soll die Siebenzahl symbolisch verstanden werden als die "Vollzahl" der Gemeinden, also alle Gemeinden Kleinasiens einschließen. Vielleicht sind nur besonders gefährdete Gemeinden angeschrieben, oder umgekehrt nur solche, bei denen der Verfasser noch auf eine Bereitschaft zur Verhaltensänderung horn. Eher aber wendet sich Johannes an die sieben Gemeinden, weil er deren Personen und Situation durch persönliche Kontakte gut kennt (H. GIESEN 86f.). Mit der Siebenzahl verdeutlicht er ihnen dann ihre herausragende Bedeutung, weil von ihrem Verhalten die Existenz des Christentums in Kleinasien abhängt.
Die Gemeinden leben in pln Tradition. Dafür spricht bereits ihre Lokalisierung in ehemaligem pln Missionsgebiet, aber auch die Briefform der Offb, die auf Elemente des pln Briefformulars rekurriert (vgl. nur die Bitte um das Kommen des Herrn in Verbindung mit einem Schlussgruß in I Kor 16,22f. und Offb 22,20f. sowie pln Anklänge in Offb 1,4.5a). Eine "gemischte" Zusammensetzung aus Juden- und Heidenchristen liegt dann ebenso nahe wie eine theologische Fundierung im pln Denken und der daraus resultierenden Lebenspraxis, besonders der spezifisch pln Anwendung der Tora (zur Situation der Gemeinden ~ 3.).
2.5 Zeitliche Einordnung Genaue Angaben über ihre Abfassungszeit enthält die Offb nicht, doch erlauben einzelne Indizien und die Erschließung der Gesamtsituation eine Einordnung. Dem totalitäre Macht ausübenden feindlichen Tier von Offb 13 wird in 13,18 die Zahl 666 zugesprochen, die im Sinne antiker Gematrie, die mit den Zahlwerten des (griechischen bzw. hebräischen) Alphabets arbeitet, eine Chiffrierung eines Namens bedeutet. Die Quersumme des Namens "Nero Caesar", in hebräischen Konsonanten geschrieben (NRON QSR), ergibt genau die Zahl 666. Nero starb im Jahr 68; im Volk aber bewirkten die ominösen
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E. Die Offenbarung des Johannes (Stefan Schreiber)
Verhältnisse um den Selbstmord Neros, der auch kein Staatsbegräbnis erhielt, die Vorstellung des wiederkehrenden Nero, und so konnte der römische Schriftsteller Juvenal (4,38) Domitian als "zweiten Nero" bezeichnen. Die Identifizierung der sieben Kaiser, von denen der sechste gegenwärtig die Herrschaft ausübt, in Offb 17,9f. bleibt undeutlich, weil weder der Beginn der Zählung (Augustus?) noch der Einbezug des "Vierkaiserjahres" 68/69 (Galba, Vitellius, Otho, Vespasian) klar sind. Die Angabe zeigt jedoch, dass die Zählung kaum über das I. Jh. hinausreichen kann. An den Gemeinden selbst bemängelt die Offb Krisensymptome, wie sie für die dritte Generation einer Gruppe typisch sind: in metaphorischer Sprache das Verlassen der "ersten Liebe" (2,4) und Lauheit (3,15f.). Innergemeindliche Gruppenbildungen zeigen gefährliche Auswirkungen (die "Nikolaiten" -+ 3.2). In der Gemeinde von Laodizea scheint es Wohlhabende gegeben zu haben (3,17: "reich"), obwohl die Stadt 60/61 bei einem Erdbeben zerstört wurde; es muss also eine Zeit des Wiederaufbaus eingerechnet werden. Gesellschaft und politische Behörden wurden als Bedrohung, der Machtanspruch des römischen Kaisers als totalitär empfunden (-+ 3.1); das verweist auf die Regierungszeit Domitians (81-96), der über eine Intensivierung des Kaiserkults politisch-gesellschaftliche Einheitstendenzen verfolgte. Insgesamt ist so eine Abfassung der Offb in den 90er Jahren des I. Jh. wahrscheinlich. Auch lrenäus von Lyon verortet um 180 die Offb "am Ende der Regierung Domitians" (Haer V 30,3), worin ihm weitere altkirchliche Autoren folgen (z. B. Eusebius, Hist III 18,3; V 30,3, der Irenäus' Aussage aufnimmt). - Wenigstens erwähnt sei, dass einzelne Autoren eine Ansetzung der Offb zur Zeit Trajans (98-117) (1. W. TAEGER, Johannesapokalypse 21f.; D. E. AUNE I LVIII) bzw. Hadrians (\17-\38) (T. WITULSKI) vertreten, da ihnen die Zeitverhältnisse unter diesen Kaisern als Hintergrund der Offb plausibler erscheinen.
3. Diskurs Die Offb ist gerade keine "geheime" Schrift, vielmehr waren ihre Hörerinnen und Hörer mit der apokalyptischen Bildwelt gut vertraut. Die Wirkung, die die Offb bei ihnen erzielen konnte, wird für uns erst dann nachvollziehbar, wenn wir Zeit, Situation und kulturelles Milieu der Gemeinden kennen. 3.1 Gesellschaft. Kultur, Politik im Imperium Romanum
3.1.1 Domitian Die politischen Verhältnisse der Zeit wurden durch den Einfluss des römischen Kaisers Domitian (81-96) bestimmt.
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Das ausgesprochen negative Bild Domitians, das ihn als Tyrannen und Pervertierung eines Herrschers zeigt, geht bereits auf die Darstellung seiner ältesten "Biographen" zuliick (Tacitus, Plinius, Sueton), die nach seinem Tod eine ablehnende (senatorische) Perspektive einnahmen. Die christliche Literatur ist dieser Tendenz gerne gefolgt und zeichnete Domitian als Inbegriff des nach Vergöttlichung strebenden Herrschers und Christenfeindes: Er habe in umfassender Weise den Kaiserkult gefordert, die Christen lehnten diesen als widergöttliche Anmaßung ab, daher drohten groß angelegte, reichsweite Verfolgungen der Christen durch die Behörden. Die neueste Forschung bemüht sich um eine ausgewogene und neutrale Darstellung sowohl des Kaisers als auch der Situation der Christen (zu Domitian M. GRIFFIN; W. ECK; L. L. THOMPSON, Book; C. URNER).
Die Regierung Domitians lässt erhebliche Zentralisierungs- und Einheitsbestrebungen erkennen, um den Zusammenhalt des riesigen römischen Imperiums zu sichern. So sollte an der Spitze der Gesellschaft ein starker Kaiser als absoluter Herrscher stehen. Seine autokratische Stellung betonte Domitian (bzw. der Senat in Rom, der ihm diese Ehrungen zu Teil werden ließ) durch die Errichtung zahlreicher Statuen und Triumphbogen; das römische Forum dominierte nun eine riesige Reiterstatue des Kaisers. Die Monate September und Oktober wurden 86 in Germanicus und Domitianus umbenannt. Die Kehrseite bildeten ein gespanntes Verhältnis zum Senat, wiederholte Verschwörungen und Revolten wie der Aufstand des Feldherrn Saturninus Ende 88 und im Gegenzug Hinrichtungen, u. a. von zahlreichen Senatoren und einigen Verwandten. 93 ließ Domitian Philosophen aus Rom vertreiben. Ein Klima der Angst musste das Resultat sein. Als einheitsstiftenden Faktor ve11rat Domitian einen religiösen Traditionalismus, der sich in der Bewahrung des mos maiorum (der Sitten der Vorfahren) und der römischen Religion ausdrückte; eine entsprechende Maßnahme bildete auch die Feier der Säkularspiele im Jahr 88. Eine größere staatliche Verfolgung von Christen (etwa im Sinne der stadtrömischen Verfolgung unter Nero 64) lässt sich unter Domitian nicht nachweisen (U. RIEMER; A. HEINZE 219-239; J. ULRlCH; gegen D. PEZZOL!OLGIATI). Wahrscheinlich aber gab es einzelne lokale Repressionen und Maßnahmen, die wohl im Zusammenhang mit dem Kaiserkult standen. In diesem Zusammenhang wird häufig die Hinrichtung des Konsuls T. Flavius Clemens und die Verbannung seiner Frau Flavia Domitilla im Jahr 95 erwähnt (Sueton, Dom 15,1) und mit der Hinwendung des Paares zum Christentum begründet. Diese Begründung ist aber ausgesprochen unwahrscheinlich (W. ECK 747; A. HEINZE 228-230), der eigentliche Grund unbekannt. Der bei Dio Cassius (LXVII 14) genannte Vorwurf der tt9E6TI)~ (Gottlosigkeit) und die dort erwähnte Verbindung mit Leuten, die zu den Sitten der Juden neigen, bleiben für eine Identifizierung als Christen zu allgemein. Da es sich um einen Cousin Domitians handelte, wird man eher politische Gründe vermuten, die vielleicht mit einer möglichen Nachfolge als Princeps zusammenhängen.
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3.1.2 Der Kaiserkult Weder theoretisch noch praktisch kannte die Antike eine strikte Trennung von Religion und Politik, weil göttliches Walten und menschliche Lebensgestaltung nicht voneinander zu lösen waren. Beide Größen hatten bei der Konstituierung der Strukturen der Gesellschaft und der Politik zentrale Bedeutung. So konnten im Kult des zu den Göttern zählenden Kaisers die Machtstrukturen, die sozio-politische Ordnung, symbolischen Ausdruck finden. Es handelte sich demnach beim Kaiserkult keineswegs um eine persönliche "Glaubensangelegenheit", vielmehr besaß er die soziale Funktion, die Stabilität des Imperium Romanum, dessen Bevölkerung aus sehr verschiedenen Völkern und Kulturen bestand, zu sichern und einen sichtbaren Ausdruck der Zusammengehörigkeit zu ermöglichen. So brachte man dem Kaiser keine Votivgaben, die persönliche Anliegen betrafen, wohl aber Bittopfer (supplicatio) in Staatsangelegenheiten dar; entsprechend fanden Bitt- oder Dankfeste, z. B. wegen eines Krieges, statt. Das Bild des Kaisers fungierte als öffentlich sichtbares Einheitssymbol und verband die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und gesellschaftlichen Organisationen mit dem Kaiser. Sein Kult war ein probates Mittel zum Ausdruck von Loyalität und gesellschaftlicher Identität. So konnte z. B. eine Stadt aus dem Osten des Reiches ihre politische Loyalität durch die öffentliche Errichtung einer Kultstätte fiir den Kaiser unter Beweis stellen und damit zugleich auf Vergünstigungen und Wohltaten hoffen (allgemein zum Kaiserkult F. GRAF; M. CLAUSS; H.-J. KLAUCK, Umwelt II 58-74; M. EBNER; H. GIESEN 25-30). Daher akzeptierte Domitian den Kult seiner eigenen Person nicht nur, sondern förderte eine Intensivierung der Herrscherverehrung. Sichtbar wird dieses Bestreben z. B. in großen Kaisertempeln in Ephesus, wo eine überlebensgroße Statue des Kaisers im Mittelpunkt stand, und auf dem Kapitol in Rom. Neuere Forschungen konnten zeigen (S. R. F. PRICE), dass zur Zeit Domitians gerade der Südwesten Kleinasiens, wo die sieben Gemeinden der Oftb angesiedelt waren, ein Ballungsgebiet des Kaiserkults mit Altären, Tempeln und Priesterschaften fiir diesen Kult in beinahe jedem Ort darstellte - und eben auch in allen sieben Städten, an deren Gemeinden sich die Offb richtet. Auch Münzen, das "öffentliche Werbematerial" der Antike, nutzte Domitian zur Propaganda der Vergöttlichung (E. P. JANZEN): Münzprägungen trugen das Bildnis des Sohnes Domitians, der bereits 73 als Kind verstorben war, und stellten ihn als Gottessohn, als göttlichen Weltherrscher dar - thronend auf der Weltkugel, die Hände nach sieben Sternen (seit dem sidus Iulium, einem 44 v. Chr. erschienenen Kometen, der die Gottwerdung Caesars symbolisierte, Zeichen des göttlichen Kaisers) ausgestreckt; natürlich ist dann auch der Vater Domitian "Gott". Andere Münzen der Jahre 85-96 präsentierten Domitian in der gleichen Pose wie den Göttervater Jupiter/Zeus, zu dessen göttlichem Stellvertreter auf Erden der Kaiser so avancierte.
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Die Bemerkung Suetons (Dom 13,2; vgl. Dio Chrys., Or 45,1; Dio Cassius XIII 4; LXVII 4,7; Martial V 8, I), Domitian habe sich in Briefen und Edikten als dominus el deus nos/er (unser Herr und Gott) bezeichnet, dürfte eine übertreibende Verallgemeinerung darstellen, die vielleicht auf einer schmeichelnden Anrede am kaiserlichen Hof beruht (W. ECK 749); da eine Bezeugung auf Münzen oder Inschriften nicht bekannt ist, handelte es sich kaum um einen offiziellen Titel. Das schließt nicht aus, dass Domitian die Titulierung llirderte (M. GRIFFIN 8If.). Sollte die Bezeichnung in der Bevölkerung kolportiert worden sein, könnte die Offb in 4,11 mit der Prädikation 0 KUPLO~ Ka.t 0 eEO~ TJIJ.WV (unser Herr und Gott) für den Golf Israels und in 13, I mit den "Lästernamen" an den Köpfen des Tieres darauf kritisch anspielen. Eine Tendenz zur Vergöttlichung belegt die Darstellung Domitians als Sohn des ägyptischen Gottes Re, wodurch der Kaiser, wie der ägyptische Pharao, als Gottessohn erscheint; der Obelisk des Domitian (heute Piazza Navona, Rom) zeigt den Kaiser nicht in der traditionellen Pose des vor den Göttern Opfernden, sondern als selbst von den Göttern Gesegneten (M. BOMMAS 91).
Interesse am Kaiserkult war gerade bei der lokalen Oberschicht der Städte, bei Beamten und Militärs, bei Händlern und Zuwanderern aus einsichtigen Gründen vorhanden: Sie alle profitierten von einem positiven Verhältnis zur römischen Macht. Konkret erlebte der Kaiserkult in der Asia, speziell in Ephesus unter Domitian, im ausgehenden I. Jh. eine Blüte, und das politische Kalkül der Provinziallandtage, der öffentlichen Repräsentanten einer Stadt nutzte den Kaiserkult als willkommene Gelegenheit, die Loyalität zum Kaiser zu demonstrieren.
3.1.3 Politische Konfrontationen? Wenn der Kaiserkult in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens präsent war, konnte eine Konfrontation der Christen in Kleinasien mit seinen Ausdrucksformen nicht ausbleiben. Ein rechtliches Verfahren der römischen Behörden gegen Christen belegt für den Anfang des 2. Jh. der Briefwechsel zwischen Plinius d. J. (in seiner Funktion als kaiserlicher Legat der Provinzen Bithynien und Pontus 112) und Kaiser Trajan (Ep X 96; Reskript Trajans: 97,1f.). Plinius stellt Trajan ein differenziertes Vorgehen vor, mit dem er den Kaiser strategisch zu einem Rechtsverfahren lenken will, das die Strafbarkeit des Christseins mit der Verzeihung für Apostaten (ehemalige Christen) verbindet (A. REICHERT): (I) Ein Verfahren wird nur auf Anzeige hin eröffnet. Bei Anzeigen mit bekanntem Urheber erfolgt bei wiederholtem Geständnis des Angezeigten, Christ zu sein, die Verurteilung zum Tod (bzw. bei römischen Bürgern die Übersendung nach Rom) (96,2b-4). Das nornen ipsum, das Christsein an sich, genügt dabei als Grund zur Verurteilung. (2) Bei anonymen Anzeigen unterscheidet Plinius: Wer bestreitet, jemals Christ gewesen zu sein, muss dies durch einen "Opfertest" nachweisen: Er muss die Götter anrufen, dem Kaiserbild mit Weihrauch und Wein ein Bittopfer darbringen und Christus verfluchen; daraufhin erfolgt die Freilassung (96,5). (3) Anonym angezeigte Apostaten müssen sich ebenfalls dem Opfertest unterziehen; das
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Urteil über diese Personen, die, wie sich bei Befragung unter Folter ergab, von Verbrechen frei waren, schob Plinius bis zum Reskript des Kaisers auf (96,6--8); er tendiert zur Freilassung. Das kaiserliche Reskript entschärft das Verfahren insofern, als anonyme Anzeigen nun nicht mehr statthaft waren (97,2). Dass man das geschilderte Vorgehen in die Zeit Domitians vordatieren und als gängige und eingespielte Rechtspraxis bestimmen darf (wie in der Forschung weithin angenommen; dagegen A. RE1CHERT), lässt der Briefwechsel nicht erkennen. In Einzelfällen werden freilich schon früher Anklagen bei den Behörden gegen unliebsame Christen eingegangen und entsprechende Verurteilungen erfolgt sein. Daher weiß Plinius von Prozessen im Osten, bei denen Christen angeklagt waren (96,1), und von dem Verdacht verbrecherischer Intentionen, der den Christen an sich anhing. Wenn schon vor zwanzig Jahren einige dem Christsein abgesagt hätten (96,6) - was zeitlich unter die Regierung Domitians flillt -, liegt die Annahme früherer Behördenkontakte nahe. Jedenfalls sieht man an diesem Verfahren, dass bei den römischen Behörden bereits ein grundlegendes Misstrauen gegenüber Christen herrschte: Sie standen im Verdacht von Staatsfeindlichkeit und Illoyalität. Bereits unter Nero waren Schuldzuweisungen (in Bezug auf den Brand Roms 64) an die Christen in Rom und deren Verfolgung möglich.
Der Briefwechsel dokumentiert, dass um die Jahrhundertwende von römischer Seite keine systematische Verfolgung von Christen praktiziert oder auch nur intendiert wurde. Wohl aber waren Verdachtsmomente geläufig. Die Ofib selbst nennt nur einen einzigen Fall, in dem das Christsein zur Todesstrafe führte (auch wenn die genauen Umstände dunkel bleiben): Antipas, der als "Zeuge" und "Treuer" in Pergamon starb, wo der "Thron des Satans", vielleicht ein Hinweis auf den Kaiserkult, steht (2,13). Doch auch wenn dieses Vorgehen die Ausnahme blieb, konnte es sich wiederholen, so dass die Christen vor behördlichen Maßnahmen (Gefängnis und Bedrängnis in 2, 10) grundsätzlich nicht sicher waren.
3.1.4 Gesellschaftliche Konfrontationen Die soziale Realität der Christen bestand also nicht im Zwang zum Kaiserkult, in ständig drohenden "Opfertests" oder planmäßigen Verfolgungen. Der "sakral" flankierte Macht- und Totalitätsanspruch des Kaisers wirkte sich jedoch im öffentlichen Leben aus: Konfrontationen mit dem römischen Götter- und Kais~rkult fanden im Alltag statt, z. B. bei der Teilnahme an Festen oder Vereinsmählern, wie sie für bestimmte Berufe wie Kaufleute fast unumgänglich waren, beim Verzehr von "Götzenopferfleisch", das auf dem Markt verkauft oder nach einem öffentlichen Kaiseropfer verteilt wurde, bei Gerichtsverhandlungen, Eiden, Vertragsabschlüssen (eine Art "weicher" Kaiserkult: H.-J. KLAUCK, Sendschreiben ISI). Bei Ablehnung oder Rückzug von diesen Formen öffentlichen Lebens drohte den Christen soziale Verdächtigung, Ächtung und Isolation mit der Folge beruflicher und existentieller Probleme. Sozialkontrolle und sodal press ure erzeugten Unsicherheit und brachten die Christen in eine Außenseiterrolle. Handgreifliche wirtschaftliche Interessen moch-
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ten die Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz intendiert haben. Im Extremfall konnte die Ausgrenzung bis zur Anzeige bei den Behörden gehen, doch blieb dies die Ausnahme; die Möglichkeiten gesellschaftlicher Marginalisierung genügten vollauf zur Isolation der Christen. Umgekehrt liegen die wirtschaftlichen Vorteile einer Anpassung auf der Hand: Das soziale und geschäftliche Leben gelingt leichter, was man gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit nicht unterschätzen darf (vgl. Kriegsgefahr Offb 6,2-4; Teuerung 6,5f.; die Ausdehnung desfiscus Iudaicus auf jüdische "Apostaten", also auch Judenchristen, laut Sueton, Dom 12,2).
Dabei lebten die kleinasiatischen Christen grundsätzlich eingebunden in die Sozialstrukturen und die Kultur ihrer Umwelt. Und die hellenistische bzw. römische Kultur besaß durchaus Anziehungskraft. Sie lädt zur Übernahme und Identifikation ein und bildete die Basis rur das gesellschaftliche Leben. Den Symbolen dieser Kultur begegneten die Christen täglich: Tempel fiir verschiedene Gottheiten, Statuen, Altäre und Repräsentationsbauten bestimmten die Stadtbilder. Bei der Arbeit, bei gesellschaftlichen Anlässen, beim Einkaufen, selbst innerhalb des Hauses waren die Christen dem dominanten Einfluss dieser Kultur ausgesetzt. Wenn Offb 2,13 das kulturelle Zentrum in Pergamon, die Akropolis mit Tempeln, dem großen Zeus- und AthenaAltar und einem Herrscherheiligtum, als "Thron des Satans" bezeichnet, ist sie sich seiner Ausstrahlung bewusst. Sollte damit speziell der Kaiser-Tempel gemeint sein, erschiene dieser als "Konzentrat" der antiken Kultur.
Getragen war diese Kultur von einem Weltbild, das eine verlässliche, weil göttlich gegebene Garantie der sozialen und politischen Ordnung, des Heilseins, des Gelingens menschlichen Lebens gegenüber dem Chaos und allen feindlichen Mächten vermittelt. Ausdruck fand dieses Weltbild im Mythos (S. SCHREIBER, Sternenfrau). Der Mythos spielt in der Welt des Göttlichen und der Vorzeit und begründet daraus die kulturelle Wirklichkeit. Aus der göttlichen Ordnung konstruiert und stabilisiert er die Ordnung des Zusammenlebens. Im kollektiven Bewusstsein der Trägergruppe findet Organisation und Strukturierung der erfahrenen Realität statt, so dass einsichtig wird: Wir wissen um unsere Herkunft, um unsere Grundlage, wer wir sind; Sinn und corporate identity werden vermittelt. Die Weitsicht und die Nonnen der Gesellschaft werden durch den Mythos als Kulturgut gestaltet und durchgesetzt, wodurch Identität verbindlich wird, freilich auch "Abweichungen" ausgegrenzt werden. Auf verschiedene Weise sind Mythen in der "Geschichte", im Alltagsleben präsent, besonders durch öffentliche Kulte (z. B. die Kulte der Athena bzw. des Dionysos in Pergamon, die durch den Telephos-Mythos begründet werden) oder in Mysterienkulten, die nur Eingeweihten zugänglich sind (z. B. die Isis-Mysterien, die auf dem prominenten, auf ägyptische Wurzeln zurückgehenden Isis/Osiris-Mythos basieren). Erzählungen, Riten und Bilder halten Mythen im Bewusstsein wach. Sie besitzen Bedeutung für die Sorgen und
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Nöte der Menschen, wie besonders die Mysterienkulte belegen, in denen die Eingeweihten durch religiöse Erfahrungen Anteil am Geschick der Gottheit, Hilfe z. B. in Krankheiten und Hoffhung über den Tod hinaus erhalten; eine verbreitete Praxis boten die Isis-Mysterien. Das Sinnpotential des Mythos begründet die Attraktivität und Ausstrahlung des Weltbildes, der römischen Kultur. Wenn sich die kleinen Christengruppen, die nicht mehr die Privilegien der jüdischen Synagogen und auch sonst keine gesicherte Rechtsstellung (z. B. als Vereine) besaßen, dieser Kultur entzogen, drohte ihnen der Verlust der gesellschaftlichen Akzeptanz und Lebensmöglichkeit. In Folge dessen bestand die Gefahr schleichender Assimilierung der Christen und damit des Schwindens christlicher Identität. Die Oftb diagnostiziert einen Identitäts-Konflikt. dessen tieferes Wesen sie aufdecken will, indem sie das wider-göttliche, satanische Wesen der römischen Kultur scharf zeichnet. Die Oftb fordert zur kulturellen Auseinandersetzung auf (will also nicht, wie häufig zu lesen, "Trost" in Verfolgungen spenden), sie will eine aktive, kritische Haltung bewirken, d. h. die radikale Entscheidung rur Christus im alltäglichen Leben. An einigen Stellen wird dieser Konflikt innerhalb der Oftb sichtbar. Der Mangel an Entschiedenheit wird gemeint sein, wenn der Seher von Lauheit (3,15f.), vom Verlassen der ersten Liebe (2,4f.), von fehlender Kraft und Totsein (3,1.8) spricht. Das letztgültige Scheitern der Kaufleute und ihrer reichen Ware (I 8,3.11-13. 15f.), des Reichtums (18,7.9.14), der Schiffseigner (18,17.19) stellt den Christen die Vergänglichkeit dessen vor Augen, wovon sie selbst aktuell überwiegend ausgeschlossen sind.
Es verwundelt nicht, dass in dieser Situation eine innerchristliche Kontroverse über die Frage nach Nähe und Distanz zur römischen Kultur aufgebrochen ist. Christliche Gruppen mit unterschiedlichen Positionen standen sich gegenüber - die Nikolaiten vertraten die Gegenposition zum Propheten Johannes. 3.2 Gruppenbildungen in den Gemeinden: die Nikolaiten
Die Nikolaiten bildeten eine größere Christengruppe innerhalb der kleinasiatischen Gemeinden. Sie werden in den Sendschreiben nach Ephesus und Pergamon erwähnt (2,6.15), und die gleichen Vorwürfe, die ihnen gelten (2,14), richten sich auch an die "Prophetin Isebel" im Sendschreiben nach Thyatira (2,20). Dabei handelt es sich um einen Symbolnamen, der sich auf atl Hintergrund erschließt: Isebel, die Frau König Ahabs, verfUhrte den König und das Volk Israel zum Baal-Dienst (I Kön 16,29-33; 18,19) und trachtete dem Propheten Elija nach dem Leben (I Kön 19,2). Isebel überschreitet die Grenzen gegenüber der fremden Religion und Kultur! Ein zweiter Symbolname in 2,14 zielt auf eine vergleichbare Grenzverletzung: Die Lehre der Nikolaiten wird mit der "Lehre Bileams" parallelisiert. Damit wird ein negatives Bild des Sehers Bileam aufgegriffen, der die Töchter der Midianiter veranlasste, Israel zu verfUhren und
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zum Götzendienst an Baal anzustiften (Num 31,16; Josephus, Ant IV 129f.); durch das niedere Motiv der Habgier abgewertet, wird Bileam zum Prototyp eines Irrlehrers stilisiert (lud 11; 2 Petr 2,15f.; vgl. Philo, Vit Mos 1296-299). Die Vorbehalte, die Johannes gegenüber den Nikolaiten hegt, umschreibt er mit <jlaye"iv elöwÄ.6S\l1:a (Götzenopferfleisch essen) und 1TopveüaaL (Unzucht treiben) (2,14.20). Unzucht ist atl Metapher für den Abfall von JHWH (z. B. Hos 2; Jer 3,1-4,4) und markiert die fehlende Distanz zur heidnischen Kultur und Bevölkerung. Eine solche Anpassung betrifft faktisch alle sozialen Bereiche, ist also nicht auf Ehe und Sexualität beschränkt. Letztlich wirft Johannes den Nikolaiten damit die Preisgabe des Christus-Glaubens vor. Götzenopjerjleisch war den paganen Göttern geweiht und bot, da Fleisch relativ teuer war, gerade den Ärmeren oft die einzige Gelegenheit zum Fleischgenuss, wenn es bei städtischen Festen (öffentlichen Mählern nach Schlachtopfern) verteilt wurde. Bei Gastmählern von Vereinen der Handwerker und Kaufleute oder in hellenistischen bzw. römischen Häusern war es selbstverständlich. Auch beim Einkauf auf dem Markt konnte man nie sicher sein, ob man nicht Götzenopferfleisch erhielt. Aßen Christen davon, konnte der Eindruck entstehen, dass die Grenzen der Kulturen hinfällig wurden (vgl. Paulus 1 Kor 8-10).
Die verallgemeinernde Anwendung all dieser Negativkategorien auf die Nikolaiten stellt eine polemische Verzeichnung dieser Gruppe dar. Eine historische Rekonstruktion (H.-J. KLAUCK, Sendschreiben 164-170; M. GIELEN 169-171; U. B. MÜLLER 96-99.112f.) lässt erkennen, dass das Streitobjekt die sichtbare Identitätsabgrenzung gegenüber der nichtchristlichen Umwelt bildete. Mit wem und wo man Mahl hält, ist entscheidender Ausweis dafür, zu welcher Gemeinschaft man gehört. Wenn die Nikolaiten an dieser Stelle Grenzen überschritten, taten sie dies nicht ohne theologische Reflexion. Der in 2,24 notierte Anspruch, "sie erkannten die Tiefen des Satans" (eyvwaav Ta. ~aeEa tOÜ aatavii), belegt wohl ihre Überzeugung, das widergöttliche Wirken zu durchschauen und so seinem Einfluss entzogen zu sein, so dass sie auch von der Nichtigkeit des Kaiserkults überzeugt sein konnten und keine ernsthafte Gefahr in Berührungen mit der paganen Kultur sehen mussten. Strikte Abgrenzung war dann nicht mehr nötig, und eine größere Offenheit gegenüber ihrer Umwelt vermied Reibungsflächen und (berufliche) Ausgrenzung und erleichtelte das Leben in der Gesellschaft. Gerade bei den Wohlhabenderen wird diese Haltung attraktiv gewesen sein, weil sie erfolgsnotwendige soziale Kontakte pflegen konnten. Im Rahmen der Geschichte des Urchristentums stellt die Haltung der Nikolaiten eine Möglichkeit innerhalb des nach-pln Christentums dar. Sie konnten die "freiheitlichen" Elemente von 1 Kor 8,4.6, wo Paulus die faktische Bedeutungslosigkeit der "Götzen" feststellt, sowie die Freiheit in der Anwendung der Tora (Röm 7), mit der Paulus den Einbezug der Heidenchristen ins endzeitliehe Heil erreicht, aufgreifen und neu, d. h. im Sinne weitgehender Freiheit im Umgang mit der paganen Kultur, interpretieren. Eine Einordnung als Gnostiker (so J. ROLOFF; P. RICHARD) scheitert dagegen an mangelnder Gemeinsamkeit (bei den Nikolaiten werden z. B. weder pneumatische Erkenntnis noch Abwertung der Leiblichkeit
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deutlich). Vielleicht kann der Name "Nikolaiten", der wohl eine Eigenkreation der Gruppe darstellt, da Johannes den Namen ohne Polemik nennt, noch weiteren Aufschluss über das Selbstverständnis der Gruppe geben. Er könnte - so eine These (z. B. H.-J. KLAUCK, Sendschreiben 169f.) - programmatisch auf den Proselyten Nikolaos verweisen, der laut Apg 6,5 zum Leitungsgremium der hellenistischen Gruppe innerhalb der Jerusalemer Urgemeinde der Anfangszeit zählte. Diese "Hellenisten" praktizierten eine kritisch-offene Haltung gegenüber Toraobservanz und Tempel (vgl. Apg 6,11.13f.) und eine erste Öffnung rur Heiden; diese anstößige Praxis zwang sie wohl zur Flucht aus Jerusalem, sie gingen später nach Antiochia und gründeten dort eine gemischte Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen, die dann rur Paulus in den ersten Jahren seines Christseins zur geistigen Heimat wurde (Apg 11,19-26; GaI2). In dieser Linie könnte der Name "Nikolaiten" das Programm weitergehender Öffnung zur paganen Kultur in radikalisierter pln Tradition markiert haben.
Johannes geriet durch die theologische Argumentation der Nikolaiten unter BegrUndungsdruck. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Wahl der apokalyptischen Sprache, die scharfe Trennungslinien zieht. Er fordert strikte Abgrenzung der Christen von der Umwelt, die "Umkehr" vom Weg der Nikolaiten (2,16), die eindeutige Opposition zum römischen Imperium, seiner Gesellschaft und Wirtschaft. Im Himmel ist der Satan zwar bereits überwunden, doch daflir auf Erden umso mächtiger am Werk (12,7-12). Nur durch Abgrenzung können die christlichen Gemeinden in den Augen des Johannes ihr Profil als Kleingruppen in einer fremden oder feindlichen Umwelt bewahren. Wir sehen also am Ende des I. Jh. in Kleinasien eine innerchristliche Auseinandersetzung um Nähe und Distanz zur paganen Gesellschaft. Umstritten war, in welchem Umfang das Christentum kulturelle Elemente aufnehmen soll und wie ein Leben innerhalb der römischen Gesellschaft geflihrt werden kann. Die Antworten fielen gegensätzlich aus: Während die Nikolaiten Grenzüberschreitungen wagten, machte Johannes das Profil der jüdischen Tradition, d. h. der Tara-Tradition, stark. Von der Gemeinde in Thyatira fordert er in Oftb 2,24f. das Festhalten an der "Last" (ßapoc;), die sie bereits haben, was sich wohl auf Minimalforderungen der Tora als Ausdruck der eigenen Identität, konkret das Verbot von Mahlzeiten und anderen Begegnungen mit der paganen Kultur, bezieht. Auf die Bedeutung der "Last" fällt Licht von Apg 15,28f. her, wo der Begriff die Forderungen des sog. Aposteldekrets umfasst, zu denen ebenfalls unter anderem Verzicht auf Götzenopferfleisch und Unzucht gehören. Ohne die pln Tradition aufzugeben (die Beschneidungsfreiheit z. B. stellt Johannes keineswegs in Frage, eine Öffnung des Judentums ist selbstverständlich: 5,9f.; 7,9), will Johannes durch die Tara die in seinen Augen notwendige Grenzziehung nach außen, gegenüber der römischen Kultur und Religion, und dadurch Identitätssicherung erreichen. Trotz dieser Nähe zum Judentum diskreditiert Offb 2,9 und 3,9 die örtlichen jüdischen Synagogen in Smyma und Philadelphia als "Synagoge des Satans". Im Hintergrund steht zum einen der Kontext des Trennungsprozesses von Christen und Juden, der seitens der Gemeinden mit einem Verlust jüdischer Privilegien und damit eines geschützten Raumes
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innerhalb der römischen Welt einherging, was erfahrungsgemäß zu Spannungen fiihrte. Zum anderen ist spezifischer eine christliche Wahrnehmung der Synagoge als Kollaborateur mit den römischen Behörden, der Macht (hinter der nach Offb 13 der Satan steht) bzw. mit der Bevölkerung zu vermuten. Der eigene Ausschluss lässt die partielle Zusammenarbeit der anderen in umso düstererem Licht erscheinen. Ob dabei auch Denunziationen der Christen durch Juden (zum Selbstschutz der ebenfalls potentiell bedrohten Synagogen) vorkamen, muss hypothetisch bleiben. Entscheidend ist aber zu sehen, dass mit den Diskreditierungen Iwnkrete Synagogen in ihrem sozialen Verhalten gemeint sind und kein generelles theologisches Urteil über das Judentum gefällt wird (J. U. KALMS 108-113; P. HIRSCHBERG 31-127).
3.3 Die Gegenwelt des Johannes Johannes entwickelt in der Offb einen eigenen Entwurf eines Weltbildes, das sich aus jüdischen Überzeugungen speist und die tieferen Gründe der geschichtlichen Erfahrungen der Gegenwart in der beginnenden Durchsetzung der Endzeit Gottes sichtbar macht. Das Wüten Satans auf Erden mit den verzweifelten Kräften des bevorstehenden Untergangs stellt dabei die unvermeidliche Kehrseite der Medaille dar. Gegenwart und Welt werden als vorläufig und widergöttlich charakterisiert. Das Ziel der Geschichte sind keineswegs die "Segnungen" des römischen Imperiums, ein "goldenes Zeitalter" (aurea aetas) unter römischer Herrschaft, sondern eine völlige Neuschöpfung Gottes, ein neuer Himmel und eine neue Erde. Die Reaktion auf diese Einsichten kann nur Distanzierung von der Welt heißen. Die harte Sprache des Krieges, die die Offb über weite Strecken bestimmt, spiegelt dabei die Schärfe der kulturellen Auseinandersetzung, wie sie Johannes für notwendig erachtet. Aber das Ziel lohnt den Einsatz, denn Schritt für Schritt setzt sich Gottes Herrschaft gegenüber der satanischen Herrschaft der römischen Kultur durch. Für die Begleiterscheinungen dieses Prozesses will Johannes sensibilisieren, er will die Wirklichkeit "neu sehen" lehren und entwirft dazu gewaltige Bildfolgen.
3.3.1 Der eine Gott ... Die Vision vom Thron Gottes in Offb 4,1-11 steht programmatisch in der Tradition Israels. Sie lehnt sich an die Eröffnungsvision des Buches Ezechiel an (Ez 1: Kommen Gottes mit Sturmwind und Gewitterwolken, auf einem gewaltigen Wagen, von vier geheimnisvollen Lebewesen getragen). Das Trishagion von Offb 4,8 evoziert Jes 6,3. Der Blick in den Himmel durch eine geöffnete Tür (Offb 4, I) offenbart den Thron Gottes im Zentrum, umgeben vom himmlischen Hofstaat in konzentrischer Anordnung: vor dem Thron ein gläsernes Kristallrneer (Himmelsgewölbe), am Thron vier Lebewesen, die einem Löwen, Jungstier, Menschen und Adler gleichen (Engelwesen - erst spätere christliche Tradition identifizierte sie mit den vier Evangelisten: Ire-
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näus, Haer III 11,8), um den Thron sieben Fackeln (die sieben höchsten Engel) und 24 Throne, auf denen 24 Älteste, Mitglieder des himmlischen Hofstaats, sitzen. Ein himmlischer Gottesdienst findet statt. Die so vermittelte Theozentrik bildet die theologische Mitte des Buches. Das Gottesbild der Offb ist also das jüdische Gottesbild: JHWH, der eine und einzige Gott, der eine ewige, beständige Herrschaft über Welt und Geschichte ausübt. Zugleich bedeutet dieses Gottesbild eine "kulturelle Metapher" für die Christen: ein Gegenbild zum paganen Götterpantheon und seinen vielfältigen Kulten, zum abstrakten Gottesbild der Philosophie und - vor allem - zum quasi-göttliche Vollmacht ausübenden römischen Kaiser, was politisch subversive Töne anklingen lässt.
3.3.2 ... und sein einziger Repräsentant Die Fortsetzung der Thronsaalvision in 5,1-14 geschieht unter einer funktionalen Perspektive. Der Thronrat sucht eine Gestalt, die rechtskräftig die endzeitliche Durchsetzung der Herrschaft Gottes in Gang zu setzen vermag, im Bild: die die Siegel der Buchrolle in Gottes rechter Hand erbrechen kann. Die Buchrolle stellt eine Rechtsurkunde dar, die durch die Siegel vor unbefugter Aneignung geschützt ist. Die gesuchte Gestalt wird mit kontrastreicher Symbolsprache gezeichnet. Messianische Prädikate in Offb 5,5 - der Löwe aus dem Stamm Juda (Gen 49,9) und die Wurzel Davids (Jes 11,1.10) - lassen entsprechend frühjüdischen Traditionen eine siegreiche, sich durchsetzende Messiasgestalt erwarten. Tatsächlich jedoch erscheint in 5,6 am Thron Gottes ein "Lamm" (apvLov), "wie geschlachtet" (WC;; Eo<jJaYf.lEVov), in scharfem Kontrast zum "Löwen". Das Lamm kann als Bild für einen unschuldig verfolgten (und getöteten), wehrlosen Propheten oder Frommen Verwendung finden, der aber schließlich von Gott rehabilitiert wird, indem Gott Vergeltung an seinen Feinden übt (Jer 11,19 LXX; PsSaI8,23: apvlov; Jes 52,13-53,12 LXX: aflv6~) (S. SCHREIBER, Lamm; vgl. P. BUSCH 161-163). Viele Ausleger favorisieren dagegen eine typologische Deutung auf dem Hintergrund des Passalarnms aus Ex 12 (0. HOFIUS 279f.; J. U. KALMs 8If.).
Das Lamm symbolisiert das Geschick Jesu, zugleich aber bietet es Identifikationspotential ftlr die Gemeinden, die gesellschaftliche Ablehnung und Bedrängnis erfahren. Doch die Rehabilitation ist bereits geschehen: Das Lamm erhält höchste himmlische Vollmacht (5,7), und die Gemeinden sind "freigekauft", befreit (5,9). Die narrative Darstellung des Lammes erschließt die Bedeutung des Christus in der Offb: (I) Die "Christologie" wurzelt in den frühjüdischen Gesalbtentraditionen (S. SCHREIBER, Gesalbter). Der Christus (der "Gesalbte"lMessias) ist der endzeitliche Repräsentant Gottes; er erhält mit der Übergabe der BuchrolIe in 5,7 die Vollmacht zur endzeitlichen Herrschaft. Er befindet sich
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in unmittelbarer Nähe zu Gott, inmitten des Throns und der himmlischen Wesen (5,6), erfährt liturgischen Lobgesang (5,12). Doch er "besteigt nicht selbst den Thron (5,7), bleibt also von Gott unterschieden und ihm untergeordnet. Der Tod des Christus bedeutet freilich eine signifikante Modifikation der frühjüdischen Gesalbtentraditionen: Der "Sieg" des Christus lesus sprengt die Maßstäbe der Welt und enthält eine radikale endzeitliche Umkehrung der politischen Machtverhältnisse und gesellschaftlichen Werte. (2) Genau an diesem charakteristischen Tod befestigt die Offb die "soteriologische" Funktion des Christus. lesu Tod ("in seinem Blut") bedeutet, metaphorisch ausgedrückt, den "Freikauf' der Christen (5,9) bzw. den "Loskauf' aus ihren Sünden (1,5), was einen Herrschaftswechsel impliziert. Weil er der "Erstgeborene" der Toten ist (1,5), dürfen Christen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod haben. Im Sinne des antiken Freundschaftsideals, bei dem das Sterben rur einen Freund die höchste Form der Liebe darstellt, ist lesu Tod Ausdruck seiner (und des repräsentierten Gottes) Liebe zu den Seinen (1,5). (3) Als politisches Modell bildet das Lamm eine Gegenfigur zum römischen Kaiser. In drei konzentrischen Kreisen - himmlischer Hofstaat, alle himmlischen Wesen, gesamte Schöpfung - breitet sich in 5,8-14 seine Akklamation aus - und erschallt weiter als der zweifelhafte Ruhm Roms. Die Szene in Oftb 5 suggeriert ein himmlisches Gegenbild zur Inthronisation des Kaisers, indem sie Elemente der Erhöhung, Herrschaftsübertragung und Akklamation spiegelt.
3.3.3 Das königliche Volk ... Die "ekklesiologische" Theorie der Offb gründet in der gerade genannten Befreiung durch den Christus Gottes. In der Sprache der Oftb leben die Gemeinden als "Königsherrschaft und Priester" rur Gott (1,6; 5,10), d. h. alle Christen besitzen in gleicher Weise königliche und priesterliche Würde, Unmittelbarkeit zu Gott, verstehen sich als Neuschöpfung, als endzeitliches Volk Gottes. Zugleich wissen sie sich als sozio-politisches Gegenmodell zur römischen Gesellschaft. Das findet v. a. in den zahlreichen Hymnen und Liedern der Offb Ausdruck, die theologisch begründete Freude und Hoffnung artikulieren und damit ein alternatives politisches Bewusstsein schaffen: Die Gemeinden vertreten Christus in der Welt, was ihre Identität gegenüber der römischen Gesellschaft ausmacht. Die Versiegelung der 144000 Diener Gottes in 7,1-8 verleiht diesen ein "Schutzzeichen", das ihr Leben in der feindlichen Welt bewahrt, und bestätigt zugleich ihre Würde als endzeitliches Gottesvolk, wie die Zahlensymbolik erschließt: Aus allen zwölf Stämmen Israels werden 12 000 versiegelt.
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3.3.4 ... und seine Kritik an der Gesellschaft Die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit seiner Zeit unterzieht Johannes einer scharfen Kritik, die dann deutlich wird, wenn man die verwendeten Bilder mit der zeitgeschichtlichen Realität korreliert. (1) Beim Öffnen der ersten vier Siegel durch das Lamm faUen vier Reiter mit vier verschiedenen Plagen über die Erde her (6,1-8; vgl. Sach 1,7-17; 6,1-8), wobei sich die Plagen auf konkrete Erfahrungen der Zeitgeschichte wie Kriege, Bürgerkriege und wirtschaftliche Knappheit und Teuerung deuten lassen (vgl. im Hintergrund Ez 14,21; Jer 14,12; 15,2). Sie entlarven die politische Gegenwart als Unheilszeit und die römische Herrschaft als Unrecht. Zugleich zeigen sie, dass der Ablauf der Weltgeschichte dennoch in Gottes WiIlen verankert ist. (2) Die Episode von der Sternenfrau und ihren Kindern in Offb 12 erinnert in etlichen Erzählzügen an antike Mythen, besonders an den ursprünglich ägyptischen Mythos von Isis und Osiris, ihrem Sohn Horus und dem Opponenten TyphoniSeth. Die Funktion des Mythos, kulturelle Identität zu konstruieren (- 3.1.4), macht sich Johannes zunutze, indem er einen eigenen "christlichen" Mythos entwirft (S. SCHREIBER, Sternenfrau). Gegenüber den übermächtigen Weltbildern der römischen Kultur macht er so die Bedeutung der christlichen Identität deutlich. Dabei ist die Semantik dieses Mythos entscheidend. Sie ist nur aus der Tradition Israels verständlich. Die "Frau" steht besonders in der Prophetie als Metapher fiir Israel (z. B. Hos 2; Jer 3), die Wehen sind Vorboten des Gerichts (z. B. Jes 13,8; 26,17f.), das Kind signalisiert einen Neubeginn in Israel (z. B. les 7,14; Ex If.). Die gebärende Frau in Offb 12,1-6 symbolisiert so den eschatologischen, messianischen Neubeginn Gottes mit Israel. Die Gemeinden sollen sich als endzeitlichen Teil Israels verstehen! Der von Michael aus dem Himmel gestürzte Drache in 12,7-12 demonstriert die endzeitliche Überwindung des Satans, und das heißt, dass die Endzeit bereits jetzt angebrochen ist. Wenn in 12,13-17 die Gegenwart durch Exodus-Motive (Wüste, Flucht auf Adlerflügeln, Ernährung, Flutwelle; vgl. J. U. KALMS 88-96) charakterisiert ist, können die negativen sozialen Erfahrungen der Gemeinden als Phänomene des Übergangs zur Endzeit in den christlichen Sinnzusammenhang integriert werden. Daher endet der Mythos in 12,17 bei den "Übrigen aus dem Geschlecht" der Frau, die zusammen die Familie Gottes bilden und in diesem Bewusstsein Identität finden.
Auf der Basis der jüdischen Wurzeln ruft Johannes in diesem Mythos die Gemeinden zur kulturellen Konfrontation mit ihrer Umwelt auf. Die Zugehörigkeit zum Gott Israels und seinem Christus bedeutet ein Sinn-Potential, das es verdient, gegen die römische Kultur behauptet zu werden. Dieses neue Bewusstsein soU das soziale Verhalten der Christen prägen, damit sie sich nicht von der dominierenden Kultur beherrschen lassen. (3) Offb 13 intendiert mittels der Symbolfiguren zweier Tiere, die an Dan 7,1-8 erinnern, den Aufweis der totalitaristischen Gewalt des römischen Imperiums. Das erste Tier erscheint als irdischer Repräsentant des satanischen
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Drachen und als Gegenbild zum Lamm (vgl.Oflb 13,2f. mit 5,7). Das zweite Tier wird als Exekutivorgan des ersten, als Propagandainstanz, die das soziale und private Leben jedes Menschen kontrollieren will, gezeichnet. Damit äußert Johannes radikale Kritik am römischen Imperium, am Kaiser, den Behörden und Beamten, am ganzen römischen Gesellschaftssystem, weil es in seinen Augen totale, absolute Ansprüche auf den Menschen erhebt und ihn so "besetzt", "dämonisiert". Der jüdisch-römische Krieg (66-70) und die stadtrömische Christenverfolgung unter Nero (64) hinterließen bleibende Schäden im Verhältnis der Christen zur römischen Regierung. Der Widerstand, den Johannes von den "Heiligen", den Christen, fordert (13,9f.18), verzichtet jedoch völlig auf Gewalt und besteht im Bewusstsein und der Praxis eines eigenen Sinnsystems: Wer im "Lebensbuch" (13,8) eingeschrieben ist, widersetzt sich dem "Zeichen" des Tieres (13,16f.). (4) Vor der Attraktivität der römischen Kultur warnt das zweite große Frauenbild der Offb, die verführerische Prostituierte, die Stadtfrau BabyIon als Chiffre für Rom (Offb 17f.). Auffallend ist bei der Schilderung die hohe Präsenz der "Kaufleute", die von der Frau BabyIon profitieren (Kap. 18). Sozialgeschichtlich enthüllt sich ein drängendes Problemfeld: die ökonomische Unterlegenheit der Christen. Die "große Prostituierte" korrespondiert als narratives Gegenbild der großen Stemenfrau. (5) Am Ende steht die Vision der endzeitlichen Neuschöpfung, die in der Aufrichtung der himmlischen Stadt Jerusalem ihren Höhepunkt findet (19,1122,S). Die Hoffnung auf endgültiges Heilsein (Tod, Trauer, Klage, Mühsal existieren nicht mehr: 21,4), auf das baldige Kommen Jesu Christi (3,11) ist die letzte Motivation christlichen Lebens. Weil sie um die neue Stadt Gottes wissen, können Christen im Raum der beengenden Stadt Rom existieren.
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Anhang 1: Abkürzungen
Die Abkürzungen der biblischen Bücher richten sich nach den Loccumer Richtlinien, die Abkürzungen der wissenschaftlichen Monographien, Sammelwerke und Zeitschriften nach S. M. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 2 1992, die Abkürzungen der antiken Autoren nach Th WNT X/I. Als weitere Abkürzungen werden verwendet: Mk/mk Mt/mt Lk/lk loh/joh pln Ev Past lohBr par(r) red fin
AT/atl NT/ntl LXX MT
Markuslmarkinisch Matthäuslmatthäisch Lukasllukanisch Johannesljohanneisch paulinisch Evangelium Pastoralbriefe lohannesbriefe in Übereinstimmung mit einem (zwei) Synoptiker(n) redaktionell Ende Altes Testament/alttestamentlich Neues Testament/neutestamentlich Septuaginta Masoretischer Text
Kommentarreihen zu den neutestamentlichen Büchern werden wie folgt abgekürzt: AncB BNTC CNT(N)
EKK EtB HNT
HThK ICC KEK KEK.S KNT NEB NEB.NT NIBC NIC NIGTC NT
Anchor Bible Black's New Testament Commentaries Commentaire du Nouveau Testament. Neuchätel Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Etudes Bibliques Handbuch zum Neuen Testament Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament International Critical Commentary Kritisch-exegetischer Kommentar Kritisch-exegetischer Kommentar. Sonderband Kommentar zum Neuen Testament Neue Echter Bibel Neue Echter Bibel- Kommentar zum Neuen Testament New International Biblical Commentary New International Commentary New International Greek Testament Commentary Novum Testamenturn
Anhang I: Abkürzungen NTD ÖTBK RNT SKK.NT ThHK ThKNT TNTC ZBK
Das Neue Testament Deutsch Ökumenischer Taschenbuchkommentar Regensburger Neues Testament Stuttgarter kleiner Kommentar - Neues Testament Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Tyndale New Testament Commentaries Zürcher Bibelkommentar
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Anhang 2: Glossar Allusion: Wichtiger Begriff der -+ Intertextualität. Wird meist ganz allgemein für alle Beziehungen eines Textes zu anderen Texten gebraucht. Wo A. im engeren Sinn von Anspielung benutzt wird, handelt es sich - im Unterschied zum -+ Zitat - um eine Bezugnahme, die zwar nicht ausdrücklich markiert wird, aber von den Lesenden bemerkt werden soll, um das Bedeutungspotential eines Textes zu erhöhen. Anaphorisch/kataphorisch: Rückbezüglich/vorverweisend - Grundkategorien der Texttheorie. Der Zusammenhang (-+ Kohäsion/Kohärenz) eines Textes wird ganz wesentlich durch Rückverweise und Vorverweise gebildet. Sie finden sich auf der grammatikalischen Ebene (Syntax) ebenso wie auf der Sinnebene (Semantik). Apokryph: -+ A.l. I. I. Apotropäisch: Als magisches Abwehrmittel (gegen Böses) dienend. Charisma: Von Gott geschenkte Geistesgabe (vgl. I Kor 12). Dekalog: Die von Gott gegebenen Zehn Gebote: Ex 20; Dtn 5. Deuteropaulinen: Unter dem Namen des Paulus in paulinischer Tradition verfasste Briefe (Kol, Eph, 2 Thess, Past). Diachronie/Synchronie: Zwei unterschiedliche Perspektiven der Bibelwissenschaft, die aber einander zugeordnet sind. D. nimmt den Text als Teil eines historischen Prozesses wahr und versucht, diesen Prozess als Kommunikationshorizont des Textes zu beschreiben. Dazu gehören z. B. -+ Textkritik, -+ Literarkritik, -+ Formkritik, -+ Redaktionskritik, Religionsgeschichte. Die S. nimmt den Text als Ergebnis solcher Prozesse wahr und widmet sich dem Text in seiner vorliegenden Gestalt. Dazu gehören z. B. Formanalyse und Beschreibung der -+ Semantik. Trotz ihres unterschiedlichen Ansatzes gehen D. und S. ineinander über, etwa wenn bei der Semantik begriffsgeschichtliche Klärungen notwendig werden oder bei der Beschreibung des -+ Repertoires religionsgeschichtliche Analysen notwendig sind. Diaspora: Von griech. "Zerstreuung", bezeichnet alle Gebiete außerhalb Israels, in denen Juden als Minderheit in hellenistisch-römischen Städten leben. Diatribe: Philosophischer Lehrvortrag. Doketismus/doketisch: Christologische Konzeption, deren Kernaussage ist, dass der Erlöser nur einen Scheinleib angenommen habe. Oft ist mit dieser Auffassung auch die Vorstellung verbunden, dass der himmlische Christus nicht gelitten hat und nicht am Kreuz gestorben ist, sondern entweder nur die menschliche Hülle oder aber ein anderer Mensch gekreuzigt wurde. Doxologie: Lobpreis Gottes, im Neuen Testament meist in geprägten Formeln überliefert.
Anhang 2: Glossar
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Dualismus: Ausdruck rur Weltanschauungen, die nur mit zwei strikt gegensätzlichen Größen ("Gut-Böse", "Licht-Finsternis") arbeiten. Enthusiasmus: Exegetische Bezeichnung rur frühchristliche Strömungen, die sich durch ein übersteigertes Erlösungsbewusstsein auszeichnen. Die Erlösung ist hier und jetzt gegeben. Der Inhalt des Heils wird meist radikal vergeistigt und besteht vor allem im Empfang des heiligen Geistes. Enzyklopädie: Gesamtheit der außertextlichen Wirklichkeitselemente, die ein (fiktionaler) Text benutzt, um seine innertextliche Wirklichkeit aufzubauen. Die Elemente der E. können im Text neu kombiniert werden. Zur E. können auch Texte gehören, die eingearbeitet oder überarbeitet werden. In diesem Fall ist -+ Literarkritik als E.-Erforschung rur die -+ synchrone Textauslegung von Interesse. Eschaton/Eschatologie: Wörtlich das Letzte/Lehre vom Letzten. Lehre, Konzept oder Vorstellung über Ende und Vollendung von Welt und Geschichte. Eulogie: Lobpreis (= Beracha). Formkritik: Zuordnung eines Textes zu einer -+ Gattung. Galiläa: Landschaft in Nordpalästina. Zur Zeit Jesu wieder jüdisch (seit ca. 100 v. Chr.). Aus G. kommen Jesus, fast alle seine namentlich bekannten Jünger/-innen, aber auch viele national-religiöse Widerstandskämpfer (-+ Karte I, S. 593). Gattung: Gruppe von Texten, die durch gemeinsame formale, inhaltliche oder funktionale Merkmale bestimmt wird. In der modernen literaturwissenschaft wird in diesem Zusammenhang auch von Textsorte gesprochen. Die Zuordnung eines Textes zu einer GattunglTextsorte ist für die Interpretation von Bedeutung, weil diese Zuordnung wichtig ist für die Rezeption eines Textes. Gleiche oder ähnliche Aussagen werden anders wahrgenommen, wenn sie in einem Märchen auftauchen oder in einer technischen Gebrauchsanweisung. Gematrie: Systemik, die den einzelnen Buchstaben Zahl werte zuschreibt und über den Sinn bestimmter Zahl werte spekuliert. Gnosis: Bezeichnung einer ab Mitte des 2. Jh. n. Chr. literarisch nachweisbaren religiösen Strömung, die von einer radikalen Heillosigkeit der Welt ausgeht. Die Erlösung daraus geschieht durch Erkenntnis (griech. Gnosis) der wahren Situation des Menschen: Er ist in die böse materielle Welt verstrickt; sein wahres Selbst stammt aus der oberen Lichtwelt, ist ein Lichtfunke, der in das Gefängnis der Materie geriet (-+ Dualismus). Macht sich der Mensch diese Situation klar, kann er, unterstützt durch weitere Offenbarungen aus der oberen Welt, zurückkehren in seine eigentliche Heimat. Haggada: Erzählende Auslegung und Entfaltung biblischer Stoffe in der jüdischen Tradition. Halacha: Verbindliche Festlegung und Konkretisierung von Tora-Bestimmungen. Häresie/Orthodoxie: Irrlehre/Rechtgläubigkeit.
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Anhang 2: Glossar
HaupttexUPrätext: In der Theorie der - Intertextualität bezeichnet der H. den Text, von dem die Untersuchung ausgeht. P. wird dagegen der Text genannt, auf den sich der H. durch Anspielung (- Allusion), Zitat oder Imitation bezieht. Chronologisch gesehen ist also der H. in der Regel der jüngere Text, der sich auf den älteren P. bezieht. Homilie: Predigt. Hymnus: - Gattung, die durch poetische Gestaltung gekennzeichnet ist und in der Regel ähnlich wie das Lied auf Gesang oder Rezitation abzielt. Inkarnation: Der Begriff (wörtlich "Einfleischung"), der von Joh 1,14 abgeleitet ist, bezeichnet die Menschwerdung einer göttlichen Person, im christlichen Kontext Christi. Intertextualität: Beziehung eines Textes zu anderen Texten. Judäa: Südlicher Teil des Landes IsraelIPalästina mit dem Zentrum Jerusalem (- Karte 1, S. 593). Katenenform: Aneinanderreihung von Belegtexten (wörtlich "Kette"). KohäsionlKohärenz: Innerer Zusammenhalt/Zusammenhang eines Textes. Während der Begriff Kohäsion eher den inneren Zusammenhalt eines Textes auf der Ebene von Grammatik und - Syntax bezeichnet, wird der Begriff Kohärenz darüber hinaus auch rur den Zusammenhang verwendet, der auf Sinn, Bedeutung und Verwendung basiert. Literarkritik: - Diachrone Methode, die den Text auf seinen Entstehungsprozess hin befragt: Wurden Quellen verwendet? Erfolgte eine redaktionelle Überarbeitung? Einigennaßen verlässliche Ergebnisse sind nur dort zu erzielen, wo auf verschiedenen Textebenen (- Syntax, - Semantik und - Pragmatik) Störungen der - KöhasioniKohärenz eines Textes festzustellen sind. Logos: Das griech. Wort hat viele Bedeutungen: Wort, Spruch, Vernunft, Plan, Konzept. In hellenistisch-jüdischer Theologie wird damit eine göttliche "Person" bezeichnet, die als Schöpfungs- und Heilsmittler fungiert und im Wesentlichen gleichbedeutend mit der göttlichen Weisheit ist. Der männliche Begriff wird im JohEv vorgezogen, weil er sich leichter mit dem Mann Jesus verbinden ließ, der als - Inkarnation des L. (vgl. Joh 1, 14) gedeutet wurde. Makarismus: Seligpreisung. Messias: Griechische Wiedergabe des hebräischen Wortes rur "Gesalbter", griech. übersetzt als "christos", woraus im Lateinischen dann "Christus" wird. Der Begriff greift auf die vorexilische Praxis der Salbung des Königs Israels zurück und bezeichnet die göttliche Erwählung des Königs. Im Frühjudentum verbindet sich damit die Konzeption einer von Gott bevollmächtigten HerrschergestaIt, die Gottes Herrschaft zugunsten Israels (und gegenüber dem römischen Imperium) aufrichtet. MonotheismuslPoIytheismus: M. bezeichnet den religionsgeschichtlichen Sonderfall einer Religion, die nicht nur einen einzigen Gott verehrt, sondern sogar nur die Existenz eines einzigen Gottes anerkennt. P. ist dagegen
Anhang 2: Glossar
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der reIigionsgeschichtliche Normalfall einer Verehrung von mehreren Gottheiten. Zwischenformen liegen dort vor, wo dem einen Gott göttliche Zwischenwesen (z. B. -+ Logos, Engel, Heilige, Teufel, Dämonen) untergeordnet werden, hinter der Fülle göttlicher Wesen ein einziges Heiliges vermutet oder eine innergöttliche Pluralität (z. B. Trinität) angenommen wird. Paraklet: Gestalt eines Beistands und Helfers. Der göttliche Geist ist (im JohEv) als Stellvertreter Jesu in der Welt der P. für die Glaubenden, Jesus selbst ist (in I Joh) als Fürsprecher P. der Glaubenden bei Gott. Parlinese: Ermahnung zum rechten Verhalten. Parusie: Endzeitliche Ankunft Jesu Christi als Herrscher und Richter am Ende der Welt. Pentateuch: Die fünf Bücher Mose (Gen, Ex, Lev, Num, Dtn). Perikope: Kleinere Sinneinheit biblischer Texte, bes. der Evangelien; auch Leseabschnitt, der im christlichen Gottesdienst für die Verlesung festgelegt ist. Peristasenkatalog: Liste, in der Paulus seine Leiden aufzählt. Pharisäer: Frühjüdische Laienbewegung, die durch die Universalisierung und Demokratisierung der priesterlichen Reinheitsregeln und ihrer Befolgung im Alltag aus Israel ein heiliges, priesterliches Volk machen will. Pneuma: Griech. "Geist". Postskript: -+ D.1.3. Präexistenz: Himmlische (oder auf andere Weise verborgene) Existenz vor dem irdischen Auftreten. So kann z. B. für die Tora oder auch den Messias angenommen werden, dass er vor seinem Erscheinen schon in der göttlichen Welt verborgen existierte. Pragmatik: Verwendungszusammenhang, Absicht und Zielsetzung eines Textes. Das Spektrum der Pragmatik reicht von klaren Handlungsanweisungen (z. B. bei einem technischen Gebrauchstext) bis hin zu existenzieller Bedeutung (z. B. bei religiöser Dichtung). Präskript: -+ D.1.3. Proömium: -+ D.1.3. Protreptisch: Werbend. Pseudepigraphie: -+ D.I.7. Redaktionskritik: Rekonstruktion des Arbeitsprozesses und der Intentionen des Letztbearbeiters (Autors) einer Schrift. Relecture: Aneignungs- und Aktualisierungsprozess, der mit der Verarbeitung und Überarbeitung vorgegebener Traditionen einhergehen kann. Repertoire: -+ Enzyklopädie. Rezeptionsästhetik: Literaturtheorie, die davon ausgeht, dass der Text seinen Inhalt nicht wie ein Gefäß in sich trägt, sondern der Textsinn erst im Akt des Lesens hergestellt wird. Texte werden so als halboffene Leseanweisungen begriffen, die mit den Lesenden in Interaktion treten sollen. Je nach -+ Gattung ist der Sinn eines Textes mehr (z. B. technische Gebrauchstexte) oder weniger (fiktionale Literatur) stark festgelegt.
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Anhang 2: Glossar
Samarien: Landschaft nördlich von ---+ Judäa. In etwa das Gebiet des ehemaligen Nordreiches Israel. Die Bewohner von S. werden nach dem Exil nicht als Juden anerkannt, obwohl sie religionsgeschichtlich z. T. alte israelitische Traditionen bewahrten (---+ Karte I, S. 593). Schisma: Spaltung. Semantik: Die Wortsemantik bestimmt die Bedeutung von Wörtern in ihrem Textzusammenhang. Die Textsemantik untersucht die Vernetzung einzelner Wortfelder eines Textes. Septuaginta (abgekürzt: LXX): Griechische Übersetzung (und Erweiterung) der hebräischen Bibel. Skriptorien: Schreibstuben, in denen Texte professionell abgeschrieben und damit vervielfältigt wurden. Soteriologie: Lehre bzw. Konzept darüber, wie Menschen ihr Heil finden und worin dieses besteht. Synchronie: ---+ Diachronie. Synhedrion: Der "Hohe Rat" war ein indigenes jüdisches Leitungsgremium, dem die Besatzungsmacht Rom ein begrenztes Selbstverwaltungsrecht zugestand. Synkretismus: Vermischung mehrerer Religionsformen. Synopse: ---+ B.l. Syntax: Grundlegende Textstruktur auf der Ebene von Grammatik und Satzbau. Terminus ante quem: Spätest möglicher Zeitpunkt der Entstehung eines Werkes. Terminus post quem: Frühest möglicher Zeitpunkt der Entstehung eines Werkes. Textkritik: ---+ A.I1. Theologumena: Theologische Positionen und Aussagen. Traditionsgeschichte: Im engeren Sinne die mündliche Phase der Textentwicklung, im weiteren Sinne die Analyse der in einem Text verarbeiteten überliefelten Motive. Trishagion: Dreifacher "Heilig"-Rufaus Jes 6,3. Zitat: Begriff der ---+ Intertextualität. Bezeichnet eine Bezugnahme auf einen anderen Text, die explizit gemacht wird, oft sogar unter Angabe der Quelle.