V •.• 't'pocpljc; l..~'t'6't''t)'t'~, xo('t"'fJc; GXA't)p6't"''J't'~.
Diese Beispiele weisen den Weg zum richtigen Verständnis der WendWlg I..~Twc; ~ljv oder I..~Twc; a~oc~'t'iia.&oc~. Sie ist nicht selten; sehr häufig tritt sie bei Diogenes Laertios auf. Vor allem im 6. Buche, wo er die Kyniker abhandelt, und im 10. Buche, wo er von Epikur spricht, zeigt er eine Vorliebe dafür. Er faßt die kynische Philosophie zusammen in den beiden FeststellWlgen (VI 103ff.): 1. Die Kyniker beseitigen Physik Wld Dialektik, Geometrie Wld Musik. 2. Da.s Neue, da.s sie bringen, ist ihre Lebensweise ( 105): 1 Siehe das Lexicon Polybianum von ls. und Mericus Casaubonus- Io. Aug. Emesti- Io. Schweighaeuser, Oxford 1822 = Polybii Megalopolitani Historiarum quidquid superest. Recensuit ... Ioannes Schweighaeuser, Oxford 1823, Bd V, s. v. AL-r6c;. Die wichtigsten Stellen sind: a) VIII 19, 8. Ein Anführer will sich aus der belagerten Festung schleichen. Toic; (J.tv ~lloLc; !J.E:Tp[cxc; t (J &~ Tcx c; <Xvcx8ouc;, cxu'tOc; 8t >.. LT~ v xcxt ~v TVXoÜacxv ivcx>..cxßwv xcxt TCX7rELvOV cxu't'Ov 7rOL~acxc; 1rpo~ye:; b) VIII 37, 2. Als die Syrakusaner lange belagert werden, gehen ihre Vorräte zur Neige. Da müssen selbst sie ihre Zuflucht nehmen zu "einfachen Speisen" (A.L-roic; <JL-rEoL<;).- c) XI 10, 3. In einer Charakteristik heißt es: xcx-rci ny&p ~v la&ij-rcx xcxt ~v aETl)<JLV cicpt>..~c; xcxt ALToc; ~v, O!J.oEwc; 8t xcxt 7rtpt -r&c; -roü GW!J.CXToc; .&cpcx7te:Ecxc;.
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AtT6c; (Zusammenfa.ssung)
Hier ist, ausgehend von der Nahrung und Kleidung, der Begriff "einfach leben" auch auf die innere Einstellung zu Reichtum, Ansehen und Abkunft übertragen. Wie jedoch die Fortsetzung lehrt, liegt auch an dieser Stelle der Nachdruck auf dem äußeren Lebensstil: "einige freilich halten sich auch an Pflanzen und überhaupt an kaltes Wasser und den ersten besten Unterschlupf und Vorratsbehälter, wie Diogenes." Ahnlieh schreibt Diogenes Laertios auch Epikur und seinen Jüngern ein "äußerst einfaches und bescheidenes Leben" zu (X 10-11: auveL '\ 1-'LOUV OCU't'
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\Vir fassen zusammen: Das Wort At't'6~ gehört zu den ältesten griechischen \Vörtern. Aber erst seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. ist es häufiger belegt. Bei Autoren, die strenge Attizisten sind, kommt es kaum vor. Das bedeutet, daß At't'6~ ein Wort der Koine ist. Polybios verwendet es, Cicero benutzt das Substantiv /..tm't'l)~ in seinen Briefen, olme es ins Lateinische zu übersetzen. Im Unterschied zu &:7t/..oü~ bezeichnet /..t..O~ fast nie die innere Einstellung, sondern nur die äußere Lebensform. At't'6~ kann sowohl einzelne Merkmale des Lebensstils (z. B. die Nahrung) als auch diesen insgesamt charakterisieren. At..O~ ßto~, ALTIJ 8toct-roc und AL't'w~ ~ljv, AL't'W~ 8toct't'iG&oct sind im Griechischen geläufige Wendungen.
EuTe:/..-lj~
und die Gegensatzbildung itoAu't'tA-Ij~ sind in archaischer Zeit nicht nachweisbar. Beide sind wahrscheinlich Neubildungen des 5. Jahrhunderts. Die Tatsache, daß Etymologie und \Vortgebrauch an den frühesten Belegstellen noch völlig übereinstimmen, spricht ebenfalls dafür. Herodot spricht II 86 von der Einbalsamierung der Leichen in Ägypten. Die Angehörigen eines Verstorbenen erkundigen sich bei den Einbalsamierern; sie zeigen ihnen verschiedene Arten der Beha.ndlwlg. Die zweite ist "billiger" als die erste, (§ 2) TI)v 8& 8e:u't'tp1JV 8e:tXVUOUGLV U7to8UG't'tpl)V 't'€ 't'OCU't'l)~ xocl. eu't'eAtG't'tpl)V, TI)v 8E: 't'f>L't'l)V €U't'€AE:(1't'
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tung bleibt durchaus offen; im guten Sinne entwickelt sich e:uTe:A~c; "wenig kostend" zu "sparsam, maßvoll", im schlechten zu "wertlos". Sokrates lebt nach dem Bericht des Xenophon sehr einfach. Der Autor verwendet dafür den Ausdruck e:un/.~c; (Mem. I 3, 5). Aus der näheren Ausführung ersehen wir, daß damit vor allem der äußere Lebensstil gekennzeichnet werden soll. Genau wie A~T6c; tritt e:u-:-r::/.·~c; gern als Attribut zu Wörtern wie TPO?~· ai:Toc;, 7to't'6v. Dies gilt nicht nur für Xenophon, sondern auch für die spätere griechische Literatur. Im Gegensatz zu cX7tAoüc; bezeichnet es nicht die innere Einstellung. Strabon kennzeichnet in seinem Bericht! die Britannier als einfach. Er verweist dabei weitgehend auf äußere Merkmale, kann aber da.s Wort cX7tAoüc; benützen. Denn dieses umfaßt ja die gegenständliche und geistige Einfachheit. Diodor setzt bei der Beschreibung des gleichen Zustandes e:u't'e:A~c;. kann es aber nur für die Lebensführung, nicht für die innere Einstellung nehmen (V 21, 6): 't'OLc; 8' ~3-e:aLV cX7tAOÜc; e:!vcxL xcxl. 7tOAU xe::;:wpLafLtvouc; 't"Yjc; 't'WV vüv > ß. OtVvpW7tWV OtiJ._LVO cxc; XCXL 7t0Vl)p cxc;· 't'«c; Te: 8Lcx(Tcxc; e:U't'e:Ae:Lc; e:x.e:~v xcxl. 't"Yjc; Ex 't'OÜ 7tAOU't'OU "(&VVWfLtV"I)c; 't'pu~~c; 7tOAU 8LcxAA«'t''t'OV't'cxc; Die hier vorgenommene Differenzierung zwischen cX7tAoüc; und e:un/.~c; ist für den vorherrschenden Sprachgebrauch kennzeiclmend 2 • Im schlechten Sinne steht e:uTe:A~c; bei Platon. Hier bedeutet es so viel wie "nichtsnutzig", "minderwertig". Die Verbindw1g e:un/.·~c; ß(oc; wird sogar abwertend dem enthaltsamen und disziplinierten Leben gegenübergestellt (Leg. VII 806a): ciax'Y)'t'LXOV 8t 't'LVCX ß(ov XCXL oiJ8CXfLWc; ~CXUAOV ou8' &U't'&A~ 8LCX7tAtXE:LV. Im allgemeinen ist die Verbindung e:uTe:A~c; ßLoc; seltener als ALToc; ßLoc;. Sie kommt vor allem bei Diogenes La.ertios vor. Dieser gebraucht beide Ausdrücke synonym, um den kynischen Lebensstil zu kennzeichnen. Er schreibt (VI 21): (~LO"(tvl)c;) ... !Te:
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Siehe oben S. 17. Vgl. für den Sprachgebrauch Diodors noch I 45, 1-2.
29 AL't'6c.;- die äußere Einfachheit von Personen bezeichnen. Die bereits zitierte Xenophonstelle (Mem. I 3, 5) ist ein deutlicher Beweis hierlür; dort heißt es: Sokrates war c:uTc:'A~c.;, denn sein Essen und Trinken war einfach. Die innere Einstellung kann weder durch AL't'6c.; noch durch c:ÖTc:'A~c.; ausgedrückt werden.
' 5 • cxxcx-rcxcmeuoc; I
Dieses Wort ist eine späte Bildung und nicht vor dem 1. Jahrhundert v. Chr. nachweisbar. \Vörtlich genommen, heißt es "ohne X<X't'<Xcrxc:u~". Hierbei ist X<X't'<Xmtc:u~ warum, bleibt unklar - nur in negativer Bedeutung gemeint ("Aufwand", "Zierat", "Pracht"), nicht in der allgemeinen ("Ausstattung", "Ausrüstung"). 'Ax<X't'occrxc:uoc.; ist verbreitet in der rhetorischen Fachsprache. Dionysios von Halikarnassos nennt den inkonzinnen Satzbau des Thukydides cXX<X't'ocaxc:uoc.; "hart", "ungefällig" (Thuc. c. 27). Zur Bezeichnung des einfachen Lebens verwendet das Wort Diodor. Er beschreibt die Lebensweise der Liguren (IV 20, V 39). Sie müssen mit dem unfruchtbaren Boden ringen, die Frauen arbeiten wie die Männer; Jagd hält ihre Körper straff w1d seimig. Das Land bietet seinen Bewohnern wenig; sie nächtigen in einfachen Hütten (ev -rLaLv e:ÖTc:'Mcnv bt<XuAe:aw ~ x<XAL<X~c.;) oder in natürlichen Felsgrotten. Diodor faßt das zusammen mit dem Ausdruck (V 39, 6): sie bewahren 't'Ov cXf>X<X~ov x<Xt cXX<X't'ocaxc:uov ßlov. Hierunter ist die altertümliche, von Fortschritt und Zivilisation unberührte Kulturstufe zu verstehen 1 • Die Einfachheit wird hier mit den gleichen Merkmalen gesehen wie bisher, aber sie wird anders aufgefaßt. Durch das danebenstehende cXf>X<X~oc.; beeinßußt, bedeutet cXX<X't'ocaxc:uoc.; nicht schlechthin "einfach" oder "bescheiden", sondern "von ursprünglicher Einfachheit", "primitiv". 'Ax<XToccrxc:uoc.; ist in dieser Bedeutung ein seltenes Wort geblieben. Es hat sich keinen größeren Anwendungsbereich erworben und verschwindet rasch wieder.
6. Das Wortfeld "einfach" im Griechischen Die bisher untersuchten Wörter bilden den Kern des Wortfeldes ,,einfach'' im Griechischen. Ihre Gemeinsamkeit ist zunächst äußerlich: sie können alle mit ß(oc.;, 8(<XL't'<X oder mit ~'ijv, 8L<XL't'oca3-<XL, ßLOÜv ver1 Vgl. z. St. Karl Trüdinger, Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie, Dias. Basel 1918, S. 102f., und Felix Jacoby, FGrHist. Poeeidonios 87, F 118-119 mit Kommentar.
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Das Wortfeld "einfach" im Griechischen
bunden werden. Darin äußert sich aber auch eine innere Verwandtschaft: sie stehen umfassend für eine bestimmte Lebensart. 'A1tJ..ouc:; ist das Wort mit weitestem Anwendungsbereich. Denn es bezeichnet sowohl äußere Merkmale als auch innere Einstellung. kr6c:;, mehr der Koine angehörig, und drr&A~c:;, seit dem 5. Jahrhundert ununterbrochen belegt, geben nur den äußeren Lebensstil an. In diesem Bereich bedeuten sie "einfach" schlechthin, ohne Einschränkung oder nähere Bestimmung. Das spätere Wort &xoc't'ciax&uoc:; meint sachlich das Gleiche, hat aber den Unterton "primitiv", "von der Zivilisation unberührt". 'A1tJ..ouc:; kann, wie das deutsche "einfältig", von der geistigen Haltung in gutem und schlechtem Sinne gebraucht werden. Es ist im Laufe seiner Entwicklung besonders vielen 'Vandlungen unterlegen; dieses Schicksal teilt es mit allen anderen Wörtern, die geistig-seelische Eigenschaften bezeichnen. A~T6c:;, &U't'&A~c:;, (cixoc't'ciaxwoc:;) zeigen einen gleichbleibenden Gebrauch: dies ist möglich, weil sie mit Konkreta verbunden sind und mehr beschreiben als werten. Um diesen Kern lagert sich ein Kreis von 'Vörtern mit ähnlicher, aber weitergehender oder unbestimmterer Bedeutung. Die geistige "Einfachheit" wird oft als Maßhalten angesehen, die zahlreichen griechischen Ausdrücke: awq>poaU'II'YJ, !J.&'t'p~6't'1)c:;, xoa!J.~O't'1)c:; 1 , metaphorisch 't'O uy~ec:; bedeuten oft nichts anderes als "Einfachheit", "Bescheidenheit". Die äußere Einfachheit wird neben J..~T6c:;, &u't'&A~c:; (&xoc't'ciax&uoc;) oft bezeichnet mit &q>e:J..~c:; (&q>eAe:~oc) und ocÖ't'cipx't)c; (ocu't'cipx&~oc). Der Unterschied zwischen ihnen ist wesentlich geringer als bei den bedeutungsähnlichen Wörtern für geistige Einfachheit. Sie stehen oft nebeneinander als Attribute des gleichen Substantivs; sie entsprechen sich in fortlaufenden Prosa.texten, wenn der Autor durch die 'Viederholung des nämlichen Ausdrucks nicht ermüden will. Trotzdem kann man sagen, daß &q>&J..~c:; und ocu't'cipx'ljc:; nicht den umfassenden Anwendungsbereich von AL't'6c:; und &u't'e:J..~c:; gefunden haben. Sie erscheinen nicht mit ß(oc:;, Ö(ocL't'oc usw. zu einem einheitlichen Begriff verbunden. Vielfach gleichbedeutend mit &U't'tA&Loc oder ocu't'cipxe:Loc kann das alte Wort 7t&v(oc stehen. Die Vorstellnngen und Gefühle, die es weckt, sind aber anderer Art 3 • lle:v(oc ist Substantiv zum Stamm 7ttv-&a&ocL. llev&a&ocL heißt bei Homer "mit etwas beschäftigt sein". Der Gegenstand kann dabei genannt sein (Ö 624: 7te:pl OE:L1t'IIO'II t'IIL !J.E:"(cXpOLO'L 7ttvOV't'o), aber auch fehlen (x 348: &!J.q>t7toAoL ... evL !J.&ycipoLaL 7ttvov't'o ). Dann hat das Wort den allgemeinen Sinn "arbeiten". Entsprechend ihrer Herkunft bedeutet die 7t&v(oc nichts anderes als das "Los der ar1 Vgl. Hildebrecht Hommel, Das hellenische Ideal vom einfachen Leben, S. 748 mit Anm. 29. 1 Zur Wortgeschichte vgl. Jacob Hemelrijk, 1te:vl1X en 7tAOÜ't'oc;, Dias. Utrecht 1925, Wld J. J. van Manen, 1te:vl1X en 7tAOÜ't'oc; in de poriode na Alexander, Dias. Utrecht 1931.
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beitenden Schicht". Ihr ist der 7tAou-ro~ entgegengesetzt, dessen Besitz Freiheit von der Arbeit gestattet. llev(cx muß denmach nicht "Armut" sein; dafür sagt der Grieche &v8&Lcx oder 7tTwx_dcx. Sie ist vielmehr "bescheidenes Auskommen". So definiert auch Aristophanes (Plutos 552-554), wo sich lltv(cx selber gegen Chremylos, den Anwalt des ll).ou-roc;, verteidigt: 7t-rwx_ou fLtV yocp ß(oc;, ov aU Aty&Lc;, ~ljv taTLv fL"1J8tv &x_ov-rcx· 't'OU 8e 7ttV"t)'t'O<; ~ljv cptL86fL&VOV XCIL 't'O~<; tpyoL<; 7tpOO't):OVTCI, 7t&pLy(yv&0'3-CIL 8' CIUT(i} fL"t)8tv, fL~ fLtV't'OL fLll8' E7tLAd7t&LV.
Aus diesem Sachverhalt erklärt sich, daß die nachmalige Popularphilosophie den Satz : 6-rL 7ttv(cx ou xcxx6v predigen kann, ohne heftigeren Widerspruch herauszufordern. Der Tenor beweist aber auch, daß die stoischen und kynischen Philosophen gegen eine verbreitete Einstellung zu Felde ziehen müssen. Denn da.s Wort 7tev(cx stößt auf eine gefühlsmäßige Ablehnung, bezeichnet es doch den Zustand dessen, der zur Arbeit gezwungen ist. ll&v(cx ist die "harte Antreiberin zum Werk". Die Philosophen bemühen sich, die 7t&v(cx als belanglos oder sogar fördernd darzustellen. Trotzdem behält sie den Charakter des notwendigen Übels. ALTbc; ß(oc; oder &U't'&A~c; 8(cxLTCI ist der Sache nach gleich, legt aber den Nachdruck auf die freiwillige oder unbewußt-selbstverständliche Zustimmung zur Einfachheit~. Ahnlieh hat unter den Adjektiven q>cxuAo<; nur bei bewußt philosophischer Interpretation die Bedeutung "einfach" gewinnen können. Der Sophist Antiphon wirft Sokrates vor, er sei "schlecht" gekleidet und ernährt (Xen. Mem. I 6, 2: O'r-roc -r& O'L-r1j xcxl. 1to-roc 7tLV&L<; -roc cpcxuA6-rcx-rcx xcxt lfLOCTLov ~fL!pLEO'CIL ou fLOVov q>cxu).ov, cX,A).cX; -ro cxu-ro .&epou~ TE xcxl. X,&LfL<7lvoc;) 1 • Sokrates stellt diese Dinge aber in ein anderes Licht. Aus
Vorwürfen werden Vorzüge, Sokrates lebt nicht "schlecht", sondern "schlicht". Im allgemeinen Sprachgebrauch unterliegt q>cxu).oc; dieser Bedeutungsänderung nicht 8 • 1 Ausgeprägt ist dieses Gefühl auch im Lateinischen. paupertas hat keinen guten Klang, obwohl es nicht "Annut" bedeutet (Sen. ep. 87, 40: ego non video quid aliud sit paupertas quam parvi possessio). Man sagt lieber frugalitas, obwohl es sachlich das Gleiche meint (Sen. ep. 17, 5: frugalitas autem paupertas voluntaria est). 1 Vgl. Hildebrecht Hommel, Das hellenische Ideal vom einfachen Leben, s. 745. 1 nEV(Cl und !pClÜAo~ werden auch durch die philosophische Predigt der Einfachheit nicht in ihrer alten Bedeutung verändert. Das ist eine Warnung. Denn an der Geschichte eines Bedeutungswandels läßt sich die Macht einer Idee erkennen. Je nach ihrem Einfluß auf die Menschen einer Sprachgemeinschaft macht sie aus der Sonderbedeutung eines Wortes, die zuerst auf einen engen Kreis beschränkt ist, die allgemeine und "normale" Bedeutung. Vgl. zum Grundsätzlichen dieser Frage: Erdmann Struck, Bedeutungslehre. Grundzüge einer griechischen und lateinischen Semasiologie. = Hellenen und Römer in deutscher Gegenwart und Zukunft. Heft 1/2 (Teubner) 1940.
Zweiter Hauptteil
MOTIVGESCHICHTLICHE UNTERSUCHUNGEN
1. Homerische und archaische Zeit Homer zeigt das Lehen und die Ideale der alten Adelsgesellschaft. Vor allem in der Ilias sind die Menschen auf das Heroische ausgerichtet; kriegerische apt-d) und die durch Sie erworbene 't'Lfl.~ sind die höchsten Ziele, nach denen sie streben, und bilden den Inhalt ihres Denkens und Fühlens 1 • Selbstverständliche Voraussetzung dieses Lebensstiles sind ~:Aßoc;; und 7tAOÜ't'oc;;, die in Grundbesitz, Knechten und Vieh bestehen. Trotzdem liegt über diesem Leben ein Abglanz patriarchalischer Einfachheit, weder als Ideal, noch als Idylle empfunden, sondern als ruhig-selbstverständliche Seinsordnung gelebt. So stellt es der Dichter in seiner Schilderung ländlicher Arbeit auf dem Schild des Achilleus dar (~ 541-606) 2 • Einen leichten Wandel dieser Einstellung spüren wir in der Odyssee. Auch hier 3 ist der Adel noch ein geschlossener Stand mit starkem Bewußtsein seines Herrenturns 1md einer feineren Lebensart. Aber die Freude am Biotischen nnd "Realistischen" veranlaßt den Dichter, auch die kleinen Leute näher zu betrachten. Seine Teilnahme ist weit entfernt von einer Idealisierung ihrer Lebensform, hat aber eine nnvergeßliche Szene geschaffen, welche keimhaft bereits Motive der später verklärten Einfachheit des Hirtendaseins enthältt. Als Odysseus, von Athene in einen Bettler verwandelt, zurückkehrt, nimmt ihn Eumaios gastlich auf (~ 45ff.). Der "göttliche Sauhirt" lädt ihn, ohne lange nach dem Woher zu fragen, zu einer kräftigen Mahlzeit ein (~ 45-47). Er führt ihn in seine Hütte, schüttet auf ihrem Boden eine 1 A 277-279. I 496-498. Phoinix will Achilleus runstimmen: sogar die Götter sind veraöhnbar, obwohlsie-und damit wird der entscheidende Punkt der Adelsethik getroffen - "größer sind an Tapferkeit, Ehre und Kraft" (••• x11l .&col <XÜ'rol, I Twv Tn:p x11l !!dCwv
Homer. Hesiod
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dichte Streu von Reisig und Blättern auf und legt ein Ziegenfell darüber, auf dem er sonst selber schläft (~ 48-51). Diese kurze Begebenheit trägt Züge, die in späterer Zeit bei den Schilderungen einfa.chen Lebens wiederkehren: die Blätterstreu mit dem darüber ausgebreiteten Fell und die spontane Gastfreundschaft des einfachen Mannes, der von seinem bescheidenen Unterhalte bereitwilliger mit anderen teilt aJs die Reichen. Dion von Prusa meint geradezu, den Spuren moralisierender und allegorisierender Homera.uslegung folgend, der Dichter stelle den gastlichen Eumaios und die hartherzigen Freier bewußt einander gegenüber; er wolle dadurch seine Leser belehren, daß man echte Ga.stfreundschaft nur in den Hütten der Armen antreffe. Daß sie diese schöne Haltung ehrlich und ohne geheimen Widerwillen zeigen können, sei ein Lohn ihrer Einfachheit!. Auch bei Resiod haben wir die ursprüngliche Auffa.ssung des Dichters von der späteren Auslegung zu scheiden. Der Boioter führt uns in seinen Erga hinein in die einfache Welt der kleinen Bauern. Er ruft Perseus zu, er solle den Dünkel der Geburt ablegen und selber zum Pfluge greifen, anstatt durch Bestechung der Richter da.s Erbteil des Bruders zu erschleichen. Die empfohlene Arbeit aJs Ba.uer ist hart, nur der Schweiß führt zum Erfolg 2 und mehrt den Besitz; aber da.ra.uf beruht echtes Ansehen bei den übrigen Menschen 3 • - Aus diesen Versen des Resiod spricht kein eigentliches Lob der Einfa.chheit; auch für ihn bleiben Reichtum und Ehre erstrebenswert'. Sie äußern sich freilich in anderen Formen als beim homerischen Adel, und der Weg, welcher dazu führt, ist gänzlich verschieden: nicht glänzende \V affenta.ten, sondern unverdrossene Arbeit. Hier knüpft die spätere, vielfach moralisierende Auslegung a.n. Der n6vo~, bald a.ls Arbeit, bald allgemein als Mühsal und Kampf verstanden, ist das Mittel, um zur cX.pe:..-f) zu gelangen. Diese wird da.bei nicht mehr a.ls "Erfolg", sondern a.ls "sittliche Bewährung" aufgefa.ßt. Da. der Vers 312 dieser Deutung widerstrebt, wird er geilissentlieh 1 Dion von Prosa, or. 7, 82-83. Neben Eumaios nennt er noch das bekannte Beispiel des Bauern aus der euripideischen Elektra (424-425), der selber in ännlichen Verhältnissen haust, aber trotzdem bei der Ankunft der Fremden sagt: "Es ist genug im Hause, um auch diese noch für einen Tag mit Nahrung voll zu sättigen." 1 Op. 289: Tjjc; 3' cipt-rijc; l3pw-rcx &tol npodpo~~ l&-tjxcxv. 1 Op. 313: ll>..ou-r
8 884.8 Vllcber, Du eiDfache Leben
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Spätere Hesiodauslegung. Ursprüngliche Bewertung der rtevto:
übersehen oder kurzerhand umgedreht (Dion von Prosa or. 12, 11). Die Zeilen 287-292 werden aus dem Zusammenhang gelöst, und die beiden Wege- der beschwerliche führt zur Arete, der einladende und bequeme zur Kakia- werden zum Sinnbild der menschlichen Lebensgestaltung. Das älteste uns darüber erhaltene Dokument, die Fabel des Prodikos (Xen. Mem. II 1), benutzt bereits die Gestalt des Herakles, um die Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten dramatisch darzustellen. Seitdem durchzieht dieses Gleichnis die griechische Literatur in den verschiedensten Abwandlungen 1 • Namentlich in der kynisch-stoischen Diatribe dient es dazu, die Zuhörer und Leser zum Verzicht auf Ausschweifung und Genußsucht anzuspornen. Vielfach fordern diese Wanderprediger und Traktätchenschreiber nicht mehr zur "Einfachheit" im Sinne eines maßvollen und bescheidenen Gebrauchs der äußeren Güter auf, sondern zur kynischen Askese. Sie wiegen sich im Glauben, auch die tatsächlichen Bedürfnisse des Menschen seien erfunden und könnten durch strammes 1tovei:v beseitigt werden. Wir verfolgen daher diese Zusammenhänge nicht weiter, sondern kehren zur archaischen Zeit zurück. Die Einschätzw1g der 7t&VLIX in der Frühzeit können wir auch aus der Sprache erschließen. Die alten Ableitrmgen und Verwandten haben alle negativen Akzent: 1t6vo~; "Mühe", "Plage"; 7tOV1Jp6~; "sich abmühend", "arbeitend" > "schlecht". Umgekehrt werden Bczeichnrmgen wie öi.ßo<; "Wohlstand" allgemein zu "Glück", euoocq.tov(IX "Wohlstand" > "Glück". Erst mit den großen Umwälzungen des 7. und 6. Jahrhrmderts beginnt der überkommene Wertmaßstab brüchig zu werden. Äußere Vorzüge und innerer Wert werden nicht mehr als selbstverständlich gleichgesetzt, vielmehr messen die Dichter jener Zeit das Alte rmd Überlieferte an der veränderten Wirklichkeit, um es danach neu zu bewerten 1• Dies gilt für alle Gebiete des Lebens: für Krieg, Liebe und Reichtum. Das Ergebnis ist meist eine Revision der alten Auffassung; dabei wird fast durchgehend auch der Reichtum als Höchstwert abgelehnt. Aber noch wird der Gedanke der Einfachheit nicht ausdrücklich ausgesprochen. Er wird lediglich vorbereitet, indem entgegen1 Johannee Alpers, Hercules in bivio, Diss. Göttingen 1912. Siehe ferner: Bildebrecht Hommel, Per aspera ad 88tra (WiirLburger Jahrbücher für die Altertwnswissenschaft 4, 1949/50, S. 157-165), S. 159-165 (über das Weggleichnis); ders., Der Weg nach oben. Betrachtungen zu lateinischem Spruchgut (Studium Generale XIII[1960] S. 296-299), insbee. S. 297. 2 Vgl. zum folgenden Abschnitt für Solon und Tyrtaios Hildebrecht Hornrn e I, D88 hellenische Ideal vom einfachen Leben, S. 744 f.; für Archilochos, Sappho (und Anakroon) Bnmo Snell, D88 Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik (zuerst in: Die Antike XVII, 1941, S. 5-34; jetzt mit Anmerkungen und Nachweisen in: Die Entdeckung des Geistes, Harnburg o. J. [1946] [3 1955], S. 57-86) passim, insbes. S. 63-65.
Umwertung der Werte im 7.-6.Jh.
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stehende Vorstellungen gestürzt werden. Den freien Platz nehmen vorerst andere Leitbilder ein. Bezeichnend für die allgemeine Haltung ist Archilochos: die Rettung seines Lebens ist ihm mehr wert als die "Ehre", nie den Schild weggeworfen zu haben (fr. 6 D), und der kleine, krummbeinige, aber tapfere Offizier ist ihm lieber a.ls der lockengeschmückte und prachtvoll daherschreitende "Held" alten Stils (fr. 60 D). Auch wenn die zitierten Verse nicht unmittelbar mit dem Thema der vorliegenden Untersuchung zusammenhängen, so sind sie doch ein anschauliches Beispiel für die Umwertung der traditionellen Werte und lassen uns den Hintergrund erkennen, vor dem wir die folgenden Stellen aus anderen Lyrikern und Elegikern zu sehen haben. Unter den Fragmenten Sapphos ist für uns besonders aufschlußreich das Sehnsuchtslied an Anaktoria (fr. 27 a D). Hier liegt der Eingangspriamel unausgesprochen die Frage zugrunde: ·rt xwLa-rov;eine jener superlativischen Fragen, die im Denken der damaligen Zeit eine große Rolle spielen und uns noch im Zusammenhang mit der Erzählung von Solon und Kroisos beschäftigen werden 1 . Sappho nmmt zunächst Dinge, welche die anderen Leute a.ls das Schönste und damit, so darf man schließen, auch als das Begehrenswerteste und Vortrefflichste bezeichnen: prächtige Paraden von Reitern, Fußvolk und Flotten. Dem stellt Sappho ihre eigene Auffassung entgegen: Das Schönste ist "das, was man liebt". Deshalb wollte sie lieber den leichten Schritt und das hellstrahlende Antlitz Anaktorias als die kalte Pracht der lydischen Streitmacht sehen: das Schlichte, aber liebevoll Empfundene steht ihr höher als das äußerlich Glänzende. Gewiß, Sappho spricht nicht von "Einfachheit", sondern von der Prävalenz des epriv; aber festzuhalten ist im Sinne der oben getroffenen, allgemeinen Feststellung, daß hier die äußere Pracht und was damit zusammenhängt: Reichtum, Ansehen, Macht als höchste Werte abgeleimt und damit die positive Empfehlung der Einfachheit, wie sie späteren Zeiten eignet, vorbereitet wird. Einen älmlichen Eindruck gewinnen wir bei Tyrtaios. Er verwirft (fr. 7 D, fr. 9 D) die alten Ideale der agonalen Arete, der Schönheit, des Reichtum.8, der Rednergabe und des Ansehens und Ruhmes. Statt dessen verlangt er den Einsatz für die Polisgemeinschaft, welche der kriegerischen ocv8pd(X erst ihren Sinn verleihen kann 1 . Hier liegt in der Unterordnung des einzelnen unter die Allgemeinheit, gemessen an dem früheren Zweikampf der adligen Ritter, eine Schlichtheit, die in späterer Zeit wohl empfunden und verherrlicht worden ist. 1 Siehe u. S. 40 Anm. 3.-Zum Folgenden vgl. Bruno Snell, DasErwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik, S. 62 m. Anm. 1. 2 Vgl. hierzu Wemer J aeger, Tyrtaios. Über die wahre Arete (Sitzungsber. Berl. Akad. 1932); ders., Paideia I, S. 129ff., insbes. S. 130f.
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Solon
Aber bei Tyrtaios ist a.lles erst im Werden, und wir dürfen aus seiner Elegie sogar auch umgekehrt schließen, er habe gegen den Reichtum und da.s Ansehen eines M&IUles, wenn er nur cX.vöpdoc für die Polis bewies, nichts einzuwenden gehabt. Solon 1 schränkt in der berühmten Musenelegie (fr. 1 D) den natürlichen Wunsch nach Reichtum ein durch die Forderung, er müsse gerecht erworben sein. Denn der mit Unrecht und Gewalt erlangte Besitz ist ein fruchtbarer Nährboden für die Ate; nur der von den Göttern gegebene ist beständig. Damit ist nicht mehr 1tA.oü-ro~ als sichtbarer Erfolg der entscheidende Maßstab menschlichen Ha.ndelns, sondern die ö(x'Y). Wir dürfen auch nicht übersehen, daß Solon die Fähigkeit zum richtigen Genuß der Güter nicht geringer schätzt als den Reichtum selber. Gesundheit und Freude gelten ihm so viel wie Silber und Gold, Weizenflur und Pferdegesp&IUl (fr. 14 D, fr. 13 D). Der attische Elegiker äußert hier einen Gedanken, der im Volke allezeit lebendig war und sich im Skolion und Spruchgut erhalten hat 1• Wir finden in den Texten Solons kein persönliches Bekenntnis zur bescheidenen Lebensführung, sondern nur eine Warnung vor falsch erworbenem und gebrauchtem Reichtum. Allein die Überlieferung hat sein Andenken ausgestaltet zu dem Urbild des weisen und schlichten Mannes, der auch das athenische Sta.a.tswesen auf die Bahn der Einfachheit lenken und dort festhalten möchte. Er gilt als weitgereister M&IUl, der aber wenig gemein hat mit den reichen Kaufleuten seiner Zeit, sondern durch und durch einfach ist; ein Greis, den man in volkstümlich-schlichter Kleidung sehen k8JU1 3 • Er soll angeordnet haben, den im Pryta.neion Gespeisten einfaches Brot (!J.Ci~oc) vorzusetzen, gebackenes Brot (&p-ro~) nur a.n Festtagen zu reichen•. Vgl. Wemer Jaeger, Paideia I, S. 197-200. Vgl. Solon fr. 14D und 13D mit Skolion 7 D: U'Y LQt (V ELV J.I.~V ~pLOTOV civ8pt &vat-rCH, 8E:unpov 8i: ~uch xatl.ov yEVio&«L, TO -tp(-rov 8t 7tAOUTE~V ci86J.w~ xatt Tb tt-r«p-rov i)ßiiv fLE-rcX -rwv ~(Awv. Ähnlich sagt Theognis (255f.), seinerseits nur mit eigenen Worten wiederholend, was eine alte Inschrift am Letotempel auf Delos aussprach: x«llLO'tov Tb 8LX«L6-r«-rov, ).~o-rov 8' ÜyL«(VELV, 7tpiiyfL« 8~ npm-r«-rov, -roü TL~ lp~. Tb TU)(E~v. An Anklängen sind mir bekannt: Platon, Gorg. 451e (uyL«(v~:Lv ••• ), Arist., Rhet. 1394b 13 (ÜyL«(vELv ••. ). Platon (leg. II 661a 5) spielt auf daa Skolion an, Arist., Eth. Nie. 1099a 26 und Eth.Eud. 1214a 5, auf den Theognisvers als populäre Ansicht. Vgl. femer Sophokles fr. 329N1 • Die Bekanntschaft reicht bis in die Spätantike: s. Lukian, Pro lapsu inter salutandum c. 6 und die Oberliefenmg bei Stobaios IV 39, 9= t. 5 p. 904 W.-H. 1 Lukian, Scytha sive hospes c. 5. t Athenaios IV 137e. 1
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Theognis
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Als letzten Elegiker haben wir noch Theognis ins Auge zu fassen. Die vielfältigen und widersprüchlichen Thesen über Entstehung, Aufbau und Echtheit des Theognideencorpus legen es nahe, sich auf das Gesicherte zu beschränken: 1. Theogn. 1-254 ohne den "solonischen Einschub" 227-232; 2. die ausdrücklich an Kyrnos gerichteten Sprüche im Rest des ersten Buches. - Theognis lebt in einer untergehenden Ordnm1g 1 • Die Adelsarete war fest mit Öl..ßot; und 7tl..o\hot; verbunden, denn ohne diese war der großartige Zusclmitt des Lebens, wie er dem Adel eigen war, nicht möglich. Die allgemeine Entwicklung hatte jedoch die wirtschaftlichen Grundlagen erschüttert. So sieht sich Theognis in der ilm schmerzenden Lage, sich Gedanken über den Zusammenhang zwischen 7tl..oü't'ot;, 7ttv(oc und ciptrl} machen zu müssen. Immer wieder verwünscht er die Armut, welche die Menschen verderben muß. Aber an den empordrängenden Neureichen wird ihm auch klar, daß Reichtum allein noch keine Arete ausmacht. Aus dieser Erkenntnis heraus berührt er sich a.n manchen Stellen mit Solon, wo er sagt, daß nur gerechter Reichtum erstrebenswert ist; wo er versagt bleibt, sei es besser, in Armut als in Unrecht zu leben. Ich gebe hierfür die wichtigsten Zeugnisse: Die bittersten Verwünschungen der 7t&v(oc enthalten die Verse 173182:
q> &uy o v't' oc xoct tt; ßoc&ux~'t'&oc 7t6v't'ov pm't'&i:v xoct 7t&'t'p~wv, Kupv&, xoc't'' ~I..Lßoc't'wv 1 • Koct ycip ci~p 7t&V(1J 8&8!J.l)!J.~Ot; oÖ't'& n d7t&i:v 0 ö&' ~ p ~Cl L8uv Cl 't' Cl L' YAW(J(JOC 8e ot 8~8&'t'OCL. Xp~ ycip O!J.Wt; e1tt y=ijv 't'& xoct &Öpeoc vw't'oc &ocl..tiG(Jl)t; 180 8(~1jG&ocL xocl..&mjt;, Kupv&, AU(JLV 7t&V(Yjt;. Te&vti!J.&VocL, cp(l..& Kupv&, 7t&VLX.Piil ßel..'t'tpov civ8pt ~ ~&LV X,ocA&7tj) 't'&Lp6!J.&VOV 7t&V(1J.
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~ v 8~ XP~
Die 7t&v(oc ist eine entsetzliche Plage, doch man muß sich mit ihr als einem Teil der \Veltordnung abfinden. Da.s ist der Tenor der folgenden Distichen ( 155-159): M~7tO't't
't'OL 7t&V(lJV &U!J.O&p&' Ze:ut; ytip 't'oL -ro 't'cil..ocv't'ov emppen&L &llo't'& ru, ffio't'& !J.tV 7tAOU't'&LV, ffio't'& !J.Yj8tv lX,&LV. 1
Vgl. zu der einschlägigen Problematik Wemer Jaeger, Paideia I,
s. 267ff.
Diese Stelle bleibt eine lange Zeit bekanntes und geflügeltes Wort, wie Lukian, Apol. pro merc. cond. c. 10, zeigt. 2
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Theognis
(Vergleiche zum letzten Distichon auch v. 167f.:
"Au·
ru~ xcxx6v &a·n, 't"O 3' 0:-rpc:xet; ÖAßLot; 1 ou3dt; &:v3-p~1twv ()1t6aout; ~eALoc; xcx-3-op~.)
Dem steht die- fast resignierende- E.rkenntnis gegenüber ( 145-150): 145 BouAc:o 3' c:uaeßewv oJ.(yoLt; auv
XP~!J.CXGLV olxc:tv
~ 1tAOU't"ELV d:3(xwt; XP~IJ.CX't"CX 7tcxac1!J.evoc;. EV 3t 3LXCXLOaUV7J GUAA~ß3lJV 1tOCG1 d:pe~ , GTLV, 1toct; 3e 1"1 &:vl)p &:ycx&Ot;, Kupv&, 3(xcxLot; &~v. Xp~!J.CX't"CX !J.tV 3cx(!J.WV xcxt 1tcxyxc1x~ &:v3pt 3l3waLv, Kupv•, d:pt't-'tit; 31 oJ.(yoLc; &:v3pc1aL !J.OLp 1 tm:'t"CXL.
1
Oder 153f.: Tlx't"tL 't"OL x6poc; ößpLv, 6Tcxv xcxxi;'> ÖJ.ßoc; E1tlJTCXL &:v3-p~1t~, xcxt 6T~ !J.~ v6oc; &p't"Loc; ij.
V. 1155 lesen wir 2 : ' ~pcx!J.CXL 1!. ~ ' ~· &UXO!J.CXL" " .... ~ ~ ' !J.OL EL"IJ " 0 UX 1t/\OU't"ELV OUo r.M\1\CX ~l)v EX 't"WV ol.(ywv !J.l)3tv exov't"L xcxx6v.
Man hat Theognis schon abgewertet a.ls adligen Emigranten aus Megara, der keineswegs typisch sei für seine Zeit, sondern mit engem Horizont die Moral eines überwundenen Standes vertrete 3 • Dieses Urteil ist einseitig. '\V'ir können nämlich bei Theognis beobachten, wie die Auffassung der alten Adelszeit, Reichtum und Arete seien gleichbedeutend, endgültig abstirbt. Auch ein Mann, der so fest an der Tradition hängt wie Theognis, muß das anerkennen. Und er läßt sich, wenn auch mit sichtlichem Widerstreben, dazu herbei! Am Ende dieses Abschnitts über die archaische Zeit;stehe die Erzählung von Solon und Kroisos, die uns Herodot überliefert (I 29-33; vgl. auch I 86-88). Denn wenn sie auch ihre künstlerische Formung Herodot verdankt, so gehört doch ihr Typus und ein Großteil der darin geäußerten Gedanken dem 6. Jahrhundert an •. Der Doppelsinn von "reich" und "glücklich" liegt auf der Hand. Vgl. AP X 113 und Stobaios IV 39, 14 = t. 5 p. 905 W.-H. 1 Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums (3. Auß. 1912, unver. Nachdruck 1924 = Die Kultur der Gegenwart, hrsg. v. Paul Hinneberg, I 8), S. 34. • Vgl. die grundlegende Analyse von Otto Regenbogen, Die Geschichte von Solon und KröSU8. Eine Studie zur Geistesgeschichte des 5. und 6. Jahrhunderts (zuerst in: Das humanistische Gymnasium 41, 1930, S. 1-20. Nach einem Vortrag auf der Versammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Salzburg am 24. September 1929; jetzt in: Otto Regenbogen, Kleine Schriften, hrsg. v. Franz Dirlmeier, München 1961, S. 101-124 [auf diese Paginierung beziehen sich die folgenden Zitate] und: WalterMarg [Hrsg.], Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmatad.t, Wege der Forschung XXVI, 1962, S. 375-403). 1
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Die Erzählung von Solon und Kroisos
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Solon, der Gesetzgeber Athens, so berichtet Herodot, kommt auf seiner Weltreise auch nach Sardes. Kroisos nimmt ihn gastlich auf und läßt ihn durch seine Schatzkammern führen. Darauf stellt er ihm die Frage : Hast du auf deiner Weltreise schon irgend jemanden gesehen, der von allen Menschen der glücklichste ist? Natürlich erwartet Kroisos, daß er selbst als dieser Glücklichste bezeichnet werde. Solon erwidert jedoch: Ja, es ist der athenische Bürger Tellos. - \Varum er? - Tellos lebte zu einer Zeit, als es seiner Vaterstadt gut ging, sah seine Kinder und Enkel zu wertvollen Menschen heranwachsen und fand, nachdem es ihm für unsere Begriffe im Leben gut gegangen war, im Kampf für seine Vatersta.dt den ruhmvollsten Tod, den es gibt (c. 30). Und wer ist der Zweitglücklichste? Das Brüderpaar Kleobis 1md Biton. Sie verfügten über ausreichenden Lebensunterhalt und Kraft des Körpers und erhielten als Dank für den Dienst an ihrer Mutter das Beste, das Menschen widerfahren kann: einen sanften Tod und das Gedenken der Nachwelt (c. 31). Warum, so drängt Kroisos, stellst du diese einfachen Männer über den Glanz meines Lebens (c:ö8cxL!J.OVLl), im Munde des Kroisos eigenartig schillen1d zwischen "Reichtum" und "Glück")? '\Veil ich die Eifersucht der Gottheit kenne, die keinen Menschen seine Grenzen überschreiten läßt (c. 32, 1). Unsicher ist daher das menschliche Leben, kein Tag läßt sich vorhersehen (§§ 2-4). Erst das gute Ende gestattet es, einen Menschen glücklich zu preisen; Reichtum allein ist kein ausreichender Grund (§ 5). Der Reiche kann unglücklich sein, der in bescheidenen Verhältnissen Lebende (e1t' ~!J.tpl)v l:x.wv, !J.C:'t'p(w<; ~xwv ß(ou) glücklich, wenn er von Schicksalsschlägen verschont und vor falschem Ehrgeiz bewahrt bleibt. Ist er dazu gesund, mit Kindem gesegnet, wohlgestaltet und hat er ferner noch einen guten Tod, dann verdient er wirklich den Namen des Glücklichen (§§ 6-7). Aber, da ein Mensch schwerlich alle diese Güter zugleich für sich besitzen kann, so kann man mit Recht schon den glücklich nennen, der eine Mehrzahl davon auf sich vereinigt, in ihrem Besitz sein Leben verbringt und es in der Gunst des Schicksals schön beschließt. Denn entscheidend ist das Ende; vielen hat der Gott schon Reichtum verliehen, um sie nachher ins Elend zu stürzen (§§ 8-9). - Nach dieser Rede, die Kroisos verärgert, wird Solon in Ungnaden entlassen; der König findet die Ansicht, man solle die gegenwärtigen Güter gering veranschlagen und erst den Ausgang einer Sache abwarten, töricht (c. 33). In diesem Bericht können wir deutlich drei Stufen unterscheiden: die beiden sinnbildhaften Erzählungen von Tellos und dem Brüderpaar Kleobis-Biton, soda.nn die abschließenden theoretisch-deutenden Worte Solons. Jedes dieser drei Stücke wurzelt in einem verschiedenen Zeitalter und in einer anderen Geisteshaltung, wenn auch Herodot
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Solon und Kroisos
durch den Fortschritt vom Erzählen zum Deuten und durch den Gedanken des Endes alle drei zu einer künstlerischen und thematischen Einheit verschmolzen hat. Der älteste Bestandteil, die Erzählung von dem Athener Tellos, hat seinen Ursprung im 6. Jahrhundert. Damals haben die Griechen die geistige Auseinandersetzung mit dem Orient bestanden. Gegenüber seiner alten Kultur und ihrer Pracht, der sie viele Anregungen verdankten, gewannen sie ihre Unabhängigkeit, ja Überlegenheit durch die Selbständigkeit ihres Geistes und Witzes 1 • In den Sieben 'Veisen ist diese Haltung Person geworden. Über sie müssen zahlreiche Geschichten im Umlauf gewesen sein, von denen wir noch einige kennen 3 • Sie weisen ungefähr folgende Gestalt auf: ein mächtiger Herrscherin älterer Überlieferung oft Gyges, in jüngerer meist Kroisos - n1ft einen der Weisen und legt ihm eine Frage vor, manchmal in superlativischer Form 8 ; er erhält eine knappe, aber sinnige Antwort. Oft ver1 Vgl. Bruno Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen. Griechische und lateinische Quellen erläutert und übertragen, Reihe Tusculum, München 3. Aufl. 1952, S. 43. 1 Siehe für die Einzelheiten Otto Regenbogen, Die Geschichte von Solon und Krösus, S. 121 f. 1 Exkura über die auperlativiachen Fragen. Aus der umfangreichen, aber zersplitterten Literatur seien als unentbehrliche Materialsammlungen hervorgehoben: K. 0 h 1ert, Rätsel und Rätselspiele der alten Griechen, Berlin 2. Aufl. 1912, S. 107-116; Wolfgang Schultz, Rätsel aus dem hellenischen Kulturkreise. I. Die Rätselüberlieferung (=Mythologische Bibliothek III 1, 1909), S. 117-121; ders., Rätsel (RE I A, 1914, Sp. 62-125), Sp. 110-111 (wnfangreiche Stellensa.mmlung). Wichtige Hinweise zu Einzelheiten geben: J osef Martin, Symposion. Geschichte einer literarischen Form (=Studien zur Geschichte und Kultur des Altertwns, im Auftrage der Görres-Gesellschaft hrsg. v. E. Drerup, H. Grimme, J. P. Kirsch, XVII 1-2), Paderbom 1931, S. 136ff.; Wolfgang Schadewaldt, Legende von Homer dem fahrenden Sänger (Reihe: Lebendige Antike), ZürichjStuttgart, 3. Aufl. 1959, S. 48-50 mit den dazugehörigen Anmerkungen; Bruno Sn e 11 , Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik (s.o. S. 34 Anm. 2), S. 62 m. Anm. 1; ders., Leben und Meinungen der Sieben Weisen (s.o. Anm. 1), S. 43, 104-107; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Homerische Untersuchungen (=Philologische Untersuchungen, hrsg. v. A(dolf) Kießling und U(lrich) v. Wilamowitz-Moellendorff, Heft 7), Berlin 1884, S. 178 Anm. 22. Superlativische Fragen der Art: Was ist das Älteste? Die Zeit. Was ist das Größte? Die Welt (vgl. Plut. conv. sept. sap. 8 p. 153a) sind bei den Griechen von alters her üblich, auch wenn ihre Sammlung und schriftliche Überlieferung naturgemäß erst in späterer Zeit erfolgte. Sie gelten als willkommenes Mittel, den Scharfsinn des Gesprächspartners zu erproben und zugleich den eigenen Witz und die eigene Pfiffigkeit unter Beweis zu stellen. Daher haben sie ihren festen Platz in Streitgesprächen aller Art: beim Gelage, beim dichterischen Wettkampf, bei der Befragung weiser Männer. Teils werden sie als bloße Rätsel aufgefaßt, die der Unterhaltung dienen, teils als echte Weisheitsproben. Hauptorte der Überlieferung sind die Spruch- und Streitpoesie (z. B. der "Wettkampf Homers und Hesiods"), die Symposienliteratur (z. B. Plutarchs "Gastmahl der
Superlativische Fragen
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anlaßt ihre dunkle Kürze die Bitte um Aufklärung; sie wird gewährt, der Herrscher nimmt die Belehrung an oder verschmäht sie: die Geschichte ist aus. So haben wir uns auch den ursprünglichen Bericht Sieben Weisen") und die Apophthegmata weiser Mä.nner, wie sie z.B. in die Lebensbeschreibungen der Philosophen bei Diogenes Laertios häufig eingestreut sind. Eine besondere Fonn dieser superlativischen Fragen ist dann gegeben, wenn sie auf das zielen, W88 für den Menschen am besten, schönsten, angenehmsten oder erstrebenswertesten ist. So fragt im "Wettkampf" Resiod den Homer: W88 ist d&B Beste für die Sterblichen 1 Nicht geboren zu sein (Hesiodus ed. A. Rzach, Certarnen v. 71-73). Oder: W&B ist das Schönste für die Sterblichen ... ? Wenn Frohsinn das ganze Volk umfangen hält, die Schmausenden aber in der Halle dem Sänger lauschen ... (ibid. v. 76 eqs.). Das zweite Beispiel zeigt sehr deutlich, daß diese Fragen eine allgemeine, definitorische Antwort verlangen. Äußerst selten sind dagegen Ausdrucksweisen, die eine individuelle Antwort erwarten lassen, z.B. Welche Herrschaft ist die größte? So fragt der Barbar Kroisos den Weisen Pittakos (D. L. I 77) und rechnet natürlich mit der Antwort: Die der Lyder. Aber auch in diesem Falle wird ein individueller Name verweigert, und als Erwiderung folgt die Feststellung: Die der beschriebenen Tafel, d. h. die des Gesetzes. Hier liegt fonnal eine auffallende Parallele zur Frage des Kroisos an Solon vor, wo der Orientale Kroisos ebenfalls nach einer bestimmten Person fragt und dann enttäuscht wird. Ob sich in den Fragen, die sich auf das Beste und Schönste beziehen, der Zusatz ,.für die Menschen" ausdrücklich oder nur dem Sinne nach findet, ist für ihre Bedeutlmg gleichgültig. Die Antworten führen stets, wenn sie nur ernst gemeint sind, hinüber in den Bereich der Wertordnung und der Lebensauffassung des Sprechenden. Ganz besonders die archaische Zeit, in ihr vor allem das 6. Jahrhundert, liebt es, seine Ideale in dieser Fonn auszudrücken. Superlativische Fragen begegnen uns vorwiegend in drei Bereichen: a) Iamblichos berichtet, daß die Akusmata des Pythagoras, seinen Jüngern als Merksätze philosophisch-ethischer Lehre teuer, in drei verschiedenen Fonncn überliefert worden seien; eine davon sei die der superlativischen Frage (-rO ·d fLcXALO'TO:) gewesen, z. B. Was ist am gerechtesten 1 Opfer darbringen. Was ist das Beste? Die Eudaimonie (Iambl. Vita Pythagorae 82f. = Diels7 Pythagoreische Schule 58C 4). b) Ahnlieh sind manche Aussagen der Lyr-iker als Antwort auf ausgesprochene oder unausgesprochene superlativische Fragen zu verstehen. Oft werden dabei Gesundheit, Gerechtigkeit und Besitz des Geliebten als Schönstes und Erstrebenswertestes bezeichnet (vgl. o. S. 35 über Sappho fr. 27 a D und S. 36 Anm. 2 über Stellen aus Solon und Theognis). c) Ob die überlieferten Antworten der Sieben Weisen auf superlativische Fragen mehr als scharfsinnige, den Hörer verblüffende Lösungen eines Rätsels oder als Ausdruck bestimmter Wertvorstellungen anzusprechen sind, ist nicht einheitlich zu entscheiden. Sicher gehören zur zweiten Gruppe diejenigen Beispiele, in denen ursprünglich der Gott von Deiphi selber als Antwortgeber auftritt und erst später die Weisen, gewissermaßen als seine Vertreter, diese Rolle übernehmen. So berichtet Plinius (nat. hist. VII 151): Subeunt in hac rept.ttatiom Delphica oracula velut ad castigandam hominum vanitatem a tko emisaa. Duo aunt haec: Pedium felioiaaimum, qui pro patria proxif'I'UJ occubuiaaet. lterum a Gyge rege tune ampliaaimo terrarum conaulti: Aglaum Paophidium eaae feliciorem. Senior hic in anguatiaaimo Arcadiae angulo paroum, aed annuis tJictibu8 Zarge aulficiena praedium colebat; numquam ex eo egr688U8 atque ut e vitae genere
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Solon und Kroisos
über die Begegnung zwischen Solon und Kroisos vorzustellen; Kroisos fragt nach dem glücklichsten Menschen, Solon nennt den Namen Tellos, der König wundert sich und erhält weitere Aufklärung, worauf er Solon entläßt. Anderer Art und jünger ist die Kleobis-und-Biton-Geschichte. Sie ist argivischen Ursprungs und hält zuerst wohl nur die Erinnerung a.n ein merkwürdiges Ereignis fest: zwei junge, kraftstrotzende Männer werden nach einer rühmlichen Tat mitten aus den Freuden des Lebens vom Tod hinweggerafft. In Deiphi erhält das Geschehnis dann seine tiefere Deutung durch das pessimistische "Besser ist es für den Menschen, tot zu sein als zu leben", und in Deiphi hat auch Herodot die Erzählung höchstwahrscheinlich kennengelernt. Die Diskussion des reifen 5. Jahrhunderts in theoretischer Form gibt schließlich die Solanrede wieder. Die Ausführungen über die Autarkie (c. 32, 8) weisen in die Nachbarschaft der pseudoxenophontischen Athenaion Politeia., ja des Thukydides, obwohl der Gedankenführung noch eine gewisse Schwerfälligkeit anhaftet. Wichtiger als der fonnale Aufbau ist uns der Inhalt und hier vor allem die Frage nach der Bewertung von Reichtum und Einfachheit. Was ist, so betrachtet, der Sinn der Erzählung von Tellos? Sicherlich soll hier der Reichtum des Kroisos abgewertet und die vorschnelle, von den Wörtern lS>..ßoc; und e:u8ctL!J.OVLct geradezu provozierte Gleichung manifutum ut minima cupidine minimum in vita ma.li expertU8. Hier liegt offen· sichtlich zweimal eine superlativische Frage des Gyges an das Orakel zugrunde: Wer ist der Glücklichste? und: Bin ich der Glücklichste (oder: Wer ist glücklicher als Gyges)? In der gleichen Tradition bewegt sich die Frage des K.roisos an Solon; ihre F88Sung erweist sich als jünger, weil hier der Name des Gyges durch K.roisos ersetzt und an die Stelle des Gottes der Weise getreten ist. In späterer Zeit scheinen teils die alten Fragen und Antworten literarisch unverändert weitergereicht, teils neue Antworten auf die alten Fragen erdacht worden zu sein. Einen Anhaltspunkt für die erste Vermutung bietet Arietoteies in seinem Dialog Eudemos. Er erwähnt, wie Midas dem gefangenen Silen die bekannte Frage stellt: Was ist für die Menschen das Erwählenswerteste? und die verbreitete Antwort erhält: Nie ins Leben getreten zu sein (fr. 40 p. 1481 b 4-18; vgl. Cic., Tusc. disp. I 48, 114). Für die zweite Annahme können einige Verse der Dichterio Praxilla von Sikyon als Beleg dienen. In einem ihrer Fragmente (fr. 2D) antwortet der in die Unterwelt versetzte Adonis, wohl auf die Frage nach dem Schönsten auf Erden : "Als Schönstes lasse ich zurück das Licht der Sonne, danach die glänzenden Sterne und das Antlitz des Mondes und auch die reifen Feigen, Äpfel und Birnen." Hier zweifelt der Leser, ob die eigenartige Zusammenstellung von kosmischer Schönheit mit reifen Feigen, Äpfeln und Birnen nur verblüffen oder ob hier die Fülle des Lebens im Großen und Kleinen, im Kosmos und in der Süße des fruchtenden Herbstes, aufleuchten soll. Unabhängig davon, wie man sich entscheiden wird, ist bereits das Schwanken ein Beweis für das spielerische und gesucht geistreiche Element dieser Antwort, welches zwar nicht ihrer Form, wohl aber ihrem Inhalt geringeres Gewicht verleiht als z.B. dem Bekenntnis Sapphos: "Das Schönste ist, was jemand lieb hat."
Solon und Kroisos
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Reichtum = Glück zerstört werden. Aber wird statt dessen nun die Armut als Ideal empfohlen? Keineswegs. Es ist vielmehr das Leben eines durchschnittlichen griechischen Bürgers, das Solon dem Reichtum des asiatischen Königs vorzieht; es ist ein Leben, das sich in der Gemeinschaft der Polis und der Familie vollendet. Schon der Hinweis auf die blühende Schar der Kinder zeigt, daß dieses Dasein für griechische Begriffe keineswegs in harter Armut verlaufen kann. \Vir nehmen hier den gleichen Tatbestand wahr wie bei a.n.deren Zeugnissen des 6. Jahrhunderts: der Reichtum wird als Höchstwert durch andere Ideale ersetzt, hier durch das der Polis- und Geschlechtergemeinscha.ft, aber wir finden noch keine ausgesprochene Hinwendung zur Einfachheit. Etwas anders lautet die Aussage der Kleobis-und-Biton-Geschichte. Die beiden Brüder werden wegen dreier Dinge gepriesen: weil sie einen ausreichenden Lebensunterhalt besaßen (c. 31, 2: ~(oc; cipKe
Kl88Sische und spätkl88Sische Zeit
hundert angehörig ist zweierlei: einmal die theoretische Entschiedenheit, mit der die Frage angegangen und die errungene Einsicht ausgesprochen wird; zum andern die Feststellung (c. 32, 6f.), daß Reichtum und Macht mit Unglück verbunden sein können und dann das Glück, da.s der einfache Mann genießt, wenn er vor äußeren Schicksalsschlägen bewahrt bleibt, nicht ersetzen können. Blicken wir von hier aus auf die archaische Zeit zurück, so ergibt sich uns folgendes Gesamtbild: Am Anfang des dargestellten Zeitraums steht noch die bedingungslose Geltung der adligen Lebensform, mit ihr verbunden die Hochschätzung des Reichtums. Allmählich wird diese Vorstellung eingeschränkt und verdrängt. Am Ende der archaischen Zeit ist der Weg geebnet für die Erkenntnis, daß Einfachheit nicht nur ein Übel ist, da.s es mit würdiger Haltung zu ertragen gilt, sondern ein echter Vorzug sein kann. Diesen Gedanken gestaltet die folgende Epoche im einzelnen aus.
2. Klassische und spätklassische Zeit (5./4. Jahrhundert) Mit der Erzählung von Solon und Kroisos haben wir eigentlich schon die Schwelle von der archaischen zur klassischen Zeit überschritten, da die Schlußreflexion Herodot selbst und damit der Mitte des 5. Jahrhunderts angehört. Sie ist tms ein erster Beweis dafür, daß nunmehr ein bewußtes gedankliches Ringen um die Bewertung des Reichtums und der Einfachheit einsetzt. Dies ist jedoch kein einheitlicher Prozeß, der da.s gesamte griechische Denken gleichmäßig erfaßt; vielmehr sind sehr verschiedene Kräft~ da.ra.n beteiligt. Schon die Vorstellungen von dem, was Einfachheit sei, gehen weit auseinander, noch weiter die Meinungen über ihren Wert. Aber stets bleibt als gemeinsamer Grundzug dieser Auseinandersetzung festzuhalten, daß sie nicht mehr beiläufig, sondern mit Bewußtheit geführt wird. In ihrem Verlauf bildet sich im 5., noch mehr im 4. Jahrhundert bei einem Teil der griechischen Schriftsteller und Dichter eine eigenständige Wertschätzung der Einfachheit aus. \Vir haben hier eine klare Parallele zum Befund der \Vortuntersuchungen: kein Wort für "einfach" erhält vor dem 5./4. Jahrhundert seinen charakteristischen Inhalt; die später gebräuchlichen Ausdrücke (vor allem cbt>..oüc;) werden jetzt gebildet und in ihrer Färbung bestimmt.
Der Beitrag du philosophischen Denkens Die älteste philosophische Richtung, welche die menschliche Lebensführung in ihr Programm einbezieht, sind die Pythagoreer. Ihre Auffassung vom Körper als Grab der Seele (Diels7 Philolaos 44B 14)
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Pythagoreer
macht es verständlich, wenn sie die körperlichen Bedürfnisse aJs zweitrangig erachten. Offensichtlich erscheint eine Askese, welche den Stempel der Einfachheit trägt, aJs Teil der Ethik Wld Ausfluß der philosophischen GesamthaltWlg. Dazu mögen auch medizinische BeobachtWlgen von der heilsamen WirkWlg einer einfachen Wld ausgeglichenen Ernährm1g kommen (vgl. Diels7 Pythagoreische Schule 58 D 1). Die ÜberlieferWlg über Einzelheiten ist unsicher; sie besteht aus späten Berichten und AnspielWlgen der zeitgenössischen Komödien 1 • Trotz diesen Vorbehalten darf man aJs gesichert &rulehmen, daß die Pytha.goreer in einer Art mönchischer Einfachheit lebten Wld schon durch ihr Beispiel die philosophische Auseina.ndersetzWlg über diese Lebensform anregten. Pytha.gora.s wird gern der Ausspruch zugeschrieben (Stob. IV 37, 13 = t. 5 p. 882 W.-H.): l;ocpxoc;
8to/ijv,
lL~
ptyoüv.
Man ergänzt Wlwillkürlich: "Nichts weiter!" Nach später Tradition hat er auch nach diesem Leitspruch gelebt. MeTpL~ Tpo..dat~ np6<patCJW eüp6vu~ xcV..ijv
cSpou~ ~7tll~atv -roi~ nivljaL XP"'CJ(JLo~.
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Demokrit
muß demnach mindestens im 4. Jahrhundert die Losung der Pythagoreer gewesen sein. Ihre Lebensform gewinnt aber keinen Einfluß auf die breiten Massen, weil sie unlöslich mit ihrer gesamten Weltanschauung verbunden ist. Je nachdem diese anerkannt wird oder nicht, muß auch die Einfachheit der Pythagoreer großartig oder bemitleidenswert erscheinen 1 . Nicht von der GeringachtWlg leiblicher Bedürfnisse, sondern vom Ringen um die crwcppoaUV'fl her kommt Demokrit zum "einfachen Leben" 2 • Auch hier stellt uns die Überlieferung vor schwierige Fragen. Der ErhaltWlgszustand von Demokrits Schriften macht es von vornherein Wlmöglich, den Umfang anzugeben, den die Frage nach der EnthaltWlg von äußeren Gütern im Gesamtwerk einnimmt. Die für uns wichtigen Gnomen sind vor allem durch Stobaios der Nachwelt übermittelt worden. Dessen Auswahl aus dem noch im Umlauf befindlichen Gut der "Alten" war bewußt oderunbewußt einseitig. Die thematische Aufreihung der Sentenzen bewirkt nicht selten, daß der gleiche Autor Wlter verschiedenen Lemmata mit einander entgegengesetzten Meinungen zu Wort kommt. So müssen wir uns auch für Demokrit stets vor Augen halten, daß wir auf schwankendem Boden stehen. - \Veniger wichtig ist die Frage, was Demokrit, was seinen einzeh1en Schülern gehört. Gerade dadurch, daß die Sammlung der Gnomen offenbar schon früh von fremder Hand erweitert wurde, zeigt sich, wie sehr Demokrits Gedanken als allgemeingültig für seine Zeit angesehen werden dürfen. Trotzdem sollen im folgenden vor allem die Fragmente berücksichtigt werden, die als echt gelten. Zunächst gebe ich einige Zeugnisse für Demokrits GrundhaltWlg, die weder Reichtum noch Armut, sondern Ausgeglichenheit erstrebt: B 229 cpt~8w To~ xcxt A.~(.Lo~ XP1Jcr't"fj · f:v xcx~p<;) 8e xcxl. 8cx7tcXVl) · ywwcrxtw 8e liycx.S.oü. B 102 xcxi.Ov €v 7tcxvTl. Tb tcrov · Ö7ttpßoA.-1j 8e xcxt ~AA.t~~~~ oü (.LO~ 8oxttt. B 78 XP~tJ.cxTcx 7topL~t~v (.Ltv ovx tixpti:ov, €~ !i8txLl)~ 8e 7tcXvTwv xcixtov. 1 Einfachheit als Lebensregel, die auf dem Boden einer körperverneinenden Philosophie erwachsen ist, findet sich in der Antike immer wieder. Aber eigentümlicherweise gehen davon selten nachweisbare Wirkungen aus. Ein Beispiel, das man als abgewandelten Pythagoreismus charakterisieren könnte, bietet Phiion von Alexand.rien in seiner Schrift Ilepl. ßtou .&e(l)p7)'t'~xoü i} lxe't'(;)v (De vita contemplativa). Auch hier entspringt die Einfachheit der Therapeuten (s. vor allem c. 24---39) einem leibfeindlichen Spiritualismus (c. 34: -r6 ~th ql~Aoaoqld'v ~~~ov qlW't'Ö~ xptvoua~v dviX~, ax6-rou~ 8! -rO:c; -roü a w!L IX -ro c; civciyx1Xc;). 2 Vgl. Wilhelm Meyer, Laudes inopiae, S. 34f., und Wilhelm Schmid, Geschichte der griechischen Literatur I 5, München 194.8, S. 299. Während Meyer nur einige Fragmente isoliert behandelt, bietet Schmid die wichtigsten Stellen in Paraphrase dar, unterläßt es aber, die leitenden Gesichtspunkte herauszustellen.
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B 286 e:uwx~~ o e1tt !J.E't'p(mat X.P~!J.~Xaw e:u3-u!J.e6!J.evoc;, 8uaTUx~~ 8e o e1tl 1tOAAO'i:aL 8ua3-U!J.EO!J.&VO~.
Aus dieser Grundeinstellung heraus verstehen sich auch Äußerungen Wie
B 230 ~(o~ cX.ve:6p't'~Xa't'o~ !J.~Xxp~ 08o~ cX1t~Xv86xeu't'o~.
Weit zahlreicher überliefert sind jedoch die Warnungen vor Maßlosigkeit. Der innere Mensch ist krank, wenn er der Gier nach Reichtum nachgibt. Er beraubt sich selber seines Glücks; denn dieses liegt nicht im Besitz, sondern im richtigen Gebrauch. Wie soll ein solcher Mensch je die Bedürfnisse befriedigen, die er sich selber künstlich schafft? B 40 OU't'€ (JW(J.IX(JL\1 OU't'& XP~(l.(X(JL\1 e:u8!XL(J.O\IOÜatv &v3-pw1toL, ill' op&oaU\11) x~Xt 1tof.ucppocruv1l
B 171 e:u8!XL!J.OVLYJ oux t\1
~OCJX~(l.(X(JL\1 o[xe:'i: ou8t E\1 x.puacj). ~ux~ OLXYJ~PL0\1
8!Xt(J.O\IO~.
Gegen Scheingründe, welche die Jagd nach Reichtum rechtfertigen sollen, wendet sich B 222 ~ 't'tXVOL~ &y~Xv XPYJ!J.tX't'W\1 auv~Xyw~ 1tp0cp~Xa(~ ta't'L cpLA~Xpyup(YJ~ 't'p01tOV t8Lov &t.f.yxoua~X.
Man vergleiche hierzu noch B 50, B 219, B 7~74. Gegen Scheinbedürfnisse richtet sich B 223 wv 't'O crxljvo~ XP'fl~e:L, 1ticn 1ttipea't'tv &U!J.~Xpew~ &'t'e:p !J.6x.&ou XIXL 't'(XA(XL1t(l)p(YJ~. ox6a!X 8e !J.6x.&ou X!XL 't'(XA(XL1tWp(YJ~ XP'fl~e:L XIXL ~L0\1 cX.Ay,Jve:L, 't'o,J't'wv oux L!J.dpe't'IXL 't'O crxljvo~, cX.U' ~ 't'ljc; yvW(J.YJc; XIXXOYJ&LYJ.
Dem steht als positive Weisung gegenüber: B 21 0 't'pti1te:~~Xv 1tol.unl.e~X !J.tV -rUx.YJ 1t~Xp~X't't3-YjaLv, ~XU't'~Xpxe~X 8e awcppocruVYJ o
Hier berechtigt uns die scharfe Gegenüberstellung von 1tOAU't'&A~~ und dieses als "einfach" zu fassen. Auch anderweitig kennzeichnet Demokrit die IXU't'tipxe:L~X mit den gleichen Merkmalen, die sonst für die "Einfachheit" gelten : B 246 ~&VL't'eLYJ ~(ou IXU't'tipxe:LIX\1 8L8ticrxe:L o !J.i~IX yc1p XIXL a't'L~cX~ AL!J.OÜ XIXL '\ , ,, X61tOU y /\UXU't'(X't'(X LIX(J.IX't'IXo IXU't'!Xpx~c;,
Fast wie eine Vorwegnahme kynischer Gedanken muten folgende Fragmente an: B 234 uyLetYJV e:ux.ijaL 1t!XpcX &e:<7lv (XL't'EO\I't'(XL &v3-pw7tot, ~\1 8E: 't'IXU't'YJ~ 8uv!X(J.L\I E\1 EIXU't'O'i:~ exovn~ oux L(J(X(JL\1' cX.xp1XaL7J 8e 't'cX\I(X\I't'L(X 7tp~aaoV't'&~ IXU't'OL 1tpo80't'IXL 't'lj~ uyLdYJ~ 't'ijaLv em&u!J.ijatv ytvOV't'IXL.
• , ' \ B 240 OL• S:XOU(JLOL 1t0\IOL TI)\1
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, , • .~ ''\1.. IXXOU(JLW\1 U1tO!J.O•tj\l e:~cppo't'~p'lj\1 1t!Xp(X-
CJXS:UtX~OU(JL\1.
B 241 1t6voc;
auve:x~~ EA1Xcpp6't'e:poc; t!Xu't'oÜ au\l'tj&et"(J y(v&'t'IXL.
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Demokrit
Zu den wichtigsten Fragmenten für unser Thema. gehört B 284
~V !L~ rto"JJ..wv trtL&UtJ.t7)<;, 't'OC oA.(y~ 't'OL rto"JJ..oc 86C:eL. CJ'fLLXpoc yocp ÖpeC:L<; TtEVLlJV LCJ'oa&eveoc TtAOIJT<:l TtOLEEL.
Die Anwendung dieser Grundsätze im staatlichen Leben empfiehlt B 255
ÖT~v
ot 8uvcX!J.E:VOL Toi:<; !L~ e:x,ouaL x~t rtponA.ei:v TOA!J.tWCJ'L x~l. t.moupye:i:v X~L :X,~p(~ea&~L, EV 't'OIJT<:l ~8lJ XOCL TO OLJ('t'LpELV tVECJ''t'L X~L ('ro) ' ' T ' -ru _l eT~ ' ( pou<; YLVECJ'1T~L, ' Cl. ' -ru -1 ~!J.UVELV ' ' '':\ ':\ '':\ !LlJ' eplJ!J.OU<; e:~v~L x~L X~L OCIV\l)I\OLCJ' L x~l. 't'OU<; TtOAL~T~c; O!J.OVOOU<; e!v~L x~l. ru~ ciy~&ci, OCJ'CJ'~ ou8d<; ocv 8uv~L't'O X~'t'~AtC:~L.
Wir fassen Demokrits Haltung zusammen: Er geht aus von der Voraussetzung des rechten Maßes. Es zu erkennen, bleibt dem sittlich tüchtigen Manne vorbehalten. - Das Glück des Menschen beruht auf seiner inneren Einstellung, nicht auf äußerlichem Besitz. Denkt man diese beiden Gedanken zu Ende, so ergibt sich ohne weiteres, daß weder Geld noch Schwelgerei dem Menschen echtenGenuß verschaffen können. Deshalb mahnt Demokrit -und hierher gehört die Mehrzahl der überlieferten Gnomen - zum Verzicht, zur Beschränkung, zur Einfachheit. Der Begriff der Einfachheit ist bei Demokrit ein zweifacher. Die äußeren Kennzeichen sind bescheidenes Essen und Wohnen (B 246 !J.OC~~ x~t aTLßci<;), zwei Stichworte, die auch später immer wieder auftauchen, um den &nl..oü<; ß(o<; zu charakterisieren. Zu den inneren Merkmalen gehört vor allem die Freiheit von unnötigen Wünschen, die GtJ.LXpoc öpeC:L<; (B 284). Auch der Gedanke, freiwillig n6voL auf sich zu nehmen, um später gegen unfreiwillige Mühen gestählt zu sein, findet sich bei ihm. Diese Vorstellung der Einfachheit enthält bereits die wesentlichen Elemente der Ideen, welche später die philosophischen Schulen des Hellenismus über die Einfachheit verbreiten. Aber könnte nicht gerade diese Tatsache die Auswahl der überlieferten Sätze beeinßußt haben? Ich bin geneigt, das zu bejahen. Dennoch bleibt der philosophische Ansatz des Demokrit wichtig für die Folgezeit: von der aw
Sokrates geht es um den Menschen, um die cipeT1) -nj<; yu:x,.:rj<;. Mit seiner Entdeckung der Seele beginnt die Wendung nach innen, welche für die ganze spätere Antike charakteristisch ist. Doch bedeutet das für Sokrates nicht Preisgabe des Leibes, sondern Gesunderhaltung
Persönliche Einfachheit des Sokrates
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und Abhärtung durch ein Leben "spartanischer" Einfachheit!. Diese Art der Askese gehört in den weiteren Kreis der eyxpocTtLcx, der Mäßigung und Standhaftigkeit, mit der sich der Mensch über seine Triebe erhebt und die Vernunft in die Herrschaft einsetzt. Die Selbstbeherrschung verschafft dem Menschen eine innere Freiheit, die nicht von, sondern für die allgemeinen, kosmischen Gesetze Befreiung gewährt 2 • Ob bereits Sokrates diese später gängigen Gedanken ausgesprochen hat, wissen wir nicht. Die bekannte Unsicherheit über die genauen Einzelheiten seiner Lehre verbietet uns weitere AuBBagen. Immerhin gibt es aber über seine Lebensführung eine Reihe übereinstimmender Zeugnisse von Schülern und Zeitgenossen. Danach können wir wenigstens das Beispiel, das Sokrates der Mitwelt gegeben hat, beurteilen 3 • Sokrates lebt auffallend einfach. Am meisten wird die schlichte Kleidung hervorgehoben, von der Komödie mit der gebührenden Übertreibung in Lumpen umgewandelt. Sokrates geht im Tribon und meistens barfuß. Trotzdem erträgt er erstaunliche Kälte. Im Essen und Trinken begnügt er sich mit Speisen und Getränken, die einen Sklaven schon längst zur Flucht von seinem Herrn getrieben hätten. Aristopha.nes' Zusammenstellung der vier Worte (Aves 1282) '6 1 EX !J.WV E1tELVWV ~;;ppU1tWV EO'WXpCX't'OUV t
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macht aus ihm einen Vorläufer der Kyniker. In der Tat stempelt ihn später die Diatribe durch die Vergröberung dieser Züge zusammen mit Diogenes zu ihrem Stammvater. Es ist bekannt, daß Sokrates- im Gegensatz zu den Sophistenkein Geld für seine Belehrungen annimmt. Denn sein Standpunkt ist, die sittliche Bewährung komme nicht durch da.s Geld zustande, sondern das Geld und a.lle anderen Güter wüchsen den Menschen aus einwandfreier sittlicher Haltung zu (Plat. Apol. 30b). Vor allem in der Überlieferung bei Xenophon fordert Sokra.tes seine Mitunterredner immer wieder zur Einfachheit auf. Die Argumente kehren später in der Diatribe vielfach wieder und werden zu Allgemeinplätzen: Soll die Nahrung nur gut schmecken oder nicht vielmehr Vgl. Wemer Jaeger, Paideia 11, S. 94-96. Vgl. Wel;,;ler Jaeger, Paideia 11, S. 103-106. 1 Hans Gerstinger hat in seinem Aufsatz "Satyros' ß(o~ Eupud8ou" (Wiener Studien 38, 1916, S. 54--71) die wichtigsten Stellen als Exkurs (S. 60 Anm.) gesammelt. Sie sind: {persönliche Einfachheit des Sokrates) Plat. Symp. 174a, 220b, Phaedr. 229a. Xen. Mem. I 2, 1; 3, 5ff.; 6, 2ff. (Kernstelle), Aristoph., Nub. 103, 409ff. (be· dingt), Aves 1282; (Warnung vor mißverstandenem Streben nach Geld) Plat. Apol. 30b, Rep. I 349c; (Aufforderung anderer zur Bedürfnislosigkeit) Xen. Mem. 11 1, 1ff.; 1, 18ff.; IV 5, 9. 1
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83'8 Vllcber, Daa elnCacbe Leben
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Einfachheit in Platons 'Staat•
Gesrmdheit Wld Kraft verleihen 1 Dann ist aber die einfachste N ahnmg nicht schlechter als viele Leckerbissen. Und zu was haben wir Mantel rmd Sandalen 1 Doch wohl, um WlS vor Kälte rmd Verletzrmgen zu schützen. Braucht nrm Sokrates einen besseren Mantel, wenn ihm der jetzige zu diesem Zweck vollkommen genügt 1 Oder braucht er Sandalen, wenn er mit bloßen Füßen das Gleiche erträgt wie andere in Schuhen 1 Wer hat Sokrates trotz seiner einfachen Kleidrmg im \V inter je zu Hause gesehen 1 Die Einhelligkeit der Tradition in diesen Ptmkten beweist, daß der historische Sokrates in irgendeiner Weise, die wir jedoch nicht mehr genau bestimmen können, die Bedürfnislosigkeit lehrt und lebt. Seine Schüler nehmen diesen Zug in jeweils verschiedener Form auf. Er kehrt bei allen wieder, aber bei Platon anders als bei Antisthenes. In die philosophische GesamtauffasslUlg einbezogen, mit anderen Elementen durchsetzt, erscheint die Einfachheit in Platons "Staat" an zwei wichtigen Stellen: bei der GründlUlg des Staates und bei der ErziehlUlg der Wächter. Als Sokrates das Bild seines Staates entwirlt, schildert er zunächst eine einfache Gemeinschaft, die Glaukon abschätzig als "Schweinestaat" ablehnt (Rep. li 372d 4-6). Ein solch primitives Zusammenleben ·will ihm nicht gefallen. Uns beschäftigt zunächst die Frage: \Velche Züge trägt der Staat des Sokrates? Welche Motive verwendet Platon, um ihn als einfach zu kem1zeichnen? - Auf die Frage: \Velches Leben werden die Bürger der Stadt führen? antwortet Sokrates (Rep. li 372a 5-d 7): Sie sorgen zuerst für Speisen Wld Wein, dann für Kleider und Schuhzeug, sie bauen sich Häuser. Hier werden drei elementare menschliche Bedü1fnisse genannt: Essen rmd Trinken, Kleider rmd Unterkunft. Ihre Befriedigrmg ist vordringlich. Um diese drei Ptmkte kreist in der späteren Diatribenliteratur vielfach der ganze Gedankengang; in endlosen Variationen werden Beispiele gebracht, um zu zeigen, daß mit der hinreichenden Sorge für NahrWlg, KleidWlg, WohnlUlg die rechtmäßigen Wünsche, die nicht über da.s von der Natur Gewollte hinausgehen, erschöpft sind. Platon verwischt die nüchterne Wld steife Art der Disposition durch die Anschaulichkeit, mit der er das alltägliche Leben dieser Menschen ausmalt. "Sie gehen im Sommer leicht bekleidet rmd ohne Schuhe, im Winter hinreichend geschützt der Arbeit nach. Aus Gerste rmd \Veizen mahlen sie ihr Mehl, backen das eine, rühren da.s andere an rmd stellen so echte Maza oder Brot her, das auf einem Rohr oder eingewickelt in Blätter gebacken wird." Ferner schlafen sie auf einer Streu von Taxusrmd Myrtenzweigen, freuen sich ihres Beisammenseins, hüten sich gleichermaßen vor Armut Wld Krieg. Ihre Beikost ist Salz, Oliven, Käse; Zwiebel, Gemüse: zum Nachtisch gibt es Feigen, Erbsen, Bohnen, Myrten und Eicheln. Sie leben in Gesw1dheit und werden
"Schwelgender Staat" bei Platon
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alt. - Auch in diesem Beiwerk erkennen wir Merkmale, die für das Motiv der Einfachheit typisch sind: die Blätterstreu als Lager, einfache Früchte als Nachtisch, die Gesundheit und das hohe Alter als die Segnungen, die mit solcher Lebensführung verbunden sind. Sie ist bewußt geschieden von der Armut; sie ist vielmehr, da es keinen Krieg gibt und das gleiche Los auf die Nachkommen sich forterbt, der Ausdruck eines zeitlosen Glücks, wie es die Einfachheit beschert. Glaukon ist mit diesem "Schweinestaat" trotzdem unzufrieden und will ihm einen "modernen" gegenüberstellen (372d 7-e 1). Sokrates geht darauf ein, stellt jedoch vorher unmißverständlich klar: Der echte Staat, zu dem er sich bekennt, ist der einfache Sta.a.t; den üppigen Sta.a.t des Glaukon hält er für eine Entartung 1 • Die -rpuq>waoc 7tOA~~ wird von Platon ebenso kurz wie anschaulich charakterisiert (372d 7-373e 8). Auch hier handelt es sich um Züge, die in der späteren Zeit zur Schilderung der Üppigkeit stehend geworden sind. Man kann sie folgendermaßen zusammenfassen: 1. An die Stelle der einfachen Früchte treten ausgesuchte Leckerbissen a.ls Beikost und Nachtisch. Gern werden 7ttfLfLOC't'oc genannt. 2. Die einfache Ausstattung der Wohnung, welche durch die Blätterstreu (a-r~ ß~~) als Lager angedeutet wurde, muß kostbaren Möbeln (axe:u"l) weichen, vor allem den xi.'Lvoc~ und -rp~7te:~oc~. Weitere Einrichtungsgegenstände aus Gold oder Elfenbein kommen hinzu; die Wände werden mit Gemälden geschmückt (~wypocq>LOC, xpua6~. tAtq>oc~). 3. Luxusund Modeartikel kommen auf; als Beispiel dienen Parfüms (f!upoc). 4. Die Menschen gestatten sich einen ausgedehnten Liebesgenuß, die Hetären halten ihren Einzug in die Stadt. Auch hierbei handelt es sich um ein typisches Merkmal des luxuriösen Lebens; die spätere Diatribe unterläßt es selten, die Hetären - nicht aus moralischen Bedenken, sondern als Kennzeichen eines verwerflichen Aufwandesanzuprangern. - Gleichzeitig mit den gesteigerten Bedürfnissen der Bewohner erscheint der ganze Troß der "Kultur-" und "Dienstleistwlgs"berufe: Maler, Musiker, Dichter; Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Theaterunternehmer; Handwerker, die weiblichen Schmuck herstellen, Hauslehrer, Ammen, Wärterinnen, Mägde, Friseure, Bäcker, Köche (373b-c). Nach griechischer Auffassung gehörten 1 ou 7t6>..,v c:rxo7tOÜ!J.~ !J.6vov ••• lill<X xa:t -rpUfPWG«V 7t6>..'v (372e 2-3), ... 'iJ !J.Ev oÖv cXAlJ~hvTj 1t6>..'c; 8oxei !J.O' dva:' ~v 8,e)..7J)..u&«!J.E:V, lr>a7ttp oy,ljc; ~c;· e:t 8' a:Ö ßou>..ta~h:, xa:t f9Af:Y!J.«Lvouaa:v 1t6>..'v &twpljaw~. (372e 6-8; mit den medizinischen Ausdrücken öy,ljc; und f9Af:Y!J.«Lvoua« bezeichnet Platon die nonna.le und die entartete Stadt).- Trotzdem entwickelt anschließend Platon sein Modell der Philosophenherrschaft am Staat Glaukons. Er wußte zu gut, daß man nicht einfach zur Struktur der alten öy,~c; 1t6>..'c; zurückkehren konnte. Seine Antwort auf die fortgeschrittene Zeit und die Differenzierung des Lebens lautete vielmehr, den fähigsten Stand- eben die Philosophen- auch zum herrschenden zu machen.
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Einfachheit der Wächter in Platons •staat'
da.zu auch die schon genannten Hetären. Schließlich zwingt die ungesunde Lebensführung die Bewohner der Stadt, sich auch nach Ärzten umzusehen. Die neue Stadt kann ihre Wünsche nicht mehr aus eigenen Mitteln befriedigen. Desha.lb greift sie zum Krieg (373e 2). Seine Ursache ist die vergrößerte Gier nach Besitz (373d 9: XPlJf.LcX't'WV X't'~aLc; &m:Lpoc;), eine mittelbare }'olge der Üppigkeit. Der einfache Staat kennt demgemäß keinen Krieg (372c 1). Das ist eine Ansicht, die wir bei vielen griechischen Staatsphilosophen und Moralisten finden. \Vir können sie geradezu aJs einen allgemeinen Zug dieser Literatur betrachten. Die Begründung lautet folgendermaßen: Kriege werden geführt, um Beute einzubringen, "die Kriegskunst ist von Natur aus auf Erwerb gerichtet, die Jagd ist ein Teil von ihr" (Aristot., Pol. I 1256b 23). Menschen, die nicht dem schrankenlosen Erwerbsdenken verfallen sind, schweben nicht in der Gefahr, einen Krieg zu beginnen; Völkerschaften, die ihren Nachbarn nicht durch reichen Besitz reizen, können unbesorgt in Frieden leben. Nur Aristoteles (l. c.) deutet an, daß der Krieg ohne Gedanke an die mögliche Beute dem menschlichen Streben nach Macht und Machtausübung entspringen kann. Wir können nicht entscheiden, ob die Form, welche in dem betrachteten Abschnitt des "Staates" die Vorstellung der Einfachheit erhalten hat, von Platon neu geschaffen wurde oder in der Literatur seiner Zeit gängig und vorgebildet ist. Die folgenden Kapitel werden auf jeden Fa.ll zeigen, daß Gedanken und Ausdrucksmittel später zum festen Vorrat der philosophischen und halbphilosophischen Erörterungen über die Einfachheit gehören. Eingeordnet in da.s Gesamtanliegen des Staates erscheint der Begriff der Einfachheit bei der Erziehung der Wächter. Diese umfaßt geistig-seelische Bildw1g und körperliche Ertüchtigung. Beide Zweige stehen unter dem gleichen Leitgedanken, wie die Parallelen, die Platon häufig zieht, beweisen. Da.s ist bei der Interpretation zu beachten. Die musische Erziehung geht aus von der Nachahmung. "Alle Nachahmung ist seelische Verwandlung, also vorübergehende Preisgabe der eigenen seelischen Form und ihre Anähnlichung an das Wesen des Darzustellenden, sei er ein besserer oder ein schlechterer." 1 Desha.lb sollen die Wächter in ihrer musischen Ausbildung nichts Niedriges oder Weichliches nachäffen, sondern die Einfachheit pflegen. Diese wird dabei verstanden als das Festgefügtc, Klare, Überschaubare, weil es aus wenigen Grundelementen aufgebaut ist (Rep. 111 397). Demgemäß wäre der Gegensatz zu dieser Spielart der ci7tA6't'lJc; die Uneinheitlichkeit, die Vermischtheit 2 • Von dem Inha.lt der NachWemer Jaeger, Paideia TI, S. 297. Vgl. die Gegenüberstellung (Rep. VIII 54 7 e): ToU~ TO~OUTOU<; ifv3pcx~, &ll
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a.hmung wird dieses Urteil auch auf ihre Form ü hertragen; denn Dichtung und Musik stehen nach griechischer Auffassung stets nebeneinander, verschmelzen oft zu einer Einheit, z. B. im Chorlied oder in der Lyrik. Deshalb darf nur die Tonart, die einem ernsten Manne ansteht, beibehalten werden (399a 5--c 6), von den Instrumenten werden Flöten, Harfen und Zimbeln ganz abgeschafft, Leier, Kithara. bleiben (399c 7-d). Warum behandelt Pla.ton die Musik so eingehend 1 Weil sie das Ethos dessen, der sie hört und ausübt, entscheidend beeinflußtl. Nur solche Rhythmengeschlechter werden im Staate geduldet, die Tapferkeit oder Besonnenheit ausdrücken. Der Gedanke der Einfachheit, wieder im Sinne der Überschauba.rkeit und festen Struktur, wird nochmals eingeschärft (399e 7-11: !L~ 7tOLx(J.ou~ (sc. pu&!J.OU~) .•• !J."Ij8t 7tCXV't'o8cx7tcX~ ßcXat~~). Dieser Begriff der Einfachheit wird nun in Beziehung gesetzt zur einfachen Lebensführung. Im Gegensatz zur 8(cx~Tcx der Berufsathleten (403e 8-404a 8) soll die Ertüchtigung der Wächter einfach (404 b 7: cX7tAlj) sein. Dabei ist zunächst lediglich gemeint, daß sie nicht in eine Vielzahl ausgeklügelter Vorschriften und Übungen zersplittert sein dürfe, sondern die klare Überschaubarkeit und die feste Struktur, wie sie die musische Ausbildung aufweisen soll, ebenfalls besitzen müsse. Diese geforderten Eigenschaften werden nur erreicht durch eine Lebensweise, die von allem Überfluß befreit. Das ist der Punkt, an dem cX7tA6't'"tj~ und e1heJ.e~cx, um es griechisch auszudrücken, sich verenugen. Platon geht aus vom Beispiel Homers, dessen Helden nichts Gesottenes, geschweige denn Fische essen, sondern nur gebratenes Fleisch (404 b 10--c 7). Diese Tatsache wird immer hervorgehoben, wenn es gilt, den &:7tJ.oü~ xcxt eu't'tA~~ ß(o~ der homerischen Helden sinnenfällig zu machen 2 • Platon kennzeichnet stichwortartig, aber sehr anschaulich die gegenteilige Auffassung. Er lehnt syra.kusa.nischen Tafelluxus, korinthische Hetären und attische Kuchen ab. Die allgemeinen Topoi, um Üppigkeit zu beschreiben- man vergleiche die besprochene Stelle Rep. II 372d-373e - , werden hier individualisiert. Durch die Beschneidung des Luxus - die Krieger erhalten das ausreichende Maß, nichts darunter, nichts darüber (111 416d-e) gewinnt ihr äußeres Leben (at't'"ljO'~~ xcxt 8lcx~Tcx, 404d 11) den Charakter 1 Rep. ITI 401 d 6-e. Diese Auffassung spiegelt sich in dem bekannten Ausspruch Darnone wieder, eine Änderung der Musik (bedeute eine Änderung der Erziehung und) rüttle (deshalb) an den Gesetzen (Rep. IV 424c). - Vgl. dazu die über weitere Zusammenhänge orientierende Arbeit von H. Abert, Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik. Ein Beitrag zur Musikästhetik des klassischen Altertwns, Leipzig o. J. (1899). 2 Vgl. die Plutarchstelle, welche oben auf S. 25 angeführt ist, und die alJ. gemeinen Erörterungen unten S. 92ff.
Wirkungen der &:7tA6't"IJc; nach Platon
der Einfachheit. Diese ist nicht nur äußerlich, sondern auch mit der in der Musik geforderten vergleichbar. Daher erhält der gesamte Lebensstil nunmehr den Namen oc7tA6'"J~ (404e). Im folgenden beschreibt Platon die Auswirkungen dieser oc7tA6'"J~· Leibliche Einfachheit bewirkt Gesundheit (uyte:Loc), musische Besonnenheit (aw
Verfall des Staates bei Platon. Gesamtkonzeption
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cbtA6't"t)<; der Wächter zerfällt. \Viederum bedeutet dies zweierlei: ihr einheitliches inneres Wesen zerspringt und die einfache Lebensführung wird aufgegeben. Das tritt ein, wenn die Eltern bei der Ehe die heilige Zahl nicht mehr beachten und minderwertige Wächter zeugen, die einer Mischung aus dem goldenen und ehernen Geschlechte Resiods gleichen (Rep. VIII 546e ff.). Da.nn entsteht der spartanische Staat. Er hat einen Rest des Idealzustandes bewahrt : der Kriegerstand gibt sich nicht mit Ackerbau und Handel ab, er findet sich noch zu gemeinsamen Mahlzeiten und körperlichen Übungen zusammen (547b 8-d. 8). Trotzdem macht sich bemerkbar, daß es sich um "gemischte" Krieger (54 7 e 2: ouxe·n cbtAOÜ<; • • • <XUQ: (.LELX't'OU<;) handelt. Eine Gruppe, die verhältnismäßig einfach geblieben ist, die Willensmenschen (54 7 e 3: .&u(.Lm:L8t~c; 't't xocl &:7t)..oua't'epouc;), geben den Ton an und finden ihre Befriedigw1g im dauernden Kriegführen. Im geheimen sind sie geldgierig und verschwenderisch; denn ihre "Einfachheit" ist nicht die Frucht einer innerlich bejahten Erziehung, sondern das Ergebnis äußerer Dressur (548a.-b). Platon spricht hier ein deutliches Wort über den spartanischen Staat. Er gilt vielen der damaligen Griechen als Muster, und die zeitgenössischen Moralisten betrachten ihn gen1 als ein Ideal der Einfachheit. Die Verklärung der spartanischen und kretischen Verfassung, wie wir sie später noch betrachten, beginnt in dieser Zeit. Platon erkennt durchaus gewisse Vorzüge Spartas an. Aber er rügt, daß die geistige Seite der Einfachheit, das umfassende Erziehungsideal der Wächter, völlig fehlt. Ohne diese höhere &:7tA6't'"l)c;, die man als Konzentration auf das Wesentliche, als Vermeidung a.lles Überflüssigen und Verwirrenden bezeichnen kann, ist äußere Einfachheit zum Untergang verurteilt. Denn sie ist nicht mehr natürlicher Ausdruck innerer Haltung, sondern Fassade. Fassen wir zusammen: Platon setzt sich im "Staat" an verschiedenen Stellen mit dem Gedanken der Einfachheit auseinander. In der äußeren Kennzeichnung benutzt er Formen und Ausdrücke, die in der Literatur a.llgemein gängig sind. Aber er erschöpft sich nicht in einer Schilderung der äußeren Einfachheit, sondern bezieht sie in seine Gesamtkonzeption ein. Die einheitliche Beziehung des Denkens auf die awcppoaUV"I), der körperlichen Verfassung auf die uy(tLOC, werden in einem selbstgenügsamen Leben ohne jeden Luxus verwirklicht. Die umfassende &:7tA6't"t)<; der \Vächter ist untergeordnet der Gesamtaufgabe des Staates: der Gerechtigkeit. Die Einfachheit wird bejaht, vertieft und höheren Zwecken dienstbar gemacht: auf diese Formel kann man Platons Stellungnahme bringen. Platon führt die Gedanken der philosophischen Tradition schöpferisch weiter, ein anderer Schüler des Sokrates, Antisthenes, ahmt die äußeren Eigenheiten seines Meisters nach. Er nimmt sich die Einfachheit des Sokrates zum Vorbild und macht sie zur Grundlage
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Antisthenes. -
Euripides
eines neuen Lebensstiles. Wir brauchen nicht a.lles zu glauben, was die Tradition von ihm berichtet; denn diese schließt von Diogenes und späteren Kynikern auch a.uf ihn. Aber die verläßlichen Quellen 1 weisen a.lle in die gleiche Richtung. Mit einer gewissen Monotonie heben sie immer wieder die gleichen Punkte hervor: Einfachheit in der Kleidung, Einfachheit im Essen und Trinken, Einfachheit im Wohnen. In gleicher Absicht wie die späteren Kyniker ignoriert Antisthenes die äußeren Bedürfnisse bis zum höchstmöglichen Gra.d. Selbstgenügsamkeit bedeutet für ihn Unabhängigkeit, die den Weg freimacht zur cX.ptT'f) und zur eö8cxLfJ.O'VLcx.
Nachhall sophistischer und sokratischer Gedanken 'Uber die Einfachheit bei Euripides, Aristophanes, Xenophon Wenn a.uch da.s Urteil über Euripides als Dichter der griechischen Aufklärung und als Verkünder sophistischer Thesen heute nicht mehr in dieser Schärfe aufrechterhalten werden kann, so dürfen wir doch mit einer gewissen Vorsicht schließen, da.ß in manchem Streitgespräch seiner Stücke sophistische oder a.uch sokratische Gedanken nachklingen, deren erste Fassung uns verloren ist. Demgemäß haben wir schon im 5. Jahrhundert mit der lebhaften Debatte über ein Thema. zu rechnen, da.s sich mit dem einfachen Leben eng berührt: das Leben der arbeitenden Menschen, da.s 7tovdv der 7ttv'1)Tt~. Euripides ergreift ga.nz entschieden die Partei der 7tt"V-YJT&<; und eifert gegen den Luxus und da.s Wohlleben seiner Zeit. Er stellt ihr als Beispiel da.s 7to'V&L'V des Herakles entgegen. Nur ehrliche Arbeit und Mühe ka.nn uns da.s höchste Gut, die Arete, erwerben. Der 'Va.hlspruch, den er verkündet (Heraklid. 625), lautet: &: 8' cX.pt-r<X ßcx("Ve:L 8L& !J.6x..&cu'V 2 • Da.s griechische Wort 7t6"Vo<; in seiner doppelten Bedeutung "Arbeit" und "Mühe" hilft mit, a.us der Arbeit ein sittliches Ideal zu formen; wenn die Anstrengung zur Arete führt, kann die Arbeit- beides erscheint ja. nur a.ls verschiedene Nuance des gleichen Wortes -nicht unehrenhaft sein und muß einen Wert in sich enthalten. Arbeit ist, wie bei der Besprechung der 'Vortfa.milie 7t&"V(cx gezeigt, da.s Kennzeichen der 7tEv'IJT&<;. Der 7tl..ouaLo<; arbeitet nicht. Jede Hochschätzung des 7t6"Vo<; führt folgerichtig zu einer günstigeren Beurteilung der "Armen" im Vergleich mit den "Reichen". Freilich geht die Rechnung nicht glatt a.uf, und Widersprüche bleiben weder bei Euripides noch bei anderen Zeitgenossen a.us. Häufig widersprechen sich vor a.llem die Xen. Mem. li 5, Conv. 3, 8; 4, 34ft'.; D. L. VI 1 ff. Siehe weitere Stellen bei Hans Gerstinger, Satyros' (Wiener Studien 38, 1916, S. 54-71), S. 59. 1
1
ßlo~
Eopntl8ou
Euripides
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Fragmente. Meistens umfassen sie nur zwei oder drei Zeilen und sind in einem spätantiken Sammelwerk überliefert; nicht selten legt die geschliffene Formulierung den Verdacht nahe, sie seien aus einem Redeagon ausgehoben. Dann können sie natürlich der siegenden oder unterliegenden Partei gehört haben, und Rückschlüsse auf die Einstellung des Autors sind schwierig. Wenn man z. B. bedenkt, daß Stobaios auf ein Lemma t7ttXwoc:; 7te:\fttXc:; ein anderes ~6yoc:; 7te:\fttXc:; folgen läßt - in beiden ist Euripides reichlich vertreten - , verstärkt sich das Mißtrauen gegen vereinzelte Fra.gmente 1 • Besser ist es, sich an die vollständig überlieferten Stücke zu halten, bei denen der Zusammenhang eine sicherere Interpretation ermöglicht. Zwei Tragödien sind es vor allem, die nnsere Aufmerksamkeit beanspruchen: "Elektra" nnd "Orestes". In der "Elektra" hat der Bauer, dem die Königstochter übergeben wurde, diese nicht berührt. Er lindert vielmehr ihre Not so gut er kann. Diesen Zug hat Euripides neu in die Sage eingeführt; er geht weit über das bisher Übliche hinaus 2 • Aischylos gestattet sich im Vorübergehen den Hinweis (Agam. 771 ff.), daß Recht auch in der rauchigen Hütte lebe. Aber bei Euripides ist der einfache Landmann "die am nnmittelbarsten ansprechende Gestalt des ganzen Stückes" 3 geworden. Hier hebt ein neues Denken an. Im "Orestes" begegnen wir dem W18cheinbaren Bauern nochmals. Gegen Feigheit nnd Gemeinheit tritt er für den bedrängten Orestes ein (917). Er ist ein Ehrenmann, weil er nur selten in der Stadt und auf dem Markte zu sehen ist. "Er ist auf seiner Scholle geblieben, ein einfacher Bauer, einer von denen, die allein ein Land heil und gesnnd erhalten!" Die negative Ergänzung bieten die "Bakchen": Der Hirte, welcher aus Berechnung den Unglücksrat gibt (717), hat seine schlimmen Künste in der Stadt gelernt. 1
Man halte z.B. nebeneinander Euripides fr. 142N' XPUaOV ~«ALG't'!X ßou)..o~!XL 86!J.OL~ lxe~v· X!Xt 8oü)..o~ WV y
und Euripides fr. 20N1 ~~ 7tAOÜ't'OV d7t7)c;" ouxt &!Xu!J.«~(a) &e6v, &v XW XcXX~G't'O~ p~8l
Wie wäre demnach fr. 95N1 einzuordnen? Als Stellungnahme für oder gegen den Reichtwn? Ähnlich stehen fr. 22; 247; 326, 6ff.; 362, 16f.; 395N1 (alle abwertend über die 7tEVL!X) gegen fr. 327; 641 N 1 (zugunsten der 7tEVL!X). 2 Seine Wiederaufnahme bei einem späteren Autor (Xenophon von Epheeoe in den Ephesiaka) ist bemerkenswert. Vgl. Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, S. 782. 8 Albin Lesky, Die griechische Tragödie, Stuttgart 2. Auß. 1958, Kröners Taschenausgaben, S. 217. Die folgenden Zitate finden sich ebd. S. 218f. Vgl. auch das Werk des gleichen Verfaaaers, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 1956, S. 182.
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Aristopha.nes
Die Stadt ist nicht mehr die Bildnerin guter Menschenart, nur noch auf dem Lande gedeiht das Gute. Dort hat sich die alte Einfachheit der Sitten erhalten. Mit dieser Verbindung: Einfachheit und Ehrlichkeit wohnen auf dem Lande, leitet Euripides bereits hinüber in die hellenistische Zeit. Ähnliche Gedanken spricht Aristopha.nes aus. Im Agon des "Plutos" verteidigt er die Einfachheit grundsätzlich gegen alle Anwürfe des Chremylos; in a.nderen Stücken schildert er die stillen Freuden des einfachen Landleben8. Wir erkennen hierin eine allmähliche Umformung des Motivs der Einfachheit durch die Einbeziehung ländlicher, ja. idyllischer Züge. Die bukolische Dichtung des Hellenismus wird das fortsetzen. Im Agon des "Plutos" (467ft'.) glauben wir eine zeitgenössische Debatte über das philosophische Ideal der Einfachheit zu vernehmen 1 • Die 7te:v(Cl wird zunächst abgehoben gegen die 7t-rwxdCl. Sie ist nicht das Leben der Habenichtse und Hungerleider, sondern da.s auskömmliche Dasein der arbeitenden Menschen. Reichtümer können diese freilich nicht zurücklegen. Aber die tägliche Mühe bleibt nicht unbelohnt und nährt ihren Mann. Sie hält ihn körperlich gesund, während die wohlhabenden Müßiggänger a.n Schmerbauch und Speckwaden leiden. Ehrlichkeit und Ehrbarkeit zeichnen die Gesinnung der 7ttVl)'t"tc; aus; Schande und Laster wohnen bei den Reichen. Das sind die gängigen Argumente der philosophischen Diskussion, welche die von der 7te:v(Cl erzwungene q>LA07tOV(Cl gern in Zusammenhang bringt mit uy(e:LCl und awcppoO"UVl) und gerade deshalb der 7te:v(Cl den Vorzug vor dem 1tA.oü-roc; gibt. Die Entsprechungen zu Platons "Sta.a.t" liegen auf der Hand 2 • Damit steht das Lob des Landlebens, welches Aristopha.nes immer wieder in seine Komödien einflicht, scheinbar in keinem inneren Zusammenhang. Er ist aber trotzdem gegeben, wenn wir das bei Euripides 1 Vgl. Hildebrecht Hammel, Das hellenische Ideal vom einfachen Leben, S. 746f., und Wilhelm Meyer, Laudes inopiae, S. 1-16. - Als Vorlage des Ariatophanes nimmt Meyer wie sein Lehrer Pohlenz (Aus Pistons Werdezeit, Berlin 1913, S. 372 Anm. 1) ein tyxW(L~ov Ttevt~ eines sonst unbekannten Sophisten an (S. Sf.). Auch wenn man diese These ablehnt (zur Kontroverse siehe Homrnel, S. 746 Anm. 19), wird man die zahlreichen rhetorischen Züge, die Meyer im Stil und Aufbau des Agons beobachtet hat, anerkennen. 2 Siehe oben S. 54--55. Wilhelm Meyer, Laudes inopiae, S. 38ff., macht auf folgende genaue Entsprechungen aufmerksam: Plat. Rep. IV 421 d - Aristoph. Plut. M7ff. (der Arme arbeitet, der Reiche nicht), Plat. Rep. VTII 556d - Aristoph. Plut. 559-561 (der Arme ist ein besserer Soldat als der Reiche). Der Gedanke, de.ß bei den Reichen keine Arete wohne (Aristoph. Plut. 564), kehrt bei Platon öfter wieder: rep. VIII 550a-51a, 555c; leg. 742a, 743&--b. (Hierbei ist die AU888ge, es fehle die r:U8Cl~(Lovh gleichbedeutend mit mangelnder Arete, da sich beide gegenseitig bedingen.) Eine Parallele hierzu findet sich auch im Traditionsgut bei Stobaios (IV 31, 88 = t. 5 p. 766 W.-H.): ~Loyevou~;· "E>.eyr: 8t (Ll)n: l;v 1t6M:L Tt>.ouat~ (Ll)n: l;v olx(~ &.pr:rl;v olxeiv 8uv(Xa&~n.
Aristophanes, Xenophon
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Gesagte beachten. Gewiß k8JUl die von Sophisten oder Philosophen gerühmte m:v(cx oder &. 7tcx).l..cxyev-rcx -rwv xcx -r' &.yo p t:Xv 1t p cx y !J.~'t'WV, xeX't'Yj!J.tvov ~wy~ptov olxe'i:ov ßoo'i:v 5 e7t&t't'' axouetv 7tpoßcx-r(cuv ßAYJX,CU!J.tvCUV -rpuy6c; 't'E cpcuv~v dc; AEX~VYJV w3-0U!J.tv'Yjc; Ö~<j> 8E: :x,p1j0"3-cxt 0'7ttvt8(otc; -re xcxt x(x_I..IXtc;, XCXL !J.~ 7ttpt!J.tVELV e; &.yopocc; lx_3-V8tcx, 't'pt't'CXLCX 7tOAU't'L!J.YJ't'CX ßeßiXO'IXVLO'!J.tviX 10 t7t' l:x,&uo7t~l..ou :x,e:tpt 7t1Xpcxvo!J.CU't'~T7J· In gewisser \Veise findet diese Einstellung ihre Fortsetzung in Xenophons Oikonomikos. Auch hier wird sich die bäuerliche Welt ihres selbständigen Wertes bewußt. Sie entbehrt jedoch der Innigkeit und auch des Burlesken, wie sie manche aristophanische Szenen aufweisen1. Dafür ist die Sicherheit gewachsen, mit der sich dieser Bereich gegen das nervös bewegte städtische Treiben abhebt. Landbau bedeutet Mehrung des Guts und gleichzeitig eine gesunde Übung für den Körper (c. 5, 1). Unverkennbar ist der ethische Wert, welcher der Arbeit beigemessen wird - das beliebte r.6voc;-Motiv wird hier wiederaufgenommen - , wenn es heißt: die Erde gewährt ihre Güter reichlich, verlangt aber, daß man sich darum müht (c. 5, 4). Durch diese einprägsame Lehre erzieht sie die Menschen zur Gerechtigkeit (c. 5, 12) 2 • 1
Vgl. z.B. Aristophanes, Pax 1140ff. Die gleiche These stellt Xenophon auf in Inst. Cyri 8, 3, 38:
ax~7rTwv xcd am:(pwv xo:L j.LclAO: !..tLXpOV Y!l8LOV, OU j.LEvTOL 7rOV7Jp6V ye:, «ll« 7r~VTWV 8LXIXL6TO:TOV' 6, TL y«p MßoL a1t'tpj.Lo:, xo:Aw<; xo:L 3Lxo:(w<; &.1te:8t8ou. Seine kl888isohe Fonnulienmg 2
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Philosophisch begründete Einfachheit im Hellenismus
Damit ist auch bei Xenophon die Brücke geschlagen von dem heilsamen Zwang zur Arbeit zum sittlichen Vorzug dieses Lebens. Gerecht, fromm, gastfreundlich (c. 5, 12. 10. 9) sind die Landleute, die es führen. Wir fassen das Ergebnis unserer Untersuchung für die klassische Zeit zusammen: In der philosophischen Auseinandersetzung entsteht a.llmählich eine fest umrissene Vorstellung der Einfachheit. Die bescheidene Lebenshaltung wird mit körperlichen und sittlichen Werten (Gesundheit; Ehrbarkeit, Besonnenheit) in Zusammenhang gebracht. Die Arbeit wird als ethisch bedeutsam anerkannt. Manche Züge des Ideals werden vor allem der Landbevölkerung zugeschrieben.
HelleniBmua und Kaiserzeit
3. Das philosophische Ideal des einfachen Lebens Der Hellenismus ist die Zeit des Ausgleichs. Bei allen philosophischen Systemen tritt die Ethik in den Vordergrund. Überall steht der einzelne, sein Weg zum Glück im Mittelpunkt. So kann es nicht ausbleiben, daß die Frage nach den äußeren Lebensgütern und -umständen in allen Schulen erörtert werden muß. Die Peripatetiker erkennen den Reichtum unter bestimmten Voraussetzungen als förderlich für die Eudaimonie an. Sie bleiben daher wie die Skepsis der mittleren Akademie - für unsere Untersuchung außer Betracht. Die Stoiker erklären Reichtum und Armut für belanglos. Dieser !X8~&.<popov-Standpunkt vermag theoretisch zu keinem Ideal der Einfachheit zu führen. Aber die \Virklichkeit des Lebens kennt mehr Arme, die sich unglücklich fühlen, als Reiche, denen ihr Vermögen eine echte Last und Sorge ist. Deshalb müssen die Stoiker, um die Bedeutungslosigkeit der äußeren Güter für das Glück nachzuweisen, in der Praxis ein Ideal der Einfachheit entwickeln. Sein ursprünglicher Ansatz lautet nicht: Einfachheit ist der Weg zum Glück, sondern: Auch in der Armut liegt die Möglichkeit zum Glück; viele schlichte Menschen sind ihm nähergekommen aJa die Reichen. Vor a.llem in den Diatriben der kaiserzeitlichen Stoa werden wir diese stoische Auffassung kennenlemen. Die Epikureer gehen aus von ihrem höchsten Wert, der ~8ovij. Sie ist durch fortwährende Erschütterungen der Seele in Gefahr. Reichtum beschwört sie so gut herauf wie öffentliche Wirksamkeit. Daher ist er ein Hindernis auf dem \Veg zum Glück. Der sichere Pfad führt durch die Einfachheit. Epikur hat seine eigene Lehre verwirklicht. In seinen verdankt dieser Gedanke jedoch dann Vergil : Agricolasl Quibus . . . humo facilem victum iU8tisai1114 tellm (Georg. II 459f.).
1 Fundit
Stoa: theoretischer Ansatz
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Schriften nnd in seinem Leben tritt uns daher ein nneingeschränktes Ideal der Einfachheit entgegen. Der Standpunkt der Kyniker ist nneinheitlich. Sie bilden trotz einheitlichem Namen keine zusammenhängende Schule nnd haben keine feste Lehre. Was bei ihnen nach dem Zeugnis des Diogenes La.ertios "Einfachheit" heißt, ist in Wirklichkeit oft -widerliche Bettelei und La.ndstreicherei. Nur einzeh1e Vertreter kommen daher für uns in Betracht, z. B. Kra.tes von Theben nnd die stoisierenden Kyniker der Kaiserzeit wie Dion von Prusa.. Schließlich haben wir die Möglichkeit, Theorie und Praxis dieser Richtungen miteinander zu vergleichen. In den Schriften Lukia.ns besitzen wir lebendige, wenn auch manchmal satirisch übertriebene Bilder aus dem Alltag der damaligen Philosophen; soweit sie nnser Thema., die Stellung der einzelnen Schulen zur Einfachheit, betreffen, sollen sie die gebührende Berückaichtignng erfahren.
Einfa.Ghheit na.Gh stoischer A ulfassung Die alte Stoa. ist die Philosophie des Logos. Er ist das Merkmal des Menschen, das ihn vom Tier unterscheidet. Seine Entfaltung ist die eigentliche Aufgabe des Menschen, wenn er nicht ziel- nnd planlos umherirren will. Damit kommt den leiblichen Gütern von vomherein nur beschränkte Bedeutnng zu. Sie sind für die Arete, und damit für die Euda.imonie, ohne Belang (ci8toccpopov). Auch die Teilnng der ci8toccpopcx in 7tp01JY!J.tvcx nnd cX7to7tpol)y!J.tVcx ändert da.ra.n nichts: denn die 7tpOlJY!J.tVcx wie Gesw1dhei t, Kraft, Verstand sind zwar Daseins bedingnngen zur Verwirklichung der Euda.imonie, aber sie stellen kein Verdienst des einzelnen dar, der sie besitzt!. Während es theoretisch durchaus möglich ist, im Reichtum kein Hindernis auf dem Weg zur Arete zu erblicken - denn er ist ja. ci8toccpopov 2 - , sehen sich die Gründer der Stoa. vor der umgekehrten Aufgabe: die Bedeutungslosigkeit der Armut nachzuweisen. Denn ihre ersten Schüler gehören den niederen Schichten a.n 3 • Auch die Tatsache, daß Zenon ursprünglich Schüler des Kra.tes von Theben gewesen ist, wirkt nach. Das "Linsengericht" und seine einfache Lebensweise sind sprichwörtlich t. In seiner Schrift vom Staate übernimmt er daher 1 Vgl. Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2. Auß., Göttingen I 1969, II 1955, I S. 111-122. 1 Siehe Seneca, De vita beata 22, 1: maior materia sapienti viro (est) animum explicaMi suum in divitiis quam in paupertate. a So D. L. VII 16. ' Max Pohlenz, Die Stoa I, S. 140. Diogenes Laertios berichtet (VII 26f.): 'Jiv 8c xotp't't:ptxw't'ot't'oc; xrxl ). t 't'6 't' rx 't' o c;, ~rrup(j) 't'pocpjj XPW!U"oc; xrxl 't'plß(l)vt AertT<j), (27) wcrre >.tyea&cu irt' otu't'oü·
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Zenon. Kynisierende Tendenzen
vieles, was ebensogut von Diogenes stammen könnte. Die kynische Abneigung gegen Konvention und Kultur 1 findet sich darin so gut wie die Idealisierung des einfachen Sparta.. So ist eine spätere Notiz durchaus glaubhaft, Zenon bestimme, die einfachen und billigen Dinge a.ls förderlich zu benutzen 1 . Leider erfahren wir nicht, wa.s Zenon im einzelnen unter "einfachen" Dingen versteht. Ähnlich dem Kyniker befreit sich der Weise stoischer Konfession durch den freiwilligen Verzicht a.uf die äußeren Güter und die bewußte Hinwendung zur Einfachheit von vielen Hindernissen, die ihm da.s Leben auf dem Weg zur Arete entgegenstellen könnte. Er braucht zwar a.uf die Kultur nicht zu verzichten, aber er kann sie entbehren und räumt ihr deshalb niemals einen entscheidenden Einfluß a.uf sein inneres Leben ein. Auf der Unabhängigkeit von der Außenwelt beruht seine innere Freiheit 3 • Um dieses Zieles willen verharrt der Stoiker wie der Kyniker in der Einfachheit. Soweit es die kümmerlichen Bruchstücke gestatten, soll dieser Begriff nun näher erläutert werden. Eine Scheidung zwischen Stoischem und "eigentlich" Kynischem scheint dabei unzweckmäßig; die beiden Richtungen nähern sich in den praktischen Vorsohriften einander weitgehend a.n, und die Stoa saugt im ersten und zweiten Jahrhundert v. Chr. den Kynismus weitgehend auf. Tov 8' o!h' iip XEL!J.WV xpu6eL~, oux 6!J.~po~ cbrdpwv ou cpAo~ -ljeAtoLo 8at!J.cit::natt, ou v6aoc; atlv/j, oux ~po·nc; 8Tj!J.ou hatpEi ~J.ivoc;, ill' ISy' &.-retp~c; &.iJ.cpl 8t8atmcr:xAtn 'ti-rat-ratt wx-ratc; -re xatl ~iJ.Otp. Katl Cl)LATJiJ.WV cp1jalv oihwc; h 8pcijJ.Ot't'L · Cl)LAOaocptOtV XOtL~V yap OU't'Oc; cpLAOGOcpEL, mtvijv 8L8cicnu:L xatl iJ.Ot&r)-r&:c; AOtj.LßciveL · d~ lip-ro~, ~ljlov laxcic;, irmttEiv G8wp. fj81j XOtl elc; 7tOtpOLj.LtOtv <JXE8ov i:x~p1jat:V' tAeyno yoüv in' OtU't'OÜ' Toü cpLA.oa6cpou ZTjvwvo~ tyxpat-rla-repoc;. ma: XOtl Iloact8Lmtoc; Me-rOtcpEpOj.LevOL~. &a-r' iv i)j.lipattc; 8lxat dvatL 8oxdv ZTjvwvoc; tyxpat-rlanpov. Vgl. jedoch ibid. 131 Max Pohlenz, Die Stoa I, S. 137. Athen. VI 233b--c. Die Stelle ist textkritisch umstritten. Schweighäu.ser, dem sich die revidierte Ausgabe von Liddeli & Scott anschließt, liest: Z~vwv 3! o &.7t0 -rijc; a-roli~ nciv-rat -r&: IDat 7tA~v -roü voiJ.tiJ.w~ atu-roic; [sc. -r<j) ;xpua<j) xatl -r<j) &.p"(Up(f)] XOtl XcxAWc; ):pija&OtL VO!J.ta~ &.8LclcpopOt ... , -ri)v xpijaLV 8t 'tWV AL 'tWV XOtl &, 7ttpL 'tTWV npo7Jyouj.Livwc; noLEia&atL npoaTciaawv . . . Die Handschriften bieten -rW\1 AL Twv xatl nepLnwv. Schweighäusers Konjektur führt zu der Folgerung, Zenon habe ein bewußtes Ideal der Einfachheit angestrebt; die Lesart der Handschriften bleibt beim &.8Lcicpopov·Standpunkt. 3 Vgl. Max Pohlenz, Die Stoa I, S. 155. 1
2
Teles
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Unter den Fragmenten des Teles 1 findet sich eine Diatribe m:pt m:vloc<; (IV a Hense). Aus ihr gewinnen wir ein anschauliches Bild dessen, was die stoisch-kynische RichtWlg unter Einfachheit versteht. Metrokles, so heißt es, schloß sich zuerst Theophrast Wld Xenokrates an. Später wechselte er über zu Krates von Theben. Was ist der Unterschied? Bei Theophra.st brauchte man Sandalen, die nicht geflickt sein durften, ein leichtes feines Obergewand (:x,J..ocv(<;), Sklaven zur Begleitm1g, ein geräumiges Haus, weißes festes Brot (&p-ro<;) für die gemeinsamen Mahlzeiten, ausgesuchte Beigaben, süßen Wein, (das Geld für) die Umlagen der Bewirtm1g; einen solchen Lebensstil sah man bei Theophrast und Xenokrates als liberal an. Anders bei Krates! Dort genügte der -rplß(J)v, statt Weißbrot und ausgesuchter Beigaben kamen !J.ii~oc und Gemüse (J..oc:x,civtoc) auf den Tisch; wenn es kälter wurde, begnügte man sich damit, den Tribon doppelt zu falten. Sommers schlief man in Tempeln, winters in Bädern. Mit der bündigen Formel: ~pxe:~-ro -rp(ß(J)vL xoct !J.OC~1l xoct J..oc:x,ocvlm<; (Teles p. 41, 3 ed. Hense) ist das kynische Ideal umschrieben. Liegt das für Wlser Gefühl nicht schon jenseits der 7te:v(oc, gehört es nicht schon zur 7t't'(J)X,e:Loc? Aber nach dem eigenen Sprachgebrauch der Kyniker handelt es sich hier um "einfaches" Leben. Das Leben bei Theophrast ist &Ae:u&tpto<;, bei Krates wird Metrokies tX.
Anonymes Diatribengut
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sich begnügen mit dem Vorhandenen. Dieser sokratische Satz 1 durchzieht die Predigt des Teles wie ein roter Faden 2 • Aus der Diatribe eines unbekannten Wanderlehrers 3 gewinnen wir die Ergänzung: Anklage des Reichtums. Wir könnten dieses Thema übergehen, enthielte nicht seine hier vorliegende Ausführung eine Reihe von Aussagen, die nur der Umkehrung bedürfen, damit sie ein Lob der Einfachheit darstellen. Die Vorwürfe gliedern sich nach dem nunmehr bekannten Schema: sittliche und körperliche Nachteile des Plutos für seine Besitzer. Anhangsweise wird die schädliche Auswirkung auf das Gemeinschaftsleben gestreift.- Unsere Beachtung verdient vor allem der mittlere Teil: Nachteile des leiblichen Befindens (p. 763). Reichtum verleitet zur Völlerei und "sammelt eine Überzahl an Krankheiten". Er schneidet dem Menschen die Gelegenheit ab zu eigener körperlicher Arbeit (cxuToupytcx), dem Gesündesten, was es gibt. Aus den üppigen Lebensgewohnheiten erwächst eine allgemeine Verweichlichung des Körpers. Der Schlaf flieht eben deswegen die Reichen, weil sie zuviel Vorbereitungen darauf verwenden, aber nicht müde sind. Keine Ruhebetten aus Gold und Elfenbein, keine Decken aus Purpur, keine Fußbänke, keine Säulenhallen können die Wirkung ehrlicher Arbeit ersetzen. - Der Reichtum verhindert auch den Genuß der naturgegebenen Schönheiten. Er läßt es nicht zu, entsprechend den Jahreszeiten zu leben. \Ver sich dauernd gegen Hitze und Kälte schützt, wird sie immer weniger aushalten können, wird immer verzärtelter werden; nur wer sich ihnen aussetzt, wird robust genug, sie zu ertragen. Denn er bleibt in der (natürlichen) Lebensordnung. - Wir haben es in dieser Argumentation mit einer Sammlung von Topoi zu tun, wie schon in der Paraphrase deutlich 1 Plat. Gorg. 493c 5--7: ä.vTl Toü &.7t).~cmllc; x«l &.xo).ä.aT(a)c; lxovToc; ßtou ..Ov xoaJLt(a)c; x«l To'Lc; &.el 7t«poüaLv lx«vwc; x«l t~IXpxouVT(a)c; lxovT« ßtov t).ea~«L.
Die Belegstellen sind: (p. 11, 4) &.ll' ~JLE:LI; OU 8uvä.JLE~« 1
ä.pxei:a~«L TOLt; 7t<XpOÜCJLV 6T«V XIXl Tpuqrn 7t0AU 8L8WJLEV •• , ; (p. 38, 4) 6 Kp&.T1)t; 7tp0t; ..Ov t7tL~'I)TOÜVT« 'Tt ouv JLOL laT«L cpL:koaocp~a«vTL ;' ••• • (p. 38, 10) ßu:,an &.pxouJLevoc; -ro'Lc; 7t«poüaLv.
(p. 52, 4: Tyche ist eine Dichterin, welche jedem seine Rolle zuweist. Der "gute" Mann verlangt keine bessere Rolle, sondern spielt die seinige vortrefflich.) viXutXyoc; yeyov«t;, w ..Ov v«u«yov (sc. 8d ae tiy(a)vt~ea&IXL) • dv'l)c; t~ E:Ö7t6pou eö TOV 7tiv'I)TIX ' !pJLE:Wc; h JLLXpOLCJL X<Xl !pJLE:VOt; tv JLI:YcXAOLCJLV' tXpXOUJLEVOt; X«l ta&ijTL T7i TIJXOUCJ!j XIXl 8L<XtTn X<Xl 8L<XXOv(q:. (p. 41, 12: Metrokies schloß sich Krates an) ... ou CJ7t1Xvt~(a)V wa7ttp 1rpo Toü oöat tv8rijc; wv, &.ll' &.pxouJLevot; To'Lt; 7t1XpoüaLv. 8 Erhalten bei Stobaios IV 31, 84 (t. 5 p. 761ft'. W.-H.). Die Zuweisung an Teles ist ungerechtfertigt, wie Otto Hense im Anschluß an Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff nachgewiesen hat (Teletis rell., proleg. ed. alt., p. XVIIf.). Die ungeklärte Autorschaft spielt in unserem Falle keine Rolle.
Anonymes Diatribengut. -
Musonius
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wird. Es handelt sich um folgende Assoziationsketten: Reichtum Völlerei - Krankheit; Reichtum - Verzärtelung - schlechter Schlaf - tiefer Schlaf kann auch durch die kostspieligsten Dinge nicht erkauft werden, sondern ist Lohn der Arbeit. An das Stichwort "Kostbarkeiten" knüpft sich hier eine Aufzählung teuerer Möbel, die sonst oft getrennt ist; stehende Beispiele sind die Ruhebetten aus Gold und Elfenbein, die Purpurdecken; der Wohnluxus wird durch die Säulenhallen angedeutet. -Ein Topos, der eigentlich zum Stichwort "Gesundheit" gehört, schließt ab: der Reiche ist wetterempfindlich und kann daher die Schönheiten der Natur, besonders den Rhythmus der Jahreszeiten, nicht genießen. Es leuchtet ein, daß bei einem Preis des einfachen Lebens die Stichworte gleich sind (Gesundheit Abhängigkeit von der Witterung - Fähigkeit, die Jahreszeiten und die Natur zu genießen - Schlaf; Unterkunft - Einrichtung); nur das Argument, das aus ihnen gewonnen wird, verläuft in entgegengesetzter Richtung. Der klischeeartige Charakter des Traktates ist für die Topik der stoisch-kynischen Predigt besonders aufschlußreich; das mag rechtfertigen, daß wir ihn hier behandelt haben. In der t"berlieferung der Diatribe klafft eine Lücke zwischen Teles im 3. Jahrhundert v. Chr. und Musonius im 1. Jahrhundert n. Chr. 'Vir kö1men den Verlust verschmerzen; detm die späteren Stücke sind in der Thematik unverändert, lediglich die Form hat sich leicht gewandelt. Deshalb vermögen auch nur einzelne Vertreter der Gattung, Musonius, Dion, Epiktet, durch den sittlichen Ernst, mit dem sie hinter ihrem Anliegen stehen, über das Niveau des Allgemeinen und Bedeutungslosen hinauszuwachsen und verdanken wahrscheinlich diesem U rnstand ihre Erhaltung. Uns interessiert an dieser Stelle vorwiegend die Gedankenwelt des Musonius Rufus, während wir Dion erst dann, wenn wir alle Voraussetzungen seiner gelungensten Schöpfung, des Euboikos, überblicken, betrachten werden. C. Musonius Rufus 1 bleibt von allen Popwarphilosophen stoischer Richtung am wenigsten im Anprangern der Laster seiner Zeit befangen, sondern entwirft ein positives Leitbild der Lebensgesta.ltung. Dieses können wir mit dem Ausdruck "Ideal des einfachen Lebens" bezeichnen. Musonius geht aus von den a.llgemeinen Gedanken der Stoa. und sucht besonders Tod, Mühe, Armut und ihr Gegenteil: Leben, Lust, Reichtum als bedeutungslos für das sittliche Streben des Menschen zu erweisen (diBB. 1 p. 3, 19ft'.; p. 4, 15-5, 2; diss. 3 p. 11, 17f.; diss. 8 p. 35, 13). Dieses muß sich über die Laster der Lust, der Unersättlichkeit, der Begierden, des Neides emporarbeiten zu den Tugenden der Besonnenheit (cpp6Vl)aLc;), Gerechtigkeit, Tapfer1 C. Musonü Rufi reliquiae. Ed. O(tto) Hense, BT Leipzig 1905. In den Prolegomena sind die Zeugnisse über das Leben des Musonius vorzüglich gesammelt Wld erläutert (pp. XXVI-XXXV).
6 8348 Vlacher, Du einfache Leben
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Musonius
keit und des Maßhaltens (awcppoaUv"tJ). Dadurch gelangt der Mensch zu seinem höchsten Ziel, der Eudaimonie (diss. 17 p. 90, 4-17; vgl. diss. 7 p. 30, 7:ff.). Am leichtesten kann der Mensch die geforderten Tugenden erlangen bei einem einfachen Leben. Denn die -rpucp~ lähmt Körper und Geist (diss. 20 p. 113, 7), so daß er der notwendigen Voraussetzungen für das Tugendstreben überhaupt beraubt ist. Insbesondere fördert die -rpucp~ die Unersättlichkeit (7tA.eove;~(rx) (ibid. Z. 10) und verhindert den Einsatz für die Allgemeinheit und die Freunde (diss. 20 p. 113, 16-114, 2). (Beides sind für den Stoiker Musonius xcxA.oc, wenn auch nicht ocycx.S.oc, wie eine Aufzählung an anderer Stelle [diss. 7 p. 31, 4-9] lehrt.) Wenn auch eine teure Speise den Körper so gut kräftigen kann wie eine billige, so verdient doch die einfachere den Vorzug, weil sie eher zur awcppoaUV"tJ hinführt (diss. 18B p. 104, 12:ff.). Es geht Musonius darum, ein praktisches Programm zu entwerfen, das die Übel der -rpucp~ vermeidet. Die 6. Diatribe 1tEpl. ocax~ O'EWc; zeigt den Weg. Da der Mensch aus Leib und Geist besteht, wird eine Askese, die beide umgreift, ihm am besten gerecht. Da.s Erdulden von Hitze und Kälte, Hunger und Durst, Einfachheit der Nahrung, hartes Lager, Enthaltung von Genuß und Ertragen von \Viderwärtigkeiten (p. 25, 6-9) stählen den Körper, so daß er ein geschmeidiges Werkzeug wird, und erziehen den Geist zu Tapferkeit und Zucht. Diese Grundsätze erscheinen auf den ersten Blick hart und unerbittlich; aber man muß sich vor Augen halten, daß Musonius im Gegensatz zur Rechthaberei vieler Kyniker daran festhält: Ein Übermaß an Anstrengungen nützt nicht mehr, sondern schadet. Der Körper soll abgehärtet und gestärkt werden, nicht zermürbt. Darunter litte nur die Fähigkeit des Geistes, der sich bei zu schwerer Belastung des Körpers nicht mehr erheben kann, sondern abstumpft (diss. 11 p. 58, 15:ff.). Durch diese Milderung gewinnt die Askese des Musonius den Charakter einer einfachen, aber keineswegs überstrengen Lebensführung.- Nach diesem Überblick über die leitenden Gesichtspunkte können wir die Einzelheiten in gedrängter Zusammenfassung verfolgen: 1. Musonius lehnt den herrschenden Wohn-, Kleider- und Tafelluxus ab. Jede Unterkunft soll ihren Zweck erfüllen: Schutz vor Kälte und Hitze, Sonne und \Vinden. \Vird sie dieser Aufgabe gerecht, so ist sie geeignet. Eine naturgewachsene Grotte kann völlig hinreichen (diss. 19 p. 107, 16:ff.). Säulenhöfe, stuckbelegte Wände, vergoldete Dächer, von weit her geschaffte Ziersteine sind unnötig. Man empfindet in dieser Kritik da.s Richtige und Gesunde, aber das reine Abwägen nach "nötig" w1d "unnötig" trägt dazu bei, diesem wie vielen anderen Gedanken der Stoa eine drückende und unerbittliche Note zu geben. Dion von Prusa überwindet, wie gezeigt werden soll, im Euboikos teilweise diesen stoischen Rigorismus.- In der Einrichtung der \Vohnungen be-
Musonius
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tont Musonius ebenfalls den VoiTang des Einfachen. Denn Vorzug oder Nachteil der Einrichtungsgegenstände wird danach bew1ieilt, ob ihr Besitz, ihr Erwerb und ihre Beobachtung (d. h. die Sorge, daß sie nicht gestohlen werden) den Besitzer nicht ganz in Anspruch nehmen (diss. 20 p. 111, 4-6). Im einzelnen gibt Musonius Richtlinien, die wir schon aus der anonymen Diatribe kennen 1 • Erwähnt werden wieder die stehenden Beispiele: Ruhebetten (xJ..~vatt) aus Gold und Elfenbein oder Silber und Elfenbein; Tische aus imitiertem Holz; purpurne Decken (crTpW!J.OtTOt); Trinkgefäße (tx7tW!J.OtTOt) aus Gold und Silber. Sie sind unnötig; eine hölzerne Liege (o axf.JL7touc;), Tische aus wirklichem Holz, ein Ziegenfell als Decke (~ crtaVpat) rmd TongeschiiT sind vorzuziehen (diss. 20 p. 110, 9-111, 1). - Die Kleidung dient dem Schutz, nicht der Schaustellung (diss. 19 p. 106, 3:
Vgl. oben S. 64 f.
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sein, für das Hauswesen das Zuträgliche auswählen, da.s Cksinde in Zucht halten. Sie soll nicht zänkisch sein und putzsüchtig (diss. 3 p. 10). - Dem Ma.nne soll sie eine treue Ckfährtin und Mitarbeiterin sein, die ihn und die Kinder fürsorgend durchs Lebens begleitet (diss. 3 p. 11). Das sind ihre "Standestugenden"; daneben zeichnen sie die gleichen allgemeinen Vorzüge aus wie den Mann: Bereitschaft, 7tovoL jeder Art auf sich zu nehmen (diss. 3 p. 11, 18ff.), wenn auch die unterschiedliche Konstitution der märuilichen und weiblichen Natur berücksichtigt werden muß (diss. 4 p. 16, 19-17, 4). Musonius entwickelt hier Ckdanken, die wir bei vielen antiken Philosophen mit glänzenderem Namen vergeblich suchen; bei verschiedentliehen Anklängen im einzelnen 1 ist er in seiner Cksamtauffassung original oder zumindest der einzige uns erhaltene Vertreter solcher Anschauungen. -Strenge Auffa.ssungen vertritt Musonius über die Ehe. Im Ckgensatz zur Ansicht seiner Zeit, welche in fingierten Einwürfen immer wieder zu Wort kommt, lehnt er den Umgang mit Libertinen und der eigenen Sklavin ab (diss. 12 p. 63-67). Vielmehr sind Mann und Frau ausschließlich füreinander bestimmt. Dementsprechend gilt es, bei der Wahl des Ehegatten nicht in die üblichen Fehler zu verfallen und nach Reichtum, Schönheit und klingendem Namen zu wählen (diss. 13B p. 69, 4-6), sondern nach Gesundheit, normalem Aussehen und Fähigkeit zur Arbeit (ibid. Z. 10). Vor allem aber kommt es auf die charakterlichen Eigenschaften an: Veranlagung zur Besonnenheit und Ckrechtigkeit (ibid. Z. 13f.). - Zweck der Ehe ist eine Lebensgemeinschaft und die Aufzucht von Kindern (diss. 13A p. 67, 6). Weder bescheidene Verhältnisse, ja Armut dürfen daran etwas änden1 3 noch Reichtum und Vermögen (diss. 15B p. sof.). 3. Ein Leben, das den Forderungen der Philosophie entspricht, wird sich nach der Vorstellung des Musonius vorwiegend auf dem Lande abspielen. In der 11. Diatribe handelt Musonius von zwei Arten des Lebensunterhaltes. Die erste Art können wir nicht mehr erkennen. Der Redaktor hat diesen Abschnitt gestrichen. Die zweite Weise, die lebensnotwendigen Dinge zu beschaffen, ist der Landbau (diss. 11 p. 57, 6ff.). Musonius empfiehlt diesen Weg dringender als den ersten (uns unbekannten); er liefert nicht nur den unmittelbaren Unterhalt an Lebensmitteln, sonden1 bietet auch Cklegenheit, cxu-roupy(cx und
Musonius. Hierokles
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hier das Gegenbild der 't'pu~~ wirksam ist und im Wort .&pu7t't'Lx6c; anklingt. Musonius gibt noch eine eingehende Schilderung der Vorteile des LandJebens, die ihn wiederholt zu der Feststellung führt (p. 59, 2; p. 63, 5), daß es keinen besseren Erwerbszweig gebe, ein wahres philosophisches Leben zu entfalten. Die Tätigkeit auf dem Lande schafft daher die äußeren Grundlagen für die Eudaimonie (p. 59, 12ff.). Wir können das Ideal der Einfachheit, wie es Musonius seinerJ. Hörern vorträgt, wie folgt kennzeichnen: 1. Musonius verlangt äußere Einfachheit (Verzicht auf Wohn-, Kleider-, Tafelluxus). Er gibt Beispiele, was er unter "einfach" versteht, und beschränkt sich nicht auf allgemeine Invektiven gegen die Laster seiner Zeit. 2. Musonius entwirft ein Ideal der Frau, der Ehe und der Kinderaufzucht. Dieses Leitbild ist zu verstehen als Gegensatz zum Hetärenwesen und der Neigung zum Ehebruch, die nicht moralisch verurteilt wurden, sondern als Ausfluß übermäßigen Reichtums galten. Deswegen gehören auch diese Gedanken des Musonius zu seinem Ideal der Einfachheit. 3. Musonius erblickt die beste, aber nicht die einzige Möglichkeit, die Forderungen seines Ideals zu verwirklichen, in der Arbeit auf dem Lande. Wir vermögen ein in sich geschlossenes und abgerundetes Leitbild des Lebens zu erkennen, das auf philosophischer Grundlage ruht. Ohne weiteres können wir es &:1t/..oü~ ß(oc; nennen; seine drei Merkmale würden wir griechisch bezeichnen als eu't'tAtLCX oder AL't'6't"')c; (äußere Einfachheit), 't'O !J.6vcx Ti lv "(cX!J.Cj) <X~po8(a~cx 8(wxLcx xcxt v6!J.Lf.LCX vo!L(~eLv (vgl. diss. 12 p. 64, 1, Achtung vor der Ehe) und cxu't'oupy(cx, ~LA07tov(cx, ye
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Epiktet
Kinderzeugung ist ihr Wesen 1 • Ob infolge der Überliefenmg oder der Person des Verfassers die Grundsätze des Hierokles die lebendige Einheit des Musonius vennissen lassen, bleibe dahingestellt. Seine Philosophie enthält keine selbständige Vorstellung der Einfachheit, sondern geht über die Allgemeinplätze der Volkspredigt nicht hinaus; eine eingehendere Darstellung ist daher in unserem Zusammenhange nicht am Platze. Wir verschieben die zusammenhängende Behandlung Dions von Prusa auf ein späteres Kapitel, obwohl dieser Rhetor und Philosoph zeitlich hier einzuordnen wäre. Statt dessen versuchen wir, die Gedanken der stoischen Einfachheit noch abzurunden durch einige Beispiele aus Epik tet. "Die körperlichen Bedürfnisse befriedige nur, soweit es durchaus notwendig ist, was Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung und Dienerschaft betrifft; was aber dem äußeren Glanz und dem Luxus dient, das meide ganz" (Encheiridion c. 33, 7; vgl. c. 39) 2 • Das sind die altbekannten Schlagworte wie in den schon behandelten Diatriben: Essen und Trinken; Kleidung; Wohnung; hinter der Dienerschaft verbirgt sich das Anliegen der cxu-roupy(cx. Trotz der kompromißlosen Strenge, mit welcher Epiktet diese Fordenmgen vorträgt, ist ihm aber nichts mehr zuwider als das kynische Kokettieren mit Schmutz und Lumpen. Einfachheit bedeutet auch für Epiktet nicht Bettler- und Vagantendasein. Denn dadurch verliert sie ihren Sinn: frei zu machen von falschen Rücksichten nnd Hemmrmgcn, zur wahren, inneren Freiheit zu erheben (diss. IV 1). Ausdrücklich warnt er: "Wenn du deinen Körper an Einfachheit gewöhnt hast, so prahle nicht damit; wenn du nur Wasser trinkst, so sage nicht bei jeder Gelegenheit: ich trinke nur \Va.sser" (Ench. c. 47). Der Kyniker hat die hohe Berufung, die Menschen von falschen Vorstellungen zu befreien: das Glück liege im Reichtum, in der Macht oder in der Gesundheit, während es doch in der inneren Freiheit begründet ist. Aber der Lehrer muß das Vorbild sein. Einen schäbigen Rock anzuziehen, dazu Stock und Ranzen zu nehmen, genügt nicht. Der Kyniker "darf nicht schmutzig sein, damit er die Menschen dadurch nicht abstößt, sondern gerade sein ärmliches .Außere muß sauber nnd anziehend sein . . . . Der Kyniker muß viel natürliche Anmut besitzen - sonst wird er zum Ekel, weiter nichts" (diss. 111 22, insbes. 86-90). Hier zeigt sich die Verwandtschaft und Andersartigkeit der stoischen rmd kynischen Auffassrmg. Erst der natürliche Anstand veredelt die 1 Karl Praechter, Hieroklee der Stoiker, verzeichnet die einzelnen Übereinstimmungen mit Musoniua ( S. 70. 78 f. 82 f. ). Ehe als patriotische Pßicht ist allgemeinstoisch (s. ebd. S. 68f.). 1 Die Übersetzungen sind nach Wilhelm Capelle (Epiktet, Telee und Muaoniua. Wege zum glückseligen Leben. Übertragen und eingeleitet ... ArtamisVerlag Zürich 1948) gegeben.
Stoischer Begriff der Einfachheit
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Haltung der W a.nderprediger im zerschlissenen Rock zu einer echten "Einfachheit". Sie unterscheidet sich äußerlich nicht von der Armut; aber diese unterwirft den Menschen einer widerwillig ertragenen Knechtschaft, jene macht ihn frei. Zur Freiheit gehört die Freude, die Bejahung: das verlangt Epiktet. Überblicken wir zusammenfassend den stoischen Begriff der Einfachheit, so stellen wir fest: Die Armut ist ursprünglich ein &oL
Die Berichte über dasLeben Epikurs 1 heben übereinstimmend seine Einfachheit hervor. "Verglichen mit dem Leben der anderen, könnte man das Epikurs wegen seiner Menschenfreundlichkeit und Selbstgenügsamkeit für eine heilige Legende halten" (Sent. Vat. XXXVI), urteilt wohl ein Schüler 2 über ihn. Epikur wendet für den Unterhalt -vermutlich der ganzen Schulgemeinschaft3- im Tage eine Mine auf (D. L. X 7). Oft lebt er einen ganzen Tag nur von \Vasser und Brot (D. L. X 11; fr. 158 Us. = Sen. ep. 18, 9; fr. 181 Us. =Stob. XVII 33 t. 3 p. 501 \V.-H.). An den 1 Testimonia und Fragmente sind gesammelt in: Epicurus. The exta.nt remains. With short critical apparatus, translation and notes by Cyril Bailey (Oxford, Clarendon Press 1926) und: Epicurea. Ed. Hermannus Usener, Leipzig 1887. 1 Cyril Bailey, Epicurus, S. 381. 1 Cyril Bailey, Epicurus, S. 405.
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Persönliche Einfachheit Epikurs. Aufforderung an Menoikeus
anderen Tagen genügt ihm ein Viertelliter Wein (D. L. X 11). Scherzhaft schreibt er an einen Frennd : "Schicke mir einen kleinen Topf Käse, damit ich üppig leben ka.nn, wenn ich es einmal will" (fr. 182 Us. = D. L. X 11). Eine Notiz bei Diogenes La.ertios (X 6), Epikur habe sich täglich zweimal erbrochen, weil er sich durch seine Völlerei den Magen überladen habe, beruht wahrscheinlich auf "reiner Verleumdung und kann, wenn sie überhaupt eine Grundlage hat, durch die schwache Gesundheit Epikurs erklärt werden" 1 • Hic vero ipse quam parvo est contentus! N emo de tenui victu plura dixit, ruft Cicero bewundernd aus (Tusc. V 89 = fr. 472 Us.), obwohl er sonst Epikur heftig bekämpft. In der Tat können wir in den Lehrschriften Epikurs, den drei Briefen, die wir noch besitzen, eine programmatische A usf'Uhrung -aber die Einfachheit finden (Brief an Menoikeus bei D. L. X 122-135): "( 130) Genügsamkeit halten wir für ein hohes Gut, nicht in der Absicht, auf alle Fälle mit wenig auszukommen, sondern damit wir, wenn wir nicht viel haben, mit wenig (gut) auskommen. Denn wir sind ehrlich davon überzeugt, daß die größte Freude am Luxus diejenigen haben, welche seiner am wenigsten bedürfen, und daß alles, was die Natur verlangt, leicht zu beschaffen ist, das Eingebildete aber schwer. Einfache Nahrung gewährt den gleichen Genuß wie üppige Lebenshaltung, wenn sie (sc. die einfache Nahrung) jedes schmerzhafte Gefühl, das dem Mangel entspringt, vertrieben hat; ( 131) und einfaches Brot ((.L&~cx) und Wasser verleihen den höchsten Genuß, wenn sie einer, der ihrer bedarf, zu sich nimmt. Sich an einfache, nicht aufwendige Lebensweise zu gewöhnen, erfüllt die Fordernngen der Gesundheit und macht den Menschen bereit für die Notwendigkeiten des Lebens, stärkt nns für den Fa.ll, daß wir gelegentlich, nach langen Unterbrechungen, uns mit kostspieligen Dingen einlassen, und rüstet uns in der Furchtlosigkeit gegenüber dem Schicksal." An dieses Hauptzeugnis reiht sich eine Anzahl kleinerer Belege an, die hier nicht alle besprochen werden sollen 2 • "Der Reichtum der Natur ist begrenzt und leicht zu beschaffen; der von eingebildeten Vorstellungen verlangte fällt ins Unendliche" (K. ~. XV; vgl. K. ~. XXI, fr. 201-202 Us., fr. 469 Us.). Die Begründung liefert K. ~. XVIII: "Die Lust des Fleisches kann nicht gesteigert werden, sobald einmal Cyril Bailey, Epicurus, S. 405. Siehe statt dessen Useners loci similes zur Briefstelle, S. 393: (frugalitas cur magni faciat): fr. 135a (p. 345, 30), 458-478. 200-202. 207; (opulentia suavissime frui qui minime indigeant): cf. Sen. ep. 14, 17; Ambrosius, epist. (cl888. I) t. II p. 1027e; (naturalia omnia facile, vana difficile parari): sent. XV, (XXI), fr. 469 sq. cf. Oie. de fin. II 28, 90; (utilissimum cibum indigenti summam ferre voluptatem): fr. (466). 158. 181. 602; (adsuescondum igitur tenui victui): fr. 458. 158. 1
1
Theoretische Begründung
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das schmerzhafte Gefühl, das dem Mangel entspringt, beseitigt ist; sie ka.ru1 höchstens abwechslungsreicher gemacht werden." Das will besagen, daß da.s Gefühl der Sättigung bei Reichen und Armen die gleiche Lust erzeugt ; lediglich in den Mitteln, die zur Befriedigung des Hungers dienen können, hat der Reiche eine größere Auswahl. "Den Grenzbetrag hinsichtlich der geistigen Lust", führt Epikur den Gedanken weiter, "ruft die verstandesmäßige Erkenntnis eben dieser Freuden und der ihnen entsprechenden Regungen, welche dem Geist die größten Ängste bereiten, hervor." Damit ist auch die Grenze des geistigen Genusses umschrieben. Epikurs Auffassung der Lust ist "negativ": Sie ist nicht die \Vonne, die den Menschen in Freudenschauern überfällt, sondern das stille Bewußtsein, frei von Übeln zu sein. Der Körper erreicht den Prmkt höchstmöglicher Lust, wenn ci-7tov((X herrscht, wenn jedes Schmerzgefühl, das einem Mangel entspringt (z. B. der Hunger), beseitigt ist; der Geist, wenn er ci--r(XpCl~tCl erlangt hat: Einsicht in Wesen und Grenzen der Lust und der ihr entgegengesetzten Regungen wie Todesfurcht und Götterglauben. Jenseits von ci7tov(Ot und cX't'(Xp(X~t(X kann man die Lust nicht mehr vergrößern, sondern nur variieren. Diese Abwechslung ist jedoch keine neue Quelle der Freude für den Körper, weil sie den Einsatz von Mitteln bedeutet, die Schmerz in sich schließen 1 • Daher ist es nicht ratsam, über die einfache Beseitigung des Hungers hinauszugehen lmd zu kostspieligen Gerichten seine Zuflucht zu nehmen. Einfachheit ist nicht schlechter a.ls Wohlleben. Eine zweite Brücke führt von Epikurs Auffassung der Lust zum einfachen Leben. Die Lust könnte gestört werden durch die Angst vor künftiger Not. Gegen sie sichert sich der Jünger Epikurs, indem er schon jetzt freiwilligen Verzicht übt. Multa petentibus desunt multa (Hor. c. III 16, 42); wer wenig begehrt, findet bereits in der Erfüllung des Wenigen Glück. Darauf stellt sich der Epikureer schon ein, solange es noch nicht notwendig wäre. Denn: "Weil sich der Mensch meistens vor einfacher Lebensweise fürchtet, gelangt er durch eben diese Furcht zu Handlungen, die sie (die Furcht) erst recht hervorrufen müssen" (fr. 478 Us. = Porph. ad Mare. 28 p. 208, 15 Nauck). Hedonistischer Kalkül ist der Grund, der Epikur vera.nlaßt, die Einfachheit seinen Anhängern als geeignete Lebensform zu empfehlen. Wir fragen nun: Welchen Charakter hat diese Einfachheit, was sind ihre Merkmale 1 Keine Diatribe gibt uns hier so vollständig Aufschluß wie etwa. bei Musonius. Aber wir können trotzdem sagen, daß die epikureische Einfachheit sich ähnlich äußert wie die stoische. Nur die Haltung, mit der sie gelebt wird, ist weniger pflichtbetont, sondern mehr heiter und selbstverständlich. Hierfür einige Belegstellen. "Die 1
Vgl. Cyril. Cyril Bailey, Epicurus, S. 359.
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Auswirkungen auf die Gemeinschaft
Stimme des Fleisches: nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren 1 • Wer dieses besitzt und auch in Zukunft zu besitzen hofft, könnte mit Zeus um die Glückseligkeit streiten" (Sent. Vat. XXXIII). Das sind die elementaren Bedürfnisse, auf deren Befriedigung es allein ankommt. Alles andere ist überflüssig. Praktisch heißt das für Epikur: Wasser und Brot genügen, um den Durst zu löschen und den Hunger zu stillen. In diese Richtung weist auch die abgewandelte Überlieferung seines Ausspruches: "Er sei bereit, sogar mit Zeus in der Glückseligkeit zu wetteifern, wenn er nur einfaches Brot (~J.oc~IX) und 'Va.sser habe" (fr. 602 Us. = Ael., Var. hist. IV 13). Keine Vorschrift finden wir für die Kleidung und Unterkunft. Über das Verhältnis zum Gelde äußert sich Epikur (Sent. Vat. XLIII) : <J)ti..IXpyupei:v &8txiX (J.tV &cre:ßec;, 8(xiXtiX 8e IXLCJXpOV. Trotz der Aufforderung zur Einfachheit legt Epikur darauf Wert, sich von den Kynikern abzuheben. "Der Philosoph solle kein Kyniker sein noch betteln, sagt er im zweiten Buch über die ,Lebensformen"' (fr. 14 Us. = D. L. X 119). Wie später Epiktet, so verlangt auch Epikur eine von der Charis veredelte Schlichtheit: Apud Epicurum nanctus sum: ... honesta reB eBt laeta paupertas (Sen. ep. 2, 5 = fr. 475 Us.). Epikureische und stoische Einfachheit stimmen überein, soweit es die äußere Lebenshaltung betrifft. Das epikureische Ideal ist aber konsequenter durchgeführt im Verhältnis zur menschlichen Gemeinschaft. Der Stoiker soll sich für die politischen Anliegen seiner Vaterstadt einsetzen. So kann er es nicht immer vermeiden, in das Treiben der nach Ansehen und Macht haschenden Menschen hineingezogen zu werden. Die Frage: Welche Stellung soll ich im Staatsleben einnehmen 1 muß er sich immer wieder prüfend vorlegen. "Diejenige, antwortet einmalEpiktet (Ench. c. 24,4), die du ausfüllen und bei der du zugleich ein rechtschaffener und sittsamer Mensch bleiben kannst." Der Epikureer leidet nicht unter diesem Zwiespalt. "Glück und Seligkeit gewähren nicht die Menge des Geldes, die Last der Geschäfte, irgendwelche Ämter oder Kommandoposten, sonden1 die Freiheit vom Schmerz, abgeklärte Regungen (der Seele) und eine Seelenverfa.ssung, die gemäß der Natur ihre Grenzen kennt" (fr. 548 Us. = Plut., De aud. poet. c. 14 p. 37 A). Epikurs berühmtes Aoc&e: ßtwcriXc; (vgl. fr. 551 Us.) erstreckt sich auch auf die Familie. Der Philosoph soll nicht heiraten, keine Kinder aufziehen (fr. 525 Us. = Epict. diss. I 23, 1). Beschränkt auf den Kreis der Freunde, lebt er sich selbst: äußere Einfachheit und geistige Freude, Zurückgezogenheit und Innerlichkeit vereinigen sich in diesem Lebensstil. 1 Eine verbreitete Sentenz, die a.uch dem Pytha.goras zugeachrieben wird (s.o. S. 45).- Für Epikur ist sie noch bezeugt durch Porphyrios a.d Ma.rcella.m 30 p. 209, 7 Na.uck = fr. 200 Us.; vgl. a.uch Sen. ep. 4, 10: Lex autem illa naturae scis quos nobia terminos statuat 1 non esurire, non sitire, non algere.
Epikur (Zusammenf888ung). -
Die Kyniker
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Epikurs Einfachheit ist, um das Fazit zu ziehen, gekennzeichnet durch Bescheidenheit in der täglichen Nahrung, Verzicht auf Reichtum Wld äußere Ehrungen durch die Gemeinschaft. Sie entspringt folgenden Überlegungen: 1. Das körperliche Wohlbefinden kann nicht mehr gesteigert werden, wenn &7tov(oc erreicht ist; kostspieliger Aufwand leistet nicht mehr als schlichte Befriedigung der Bedürfnisse. 2. Die freiwillige Mäßigkeit weist die Angst vor der Armut als Einbildung nach; daher gewährt sie dem Weisen schon jetzt das Glück der Sorglosigkeit. 3. Gerät der Weise in Not, bleibt er dank seiner Gewöhnung von Schmerz Wld Unlust verschont; gerät er in glückliche Umstände, erzeugt der Gegensatz zum bisherigen Leben einen um so höheren Genuß. Auch bei Epikur ist die Einfachheit kein Ideal mit eigenem Wert, sondern soll dazu helfen, den Zustand der ~8ov~ vollkommen zu verwirklichen 1 •
Einfachheit als Programm der Kyniker'1 Nach Diogenes Laertios (VI 105) ist Einfachheit schlechthin das Anliegen der Kyniker. "Es gefällt ihnen, auch einfach zu leben (J..~'t'w~ ß~oüv); denn sie verwenden nur bescheidene Speisen (ocÜTocpxe(n ... O'~'t'Lm<;) und den kurzen (Philosophen-)Mantel, halten aber nichts von Reichtum, Ehre und hoher Geburt." Diogenes Laertios fährt fort: "Einige freilich halten sich auch an Pflanzen und überhaupt an kaltes Wasser Wld den ersten besten Unterschlupf und Vorratsbehälter, so wie Diogenes." Licht und Schatten liegen über dieser Charakterisierung. Programm und Wirklichkeit des Kynismus ist klar erfaßt. Kein Moderner würde in einem solchen Leben "Einfachheit" erblicken, aber der griechische Sprachgebrauch ist eindeutig, und wir haben ihm zunächst zu folgen. Die Untersuchung wird dann von selbst die Grenze sichtbar machen, die zwischen der "Einfachheit" und dem Bettlerdasein mancher Kyniker verläuft. Interessant für das Nachwirken dieser epikureischen Gedanken in der heutigen Zeit ist eine literarisch anspruchslose Plauderei des Feuilletonisten Hellmuth Ho I t haus, Wasser Wld Brot (Nach Diktat verreist, Herder Bücherei Nr. 74, 1960, S. 124-126). 2 Donald R. Dudley, A History of Cynicism. From Diogenes to the 6th Century A. D., Methuen & Co. Ltd. London 1937. - Dazu liDentbehrlich die Rezension durch K(urt) v. Fritz in: MIND. A Quarterly Review of Psychology and Philsosophy. New Series XLVII (1938), S. 39~392. - Arthur 0. Lovejoy-George Boas, Pri.mitivism and Related Ideas in Antiquity (Baltimore, The Johns Hopkins Press 1935 = A Documentary History of PrimitiviBm and Related Ideas I), S. 117-151. - Farrand Sayre, The Greek Cynics, J. H. Furst Company - Baltimore Maryland 1948. 1
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Antisthenes. Diogenes
Da.s Anliegen der kynischen Philosophie stammt aus dem Gedankengut des Sokrates. An tisthenes betont, wie schon gezeigt, den inneren Reichtum des Menschen (Xen. Conv. 4, 34-44). Die unabweisbaren Bedürfnisse müssen befriedigt werden; mehr braucht man nicht, um glücklich zu sein. Die Reichen, die darüber hinausgehen, sind bedauernswert; nichts würzt ihnen die Nahrung so gut wie dem einfachen Mann der Hunger. "Und es steht zu erwarten, daß die Jünger der Einfachheit (Tout; e:ÖTtM:Locv axo7toÜvToct;) viel gerechter sind als die Anhänger des Geldbesitzes (Tout; 7tOAUX.P'Yl!J.OCT(ocv axo7toÜvToct;)" (ibid. § 42). Auch hier bedingen sich ethische Vorzüge und Armut gegenseitig. Da.s gleiche Evangelium könnte uns aus dem Munde eines Stoikers entgegentönen. Es unterscheidet sich nicht von den Gedanken eines Teles, Musonius oder Epiktet. Um so wertvoller ist, daß Xenophon unser Gewährsmann ist. Jeder Verdacht, spätere Schultradition habe dem "Gründer" zugeschrieben, an wa.s er noch nicht gedacht hat, ist ausgeschlossen. Es liegt klar zutage, daß Antisthenes, wahrscheinlich von Sokrates angeregt, sich dem einfachen Leben verschrieben hat. Doch Antisthenes bleibt sich der Grenze zwischen 7te:v(oc und 7tTwx.doc bewußt. Er hat sein Bett und übemachtet nicht in Tempeln, er behält sein bescheidenes Eigentum (Xen. Conv. 3, 8). Stecken und Ranzen, die Erkennungsmarke des Bettlers 1 , schreibt ihm Diagenes Laertios wohl mit Unrecht zu (VI 13). Die spätere Schultradition macht Diogenes von Sinope zum Schüler des Antisthenes. Stoa w1d Kynismus legten \Vert darauf, sich in lückenloser Ahnenreihe auf Sokrates zurückzuführen und stifteten deshalb dieses Schülerverhältnis. Davon kann in \Virklichkeit keine Rede sein. Antisthenes stirbt bald nach 366, Diagenes verläßt frühestens 350-340 Sinope. Münzfälschung, auf der er zusammen mit seinem Vater betroffen wird, nötigt ihn zur Flucht aus seiner Heimatsta.dt 2 • Diagenes radikalisiert die Einfachheit des Antisthenes 1
Odyssee p 337, a 108. Vgl. auch Aristoph., Acham. 448. 453.
1 Schon die ältere Forschung neigte zu der Ansicht, die Wendung -tO v6!LLG!LIX 7t1XP1XX1XP&.netv (D. L. VI 20) zunächst einmal wörtlich zu nehmen. Im Anschluß an die Untersuchungen von Hermann Diele (Arch. f. Gesch. d. Philosophie VII, 1894, 315f.) trennt N atorp, der in seinem Artikel "Diogenes" (Nr. 44, RE V (1905] Sp. 765-773) eine umfassende Stellensammlung gibt (Sp. 765), die Berichte über das Faktum von der moralischen Auslegung. Inzwischen weisen Münzfunde in Sinope die Familie des Diagenes als Münzmeister aus. Sie machen es auch wahrscheinlich, daß tatsächlich Münzfälschung der Grund seiner Flucht war, und gestatten auch, einen einwandfreien terminus ante quem non der Übersiedlung nach Athen festzulegen. Diese Tatsache hat bisher keine genügende Berücksichtigung gefunden, weil ihr Entdecker Seitman sie nur mündlich, in einem Vortrag vor der Cambridge Philological Society, bekannt machte. Ein Resurne des Manuskripts findet sich bei Donald R. Dudley, A History of Cynicism, S. 54f. - Farrand Sayre, The Greek Cynics, S. 50f., setzt die Flucht ungefähr auf 350 an.
Krates von Theben
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rmd Sokrates, von der er in Athen hört 1 • Die sokratische &Ü-rtA&LIX wird zur IXÖ-rocpxtLIX, die dpwvd!X zur 7t1XpplJGLIX, die awq>popoaUV'YJ, ein Gedanke, der rms schon geläufig ist. In der Stadt "Pera" stellt er sich das kynische Leben verwirklicht vor rmd schildert es mit den Worten (fr.4 Diels= D.L. Vl85): "Pera ist eine Stadt, inmitten weinfarbenon Nebels; schön rmd fruchtbar, schmutzig' rmd ohne Farrand Sayre, The Greek Cynics, S. 5~66, zeichnet, z. T. aufbauend auf den Analysen von Kurt v. Fritz ( Quellenuntersuchungen zu Leben und Philosophie des Diogenes von Sinope, Philologus Suppl. Bd. XVIII, 1926), ein bestechendes, aber illusionsloses Bild des Diogenes. Diesem wird seine Lebensweise von den Umständen aufgezwungen, sie ist nicht wie bei Krates von Theben Ergebnis philosophischer Überlegung. Er stellt seine Bedürfnislosigkeit zur Schau (vgl. die Anekdoten bei D. L. VI 26. 41) und sammelt dafür Geld ein (D. L. VI 46). Seine Schamlosigkeit erregt bei den Athenern zuerst Anstoß, Diogenes siedelt nach Korinth über. Dort besichtigt Alexander der Große, welcher anläßlich der Gründung des Korinthischen Bundes in der Stadt weilt (336), den bekannt gewordenen Sonderling. Im Zypressenhain des Kraneion spielt sich die berülunte Unterhaltung ab, welche in dem Satz des Diogenes gipfelt: "Ich habe einen Wunsch: geh' mir aus der Sonne!" Wegen dieser kühnen Sprache gegen einen "Tyrannen" wird er später gefeiert. Er kehrt nach Athen zurück. Regehnäßig verbringt er dort den Winter, im Sommer hält er sich in Korinth auf. Diogenes ist kein Lehrer, kein Philosoph, der eine Schule gründet, sondern ein Sonderling, der Straßenpredigten hält. Man kann sich nicht sein System aneignen, sondern nur ihn selber kopieren. Nach seinem Tode wuchert rasch die Legende: sie ersetzt die Lehre und stiftet unter den Anhängern die Tradition einer "Schule". 1 Vgl. Stenzel, RE XI (1922) Sp. 1627 s. v. Krates Nr. 6. a Fr. 12 Diels PPhF. Vgl. oben S. 28. • 7tEp(ppu7to<; (codd.) "schmutzig" ist wie ll~pl) "Ranzen" eine Anspielung auf kynische Attribute und "Tugenden". "Schmutzig" und "besitzlos" nehmen sich neben "schön" und "fruchtbar" seltsam aus. Aber wieKratesden Anfang von Solons Musenelegie mit seinem feierlichen Anruf übernimmt, um unmittel1
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Krates von Theben
Besitz. Zu ihr gelangt im Schiff kein Tor, kein Pa.ra.sit, kein Lüstling, der für sich Dirnen fordert. Sondern Thymian und Knoblauch und Feigen und Brot reicht sie dar. Desha.lb führen sie keine Kriege gegen einander um solche Dinge, erheben nicht \Va.ffen um Besitz und Ruhm." Eindringlich beschreibt Kra.tes die Einfachheit des Lebens. Der Verzicht auf Besitz befreit den Menschen von Sorgen und Begierden. Die gängigen La.ster des Reichtums: Schma.rotzerei und Hetärenunwesen sind aus dieser Stadt verbannt. Weder um Ruhm noch aus Besitzgier- denn die bescheidene Beute lohnt es nicht führen die Menschen Krieg. So leben sie in innerer Freiheit und äußerer Sicherheit - der Lohn ihrer Einfachheit. Kra.tes bewährt seine Lehre im Leben. Zahlreiche Aussprüche bei Diogenes La.ertios zeigen ihn glücklich bei einfachster Kost. Als Ergebnis seiner Philosophie bezeichnet er die Fähigkeit, sich mit einem Scheffel Bohnen zufriedenzugeben und keine weiteren Sorgen zu haben (D.L. VI 86). "Hirse und Bohnen sammle, Freund, und wenn du dich a.n diese mit Lust machst, wirst du leicht über Armut und Mangel das Siegeszeichen errichten" (fr. 7 Diels)l. Als Dametrios ihm \Vein und feines Brot schickt, schilt er ihn, weil er gewölmlich nur Wa.sser trinkt (D.L. VI 90). Natürlich trägt er nur den kurzen Philosophenmantel (D. L. VI 87). Es ist da.s gewohnte Bild, da.s wir auch von stoischen Philosophen erha.lten. Von hier aus wird WlS auch vieles a.n Zenon, der ja. Kra.tes eine Zeitlang hörte, verständlich. Über die Entwicklung der kynischen "Lehre" von der Einfachheit in der folgenden Zeit geben uns Aufschluß die sogenannten Anacharsisbriefe2. Sie gehen wohl, ausgenommen der 10. Brief, auf das 3. vorchristliche Jahrhundert zurück 3 • Der Inhalt verrät nirgends Tiefe, sondern lebt von den gängigen Gemeinplätzen; naturgemäß ergeben sich dabei manche Berührungspunkte mit stoischen Ratschlägen. Bebar darauf ins Derb-Kynische abzugleiten, so stellt er auch hier mit bewußter Schroffheit herkönunliche und kynische Auszeiclmungen einer Stadt nebeneinander. Die weitverbreitete Konjektur m:p(ppuToc; "meerwnflossen" ist überflüssig. 1 Der Wortlaut ist nicht gesichert, doch der Inhalt von Stobaios (flor. 3, 1, 98 = t. 3 p. 45, 4 W.-H.) so genau mitgeteilt, daß die Versuche, den Vers wiederherzustellen, dem Original sehr nahekommen dürften. 1 Franz Heinrich Reuters, De Anacharsidis epistulis (Dias. Bonn 1957 Ref. Hans Harter), bietet eine kritische Ausgabe sowie zahlreiche Anmerkungen zu Text und Inhalt. Darauf beruht die zweisprachige, kritische Ausgabe desselben Verfassers: Die Briefe des Anacharsis. Griechisch und deutsch = Schriften und Quellen der alten Welt, hrsg. v. der Sektion für Altertumswissenschaft bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 14, Akademie-V erlag Berlin 1963. 1 Franz Heinrich Reuters, De Anacharsidis epistulis, S. 14: "Epistulas fortasse ante annum 250, certe ... tertio a. Chr. n. saeculo scriptas esse putamus." Vgl. ders., Die Briefe des Anacharsis, S. 3-5.
Ana.charsisbriefe
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sonders charakteristisch für die Topik der Gedanken ist der 5. Briefl: "Als Umhang dient mir ein skythisches Kleid, als Schuhwerk die Haut meiner Füße. :Meine Lagerstatt ist die ganze Erde, mein bestes Mahl: Milch, Käse und Fleisch, meine ganze Zukost: Hunger. Da ich also frei bin von Geschäften, deretwegen die meisten ihrer Muße beraubt sind, komme zu mir, wenn du meiner bedarfst." Wir erkennen sofort, daß hier die drei Stichworte: Kleidung, Wolmung, Nahrung wieder den Anknüpfungspunkt der Ausführungen bilden und daß der einfache Tribon, das Barfußgehen, das Herumvagabundieren und Schlafen im Freien, die bescheidenen Speisen, welche nur der Hunger würzt, - kurz alles, was die euüache Lebensführung im Sinne der Kyniker ausmacht- empfohlen werden sollen. Als Ergebnis wird auch hier die innere Freiheit, die sich im Besitz der Muße (crx.oA.~) zeigt, vor Augen gestellt. Nicht nur aus kynischem Munde kennen wir und werden wir noch Ahnliebes kennenlemen, sondern auch bei Teles und in der Diatribe des unbekannten Wanderlehrers sind uns derartige Vorstellungen bereits begegnet 2 • Vervollständigt wird der Begriff der kynischen Einfachheit durch die Diogeneslegende. Hier wird dem "Schul"gründer alles zugeschrieben, was dem jeweiligen Prediger erstrebenswert scheint. In den Reden VI, VIII-X des Dion von Prusa besitzen wir vier Musterbeispiele dieser Gattung 8 • Sie sind untereinander eng verwandt. Am stärksten berühren sich 10, 16 - 6, 21f.; 9, 12 - 8, 16. Trotzdem gehören or. 6 1 Übersetzung nach Franz Heinrich Reuters, Die Briefe des Anacharsis, S. 17. Parallelstellen und Hinweise zur Einzelerklärung bei demseI b e n, De Anacharsidis epistulis, S. 88-93, und (gekürzt) Die Briefe des Anacharsis, s. 28f. I Vgl. o. s. 64f. 1 Louis Fran'rois, EBBai sur Dion Chrysostome (These Paris 1921) ist in Deutschland unzugänglich. Inhaltsreferate fehlen. Ein kurzer Bericht über einen Vortrag des g I eichen Verfassers, Lee atoye:vtxot Myot du Dio Chrysostome (Revue des Etudes Grecques XXXII, 1919, p. Llf., vgl. auch dieselbe Zeitschrift XXXIV, 1921, p. XLIV) bietet notdürftigen Ersatz. Frantyois setzt sich vor allem mit der Arbeit von Karl Hahn, De Dionis Chrysostomi orationibus quae inscribuntur Diogenes (VI. VIII. IX. X), Diss. Göttingen 1895 (Ref. v. Wilamowitz-Moellendorff), gedruckt Hornburg im Taunus 1896, kritisch auseinander. Hahns Grundthese lautet (S. 48) "etiam in his quamquam Cynicis fontibus se applicaverit, nonnulla esse posse, quae de se Dio addiderit." Die Arbeit ist gemäß ihrem Motto eine Quellenanalyse mit der Goldwaage. Schon deutsche Rezensenten hatten das als "methodisch verfehltes Beginnen" abgelehnt, da Diatriben von Gemeinplätzen lebten und Dion im besonderen eine Abneigung gegen scharfe Disposition hervorkehre. Das mache es unmöglich, geschlossene Quellenstücke auszuheben (Wilh. Schmid, Bursians Jahresberichte ... 108 [1901] S. 223f.). Frantyois zieht daraus die Konsequenz. Er betont, daß "en realite, le choix des anecdotes est le fruit de Ia m&litation du predicateur". Dion spricht wie ein Kyniker, eine Scheidung früher "Quellen" und späterer Zusätze ist sinnlo~;~. Die atoyevtxot Myot sind nicht als Quelle für Diogenes brauchbar, wohl aber für den Kynismus der dionischen Zeit.
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Diageneslegende bei Dion von Prusa
und 8 zusammen. Sie scheinen unmittelbar nach der Ausweisung Dions gehalten zu sein. Dafür spricht der Einsatz, wo die Verbannung des Diogenes stark hervorgehoben wird: or. 6, 1 or. 8, 1
o~LVW7tEUt;, lht ~tpuyev Ex ~LVW7t"f)t; ..• ß.Loytv't)~ o~LVW7ttu:; Ex7ttawv ex. Tlj~ 7ta."t'p(8o~ ••• ß.wytV't)~
Zugleich ist or. 6 eine scharfe Invektive gegen Domitian, der unter dem Namen des Perserkönigs versteckt ist. Demgegenüber liefert or. 9 ein buntes, aber keineswegs erregtes Bild der Lehrmethode des Diogenes. Eingeflochten sind ga.nz kurze Lehrsätze und Sentenzen. Or. 10 wirkt geradezu literarisch. In or. 6 folgt na.ch dem einleitenden Paignion (1-6)1 die Ankündigung des Themas (§ 7): l>!J.Wt; 8€: eve8dx.VIJ"t'O "t'OLt; .&a.uwi~OIJO'L "t'OV 7tAOÜ"t'OV TOÜ ßtpO'OIJ X.IXL 't"Yjv AtyO(-ltV't)V eu8<XL[J.OV(a.v 6"t'L ou8ev EO'"t'L "t'WV €x.dvou 7tpa.y!J.&."t'WV otov vo[J.(~ouaL. -rwv !J.tV y~p oMev lStpeAo:; dva.L, "t'~ 8€: x.a.t a
Euda.imonie hängt also von Dingen ab, die dem Armen genauso zugänglich sind wie dem ReicheiL Was dieser vor den Armen voraushat, nützt ihm nichts im Hinblick auf das Endziel. Wie das Thema., so stimmen auch alle Einzelzüge und .Äußerungen, die Dion von Diogenes berichtet, mit Dions eigenem Anliegen überein. Da.s Paignion (or. 6, 1-7) 2 ist in der Perspektive grotesk verzerrt, dafür um so einprägsamer. Es soll nachweisen, daß die Segnungen der Natur jedem Menschen zur Verfügung stehen. Auch der Perserkönig kann sie nicht für sich monopolisieren. Diogenes ist das Beispiel für eine Rückkehr zur Natur. Nur da.s Verlassen dieses Urgrundes ha.t den Menschen in da.s Verderben gestürzt .. Den "Beweis" dafür liefert die Tierwelt. Wie so viele moderne Apostel eines "natürlichen" Lebens vergleicht der Kynismus gern Tier und Mensch; auch er schließt aus einer gewissen Entsprechung der tpuaLt;, dem Menschen müsse da.s Gleiche bekommen wie dem Ticre 3 • An die Stelle der Argumentation 8e .:l~&t:L J.I.Cv 7tCX(~c.>V J.lyttv (or. 6, 7). Zum Inhalt der Anekdote vgl. Ernst Weber, De Dione Chrysostomo Cynicorum sectatore, (Diss. Leipzig 1887 - Ref. E. Rhode), S. 86. 1 Ernst Weber, De Dione Chrysostomo Cynicorum sectatore, S. 108ft'., bringt weitere Einzelheiten über den Tiervergleich bei den Kynikern.- Wichtig sind die Ausführungen von Artbur 0. Lovejoy-George Boas, PrimitiviBm and related Ideas in Antiquity, S. 19-22, und die Zusammenstellung aufschlußreicher Textproben zu diesem Thema, S. 389-420. Der Vergleich zwischen Tier und Mensch beruht auf der gleichen Überlegung wie die Verherrlichung der unzivilisierten "Wilden". Es ist die Überzeugung, jedes Wesen sei in seinem ursprünglichen Zustand, so wie es die Natur geschaffen hat, am vollkommensten. Der Wilde entfernt sich davon nur wenig, die Tiere werden überhaupt nicht angesteckt von den Krankheiten der Zivilisation; beide sind deshalb Vorbilder richtiger und besserer Lebensführung für den Kulturmenschen. Demgegenüber erblickt eine andere Auffassung im Menschen ein unvollkom1 TClÜTCX 1
Diogeneslegende bei Dion von Prusa
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tritt mehrma.ls die scharfe Gegenüberstellung tierischen Verhaltens und menschlichen Handeins (or. 6, 13. 21/22; vgl. ferner§§ 18 und 31). Es ist offensichtlich, daß damit ein suggestiver Beweis erbracht werden soll. Einwände gegen diese Gleichsetzung von Mensch und Tier fehlten sicher nicht; Dion nimmt den hauptsächlichsten selber vorweg 1 • Er lautet: Kann der Mensch überhaupt so leben wie das Tier, wenn er es will? Dion pariert mit der apodiktischen Behauptung: Der Mensch ist xa:roc cpvcnv dazu imstande, aber durch seine 8tocLToc, den Aufwand der Zivilisation, mit dem er sich umgibt, hat er sich selber diese Fähigkeit genommen. Verzichtet er auf den Ba.llast, wird er sein verlorenes Erbteil zurückerobern (§ 27). Diogenes versucht, ein natürliches Leben, ganz wie es dem Naturzustand entspricht, vorzuleben. In Dions Betrachtung seines Helden kehren die uns schon bekannten typischen Züge wieder. Sie sollen dem Zuhörer die Frage beantworten: Was ist für das Leben nötig, welcher Aufwand ist angemessen? So heißt es von Diogenes (or. 6, 30f.): "Was deshalb großen Aufwand verursachte, Geschäftigkeit und Arbeit beanspruchte, schloß er aus und wies es als gefährlich für den Besitzer nach; was aber leicht und ohne besondere Umstände in der Lage ist, dem Körper gegen Kälte und Hunger zu helfen oder ein anderes Bedürfnis des Körpers zu befriedigen, von dem ließ er nichts aus, bevorzugte vielmehr gesunde Plätze vor krankheitsgefährdeten und die jeder Jahreszeit zuträglichen; er bemühte sich, mit ausreichender Nahrung (njc; txocvljc; -rpocpljc;) und angemessener Kleidung (njc; IJ.&-rptocc; la&lj-roc;) versorgt zu sein, hielt sich aber fern von Geschäften, Rechtsstreitigkeiten, Rivalitäten, Kriegen und inneren Auseinandersetzungen." Das ist die hochgegriffene Umschreibung eines einfachen Sachverhaltes. Diogenes nimmt !J.i~oc und peov ü8wp zu sich (§ 12). Er treibt sich im Freien herum, wenn er nicht in Tempeln oder Bädern schläft (§ 14). Als Kleidung dient ihm sommers und winters ein einziges L!J.cl't'Lov (§ 14); auf Schuhe kann er ganz verzichten.- Trotzdem ist Diogenes ges'Under a.ls die meisten Reichen. Denn diese haben sich menes Geschöpf, das durch die Anstrengungen seines Geistes erst ausgleichen muß, was die Natur ihm versagt hat. Es entfernt sich daher folgerichtig vom ursprünglichen Zustand und verwirklicht dadurch seine Naturanlage. - Beide Parteien berufen sich also auf die Übereinstimmung mit der "Natur". Das Wort hat im Munde der Streitenden jeweils eine verschiedene Bedeutung. Sie können darauf nicht verzichten, weil im griechischen Denken die Übereinstimmung mit der Natur die entscheidende Norm ist. - Über die gleiche Auseinandersetzung in der neueren Geistesgeschichte vgl. George Boas, The Happy Beast in French Thought of the Seventeenth Century (Contributions to the History of Primitivism), Baltimore 1933. 1 Or. 6, 26: bd 8~ ~A&y6v 'tLvt~ ou 8uvcnov dvcu ~ijv 't-bv !v&pwrtov 61Lotw~ TOL~ cilloL~ ~
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Diageneslegende. Anekdoten
von der Natur abgesperrt. Er hat die künstlichen Schranken der Zivilisation durchbrochen (§ 8, vgl. § 14). Weil er sich im Einklang mit der Natur befindet, schöpft er vollen Genuß aus ihr. Die Reichen haben die Fähigkeit dazu verloren. Sie warten nicht mehr den Hunger ab, nicht mehr das Liebesverlangen (§ 12); deswegen fehlt ihnen die Lust. Diogenes bricht mit diesem Fehler. Hunger und Durst würzen ihm besser als alle anderen Zutaten die Mahlzeit (§ 12). Das Leben im Freien schenkt ihm Freude am'\Vechsel der Jahreszeiten (§§ 6 und 9). Dion-Diogenes greifen nicht diesen oder jenen Punkt des Reichtums an, sondern den ganzen Lebensrhythmus einer überzivilisierten Gesellschaft. Solange die Menschen die Mittel, auf denen ihre Zivilisation beruht, nicht wirklich beherrschen, sind die Mittel selber schlecht. Mit Recht hat Zeus den Prometheus bestraft(§ 25), weil er den Menschen das Feuer brachte, das Symbol der Zivilisation und des "Fortschritts". Dem körperlichen Zerfall folgt der geistig-sittliche. An die Stelle der Natur setzen Sophisten und Schönredner eine scheinbare 1tocL8e:Lcx. Auch ihnen sagt Dion den Kampf an(§ 21)1. Sobald der Mensch seiner äußeren Sorgen enthoben ist, gleitet er ab in sittliche Verdorbenheit. Sie ist das untrügliche Kennzeichen des städtischen Pöbels (§ 25). Or. 6, 1-35 ist charakteristisch für die Diogeneslegende, damit aber auch für den späteren Kynismus. Ihm neigt Dion von Prusa vor allem in der Zeit seiner Verbannung zu. Seine Diatriben zehren insgesamt von den hier vorgebrachten Gedanken. Sie verwenden die geläufigen Argumente des Kynismus, soweit sie die Zuhörer zur Einfachheit ermuntern wollen. Es würde ermüden, noch einmal ein Resurne zu geben. Der Leser hat längst erkannt, daß die gleichen Topoi hier auf Diogenes übertragen werden, die sonst Merkmale der stoischen und epikureischen Einfachheit sind. Man durchschaut das beim Lesen nicht sofort, weil Dion durch die lockere Art der Disposition, die rein assoziative Aneinanderreihung der Gedanken und die manchmalleicht verschnörkelte Sprache das dünne Substrat der Gemeinplätze verdeckt. Unter den zahlreichen Anekdoten, die über Diogenes im Umlauf sind, findet sich eine ganze Anzahl, die ihn als Lehrer der Einfachheit zeigen sollen. Sie sind so bekannt, daß ich sie nur stichwortartig nenne. Diogenesleitet als Sklave die Kinder im Hause seines Herrn dazu an, nur einfache Kost (A.LT7j Tpoq>~) zu sich zu nehmen und Wasser zu trinken (D.L. VI 31). - Diogenes trinkt aus einem Becher Quellwasser. Als er einen Knaben sieht, der es mit der hohlen Hand schöpft, schleudert er den Becher von sich und ruft aus: "Dieser Junge übertrifft mich an Einfachheit" (e:u-rfAe:Lcx) (D. L. VI 37).- Diogcnes geht mit bloßen Füßen durch den Schnee ( D. L. VI 34 ). - Diogenes sagt: 1
Or. 6, 21:
«llwv dStviXL
GßpL~E -rou~ oocpLa-ril~ -rou~ olo!J.tvou~.
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Lukian
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Der LebenarmterhaJt des Menschen war von den Göttern leicht gemacht; aber dann verfiel dieser auf Honigkuchen und Salben (D.L. VI 44). - Diogenes sieht, daß ein Sklave seinem Herrn die Sandalen schnürt. Da ruft er diesem zu: "Bald muß er dir noch die Nase putzen, weil du sicher an den Händen verletzt bist" (Gedanke der ocu..-oupytoc) (D.L. VI 44). - Diogenes nennt Geldgier die Mutterstadt aller Übel (D.L. VI 50). - Auch diese Anekdoten machen es offenkundig, daß in die Diogeneslegende viele Züge eingegangen sind, die für die griechische Vorstellung der Einfachheit bezeichnend sind.
Das einfache Leben als Lehre und Wirklichkeit in der kaiserzeitlichen Popularphilosophie (2. Jahrhundert n. Chr.) Wir haben die Meinung der hellenistischen Philosophie über das einfache Leben kennengelemt. Die höchsten Ansprüche an ihre Anhänger stellen Kynismus und Stoa. Das fordert die Frage heraus : Köm1en die Prediger selber ihre Lehre erfüllen 1 Die Antwort finden wir in den Schriften Lukians. Man mag vieles darin als satirische Übertreibrmg abtrm; zu Recht. Aber es bleibt ein Rest, der für unsere Untersuchrmg verwertet werden kann rmd muß. Folgende Gliederung bietet sich an : a) Die philosophischen Allgemeinplätze über Reichtum und Armut zur Zeit Lukians; b) Fragwürdige Einfachheit der Popwarphilosophen im Alltag; c) Der ideale Philosoph als Muster echter Einfachheit. a) Die philosophischen Allgemeinplätze über Reichtum und Armut zur Zeit Lukia.na Gegenüber den vorhergehenden Epochen zeigt das Vokabular der ethischen Philosophie keine Veränderrmg. Die Philosophie führt zur Freiheit von den verbreiteten Vorurteilen, Reichtum, Ansehen, Herrschaft und Ehre, Gold und Purpur seien erstrebenswert (Nigrinus c. 4). 'Ver den Reichtum liebt und an Purpur rmd Herrschaft das Glück mißt, hat die Freiheit nicht gekostet, die Unbekümmertheit des " 1 ortes nicht erprobt, die Wahrheit nicht geschaut (ibid. 15). Der philosophische Lehrmeister deklamiert, daß Reichtum, Ansehen und Genuß nichts beitragen zur Eudaimonie (Hermotimus c. 7), die Gesprächspartner des Dialogs kommen überein, Weisheit, Tapferkeit, die Idee des Schönen und das Gerechte seien hierfür bessere Bürgen. Umgekehrt rühmt Nigrinos den philosophischen Lebenswandel der Athener (c. 12): "Mit Philosophie und Armut sind sie verschwistert,
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Philosophische Gerneinplätze
keinen Einheimischen und keinen Fremden sehen sie gern, der mit Gewalt die Üppigkeit bei ihnen einschleppt." Sie nehmen ihn dann in die Kur und bringen ihn zu ihrer eigenen Schlichtheit!. Nigrinos selber gibt den nach Fortschritt Strebenden ein schönes Beispiel (c. 26) für einfache Nahrung, ausgeglichene gymnastische Betätigrmg, anständige Haltung, bescheidene Kleidung 2 • Noch weiter geht Thra.sykles. Seine strenge Lehre ist von Lukia.n bewußt zum Gegensatz seines Lebens gemacht, bleibt aber für die Topik der Popwarphilosophie sehr aufschlußreich: "Weißt du, daß einfaches Brot (!J.ii~cx) mir eine hinreichende Mahlzeit ist, die liebst-e Beigabe Zwiebel, Knoblauch und, wenn ich einmal üppig lebe, ein Kömehen Salz? Und daß dieser Tribon da. besser ist als jeder beliebige Purpurmantel?" (Timon c. 56). - Das erinnert an die stoisch-kynische Diatribe. Aus noch älteren Quellen bezieht Lukian das Argument, Tie:vf.cx sei die Lehrmeisterin alles Guten. Es stammt aus Aristopha.nes' Plutos 3 • "Gesund am Leib, tüchtig in seiner Gesinnung" lebte Timon, solange die Armut bei ihm war (Timon c. 33). Angewiesen auf sich selber- der bekannte Gedanke der cxuTcipxe:Lcx - , hielt er alles Übertriebene für das, was es ist: fremd und überflüssig (ibid.). Ebenfalls ein bekanntes Motiv verwendet Lukian, wenn er Timon aussprechen läßt (c. 37): "Gesund von der Anstrengung bearbeite ich mein Feld und sehe nichts von den Übeln der Stadt. Das Brot, das mir meine Hacke verschafft, ist genug nnd reicht mir." Aus Krates von Theben übernimmt Lukian die Gestalt des Schusters Mikyllos'. Die einfachen Leute haben es im Grunde doch besser: das ist da.s Fazit der beiden Dialoge Gallus und Cataplus sive Tyra.nnus, in deren Mittelpunkt er steht. Auch hier betätigt sich Lukia.n als literarischer Zwischenhändler und arbeitet mit den alten Argumenten der Diatribe. Der Schuster Mikyllos wird von seinem Hahn mitten aus dem schönsten Traum gekräht 6 • Er fährt auf den Hahn los; dieser - o Wunder! - kann sprechen und entpuppt sich als \Viedergeburt des Pytha.goras. Mikyllos erzählt ihm seinen Traum; da belehrt ihn der Hahn (Ga.llus c. 15): "(Ich sehe schon,) du bist in ähnlichen Irrtümern befangen wie die Mehrzahl der Leute, was die Reichen anbetrifft und doch sind sie in ihrem Leben viel schlechter dara.n, als ihr, das 1 Nigr. c. 12: TrpOt; -rO xcx&cxpev 'tijt; 8Lcx(Tl)t;. Wieland übersetzt: "ihre eigene einfache Lebensweise." 1 Nigr. c. 26: ou f.tLxpcl .•• TtCXpE:;(tL ... Ttcxpcx8dy!J.CX't'CX • 'tijc; 't' p o q:> lj c; 't'O &TripLnov xcd TWV 'Y u !L v cx a (w v -rO cN!J.fLtTpov xcxt TOÜ Tr p o a wTr o u -rO cxl8ECJLfLOV xcxt 't'ljt; ia &lj 't' o t; TO !Li't'pLOV. 1 Siehe Wilhelm Meyer, Laudes inopiae, S. 77ff. ' Rudolf Helm, Lucian und Menipp, Leipzig 1906, S. 76 Anrn. 3. 1 Diese Technik der Einleitung kommt auch anderweitig vor; vgl. Alciphron ep. II 2 Sehepers (III 10 Horcher).
Philosophische Gemeinplätze
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mußt du wissen. Ich kann es dir sagen, weil ich schon oft arm und oft reich gewesen bin und jede Art von Leben ausprobiert habe." Dem folgt die gena.uere Ausführung (c. 21 ff.): Reichtum macht nicht glücklich, sondern bringt Sorge, deswegen fliehen den Reichen Schlaf und innere Ruhe. Einfachheit läßt sorglos leben und erhält gesund. Erstaunlich bleibt, mit welcher Kunst Lukia.n diese drei Gedanken zu drehen und zu wenden weiß. Ähnlich verfährt er im Cata.plus sive Tyrannus. Hier bemüht er den alten Gedanken: Der Tod macht alles gleich, um zu zeigen, daß die Armen nicht nur glücklicher leben (Ga.llus), sondern auch leichter sterben. "Da. ich nichts hatte, woran ich mich halten konnte", sagt Mikyllos bei seinem Eintritt in die Unterwelt, "keinen Acker, kein Haus, kein Geld, kein Gut, kein Ansehen, keine Bilder, war ich natürlich gleich bereit, als Atropos mir zunickte. . .. Sofort sprang ich auf ... und ging mit. . .. Und beim Zeus! Ich sehe, es ist bei euch unten alles in Ordnung. Schon der Umstand, daß Gleichheit herrscht ... " (Cat. c. 15). Es ginge zu weit, alle einschlägigen Stellen aus den Schriften Lukia.ns wörtlich vorzuführen. Sie bieten wenig Neues; deshalb genügt eine summarische Zusammenfassung. Zum Vergleich z·wischen Reichtum und Armut wiederholt Lukian folgende Gedanken der Diatribe: die Reichen sind nicht glücklich; 1. sie werden von Sorge und Furcht gequält (Ga.llus, epist. Sat. 2, 26ff.); 2. luxuriöse Mahlzeiten verschaffen ihnen keinen höheren Genuß als den Armen Zwiebel und Lauch, welche der Hunger würzt; 3. sie leiden infolge ihrer Schwelgerei an Krankheiten (Schwindsucht, Lungenentzündung, Wassersucht) und sterben früh (epist. Sat. 2, 26ff.; Dia.l. mort. 4, 2).- Als Kennzeichen der Einfachheit, genauer gesagt der einfachen Nahrung, werden bei Lukian genannt: fLCi~I.X (Tim. c. 56), Zwiebel, Knoblauch, Salz (Tim. c. 56, De merc. cond. 19),Wolfsbohnen und wildes Gemüse als Beikost (De merc. cond. 24). Wir ersehen daraus, daß nicht nur die Argumente für das einfache Leben, sondern auch die Merkmale, nach denen es geschildert wird, erstarren. b) Fragwürdige Einfachheit der Popwarphilosophen im Alltag An einer Stelle des Bis a.ccusatus (c. 6) spricht Zeus zur Gerechtigkeit: "Siehst du im Moment nicht dieses Gewimmel von Philosophenmänteln, Stecken und Ranzen? In aller \Velt der lange Bart und das Buch in der Linken! ... Viele geben ihr Handwerk auf, das sie bisher betrieben, und stürzen sich auf Ranzen und Tribon." 1 Wir entnehmen daraus, daß das Kostüm der stoisch-kynischen \Vanderphilosophen weit verbreitet ist. Die Haltung, die es ursprünglich 1
Ähnlich Fugitivi o. 13ft'., Icaromenippus o. 31.
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Fragwürdige Einfachheit im Alltag
ausdrückt, Einfachheit im Äußeren und Geistigen, ist es nicht. Der gleiche Philosoph, welcher die Sätze von der Bedeutungslosigkeit des Reichtums, Ansehens und Genussesam Schnürchen herzuleiern weiß, verklagt einen Schüler mit lautem Geschrei auf Zahlung des Honorars (Hermotim. 7. 9) oder muß heute seine Vorlesung ausfallen lassen, da er sich gestern bei einem Gastmahl mit Leckerbissen vollstopfte und den Magen verdorben hat (Hermotim. 11). Von solchen Karikaturen wimmeln die Schriften Lukians; sie sind alle über den gleichen Leisten geschlagen, nur ein Beispiel soll daher ausgeschrieben werden (Timon c. 54 f.) : "Mit vorgestrecktem Bart und aufgezogenen Brauen schreitet der Mensch einher, mit dem Blick eines trotzigen Titanen. Frühmorgens kündigt sein ganzer Anstand, sein Gang und seine Kleidung den sittsamsten und nüchternsten \Veisen a.n. Wie es ihm da. vom Munde geht, wenn er von Tugend spricht! Gegen die Freunde der Wollust loszieht! Was für schöne Dinge von Gentlgsamkeit auskramt und dem Glück, wenig zu bed:Urfen! Aber sobald er aus dem Bade zu einem Gastmahl kommt! Wie ein Stoßvogel fällt er über die Gerichte her, stößt seinen Nachbar mit dem Ellenbogen weg, stopft sich mit so hündischer Gefräßigkeit voll, daß die Brühe ihm über das Kinn herabfließt, streicht, was noch am Teller klebt, mit dem Finger zusammen und beklagt sich, daß er zu kurz käme. Er säuft, bis er grob wird, und deklamiert mit dem vollen Becher in der Hand und lallender Stimme das Lob der Mäßigkeit, bis ihn eine Operation seines überfüllten Magens unterbricht" (Übersetzung nach \Vieland). Lukian hat hier zusammengeholt, was er sonst verstreut, als kleine Seitenhiebe, anbringt 1 • Er gesteht jedoch selber ein, daß dieser Widerspruch zwischen Leben und Lehre zwar verbreitet, aber nicht allgemein ist. "Es gibt auch jetzt noch ehrlich bemühte Philosophen!" (Pisc. 37). Das wiegt schwer, gerade weil es aus dem Munde eines Spötters kommt. Wir schließen aus den angeführten Stellen, daß im zweiten nachchristlichen Jahrhundert der Gedanke der Einfachheit weit verbreitet ist. Seine Form gegenüber früheren Zeiten ist unverändert. Es gehört zum guten Ton, sich als Anhänger dieses Ideals zu geben. Im Alltag wird es nur von einem kleinen Teil der Menschen befolgt; die praktische Bedeutung bleibt beschränkt. c) Der ideale Philosoph als Muster echter Einfachheit In Demonax erkennt Lukian einen Philosophen an, der als Vorbild gelten kann. Man soll "ihm nachstreben, dem besten Philosophen, den ich kannte" (Demonax c. 2). Er vereinigt in sich Sokrates und Diogenes (c. 5), Freimut, Sittenstrenge und attische Grazie (c. 3. 6). Wir 1 Icaromen. 5. 29. 31; Pisc. 35 ff. 42; Convivium 11. 14. 18 f. 22 ff. Dialogi mort. 10, 8.
Einfachheit des idealen Philosophen
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haben es hier mit einem bedingten Bekenntnis zur kynischen Einfachheit (im Sinne des Krates) zu tun. Es kann, da es von einem Manne wie Lukian stammt, als Ausdruck der Zeit gelten. Im übrigen zeigt sich im "Demonax" mehr die staunende Hochachtung vor einem Leben in Armut als die Bereitschaft, dieses Ideal persönlich zu verwirklichen. Auch der Cynicus ist, falls echt, eine akademische Diskussion über das einfache Leben 1 • Zu Beginn des Dialogs werden &Ö't'e1-&La. und 7to1.uTe1-&La. einander gegenübergestellt. \Vie gewohnt, verbindet der kynische Gesprächsführer die Einfachheit mit der Arete, die Üppigkeit mit dem Laster (c. 2). Anschließend wird der Unterschied zwischen Einfachheit und Bedürftigkeit (~v8&La.), zwischen Bescheidenheit und 7t't'wxda. geklärt (c. 2). Einfach lebt, wer das Notwendige für seinen Bedarf beschaffen kann, ar1r..selig, wer darunter bleibt (c. 3). Nach dieser Exposition folgt die eigentliche Auseinandersetzung um den Begriff des Notwendigen. Die einzelnen Punkte und Begründungen sind altbekannt. Der Kyniker geht aus vom Zweck, den z.B. die Kleidung erfüllen soll. Sie muß den menschlichen Körper schützen, dadurch funktionstüchtiger machen, darf ihn aber nicht verzärteln. Der Kyniker nimmt für sich in Anspruch, daß sein Leib seinen Dienst besser versehe als der vieler anderer Menschen : folglich besitze er das Notwendige (c. 4). In einem späteren Teil wird dieser Gedanke verallgemeinert und angewendet auf das Essen: "Die ma1migfaltigen Aufwendungen für die Speisen führen zu keiner besseren Ernährung, sondern schädigen den Körper und bringen ihm Krankheiten bei. Muß man das überhaupt noch sagen?" Kostbare Kleidung läßt die Hitze genauso fühlen; Häuser mit goldenen Dächern bieten keinen besseren Schutz; Ruhebetten aus Elfenbein und kostbare Decken können nicht den Schlaf verschaffen; Becher aus Silber oder Gold versüßen nicht den Trank (c. 9). Die meisten Menschen lassen sich auch von der Liebesleidenschaft überwältigen (c. 10). Es wäre besser, sie nähmen ähnliche Anstrengungen höherer Zielewillen auf sich. Die Begierden machen viele zu ihren Sklaven und tragen sie davon wie ein scheuendes Pferd den Reiter (c. 18) -die erste und einzige \Vendung dieses Dialoges, welche nicht anderweitig schon vorgedacht ist 1 . Der Weise erhebt sich über nichtige \Vünsche. Nichts zu bedürfen 1 Ja.cob Bernays, Lukian und die Kyniker, Berlin 1879, S. 105, hat die Echtheit des Dialoges bestritten und ihn zum Werk eines Kynikers der byzantinischen Zeit erklärt. Die Mehrzahl der Forscher hat sich Bemays' Standpunkt angeschlossen. Auch wenn diese These richtig ist, behält der Cynicus seinen Wert im Hinblick aufunser Thema. Denn er zeigt das Weiterleben der typischen Argumentation zugunsten der Einfachheit. 2 Verwandt, aber im tertium comparationis verschieden ist der V orgleich bei Ps.-Isokrates, or. 1, 27: Wer sich vom Reichtum so gefangennehmen läßt, daß er nur nooh ihm seine Mühe schenkt, ist ein schlechter Reiter auf seinem edlen
Roß.
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Ps.-Lukian, Cynicus
ist den Göttern vorbeha.lten; wer aber den Göttern am nächsten ist, bedarf sehr wenig (c. 12). In diesem Sinne sagt der Kyniker: "Die Erde ist mein Bett, die Welt mein Haus, a.ls Nahrung nehme ich, was ohne Umstände zu beschaffen ist" (vgl. c. 15). Nach kynischer Tradition werden nun der Heros der guten alten Zeit, Herakles, und auch Theseus, beide als Vertreter der gerühmten Vorzüge, eingeführt. Beide gingen nackt, mit Bart und vollem Ha.uptha.ar umher. "Sie waren besser als wir. Ich eifere jenen Alten nach" (c. 13-14). Ganz geringfügige Umstellungen machen das Werk des PseudoLukia.n zu einem Schulaufsatz über da.s Thema.: "Einfachheit nach der Auffassung der stoischen und kynischen Wanderprediger." Die Argumente sind darin vollzählig gesammelt, übersichtlich geordnet und ohne alles störende Beiwerk wiedergegeben. In Kapitel 5-6 wird sogar ein Einwand gebracht, der anderweitig nicht in dieser Klarheit ausgesprochen ist. Das "Hinreichende", von dem der Kyniker spricht, ist doch armselig. Es bedeutet: Wasser trinken wie die Tiere, sich mit der Nahrung zufriedengeben, die man zufällig findet; genügt dem Kyniker nicht das Gras wie den Hunden 1 Aber wieso haben dann die Götter die Welt mit soviel Schönheiten und Annehmlichkeiten ausgestattet 1 Auf diesen Einwurf antwortet der Kyniker mit einem bekannten Gleichnis 1 : Das Leben ist ein Gastmahl. Man kann von allem, was gereicht wird, gierig essen; dam1 ist es zuviel und bekommt einem schlecht. Man kann sich auch mit dem Zunächststehenden begnügen: man wird satt - was will ma.n mehr? - Das Gleichnis beantwortet die gestellte Frage nicht. Das könnte nur Epikur, denn dieser empfiehlt die Einfachheit als Vorübm1g zu höherem Genuß. Mit dem pseudolukianischen Traktat schließen wir das Kapitel "Philosophische Einfachheit" ab. Eine Zusammenfassung erübrigt sich; der Cynicus hat sie bereits gegeben.
Hellenismus und Kaiserzeit
4. Das Motiv der Einfachheit in Mythologie, Historiographie und Ethnographie In hellenistischer Zeit ist der Gedanke der Einfachheit so verbreitet, daß er sich auch in den beschreibenden \Vissenschaften, wo er ursprünglich in wertendem Sinne nichts zu suchen hat, festsetzt. Wie dies im einzelnen erfolgt, soll im folgenden dargestellt werden. 1 Vgl. Epiktet, Ench. 15; Dion Chrys., or. 30, 28--44. Die Tendenz des Gleichnisees ist jedoch stets etwas verschieden.
Die Urzeit der Menschheit
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Das Motiv der Einfachheit in der Mythologie Der '1\Iensch urteilt über seinen Standpunkt in der Geschichte nicht immer gleich. Bald glaubt er, sich in besserer Lage zu befinden als die Generationen vor ihm, bald wähnt er, die Menschheit könne nur schlechter werden. Fortschrittsglaube und Verfallstheorie stehen einander gegenüber. \Ver die Schwäche der eigenen Zeit empfindet, neigt dazu, die früheren Zeiten zu verklären. Das Symbol solcher Einstellung ist die "gute alte Zeit". Man kann sie in der Geschichte des eigenen Volkes, der Menschheit oder im Mythos suchen. Für den zuletzt genannten Fall hat sich die Bezeichnung "chronological primitivism" (Idealisierung der Urzeit) eingebürgert!. Völlig anderen Ursprungs ist das Unbehagen an der Zivilisation, die Verherrlichung der unzivilisierten, "einfachen" Völker ("cultural primitivism"). Aber in der uns beschäftigenden Literatur fließen beide Strömungen oft zusammen. Die Urzeit wird zum Symbol des Menschen, der frei ist vom Fluch der Zivilisation, noch nicht berührt von Luxus und \Vohlleben. Diese Auffassung beschäftigt uns. Dabei kann man die Einfachheit der Urzeit unter einem doppelten Gesichtspunkt sehen: a) Die Erde spendete damals ihre Gaben noch freiwillig. Unberührt vom Pflug trug der Acker das Kmn. Die Eiche schwitzte den Honig aus. Zufrieden mit diesen Dingen, lebten die Menschen glücklich. Hier fehlt trotz aller Einfachheit jeder Gedanke an den 1t6voc;. Das goldene Zeitalter wird oft in diesem Stile, der an die Bukolik erinnert, ausgemalt. b) Die Menschen der frühen Zeit lebten einfach. In hartem Kampf mußten sie der Erde ihren Lebensunterhalt abringen. Gerade das hielt sie gesund. Es stählte ihren Körper und Geist, so daß sie weder Krankheit noch falsche Begierden kannten. Darin bestand ihr Glück. Vor allem das Heroenzeitalter bietet Ansatzpunkte für eine solche Darstellung. Die antiken Autoren halten diese beiden Formen nicht immer auseinander und vermengen sie oft. Maximoa von Tyros unternimmt sogar den kuriosen Versuch, ihre Gleichheit zu beweisen (or. 36). Die folgende Darstellung erstrebt eine vorsichtige Systematisierung, ohne den Quellen allzuviel Gewalt anzutun. Das goldene Zeitalter Resiods ist für die griechische Literatur das lange nachwirkende Vorbild geworden, wenn es den ursprünglichen Zustand der \Velt zu idealisieren gilt. Resiod schildert die ersten Menschen keineswegs einfach; ihr Vorzug ist vielmehr ein Leben 1 Arthur 0. Lovejoy-George Boas, PrimitiviBm and Related Ideas in Antiquity, s. 1-7.
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Urzeit bei Platon
mit den Göttern, unbekümmert, frei von Arbeit, begleitet von ständigen Festen. Erst Ovid vereinigt diese Unschuld des Paradieses sie äußert sich im Fehlen geschriebener Gesetze, des Krieges und der Schiffa.hrt - mit der Genügsamkeit der Menschen 1 • Aber auch bei ihm bringt die Erde ihre Früchte freiwillig hervor, jeder Gedanke an Arbeit wird ferngehalten (Met. I 89-112). Wann dringt der Zug der Einfachheit in die Vorstellung der menschlichen Urzeit - also nicht nur des goldenen Zeitalters - ein? Das früheste Zeugnis, das wir darüber finden, steht bei Platon in den "Gesetzen". Hier vermischen sich herkömmliche Züge des Mythos mit neuen, jedenfa.lla für uns zum erstenmal greifbaren Motiven. Im 3. Buch seines Alterswerkes behandelt Platon die Ursachen des Zerlalls einzelner Staaten. Doch diese "geschichtliche" Welt ist eigentlich erst von gestern, hält man den langen Weg der Menschheit von primitiven Anfängen zur jetzigen, relativen Höhe daneben. In der Urzeit2 (leg. III 678c 5) ist die Erde noch nicht dicht bevölkert. Der Mensch kennt weder den Gebrauch von Metallen noch den Krieg 3 • Beides sind erst Produkte der fortschreitenden Zivilisation. Die gutartige Einfalt der Menschen hat eine höhere Moral zur Folge, Gesetze sind noch überflüssig (678c 5-680a 7)'. Aber Platon schickt dieser Schilderung, die mit den traditionellen Motiven arbeitet, noch eine kurze Einleitung voraus (67f}a), in der er von dem Lebensunterhalt dieser Menschen spricht. "Sie litten keinen Mangel an Weide, ausgenommen vielleicht einige am Anfang; von ihr lebten sie hauptsächlich in der damaligen Zeit. An Milch und Fleisch ging ihnen überhaupt nichts ab, ferner konnten sie durch die Jagd gute und reichliche Nahrung beschaffen. Auch mit Kleidung, Decken, Behausung und Gerät, teils am Feuer, teils ohne Feuer verlertigt, waren sie wohlversehen; denn die Fertigkeiten des Formens und Flechtens, welche es zahlreich gab, erforderten kein einziges Stück Eisen" (679a. 1-7). In Übereinstimmung mit Resiod und der früheren Tradition betont Platon, daß die Menschen keinen Mangel litten und die Erde sie ausreichend versorgte. Aber in der Lebensweise zeichnet er diese Menschen bewußt einfach, vielleicht nur deshalb, weil er sich bemüht, ihre Situation anschaulicher und im Einklang mit den Möglichkeiten der ErlahrungsMet. I 103 contentique cibis nullo cogente creati.s arbuteoa fetus montanaque fraga legebant 105 cornaque et in duris haerentia mora rubetis et quae deciderant patula lovis arbore glandu. 1 Vgl. Wemer Jaeger, Paideia 111, S. 310. 1 678e 10: ou ncpL!J.cX:PlTO~ 1}" cxuTo'i~ ij Tpoq>~. • 679 c 2---4: ciycx&ot ~J.iv 81) f}acx" xcxt 8La; Tl)" )..e;yo!J.b.nJ" e:U~&e:Lcxv • & ya:p ~xouo" xcx)..a: xcxt cxlaxpti, e:U~&t:L~ 6"Tt:~ ijyoü..,To ci)..l)&taTcxTcx )..tye:a&cxL xcxt lne:l&o..,To. Eui)&cLcx gilt hier als Vorzug wie Rep. lll400e: s.o. S. 14. 1
Komödie. Dikaiarch
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weit zu sehen. Milch und Fleisch, teils von den Herden, teils durch die Jagd gewonnen, ist die wichtigste Nahrung. Die gleiche Feststellung treffen später viele Autoren, welche die Einfachheit der unzivilisierten Randvölker beschreiben wollen. Durch die Einfügung dieses Zuges tut Platon einen ersten Schritt auf dem Weg, die Urzeit zu einem Zustand der vielgepriesenen Einfachheit umzudeuten. \Vir müssen uns vor Augen halten, daß gleichzeitig mit Platon die Dichter der Komödie die alten Vorstellungen des goldenen Zeitalters verspotten. Aus der Freiwilligkeit, mit welcher die Erde ihre Früche anbietet, schließen sie, es gehe dort zu wie im Schlaraffenland. Ströme von Wein fließen, Gerstengrütze und Weizenbrot drängen sich heran, um zuerst die Lippen der Menschen zu berühren. Friede herrscht Wld eitel Freude. Athenaios (VI 267 e-268d) überliefert uns die entsprechenden Fragmente des Krates (fr. 14f. I p. 133 Kock), Kratinos (fr. 165 I p. 64 Kock) und Telekleides (fr. 1 I p. 209 Kock)I. Vielleicht wird gerade durch diese Auffassung der Komiker die bewußte Umdeutung zum Zeitalter der Einfachheit herausgefordert und beschleunigt. Bei Dikaiarch 3 ist sie gegenüber Platon schon weiterentwickelt, die Einfachheit der Urzeit erscheint mit einer Theorie des Fortschritts gekoppelt. Dikaiarch unterscheidet im Bto~ 'EAA.&.8o~ drei Stufen der menschlichen Kulturentwicklung (fr. 48 "\Vehrli = Varro, R.r. II 1, 3): den Naturzustand, das Hirtendasein und die Ackerbaugesellschaft. Im Naturzustand beschränken sich die Menschen darauf, mit den von der Natur gebotenen Früchten auszukommen. Als Hirten ernähren sie sich von Früchten, insbesondere von Eicheln, Erdbeeren, Maulbeeren, Obst, von der Milch und dem Fleisch ihrer Tiere, besonders der Schafe. Im dritten Stadium leben sie vor1 Ob die folgenden Zitate aus Pherekrates' Persem (fr. 130 I p. 182 Kock), Nikophons Sirenen (fr. 13 I p. 777 Kock) und Metagenes' Timriopersern (fr. 6 I p. 706 Kock) sich noch auf das goldene Zeitalter beziehen, ist fraglich. Die einleitende Bemerkung 267e (ol 8t nj~ <Xpx«l«~ XWJL8la:c; 7tOt"t)Tttt 7te:pt Toü <Xpx«tou ßlou 8tttAE:'(OJLe:vot, lht oux ~v T6Te: 8ou).wv xpe:Ltt, Totti8e: hTl&e:vTa:t) spricht zunächst dafür, denn ein neues Motto wird bis 270a nicht ausgegeben. Doch bezieht sich das Fragment aus Pherekrates (268e ff. = fr. 108 I p. 174 Kock) eindeutig auf das Leben in der Unterwelt, nicht auf das goldene Zeitalter. Kock (I p. 777) erblickt in Nikophons "Sirenen" ein Stück über das Glück der Frühzeit (unter Berufung auf Ath. 267e), in Pherekrates' "Persern" eine Auseinandersetzung für und gegen die 7te:vltt nach dem Vorbild des Aristophanes (I p. 181), in Metagenes' "Thuriopersem" eine allgemeine Invektive gegen den Reichtum der Thurier (I p. 706). Diese widersprüchliche Deutung ist unhaltbar, beweist aber zugleich die Unsicherheit, mit der ein Urteil über Inhalt und Tendenz dieser drei Stücke behaftet ist. Ich ziehe es daher vor, sie nicht als Belege itir die Auffassung der Komödie über das goldene Zeitalter zu verwenden. 1 Dikaiarchos ed. Fritz Wehr I i, Basel 1944 = Die Schule des Arietoteies I. Vgl. auch Max Pohlenz, Die hellenistische Poesie und die Philosophie (XAPITE:E, Friedrich J..eo zmn 60. C'..eburtstag dargebracht, Berlin 1911, s. 76-112), s. 85.
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Einfache, daher glückliche Urzeit bei Dikaiarch
wiegend vom Körnerba.u, doch beha.lten sie vieles aus den vorhergehenden Epochen bei. Im einzelnen wird das älteste Zeitalter weitgehend in Anlehnung an die Tradition geschildert. Die Natur bringt alles von selber hervor (fr. 49 \Vehrli p. 24, 11 ff. = Porph. De a.bstinentia. IV 2), deswegen sind der Ackerbau, der 1tovoc; und die !J.EpL!J.Vl) noch unbekannt. Gleichzeitig herrschen Muße, Sorglosigkeit um den notwendigen Lebensunterhalt, Friede, Freundschaft und Gesundheit (fr. 49 Wehrli p. 24, 22f.). Dieses Zeitalter gilt den Folgenden als einfach: "Den Späteren erschien jenes Leben natürlich begehrenswert. Das einfache Leben der ersten Menschen ('t'o ),~'t'ov -rwv 7tpw-rwv) w1d die ungesuchte Nahrung bezeugt die spätere Redensart ,Genug von der Eiche!'; wie anzunehmen, sprach es der aus, welcher zuerst (den alten Lebensstil) änderte." 1 Dikaia.rch verschmilzt hier sehr eigenartig zwei verschiedene Auffassungen 2 , die sophistische und die hesiodeische. Die Sophisten ließen die menschliche Kultur aus der Not hervorgehen (Prota.goras in Platons Nachbildung, Prot. 320c 8-328c 6). Sie steigt auf vom Primitiven zum Fortschrittlichen. Die Deutung Resiods schreitet vom ursprünglich Guten zum Schlechteren fort. Dika.ia.rch übernimmt von den Sophisten den ursprünglichen Zustand der Einfachheit. Mit Hilfe des ebenfalls sophistischen Gedankens, der Mensch bedürfe nur so viel, wie ihm die Natur gebe, um glücklich zu sein, weiß er aber den Urzustand glänzend zu rechtfertigen. Die Autarkie verleiht dem Menschen hohes Lebcnsglück, mit dem Luxus stellen sich Krankheiten und Habsucht ein (ihre Zeichen sind Schiffa.hrt und Krieg). Deswegen lebt der Mensch a.m Anfang, im Zeitalter der Einfachheit, durchaus glücklich, ja viel besser als auf den fortgeschrittenen Stufen. Kultureller Fortschritt und moralischer Abstieg sind bei Dikaia.rch vereint. Er übt mit dieser These eine gewaltige Wirkung aus und bestimmt die Geschichtskonstruktion vieler hellenistischer Autoren. Die Griechen rechnen Homer zur geschichtlichen Überlieferung. Es wäre folgerichtig, die Interpretation der Heroenzeit als Zeitalter der Einfachheit im nächsten Absclmitt "Historiographie" zu behandeln. Da. sich die Einzelheiten für unser Empfinden aber in mythologischen Bildern erschöpfen, werden sie hier aufgeführt. Ahnlieh der menschlichen Urzeit gilt den Späteren auch die Zeit der Heroen als besonders einfach. Resiods Darstellung - er durchbricht mit ihr die Kette des fortschreitenden Ze1falls - weiß noch nichts davon. Aber sie nennt die homerischen Heroen und schreibt 1 Nach der üblichen Erklärung, die von Eustathios, Comm. in Odyss. ad -r 163, p. 1859, 49, stammt, hat die Wendung tatsächlich den Sinn, den Übergang zu besserem Essen anzukündigen. lvnü&cv 8e xcxt -ro 'ci.J..t<; 8pu6<;' irrt -rwv 8uaxepw<;, q~cxa(, xcxt cb)86;<; iath6vrColY, UG't"t:pov 8t xlill~6v 'tL eup6vr(o)Y. 2 Fritz Wehrli, Dikaiarchos, S. 57.
Einfachheit als Attribut des Heroenzeitalters
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ihnen besonders hervorragende Eigenschaften zu, die weder ihre Vorläufer noch Nachfolger besitzen. Diese Wertnng wird beibehalten. Sie wird jedoch vielfach an die V oraussetznng geknüpft, daß dieses Heldengeschlecht besonders einfach gelebt habe. Das ist nicht nur die kynische Deutung des Herakles- und Theseusmythos, sondern eine allgemeine nnd ständige Strömnng, die sich von Platon bis zur Suda verfolgen läßt. Platon nimmt das Vorbild für seine \Vächter von den homerischen Helden 1 • Homer läßt seine Helden auf ihrem Feldzug keine Fische essen - nnd das, obwohl sie am Hellespont lagern! - und auch sonst kein gesottenes Fleisch, sondern nur gebratenes, das für die Krieger am leichtesten zu beschaffen ist. Auch erwähnt Homer nirgends irgendwelche Süßigkeiten (Rep. 111 404 b 10-c 7). Diese Homerauslegnng steht im Zusammenhang mit der Einfachheit der Wächter nnd soll als Beispiel für die einfache O"L't""fJO'L~ xcxl. 8(cxL't'cx dienen. Die gleichen Beispiele bietet Athenaios (I 9d, 12bff., vgl. auch 25c) in einem Kapitel (I Seff.), das die Überschrift lle:pl. -roü -rwv ~pwwv xcx&' "ÜtJ.l)pov ß(ou trägt. Die Suda (s. v. uÜ!J.lJpo~ pars 111 p. 526f. ed. Adler) bietet eine ParallelüberlieferWig, die nicht aus Athena.ios schöpft 2 • Beide Exzerpte sind selbständig angefertigt aus einem Buche, das vermutlich ins 3. vorchristliche Jahrhnndert gehört. Der Verfassername Dioskuridee ist jedoch falsch 3 • Das Anliegen ist aus Athenaios deutlich erkennbar: die homerischen Heroen sollten zu Vertretern vorbildlicher Einfachheit gestempelt werden. "Homer sah, daß die Besonnenheit (awcppot:rUvlJ) eine Tugend ist, die den j nngen Leuten am angemessensten ist. Sie wollte er ihnen wieder einpflanzen von Anfang an und nnnnterbrochen, damit sie :Mühe und Eifer auf die edlen Taten verwenden, sich Wohltaten erweisen und miteinander verbrmden sind. Deshalb ließ er alle ein einfaches und genügsames Leben (e:,he:J..lj -rov ßtov ... xcxt cxu-rcipxl)) leben; denn er sagte sich, daß die Begierden und Genüsse aus Essen und Trinken die stärksten, frühesten rmd natürlichen sind; er sagte sich fen1er, daß die Menschen, welche selbstdiszipliniert in der Einfachheit (e:u-reAe:tcx) verharren, auch in ihrer sonstigen Lebensweise beherrscht (und mäßig) sind. Also verlieh er allen eine einfache Nahrung (&:7tl..ljv 8(cxt-rcxv), den Königen die gleiche wie den schlichten Soldaten, den Jungen wie den Alten ... " (Ath. I Se). Demgegenüber gilt Alkinoos als Vertreter des -rpucpe:p0~ ß(o~. Die Ausführungen des Athenaios sind in sich nicht widerspruchslos, aber das kann auf Rechnung der verkürzenden Wiedergabe gehen. Am meisten stört, daß er das Leben der Freier, "obwohl sie Frevler aus Übermut • Vgl. oben S. 53. 1 G(eorg) Kaibel, Zu Athenaeus 1. (Hennee XXII, 1887, S. 321-333). 1 E(duard) Hiller, Über eine angebliche Schrift des lsokrateers Dioskuridee (Rhein. Museum XL, 1885, S. 204-209).
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Einfachheit der Heroen
sind" (I 9 b ), ähnlich schildert wie das der Heroen: beide essen keine Fische und keine Vögel (9 b-d). Wahrscheinlich arbeitet Athenaios hier zwei verschiedene Versionen ineinander. In der einen wurden die Freier vom Genuß der Fische und Vögel ausgeschlossen (9b-c), während er den Helden vorbehalten war (13a). In einer anderen Fassung wurde wahrscheinlich wie bei Platon gerade das Fehlen von Fischen bei den Heroen, obwohl sie neben dem Hellespont lagerten, hervorgehoben und als besonderes Zeichen der Einfachheit verstanden (9d). Bemerkenswert sind die einzelnen Züge, welche Athenaios betont: die homerischen Helden bekränzen und salben sich nicht (9e). Übersättigung gibt es nicht (9f). Gymnastische und musische Agone wechseln ab (10a). Das führt zu einem gesunden Leben. Homer zeigt auch seine Helden nicht beim Gelage, Trunksucht ist ein schwerer Vorwurf, Wein ist Medizin (10b-11 b). Das Brot wird in Körben gereicht, Hauptnahrungsmittel ist gebratenes Fleisch (12bff.), doch gibt es auch Gemüse (24e). Die Helden liegen nicht beim Mahl, sondern sitzen ( 17 f), sie lassen sich nicht bedienen, sondern sorgen selber für sich ( 17 b ). Mit all dem "'ill der Verfasser ihr Leben von der jetzt herrschenden Schwelgerei abheben (18e). Dieser Bericht ist ein Kapitel aus der ethischen Auslegung Homers, wie sie zur hellenistischen Zeit gang und gäbe ist. Sie berührt uns heute seltsam, und wir nehmen verständnislos Abschied von solchen Verdrehungen. Nur die Absicht, die da.hintersteht, ist in unserem Zusammenhang erklärlich und auch wichtig: die größte Autorität der griechischen Geistesgeschichte soll als Lehrer des einfachen Lebem erwiesen werden. Das wagt man nur, wenn man von seinem eigenen Ideal ganz überzeugt ist. Das Motiv der Einfachheit in der Historiographie (Die Idealisierung Spartas, Kretas, Roms)
Sparta und Kreta gelten seit dem 4. Jahrhundert als die Muster griechischer Sta.a.ten. "Die von der Mehrzahl gerühmte kretische und lakedaimonische" Verfassung kommt für Platon dem ldealsta.a.t am nächsten (Rep. VIII 544c). Er beanstandet zwar in der Politeia, daß die vortrefflichen Einrichtungen, die er oft für seinen Idealstaat übernimmt, nicht vom richtigen Geiste erfüllt sind. Die äußere Schlichtheit ist das Ergebnis einer Gewaltdressur, nicht philosophischer Erziehung. Sobald der Zwang fällt, werden die Menschen ihre Schranken durchbrechen (Rep. VIII 548a-b). Aber noch als Greis beweist er in den "Gesetzen" eine hohe Schätzung Spartas und Kretas; denn hier macht er einen Spartaner und Kreter zum Gesprächspartner des unbekannten Atheners, um sich über die besten Gesetze zu unterhalten. Die Verherrlichung Spartas nimmt ihren Crsprung im 5. Jahr-
Idealisierung der spartanischen und kretischen Einfachheit
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hundert. Seit Kritias und den Lakonisten pflegt man die Vorzüge einer Verfa.ssung am Beispiel Spartas darzustellen ; die Einfachbei t in der spartanischen Lebensweise wird wahrscheinlich erst im 4. Jahrhundert besonders hervorgehoben. An Stelle historischer Erklärnng treibt man dabei philosophische Ausdeutnng. Vom modernen Standpunkt aus ist in Spatta eine frühe Entwicklungsstufe des menschlichen Zusammenlebens erhalten geblieben. Die zeitgenössischen Griechen sehen in den primitiven Verhältnissen ein Heilmittel gegen die Übel ihrer eigenen Zeit. Man schreibt dem Lykurg die vorausschauende Lösnng von Problemen zu, deren Vorhandensein er nicht einmal ahnen konnte 1 • Als stehendes Motiv führt Ephoros die spartanische und kretische Einfachheit in die Geschichtsschreibung ein (F 148 Jacoby = Polyb. VI 45, 10). Polybios wirft ihm vor, er habe beide Staaten mit den gleichen Worten beschrieben, so daß der Leser, falls er die Überschrift vergessen habe, nicht wisse, welche Beschreibung er gerade in der Hand habe. Diese Kritik ist gehässig, weil Ephoros die Darstellungen an ganz verschiedenen Stellen seines Werkes gegeben hat 2 , enthält jedoch ein Körnchen Wahrheit, weil Ephoros beide Staaten in der gleichen Richtung idealisiert. Darüber orientiert uns Strabon (X 4, 16 p. 480C. = Ephoros F 149 Jacoby). "Der Gesetzgeber scheint den Städten als das größte Gut die Freiheit anvertraut zu haben ... Wer sie hat, brauche aber einen Schutz. Wenn man die Zwietracht beseitige, welche durch Habgier und Schwelgerei entstehe, stelle sich die Eintracht ein. Allen, welche beBonnen und einfach leben (awtpp6vwc; y
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Spartanische Einfachheit als Topos
als zwangsläufige Folge der Verfassm1gseinrichtungen erklären. Von Kreta seien, so meint Ephoros, auch die spartanischen Gesetze übernommen worden, und Lykurg habe auf Kreta die Anregm1g für die Verfassung seiner Vaterstadt erhalten 1 • Daß Strabon nach fast 400 Jahren Ephoros noch kennt und benützt, zeigt die Nachwirkung, welche dieser trotz der Kritik des Polybios ausgeübt hat. Wir können nicht verfolgen, wie die Idealisierung Spartas und Kretas sich im einzelnen weiterentwickelt, weil unsere Überlieferw1g versagt. Lediglich einige kleine Bruchstücke in anekdotenhafter Form erweisen die spartanische Einfachheit als einen zählebigen Topos bis zum Ausgang der Antike. Musonius moralisiert (diss. 20 p. 112 Hense): "Denn wir finden, daß von den Gesetzgebern die besten, vor allem Lykurg, die Üppigkeit aus Sparta vertreibt, an ihrer Stelle die Einfachheit einführt und die bescheidene Lebensweise der übertriebenen vorzieht im Hinblick auf die Tapferkeit, und daß er die Schwelgerei als schädlich verbannt, die freiwillige Anstrengung aber als heilsam zu üben befiehlt." - Bei Athenaios lesen wir die Anekdote ( 138 d): "Einige berichten, ein Sybarite habe sich auf Reisen in Sparta aufgehalten und, nachdem er an den Syssitien teilgenommen habe, gesagt: Es ist verständlich, wenn die Spartaner die tapfersten aller Menschen sind: \Venn jemand bei Verstand ist, zieht er es zehntausenfach vor, zu sterben als an dieser einfachen Kost (e:u·n:!-oüc; 8Lcx('t'"tjc;) teilzunehmen." Dieses Bonmot ist die pointierte Fassung eines bei Diodor überlieferten Ausspruches (Diod. VIII fr. 18, 3 = Exc. Vat. p. 9): "Ein zweiter Sybarite soll, nachdem er Sparta. besucht hatte, gesagt haben, früher habe er sich über die Tapferkeit der Spartaner gewundert, dann aber, als er ihr einfaches Leben, das mit viel Beschwerlichkeit verbunden war, gesehen hatte (~e:cxaoc~J.e:vov e:u-re:l-wc; xcxt IJ.&Toc 1to1J..ljc; xcxxo1tcx~dcxc; ßLoüv-rcxc;), habe er gesagt, daß es nichts vor dem Schlimmsten voraushabe; denn der Tapferste bei den Sybariten ziehe es lieber vor, dreimal zu sterben als ein solches Leben zu fristen." -Man erkennt leicht, wie in späterer Zeit die spartanische Einfachheit zum Schlagwort geworden ist. Je mehr man die alten Zustände nur noch aus der Lektüre kennt, desto behaglicher malt man sich mit leichtem Schaudern die Schwarzblutsuppe und das Gerstenbrot der alten Spartiaten aus. An Sparta und Kreta schließt sich die ldea.lisierw1g der römischen Einfachheit an. Polybios vergleicht Sparta. und Rom mehrmals im berühmten Abschnitt über den Kreislauf der Verfassungen und die 1 Der Streit darüber, ob die spartanischen Gesetze von Kreta stammten oder wngekehrt, ist schon vor Ephoros lebendig (Felix J aco by zu F 149). Es ist für uns gleichgültig, in welcher Art diese Frage entschieden wird. Allein wichtig ist in unserem Zusammenhang die Ähnlichkeit der beiden Staaten, die nachweislich von Ephoros zuerst in ihrer Einfachheit erblickt wird.
Kulturgeschichte und Ethnographie
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beste Staatsform (VI 3ff.); er teilt die Bewunderung für die spartanische Einfachheit, hebt jedoch beim Vergleich nicht darauf ab, sondern auf die "gemischte Verf&ssnng", die Rom nnd Sparta. eigentümlich sei. An anderer Stelle freilich "erinnert ... Polybios ... (IX 10, 5) die Römer da.r&n, daß sie vor zwei Generationen trotz, ja. vermöge ihrer extrem einfachen Lebensführnng (ci7tA.oua't'oc't'o~c; X.PWfJ.tvO~ ß(o~c;) über die in Überfluß nnd Luxus schwelgenden Syra.kusaner Herr geworden seien" 1 • Noch entschiedener sieht Poseidonios im altrömischen Staat ein Muster der Einfachheit. Sein Blick ist geschärft durch die verheerenden Bürgerkriege nnd ihre sozialen Spannnngen. Wir werden die einschlägigen Stellen im Zusammenhang mit den anderen Abschnitten aus Poseidonios behandeln 2 • Einfachheit alll Motiv der K ulturge8chichte und Ethnographie 3
In der hellenistischen Ethnographie können wir zwei entgegengesetzte Strömnngen feststellen, die nebeneinander herlaufen: der Stolz auf die eigenen zivilisatorischen Errungenschaften und die Idealisierung des naturgemäßen Lebens der Primitiven. Aus diesem Dualismus hat man auch die erstaunlich tiefgehende und gerechte Würdigung fremdartiger Lebensformen durch die Griechen ableiten wollen'. Es wäre zwar verlockend, auf diese These näher einzugehen und ihre Stichhaltigkeit zu prüfen; allein im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung müssen wir uns darauf beschränken, eine der beiden Richtungen, die Betonung der Einfachheit, genauer zu verfolgen und ihre Bedeutung nachdrücklicher, als dies bisher geschehen ist, herauszuarbeiten. Verwandte Motive wie die Idealisierung der Randvölker berühren wir dabei nur, sofern ihre einfache Lebensweise ausdrücklich hervorgehoben wird. Verherrlichungen anderer Art: Preis der Gerechtigkeit, der Gastfreundschaft, der Reinheit ihrer Ehen bleiben unberücksichtigt - es sei denn, auch sie werden als Folge der einfachen Lebensführnng dargestellt. Hildebrecht Hommel, Das hellenische Ideal vom einfachen Leben, S. 743. Siehe unten S. 113 ff. 1 Albrecht Dihle, Zur hellenistischen Ethnographie (Fondation Hardt pour l'etude de l'antiquite classique, entretiens tome 8: Greca et Barbares, 1961 [im Druck erschienen Genf 1962], S. 203-232); Arthur 0. Loverjoy-George Boas, PrimitiviBm and related ldeae in Antiquity, S 287-367 (Zusammenstellung und Übersetzung antiker Texte mit dem Thema .. The Noble Bavage ... ") ; Alexander Riese, Die Idealisierung der Naturvölker des Nordens in der griechischen und römischen Literatur (Programm des städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a. M. Ostern 1875); Karl Trüdinger, Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie (Dies. Basel 1918 - Ref. J. Stroux und J. Wackemagel). ' So Albrecht Dihle in der Diskussion über seinen Vortrag "Zur hellenistischen Ethnographie" (s.o. Anm. 3), S. 235f. 237. 1 1
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Fremde Völker bei Homer. Altionische Periploi
a) Vorliebe der hellenistischen Geschichtsschreibung für den Besonderes Eingehen auf die Tpuq>~
ßlo~.
Die frühesten Erfahrungen der Griechen mit bisher unbekannten Völkern sind für uns in der Ilias und Odyssee greifbar, auch wenn sich in diesen Epen keine ausgeführten Charakteristiken fremder Stämme finden. Besonders aufschlußreich für unsere Fragestellnng ist die Schildernng der Kyklopen in der Odyssee. Sie "werden wie Hirten geschildert, denen die Natur (,Zeus') fern von jeder Zivilisation alles von selber gibt, ein nicht uninteressanter Zug, weil hier die Motive des goldenen Zeitalters da sind (z. B. auch: keine Schiffe), zugleich aber mit den negativen Zeichen einer barbarischen Existenz (das sine lege ist hier Verachtung des Zeus) verbunden werden. Es sind dieselben Motive, die später bei der Verherrlichung des einfachen Lebens primitiver Völker wieder aufklingen." 1 \Vir sehen hier, wie abhold die Erfahrungen der Kolonisationszeit, die zweifellos im gesamten Buch L ihren Niederschlag gefunden haben, einer Idealisierung des Fremden sind. Eine ähnliche Nüchternheit des Beobachtens nnd Urteilens zeichnet, nach den spärlichen Überresten zu schließen, auch die altionischen Völkerbeschreibungen aus. Sie sind Beigaben der Periploi. Führer ist das Meer, an die Schilderung der Küste schließen sich Vegetation und Tierwelt des Landes an. Notizen über die Eigenart der Bewohner folgen 2 • Die Lebensart der beschriebenen Stämme wird gCin nach den zwei Punkten 8(cxLTcx und VO!J.L!J.CX abgehandelt. Besonders häufig finden sich Bemerkungen über Haartracht, Kleidung, Schmuck, Färbung der Haut, Nahrnng, Heirat und Geschlechtsleben. Die Länderbeschreibnngen Herodots sind ursprünglich aufgebaut nach Land, Geschichte, Bewolmer, .&cxu!J.cX.cncx. Ein vollständig ausgeführter Logos über die Bewohner - Herodot variiert aber das Grrmdschema oft sehr stark enthält: 1. Zahl, 2. Alter (ocp:x,cxLoJ.oy(cx), 3. Lebensweise (8(cxLTcx, Tp67toc; ~6't)c; li 77, 2), 4. Nomoi. Über die äußere Erscheinrmg (e:t8oc;) schreibt Herodot kaum 3 • Unter den Topos der 8(cxLTcx fallen Bemührmgen um Gesundheit, Nahrung, Getränk, manchmal \Vohnung. Das kann sehr summarisch abgetan werden mit dem \Vort "Jäger", "Nomaden" oder "Ackerbauer". Ferner gehört dazu die Kleidung, nicht aber- bei Herodotdas ~&oc;. 1 H8Il8 Schwa b 1, Das Bild der Fremden Welt bei den Frühen Griechen (Fondation Hardt pour l'etude de l'antiquite classique, entretiens tome 8: Grecs et Barbares, 1961 [im Druck erschienen Genf 1962], S. 3--24), S. 14f. 1 Vgl. Karl Trüdinger, Studien ... , S. 9f. 3 Vgl. Karl Trüdinger, Studien ... , S. 21f.
Herodot. Bios eines Volkes. Theopomp
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Unter dem Stichwort v6(LOL werden beschrieben Götter, Religion (Opfer), K.riegswesen, Orakel, Eide, Begräbnissitten, Ehe und Geschlechtsleben, Gastrecht. Im 4. Jahrhrmdert werden die beiden Dispositionspunkte 8(owrot und v6(LoL unter dem Ausdruck ß(oc; zusammengefa.ßt. Der Begriff entstammt dem Peripatos. Er war für die Lebensbeschreibung einzelner Personen geprägt worden; hieraus erklärt sich, daß auch in den "Kulturbildern" einzelner Völker der zeitliche Ablauf der Entwicklung berticksichtigt wird und moralische Wertungen eine Rolle spielen. Man will so den Charakter eines Volkes erfassen. Dikaiarchs B(oc; •Eu&.8oc; ist das bekannte Beispiel hierfür 1 • Als Exkurse werden die Bioi einzelner Völker gern in Geschichtswerke eingelegt. Diese kleinen, aber in sich geschlossenen Ethnographien sind unsere Hauptquelle für die Entwicklung der Völkerbeschreibrmg überhaupt. \ \7ir haben nrm zu untersuchen, wie in diese Bioi der Gedanke der Einfachheit eindringt. Der Vorgang wäre undenkbar ohne den allgemeinen Zeitgeschmack, der sich an ethische Belehrungen durch den Historiker gewöhnt hat. Die neue Form des ß(oc; und die Vorliebe der Geschichtsschreibung für das moralisierende Urteil stellen zusammen die Voraussetzungen dar, unter denen sich in den ethnographischen Exkursen ein Ideal der Einfachheit entwickelt. Die moralisierende Geschichtsschreibung großen Stils beginnt mit Theopomp und Ephoros. Theopomp gilt im Urteil der Nachwelt a.ls der moralisierende Schriftsteller schlechthin. Nach Dionysios von Halikarna.ssos (ad Pomp. 6, 4-6 II p. 244 Usener-Ra.dermacher = Theopomp T 20 Jacoby) bietet sein Werk "Ansiedlung von Stämmen und Grtindung von Städten", "Lebensbilder von Königen und Eigentümlichkeiten von Sitten" und "was jeder Erdteil oder jedes Meer an Wunderbarem oder Kuriosem trägt". Es ist eine Fundgrube für die "Sitten der Barbaren und Hellenen, unentbehrlich für jeden, der die philosophische Beredsamkeit betreibt". "Mehr moralisierend als berichtend" (wc; Xot't"'t)yope:i:v (Lillov ~ taTope'i:v 't'oc 7t&7tpoty(Ltvot), meint trocken Lukia.n (De hist. conscrib. c. 59= Theopomp T 25a Jacoby). - Theopomp legt in sein Geschichtswerk zahlreiche Exkurse ein (T 30 Jacoby = Theon. Progymn. 4 [II 80 Sp.]). In diesen frönt er seinem Interesse an Nachrichten über den Bios, über die Tryphe. "Die wichtigsten Fragmente sind durch Athenaios erhalten und entstammen den Beispielsammlungen 7t&pt (Lt&t)c;, 7t&pt 't'pu
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Theopomp moralisiert
dem er urteilt. Wohlleben und Üppigkeit geht er bei den einzelnen und bei den Städten zu Leibe. In der Volksbeschreibung treten die Invektiven zurück 1 • Ein Urteil über aufwendige oder einfache Lebensweise von Personen fällt er vor allem in den Frgg. 20. 22. 31. 36. 39. 45. 49. 57 .62. 114. 134. 225 Jacoby. Aber nur spärlich finden wir ein ausgesprochenes Lob der Einfachheit. Das ist einmal der Überlieferung zuzuschreiben; in die Beispiele 1te:pt !J.t&t)c; und 7te:pt -rpue:67tO!J.1tOt; 't'O ~a-oc; 1tLXpOt; xocl xocx61)a-oc; ( = a.cer), 't'ji Bi: cpp
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Ephoros idealisiert
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auf die augusteische Zeit die Hauptquelle für die kla.ssische griechische Geschichte 1 , Diodor und Strabon benutzen ihn ausgiebig. Die von ihm eingeschlagene Richtung hat also Beifall gefunden und ka.nn ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Ephoros spricht die Einfachheit der Barbaren a.ls einen Programmsatz seiner ganzen Schriftstellerei aus (F 42 Jacoby = Strabon VII 3,9 p. 302C.). Im 4. Buch seiner "Europa" hebt er den Unterschied zwischen den Skythen und Sarmaten hervor; dabei schreibt er : , , Die anderen Schriftsteller erzählen die Tatsa.chen über ihre \Vildheit, weil sie wissen, daß das Wilde und Wunderbare Eindruck macht; man müsse 2 aber auch die entgegengesetzten Dinge erwähnen und a.ls Vorbild aufstellen (xott 'Aty&LV x~t 7t~p~8dyfL~'t'~ 7toLda&~L), und er werde selber über die (Völker) berichten, welche die gerechtesten Sitten haben." - Strabon hat umfangreiche Reste aus dem Bericht des Ephoros aufbewahrt (1. c.). "Es gibt nämlich (na.ch Ephoros) einige der skythischen Nomaden, welche sich von Pferdemilch ernähren; Yor allem zeichnen sie sich durch ihre Gerechtigkeit aus . . . Als Ursache erklärt er (~tTLo'Aoye~) ferner, weil sie in ihrer Lebensweise einfach seien (T~~c; 8L~(T~Lc; &uTe'Adc; llvTec;) und nicht geldgierig gegeneinander, lebten sie in bester Verfassung (euvofLoÜvT~L), hätten alles gemeinsam, besonders die Frauen, die Kinder und die ganze Verwandtschaft, seien aber von außen nicht zu bekämpfen und nicht zu besiegen, weil sie nichts hätten, wofür sie Sklaven sein könnten." Auch Anacharsis, der von dort komme, werde wegen seiner Einfachheit(!), Besonnenheit und seines Verstandes (e1t' eun'Ad~ (x~t) aw~poC1Uvn x~t auveaeL) zu den Sieben Weisen gerechnet. Damit wolle Ephoros, so schließt Strabon, klarstellen, daß die gerechtesten, von Pferdemilch lebenden Völker von Homer nicht erfunden, sondern von der älteren und jüngeren Überlieferung einstimmig angenommen worden seien. Ephoros knüpft also bewußt an Homers Abier und Hippemolgen an. Er findet ihr Bild aber bereits um feststehende Züge bereichert. Homer hatte in der llias N 3-6 "jenseits der Thra.ker" ein Land erwähnt: Muawv T' &.yx.e!Locx.wv x~l &.y~uwv 'I7t7nJ!Lo'Aywv y'A~x't'o~&.ywv 'Aß(wv TE, 8Lx~LO't'ocTwv &.v&pw7twv. Wie Homer zu dieser Auffassung kam, ist unklar. Vielleicht wurde ein &UVOfLOL älterer Tradition "mit guten Weideplätzen" später mißverstanden im Sinne von "mit guten Gesetzen" 8 • Nach Homer wollte Felix Jacoby, FGrHist. 2C, S. 30-32. Strabon fällt bei der Wiedergabe dee wörtlichen Zitates in die indirekte Rede zurück. 1 Alexander Riese, Die ld€'8lisienmg der Naturvölker ... , S. 11 Anm. tt. zieht diese Möglichkeit in Betracht, ohne sich endgültig dafür zu entscheiden. 1
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Einfachheit der Skythen
ma.n ·wie die meisten dichterischen Völker, so auch Hippemolgen und Abier an einem Ort der bekannten \Velt ansiedeln. Man identifizierte sie mit den Skythen. Drei Eigenschaften wurden an ihnen in der Folgezeit immer wieder hervorgehoben: sie wohnen in \Vagen, sie melken ihre Stuten und trinken die :Milch, sie sind ein Volk von auffallender Gerechtigkeit. Seit der Gründung der Pontoskolonien sammelten die Griechen zwar praktische Erfahrungen mit diesen Völkern; einige nüchterne und sogar negative Urteile (Auct. de aere, aquis, locis c. 18; Thuc. II 97, 6) werden übertönt von dem Chor der Bewunderer. Scheinbar gestützt durch die Autorität Homers, bleiben immer das einfache, nomadische Leben und die außergewöhnliche Gerechtigkeitsliebe mit diesem Volk verhaftet. Die Legende wird mehr und mehr ausgemalt. Aus der Tatsache, daß die Bewolmer die Milch ihrer Stuten trinken, schließt man, sie äßen überhaupt kein Fleisch; ihre Gebiete liegen bei oder jenseits der "schattigen Quelle des Isters" 1 • Ephoros vereinigt nun die gesamten Nordvölker, die homerischen Abier, Völker des Wunderepos und die wirklichen Skythen im Norden des Pontos 2 • Er idealisiert zwar nicht das ganze Volk und stellt eine Ungleichmäßigkeit bei ihm fest. Aber das Aufgreifen der Anacharsislegende und die Art, wie er sie umgestaltet, zeigen, wo die eigentlichen Sympathien liegen. Herodot (IV 76-77: Anacharsis; IV 46: Pontosvölker) erzählt über Anacharsis, daß er weite Reisen gemacht und dadurch Einsicht erworben habe. Nach seiner Rückkehr in die Heimat wird er getötet, weil er griechische Errungenschaften mit nach Hause bringt und seine Landsleute dadurch verletzt; nach einer anderen Version, die Herodot ebenfalls anführt, wird er aus einem anderen Gnmd umgebracht. Der Rang, den Herodot Anacharsis zubilligt - ohne ilm jedoch zu den Sieben \Veisen zu rechnen-, beruht gerade darauf, daß er die Roheit des Skythen abstreift und griechische GesittWlg annimmt 3 • Wie lange 1 Siehe für die Einzelheiten Alexander Riese, Die Idealisierung der Naturvölker ... , S. 8-14. Wahrscheinlich ohne Kenntnis der antiken Auslegung hat Alexander Pope aus der Hornerstelle eine ähnliche Auffassw1g herausgesponnen; er "übersetzt" llias N 3-6 (nach Roy Walker, The Golden Feast, Rock.liff London 1952, s. 12): " ... where the fa.r-famed Hippomolgian strays, Renown'd for justice and for length of da.ys; Thrice happy race I that, innocent of blood, From milk, innoxious, seek their simple food; Jove sees delighted; and avoids the scene Of guilty Troy, of arms and dying men: No aid, he deems, to either host is given, While his high law suspends the powers of Heaven." 1 Vgl. Felix Jacoby, Kommentar zu F 42. 1 Vgl. Bruno Snell, Leben Wld MeinWlgen der Sieben Weisen, S. 92f.
Anacharsislegende
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diese Auffassung gültig bleibt, läßt sich nicht genau bestimmen; immerhin äußert in einem Menanderfragment der Sprecher die Auffassung, auch die Barbaren könnten gute Menschen sein, sofern sie ihr Barbarenturn ablegten, und führt als Beweis für die Möglichkeit hierzu ausdrücklich Anacharsis an 1 • Ephoros geht weit darüber hinaus. Er macht Anacharsis, vielleicht nach dem Vorgang des Antisthenes 2 , zu einem der Sieben Weisen. Er begründet dies nicht nur mit seiner Einsicht, sondern auch mit seiner Einfachheit 3 • Der Barbar kann also dank der natürlichen Mitgift seines Volkstums die Griechen in diesem wichtigen Punkte belehren. Hier wird eine Tendenz eingeleitet, die später Pompeins Trogus in die klaren Worte faßt (fr. 35b, p. 39, 116125 Seel = Justin. II 2): admirabile videatur hoc illis (sc. Scythis) naturam dare, quod Graeci longa sapientium doctrina praeceptisque philosophorum consequi nequeunt, cultosque mores incultae barbariae conlatione superari. In diesem Sinne wird, schon bei Ephoros, die Anacharsislegende ausgestaltet; in dieser Richtung entwickelt sie sich weiter'; gerade die späten Ausläufer, Lukians "Anacharsis" und Scytha sive Hospes bezeugen es. Zeitgenossen und Fortsetzer des Theopomp und Ephoros verfolgen die eingeschlagene Richtung weiter. Unser Urteil steht im einzelnen auf schwankendem Boden, weil aus der reichen Fülle der damals entstandenen Literatur nur kleine Fetzen übriggeblieben sind. Was kann schon das eine oder andere Fragment für den ganzen Schriftsteller besagen, besonders wenn es in einer Beispielsammlung des Athenaios überliefert ist? Wer hat hier mit Absicht ausgewählt: der Schriftsteller Vgl. H. C. Baidry, The Idea. of the Unity of Mankind (Fondation Ha.rdt pour l'etude de l'antiquite classique, entretiens tome 8: Grecs et Barbares, 1961 [im Druck erschienen Genf 1962], S. 167-195), S. 183. - Die Verse Mananders lauten (fr. 612 Koerte): 11 &c; &v EU yqovwc; T1i cpua&L 7t'p0c; 't'ciycx&ci, x&v At&(o~ ?}, ILiinp, ~aTlv euyev~c;. ~xu.&l)c; 't'Lc; · lS:Ae&poc;. 6 8' 'Avcixcxpatc; ou ~xu.&l)c;; 2 So Barkowski, Sieben Weise (RE II A, 1923, Sp. 2242-2264), Sp. 2263. 8 Dieser Sachverhalt tritt noch krasser in einem anderen Zweig der Überlieferung hervor, der ebenfalls auf Ephoros zurückgehen dürfte. Hier erscheint Anacharsis nicht nur als einfacher und unverbildeter Skythe, sondern geradezu als Muster des rauben Naturburschen, der seine Roheit mit Philosophemen drapiert und dafür zu den Sieben Weisen gerechnet wird. Bezeichnend sind die Antworten, die er in der typischen Rolle des von Kroisos befragten Weisen erteilt (Diodor 9, 26 nach Ephoros): Welches Wesen ist das tapferste? Die wildesten Tiere, denn sie allein sterben gern für die Freiheit. - Welches Wesen ist das gerechteste? Die wildesten Tiere, denn sie allein leben nach der Natur, nicht nach Gesetzen. - Vgl. hierzu Bruno Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen, S. 92 f. ' Einen gerafften Überblick gibt Franz Heinrich Reuters, DeAnacharsidis epistulis (s. o. S. 78 Anm. 2), S. 15f., und ders., Die Briefe des Anacha.rsis (8. o. s. 78 Anm. 2), s. 2f. 6f. 1
n
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Duris. Phylarchos
oder der Exzerptor 1 Um ein Beispiel zu geben : was können wir aus zwei einander widersprechenden Fragmenten folgern, wie sie als F 36 und 37 Jacoby bei Anaximenes von Lampsakos stehen 1 F 36 lautet: ~ y«p 1tev(cx xcxt 1tpOc; -r«c; -re:x.vcxc; 8 E Lv o "t' 1:. p o u c; xcxt 1tpOc; -rov ß(ov TE):,VLXW-rl:.pouc; -rouc; <Xv&pw1touc; xcx&lC1TI)C1LV, F 37 dagegen: x<XAerr1) y«p 8L8cicrxcxJ.oc; ~ m:vlcx -roü ~uxp oü
Das Eigene in der Feme wiedergefunden
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die Partherfeldzüge, bringen Vergleichbares. Aber vielfach ist die Beschreibung gerade der entfernten Länder dem Reiz des Exotischen erlegen; "alle in der Umgebung Alexanders haben lieber das Wunderbare als das Wahre aufgegriffen" (Strabon XV 1, 28 p. 698C.). Der rasch vorwärtseilende Kriegszug gestattet keine gründliche Erforschung des Landes und seiner Sitten; aber auch das natürliche Streben des Mensehen, neu beobachtete Tatsachen in das Weltbild, das er sich bereits geformt hat, einzuordnen, bleibt nicht ohne Einfluß auf die Berichte über das Gesehene und Erlebte. Der Drang, die neuen Informationen in einen Zusammenhang mit dem schon Bekannten zu bringen, ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der altionischen und frühhellenistischen Ethnographie 1 • Er schließt Vor- und Nachteile in sich. Auf der einen Seite führt das Denken in verfeinerten Begriffen und die Anwendung aitiologischer Erklärung zu einer Völkerbeschreibung, welche "in Aitiologien und Wertungen der Eigenart fremder Völker in erstaunlichem U1nfang gerecht zu werden verma.g" 2 • Auf der anderen Seite kann aber das Bestreben, Fremdes mit den gewohnten Begriffen zu fassen und Altes und Neues zur Einheit eines einzigen Weltbildes zu verschmelzen, zum Hemmschuh werden für die vorurteilslose Beobachtung, ja. es kann ihre Resultate manchmal geradezu vergewaltigen. Bezeichnenderweise erliegt dieser Gefahr an vielen Stellen kein anderer als Poseidonios 3 • Aber auch sonst gilt, daß nicht nur die Philosophen aus der Literatur über die ausländischen Paradoxa. neue Beweise für ihre eigene Auffassung schöpfen, sondern auch der durchschnittlich gebildete Ethnograph die Beschreibung fremder Völker nach philosophischen Leitsätzen zurechtbiegt, gleichgültig ob er einer bestimmten Schule angehört oder nur die philosophische Allgemeinbildung seines Jahrhunderts teilt. So ist es kein \Vunder, wenn man häufig die kynische und stoische Einfachheit in der Feme, vor allem in Indien, wiederzufinden glaubt. Ne a r c h 0 s von Kreta. beschreibt in seinem ncxpcbtAouc; AvcbtAouc; 1) -r'ijc; 'Iv8Lx'ijc;, der wohl vor 310 erscheint, im ersten Teil die Bewegung der Flotte und den Marsch des La.ndheeres, die beide in dauernder Berührung miteinander bleiben, bis zur lndusmündung. In diesem Teil geht er auf Land und Leute ein. Er beschränkt sich in der Regel auf eigene Beobachtungen t, von denen jedoch wenig erhalten ist. Denn Arria.n, der wichtigste Exzerptor, hält sich in der Anabasis für die Landbeschreibung an Megasthenes. Aber Strabon zitiert, wo er die Berichte über die indischen aotpLa-rcx( zusammenstellt (XV 1, 58ff.
c
Siehe Albrecht Dihle, Zur hellenistischen Ethnographie, S. 208f. So Albrecht Dihle, Zur hellenistischen Ethnographie, S. 226. 1 Einzelheiten hienu gibt Albrecht Dihle, Zur hellenistischen Ethnographie, 226. 231. ' Siehe Felix Jacoby, Kommentar zu Nearch, Einleittmg. 1
2
s.
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Nearch. Onesikritos
p. 711C.), auch Nearch (§ 66f. p. 716C. = Nearch F 23 Jacoby). "Die Brahmanen geben sich mit Politik ab, ... die anderen beschäftigen sich mit den Problemen der Natur, ... die Lebensweise aller ist hart ("t'oc~ 8t 7tcXV"t'WV 8Lcxhcx~ ax).:fJpi~)." Der zuverlässige Augenzeuge -das ist wichtig- stellt lediglich fest, daß die indischen Philosophen ein strenges Leben führen. Er begründet es nicht weiter und legt der Tatsache keine Tendenz unter. Anders Onesikritos von Astypalaia. Seine Schrift erscheint vermutlich 320/10, noch vor Nearch. Ihr Titel Ilw~ ,AAt~cxv8po~ ~x&-t) ( D. L. VI 84) ist ungenau, denn sie umfaßt eine vollständige Alexandergeschichte. Ihre Tendenz ist kynisierend 1 • Das Buch ist populär geworden und hat sich lange erhalten; noch Gellius hat es in den Buchläden von Brundisium gesehen (T 12 Jacoby = Gell. IX 4, 1-3). Charakteristisch ist der Bericht über die Unterredung mit dem Gymnosophisten Kalanos (F 17 Jacoby = Strabon XV 1, 63-65 p. 715f. C. - Plut. Alex. 65). Onesikritos war von Alexander abgeschickt worden, einen der nackt lebenden indischen Weisen zu holen. Er kommt zu ihm und wird ausgelacht, weil er Mantel, Hut und Stiefel trägt. Wolle er ihn hören, so solle er sich nackt neben ihn auf denselben Steinhaufen legen. Schließlich kommt er doch mit dem \Veisen ins Gespräch: Am besten sei die Philosophie, welche Lust und Trauer aus der Seele nimmt; der Unterschied zwischen Trauer und Mühsalliege darin, daß das erste feindlich, das zweite willkommen sei; den Leib übe man für die Mühsal (7t6vo~). damit der Geist erstarke .... Ob es in Griechenland ähnliche Lehren gebe? Ja, antwortet Onesikritos, auch Pythagora.s sage dieses (und verbiete den Genuß lebender Wesen), Sokrates und Diogenes, den er selber gehört habe. Darauf der Weise: Er halte ihre Lehre für vernünftig. Nur in einem Punkte sei sie falsch: daß sie den Brauch über die Natur stellten. Sie, die Inder, schämten sich nicht, nackt und einfach zu leben (AL"t'W~ ~~v); denn am besten sei die Behausung, welche am wenigsten \Vartung brauche. Die Tendenz dieses Gespräches erkennen wir deutlich, wenn wir sein Gegenstück bei Aristobulos (F 41 Jacoby = Strabon XV 1, 61 1 Felix J aco by, Kommentar zu Onesikritos, Einleitung, urteilt: "Ohne daß . . . die Erzählung der äußeren Tatsachen den realen Boden verließ und zum Roman wurde, scheint Alexanders ganzes Leben als ein exemplarisches nach kynischen Gesichtspunkten aufgefaßt zu sein ... Soweit die Wirklichkeit von Alexanders Taten dem Ideal widerspricht, werdon aber jene nicht umgemodelt, sondern wird dieses als Lehre den indischen Philosophen in den Mund gelegt oder als durchgeführt in einem der indischen Staaten aufgewiesen." Das Buch war "eine sehr eigenartige Verbindung von Historiographie und philosophischer Utopie ... " Dabei war "das ferne Indien an und für sich und besonders damals ein passenderes Substrat als das Perserreich und sein König, gegen dessen Idealisierung schon Platon (Leg. III 694c.d) u. a. Einspruch erhoben hatten".
Oneai.kritos
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p. 714C.) damit vergleichen. Bei diesem kommen e1mge Weise zu Alexander; der Gegensatz zwischen den nackten Philosophen und dem mächtigen Welteroberer soll ins Auge fallen. An seine Stelle tritt bei Onesikritos der Ausgleich; die Gymnosophisten entschuldigen Alexander ausdrücklich (t8ot ocu-rov EV 01tAOLc; q>LAOO"Oq>OÜv-roc). Beiden Schilderungen ist aber gemeinsam, daß die Inder eher Fakire als Philosophen sind. Onesikritos trifft sie an, jeden in einer anderen Haltung, den einen sitzend, den anderen liegend, unbeweglich bis zum Abend. Bei Aristobulos demonstriert der eine zu Alexander gekommene Brahmane seine Ausdauer, indem er sich auf den Boden legt und Sonne und Regen über sich ergehen läßt. Der andere steht unbeweglich auf einem Bein und balanciert mit beiden Händen eine drei Ellen lange Holzstange. So harrt er den ganzen Tag aus. Das ist keine Einfachheit im griechischen Sinne, sondern erinnert an Zirkusartisten. Onesikritos setzt die philosophische Haltung dieser Menschen trotzdem gleich mit der Lehre des Pythagoras, Sokrates und Diogenes (s.o.). Die indische Lebensform soll eben als kynische Einfachheit erwiesen werden, die eigenen philosophischen Ideale beeinflussen die Beschreibung des fremden Landes. Ähnliches gilt für andere Stellen der Schilderung des Onesikritos. Die Kathaier zwischen Hydaspes und Akesines färben ihre Bärte. "Das machen auch zahlreiche andere Inder ... mit ihren Haaren und Kleidern. Denn die Menschen sind zwar schmuckfreudig, sonst aber einfach" (F 21 Jacoby = Strabon XV 1, 30 p. 699C.). Deutlich bemüht sich hier Onesikritos, die gepflegte Kleider- und Haartracht der Inder, eine bekannte Tatsache 1, mit der Tendenz seiner Darstellung in Einklang zu bringen. Noch schwieriger ist das für ihn in F 24 Jacoby ( = Strabon XV 1, 34 p. 701 C.). Hier rühmt er das Land des Musikanos, weil seine Bewohner alt 'verden, einfach leben und gesund sind, obwohl das Land ihnen Überfluß an allem bietet 2 • Im einzelnen sieht er diese Einfachheit durch vier Einrichtungen gegeben: 1. Die Bewohner halten, wenn sie jemand öffentlich bewirten, "spartanische" Syssitien ab; 2. sie benützen kein Gold und Silber, obwohl sie Bergwerke betreiben; 3. anstelle von Sklaven bedienen die jungen Burschen, die das richtige Alter haben, wie bei den Kretern die Aphamioten und bei den Spartanern die Heloten (sie!); 4. \Vissenschaften pflegen sie nicht außer der Medizin. - Das ausgehobene Stück gehört ganz Onesikritos, Strabons Kommentar beschränkt sich auf die Bemerkung, 1
Vgl. etwa Nea.rchos 133 F 11 Ja.coby.
AtyEL 8t xiXt 7tEpt rijc; MouaLXIXvoü xwpiXc; ~nt n>..eov Cyx6l!J.L~~6lv IXÜT"I)v, wv TLVIX xoLv<X XIXL &lloLc; 'Iv8oic; ta-r6p1JTIXL, ~c; -rO !J.IX x p6 ßLov, &>an XIXl -rpL~xov"t'IX ~nt Toic; tXIXTOV 7tpOGAIX!J.ß!lveLV (x1Xl yd:p Touc; l:ijp1Xc; hL "t'OU"t'(J)V !J.CXXpoßL6l"t'tpouc; "t'LV~ q:>ctat) xoct TO ).. LT6 ß L0 y XIXt TO uy LE Lv6v. X'Xtnep rijc; xC:,pocc; «q:>&ovtiXV lin~V"t'(J)V i;(ou
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Kleitarchos
Onesikritos begrenze manche Erscheinungen auf das Land des Musikanos, welche sich doch in ganz Indien fänden 1 • Leicht durchschaut man, wie sehr Onesikritos die beobachteten Tatsachen im Sinne seiner kynischen Überzeugung zurechtbiegt. Mit der Formel "Obwohl ihnen das Land alles bietet, leben sie einfach" sucht er sich über widersprechende Einzelheiten hinwegzuhelfen. Indien soll als La.nd der Einfachheit in das Gedächtnis seiner Leser eingehen, und die Absicht seiner Darstellung tritt durch die apologetischen Zwischensätze nur noch deutlicher hervor. Klei ta.rchos' Buch erscheint kurz nach Alexanders Tod, eher um 310 als 300. Es ist der Ursprung unserer Vulgata. über Alexander den Großen; Diodor im 13. Buch und Curtius Rufus können einen Eindruck vermitteln. Unter den wörtlichen Fragmenten läßt sich keines finden, das ausgesprochen die Einfachheit der Inder hervorhebt. Ma.n kann jedoch bei Curtius Rufus Stellen bezeichnen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Kleita.rchos zurückgehen und auch bei ihm eine Verherrlichung der indischen Bedürfnislosigkeit vermuten lassen. In der Beschreibung Indiens (VIII 9)3 schildert Curtius zunächst das La.nd (§§ 2-19), dann die ingenia hominum. Kurz wird die &p't"1)(n~ m:pt 't'ou awlLoc't'o~ abgetan (§§ 20-22), ausführlich verweilt Curtius bei der luxuria. der Könige (§§ 23-31), um mit dem wirkungsvollen Gegensatz vom Leben der Gymnosophisten abzuschließen (§§ 31-36). Der letzte Satz multa et alia traduntur, quibus morari ordinem rerum haud sane operae videbatur verrät die Kürzung der Vorlage. Mit Sicherheit läßt sich deren Tenor nicht erschließen, es bleibt bei der W a.hrscheinlichkeit, daß sie in der Darstellung Indiens auf die seit Onesikritos übliche Linie eingeschwenkt ist 8 • Megasthenes schildert den Reichtum des Landes (tu8octlLov(oc xoct 7toAuxocp7t(oc: F4 Jacoby = Diodor II 36; F 8 Jacoby = Stra.bon XV 1, 20 p. 693C.), aber die Einfachheit der Bewohner (F 32 Ja.coby = Strabon XV 1, 53-55 p. 709f. C.). An At't'6't"1)~ und xriAAo~ orientiert sich die Lebensführung der Inder. "Alle Inder sind in ihrer Lebensweise einfach, besonders auf Feldzügen. Sie freuen sich nicht a.n überflüssiger Belastung, deswegen leben sie in schöner Ordnung." Obwohl sie keine geschriebenen Gesetze kennen, "handeln sie dennoch recht Vgl. auch Strabon XV 1, 54 p. 7100. Felix J aco by hat sie nicht aufgenommen, weil er anonymes Traditionsgut von seiner Fragmentsammlung grundsätzlich ausachließt (Vorwort zu FGrHiat. 1, S. VI, und zu 2A, S. V). - Karl Trüdinger, Studien ... , S. 73, führt die gesamte Beschreibung auf Kleitarchos zurück. ,.Menschlichem Ermessen nach" sei diese Zuweisung sicher. 1 Die Indizien reichen zu einem sicheren Urteil nicht aus. Zu bestimmt äußert sich Karl Trüdinger, Studien ... , S. 74 Anrn. 2: ,.Die indische Einfachheit ist von den Alexanderhiatorikem und Megaathenes stark betont worden. Ich sehe keinen Gnmd, für Kleitarch etwas anderes anzunehmen." 1
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Megasthenes
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wegen ihrer Einfalt und Einfachheit (8Lc1 -.Yjv &:7tA6't"t)'t'Cl xCll -.Yjv &Ö't'tA&LClV )". "Im Gegensatz zu ihrer sonstigen Einfachheit (tm&VClV't'tcuc; 8e 't] ffi11 AL't'6't"t)TL) legen sie Wert auf Schmuck; sie tragen Gold und haben Edelsteinschmuck, tragen blumenbestickte Musselingewänder, und Sonnenschirme begleiten sie. Weil sie die Schönheit schätzen, pflegen sie, was das Aussehen verschönt." Die Übereinstimmung mit Onesikritos ist klar und bedarf keines weiteren Beweises. Das Leben der indischen Philosophen schildert a.uch Megasthenes mit deutlichen Anklängen an die zeitgenössischen Kyniker (F 33 Ja.coby = Strabon XV 1, 59f. p. 712f. C.). "Die Brahmanen sind angesehen ... Die Philosophen halten sich in einem kleinen Wäldchen vor der Stadt auf in geeigneter Abschrankung, leben einfach (/..L-rwc; ~wvTClc;) auf Blätterstreu und Tierfellen, enthalten sich (des Fleisches) von Lebewesen und des Liebesgenusses, hören ernste Reden und lassen daran teilnehmen, wer will ... Die Garma.nen, von denen die angesehensten Hylobioi ,Waldbewohner' genannt werden sollen, leben in den Wäldern von Blättern und wilden Früchten, bekleidetl mit dem Bast von Bäumen, ohne Liebesgenuß und Wein; sie kommen aber mit den Königen zusammen, welche durch Boten (bei den Hylobioi) über die Ursachen (der Dinge) nachfragen lassen und durch Vermittlung der Hylobioi die Gottheit verehren und anrufen. Nach den Hylobioi folgen an zweiter Stelle im Ansehen die heilkundigen und die Philosophie des Menschen betreibenden (\\reisen). Auch sie leben einfach, aber nicht auf freiem Feld (). L't'ouc; f.LtV, f.L~ &.ypCluA.ouc; 8e), ernähren sich von Reis und Gerstenbrot, das ihnen jeder gibt, den sie darum bitten und der sie gastfreundlich aufgenommen hat." Die hier berichteten Einzelheiten aus dem Leben der indischen Weisen entsprechen teilweise kynischen Vorstellungen. Je einfacher die Philosophen leben, desto höher sind sie angesehen. Das Leben im Freien eignet auch Diogenes und anderen kynischen Berühmtheiten. Blätterstreu, über die ein Tierfell gebreitet ist, kennen wir als stehenden Ausdruck, um die bescheidene Wohnweise zu charakterisieren. Die Enthaltung von Fleisch, Liebesgenuß, das Leben in philosophischer Gemeinsamkeit erinnern a.n pythagoreische Vorschriften. Megasthenes, so können wir abschließend feststellen, betont die Einfachheit aller Inder, ganz besonders aber der Philosophen. Welchen Schluß können wir insgesamt a.us den besprochenen Stellen ziehen? Die älteren Alexa.nderhistoriker und Teilnehmer am Zug treiben ta-roptl) aus persönlichem Interesse. In ihre Darstellungen legen sie das Erkundete als zusammenhängenden Exkurs über Land und Leute ein. Nearch scheint tendenzlos zu berichten. Onesikritos zeigt eine be1
Der griechische Text ist ungeheilt. Ich folge Meinekee Konjektur
la&"')To~.
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Spätere Berichte über Indien
stimmte Absicht. Er versucht, das Leben der Inder unter dem Gesichtspunkt der Einfachheit zu beschreiben. Widersprechende Tatsachen (z.B. die gefärbten Bärte) werden entkräftet. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er den Gymnosophisten. Onesikritos' scharfe Beobachtungsgabe1 befähigt ihn, anschauliche Einzelheiten zu berichten. Gerade sie ermöglichen es uns, die Eigenart der indischen Weisen zu spüren. Sie erinnern eher an Fakire als a.n Philosophen. Trotzdem betrachtet Onesikritos ihre Lebensweise als ein Mittelding zwischen pythagoreischen und kynischen Formen. Wenig Sicheres wissen wir über Kleitarchos. Wahrscheinlich bewegt sich seine Darstellung in ähnlicher Richtung wie die des Onesikritos. Mega.sthenes zeigt die gleichen Merkmale: die Inder sind allgemein sehr einfach, ihre Neigung zu Schmuck wird mit der Schönheitsliebe entschuldigt. Besonders einfach leben die Philosophen. Sie verbinden kynischen und pythagoreischen Lebensstil. So steht zumindest für einen Teil der Autoren bei der Beschreibung Indiens der Topos 1te:pt ~&ouc; unter dem Gesichtspunkt der Einfachheit und Bedürfnislosigkeit 2 • Die spätere Literatur über Indien nimmt die zur Alexa.nderzeit ausgebildeten Vorstellungen auf. Dion von Prusa (or. 35, 22) macht aus den Brahmanen wieder freiwillige Kyniker. Die Natur bietet ihre Güter in verschwenderischer Fülle; trotzdem "gibt es dort Menschen, die Brahmanen genannt werden und die ganz erstaunliche körperliche Anstrengungen (1t6vouc;) und gewaltige Entbehrungen auf sich nehmen, obgleich sie niemand dazu zwingt". Bardesa.nes von Edessa beschreibt das Leben der Brahmanen und Schamanen (F 2 Jacoby = Porph. De abstin. IV 17). Der Schwerpunkt liegt auf den religiös-kultischen Zwecken der Gemeinschaft; das hängt mit der Auffassung des ausschreibenden Porphyrios zusammen. Die Züge einfachen Lebens sind noch gut erkennbar(§ 4): "Die Kost besteht aus Reis, Brot, Früchten und Gemüsen ... Wer besondere Abwechslung (7toLXLAta.) wünscht, dem wird Gemüse oder etwas Obst vorgesetzt; kurz nach dem Essen gehen sie hinaus zu den gleichen Beschäftigungen (wie vorher)." Noch Clemens von Alexandrien (Strom. I 71, 4-5) hält an dem von Mega.sthenes gezeichneten Bild der Gynmosophisten fest. "Es gibt zwei Arten (der indischen Gynmosophisten). Die einen davon sind die Schamanen, die anderen die sogenannten Brahmanen. Die Hylobioi genannten Schamanen wohnen weder in Städten, noch haben sie ein Dach überm Kopf, kleiden sich mit dem Bast von Bäumen und ernähren sich von Eicheln, trinken aus der Hand Wasser und kennen keine Ehe und Kinderzeugung. '' 1
2
Felix Jacoby, Kommentar zu F 17, hebt sie besonders hervor. Vgl. hierzu auch Karl Trüdinger, Studien ... , S. 64-80.
Reisefabulistik (lambulos)
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c) Der Topos der Einfachheit in der Reisefa.bulistik Neben die Beschreibrmg fremder Völker, vor allem Indiens, die auf eigener Erfahrung beruht, tritt, rasch emporschießend, eine phantastische und märchenhafte Reiselitera.tur. Sie ist in der Ich-Form gehalten und erinnert in manchem a.n die Abenteuererzählungen des Odysseus. Lukia.n zeiclmet, als er dreihundert Jahre später zu einer Parodie darauf ansetzt, ein unübertreffliches Bild dieser Gattung (Ver. Hist. I 3): "Ktesias aus Knidos, der Solm des Ktesiochos, beschrieb das Land der Inder und die dortigen Verhältnisse. Er hatte sie weder selber gesehen noch von einem anderen etwas darüber erfahren. Auch Ia.m bulos schrieb über viele unfa.ßba.re Ereignisse auf dem großen Meer; er log seine Geschichte zusammen, wie allen klar war, führte aber die Handlung unterhaltsam durch. Viele andere haben sich das gleiche Thema. gewählt und schrieben, wie wenn sie von eigenen Irrfahrten und Reisen berichteten, über riesige Tiere, wilde Menschen rmd neuartige Lebensweisen. Ahnherr und Lehrer in solcher Aufsclmeiderei ist ihnen der homerische Odysseus mit seinen Erzählungen vor den Gästen des Alkinoos." Wir erwähnen diese Reisefa.bulistik, weil sich in ihr der Topos der Einfachheit eingebürgert hat, wenn auch in seltsamer Verbindung. Durch Zufall ist uns ein Stück ihres Hauptvertreters Ia.mbulos erhalten (bei Diodor TI 55-60). Die Aethiopier schicken Ia.mbulos und einen Gefährten in einem kleinen Boot auf das Meer hinaus. Sie sollen zu einer glücklichen Insel gelangen (c. 55). Sie landen wohlbehalten und treffen auf Eingeborene von hohem, schönem Wuchs und geschmeidigem Körper. Das Klima. ist mild und freundlich (c. 56). Der Boden bringt ohne große Mühe der Bearbeitung die reichsten Früchte hervor. Warme und kalte Quellen entspringen ihm. Schrift und \Vissenscha.ft sind bei den Menschen unbekannt. Die meisten erreichen ein hohes Alter, olme je krank zu sein. (Wer ein Gebrechen hat, muß sich selber das Leben nehmen) (c. 57). Das Volk lebt in Fra.uengemeinscha.ft. Die Kinder werden vertauscht, kein falscher Ehrgeiz kann gegenseitig aufkommen. Die Insel ist von wunderbaren Tieren bevölkert.- Der Älteste des Stammes regiert als König (c. 58). "Alle Bewolmer dieser (Inseln) machen, obwohl sie reichliche Vorsorge für alles von der Natur selber besitzen, keinen übermäßigen Gebrauch von diesen Genüssen, sondern erstrehen die Einfachheit und nehmen nur die für sie ausreichende Nahrung zu sich (-.Yjv AL't'6't"YJ't'Cl 8u~xoucnv xoct TY)v cipxoüaocv 't'pocp~v 7tpoacpepov-rocL: c. 59, 1). Außer Sieden und Braten kennen sie keine Art der Speisezubereitung. Sie genießen die Früchte wildwachsender Obstbäume, Oliven und Reben. - Eigenartig sind die religiösen Gebräuche (c. 59). Über Indien kehrt Ia.mbulos schließlich zurück (c. 60).
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Agatharchides von Knidos
In der Einfachheit dieser Bewohner können wir einen Anklang a.n die Indienschilderungen erkennen. Onesikritos und Mcga.sthenes gebrauchten beide da.s Denkschema: "Obwohl da.s La.nd sehr reich ist, leben die Bewohner einfach." Die gleiche Formelliegt hier zugrunde. Die Umgebung ist so paradiesisch geschildert, daß der Kontra.st noch stärker hervortritt. Die Einfachheit ist keineswegs mit Anstrengung verknüpft, wie da.s in philosophisch beeinfiußten Berichten der Fa.ll ist, sondern wirkt idyllisch. Unwillkürlich denken wir an das Leben auf den Inseln der Seligen. Auch dort verbringen die Bewolmer ihre Tage in zeitlosem Glück; freilich ist in der frühen 'Überlieferung nicht von Einfa.chheit die Rede. Um diesen Zug bereichert erst die hellenistische Epoche die alte Vorstellung von fernen glücklichen Eilanden. d) Der Gedanke des einfachen Lebens bei Agatharchides, Poseidonios, Diodor, Strabon Agatharchides von Knidos (190? bis ca. 132/31)1 setzt Duris w1d Phylarch fort; er ist kein selbständiger Forscher, besitzt aber weitgespannte ethnographische und philosophische Interessen. Diese verbinden sich mit dem Willen und der Fähigkeit zu anschaulicher Darstellung; so kommt es, daß er eine beträchtliche Wirkung ausübt, die sich auch bei Poseidonios - manchmal bis in einzeh1e Formulierungen hinein- feststellen läßt. In seiner Schrift llept -r-Yjc; 'Epu3-p~c; 3-oc'AocaG"f)c; (GGrMin I p. 111-195) kommt er aufeinige Völkerschaften zu sprechen, die am Rande des Roten :Meeres wohnen 3 • Ihr Da.sein ist ein Bild der drückenden Armut und Primitivität. Sie sammeln Fische, die von der Flut ans Land gespült werden und im Geklüft der Steine hängen bleiben, trocknen sie an der Sonne und verzehren sie, vermengt mit Paliurosfrüchten. In Notzeiten zerschmetten1 sie durch Steinwürfe das Gehäuse von Muscheln und schlingen das darunter hervorquellende Fleisch roh hinunter. Alle fünf Tage ziehen sie zu einer Wasserstelle im Inland, um daraus zu trinken. Anschließend kehren sie wieder zurück w1d leben die nächsten vier Tage in den alten Uferhöhlen (§§ 31-38). Diese Schilderung ist realistisch, von keinem Sentiment getrübt. Trotzdem schließt Agatharchides an sie die schablonenhafte Folgerung an: "Dies geschieht im Rhythmus des Lebens, während sie sich mit 1 Die Fragmente sind gesammelt bei Felix Jacoby, FGrHist., 2A Nr. 86 und bei Karl Müller, Geographi Graeci Minores (Paris 1882), Bd. I, S. 111195. - Darstellungen: Albrecht D i h I e, Zur hellenistischen Ethnographie, S. 213-226; Helrnuth Leopoldi, De Agatharchide Cnidio (Preisschrift und Dias. Rostock 1892 - Ref. Ed. Schwartz); Eduard. Schwartz, RE I (1894:), Sp. 739--741 s. v. Agatharchides Nr. 3. 1 Antike Parallelberichte und moderne Reisebeschreibungen über dieses Gebiet verzeichnet Karl Müller, GGrMin., 8.129 im kritischen Apparat zu § 31.
Agatharchides. Poseidonios
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keiner Beschäftigung oder Sorge um irgendeine Angelegenheit abgeben. Durch die Einfachheit ihrer Lebensweise (8L~ TI]v cX7tA6Tl)Tot nj<; 8Lot('t'"1)<;) werden sie auch selten krank." 1 Ähnliches wiederholt sich einige Zeilen weiter unten. Obwohl keineswegs blind für die Härte dieses Lebens, preist Agatharchides die Menschen, die dazu gezwungen sind, glücklich (§ 49). In der zivilisierten Welt ist der Mensch hin- und hergerissen zwischen Notwendigem und Überflüssigem. Die Ichthyopha.gen verzichten auf alles Überflüssige, aber nichts Wesentliches fehlt ihnen. Sie streben nicht nach Macht, deshalb sind sie in keinen Streit verwickelt; sie beginnen keine Kriege und kennen keine Schifffahrt. Sie brauchen wenig und begehren wenig; sie erwerben da.s, wa.a ihnen genügt und verlangen nicht nach mehr. Weil jeder alles besitzt, was er ·wünscht, muß er glücklich sein nach dem Ka.lkül, da.a auf dem Gesetz der Natur und nicht auf vorgefaßten Meinungen beruht. Dieses Urteil des Agatharchides basiert auf epikureischen Argumenten. Nach der allgemeinen griechischen Auffa.asung schließt er, daß Armut Streit und Krieg überflüssig mache. Damit ist gesagt, daß da.s äußere Glück dieser Menschen auf ihrer Besitzlosigkeit beruht. Die Schiffahrt ist noch unbekannt: jeden Griechen erinnert diese Feststellung an das goldene Zeitalter. Ihr Fehlen ist ein Symbol, daß da.s unheilvolle Gewinnstreben noch unbekannt ist. Die Menschen sind zufrieden mit dem, was sie haben; daraus fließt nach Epikur ihr inneres Glück. Agatharchides erkennt klar die Tatsache, daß dieses Volk unter schwersten Bedingungen lebt; er sieht dies aber als Vorzug an, weil es die Voraussetzung des Glückes ist, des letzten und entscheidenden Zieles im menschlichen Leben. Poseidonios vom Apameia erlebt auf seinen Reisen die westlichen Barbarenvölker. Wie für die Alexa.nderzeit Indien das große Ereignis ist, so wird für Poseidonios die Berührung mit dem Westen da.s entscheidende Erlebnis 2 • Schon die Antike erkennt den Zusammenhang des geschichtlichen, ethnographischen und philosophischen Werkes (Athen. IV 151 e = Poseidonios T 12 Jacoby). Die einzelnen Teile sind durch ein dreifaches Band verbunden: durch den Stoff, soweit die Geschichte Charakter- und Sittenschilderungen bringt, die da.a ethische Interesse zeigen; durch die stoischen Maßstäbe, welche auch dem Urteil über die geschichtlichen und sozialpolitischen Verläufe zugrundeliegen; schließlich durch die therapeutische Absicht: die Ethik soll das Irrationale im Menschen bändigen, da.s Geschichtswerk soll vor dem allgemeinen Niederga.ng warnen 8 • 1 So im Exzerpt dee Photios. Die Parallelüberlieferung des Diodor schließt Sich fast WÖrtlich an (IlJ 17,0 fin.); OÖ't<.ol ß~OÜCJL, WCJO~c; !Jh 3~cX rljv ciJt>..6Tl)Tot [limu.6Tl)TCX D] Tijc; -rpoq~ijc; cmcxv(wc; rccp~rcht-rov-rcc;. 1 Vgl. Karl Reinhardt, Poaeidonios(RE XXII 1,1953, Sp. 558-826), Sp. 564. 1 Vgl. Karl Reinhardt, Poseidonios (RE-Artikel), Sp. 627f.
8 83t8 Vlacher, Du eln!acbe Leben
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Altrömische Einfachheit bei Poseidonios
Der Verfall der eigenen Zeit, welcher in den Bürgerkriegen deutlich wird, läßt Poseidonios die frühere Zeit mit Liebe betrachten. Den Westen insgesamt hebt er ab gegen den in Degeneration versinkenden Osten, die alte Einfachheit der Römer gegen die Übel der Jetztzeit!. Poseidonios bleibt nicht befangen im moralischen &mxwe:~v xocl ~eye:Lv, sondern zeichnet die Einzelzüge scharf und realistisch. Ein Musterbeispiel ist die Schilderung des Ptolemaios Euergetes (F 6 Jacoby = Athen. XII 549d-e). Dieser "zerstörte infolge der Üppigkeit seinen Körper durch Aufgedunsenheit rmd Größe seines Bauches, den man kaum noch umfassen konnte. Darüber trug er einen Chiton, der bis zu den Füßen reichte und Ärmel bis zu den Handgelenken hatte; so ging er umher. Öffentlich erschien er nie zu Fuß, ausgenommen bei Scipio." In den Rahmen unserer Untersuchung gehören vor allem zwei Bereiche des poseidonianischen Werkes: die Schilderung der altrömischen Einrichtungen und die der westlichen Barbarenvölker. Das hauptsächliche Fragment (F 59 J a.coby) stammt aus Athenaios. Dieser gibt in den "Deipnosophisten" (VI 273a-275b) eine längere Darstellung der altrömischen Sitten - ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der bescheidenen Lebensführung - rmd beruft sich dabei auf Polybios und Poseidonios (273a). Ob das direkte Zitat schon rmmittelbar mit 273b beginnt, ist zweifelhaft. Der Gedanke: "Die Römer bewahrten ihre von den Väte1n überkommenen Einrichtungen und nahmen von den anderen, überwrmdenen Völkern nur an, was ihnen vorteilhaft war" (273 b-f) berührt die Einfachheit nur a.m Rande. Er liefert jedoch Athenaios das Stichwort; an Hand der bescheidenen Lebensweise der Altvordetn will er das beklagenswerte Gegenteil, die Untreue zur eigenen Art, welche später einriß, klarlegen. Dabei zitiert er Poseidonios wörtlich (274a). "Angestammt war ihnen Genügsamkeit und eine einfache Ernährung und auch in den anderen Dingen, die den Erwerb betrafen, war die Handhabung schlicht und ohne Aufwand. Auch ihre Frömmigkeit gegenüber der Gottheit war bewundernswert, eine Gerechtigkeit und große Sorgfalt, sich vor Fehltritten in acht zu nehmen gegenüber allen Menschen, verbunden mit der Übung durch den Landbau. " 2 Die stoischen Maßstäbe, wie wir sie zum Teil schon aus der Diatribe kennen, wendet Poseidonios hier auf die Geschichtsbetrachtung an. Vgl. Karl Reinhardt, Poseidonios (RE-Artikel), Sp. 632. Die gehäuften Synonyma für "einfach" machen den griechischen Text sprachlich sehr bemerkenswert; ich schreibe ihn daher aus (274a): TrcX"t'pLo~ !J.tv yc%p ~v cx1ho'L~, Cl~ q>7JC1LV lloaeL8wvLoc;, xcxpuplcx xcxt AtT-1) 8lcxt"t'CX xcxt T(;)v !ll(I)V "t'(;)v TrpO~ "t'1)v x"t'ijatv ci 'PE A1) c; X (X t &. 1t' e p l e p 'Y 0 c; xpijatc;, hL 8& &Uat~ELCX JLh &cxuEJ.cxa"t'1) Trept -tO 8cxt!J-6Vtov, 8txcxtoaUv7J 8& xcxt Troll-t) "t'OÜ TrA7J!J-!J-E:AeLV eu>.ti~etcx TrpO~ TravTcx~ civ&pwTrou~ IJ.E"t'cX Tij~ xcxTcX ye(llpylcxv ciax~at(llc;. 1
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Altrömische Einfachheit bei Poseidonios
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Die a.ltrömische Einfachheit äußert sich zunächst in einer bescheidenen Kost, aber auch in dem ganzen Stil des Lebens; der Erwerbs- und Besitztrieb wurde mit schlichten Gegenständen befriedigt. Wie so oft ist diese Lebenshaltung verbunden mit dem Landbau und zeitigt hohe mora.lische Vorzüge: Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Bewußt oder unbewußt folgt Poseidonios damit dem Ideal der Einfachheit, das seine Schule längst kennt, und überträgt es a.uf Rom. Wie die Griechen in Sparta. und Kreta, so empfindet der Westen seine Vorstellung der erstrebenswerten Einfachheit geschichtlich im frühen Römerturn verwirklicht. Der Text ist eindeutig und in sich geschlossen; doch die Art, wie Athenaios ihn fortführt, verlangt noch unsere Aufmerksamkeit. Ob nach der ausgehobenen Stelle noch weiterhin Poseidonios zitiert wird, ist ungewiß. Der Gedanke lautet: Diese Einfachheit ist aus dem Kult ersichtlich. Gerade dort lebt die Tradition am stärksten weiter, occpe:).:Yj 't'e: 't'~Ü't'~ x~t l..t't'oc (274 b). Die beiden Assoziationen: "Die Römer bewahrten das Ererbte" und "Die Römer lebten einfach" verschlingen sich hier. Das erweckt den Eindruck, Athena.ios schreibe "unter Benützung eines vulgaten ( !) Gedankens" verbindende Zwischenworte und leite zum nächsten Zitat über 1 • Doch kann auch noch Poseidonios sprechen. Die Einfachheit des Kultes zeigt sich in dem Maß der Opfergaben und der Kleidung der Opfernden. Beides übersteigt das Notwendige nicht 2 • \Vir tragen schlichte Kleider und Schuhe (ea&lj't'occ; 't'e: tX,O(.L&V x~l. {mo8eae:tc; e:u't'e:Ae:~c;), umwickeln den Kopf mit der dichtbehaarten Mütze aus Scha.fs- oder Ziegenfell und opfern in irdenen oder bronzenen Gefäßen Speise und Trank ohne jeden Aufwand (ßpw't'cX x~l. 7tO't'cX 7tocv't'wv oc7te:pte:py6't'~'t'~). Der Mensch kann nicht den Göttern einfache Gaben darbringen und selber nach dem neuesten Luxus leben (auch wenn das Opfer "nur" eine Erstlingsgabe und die menschliche Nahrung von der Notwendigkeit bestimmt ist) (274b-d). Damit verläßt Athena.ios vorläufig Poseidonios und die virtus der alten Römer. Ohne rechten Übergang kommt er sofort a.uf die Iex Fa.nnia zu sprechen. Sie steht in entferntem Zusammenhang mit dem Thema "Einfachheit", weil sie die Menge des Geldes, das für Lebensmittel und Delikatessen ausgegeben werden darf, festlegt3. Doch das Felix J aco by z. St. So verstehe ich nach Casaubonus den dunklen Satz oü8Cv 1tUov Ti:lv XIXTeX q~ucnv, o(ht ~!J.qm:a!J.!vot xt:tl 7ttpl TeX GW!J.IXTIX lxoVTE~ oön cX7tt:tpX6!J.EVOt. "Neque in nobis, inquit (sc. Athenaeus), modum excedimus euro sacra facimus neque in iis, quae Diis offorimus." Siehe Animadversiones in Athenaei Deipnosophistas post Isaacum Casaubonum conscripsit Ioannes Schweighaeuser, t. III (Argentorati 1802), p. 610. 3 Der Passus 274c-e ist unklar und bisher noch nicht genügend behandelt. Vor allem ist die Absicht, in der Athenaios schreibt, nioht, zu durchschauen. Mucius Scaevola, Aelius Tubero und Rutilius Rufus umgehen nämlich das 1
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Barbarenvölker bei Poseidonioa
Gesetz hat keinen rechten Erfolg. Nach einem Seitenblick auf den Aufwand des Lucullus wendet sich Athena.ios wieder der Einfachheit zu. Er zitiert Poseidonios dafür (275a), daß nicht nur die Römer, sondern a.lle Völker Italiens in der frühen Zeit sehr einfach lebten (oÄLyo8&&~~ f)O'cxv). Hierfür begegnen wir wieder einem bekannten Indiz: sie trinken nur W a.sser und essen, was es gerade gibt. Vater oder Mutter fragen den Sohn, ob er Birnen oder Nüsse haben will, er ißt davon, läßt es dabei bewenden und legt sich zum Schlafen. Das ist eine der konkret beobachteten Einzelheiten, die Poseidonios liebt; sie ordnet sich seiner a.llgemeinen Absicht, die altrömischen Zustände als eine Verkörperung der Einfachheit mit a.ll ihren Vorzügen wiederzugeben, zwanglos unter. Ein anderes Bild ergibt sich aus den Schilderungen über die westlichen Barbarenvölker. Die meisten seiner Gedanken kennen wir nur aus dem, was in den Berichten des Diodor und Strabon verarbeitet ist; nur über die Kelten besitzen wir ein längeres, wohl wörtliches Bruchstück (F 15 Jacoby =Athen. IV 151e-152d). Es handelt von den Eßsitten der Kelten. Ich gebe das Fragment, weil es sehr wichtig ist, in ausführlicher Paraphrase wieder. Die Gallier breiten Heu auf dem Boden aus und stellen niedrige Holztischehen darauf. Hauptsächlich essen sie Fleisch, gesotten oder a.m Spieß gebraten. Sie halten ganze Keulenstücke in beiden Händen und reißen mit den Zähnen große Brocken Fleisch a.b; manchmal helfen sie mit einem Messer nach. - Die Anwohner von Flüssen verzehren auch Fische. Öl verwenden sie nicht, weil sie nur wenig davon besitzen. Auch wäre ihnen das Ungewohnte unbehaglich. - Bei großen Gelagen (im Freien?) lagen1 sie sich im Kreis, in der Mitte der mächtigste Ma.nn, welcher durch kriegerisches Geschick, Abkunft oder Reichtum ausgezeichnet ist, ihm am nächsten der Gastgeber, die anderen, abgestuft nach Rang, in einiger Entfernung. Gegenüber den Gesetz, ohne es fönnlich zu verletzen. Sie beziehen Fisch u. ä. von ihren Klienten, die Fischer sind. Damit halten sie das Gesetz selber ein. Auch sonst sind sie konsequent in ihrer stoischen Haltung. W a.s soll das bedeuten? Halten nur drei Menschen die Iex Fa.nnia. ein, und diese durch Umgehung? Dann ist der Abschnitt ein Tadel gegen das a.llgemeine Streben nach Luxus. - Andererseits wird der Vorwurf der noAUT~MLcx erst gegen Lucullus (274e) erhoben: Tijc; 8! no>.un).dcxc; Tijc; wv cixJLcxCoual)c; npwToc; 'ljyt!J.~V tyivno . . . tx Tijc; ncxAcxLäc; awq>poljc; dal)Y")Tl)c; 'PwJLcxtoLc; tyhno. Von diesem Gesichtspunkt aus gehört die Iex Fa.nnia. noch zum Lob der Einfachheit. Es wäre ein ähnlicher Beweis für sie wie das Gesetz der Bürger von Ma.seilia, das Stra.bon (IV 1, 5 p. 181C.) erwähnt: "Von der Einfachheit der Lebensweise und Genügsamkeit der Ma.seilienser kann man wohl das nicht als den kleinsten Beweis anführen, daß bei ihnen die größte Aussteuer hundert Goldetücke sind, fünf aber zur Kleidung und fünf zu goldenem Schmucke, mehr jedoch (zu geben) nicht erlaubt ist." (Übersetzung von A. Forbiger, Stra.bo's Erdbeschreibung ... , Berlin und Stuttga.rt 1855-1885).
Barbarenvölker bei Poseidonios
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Gefolgschaftsführern lagern schmausend die Mannen. Irdene Humpen oder auch silberne Pokale kreisen; auf Tellern aus gleichem Material (xcd y2tp -rou~ 7tLvaxa~ ... -roLou-rou~ lx.eLV) werden Speisen gereicht; andere Stämme begnügen sich mit Tellern aus Bronze oder verwenden korbartige Gefäße (xocvea) aus Holz oder Bronze. Die Wohlhabenden leisten sich importierten Wein, die Ärmeren trinken Weizenbier mit Honig, das einheimische Wort dafür ist Korma. Während des Essens springen die Kelten manchmal auf 1 und fordern sich zum Zweikampf heraus. Zuerst ist es nur ein Scheingefecht; sobald jedoch der eine den anderen verwundet, artet der sportliche Wettkampf zum tödlichen Duell aus, wenn sich die Umstehenden nicht dazwischenwerfen. Dies ist, so glaubt Poseidonios, der Rest einer alten Sitte, nach welcher der stärkste Mann Lende und Keule der Jagdbeute erhielt. Beanspruchte ein anderer das Stück, so mußte er seinen Anspruch mit den Waffen verteidigen. - Andere Kelten sammeln von den Zuschauern Gold, Silber, Weinkrüge ein; sobald sie diesen Preis fest zugesagt erhalten und ihren Verwandten übergeben haben, legen sie sich mit dem Rücken auf den Schild, jemand tritt hinzu und durchschneidet ihnen mit dem Schwert die Kehle 1 . Diese längere Wiedergabe war notwendig, um den Charakter des poseidonia.nischen Berichtes sicher beurteilen zu können. Er besticht durch seine genaue Beobachtung und die anschauliche Schilderung. Von irgendeiner Tendenz oder Verklärung ist keine Spur zu finden. Vor allem das Detail über den Zweikampf während des Mahles enthüllt Poseidonios' Art, die Dinge zu sehen. Er führt eine zunächst unverständliche Sitte auf einen älteren Brauch zurück, welcher unmittelbar aus der Situation geboren war. Er wurde später zwar sinnlos, starb aber nicht ab, sondern wirkt in veränderter Form nach. \Ver so erklärt, der forscht und deutet, aber er idealisiert nicht. D i o d o r aus Sizilien folgt Poseidonios vor a.llem bei der Beschreibung der Kelten (V 24-32), der Keltiberer und Lusita.ner (V 33-34), der Ligurer (V 39 - IV 20) und der Tyrrhener (V 40) 3 • Auch in der Fassung Diodors finden wir wenig von einer lobenden Hervorhebung der Einfachheit. Einen unaufdringlichen Hinweis könnte man höchstens darin sehen, daß z. B. das Leben der in -rpucp~ versunkenen 1 F 16 Jacoby =Athen. 154a---c. F 15 und 16 standen beide im 23. Buch der Historien ; wahrscheinlich gehören sie einer zusammenhängenden Partie an. 1 Das Bußgeld für den erschlagenen Mann wird also vorher sichergestellt, zugleich der Tötende vor der Blutrache bewahrt. Unklar ist nur, warum der Kämpfer keinen Widerstand leistet. Offenbar hat Athenaios nur das Kuriosum aus Poseidonios notiert, ohne die vielleicht später folgende Erklärung aufznnehmen. Eine befriedigende Deutung der Stelle ist mir nicht bekannt. a Neuerdings widerspricht dem Felix Jacoby. Quelle für Diodor V 40 sei Tirnaios, "jedenfalls nicht Poseidonios" (FGrHist. 3B, Timaios 566 F 1, Kommentar z. St.).
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Diodor
Tyrrhener rmd der harte ßlo<; der Ligurer rmmittelbar nebeneinander gestellt werden 1 • Die Ligurer ringen mit dem Boden, die Frauen arbeiten gleich den Männern. Jagd erhält sie spannkräftig und stark. Ihre Wohnweise ist einfach; ihr Charakter edel und kühn (&pocae'i:<; xoct yevvoc'i:oL). Die allgemeine Kulturstufe ist der ßlo<; cX.pzoc'i:o<; xoct cX.xoc't'<Xaxeuo<;. Diodor idealisiert nicht, aber er verbindet den einfachen Zustand der Lebensführrmg mit dem Begriff "archaisch". Die Barbaren spiegeln noch wider, was auch den Hellenen auf früherer Stufe eigen war. Poseidonios-Diodor übernimmt hier einen schon lange im Umlauf befindlichen Gedanken. Bereits die Sophisten und Thukydides hatten begonnen, homerische Sitten mit denen zeitgenössischer Barbaren zu vergleichen. Der Verfasser von 7ttpt 't'oÜ 't'WV ~pwwv xoc&' .,Ü!J.l)pov ßlou, den Athenaios (I Se ff.) exzerpiert und der vielleicht im 3. Jahrhundert v. Chr. zu suchen ist, schreibt über die Sitte, erst nach dem Ende des Mahles alle Speisen abzutragen: "zur ganzen Geselligkeit blieben die Tische voll stehen, wie dies bei vielen der Barbaren auch jetzt Gewohnheit ist" (11 f-12a). Schon Poseidonios hatte den Vergleich fertig vorgefrmden, und Diodor braucht ihn nur in seinem Auszug stehcnzulassen2. Diodor hebt gern Einzelheiten hervor, welche diese Entsprechung unterstützen. Die poseidonianischc Schilderung der Essensbräuche bei den Galliern, die wir in der direkten Wiedergabe durch Athenaios schon kennen, kürzt er folgendermaßen (V 28, 4-5): "Alle essen sitzend, nicht auf Stühlen, sondern auf der Erde, nnd verwenden als Decken Wolfs- oder Hundsfelle. Sie werden von den Jüngsten bedient, welche das Alter dazu haben, von Burschen oder von Mädchen. Ihnen nahe sind die Herdstellen, von Glut gefüllt, mit Kesseln und Spießen, an denen Fleisch in unzerschnittenen Stücken hängt. Die tüchtigen Männer ehren sie mit den schönsten Fleischstücken, genauso wie H001er Aias vorführt, der von den Führern geehrt wird, als er gegen Rektor im Zweikampf gesiegt hatte: mit durchgehenden Rückenstücken ehrte er Aia.s (H 321). Auch die Fremden laden sie zu ihren Schmausereien ein und na~h dem Mahl fragen sie, wer sie sind nnd wessen sie bedürfen ... " Ähnlich verfährt Diodor bei den Britanniern. Für ihre Schilderung (V 21) ist er von Timaios abhängig. Ihr äußerer Lebensstil ist einfach, sie leben in bescheidenen Hütten, die aus Rohrgeflecht oder Holz hergestellt sind. Zur Schlacht fahren sie im Streitwagen, "wie sie die alten Helden der Griechen im trojanischen Krieg gemäß der Überliefenmg verwendet haben" {§ 5). "In ihrem Charakter sind sie einVgl. Karl Trüdinger, Studien ... , S. 102. Vgl. o. S. 29. Vgl. Felix Jacoby, FGrHist., Kommentar zu Posoidonios F 116, Bd. 2C, S. 215, Z. 31, und Eduard Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus' Germania, Leipzig Wld Berlin 2. Aufl. 1922, S. 139. 1
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Strabon
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fach ('t'oi:c; 8€: ~&eaw a7tl..oüc; e:!wtL) und ohne die Schläue und Schlechtigkeit der jetzt lebenden Menschen" (§ 6). Dieser Satz verrät, wie sehr die Zeit schon dafür reif ist, vom Vergleich der homerischen und barbarischen Sitten zur Verherrlichung der darinliegenden Einfachheit überzugehen. Mit größter \Vahrscheinlichkeit könnten wir, wäre die Überlieferung reichhaltiger, das Homerisieren als einen festen Zug in der griechischen Vorstellung der Einfachheit nachweisen. So müssen wir uns auf verstreute Stellen beschränken; von Insel zu Insel überspringend, können wir diese Linie mehr andeuten als verfolgen. Stra bon verarbeitet in seiner Erdbeschreibung das Material der früheren Geographen, liebt es aber, eine eigene Absicht mit der Darstellung zu verbinden. Diese findet er, was die Barbarenvölker anlangt, bei Ephoros. Nicht umsonst hat gerade er ihn erhalten. Um dies deutlich zu erkennen, beginnen wir mit dem Bericht über die Kelten (II 5, 28 p. 1280.; IV 1, 1-4, 5 p. 176ff. C.). Die klare Scheidung zwischen Germanen und Ga.lliem lehrt, daß Strabon einen nachposeidonianischen Autor (Timagenes) benützt, der jedoch stofflich eng an Poseidonios gebunden istl. Strabon faßt Eigenheiten des ß(oc;, welche bestimmte Charaktereigenschaften erschließen lassen, zusammen tmd stellt die betreffenden Stichwörter voran 3 • Diese sind bei der Schilderung der Kelten Tapferkeit und unverdorbene Einfalt (IV 4, 2 p. 1950.): ..0 8€: aUfL7tCXV qrul..ov ••• &.p&Lfl.OCVL6v ta't'L xcxt .&ufLOVtx6v 't'& xcxl 't'CXXU 7tpOc; fl.OCX"I)V, &1../..wc; 8e a7tl..oüv xcxl ou xcxx6"1).&ec;. Es folgen die beweisenden Einzelheiten. "Sie tragen kurze Mäntel, lassen das Haar lang wachsen und bedienen sich enger Hosen; statt Leibröcken tragen sie bis zur Scham und den Lenden hinabreichende Ärmeljacken. Die meisten liegen noch jetzt auf der Erde und speisen sitzend auf Strohkissen. Ihre hauptsächliche Nahrung besteht in Milch w1d allerlei Fleisch, insbesondere Schweinefleisch." 3 Das sind die von Poseidonios beobachteten, von Diodor wiederholten Züge; sie werden jetzt unter den Gesichtspunkt der Einfachheit gestellt. Einige eingestreute Be1 Vgl. Felix Jacoby, FGrHist., Poseidonios F 22 Kommentar (Bd. 20, S. 170). Poseidonios scheidet die Kelten wahrscheinlich noch nicht von den Gennanen. In F 22 (=Athen. IV 153e) nennt er zwar ihren Namen, doch ist dieser nicht von ihm, sondern von Athenaios, gewissermaßen als Lemma der Notiz, eingesetzt. Wahrscheinlich sind für Poseidonios die Germanen ein größerer, ziemlich unabhängiger Zweig der keltischen Völkerfamilie. Vielleicht nimmt er an (vgl. Felix Jacobys Kommentar zu F 116, FGrHist. 20, S. 218, Z. 24ff.), daß es nur ein großes Nordvolk gibt. Immer wieder bricht es aus seinem Land hervor, das von den Pyrenäen bis zur Schwarzmeerküste reicht. Eine durchgehende Linie erstreckt sich vom Einfall der Kimmerier bis zum Kimbemstunn.- Über Vermutungen ist hier jedoch nicht hinauszukommen. 1 Vgl. Karl Trüdinger, Studien ... , S. 92. 1 Nach A. ~·orbiger, Strabo's Erdbeschreibung (vgl. o. Anm. 3 aufS. 115).
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Strabon
merkungen über die Zähmung der Kelten unter der römischen Herrschaft gehören nicht zur eigentlichen Ethnographie. In einer Art ringförmigen Komposition nimmt Strabon zum Schluß nochmals das alte Stichwort auf und geht dann zur nächsten Eigenschaft über (IV 4, 5 p. 197C.): "Dem Einfachen und Reizbaren ist viel unverständige Prahlerei und Liebe zum Schmuck beigemischt." Es folgen die hierfür bezeichnenden Einzelheiten. Der Vergleich mit Poseidonios lehrt, daß Strabon nicht nur nach einer anderen Darstellungstechnik vorgeht, sondern auch das Einfache bewußt hervorhebt. Das ist kein Zufall bei der Schilderung der Kelten, sondern kehrt auch sonst wieder. Alle Barbarenvölker werden nach ziemlich ähnlicher Schablone abgehandelt, ähnliche Sitten bei Iberern, Kelten, Germanen und Skythen gern herausgestellt (111 4, 17 p. 165C.; IV 4, 2 p. 195C.; VII 1, 2 p. 290C.). Denn an zuverlässigen Nachrichten herrscht Mangel (111 4, 19 p. 165C.; XI 6, 2 p. 507C.). Wir greifen nun aus den Schilderungen Strabons die Stellen heraus, wo Strabon Gewohnheiten ausdrücklich als "einfach" (AtT6<;, cbtAoÜ<; usw.) bezeichnet oder sie in Zusammenhang bringt mit sittlichen Vorzügen. Im West~n gelten als einfach die Lusitanier (111 3, 7 p. 154f. C.). Strabon nennt sie AtToL Denn sie trinken nur Wasser und essen meistens Ziegenfleisch; zwei Drittel des Jahres leben sie von Eicheln, die zerstampft und zu Brot verbacken werden. Statt Öl gebrauchen sie Butter; Wein haben sie wenig, dafür Gerstenbier. Sie speisen sitzend auf Bänken an der Wand, ihre Eßsitten sind ähnlich denen der Ga.llier. Sie schlafen auf einer Streu am Boden. Sie tragen langes Haupthaar. Münzen besitzen sie nicht, sondern treiben Tauschhandel oder verwenden ein Stück abgeschnittenes Silberblech. - Diese Vorstellungen sind insgesamt typisch für den griechischen Begriff der Einfachheit. Doch läßt sich nicht sagen, ob Strabon hier allgemeine Züge einsetzt, weil ihm die Nachrichten ausgehen, oder tatsächliche Zustände schildert. Die Beschreibp.ng der Gallier ist uns bereits bekannt. Die Germanen werden nach Strabons eigenen Worten (IV 4, 2 p. 195C.; VII 1, 2 p. 290C.) in gleicher Weise und Absicht beschrieben. Die Skythen sind der östliche Zweig des großen Nordvolkes. Wie wir bereits wissen, hält sich Strabon bei ihrer Darstellung a.n den Rat des Ephoros, ihre beispielhafte Einfachheit überall, wo möglich, zur Geltung zu bringen 1 . Sehr aufschlußreich sind die Abschnitte über die Mysier- nicht das kleinasiatische, sondern das von Homer "jenseits der Thraker" genannte Volk ist gemeint - (VII 3, 4 p. 296C.), über die den Hippemolgen gleichgesetzt~n Skythen (ibid. § 7 p. 300f. C.), 1
Siehe oben S. 101.
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über die Völker am Ka.spischen Meer (XI 4, 4 p. 502; XI 8, 7 p. 5130.). Hier finden wir Strabons allgemeine Ansicht. ",Veil Ungerechtigkeiten meistens im Geschäftsverkehr und beim Gütererwerb sich ergeben, ist es vernünftig, wenn man die Menschen, welche so einfach (sc. wie die Abier) von wenigen Dingen leben, aJs die gerechtesten rühmte (-rouc; o\hwc; &.7t' oA.(ywv &U't'&A.wc;
~wv-rcxc;
8LXtXLO't'cl't'OUc; &ÜA.oyov
XAlJ.S.~VtXL);
denn auch die Philosophen, welche die Meinung aufstellten, die Gerechtigkeit gehöre ganz eng zur Mäßigung, verfolgtenmit Eifer vor allem die Selbstgenügsamkeit und Einfachheit (-ro cxÜ't'cxpxec; xcxt ..0 A.L-rov .•• E~~A.wcrcxv); und folgerichtig drängte die übertriebene Selbstgenügsamkeit einige von ihnen (sc. der erwähnten Völker) auf die Bahn kynischer Lebensform" (VII 3, 4 p. 2960.). Für die Skythen gilt das ganz besonders. "Wir halten sie für die aufrichtigsten Menschen (&:7tA.oucr-rc1-rouc;), keineswegs arglistig und viel einfacher und genügsamer als wir (&u-r&A.&cr-rtpouc; -re: 1toi..U ~!J.WV xcxt cxü-rcxpxe:cr-repouc;); denn unsere Lebensweise dehnt den Wechsel zum Schlechteren auf fast alle aus: Üppigkeit, Genußleben und tausendfache Schliche zur Bereicherung schleppt sie dazu ein; und (schon) viel derartiger Verderbnis ist bei den Barbaren eingerissen, besonders auch bei den Nomaden" (VII 3, 7 p. 301 C.). Hier sehen wir ganz deutlich: Für Strabon treten Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit auf, wo äußere Einfachheit herrscht. Noch ist das bei den Barbaren das Normale. Wo j( doch die griechische Zivilisation vordringt, steckt sie auch diese Völker mit den für sie charakteristischen Übeln -rpuq>~ und 7tA.e:ove:~(cx an und begünstigt so ihren körperlichen und sittlichen Zerfall. Auch die Schiffahrt, behauptet Strabon an der gleichen Stelle, trägt nur dazu bei, Betrugssucht und den unnötigen Luxus der Fremde einzuschleppen. Was als Zähmung und Kultivierung betrachtet werden ka1m, untergräbt in Wirklichkeit die Sitten, weil es sich als Übergang von der Einfachheit zum Luxus darstellt (8Lcxq>&dpe:L 8E: ..~ ~&l) xcxl. 7tOLXLA(cxv ch-rl. -rijc; oc7tf..6Tl)TOc; -rijc; &p•n J..e:x.S.dCJl)c; e:lcrocye:L). "Da.s Geschlecht (sc. der Skythen) freilich, welches vor uns lebte, am meisten die in der Nähe der homerischen Zeiten, waren und galten bei den Griechen als da.s, wa.s Homer von ihnen sagt. Betrachte, was Herodot über den König der Skythen sagt, gegen den Dareios zu Felde zog (Her. IV c. 127) ... voll von dieser Einfachheit, wie ich es nenne, sind auch die Persischen Briefe und die Aufzeichnungen der Ägypter, Babyionier und Inder. Deswegen standen auch Anacharsis und Abaris und einige andere solche Leute bei den Griechen in hohem Ansehen, weil sie den Charakter ihres Volk.es, Gutmütigkeit und Einfachheit und Gerechtigkeit, zum Ausdruck brachten" (ibid. §8). Diesen Worten des Autors braucht kein Kommentar hinzugefügt zu werden ; sie sprechen für sich selber. Ein letztes Zeugnis soll sie ergänzen. Über die Gebirgs- und Steppenvölker am
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Strabon
Ka.spischen Meer, die für Strabon ebenfa.lls zu dem Gesamtvolk der Skythen gehören, sagt er: "Eine gewisse gemeinsame Lebensweise, die ich oft erwähne, findet sich bei aJlen dergleichen Völkern; auch ihre Begräbnisse und Gebräuche sind ähnlich und ihr ganzes Leben natürlich und unbeholfen (cxö3-excxcr-ro~ !J.tv, axcxto~ 8e), wild und kriegerisch, jedoch im Geschäftsverkehr redlich und truglos (1tpo~ 8e -rcX.
Tacitus' Germania
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e) Tacitus' Germa.nia Die römische Welt bleibt von der an Strabon kenntlich gemachten Richtung nicht unberührt. Zwar scheiden die Gallier aus dem Kreis der verherrlichten Naturvölker aus; das Vorbild des Poseidonios und, seit Cäsar, die eigene Erfahrung wirken hemmend. Aber die Skythen und vor allem die Germanen bieten sich geradezu an. Pompeins Trogus (fr. 35b p. 38ff. Seel) idealisiert die Skythen nach bekanntem Muster, Seneca (De ira II 15) setzt eine Verklärung der Germanen schon voraus. Dabei steht nicht die Gerechtigkeit, welche die Griechen als Tugend der unzivilisierten Völker betonen, sondern der Freiheitsdrang und die Tapferkeit im Vordergrund 1 • Die Einfachheit kommt erst bei Tacitus hinzu. Die ausgebreitete Literatur über die Germania gestattet es mir, mich kurz zu fassen. In c. 22 und 23 stellt Tacitus die geistige und körperliche simplicitas der Germanen einander gegenüber. Das liegt im Sinne seiner Erzählweise. Denn er will durch antithetische oder anreihend-steigemde Anordnung von Abschnitten, die in sich geschlossen sind- gelegentlich durch einen Exkurs unterbrochen - , den Eindruck einer fortlaufenden Erzählung erwecken 2 • Auch die beiden Kapitel 22-23 werden durch Steigerung und Gegensatz verbunden. Die Trunksucht gibt Gelegenheit, über die Beratung zu berichten. In conviviis consultant, tamquam nullo magis tempore aut ad simplices cogitationes pateat animus aut ad magnas incalescat. (3) gensnon astuta nec callida aperit adhuc secreta pectoris licentia ioci 3 ••• C. 23 leitet von der Beratung wieder zurück zum potus und geht dann zu den cibi über. Cibi simplices, agrestia poma, recens fera aut lac concretum: sine apparatu, sine blandimentis expellunt famem. Äußere und innere Einfachheit, simplices cibi und simplices cogitationes, zeichnen die Germanen aus. Beides ist bewußt und absichtsvoll hervorgehoben", um das Bild der Germanen an die verbreiteten Vorstellungen anzunähern. Es kann dahingestellt werden, ob sich 1 Dieser bemerkenswerte Unterschied wurde bereits von Alexander Riese, Die Idealisierung der Naturvölker ... , S. 45, festgestellt, wird aber immer noch nicht genügend beachtet. 2 Vgl. Karl Trüdinger, Studien ... , S. 146ff. 3 Die Kontroverse, ob ioci oder loci zu lesen ist, dreht sich gedanklich im Kreise. Die licentia loci kann ja nur in der Stimmung des Gelages liegen, d.h. in der fröhlichen Ausgelassenheit der Betrunkenen. Gerade das ist iocus. Eine Parallele aus Seneca (De ben. 111 26, 1) unterstützt diese Auffaasung. Dort heißt es, unter Tiberius hätten Spitzel die Äußerungen hinterbracht, die man in der Stimmung des Gelages, als der Wein die Zunge löste und die innersten Gedanken bloßlegte, gemacht hatte. Sub Tiberio Oaeaare . . . excipiebatur
ebriorum aermo, simplicitaa iocantium. ' Rudolf Much, Die Gennania des Tacitus (erläutert) Haideiberg 1960, (Nachdruck der 1. Auß. v. 1937), S. 223.
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Tacitus' Gennania
Tacitus bei der Aufzählung der Speisen (wilde Früchte, frischerlegtes Wildbret und geronnene Milch) auf genaue Nachrichten stützt oder nur der allgemeinenTra.dition über die Naturvölker folgt!. Der Zusatz Bine apparatu, sine blandimentis expellunt famem belehrt uns deutlich über die Absicht, die auf jeden Fa.ll dahintersteht. Das ist im Sinn der allgemeinen Vorstellung gesprochen, einfach sei jede Lebensführung, die das Überflüssige vermeide. Man hat sogar behauptet', der gesamte erste Teil der Germania stehe unter dem Gesichtspunkt der Einfachheit. Ma.n ka.nn dafür anführen: die Germanen verzichten (nach Tacitus) auf überflüssigen Waffenschmuck (c. 6, 1), vermeiden besondere Verzierungen beim Hausbau (c. 16, 3), ihre Art der Kindererziehung und Ehe (c. 20, 2), der Spiele (c. 24, 1) und der Bestattung (o. 27, 1). Abgesehen von Waffenschmuck und Beisetzung sind das die Gegebenheiten des alltäglichen Lebens, an denen die Popwarphilosophie die Einfachheit illustriert. Tacitus greift hier zu bekannten und vorgeformten Aussagen. Aber sein Anliegen beschränkt sich nicht darauf, einen Traktat über die Einfachheit eines Naturvolkes zu schreiben. Er ordnet Züge dieses Motivs, welche er aus der Tradition übernimmt, dem Ganzen dienend unter 3 • f) Zusammenfassung In hellenistischer Zeit dringt der Gedanke der Einfachheit wertend in die beschreibenden Wissenszweige der Mythogra.phie, Historiographie und Ethnographie ein. Teilweise stützt er sich dabei auf sophistische Überlegungen. Im einzelnen läßt sich feststellen: 1. Dem Mythos vom goldenen Zeitalter liegt die Vorstellung zugrunde, die Menschen lebten auf der frühesten Stufe ihres Daseinsam glücklichsten. Die hellenistische Zeit erklärt dabei das Glück als Folge der damals herrschenden Einfachheit. Der ursprüngliche Mythos kannte eine solche BegründWlg nicht. 1 Strabon (XI, 5, 6 p. 5060.) berichtet über die Kaukasusvölker: "Einige von ihnen . . . leben meistens vom Fleisch des Wildes, von wilden Früchten und von Milch." Oder (XII 3, 18 p. 5490.): alle Bergvölker an der Südküste des Schwarzen Meeres sind wild. "Sie leben vom Fleisch des Wildes und von Baumfrüchten." An der Nordküste des Schwarzen Meeres ernähren sich viele Stämme "von Fleisch und Milch" (XI 2, 2 p. 4930.). • Otto Hiltbrunner, Graeca Latina, S. 76-80. "Tacitus ... hat die Bimplicita8 zum Grundgedanken des allgemeinen Teils der Schrift gemacht" (S. 77 f.). "Es geht nicht darum, das Tatsächliche irgendeines gennanischen Brauches zu verstehen und zu erklären. Die unbedenkliche Anwendung der vielgeschmähten inürpretatio Roma.na ergibt sich folgerichtig daraus, daß nicht die Germanen das eigentliche Ziel sind, sondern die Bimplicita8 morum" (ibid.). 1 Knapp, aber aufschlußreich orientiert über das Anliegen des Tacitus Karl Büchner, Römische Literaturgeschichte, Stuttgart 1957, S. 462ff.
Zusammenfassung
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2. Die homerischen Helden werden als Beispiele der Einfachheit
gedeutet. 3. In der Geschichtsschreibung werden die spartanische und die kretische Verfassung als Muster der Einfachheit gepriesen. Seit Polybios und Poseidonios tritt die altrömische hinzu. 4. Die Historiker gehen in ihren ethnographischen Exkursen allgemein auf die Lebensart der einzelnen Völker ein. Sie führen gerne Beispiele über 't'flU~~ und ihre schlechten Auswirkungen an. Hierher gehören Theopomp, Duris, Phylarch. Ephoros geht über sie hinaus; er rühmt die Einfachheit der Barbaren (Skythen). Er nimmt damit eine Tradition auf, die sich auf Homer beruft; sie wirkt später nach bis auf Strabon. Sie erklärt unverdorbene Sitten, vor allem Ehrlichkeit Wld Gerechtigkeit, durch die bescheidene Lebensweise der Barbaren. 5. Unter den Berichten über Indien hebt sich eine Gruppe deutlich heraus (Onesikritos, Megasthenes), welche die Einfachheit der Inder stark betont. Sie argumentiert: (a) Das Land ist reich, trotzdem lebt die Bevölkerung einfach; (b) vor allem die indischen Philosophen leben nach strengen Vorschriften, die denen der Pytha.goreer und Kyniker gleichen. 6. In der phantastischen Reiseliteratur betont Iambulos die Einfachheit von Bewolmern ferner Inseln, die besteht, obwohl die Natur Segnungen in verschwenderischer Fülle austeilt. Er scheint damit einen Topos der echten Reiseberichte wiederzugeben. 7. Agatharchides von Knidos hält das primitive Leben der lchthyophagen, obwohl er seine Härte sehr rea.listisch schildert, auf Grund epikureischer Überlegungen für außerordentlich glücklich. 8. Poseidonios rühmt die Einfachheit der alten Römer und Italiker. In seinen etlmographischen Schilderungen zeigt sich keine verherrlichende Tendenz. 9. Diodor übernimmt die Einstellung zur Einfachheit weitgehend aus seinen Quellen (Poseidonios, Timaios). Er gebraucht gern den Vergleich zwischen den jetzigen Zuständen der Barbaren und den homerischen Sitten. 10. Strabon liebt es, die Einfachheit der Völker im Osten, Norden und Westen hervorzuheben. Eine einheitliche Form schafft er dafür nicht. Er lehnt sich in der Tendenz an Ephoros an. 11. Tacitus übernimmt in der Germania den Topos der Einfachheit. Auch er sieht simplicea cogitationM und simplicM cibi verbunden. Es ginge jedoch zu weit, die Germania vorwiegend unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.
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Bukolische Einfachheit
Hellenismus und K aiaerzeit
5. Bukolische Einfachheit Der Unterschied zwischen bukolischer und philosophischer Einfachheit
In der Bukolik des Theokrit findet man eine Flucht des Großstadtmenschen vor der übersteigerten Zivilisation seiner Zeit und ein Verlangen nach der verlorenen Einfachheit. Man erliegt leicht der Gefahr, dies in Parallele zu setzen zu den Lehren der hellenistischen Philosophenschulen. Auch die von dorther begünstigte Idealisierung der fremden Völker, insbesondere der Naturvölker, vermischt man nur a.llzu bereitwillig mit den Hirten Theokrits. Aber es besteht zwischen beiden ein tiefgreifender Unterschied. Die Bukolik scheint den Gedanken des 1t6voc;, den die philosophische Einfachheit mit Nachdruck fordert, nicht zu kennen. Sein Fehlen verändert die Welt dieser Hirten. Die Einfachheit des Theokrit ist "lieblich", "bukolisch". Da.s philosophische Ideal dagegen verkörpert eine entbehrungsreiche und harte Einfachheit. Die Gemeinsamkeit liegt darin, daß Philosophen und Bukoliker das Glück des Menschen in einem Leben erblicken oder schon verwirklicht darstellen, welches sich vom Aufwand der Zivilisation gelöst hat und mit den bescheidensten Dingen vorliebnimmt1. Neben dem Unterschied zwischen lieblicher und entbehrungsreicher Einfachheit trennt noch ein zweit-er Punkt die bukolische Dichtung von der philosophischen und historiographisch-ethnographischen Auffassung der Einfachheit. Es ist der Unterschied der Gattungen, den man nicht ernst genug nehmen kann 1 . Natürlich wurzeln beide Richtungen im gleichen Lebensgefühl, drücken beide Sehnsucht nach Frieden, Ruhe und Einfachheit aus. Aber man findet kaum Entsprechungen in einzelnen Motiven oder gar Wendungen. Die Dichtung ist zu selbstbewußt, um Anleihen aufzunehmen. Sie hatte vor der Philosophie die Lebensregeln ausgesprochen und die Menschen erzogen. Mächtig wirkt die Tradition, welche sich ganz augenfällig in Alkaios und Sappho, Theognis rmd Pindar verkörpert, nach. Auch ein Stoff, der ganz gleich ist, wird verschieden gestaltet in philosophischer Abhandlung und Poesie. Tibull verwünscht Luxus, Schiffahrt und Krieg - ganz wie manche Diatriben, aber er spricht es aus in einer erotischen Elegie. 1 In die englischspra.chige Forschung haben George Boas und Artbur 0. Lovejoy (Primitivism and related Ideas in Antiquity, S. 10) die Ausdrücke "soft" und "hard primitivism" eingeführt. 1 Vgl. Max Pohlenz, Die hellenistische Poesieunddie Philosophie (s.o. S. 91 Anm. 2), passim.
Unterschied zwischen Dichtung und Philosophie; Berührungen
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Nur in einer Dichtung, welche immer wieder genannt wird, um die Neigung des Hellenismus zur Einfachheit zu chara.kterisieren 1 , setzt sich der Dichter über die von der Gattung gebotene Einschränkung hinweg und gibt seinem Denken unverhüllt Ausdruck. Ich meine hier die "Hekale" des Kallimachos. Schon den antiken Beurteilern ist sie ein Lobpreis des einfachen Lebens. Julian, der späte Apostel der Kyniker, schreibt (ep. 41 p. 543 Hertlein = ep. 186 Bidez): "Theseus verschmähte nicht das einfache Mahl ('t'O ALTOv 't'OÜ 8dmou) der Hekale, sondern verstand es, mit geringen Dingen auszukommen, (um die Triebe), soweit notwendig, (zu befriedigen) (f.LLx.po~<; ec; -rO ävcx.yx.cx.~ov äpx.&~a-3-cx.L)." Apuleiua läßt in den Metamorphosen den Wucherer Milo sprechen (I 23): ... contentus lare parvulo Thesei ... virtutes aemulaveris, qui non est aspematus Hecales a.nus hospitium tenue ... Diese Urteile können sich nur auf den Theseus der ka.llimacheischen Dichtung beziehen; denn die a.llgemeine Überlieferung über die Tötung des Marathonischen Stieres erwähnt nicht einmal die Einkehr des Theseus bei der gastlichen Alten (Diodor IV 59, 6). Unter den Epigrammen der hellenistischen und späteren Zeit findet man nur wenige, die das Ideal der Einfachheit in philosophischer Form aussprechen. Aus der geringen Zahl führe ich einige charakteristische Proben an 1 . Leonidas von Tarent zeigt in einem Epigramm (AP VII 736 = epigr. 91 Geffcken) in der Gestaltung des Motives entfernte Anklänge an philosophische Formulierungen 8 • M~ q.>-3-dp&u, 6lv.&pcu7te:, 7t&pL7tAclVLOV ~(ov tAX.CUV,
IJXAYJV e; &AI..YJ<; e:l<; x-&6v' tXALV86f.L&VO<; • f.L~ q.>-3-dp&u, X.&V&~ a& 7t&pLa't't~CX.L't'O X.CX.AL~, fjv 3-clA7tOL f.LLX.X.OV 7tÜp tXVCX.X.CX.L6f.L&VOV, d c x.cx.( (JOL AL~ y& x.cx.l. oux. &UclAiflL't'O<; &LYJ q.> u a 't' ~ evt ypwv"{l f.LCX.CJCJOf.LtVl) 7tcxAclf.LCX.L<; 1 '1) x.cx.( aoL yA~XWV, '1) 1 x.cx.t -3-Uf.LOV, '1) 1 x.cx.L 7tLX.pO<; ci8uf.LL~<; &LYJ x6v8po<; t7to~(~hoc;.
o
In diesem Epigramm sind die Züge der kleinen Hütte, des einfachen Brotes - f.LOC~cx. wird umschrieben durch AL~ q.>u~ oux. eu&.Aq.>L't'oc; und des Thymians aus der einschlägigen Prosaliteratur geläufig. Das 1 Vgl. Schmid-Stählin, Geschichte der griechischen Literatur II 1, 6. Auß. München 1920, S. 137. 2 Vgl. auch den Abschnitt "Realistische Einfachheit in der hellenistischen Dichtung" u. S. 138 ff. a Sie sind überbewertet bei Donald R. Dudley, A History of Cynicism, S. 115. Zurückhaltender äußert sich Max Pohlenz, Die hellenistische Poesie und die Philosophie, S. 82. 84. Pohlenz warnt vor allem davor, Rückschlüsse auf die persönliche Einstellung des Dichters zu ziehen. Dieser wäre die Armut gerne los, wenn es ihm gelänge. ' f. "ubi" Boisaonadii, secutus eet Duebner.
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Philosophische Einfachheit in der Dichtung
bescheidene Feuer, die Minze und das Grobsalz sind nur in der Poesie vorkommende Eigenheiten. Im ganzen wird man aus diesem matten Epigramm mit seinen konventionellen Motiven wenig sicheren Aufschluß über die persönliche Neigung des Leonidas erhalten können. Mehr bettelhafte Armut als Einfachheit malt das Epigramm AP VI 302 ( = 95 Geffcken) aus. Eine wirkliche paränetische Elegie ist dagegen AP VII 472 (= 97 Geffcken). "Was bist du, Mensch? Kurz ist dein Leben, am Ende ist der Schädel ohne Haar und Haut, der Wurm zernagt dich. Deshalb ... " 13
15
~oüv E~ ~oüc;
ÖO'O'OV a.a.ivoc;' <:lvep, epeuv&v dl)c; ev A.et-r7j xexAL!J.tvoc; ßto-r7j· octev -roü-ro v6~ !J.&:!J.Vl)!J.tvoc;, &x_ptc; O!J.LA7jc; ~wo~c;, e~ otl)c; ~p!J-6VL
"Der Kern des ganzen Gedichtes liegt offenbar in v. 14, in der Ermahnung zum einfachen Leben, wie es das Ideal der Kyniker ... war", kommentiert Geffcken 1 • Diese Elegie ist tatsächlich "eine kynische Predigt in Distichen" 2 • Aus der augusteischen Zeit verdienen Erwähnung in unserem Zusammenhang Epigramme von Antipatros von Thessalonike (AP IX 96), Alpheios von Mytilene (IX 110), Antiphilos von Byzanz (AP IX 546; XVI 333, 34; VII 635), vor allem aber des Parmenion von Makedonien (AP IX 43). In ihnen tritt das Motiv in den verschiedensten Spielarten auf. In dem Epigramm des Antipatros rät ein sterbender Vater seiner Tochter, dem zukünftigen Manne ihre Spindel und die guten Sitten der Mutter zur Mitgift zu machen; es ist der alte Gedanke Menanders: Untätigkeit fördert ein einfaches Dasein nicht. Antiphilos vertritt in einem Epigramm auf Diogenes da.s kynische Ideal und wandelt es in anderen, veristischen Bildehen für den Alltag ab. Alpheios greift eine traditionelle Priamel auf, in klarer Linie gestaltet er den Gedanken: "Nicht Ackerland, nicht den Reichtum des Gyges begehre ich; sonden1 ich strebe nach dem genügsamen Leben." Eine nähere Ausdeutung gibt er nicht. Nur Pannenion arbeitet mit Motiven, die uns aus der Popwarphilosophie schon bekannt sind. Sein Epigramm ist eine auf vier Zeilen konzentrierte Diatribe: Einfachheit ist der Preis der Freiheit.
AP IX 43 , Apxe~ f.LOL x_A.oc(vl)c; krov
Die idyllische Landschaft
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Diese Beispiele genügen, um zu zeigen, da.ß auch in der Dichtung die Vorstellung der Einfachheit mit den a.us der Prosa. geläufigen gedanklichen 1\:Iitteln ausgedrückt werden kann. Da.s Versmaß und die poetischen Formen sind neue Flecken, die a.uf ein altes Kleid aufgenäht werden. Aber diese Fälle sind selten. Die Poesie bevorzugt eine andere Art, die wir einleitend a.ls "liebliche" Einfachheit gekennzeichnet haben. Vor allem in der bukolischen Dichtung findet sie ihre eigene Form. Diese wird durch da.s Zusammenspiel dreier Motive geschaffen: der Erotik, der verklärten Landschaft und des Hirtenlebens. Keines von ihnen kann man wegdenken, ohne ein bukolisches Gedicht nicht sofort zu zerstören. Da. zumindest in den Augen des modernen Betrachters die idyllische Landschaft und die Hirtenszenerie den Charakter des Einfachen bewirken, sollen diese beiden Ausdrucksmittel im folgenden eingehender untersucht werden. Die idyllische Landschaft
Da.s Verhältnis der Griechen zur N a.tur hat sich im Lauf der Zeit gewandelt 1 • Bei Homer nehmen die Menschen die N a.tur a.ls etwas Gegebenes hin und denken nicht darüber nach. Ihre Erscheinungen ergreifen sie unmittelbar. Auffa.llend ist die Häufung der zerstörenden, Schauder und Schrecken erregenden N a.turereignisse. Der Begriff des Schaurig-Schönen ist dem Griechen immer unbekannt geblieben. Gleichwohl freuen sich die Menschen schon bei Homer über einzelne Schönheiten der Natur; schön ist ein Platz mit Bäumen, einem Hain, Quellen und Bächen. Hermes staunt, als er die Insel der Ka.lypso betritt, welche mit solchen Gaben gesegnet ist. - Die entscheidende \Va.ndlung bewirkt die fortschreitende Zivilisation. Die Menschen können sich von der Natur lösen, sind ihren Schrecken nicht mehr unmittelbar verhaftet. Jetzt erst kötmen sie ihre Reize voll empfinden. Sie staunen nicht mehr über da.s Erhabene, sondern freuen sich über da.s Schöne. Ähnliches gilt vom Verhältnis zum Tier. Belebter und unbelebter Natur legt ma.n menschliches Fühlen bei. Um die Wende des 5. zum 4. Jahrhundert bahnt sich schon da.s Idyllische a.n, bei Euripides und Aristopha.nes finden wir dafür zahlreiche Belege 1 . Im Hellenismus bricht die Sehnsucht des Städters nach der ihm entfremdeten Natur mächtig durch. Nicht nur bei Theokrit, der aus der Großstadt Syra.kus stammt, sondern auch in den Gedichten der peloVgl. Alfred Biese, Die EntwicklWlg des Naturgefühls bei den Griechen Wld Römern, Kiel 1882. 1884, und Bernert- I. v. Lorentz, Naturgefl.ihl (RE XVI 2, 1935, Sp. 1811-1885). 2 Siehe Bernert, Naturgefühl, Sp. 1838.39. 1
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Vlacber, Du einfache Leben
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Landschaftsbilder der Epigrammatiker
ponnesischen Epigrammatiker berührt uns eine zarte, lyrische Liebe zur Landschaft. Die Auswahl der beobachteten Einzelheiten ist neu und aufschlußreich. Ein Epigramm der Anyte (AP IX 313) lautet: 7~e:u Tiia8'
imo xcx)..<X 8cicpvcx<; e:ö-&cxMcx cpuiJ..cx ' 6
(
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Öcppcx TOL cX.a.ß.!J.Cl(VOVTCX 7t6VOL<; .ß.tp&o<; C{)LACX yui:cx &.!J.7tcxua-n<; moL~ -ru7tT6!J.e:vcx Ze:cpupou.
"Eine Panstatue spricht. ,Wie mit dem Silberstift umrissen, steht die Landschaft vor uns; das Gedichtehen könnte unter einer Zeichnung Nicolas Poussins stehen. Diese zartduftigen Naturschilderungen sind nach Anyte in zahllosen Variationen abgewandelt worden.' (Luck)." 1 Aus der gleichen Stimmung heraus ist AP XVI 228 empfunden: Ee:i:v', ü7t0 T<Xv 7tT&Atcxv Te:Tpu!J.evcx yu'i:' &.v&.1tcxuaov • &:8u ToL &v x_)..wpo'i:<; me:Ü!J.cx -&poe:'i: 7t&TciAoL<; • 7tL8cxxci T' ex 7tcxyii<; ~ux.p<Xv 1tL&. 8-Yj y<Xp o8LTClL<; &!J.7tCXU!J.' &v .ß.&p!J.
Die Quelle sprudelt, der Wind streicht kühl durch Lorbeerbusch oder Ulme, ein Baum spendet Schatten in der Hitze: das ist ein Ruheplätzchen, nach dem sich der Wanderer in der Mittagsglut des griechischen Sommers sehnt. Alles ist dem Leben abgelauscht, aber künstlerisch veredelt. Die hier entdeckten Motive werden hinfort wiederholt und abgewandelt: Baum und Quelle, Syrinx und Platane, Pinie und säuselnder Zephyr - das sind die Züge, in denen sich die Lieblichkeit einer Landschaft für das griechische Empfinden spiegelt. Das kann schlicht ausgedrückt sein wie bei Nikia.s, dem Freund des Theokrit (AP IX 315): 7~&U u7t' cxtydpoL<JLV, E7td Xcl!J.E:<;, &v-&&.8', ba'i:Tcx, xcxt 7t'i:-&'
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oder preziös-gestelzt wie bei Antiphilos von Byzanz (AP IX 71) : K)..wve:t; &.7tl)6pLoL Tcxvcx~t; 8pu6<;, &ÜaxLov üo/ot; cX.v8pcXO"LV &xpY)TOV XClÜ!J.CX C{)UACXO"O"O(LtVOL<;, e:tmtTClAOL, x&pcX!J.WV