Das dunkle Paradies von Adrian Doyle
James Cyrus Tipetree starrte auf den Steinboden, wo sich im milden Schein der Nac...
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Das dunkle Paradies von Adrian Doyle
James Cyrus Tipetree starrte auf den Steinboden, wo sich im milden Schein der Nachtbeleuchtung ein armlanger Sprung bildete. Der Wächter erschrak heftig, als das sorgfältig rekonstruierte Mosaik-Bildnis einer vornehmen Römerin aus antiker Zeit beträchtlichen Schaden nahm. Tipetree war dreiundsechzig Jahre alt und arbeitete seit nahezu vierzig Jahren in der altehrwürdigen Tate Gallery, an der die Zeit, wie an Tipetree selbst, ihre Spuren hinterlassen hatte. Für einen Moment überlegte er, ob das Gebäude vielleicht gerade auch so etwas wie eine »Altersfurche« bekam – als wäre es ein lebendiges Wesen. Aber noch während er Trost in dem Gedanken suchte, dass letztlich alles, selbst härtester Stein, vergänglich war, platzte der Boden vor ihm armbreit auf …
Prolog Tipetree wich zurück. Seine Beine wollten ihn von der Stelle wegtragen, an der das Unvorstellbare geschah. Denn der klaffende Riss bildete sich, ohne dass eine Erschütterung durch den Boden lief. Erdbeben gingen anders. Tipetree kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Der Raum hatte keine Fenster. Lichtquadrate in der Decke verströmten genau das Maß an Helligkeit, das die Innenarchitekten den Ausstellungsobjekten zugebilligt hatten. Der entstandene Spalt war keine Einbildung. Er wurde sogar langsam größer – breiter, länger. Tipetree zögerte nicht länger. Er pflückte das Walkie-Talkie vom linken Oberarm, wo es angeklettet gewesen war, und führte es zum Mund. Den Sprechknopf gedrückt sagte er rau: »Hier Tipetree. Burt, bitte kommen!« Er gab seinem Vorgesetzten für die Nachtschicht seinen Standort durch. »Wir haben hier ein Problem. Einen …« Er räusperte sich, suchte den passenden Ausdruck. »Einen Schaden. Besser, du schickst gleich jemand her. Es ist dringend.« Burt Sinclair aus der Verwaltung fragte: »Welche Art von Schaden?« Tipetree schilderte, was passiert war – und immer noch passierte. Ein Blick zu dem Spalt offenbarte, dass er weiter wuchs. Aber außer leisem Knirschen war nichts zu hören. Hätte das Gebäude gearbeitet und sich dermaßen verschoben, dass ein solcher Riss entstehen konnte, hätte die Erschütterung fühlbar sein müssen. Tipetree haderte mit seiner eigenen Wahrnehmung. »Hast du gesoffen, James?« Sinclairs Ton klang spöttisch. Doch dann, als spüle ihm das Gedächtnis eine noch gar nicht so lange zurückliegende Erinnerung hoch, lenkte er ein. »Wenn du nämlich nicht besoffen bist, mein Freund, dann haben wir ein Problem – du
weißt, was hier vor rund zwei Jahren passiert ist!« »Die Todesfälle?«, fragte Tipetree. »Die Todesfälle«, bestätigte Sinclair. »Ich habe damals noch nicht hier gearbeitet, aber es kursieren die unglaublichsten Gerüchte. Der frühere Direktor, heißt es, ging im Zuge mysteriöser Ereignisse drauf. Es wurde ja nie offiziell bestätigt. Eine Zeit lang war das Tate jedenfalls fürs Publikum gesperrt. Für ein paar Tage. Ihr wurdet damals zu Zwangsurlaub verdonnert.« »Ja, ja, schon gut. Ich weiß zwar nicht, was das mit diesem Riss im Boden zu tun haben soll – aber ist mir auch egal. Ich will nur, dass du etwas tust, Burt. Das Denken und Entscheidungen treffen ist schließlich dein Job.« »Mach dir mal um mich keine Sorgen. Bleib möglichst weit weg von dem, was da passiert. Verschließ den Saal. Ich informiere die Bereitschaft. Wir müssen nicht nur den Saal, sondern das ganze Gebäude sichern.« Tipetree schluckte. »Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen?« »Ich hoffe es. Aber ich habe meine Anweisungen. Es gibt eine spezielle Direktive. Und nach der muss ich handeln. Mach jetzt. Und sieh zu, dass du einen großen Bogen um das … Loch machst!« »Es wird mich schon nicht beißen!« »Sei dir da nicht zu sicher!«
* Detective Inspector Paul Hogarth wusste genau, wann sein Leben die Schienen der Normalität verließ. Er hatte es schon einmal am eigenen Leib erfahren müssen, dass die Tünche, die den Menschen – und damit meinte er die ganze verdammte sogenannte Zivilisation – im Alltag in trügerischer Sicherheit wog, von der elementaren Kraft des Bösen einfach ausradiert wurde. Was dahinter zum Vorschein gekommen war, würde er bis ins Grab nicht mehr vergessen. Es hat-
te gravierende Auswirkungen auf seine Persönlichkeit gehabt. Aber es hatte ihn nicht gebrochen – nein, im Grunde fühlte er sich, seit er die Wahrheit über die Welt kannte, sehr viel stärker als zuvor. Fast kam es ihm vor, als hätte das Bewusstsein um die Gefahr, in der er und seinesgleichen zu jeder Sekunde schwebten, seinem Leben erst den Sinn gegeben, den er – unbewusst – immer vermisst hatte. Er stoppte den Vauxhall in der Atterbury Street vor dem ebenerdig gelegenen Eingang zum Tate Britain. Mit Genugtuung sah er, dass die Museumsverwaltung offenbar nach genau dem Plan vorgegangen war, der nach der Eindämmung der Gefahr vor zwei Jahren für ein etwaiges Wiederaufflammen des Brandherds ausgearbeitet worden war. Behilflich war dabei ein Mann gewesen, den Hogarth inzwischen zu seinen Freunden zählte, auch wenn sie sich seither nicht wieder über den Weg gelaufen waren – was er bedauerte. »Sir?« Ein uniformierter Polizist eilte ihm aus dem Tate entgegen, noch bevor Hogarth durch eine der Glastüren hindurch war. »Blossom!« Hogarth kannte den Mann als absolut verlässlich. Ein Polizist mit Übersicht, mit Blick für das Ganze. Von seiner Sorte hätte das Vereinigte Königreich mehr gebrauchen können. »Wie ist der Status?« »Der Museumskomplex ist weitgehend geräumt – Sie wissen, was ich mit weitgehend meine. Die, die sich jetzt noch drinnen aufhalten, gehören ausnahmslos zur nützlichen Kategorie.« Er holte tief Luft und fügte etwas verhaltener hinzu: »Hoffentlich.« »Sie haben es schon gesehen?« »Ich schon, Sir.« »Warum betonen Sie das so seltsam?« »Die meisten sehen es nicht. Was mir unerklärlich ist. Auch die Mehrzahl der Kollegen sieht nur das Resultat – ich bin wirklich gespannt, was Sie erkennen, Sir.« Hogarth bezähmte seine Neugier. »Führen Sie mich zu der Stelle,
wo man … nun, wo man den besten Überblick hat. Wie groß ist es inzwischen?« »Wir bleiben erst einmal im Erdgeschoss – obwohl der Durchbruch ins darüber liegende Stockwerk unmittelbar bevorsteht.« »Das muss verhindert werden!« »Wir hatten Weisung, auf Ihr Eintreffen zu warten.« Hogarth war überrascht, welche Entscheidungsgewalt ihm in den zwei Jahren seit den denkwürdigen Ereignissen zugebilligt worden war. Aber es gefiel ihm, plötzlich ein bedeutendes Rädchen in der großen Maschinerie zu sein, die für den Schutz der Gesellschaft zuständig war. »Sind die Experten schon eingetroffen?«, fragte er. »Sie meinen die Wissenschaftler, Sir?« »Die meine ich.« Blossom nickte. »Aber die drehen auch überwiegend Däumchen! Wir sind gleich da.« Sie erreichten den Saal, in dem sich das eigenwillige Phänomen manifestiert hatte. Hogarth wusste nicht, was genau er erwartet hatte, aber von Weitem betrachtet, wirkte das, was aus dem Keller des Tate Britain spross und die extrem massive Bodenplatte wie Pappmaché durchbrochen hatte, wie ein ganz normaler Baum. Was aber nicht sein konnte. Denn dieser Baum war mit atemberaubendem, vollkommen abnormem Tempo gewachsen – und tat es weiter. Und je näher Hogarth dem Gebilde kam, desto deutlicher spürte er das Widernatürliche, das davon ausging. Es war, als würden selbst Blicke davon angezogen, als wären es Metallspäne, die der Anziehungskraft eines Magneten ausgesetzt waren. Es war fast nicht möglich, die Augen von dem Gewächs abzuwenden, das Hogarth auf ihm selbst unerklärliche Weise an ein Schwarzes Loch erinnerte, dem die Natur in einer bizarren Laune
das Aussehen eines irdischen Baumes verliehen hatte. Alles an dem noch gar nicht so großen Gebilde wirkte extrem verdichtet. Als wöge ein Kubikzentimeter seiner Masse eine ganze Tonne. Diese Komprimierung war fühlbar – für jeden im Saal. Das Verrückte war nur: Die Wenigsten sahen das, was der Beginn der größten Katastrophe war, die London jemals heimgesucht hatte.
* Hogarth ließ sich den aktuellen Erkenntnisstand mitteilen. Der Mann, der ihm Bericht erstattete, hieß Joel Bannister und arbeitete fürs Innenministerium. Er musste, wie seine Garderobe durchblicken ließ, auch aus dem Bett geholt worden sein. Bannister war in etwa so groß wie Hogarth, hatte aber einen leichten Buckel – wie jemand, der sich lange Jahre seines Lebens in fehlerhafter Haltung in einen Schreibtischstuhl vor einen PC gelümmelt hatte. Aber es konnte genauso gut sein, dass der Makel angeboren und krankheitsbedingt war. Bannister war angenehm zurückhaltend und strahlte Kompetenz aus, was für Hogarth am Wichtigsten war. »Sie spüren es auch, oder?«, fragte er zur Begrüßung. »Was meinen Sie?« »Die Präsenz. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll. Ich sehe ja nur das Loch im Boden, aber …« Er unterbrach sich schulterzuckend. »Es gibt Leute hier«, setzte er erneut an, »die behaupten, da wachse ein – ein Baum aus dem Bodenriss heraus. Verrückt, oder?« »Dann muss ich das wohl auch sein«, sagte Hogarth. »Was?« »Verrückt. Ich sehe den Baum. Auch wenn ich nicht begreife, wie er hierher kommt.« Paul Hogarth ließ sich alles zeigen und schildern, was bislang zu dem aufgetretenen Phänomen bekannt war. Danach stand für ihn fest, dass er es nicht riskieren konnte, den einzigen ausgewiesenen
Experten für solche Fälle, den er kannte, nicht hinzuzuziehen. Er nahm sein Handy und blätterte in dessen Telefonbuch nach Z – wie Zamorra.
1. Frankreich, Château de Montagne »Geh nicht – ich bitte dich.« Nicole Duval stand schon in der Tür des Gästezimmers, um den Raum zu verlassen. Sie hatte angenommen, dass die Frau, die sie kurz nach anstrengender Autofahrt vor Morgengrauen in den magischen Schutz von Château de Montage gebracht hatten, so müde war, dass sie sofort, nachdem sie sich hingelegt hatte, einschlafen würde – zum ersten Mal seit vielen Hundert Jahren, ohne dass Dämonen ihr nachstellten und jeden in ihrer Nähe umbrachten. Aber Nele Großkreutz schien das Wort Müdigkeit nicht zu kennen, obwohl sie schon rein optisch fünfzig Jahre älter als Nicole wirkte. Sie war eine rüstige Greisin, die dem eigenen Vernehmen nach in dem gesegneten Alter, das ihr äußeres Erscheinungsbild noch heute zeigte, vom Schicksal gleichermaßen beschenkt und mit einem Fluch belegt worden war. Dem Fluch der Unsterblichkeit, dachte Nicole, die sich nicht zum ersten Mal mit diesem Thema auseinandersetzte. Aber noch nie war ihr ein Fall wie dieser untergekommen. Denn Nele Großkreutz hatte nicht etwa aus der Quelle des Lebens getrunken, wie schon andere vor ihr. Nein, die Gründe, warum der Tod sie mied wie der Teufel das Weihwasser, ihr dafür aber tagtäglich seine Dämonen auf den Hals hetzte, waren – nun ja, biblischer Natur. Behauptete Nele jedenfalls selbst. »Sie brauchen Schlaf. Ruhe. Genießen Sie es, endlich einmal die Augen zumachen zu können, ohne dass Klauen an ihrer Tür kratzen oder die Schreie blutrünstiger Kreaturen sie wachhalten.« »Ich fürchte«, erwiderte die alte Frau, die sich auf dem Rand des bequemen Bettes niedergelassen hatte und den Blick über die Ein-
richtung schweifen ließ, »das habe ich verlernt.« »Sie werden es wieder lernen. Und gemeinsam werden wir eine Lösung finden, damit Sie auch in Zukunft ruhig schlafen können. Zamorra kennt sich aus mit Flüchen. Er wird Sie davon befreien. Sie haben absolute Priorität.« »Du«, sagte Nele Großkreutz. »Wie bitte?« Nicole hatte immer noch die Klinke der offenen Tür in der Hand. »Wäre es schlimm, wenn wir uns duzen würden?« Nicole hatte das Gefühl, in Kinderaugen zu blicken, die von einer zynischen Laune der Natur in ein Greisengesicht gepflanzt worden waren. Fast scheu blickten diese Augen. »Aber nein – warum schlimm? Gerne!« Unwillkürlich trat Nicole wieder einen Schritt in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. »Aber jetzt leg dich hin. Erhole dich von den Strapazen. Wenn du Hilfe beim Auskleiden brauchst«, Nicole zeigte zu der zweiten Tür des Zimmers. »Dort ist ein Badezimmer. Es ist nicht zu beengt. Alles, was du brauchst, ist da. William kümmert sich darum immer vorbildlich.« »William?« »Der Butler.« Nele lächelte, und obwohl sich dabei noch mehr Fältchen bildeten, wirkte ihr Gesicht dabei um einiges jünger. »Ich hatte ganz vergessen, wo ich bin. Auf einem richtigen Schloss.« Nicole erwiderte das Lächeln. »Bevor ich gehe – eines würde mich schon noch interessieren.« »Frag.« Nele nickte ihr freundlich zu. »Was hat das alles, was du uns über das 13. Jahrhundert und dein dortiges Leben erzähltest, mit dem zu tun, was du als Köder benutzt hast, um Zamorra neugierig genug zu machen, deiner Einladung – der Einladung einer völlig Fremden – zu folgen?« »Du redest von London?«
»Ich rede von London – und den Dingen, an die auch ich mich nicht erinnere. Ich weiß sie nur, weil Zamorra mir auf der Fahrt zu dir davon erzählte. Aber dabei sagte er auch, dass sich außer ihm selbst normalerweise kein Mensch mehr an die Geschehnisse erinnern dürfte, die ihn vor einem halben Jahr nach London führten und die für kurze Zeit die ganze Welt in Atem hielten.« »London zerbrach damals«, sagte Nele mit der Gelassenheit einer Frau, die mehr gesehen hatte als jeder andere Mensch, mit dem sich Nicole jemals unterhalten hatte. »Es zerbrach in verschiedene Zeitzonen. Nicht in dem Sinn, dass die Uhren in den verschiedenen Stadtteilen um ein paar Minuten differierten – nein. Du weißt Bescheid, sagtest du. In den einzelnen ›Scherben‹ der zerbrochenen Stadt herrschten plötzlich unterschiedliche Zeitalter. Als hätte eine Zeitmaschine Whitechapel, nur um ein Beispiel zu nennen, in die Ripper-Jahre zurückversetzt, Buckingham Palace in die Ära von Königin Viktoria und so weiter und so fort.« Nicole nickte. »Eine beängstigende Vorstellung. Und ein Schritt genügte, sagte Zamorra, um, wenn man Pech hatte, von einer Zeit in die andere zu geraten.« »Ja«, sagte Nele, »eine beängstigende Vorstellung. Magie beendete diese Tragödie. Magie löschte sie weltweit aus der Erinnerung von Mensch und Gerät.« »Gerät?« »Die Aufzeichnungen der Fernsehsender, des Radios. Diese Dinge. Es war«, sagte Nele, »als hätte jemand einen Reset-Knopf gedrückt, der die Welt in den Moment zurückversetzte, bevor das Unheil seinen Lauf nahm.« Nicole lächelte. Sie fand es beachtlich, Worte wie »Reset« mit solcher Selbstverständlichkeit aus dem Mund einer Greisin zu hören. Aber Nele erweckte auch sonst nicht den Eindruck einer Frau, die »hinter dem Mond« lebte. Und mindestens so erstaunlich wie ihr angehäuftes Wissen, war die Art und Weise, wie sie damit fertig wur-
de, dass sie anderen Menschen in ihrer Nähe den Tod brachte. Das alles erklärte aber nicht, warum Nele Großkreutz sich die Erinnerung an das »zerbrochene« London hatte bewahren können, während der Rest der Welt es vergaß – und erst recht nicht, wie sie darauf gekommen war, dass Zamorra etwas mit den Geschehnissen zu tun gehabt hatte. Sie hatte sich gezielt an ihn gewandt. Nicole sprach sie darauf an. Nele schien kurz zu zögern. Dann sagte sie. »Ich stehe in spiritueller Verbindung zu London – und allem, was dort geschieht. Ich habe nicht nach euch gesucht, nach dem Professor. Aber ich wusste von einem Augenblick zum anderen, was er getan hat – und wie er mit den Geschehnissen, die die Metropole heimsuchten, verflochten ist.« »In spiritueller Verbindung«, wiederholte Nicole, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Skepsis zu unterdrücken. »Ich bin gespannt, was –« Es klopfte an die Tür. Nicole ging hin und öffnete. Zamorra trat ein. Sie sah sofort, dass es neue Probleme gab. Sein Gesicht sprach Bände. »Du hast mit London telefoniert?«, fragte Nicole. »Mit diesem Hogarth?« Zamorra nickte. Er blickte prüfend zu Nele Großkreutz, dann wieder zu Nicole. »Es ist der unpassendste Zeitpunkt«, sagte er, »aber …« Wieder schaute er zu der Greisin, die vor rund achthundert Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Sie sah ihn ruhig an, dennoch spürte auch Nicole die Anspannung, die Nele plötzlich ergriffen hatte. Sie gab sich alle Mühe, es zu verbergen, aber es gelang ihr nicht restlos. »Aber was?«, fragte Nicole. »… aber ich muss wohl hin.« »Nach London?« Er verzog das Gesicht; es fiel ihm sichtlich schwer, sich dafür zu
entscheiden. »Ich habe versprochen, mich um Sie zu kümmern«, wandte er sich an die alte Frau. »Dabei bleibt es. Hier sind Sie erst einmal sicher. Es wird Ihnen nichts passieren, und auch die Bewohner des Schlosses sind geschützt. Im Grunde wird nur der jetzige Status bis zu meiner Rückkehr zementiert. Aber ihn in dieser Situation im Stich zu lassen, kann ich nicht riskieren. Paul ist mein verlässlichster Seismograf in London geworden. Wenn er Alarm schlägt, dann gibt es dafür mehr als ernst zu nehmende Ursachen. Er –« »Wenn ich eines gelernt habe in all der Zeit«, sagte Nele, »dann, geduldig zu sein. Wirst du …« Sie wandte sich Nicole zu. »… hierbleiben? Bei mir? Ich würde mich nicht so fremd fühlen.« Nicole schaute zu Zamorra. Er lächelte und nickte. »Von meiner Seite ist das kein Problem.« »Das hört sich nicht gut an«, sagte Nicole. »Nicht gut?« Er schien wirklich nicht zu verstehen. »Wenn du mich so leicht zurücklassen kannst.« Kopfschüttelnd trat er zu ihr, legte den Arm um ihre Taille und küsste sie sanft auf den Mund. »Ich wäge nur ab, wer dich im Moment mehr braucht. Und ich glaube, das ist sie.« Er blickte zu der alten Frau. »Was nicht heißt, dass ich auf dich verzichten kann und will. Reicht das als Erklärung?« »Natürlich. Ich denke auch, dass ich hierbleiben sollte. Wir haben uns jetzt erst mal wieder lange genug am Stück gehabt. Oder?« »Ich möchte mich nicht wieder an den anderen Zustand gewöhnen«, erwiderte er. »Was ich ohnehin nie geschafft habe.« Diesmal küsste sie ihn. Als sie wieder zu Nele blickten, schien deren Blick versonnen in weite Ferne gerichtet zu sein. Vielleicht dachte sie an die Liebe ihres Lebens. An den Mann, der ihr eine Frucht vom Baum des Lebens gebracht hatte – aber unglücklicherweise erst, als sie schon so alt gewesen war, wie sie sich heute noch präsentierte.
Nikolaus. »Wann willst du aufbrechen?« »Sofort«, sagte Zamorra. »Du musst vor Müdigkeit umfallen.« Er lachte. »Es geht, keine Sorge. Aber die Sache erlaubt keinen Aufschub.« Er umriss mit wenigen Worten, was Hogarth ihm gerade mitgeteilt hatte. »Ein Baum?«, wunderte sich Nicole. »Der im Keller des Tate zu wachsen begonnen hat? Abnorm schnell?« »Er hat den Boden des Erdgeschosses durchstoßen – massiven Beton, wie du dir denken kannst. Allein das würde so Aufmerksamkeit verdienen – aber die Geschwindigkeit, mit der er wächst, sprengt jeden Rahmen.« »Vielleicht hätten wir den Dingen, die unter dem Tate schlummern, schon längst richtig auf den Grund gehen sollen«, murmelte Nicole gedankenverloren. »Tja, wenn nicht immer wieder das ›Tagesgeschäft‹ dazwischen käme! Kümmere dich um unseren Gast. Frag ihr Löcher in den Bauch. Ich glaube, sie plaudert ganz gern von alten Zeiten. Habe ich recht, Madame?« »So als eine Art Therapie?«, fragte Nele Großkreutz. Sie zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, es ist wie in jedem Leben – es gibt Dinge, über die man gerne spricht, und solche, die man selbst lieber weit von sich wegschiebt und versucht, nicht mehr an sich heranzulassen. Aber wir werden sehen. Ich bin froh, wenn Nicole hierbleibt. Wir werden schon etwas finden, worüber wir uns unterhalten können. Aber unterschätzt den Fluch, der auf mir liegt, nicht. Dieses Schloss mag sicher sein – aber was ist mit dem umliegenden Gebiet? In der Vergangenheit war es stets so, dass ich das Unheil anzog. Ausbaden mussten es andere, denn mein Fluch bringt das Verderben nur immer denen in meiner Umgebung, nie mir selbst. Grausamer kann man es sich nicht erdenken.«
Zamorra versuchte sie zu beruhigen. »Damit befassen wir uns, wenn es akut wird. Bis dahin bin ich zuversichtlich, dass das, was Sie Ihren ›Fluch‹ nennen, auch den Leuten der Umgebung nicht schadet. Sie sind für die Kreaturen, die nach Ihnen suchen mögen, hier nicht mehr spürbar. Die magischen Siegel um das Château sind so ›dicht‹, dass niemand da draußen noch Ihre Witterung aufnehmen kann. Dementsprechend gibt es auch für keine Kreatur einen Grund, sich in Schlossnähe herumzutreiben.« »Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein.« »Sie sind in sicherer Obhut – und wenn ich zurückkehre, werde ich mich in aller Ausführlichkeit mit allem beschäftigen, was zu dem geführt hat, was Sie seit so langer Zeit bedrängt. Versprochen!« »Ich misstraue Versprechen grundsätzlich«, sagte Nele Großkreutz. »Ich bitte, das nicht persönlich zu nehmen. Aber …« »Ja?«, fragte Zamorra, als sie zögerte. »Aber wer garantiert mir, dass Sie zurückkehren?« Zamorra nickte. »Da haben Sie recht, Madame. Niemand. Aber wenn ich mit diesem Risiko leben kann, müssen Sie es auch schaffen.«
2. John deLorca stand mitten in der Nacht auf. »Was ist?«, kam es schlaftrunken aus den zerwühlten Kisten. Helen deLorca erhielt keine Antwort. Nach einer Weile wälzte sie sich zum Bettrand und tastete nach der Nachttischlampe. Licht flammte auf. Helen drehte den Kopf. John saß am Bettende und streifte gerade das Hemd über. Unterwäsche, Hose und Strümpfe hatte er offenbar schon im Dunkeln angezogen. Er stand auf und knöpfte das Hemd fahrig zu. Dabei verwechselte er die Löcher, in die die Knöpfe eigentlich gehörten. Das Resultat sah übel aus, schien ihn aber nicht zu stören. »Was ist denn in dich gefahren? Kannst du nicht schlafen?« Helens Herz klopfte plötzlich so schnell und hektisch wie nach einem starken Kaffee, den sie nicht vertrug. »Willst du ein bisschen fernsehen, drüben?« Sie blickte zur Tür, die ins Wohnzimmer führte. John ging wortlos, als würde er sie gar nicht hören, zur Tür und öffnete sie. »John!« Er hatte noch nie zuvor schlafgewandelt. Aber jetzt gerade benahm er sich genauso, wie seine Frau sich einen Schlafwandler vorstellte. »John!« Ihre Stimme überschlug sich, obwohl sie gar nicht einmal so laut nach ihm rief. Sie merkte, dass ihr die Situation über den Kopf wuchs. Ihr Blick ging zur Uhr auf dem Nachttisch. Kurz nach zwei. Grundgütiger! Als sie wieder zu John schauen wollte, drückte er gerade die Tür ins Schloss. Von draußen. Wenn sie sich nicht täuschte, hatte er nicht einmal Licht im Nebenraum gemacht.
Schlurfende Schritte entfernten sich. Sie verstummten kurz, als Helens Mann, wie sie vermutete, bei der Haustür ankam und dort in die abgestellten Schuhe schlüpfte. Tatsächlich klangen die Schritte verändert, als John sich erneut bewegte. Kurz darauf schlug die Haustür. Helen war fassungslos. Sie hatte das Gefühl, ans Bett gefesselt zu sein. Eine Gänsehaut kroch wie tausend Insekten über ihren Körper. Angst. Das war einfach nur Angst. Dass John sich so unheimlich benahm, traf sie vollkommen unvorbereitet. Das Herz schlug ihr jetzt bis zum Hals. Sie wusste, dass sie eigentlich hinter ihm her gemusst hätte. Sie konnte ihn in seinem Zustand doch nicht hinaus auf die Straße lassen! Doch dort war er vermutlich längst. Endlich schaffte es Helen, ihre Erstarrung soweit in den Griff zu bekommen, dass sie sich aus dem Bett schwingen und zitternd zum Fenster treten konnte. Es gab nur Innenrollos, keine Außenjalousien. Mit spitzen Fingern zog sie sie soweit zur Seite, dass sie zur Straße hinunterblicken konnte. Ihre Wohnung lag im ersten Stock eines kernsanierten alten Mietshauses im Londoner Eastend. Vor dem Fenster, etwas schräg versetzt, stand eine Laterne, die schummriges Licht in die neblige Nacht streute. Helen spähte hinaus, konnte aber keine Spur von ihrem Mann entdecken. So schnell war er fort? Dafür hätte er rennen müssen, oder? Ihr war ganz schlecht. Es überlief sie kalt. Sie ließ den Rollo los und huschte zurück ins Bett, zog die Decke bis zum Hals hinauf. Eine Weile zitterte sie, als hätte sie Schüttelfrost. Nur sehr langsam beruhigte sie sich ein wenig. Ihr Herz schlug jetzt nicht mehr so schnell, aber hart. Es tat sogar ein bisschen weh, als würde etwas von innen gegen die Rippen treten.
Das Handy, dachte sie. Vielleicht hat er sein Handy eingesteckt. Sie kramte das eigene aus der Nachttischschublade, wohin sie es abends immer legte. Falls einer ihrer Freunde oder die Kinder, die längst selbst Kinder hatten, nachts anrufen wollten, weil irgendetwas passiert war. Krankheit, Unfall – man wusste nie. Schnell tippte sie die Kurzwahl von John ein und hielt sich das eigene Handy gegen das Ohr. Zuerst knackte es, dann war es kurz still – und endlich kam das Rufzeichen. Eine Sekunde später ertönte drüben im Wohnzimmer Johns Klingelton. Enttäuscht legte Helen auf. John hatte das Handy offenbar hier gelassen. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal eine Jacke übergezogen. Sie war immer noch nicht in der Lage, etwas anzuziehen und draußen nach ihm zu sehen. Sein Verhalten machte ihr Angst. Hässliche, den Hals zuschnürende Angst. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihren Mann nicht mehr zu kennen, obwohl am Abend, beim Zubettgehen, noch alles in Ordnung gewesen war. Es war nicht seine Art, zu schlafwandeln. Und es war nicht seine Art, einfach wegzugehen, noch dazu um diese Uhrzeit. Helen überlegte, ob sie Robin anrufen sollte, Johns besten Freund. Vielleicht war ihr Mann dorthin gegangen oder traf sich mit ihm irgendwo. Vielleicht hatte er Sorgen. Er war vor ein paar Tagen von seinem jährlichen Routinecheck beim Arzt heimgekommen und hatte niedergeschlagen auf Helen gewirkt. Aber auf ihre Fragen hatte er abgewiegelt, es sei alles in Ordnung, sie sehe Gespenster. Und jetzt hatte sie das Gefühl, wirklich ein Gespenst gesehen zu haben.
Ihren eigenen Mann. So sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, es fiel ihr keine einigermaßen sinnvolle harmlose Erklärung für Johns Verhalten ein. Die Schlafwandelversion hatte sie längst verworfen. Daran glaubte sie nicht. Obwohl John wie … wie ferngesteuert gewirkt hatte. Verdammt, sie wusste nicht mehr, was sie noch glauben sollte! Sie ließ das Licht an, rührte sich aber nicht aus dem Bett. Es dauerte fast drei Stunden, bis sie wieder Geräusche an der Wohnungstür hörte. Dann Schritte, die innehielten, und sich dann im Ton verändert wieder fortsetzten. Er hat die Schuhe ausgezogen. Und jetzt … Jetzt näherte er sich dem Schlafzimmer. Helen verkrampfte sich unter der Bettdecke. Für einen Moment hielt sie es für möglich, dass gar nicht John heimkehrte, sondern … jemand, der ihm die Schlüssel abgenommen hatte und nun … Der Türknauf drehte sich, die Tür ging auf. John trat herein. Er sah gar nicht zu Helen herüber. Sein Gesicht war aschfahl und glänzte vor Nässe. »John!« Keine Reaktion. Es war, als liefe derselbe Film, in dem er gegangen war, noch einmal rückwärts. John zog sich aus, ohne ein Wort der Erklärung. Er legte seine Kleidung dorthin zurück, wo er sie vorher aufgehoben hatte. Als er bis auf die Unterhose nackt war, legte er sich aufs Bett. Helen sah, dass er am ganzen Körper nass war, als wäre er durch die Themse geschwommen. Sie hatte ihren Mann noch nie so schwitzen sehen, nicht einmal wenn sie Liebe machten. Seine Heimkehr erschreckte sie fast noch mehr als sein Weggang. Sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Er war immer ein so lieber Mann gewesen, ein guter Vater und »Bitte«, presste Helen
hervor. »Sag mir, was los ist. Wo kommst du her? Warum bist du so verschwitzt? Sag irgendetwas, ich bitte dich bei Gott dem Allmächtigen!« John drehte ihr das Gesicht zu. Seine Augen waren offen, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er sagte: »Das ist er nicht.« Seine Stimme klang hohl, als käme sie aus einem tiefen Loch. »W-was ist w-wer n-nicht?« »Gott«, sagte er. »Mächtig.« Er lachte. Und mit diesem eisigen, schaurigen Lachen drehte er den Kopf wieder, um zur Decke zu starren. Helen würgte. Es war, als wären Johns Worte in ihren Kopf geschlüpft und blieben darin wie ein endloses Echo gefangen. Immer und immer wieder hörte sie ihn dasselbe sagen, mit grotesk veränderter Stimme. »… ist er nicht … Gott … mächtig … Das ist er nicht …« Ihr Schädel dröhnte, als wollte er zerspringen. Mühsam schob Helen den linken Arm unter der Decke hervor und tastete nach dem Wecker. Endlich fand sie ihn und zog ihn vor ihr Gesicht. Es war kurz nach fünf. In spätestens zwei Stunden musste John aufstehen, sich fertigmachen und zur Arbeit. Zwei Stunden! Sie selbst fühlte sich wie gerädert. Und immer noch bebte sie vor Angst. Seine Nähe lastete wie ein Gewicht auf ihr. Zentnerschwer. Jetzt wünschte sie, er wäre lieber nicht mehr nach Hause gekommen. Der Mann an ihrer Seite war ihr fremd. Und als er seine Hand zu ihr schob und sie am Bauch berührte, fühlte er sich an wie ein Stück kaltes Holz. Helen schrie erstickt auf. »Es geht ganz schnell«, sagte er.
Sie wagte nicht zu fragen, was er meinte. Seine Hand lag weiter auf ihrem nackten Bauch, bedeckte ihren Nabel. Und genau dort spürte Helen plötzlich etwas wie einen Einstich. Sie zuckte zusammen. Zuerst wollte sie sich gegen die Berührung und den Schmerz, der ihr zugefügt wurde, wehren. Doch dann wurde sie ganz ruhig. Als das Handy ihres Mannes zweieinhalb Stunden später klingelte, war sie es, die den Anruf entgegennahm. »Ja?«, sagte sie. Die Arbeitsstelle ihres Mannes meldete sich. Sie erfuhr, dass er bis auf Weiteres nicht zur Arbeit kommen musste. Das Tate, wurde ihr mitgeteilt, bleibe vorerst geschlossen. Man wollte Bescheid geben, sobald John wieder benötigt wurde. Und ja, der Gehaltsscheck laufe weiter.
3. Während des Fluges nach London rekapitulierte Zamorra anhand von Notebook-Einträgen, mit welchen paranormalen Vorkommnissen die britische Metropole in letzter Zeit für Aufsehen gesorgt hatte. Die drastischsten Beispiele waren von ihm dokumentiert worden – und an ausnahmslos allen war er persönlich beteiligt gewesen. Dem Gebiet, auf dem sich die Bauten der verschiedenen Tate-Galerien erstreckten, schien dabei eine exponierte Stellung zuzukommen. Und in einem Fall hatte Zamorra mittels eines magischen Scans im Erdreich unter dem Tate Britain so etwas wie ein unterirdisches zweites Stonehenge orten können, dessen genauere Bedeutung aber bis heute nicht hatte erschlossen werden können. Fakt schien zu sein, dass das betreffende Gebiet schon seit Jahrhunderten mit schwarzmagischen Energien kontaminiert war. Erste dokumentierte Berichte von Hexerei reichten bis ins Jahr 1736 zurück, als es bei einer Mühle, die zur Abtei von Westminster gehört hatte, zu widernatürlichen Vergiftungen und Phänomen gekommen war. Später war die Mühle abgerissen worden, um Platz für ein Landgut der Familie Grosvenor zu schaffen. Und auf eben diesem Landgut in eben jener Zeit war durch magische Umstände Nicole vorübergehend gelandet. Sie hatte miterleben müssen, dass Kräfte, die in den Tiefen unter dem Anwesen lauerten, ihre Klauen nach den »Oberirdischen« ausgestreckt hatten und versucht hatten, sie nach und nach ins Verderben zu reißen. Das Grosvenor-Anwesen war daraufhin ebenfalls abgerissen worden – um einem fast schon monströsen Bau zu weichen. Dem Millbank Penitentiary, einem für die damalige Zeit revolutionär gestalteten Zuchthaus. In dem es viele Jahre nach seiner Vollendung ebenfalls zu mysteriösen Vorkommnissen gekommen war, die letztlich wiederum im Abriss des gesamten Gebäudekomplexes gegipfelt hatten.
Das Gebiet, auf dem sich heute die Tate-Galerien erhoben, schien genau das zu sein, was auch Nele Großkreutz als ihr Schicksal beklagte: Es war verflucht. Und jetzt die neuerliche Attacke, das neuerliche Aufflammen von Gewalt – das gegenüber den zurückliegenden Ereignissen in seiner Ausprägung zwar noch harmlos anmutete, gleichzeitig aber auch keinen Zweifel ließ, dass es sich um ein übernatürliches Ereignis handelte. Und deshalb hatte sich Paul Hogarth seines Freundes Zamorra erinnert – sie beide hatten in allen Fällen kooperiert, die mit dem verfluchten Gelände zusammenhingen. Zamorra spürte, wie seine Anspannung wuchs, je näher er London kam. Er hatte mit Hogarth verabredet, dass er direkt in Tate Britain kommen würde, wo der Detective Inspector auf ihn wartete. Seit ihrem Telefonat waren gute vier Stunden vergangen. Auf dem Château mochten Nicole und auch die unsterbliche Greisin Nele Großkreutz in Morpheus’ Armen schlummern; Zamorra selbst gestattete sich noch keinen Schlaf. Den anderen hatte er nicht gezeigt, wie beunruhigt er war. Doch gerade das bemüht harmlose Erscheinungsbild, mit dem sich das Böse unter dem Tate aktuell wieder bemerkbar machte, versetzte ihn in höchste Alarmbereitschaft. Den letzten Ausbruch hatten im Grunde andere gestoppt – er hatte ihnen nur die Energie dazu geliefert. Die Halls, eine mit bemerkenswerten magischen Kräften ausgestattete Familiendynastie, hatten das in seine Epochen zerfallene London mit Energien »geheilt«, die sie direkt aus Merlins Stern, Zamorras magischem Amulett, abgezapft hatten. Das Problem dabei war, dass das Amulett sich diese Hilfe teuer vergelten ließ – indem es sich an Zamorras Lebenskraft schadlos hielt. Nur dem Fingerspitzengefühl der Halls, die sich in vergeistigter Form seit Jahrhunderten bemühten, wie eine Art Plombe das
Böse daran zu hindern, Einfluss auf das Leben an der Oberfläche zu nehmen, und einer gehörigen Portion Glück hatte Zamorra dieses Manöver überlebt. Seitdem ging er noch respektvoller mit der magischen Silberscheibe um. »Wie lange noch bis zur Landung?«, fragte er eine Stewardess. »Zehn Minuten«, erhielt er zur Antwort. Und fast auf die Minute pünktlich setzten die Räder der Boing bald darauf auf der Piste von London Heathrow auf. Zamorra passierte die allfälligen Kontrollen ohne irgendwelche Probleme und stieg in eines der vor dem Terminal wartenden Taxis. »Tate Britain«, nannte er dem Fahrer sein Ziel. Das Kribbeln in seinem Bauch wurde stärker, und er begann zu ahnen, dass er gerade die letzten Minuten relativen Friedens genoss. Mit halbem Ohr verfolgte Zamorra die Nachrichten aus dem eingeschalteten Radio. Offenbar handelte es sich um einen Stadtsender, in dem sich Anrufer zu einem Thema zu Wort meldeten, das Zamorra anfangs nicht zuordnen konnte. Doch nach einer Weile wurde er aufmerksam und hörte genauer hin. »Worum geht es da?«, wandte er sich an den dunkelhäutigen CabFahrer. »Haben Sie das mitbekommen?« »Die Leute, die neuerdings verschwinden?«, fragte der Mann grinsend und unterbrach kurz sein Kaugummikauen. »Für mich haben die einen an der Klatsche. Das geht jetzt schon den ganzen Morgen so. Die Anrufer geben sich die Klinke in die Hand, und eine Story ist haarsträubender als die andere.« »Ich habe nur ein bisschen davon mitbekommen. Was genau versetzt die Leute so in Aufregung?«, fragte Zamorra. »Na ja, in der ganzen Stadt verschwinden angeblich plötzlich haufenweise Leute – nicht dauerhaft, muss ich dazu sagen. Sie tauchen alle ein paar Stunden später wieder auf und benehmen sich danach … hm, ich weiß nicht, die einen benehmen sich angeblich voll selt-
sam, andere wieder ganz normal. Was soll man davon halten? Ist doch wahrscheinlich die alte Geschichte vom ›Darling, ich geh mal eben Zigaretten holen‹. Es sind Partner oder Freunde, die den Sender mit ihren Erlebnissen bombardieren. Bestimmt laufen auch schon die Drähte der Fernsehredaktionen heiß. Sommerloch, wenn Sie mich fragen. Und natürlich Trittbrettfahrer. Da hat jemand was erlebt, was er sich nicht zusammenreimen kann, geht damit an die Öffentlichkeit, und sofort wollen sich tausend andere wichtigmachen. So sind die Menschen.« »Nicht alle.« Der Fahrer nickte widerstrebend. »Klar, stimmt schon, nicht alle.« »Sie und ich beispielsweise.« »Sie kennen mich doch gar nicht.« »Sie mich ja auch nicht. Es war scherzhaft gemeint.« »Ach …« Mehr kam die nächste Zeit nicht mehr über die Lippen des Fahrers. Aber er stellte das Radio so leise, dass er es auch gleich hätte abschalten können. Das nächste, was über seine Lippen kam, war ein Fluch. »Was ist?«, fragte Zamorra. »Bullen«, knurrte der Fahrer. »Aber wir sind ohnehin fast da.« Vor ihnen lag das Tate-Gelände, und ganz offenbar war es weiträumig für den Verkehr gesperrt. Der Taxifahrer wurde gut zweihundert Meter vor dem Eingang zur Galerie angehalten und zur Umkehr aufgefordert. Alles Schimpfen half nichts. Zamorra zahlte beim Aussteigen den doppelten Fahrpreis, was das Mütchen des Cab-Drivers zu kühlen. Das schwarze Taxi wendete und fuhr den Weg zurück, den es gekommen war. Zamorra wies sich bei den Polizisten an der Sperre aus und wurde umgehend mit einem Polizeiwagen zum Tate gefahren. »Der Inspector erwartet Sie bereits«, sagte der junge Polizist, der
ihn in das Gebäude begleitete. Das Kribbeln in Zamorras Bauch verschwand in genau dem Moment, als er Paul Hogarth die Hand schüttelte. »Ich freue mich«, sagte er. »Wirklich?«, fragte Hogarth skeptisch. »So schlimm?«, fragte Zamorra. Der Yard-Mann schüttelte den Kopf. »Schlimmer. Kommen Sie, bitte. Kommen Sie schnell.«
* Zamorra eilte hinter Hogarth her ins Untergeschoss des Tate. Es gab einen Aufzug, aber Hogarth entschied sich für die Treppe, was Zamorra begrüßte. Wenig später erreichten sie den Keller, der wie eine normale Etage ausgebaut war, nur dass es keine Fenster gab. Neonleuchten summten. Sie waren hinter Blenden verborgen, und irgendwo musste eine defekt sein, denn es flackerte stroboskopartig. Außerdem roch es beißend, wie von verbranntem Schwefel. »Was ist das?« »Der Geruch?« Hogarth zuckte mit den Schultern. »Es hat begonnen, als wir versuchten, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Ich dachte, wir müssten schnell handeln – schnell und radikal. Um das Gebäude zu schützen. Die Kellerdecke war bereits durchbrochen. Die Erdgeschossdecke stand kurz bevor. Da gab ich Befehl, dem Ding zu Leibe zu rücken.« Zamorra schwante Böses. »Sie hätten auf mich warten sollen. Seit unserem Telefonat sind gerade mal ein paar Stunden vergangen. Ich bin so schnell gekommen, wie ich …« »Sie verstehen es vielleicht, wenn Sie es sehen.« Hogarth zeigte nach vorne. »Wir sind gleich da. Diese Tür noch.« Es war eine Feuerschutztür.
Stahl, graubeiger Anstrich. Davor standen zwei Polizisten in Uniform. »Sir.« Sie traten auf Hogarths Wink hin beiseite. Der Inspector wuchtete den Hebel des Schlosses hoch, die Tür gab nach, schwang auf. Zamorra trat vor. »Wie gesagt, Professor, ich bin gespannt, ob Sie es sehen – oder zu denen gehören, für die es unsichtbar ist«, sagte Hogarth. »Ich hoffe, Sie sehen es. Das wäre gut für mein Seelenheil, denn offen gestanden zweifele ich schon an meinem Verstand. Obwohl Blossom, einer der Polizisten, die mich hierher riefen, es auch sieht. Und noch zwei, drei andere.« Was sich so mysteriös anhörte, war für Zamorra von Anfang an keine Frage. Er sah den seltsamen Baum, dessentwegen Hogarth ihn nach London gebeten hatte. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand dieses Gebilde nicht sehen sollte. »Was ist mit den beiden vor der Tür?«, fragte er Hogarth. »Sie sind blind«, erwiderte dieser. »Für das hier jedenfalls.« »Darf ich mich davon selbst überzeugen?« »Aber ja.« Hogarth rief die beiden Polizisten herein. Sie kamen zögerlich. »Sollen wir uns noch mal zum Affen machen?«, grunzte der eine. Hogarth ließ es ihm durchgehen. »Ich bitte darum. Also?« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm dorthin, wo der Baum in der Dunkelheit leuchtete, als wäre er mit phosphoreszierender Farbe angestrichen. Die Polizisten blickten in die angegebene Richtung, ohne dass sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Dann tauschten sie untereinander Blicke, aus denen abzulesen war, was sie dachten. Offenbar hatte Hogarth für sie den Verstand verloren. »Nichts«, sagten sie unisono. Und einer von ihnen fügte hinzu: »Dunkelheit. Sonst nichts. Aber das hatten wir doch schon, Sir.«
»Ich danke Ihnen trotzdem. Sie können jetzt wieder nach draußen.« »Und Sie, Sir?« »Ich bleibe mit Monsieur Zamorra noch ein wenig.« »Im Dunkeln? Sollen wir Licht machen?« »Nicht nötig«, wiegelte Hogarth ab. »Die Helligkeit genügt uns – oder, Professor?« Zamorra nickte. »Durchaus.« Die Männer gingen verständnislos, lehnten die Tür an, ohne sie ins Schloss fallen zu lassen. »Glauben Sie, dass es geschauspielert war?«, fragte Hogarth, als sie allein waren. Zamorra schüttelte den Kopf. »Dann wäre es oscarreif. Nein. Ich teile Ihre Überzeugung, Paul. Die beiden sehen nicht, was wir sehen. Aber warum? Haben Sie eine Theorie?« »Ich hoffte, dass Sie eine haben.« »Noch nicht. Wie viele außer uns beiden sehen den Geisterbaum noch?« »Etwa ein halbes Dutzend.« »Okay. Sie und ich und ein halbes Dutzend.« Zamorra trat ein paar Schritte näher an das leuchtende Bild eines Baumes heran, das viel mehr sein musste als nur eine optische Täuschung, denn es hatte zwischenzeitlich die Decke des Kellers und damit den Boden des darüber liegenden Erdgeschosses durchbrochen. Zamorra sah das Loch. Von oben drang seltsamerweise kein Licht herab, fast so, als würde die Aura des Baumes das Fremdlicht absorbieren oder aussperren. Er hatte eine Idee. Aber bevor er sie mit Hogarth besprach, wollte er der Struktur des Geisterbaums auf den Grund gehen. »Ist er fest?«, fragte er. »Für mein Gefühl, ja«, sagte Hogarth. »Ich konnte ihn anfassen. Aber …«
»Lassen Sie mich raten – für die ›Blinden‹ ist er auch nicht greifbar.« »Nicht so wie für mich«, erwiderte der Inspector. »Ich habe es getestet. Für alle, die ihn sehen, ist er materiell greifbar. Für die, bei denen er unsichtbar bleibt, ist allenfalls ein schwacher Widerstand zu spüren, wenn sie die Hand danach ausstrecken oder durch ihn hindurch gehen.« »Und sonst passiert nichts?«, fragte Zamorra. »Sie wissen schon, was ich meine. Der Baum lässt es sich gefallen? Er reagiert nicht negativ?« »Bislang nicht. Aber ich würde meine Hand nicht ins Feuer legen, dass es so bleibt.« Zamorra nickte. Hogarth schätzte die Lage erfreulich realistisch ein. Der Parapsychologe trat auf den Baum zu. Der Stammdurchmesser betrug bereits gut vierzig Zentimeter. Die Rinde war vollkommen glatt, eine Maserung nicht erkennbar. Hier unten war nur der Stamm zu sehen. Aber von Hogarth wusste Zamorra, dass im Erdgeschoss bereits eine Krone ausgebildet war. Kurz zögerte er. Dann programmierte er sein Amulett so, dass es ihn vor einem Angriff mit magischen Mitteln schützte, und streckte die Hand nach dem Stamm aus. Er war fast so hart wie Stein, nur wärmer. Zamorra überlegte, ob er mit Merlins Stern den Baum bis hinab ins Wurzelwerk scannen sollte. Er war sich bewusst, dass er vermutlich spätestens damit eine Reaktion provozierte. Nein, entschied er. Ich warte, bis ich oben bin. Ich will den Baum in voller Pracht vor mir sehen. Er kehrte zu Hogarth zurück, unterrichtete ihn über seine Absicht, und gemeinsam verließen sie den Keller des Tate. Während sie die Stufen hinaufstiegen, fühlte sich Zamorra zum ersten Mal aus dem Verborgenen heraus beobachtet.
Der gefühlte Blick kam von unten. Als würde etwas aus dem Fundament des Hauses zu ihm emporblicken. Etwas, für das Boden, Decken und Wände kein Hindernis darstellten …
4. Nicole war überrascht, Nele Großkreutz schon so früh wieder auf den Beinen zu sehen. »Ich wollte gerade frühstücken, haben Sie … ich meine: Hast du auch Hunger?«, fragte Nicole. Die alte Frau lächelte. »O ja. Als ich die Augen aufschlug, schien die Sonne so warm und hell zu mir herein. Ihr hattet recht, ich fühle mich ausgeschlafen wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Offenbar hat es mich unterschwellig doch belastet, ständig von Ungeheuern belagert und belauert zu werden – in der Gewissheit, dass ich andere mit meiner bloßen Anwesenheit ins Verderben stoße.« »Darüber habe ich auch nachgedacht – ich habe nicht so viel Schlaf gefunden. Ich fragte mich, wie ein Mensch damit leben kann, unschuldigen, nichts ahnenden Menschen den Tod zu bringen, allein schon, indem er sich unter andere Menschen wagt.« Nicole lächelte entschuldigend. »Ich glaube, ich hätte meinem Leben lieber selbst ein Ende gesetzt, als dauerhaft andere zu gefährden.« Sie zeigte den Gang hinunter, an dessen Ende die Küche lag, aus der schon Geschirrgeklapper klang. »Um das zu beurteilen, muss man erst einmal selbst in der Situation sein«, erwiderte Nele, während sie sich Nicole anschloss. »Als Außenstehender ist man immer schnell mit Behauptungen zur Hand. Steckt man aber selbst in der Haut desjenigen, der das Problem hat, sieht es anders aus. Ob du es glaubst oder nicht – ich lebe auch nach so vielen Jahren immer noch gern und freue mich an jedem neuen Morgen. Dass ich den Tod bringe, habe ich von mir weggeschoben. Ich lasse es nicht an mich heran – nicht als realistischen Gedanken. Abstrakt ja, sonst könnte ich nicht mit dir darüber sprechen. Aber selbst wenn ich darüber rede, ist es so, als ginge es um etwas Theoretisches. Nenn es Selbstschutz oder wie auch immer. Tatsache ist: Ich bin mir selbst immer am Wichtigsten geblieben. Ich
akzeptiere, dass ich Tod und Gewalt säe, wohin auch immer ich mich begebe. Nur so kann ich ein Leben leben, das mir etwas gibt. Würde ich mich von der Umwelt und meinen Mitmenschen isolieren, hätte ich kein Leben mehr.« »Das ist sehr egoistisch.« »Ich weiß. Im Prinzip bin ich ein Schwerverbrecher, den man wegschließen müsste.« »Vielleicht wird es soweit auch kommen«, sagte Nicole. Neles Augen weiteten sich ein wenig. Dann aber schmiegte sich ein Lächeln um ihre Lippen, das so etwas wie Verständnis signalisierte. »Du bist ehrlich – das mag ich an dir. Du trägst das Herz auf der Zunge.« »Ich meine es ernst.« »Ich weiß.« Sie erreichten die Küche. Sie war modern eingerichtet, ohne dass der Raum selbst seinen historischen Charme verlor. William stand vor einem Gasherd und kehrte ihnen den Rücken zu. Als er die Stimmen hörte, schaute er über die Schulter, grüßte, zeigte keinerlei Verwunderung, dass Nicole in Begleitung des Gastes hier unten auftauchte, anstatt es sich im Speisesaal gemütlich zu machen, und fragte: »Wie immer, Mademoiselle?« »Wie immer, danke, William.« Nicole nahm an dem rustikalen Tisch Platz. »Und du?«, wandte sie sich an Nele, die ihr folgte, nachdem sie William ebenfalls begrüßt – und dabei ungeniert gemustert hatte. »Ich nehme das Gleiche, was immer es ist«, sagte die alte Frau lächelnd. Nicole wartete, bis der Butler ihnen Kaffee in schlichtes Porzellan gegossen hatte. Dann sagte sie: »Wie hast du nur all die Zeit überleben können?« »Ach, das war simpel«, erwiderte Nele, »ich bin einfach nicht gestorben.«
Nicole nickte. »Das klingt mir eine Spur zu simpel. Bei der gewaltigen Zeitspanne genügt mir die Grobfassung – aber ein paar mehr Details dürfen es schon sein.« »Du hältst mich für schwach. Und gebrechlich. Darauf zielt deine Frage ab, ja?« Nicole sah kurz William zu, wie er Speck in einer Eisenpfanne brutzelte und dann Eier aufschlug, die sofort zischend im Fett zu braten begannen und einen unwiderstehlichen Duft verbreiteten. Schließlich blickte sie zu Nele und schüttelte den Kopf. »Ich frage, weil die Zeiten, die du durchlaufen hast, nicht unbedingt als frauenfreundlich gelten.« »Ich habe dir von meinem kleinen Talent erzählt.« »Du kannst dich unsichtbar machen, ich weiß.« »Es ist mehr als nur unsichtbar machen – du hast es beim Verlassen der Pension hautnah erfahren. Mithilfe meiner Gabe kann ich durch feste Wände gehen. Selbst für Dinge bin ich und alles, was ich berühre, in diesem Zustand nicht existent. Das kann sehr praktisch sein – und hat mir mehr als einmal noch den Kopf aus der Schlinge gezogen.« »Erstaunlich. Eine Paragabe, würde ich meinen. Zamorra wird es sicherlich erforschen.« »Ich bin kein Insekt.« »Und das heißt?« »Dass ich mich nicht auseinandernehmen lasse, nur damit die Wissenschaft Triumphe feiern kann.« »Davon war auch nicht die Rede. Das würde Zamorra nie tun.« »Du hältst große Stücke auf ihn.« »Du nicht? Du hast ihn dir immerhin ausgesucht – warum eigentlich genau?«, fragte Nicole, während William zuerst Nele und dann ihr Eier mit Speck und einem Traum von goldbraunem, gebuttertem Toast servierte. Beide Frauen bedankten sich artig – dann erinnerte Nicole die Zei-
tenwanderin daran, dass sie ihr noch keine Antwort auf die zuletzt gestellte Frage gegeben hatte. »Das wüsste ich selbst gern«, sagte Nele Großkreutz schließlich, nachdem sie mit schwelgerischer Miene gekaut und hinuntergeschluckt hatte. »Köstlich«, rief sie William zu, der das Lob merklich erfreut entgegennahm. Danach richtete die alte Frau den Blick wieder auf Nicole, und plötzlich kam die sich vor wie ein aufgespießtes Insekt. Der Blick von Nele Großkreutz war regelrecht sezierend. »Ich wünschte«, sagte sie, »ich hätte auch nur den Hauch einer Ahnung, warum ausgerechnet ich von dem magischen Vergessen verschont wurde, das Zamorra über die Welt brachte. Und noch neugieriger bin ich darauf zu erfahren, woher das Wissen in mich strömte, dass dein Mann …« »Wir sind nicht verheiratet.« Nele lachte auf. »Nicht auf dem Papier vielleicht. Kindchen, Kindchen. Ihr lebt doch wie ein Paar zusammen, oder? Unter einem Dach. Da gibt es doch nichts, was euch von Verheirateten unterscheidet, zwischenzeitliche Dissonanzen wahrscheinlich inbegriffen.« Nicole rief sich in Erinnerung, wie viel Lebensweisheit sich jemand in 800 Jahren aneignen konnte – dagegen war sie selbst noch grün hinter den Ohren. »Okay. Nehm ich mal so hin. Dass mein Mann?« »Die Fäden für die weltweite Verdummung zog.« »Das klingt böse.« Nele lachte erneut in einer Weise auf, die Nicole schon ahnen ließ, was als Nächstes kommen würde. »Ist es das nicht auch?«, fragte die alte Frau prompt. »Ist es nicht höchst amoralisch, mit einem Fingerschnippen die Erinnerung von Millionen, vielleicht Milliarden Menschen zu fälschen?« »Er hat es mir erklärt. Und ich an seiner Stelle hätte, wenn ich die Mittel dazu gehabt hätte, vermutlich genauso gehandelt. Die Welt
ist nicht reif dafür, mit der Erkenntnis umzugehen, dass das Höllenreich – es wurde übrigens kürzlich zerstört, nach allem, was wir wissen – ebenso real ist wie das klar geordnete Weltbild, mit dem der Großteil der Menschheit aufwächst und in dem Hölle nichts weiter als eine abstrakte Größe ist – ebenso wie der Himmel.« »Ich weiß schon lange, dass es beides gibt«, sagte Nele und griff in den Ausschnitt ihres Kleides, um die Kette hervorzuholen, an der die Bernsteinperle mit den Kernen hing, die ihrer Aussage zufolge von der Frucht übrig geblieben waren, die Nikolaus ihr in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu essen gegeben hatte. Die Frucht vom Baum des Lebens. Die Frucht, von der er Nele offenbar weisgemacht hatte, dass er sie aus dem originalen Garten Eden besorgt hatte, aus der die Menschen in biblischer Zeit vertrieben worden waren. Obwohl sich alles in Nicole sträubte, das zu glauben, merkte sie, wie sie den Inhalt des Bernsteins anstarrte. Sie ertappte sich dabei, dass sie Neles Geschichte glauben wollte. Was verleitete sie dazu? Eine Art Ursehnsucht nach dem verlorenen Paradies? »Wenn du willst und es dich nicht zu sehr anstrengt oder psychisch belastet«, sagte Nicole, »würde mich interessieren, was genau Nikolaus dir damals in Rostock zu deinem Schmuckstück hier erzählte – und wie es mit euch weiterging.« Nele legte die Gabel, die sie gerade zum Mund hatte führen wollen, auf den Teller zurück und schob ihn von sich. Keine zornige oder ablehnende Geste – es sah einfach aus, als wäre sie gesättigt und könne nicht mehr weiteressen, was in Anbetracht der geringen Menge, die sie sich erst einverleibt hatte, eher fragwürdig war. »Nein«, sagte sie, »es belastet mich nicht. Aber es ist so lange her, und ich weiß nicht, ob ich alles noch so zusammenbekomme, wie er es mir schilderte.« »Willst du es versuchen?«
»Wenn wir den Butler nicht stören.« Sie zwinkerte William zu. »Ich wollte ohnehin gerade gehen – die Pflicht ruft«, verabschiedete er sich. »Schade«, sagte Nele, als er gegangen war. »Ich wollte ihn nicht vertreiben.« »Das hast du auch nicht getan.« »Sicher?« »Ganz sicher.« Nele nickte, während sich ihr Blick verklärte. Ihre Lippen bebten, ihre Augenbrauen zogen sich etwas zusammen, wie um zu demonstrieren, dass es hinter der faltigen Stirn zu arbeiten begonnen hatte. Nele Großkreutz suchte offenbar den richtigen Ansatzpunkt. Und dann hatte sie ihn gefunden. Sie begann zu erzählen.
* Jerusalem und Umgebung Frühjahr 1213 Irgendjemand hatte einmal zu Nikolaus gemeint, eine Stadt sei wie die andere. Aber als seine Augen Jerusalem zum ersten Mal schauten, wusste er, dass das nicht stimmen konnte. Die Stadt um den Felsendom vor ihm atmete förmlich das Licht Gottes, und wenn er die Augen schloss, glaubte er eine Stimme zu hören, die ihm verkündete, dass er nun am Ziel seiner Träume angelangt war. Er würde an der Spitze der zerlumpten Kinder, die ihn bis hierher begleitet hatten, an den Ort ziehen, wo der Heiland gekreuzigt worden war.
Golgatha. Das bloße Wort erschütterte ihn bis in seine Seele. So würde er es viele Jahre später der Frau schildern, die sich an den Gestaden des Heiligen Landes von ihm getrennt hatte, um in die Heimat zurückzukehren. Jene Frau, die jetzt, in diesem Moment, noch ein Mädchen, etwa so alt wie er selbst, war. Und ohne die Nikolaus und seine Schar es niemals bis hierher geschafft hätten – weil es gewissenlose Schufte wie Capitano Adamo gab, der ihnen versprochen hatte, sie von Genua aus über das Meer und an ihr Ziel zu bringen, der sie tatsächlich aber auf den afrikanischen Sklavenmärkten für teure Münze hatte verkaufen wollen. Nele hatte dies verhindert, auf ihre ganz spezielle Weise, mithilfe ihrer ganz speziellen Gabe – und seither nannte Nikolaus sie nur noch seinen Engel. Wochen waren seit ihrer Trennung vergangen, und jede Nacht, vor dem Einschlafen, wünschte er sich aufs Neue, Nele wäre noch bei ihnen. Sie hatte ihn so oft, wenn er an sich und seiner Bestimmung, zu zweifeln begann, aufgerichtet und ermutigt, dabei hatte sie selbst so viel durchmachen müssen. Nach den Eltern hatte sie ihre beiden jüngeren Brüder verloren, sodass sie am Ende eine Vollwaise wurde. Die letzte Nacht vor ihrem Abschied hatten sie sich in den Dünen zueinander gelegt und in einer Weise vereinigt, wie Mann und Frau es eigentlich nur tun sollten, wenn sie miteinander vermählt waren. So sah es Gottes Wille vor. Aber Nikolaus bereute die zärtlichen Stunden auch jetzt, in Sichtweite der Heiligen Stadt, nicht. Er errötete, als er sich dabei ertappte, kurz an Nele und ihre Alabasterhaut zu denken – aber niemand in seiner Begleitung bemerkte es. Nur Gott wusste Bescheid. Und Nikolaus’ Schöpfer war ein Gott der Vergebung. »Sie sieht verlassen aus – menschenleer«, sagte Jakob, der ihm nach Neles Fortgang Trost und Ratgeber geworden war. Jakob war
zwei Jahre älter als Nikolaus und spindeldürr. Nikolaus hatte ihn noch nie feste Nahrung zu sich nehmen sehen, und einige aus der Schar behaupteten sogar, Jakob hätte seit ihrem Aufbruch aus Köln vor vielen Monaten nichts mehr gegessen, weil er das Gelübde abgelegt habe, erst wieder zu speisen, wenn sie Jerusalem von den Ungläubigen befreit hätten. Nikolaus hatte Jakob gefragt, ob das stimme. Aber Jakob wollte sich nicht dazu äußern. Sonst sprachen sie über alles. Vielleicht wäre Jakob der bessere Anführer gewesen. Nikolaus schob den Gedanken beiseite, weil er merkte, wie die alte Verunsicherung wieder nach ihm zu greifen versuchte – und das, obwohl sie es doch so gut wie geschafft hatten. Nikolaus folgte dem Blick des Freundes und ließ ihn über die Häuser und Straßen streifen, die sich wie lehmige Vogelnester an den rötlichen Fels schmiegten, auf dem schon Jesus gewandelt war. Auch Nikolaus fand kein Anzeichen, dass die Stadt bewohnt war. Merkwürdig. War es möglich, dass … dass es so leicht war? Waren die Einheimischen geflohen, noch bevor die kindlichen Wallfahrer auch nur in Sichtweite gekommen waren? Wenn dem so war, dann war dies Gottes Lohn für all die Entbehrungen und Opfer, die seine Anhänger auf dem langen Weg in die Fremde hatten erleiden müssen. »Lasst uns einziehen in Jerusalem!« Nikolaus’ Ruf mobilisierte die letzten Kräfte der Erschöpften. Viele von ihnen torkelten nur noch auf das Ziel zu, das ihre Herzen jauchzen ließ. Die grausame Wahrheit offenbarte sich ihnen, als unter glühender Sonne auch der Letzte in das Gewirr der Gassen eingetaucht war. Ohne jede Vorwarnung öffneten sich Türen und Tore …
* Jerusalem war eine einzige Falle! Nikolaus brauchte wertvolle Momente, um das zu begreifen – um zu realisieren, dass sie in einen feigen Hinterhalt geraten waren. »Jakob.« Der Freund war ganz nah zu ihm getreten, als wollte er ihn mit seinem eigenen Körper wie mit einem Schild schützen. »Sie werden – uns alle töten«, kam es stockend über Jakobs Lippen. »Nikolaus, tu etwas!« Als Nikolaus nicht reagierte, rief Jakob schrill: »Wirke ein Wunder!« Vielleicht war das der Augenblick, in dem Nikolaus zum ersten Mal wirklich verstand, was die, die ihn bis hierher begleitet hatten, in ihm sahen. Für sie war er der fleischgewordene Messias. Für sie war er der wiedergekehrte Jesus! Nikolaus krümmte sich unter der Wucht der Erkenntnis. Mit ohrenbetäubendem Geschrei kamen die dunkelhäutigen Sarazenen aus allen Richtungen auf sie zu. Sie schnitten Grimasse, als wären sie leibhaftige Teufel, doch statt Säbeln oder Äxten schwangen sie lediglich Knüppel, mit denen sie ohne Skrupel auf die Wallfahrer eindroschen, die es gewagt hatten, ihr Territorium zu betreten. Dass es Kinder waren, nur mit Fahnen oder Kruzifixen »bewaffnet«, hinderte die gottlose Meute nicht daran, mit brutaler Härte gegen sie vorzugehen. Auch Nikolaus wurde von Hieben getroffen – wie durch ein Wunder nicht am Kopf, aber an Armen, Beinen, auf Brust, Bauch und Rücken. Er und Jakob wurden getrennt. Der Freund hatte schützend die Arme über den Kopf gehoben und wurde von einem wahren Riesen von Mann mit bloßen Fäusten durch die Gasse geprügelt. Der schreckliche Kerl schien seine wahre Freude daran zu haben, Ja-
kob in Todesangst zu versetzen, denn er brüllte ihn während er schlug in einer Weise an, als wäre er nicht als Mensch, sondern als Dämon auf die Welt gekommen – mit einer einzigen Aufgabe: Menschen zu quälen. Nikolaus verlor Jakob aus den Augen. Um ihn herum drehte sich alles in einer nicht enden wollenden Orgie der Gewalt. Als er sich schützend vor ein Mädchen stellen wollte, das bereits weinend auf den Knien lag und zu seinem Peiniger aufschaute, der mit der Spitze seines Knüppels über die Rundungen ihrer Brüste strich und dabei sabberte wie ein Straßenköter, dem man einen Knochen hingeworfen hatte, an dem noch Fleisch klebte – als Nikolaus sich vor dieses arme Kind stellte und den Knüppel harsch zur Seite schlug – in genau diesem Moment begriff er, was er in dem Kerl, der von der Aktion überrascht wurde, auslöste. Noch in keinem anderen Augenpaar hatte Nikolaus solche Mordlust aufblitzen sehen, wie hier. Und ihm dämmerte, dass sich die Krieger bisher absichtlich zurückgehalten und die Schädel der Kinder verschont hatten. Prügel ja – aber umbringen wollten sie offenbar keinen der Narren, die ihnen auf den Leim gegangen waren. Vielleicht handelten sie nach dem Befehl eines Anführers, auf jeden Fall überspannte Nikolaus den Bogen bei diesem einen sonnengegerbten Heiden ganz offenkundig. Das Temperament des Fremden ging mit ihm durch. Und als er den Knüppel nun weit über den eigenen Kopf hob und sich dabei noch nach hinten bog, wusste Nikolaus, dass die Wucht, mit der der Knüppel ihn treffen würde, ihm entweder den Schädel spalten oder zumindest das Schlüsselbein brechen würde. Er versuchte noch, auszuweichen, aber der Unbarmherzige folgte seiner Bewegung im Zuschlagen, korrigierte die Bahn, die seine Waffe nahm und … Nikolaus schloss die Augen. Aus, dachte er. Lieber Gott im Himmel …
Ein Schrei übertönte alle anderen. Für einen Moment glaubte Nikolaus, es sei sein eigener, der abrupt abbrechen musste, weil ihm der Schädel eingeschlagen worden war. Aber es kam kein Schmerz. Und auch keine alles auslöschende Stille. Er riss die Augen auf und sah gerade noch, wie der Hüne vor ihm in den Staub krachte. Die Szene kam Nikolaus extrem verlangsamt vor. Er vermochte jede Nuance der Überraschung in den Zügen des Gefällten zu erkennen, sah sogar Schweißtropfen davonfliegen. Es war völlig unwirklich. Doch im nächsten Moment kehrte die normale Geschwindigkeit, in der sich alles abspielte, zurück. Ungläubig starrte Nikolaus auf Pferd und Reiter, die sich vor ihm positioniert hatten. Woher sie gekommen waren, hatte er nicht bemerkt. Aber jetzt war die imposante, majestätische Gestalt da, die sich ihren Weg durch das Chaos gebahnt hatte, und Nikolaus sah, dass die lange gebogene Klinge, mit der der Krieger noch immer auf den hinterrücks Erstochenen zeigte, an der Spitze voller Blut war. Nach und nach erlahmten die Bewegungen aller Beteiligten. Die Misshandlungen wurden eingestellt. Viele Kinder lagen weinend und blutend am Boden, aber alle bewegten sich noch – im Gegensatz zu dem Hünen, der vor Nikolaus zu Fall gekommen war. Der Reiter winkte jemandem zu und begann in unbekannter Sprache zu sprechen. Die Worte waren an Nikolaus gerichtet, der aber nicht das Geringste verstand, bis … nun, bis neben dem Reiter ein schmächtiger, eingeschüchtert wirkender Mann auftauchte und Nikolaus mit viel zu hoher, fast weibischer Stimme zurief: »AlMu’azzam Turan Schah, Sohn des großen Saladin, ist angetan von dir und deinem Mut. Nicht angetan war er von dem, der seinen Befehlen zuwiderhandeln wollte – die Strafe traf ihn auf dem Fuße!« Der Reiter nickte grimmig, obwohl er vermutlich nichts von dem verstand, was sein Übersetzer an Nikolaus weitergab.
»Woher … sprichst du meine Sprache?«, wandte er sich an den Schmächtigen, dessen Alter schwer zu schätzen war. Auf jeden Fall war er ein erwachsener, schon älterer Mann, der kein Haar mehr auf dem Kopf hatte. Seine Glatze glänzte bronzefarben in der Sonne. Erschrocken sah Nikolaus, wie der Reiter ausholte und seinen Säbel auf den Rücken des Dolmetschers niederfahren ließ – allerdings mit der flachen Seite, sodass der Hieb zwar schmerzhaft war, aber ohne große Folgen blieb. Kein Ton des Jammers kam über die Lippen des Kahlköpfigen. Nur das dringende Ersuchen: »Du musst immer zu ihm sprechen, zu meinem Herrn. Ich bin nichts, er ist alles. Ich bitte dich inständig …«
* Die Kinder, die ausgezogen waren, Jerusalem friedlich zu erobern, wurden eingesperrt – und nun holte sie das Schicksal, das ihnen schon Capitano Adamo zugedacht hatte, doch noch ein: Sie landeten in der Sklaverei. Nikolaus als Initiator des Kinderzuges und ehemaliger Anführer genoss Sonderrechte, die ihm nicht gefielen. Er wollte nicht über seine Anhänger gestellt werden, von denen ihm einzig Jakob geblieben war – und auch das nur auf seine nachdrücklichen Bitten, die er über den Übersetzer an Saladins Sohn gerichtet hatte. Er und Jakob waren in einem palastartigen Bau nahe des Felsendoms untergebracht; über das Schicksal der anderen Wallfahrer war ihnen wenig bekannt. Offenbar waren sie auf Jerusalemer Familien aufgeteilt worden, aber einmal deutete Said, der Dolmetscher, auch an, dass eine größere Zahl längst aus der Stadt geschafft worden war, um einem von al-Mu’azzam Turan Schahs Brüdern zum Geschenk gemacht zu werden. Jeden Tag kündigte Said eine Audienz bei al-Mu’azzam Turan Schah an, zu der es aber bislang nicht gekommen war. Für Nikolaus
war das untätige Warten schlimmer als die Märsche und anderen Strapazen, die hinter ihm lagen. Er versank wieder in Selbstzweifeln und Agonie. Wäre Jakob nicht gewesen – teilweise auch Said, der bei jeder Begegnung deutlich machte, dass er Sympathie für die Gefangenen, besonders Nikolaus, hegte –, hätte Nikolaus die Tage der Isolation nicht überstanden. Dann, eines Morgens, kam Said niedergeschlagen zu ihnen. »Was ist mit dir?«, fragte ihn Jakob, während Nikolaus, wie meistens, am Fenster stand und auf die Stadt hinunterblickte, wo reges Treiben herrschte. Die Verlassenheit bei ihrer Ankunft hatte nur von jemandem mit enormer Autorität inszeniert werden können. Aber genau darüber verfügte al-Mu’azzam Turan Schah zweifellos. Inzwischen wussten sie, dass Said ihre Sprache von Kreuzrittern erlernt hatte, die zwanzig Jahre zuvor ins Gelobte Land gekommen und in Gefangenschaft geraten waren. Der Dolmetscher war damals nicht viel älter gewesen als Nikolaus heute, womit klar war, dass er auf die Vierzig zuging. »Mein Herr reist ab. Ich habe es selbst erst vorhin erfahren.« »Reist ab – wohin?« Nikolaus drehte sich vom Fenster weg. »Er will seine Schwester in Ägypten besuchen – sie ist mit einem Neffen des großen Saladin vermählt, mit Al-Kamil Muhammad alMalik. Offenbar hat sie gerade ein Kind zur Welt gebracht und …« »Und?«, drängte Nikolaus. »Und mein Herr will dich ihr zum Geschenk machen. Ein sehr … spezielles Geschenk, wie ich hörte.« »Was meinst du damit?«, fragte Jakob. »Nikolaus soll …« Saids Blick schien sich fast an Jakob zu krallen, nur um auf gar keinen Fall zu Nikolaus zu schweifen. »Rede«, drängte Nikolaus. »Mein Schicksal liegt in Gottes Hand. Ich nehme es an, ganz gleich, wie es ausfällt.« »Du weißt nicht, was du redest«, keuchte Said, der sich ihm nun doch zuwandte, Tränen in den Augen.
»Beruhige dich«, sagte Nikolaus und trat zu ihm. Er legte beide Hände auf die Schultern des Mannes, der kleiner und schmächtiger als er war. »Beruhigen soll ich mich? Beruhigen?« Said lachte bitter auf. »Wie könnte ich das? Fühlt ihr nicht auch die Bande, die zwischen uns entstanden sind?« »Doch«, sagte Nikolaus. »Freunde. Wir sind uns in Freundschaft zugetan – du, ich und Jakob auch. Oder, Jakob?« Jakobs Antwort kam ohne Zögern. »Unsere Freundschaft, mag sie auch jung sein, kann nichts zerstören.« »Oh, ihr Narren. Ihr kennt …« Said senkte die Stimme und sah sich misstrauisch in dem Gemach um, in dem nur sie drei waren. »Ihr kennt meinen Herrn nicht«, holte er dann noch einmal aus. »So leichtfertig, wie er seinen eigenen Krieger niederstreckte, weil der dir, Nikolaus, ans Leben wollte, so leichtfertig wird er auch zu Werke gehen, wenn es darum geht, seiner geliebten Schwester ein angemessenes Geschenk zu überbringen. Denn wisset: Euer Ruf ist euch weit vorausgeeilt. Wir hier in Jerusalem wussten lange vor eurer Ankunft von eurem Plan – und ebenso wissen die Menschen anderswo auf diesem Kontinent von euch und was dank al-Mu’azzam Turan Schah aus eurem Vorhaben wurde. Betrachtet euch als berühmt – aber auch als verachtet. Es gibt nur Wenige, die anderen Glauben tolerieren – ihr selbst vermögt es ja auch nicht.« »Said!«, fauchte Jakob. »Lass nur«, wiegelte Nikolaus ab. »Er hat ja recht. Vielleicht war alles, was ich tat, von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil ich nicht in der Lage war, zwischen zwei Religionen zu vermitteln. Soll er uns also ruhig seiner Schwester schenken, bei ihr wird es uns auch nicht ärger ergehen als –« Saids Kopf schütteln wirkte so müde und hoffnungslos, dass Nikolaus verstummte. »Ihr missversteht, was ich euch schon die ganze Zeit sagen will. Er
hat nicht vor, euch beide mitzunehmen. Nur dich, Nikolaus. Jakob soll hierbleiben und einem verdienten Untergebenen meines Herrn zur Hand gehen – was das bessere Los sein wird.« »Wie meinst du das?«, fragte Nikolaus, während Jakob ob der bevorstehenden Trennung ganz blass wurde. »Ich will damit sagen, dass er seiner Schwester nur einen kleinen Teil von dir zum Geschenk machen will – deinen Kopf. Du sollst enthauptet werden – vor aller Augen. Als Beweis dafür, wessen Gott der Stärkere ist …«
* Auch wenn es grotesk war: Jakob schien über Saids Worte bestürzter zu sein als der Betroffene selbst. Nikolaus hatte fast das Gefühl, seine geheimen Gebete würden endlich erhört. Gebete, so geheim, dass er sie sich kaum wagte, einzugestehen. Wie oft waren seine Gedanken in den Tagen der Gefangenschaft bei Nele gewesen? Der Gedanke, sie nie wiederzusehen, hatte ihm fast die Luft zum Atmen genommen. Und nun die Aussicht auf ein Entkommen aus der Kerkerschaft … Ein Entkommen, das einen hohen Blutzoll verlangte – teurer konnte man seine »Freiheit« nicht bezahlen. Das eigene Leben war Nikolaus immer noch heilig – sonst hätte er es sich vielleicht bereits genommen. Aber weiterzuleben in öder Gefangenschaft … nein, an einem solchen Dasein hing er nicht. Lieber wollte er dann schon dorthin vorauseilen, wohin Nele ihm einst folgen konnte. Obwohl er Gott enttäuscht hatte, hoffte er auf Einlass ins Himmelreich. Doch während er bereit war, sich in sein Schicksal zu fügen, waren die Freunde es nicht. Jakob war schockiert – und Said wechselte endgültig in den Flüsterton des Verschwörers. Er sagte: »Ich kann nicht tatenlos zusehen,
wie ihr umgebracht oder in Knechtschaft gezwungen werdet. Vielleicht gibt es eine Chance für uns drei – aber wir müssen uns einig sein, wild entschlossen und schnell handeln.« Während Nikolaus noch seinen Gedanken nachhing, drängte Jakob den Freund: »Was hast du vor? Ich tue alles, um Nikolaus zu retten – und von hier zu entkommen. Said! Rede! Ist es dir ernst mit deinen Worten?« Es war ihm ernst. Und er überzeugte letztlich auch Nikolaus, dass der Himmel seines Gottes noch auf ihn warten musste. Am Nachmittag sollte al-Mu’azzam Turan Schahs Karawane gen Ägypten aufbrechen, mit einem noch lebenden Nikolaus »im Gepäck«, der offiziell erst am Ziel von seiner neuen Rolle als Geschenk erfahren würde. Soweit aber kam es nicht. Said, der freien Zugang zu den Gefangenen hatte, servierte den Türwächtern einen gekühlten Tee, den er angeblich auf Geheiß ihres Herrn überbrachte. Die Wächter nahmen die Erfrischung dankend an – und waren Minuten später in einen tiefen Schlaf gefallen. Said versorgte Nikolaus und Jakob mit Kapuzengewändern, und gemeinsam verließen sie zur Mittagszeit die Mauern Jerusalems. Von Said geleitet, fielen sie niemandem auf. Außerhalb der Stadt standen Esel bereit, auf denen sie sich weiter und weiter von Jerusalem entfernten. Sie wählten die beschwerlichsten Pfade, um etwaige Verfolger ebenfalls nur langsam vorankommen zu lassen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit gab es keinen Hinweis, dass man ihnen auf den Fersen war, und so wagten sie es, unter dem funkelnden Sternendiadem eine Rast einzulegen. »Said – Freund und Retter!« Jakob war in seinen Lobpreisungen kaum zu bremsen. »Gott sei mit dir.« »Und Allah sei mit euch!« Die Leichtigkeit, wie sie zweierlei Glauben miteinander verschweißten, zauberte trotz der schwierigen Lage Zufriedenheit auf ihre Gesichter.
Nur Nikolaus blieb ungewohnt wortkarg. »Freust du dich gar nicht?«, fragte ihn Jakob. »Wir sind entkommen. Morgen, beim ersten Licht, ziehen wir weiter. Said kennt die Gegend wie seine Westentasche. Mit seiner Hilfe kommen wir überallhin. In irgendeinem Hafen werden wir ein Schiff finden, das uns nach Hause bringt. Hör nur, wie das klingt: nach Hause!« »Ich würde gerne mit euch kommen – in eure Welt«, sagte Said. »Könntet ihr euch vorstellen –« Jakob ließ ihn nicht ausreden. »Du kommst mit uns, keine Frage. Wir sind dir zu ewigem Dank verpflichtet. Keine Freundschaft strahlte je heller oder wird jemals heller erstrahlen als unsere!« Nikolaus lauschte dem Pläneschmieden, ohne sich daran zu beteiligen. Sie hatten kein Feuer gemacht, um sich nicht zu verraten. Und wie klug sie gehandelt hatten, wurde ihnen bewusst, als sich aus der Nacht Lichterschein wie ein brennender Riesenwurm näherte. Nikolaus, der gerade Wache hielt, während die anderen schliefen, wurde nicht sofort darauf aufmerksam, weil er selbst ins Dösen geraten war. Aber plötzlich sah er es – und alarmierte sofort die Freunde. »Also doch«, presste Said hervor. »So leicht verzichtet ein alMu’azzam Turan Schah auf nichts, was ihm gehört!« Es mussten Dutzende von Reitern sein, die im Schein von Fackeln dieselbe Route nahmen, die die Flüchtlinge gekommen waren. »Schnell! Unser Vorsprung schmilzt dahin! Wir müssen sofort aufbrechen!« Saids hysterische Stimme trieb sie an. Trotz des gefährlichen Terrains, auf dem es immer wieder tiefe Löcher oder breite Spalte gab, verzichteten sie auf das Anzünden einer Fackel. Offenbar folgten exzellente Fährtenleser ihrer Spur – es ihnen noch leichter zu machen, indem sie eine Flamme entfachten, kam nicht infrage. Aber so kam es, wie es kommen musste. Saids Esel geriet mit dem Vorderlauf in eine tiefe Mulde, knickte
ein – und geriet in Panik. Das Wiehern des Tiers durchschnitt die Nacht, und bevor Said es wieder unter Kontrolle bekam, warf es ihn ab. Schemenhaft flog er an Nikolaus vorbei ins Dunkel, schrie dabei selbst. Und verstummte jäh, als er am Boden aufschlug. So schnell sie konnten, saßen Nikolaus und Jakob ab und eilten zu ihm. Der Freund rührte sich nicht. Nikolaus tastete nach seinem Hals. Und erschrak ob des unnatürlichen Winkels, in dem der Kopf verdreht auf dem felsigen Untergrund ruhte. Seine Finger fanden keinen Puls. Er versuchte es wieder und wieder, aber es war zwecklos. Im Aufrichten sagte er: »Er ist tot. Er muss sich das Genick gebrochen haben.« Jakob begann neben ihm zu schluchzen, während Nikolaus nur eine kalte Entschlossenheit in sich spürte, die ihm »Jetzt erst recht!« zuzurufen schien. Er war über sich selbst erstaunt, wehrte sich aber nicht gegen den Tatendrang, der ihn voranpeitschte.
* »Offenbar entkamen sie«, sagte Nicole, als Nele eine Pause einlegte. »Sonst hätte Nikolaus dich nicht so viele Jahre später aufsuchen können.« Die Art, wie die alte Frau die Vergangenheit mit ihren Worten wieder aufleben ließ, hatte sie in den Bann gezogen. »Nur Nikolaus entkam«, sagte Nele. »Er und Jakob bewegten sich durch fremdes Gebiet. Zusammen mit Said hätten sie vielleicht eine Chance gehabt, ihren Häschern zu entkommen. Doch letztlich war es wohl genau dieses Unglück, das dazu führte, dass Nikolaus dem Tod ein Schnippchen schlug – in einer Weise, wie er es sich wohl in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können.«
»Ich bin ganz Ohr – erzähl. Was passierte?« »Schon am Mittag nach Saids Tod wurde der Durst ihr schlimmster Feind – schlimmer noch als jeder von al-Mu’azzam Turan Schahs Kriegern. Im Vertrauen auf Saids Ortskenntnis hatten sie nur geringe Vorräte mitgenommen, und die waren in der Glut der Tageshitze schnell aufgebraucht.« »Und die Verfolger?« »Waren besser ausgerüstet. Oder frischten unterwegs immer wieder ihre Vorräte auf.« »Also wurden Nikolaus und Jakob gestellt.« »Wenn man es so nennen will.« Nele zuckte mit den Achseln. »Der Pfeil jedenfalls, der irgendwann Jakobs Hals durchbohrte, hatte solche Wucht, dass er auf der anderen Seite wieder austrat und beinahe auch noch Nikolaus getroffen hätte. Im Grunde hätte es da schon vorbei sein müssen. Auch für Nikolaus. Aber dann geschah das, was ihn seinen Feinden auf eine Weise entzog, die ihm schlagartig all seinen verlorenen Glauben wiederschenkte. Das Wunder trug eine Handschrift, die Nikolaus selbst mit verbundenen Augen erkannt hätte …«
* Jakob stürzte neben Nikolaus von seinem Esel. Das Tier erschrak und galoppierte störrisch davon. Mit Mühe konnte Nikolaus den eigenen Vierbeiner daran hindern, dem Artgenossen zu folgen. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass mehrere Reiter aus einer Senke hervorgeprescht waren und ohne das Tempo zu drosseln zu schießen begonnen hatten. Pfeil um Pfeil zischte an Nikolaus vorbei, manchmal nur um Haaresbreite. Er lenkte den Esel, der viel langsamer als die Pferde der Verfolger war, auf einen kleinen Hain zu, wo er sich Deckung und Unter-
schlupf erhoffte. Doch noch bevor er dort ankam, brach sein Esel unter ihm zusammen. Zwei Pfeile trafen ihn fast gleichzeitig in den Bauch, und unter qualvollen Schreien zappelte er bereits liegend, während Nikolaus sich instinktiv abgerollt und von dem schweren Körper weggewälzt hatte, um nicht davon zerquetscht zu werden. Er handelte, ohne nachzudenken. Hinter ihm näherte sich Hufschlag, und unablässig zischten neue Geschosse an ihm vorbei. Er schlug Haken wie ein Hase, ohne selbst noch daran zu glauben, den Hain erreichen zu können. Schließlich aber tauchte er hinein und brachte Bäume zwischen sich und die Verfolger. Es war ein klitzekleiner Aufschub, mehr nicht. Ein Entrinnen gab es nicht. Das Wäldchen war nicht groß genug, um darin ein Versteck zu finden, das den Verfolgern verborgen bleiben würde. Aber Nikolaus war um jede Galgenfrist dankbar. Seit ihrer Flucht aus Jerusalem hatte er Tagträume von Nele. Sie war ihm wichtiger geworden als das, was er einmal für seine Bestimmung gehalten hatte. Sie wiederzusehen, wenigstens ein einziges Mal, war alles, was er sich noch ersehnte. Dazu aber musste er leben. Überleben. Vergiss es. Du musst dich der Wahrheit stellen. Gleich haben sie dich und schlitzen dir die Kehle auf – wenn nicht hier an Ort und Stelle, dann spätestens dort, wo dieser Unmensch dich vor den Augen seiner Schwester hinrichten lassen wird! Die Hitze hatte ihm die Sinne verwirrt, aber der Schatten, in den er tauchte, weckte noch einmal seine Lebensgeister. Und seinen Überlebenswillen. Er hörte, wie die Verfolger von ihren Pferden abstiegen und ebenfalls in den Wald traten. Offenbar ließen sie die Reittiere am Rand zurück, durchkämmten Unterholz und Gestrüpp zu Fuß. Den Geräuschen nach zu schließen, hieben sie mit ihren Säbeln auf Büsche
ein, die ihnen im Weg standen. Dabei kamen sie Nikolaus immer näher. Er überlegte, ob es gelingen könnte, die Häscher zu umgehen und sich eines der Pferde zu stehlen, vielleicht sogar die anderen an den Zügeln mitzunehmen. Ein betörender Gedanke – allein, er hatte wenig Hoffnung, ihn in die Tat umsetzen zu können. Gewiss hatten sie mindestens eine bewaffnete Wache zurückgelassen. Sie waren keine Narren. Im Gegensatz zu mir. Geduckt versuchte Nikolaus, den Abstand zu den Häschern zu erhöhen. Plötzlich tat sich vor ihm eine Lichtung auf. Sie war nicht groß, und eigentlich wollte er sie nur schnell überqueren. Aber dann sah er es. Es war … seltsam. Ein Strich. Ein Strich aus Licht, der mitten auf der Lichtung vom Boden bis hoch in den Himmel reichte, nicht breiter als ein Daumen … Zuerst wollte Nikolaus dem gleißenden Schein ausweichen, der selbst die Sonne überstrahlte. Doch das war leichter gesagt als getan. Er fühlte sich davon angezogen. Aufgesogen. Als griffen Hände – ebenfalls aus Licht, zupackend wie die Pranken eines Bären und doch auch zart und behutsam wie Elfenfinger – von dort aus nach ihm. Unsichtbare, unwiderstehliche Hände. Und im nächsten Atemzug … war er im Paradies.
* »Ich muss dich unterbrechen – nimm es mir nicht übel, Nele. Bitte. Ich will auch nicht respektlos sein, aber …« »Du glaubst, ich übertreibe.« »Ich glaube einfach nur …« Nicole blickte über den Tisch hinweg zu der alten Frau. »… dass dein Nikolaus entweder ein wenig über-
trieben hat, oder einer Täuschung erlegen ist. Du sagtest doch vorhin, er habe kein Wasser mehr gehabt, und die Sonne schien brütend heiß …« »So hat er es mir erzählt.« »Davon bin ich überzeugt.« »Wie könnte es eine Fata Morgana oder sonstige Einbildung gewesen sein, nach allem, was danach geschah?«, fragte Nele Großkreutz – und brachte Nicole damit in Erklärungsnot. Okay, dachte sie, es gibt eine Erklärung, die meine Skepsis stützt – aber die würde voraussetzen, dass Nele mich belügt. Dass nichts von dem wahr ist, was sie mir auftischte. Demnach wäre sie nicht Ende des 12. Jahrhunderts in Köln geboren und ihren Nikolaus, so wie sie ihn schildert, hätte es nie gegeben. Was sie über ihn berichtete, kann sie sich zusammengesponnen haben. Ein Nikolaus, der zu Köln Kinder um sich scharte, um Jerusalem zu befreien, ist historisch verbürgt. Jeder Mensch hat im Internetzeitalter Zugriff auf diese Informationen. Aber … Aber etwas in ihr sträubte sich, Nele als Betrügerin hinzustellen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Eine weitere Variante fiel ihr ein. Nele musste darin nicht einmal selbst eine Täuscherin sein – möglicherweise wurde sie von einem Unbekannten manipuliert. Jemand mochte ihr den Glauben an das Leben und die Begegnungen, von denen sie erzählte, in hypnotischer Manier ins Hirn gebrannt haben. Aber warum? Um ins Schloss zu kommen? Nicole spürte, wie ihr bei dem Gedanken kalt wurde. Wenn das wirklich das Ziel einer groß angelegten Täuschung war, dann hatte der Unbekannte – oder Nele selbst, falls sie die Fallenstellerin war – seinen Willen bekommen. Nele war auf Château Montagne. Zu ihrem eigenen Schutz, wie Zamorra beschlossen hatte. Aber Zamorra – und damit vermutlich der Einzige, der eine etwaige Täuschung von solchem Ausmaß hätte aufdecken können – war
zurzeit weit weg, in London. Gehörte am Ende auch der Anruf, der ihn fortgelotst hatte, zu dem Manöver? Nicole schüttelte unwillkürlich den Kopf. Das alles führte zu nichts. Sie machte sich mit solchen Verdächtigungen nur selbst verrückt. Wieder musterte sie Nele Großkreutz unverwandt. Die alte Frau hielt den Blicken stand. Nichts, kein Muskelzucken, kein noch so flüchtiger Anflug von Emotion, der sie als Betrügerin bestätigt hätte. Nein, entschied Nicole. Sie ist die Frau, die sie zu sein vorgibt. Ich höre mir an, was sie noch zu erzählen hat. Danach versuche ich, Zamorra zu erreichen. Sie hatten verabredet, gegen Mittag miteinander zu telefonieren. Nicole war gespannt, was wirklich in London passiert und Inspector Hogarth auf den Plan gerufen hatte. »Was war das für ein Licht, das Nikolaus auf der Lichtung fand? Der Zugang zum …« Sie zögerte. »… Garten Eden? Wenn, dann wäre er nicht allzu aufwendig versteckt. Viele andere müssten ihn damals wie heute gefunden haben.« »Das habe ich ihm auch gesagt – genau dasselbe –, als er mich in Rostock aufsuchte.« Nele nickte. »Aber er war der Überzeugung, dass nur er den Zugang sehen konnte.« »Warum ausgerechnet er?« »Er war auserwählt.« »Das glaubst du immer noch? Sein Vorhaben ist auf ganzer Linie gescheitert – wäre er wirklich auserwählt gewesen …« »Die Wege des Herrn sind unergründlich«, sagte Nele. »Ich sprach schon früher davon, dass auch Nikolaus eine Gabe in sich trug, auch wenn sie sich anders ausdrückte als meine eigene.« »Was meinst du?« »Erinnerst du dich, dass ich erzählte, wie er mich als Einziger in
der Schenke sah, in der ich für alle anderen unsichtbar etwas zu essen für mich und meine Brüder besorgte?« Nicole nickte. »Ich erinnere mich.« »Er sah schon immer mehr als jeder andere – und das rettete ihm damals das Leben. Er entzog sich seinen Verfolgern an einen Ort, zu dem ihnen der Zugang verwehrt war.« »In all der Zeit hätten andere Menschen zufällig in den … ›Strich‹ stolpern müssen. Auch ohne ihn vorher zu sehen.« Nele nickte. »Natürlich. Entweder dies geschah auch und geschieht meinetwegen in diesem Moment wieder. Oder nur Auserwählte wie Nikolaus können die Grenze nach Eden überschreiten.« »Für dich ist er immer noch der große Visionär«, sagte Nicole, und ein warmes Gefühl durchströmte sie angesichts der Liebe, die sie immer noch aus Neles Worten heraushörte, wenn sie über Nikolaus sprach. Nele lächelte. »Wie könnte ich schlecht über den Mann sprechen, der mir das einzige Kind schenkte, das ich je zur Welt bringen durfte?«
5. Zur gleichen Zeit erreichte Zamorra in Hogarths Begleitung den Saal, in dem der Nachtwächter James Cyrus Tipetree zum ersten Mal den Spalt im Boden entdeckt hatte – als dieser genau vor seinen Augen entstand. Tipetree gehörte zu denen, die außer dem entstandenen Loch nichts weiter sahen. Zamorra und Hogarth hatten ihm diesbezüglich einiges voraus. Der Parapsychologe stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er den imposanten Baum erblickte, dessen Krone nur noch ein paar Zentimeter von der Saaldecke entfernt war. »Um was für eine Sorte Baum handelt es sich wohl?«, fragte Zamorra im Nähertreten. »Das konnte noch nicht hundertprozentig sicher ermittelt werden. Was wohl größtenteils daran liegt«, sagte Hogarth, »dass keiner, der sich in so etwas auskennt, den Baum sehen kann. Aber diejenigen, die ihn sehen, konnten ihn immerhin den Experten beschreiben, und die tippen auf eine Verwandtschaft zu einem Granatapfelbaum.« Zamorra zuckte leicht zusammen. Unwillkürlich fühlte er sich an Nele Großkreutz’ Erzählung erinnert, in der eine Frucht vorgekommen war, die sie als Granatapfel bezeichnet hatte. Zufall, befand er. Es kann nur Zufall sein. Andererseits … Aus immer noch ungeklärtem Grund war die alte Frau als Einzige außer Zamorra von dem großen Vergessen verschont geblieben, das Londons schwerste Krise vor einem halben Jahr aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt hatte. Nele und London schienen in einem Zusammenhang zueinander zu stehen, der der alten Frau aber möglicherweise selbst gar nicht bewusst war. Zamorra blieb stehen. Sie waren allein im Raum. Abgesehen von
dem Baum natürlich, der in gewisser Weise auch als Lebewesen zu zählen war. »Paul?« »Ja?« »Ich muss Ihnen etwas sagen. Ich habe lange hin und her überlegt, aber ich halte es für das Beste, um unsere weitere Zusammenarbeit so effizient wie nur möglich zu gestalten.« »Ich habe keine Einwände. Worum geht es?« »Um Sie, Paul.« Die Aussage traf den Mann vom Yard offenbar unvorbereitet. »Was heißt das?«, fragte er unsicher. »An was erinnern Sie sich im Zusammenhang mit mir, Paul?« »Das wissen Sie doch! Das Tate hier! Die Sache mit dem Gemälde, an dem ein Toter hing, das Verschwinden Ihrer Freundin. Die schreckliche Gefahr, die unter dem Gebäude zu lauern scheint und nur durch die Halls daran gehindert wird, sich so zu entfalten, wie sie es offenbar seit verdammt langer Zeit anstrebt.« »Die Halls sind ein gutes Stichwort, Paul.« Zamorra nickte. »Wie lange liegt Ihrer Meinung nach unsere letzte Begegnung zurück? Wann war ich zum letzten Mal mit Ihnen in Sachen Tate-Gefahr unterwegs?« »Anderthalb, zwei Jahre«, schätzte Hogarth grob. »Falsch! Es war vor gerade einmal sechs Monaten!« Hogarth legte die Stirn in ähnliche Falten, wie sie seinen Trenchcoat zierten, dann schüttelte er vehement den Kopf. »Nein. So sehr trügt mich meine Erinnerung nicht. Es sind –« »Sie trügt Sie noch viel mehr als Sie glauben, Paul. Wann habe ich bei Ihnen übernachtet? Bei Ihnen zuhause.« »Noch nie. Ich verstehe nicht …« »Und woher weiß ich dann, wie Sie eingerichtet sind?« Zamorra zählte ein paar markante Merkmale von Hogarths Wohnung auf. Der Polizist wurde blass. »Das ist irgendein Spielchen – was
bezwecken Sie damit?« »Wie ich schon sagte: Ich habe hin und her überlegt und halte es für die beste Lösung, Ihnen die Augen zu öffnen.« Er kniff die Lippen zusammen, zuckte mit den Achseln und fügte hinzu: »Ich kann nichts versprechen, weil ich es noch nicht probiert habe, nicht einmal bei Nicole. Alles, was sie über die Phase weiß, habe ich ihr einfach nur berichtet. Aber bei Ihnen möchte ich, sofern es geht, den Knoten lösen, der in Ihrem Kopf verhindert, dass Sie Zugriff auf die damaligen Geschehnisse haben.« »Welche Geschehnisse, verdammt noch mal?« Hogarth schnaubte. »Professor, ich weiß nicht, ob es Ihnen klar ist, aber … nun, ich finde Sie eigentlich ganz patent. Aber wenn Sie weiterhin so mit mir umspringen …« Zamorra schüttelte beruhigend den Kopf. »Wir sind Freunde, Paul – aber das haben Sie leider ebenso vergessen wie das Unheil, das London vor sechs Monaten heimsuchte.« »Ich glaube Ihnen nicht!« »Was ich verstehen kann. Darf ich es trotzdem versuchen?« »Was?« »Den Knoten zu lösen.« Zamorra sah dem Yard-Mann an, dass er aus einem ersten Impuls heraus ablehnen wollte. Doch dann blickte er kurz zu dem unmöglichen Baum, den offenbar nur Wenige zu sehen vermochten, und er hob die Hände, ballte sie zu Fäusten, spreizte die Finger und seufzte. »Wie?« »Damit.« Zamorra zeigte auf sein Amulett. »Ich mag diesen Zauber nicht – auch wenn er nicht faul zu sein scheint.« Hogarth gab sich einen Ruck. »Okay, legen Sie los. Was tun Sie? Tut es weh?« »Mir nicht«, erwiderte Zamorra und zwinkerte ihm zu. »Und du, Paul – beachte bitte, ich duze dich – bist ein tapferer Kerl.« Zamorra aktivierte Merlins Stern und leitete die magische Kraft,
die er freisetzte, behutsam in den Kopf des Mannes, der vor ihm im Schatten von etwas stand, das sie sehr genau betrachtete. Und das im Gegensatz zu Zamorra wusste, dass sich sehr viel mehr als nur zwei Menschen in den großen Saal aufhielten. Es wimmelte von ihnen. Aber sie waren gut versteckt. Und sie blieben auch nie lange …
* Hogarth prallte, wie von einem Fausthieb getroffen, vor Zamorra zurück. Entgeistert hielt er inne und schloss die Augen, wie um in sich hinein zu sehen und von nichts abgelenkt zu werden. Schließlich öffnete er die Augen wieder und starrte Zamorra an. »Das ist jetzt echt, oder? Ich meine, es ist keine Fälschung, die mir aufgepfropft wurde.« »Hast du so wenig Vertrauen?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Eigentlich nicht. Es ist nur … großer Gott! Wie konnte das passieren? Und wie wurde London nach dem ganzen Chaos wieder heil?« »Du hast sie vorhin erwähnt.« »Die Halls? Die Halls stecken dahinter?« Zamorra erklärte ihm, dass die nur noch als vergeistigte Energie existierenden Angehörigen der parabegabten Familie sich das, was sie zur Heilung Londons brauchten, aus dem Amulett geholt hatten, aus Merlins Stern. Und sie hatten auch die magische Welle losgetreten, die die Erinnerung daran aus sämtlichen Menschen tilgte. Bis auf zwei Ausnahmen: Zamorra und – Nele Großkreutz. Auch von ihr erzählte er Hogarth so knapp wie möglich. »Sie ist jetzt bei euch, auf dem Schloss?« »Wir kamen an, kurz nachdem du zum ersten Mal dort angerufen
hattest. William richtete es mir aus.« »Ich weiß nicht, ob es klug war, sie zu euch zu holen«, kehrte Hogarth den Skeptiker hervor. »Ihr kennt sie doch gar nicht. Sie kann Gott weiß was im Schilde führen. Und jetzt bist du nicht einmal dort.« Zamorra musste einräumen, dass Pauls Sicht der Dinge nicht von der Hand zu weisen war. »Ich wollte sowieso mit Nicole telefonieren. Sie kann mir sagen, ob es eine neue Entwicklung, unseren Gast betreffend, gibt.« Er zeigte zu dem Geisterbaum. »Aber vorher will ich mir den hier noch zur Brust nehmen.« »Ich hoffe, du übernimmst dich nicht.« »Du weißt, ich bin gewappnet.« Er klopfte gegen die Silberscheibe mit den Tierkreiszeichen, die seit jeher sein wertvollstes Instrument im Kampf gegen die dunklen Mächte war. Er sah sich um, als suche er nach etwas. »Was ist?«, fragte Hogarth. »Ich überlege gerade.« »Was?« »Die Halls. Eigentlich müssten sie hier sein und über das Tate wachen. Weil es genau über dem Schlund steht, den sie mit aller Macht versiegelt halten müssen. Und nach meiner letzten Begegnung mit ihnen müssten sie eigentlich so gestärkt sein, dass sie ihre Aufgabe mit links erfüllen. Das hier …« Er zeigte auf den Baum. »… wirft allerdings ein ganz anderes Licht auf die momentane Situation. Die bloße Existenz dieses Baums legt eigentlich eher den Schluss nahe, dass die Halls erneut ins Hintertreffen geraten sind. Ich hoffe nicht, dass sich meine Befürchtung bestätigt, aber wenn doch, stehen der Stadt schwierige Zeiten bevor.« Hogarth nickte ernst. »Gehen wir ruhig vom Schlechtesten aus. Dann sind wir wenigstens gerüstet.« »Siehst du«, sagte Zamorra, »das gefällt mir so an dir – dein un-
verbrüchlicher Optimismus.« Hogarth grinste. »Selbst wenn die Lage aussichtslos ist?« »Selbst wenn die Lage fast aussichtslos ist.«
* Zamorra bat Hogarth, zurückzubleiben, während er sich unter die Baumkrone begab, die jetzt bereits – wow, das geht ja rasend! – gegen die Decke drückte. Er trat dicht an den glatten Stamm heran und berührte ihn mit beiden Händen gleichzeitig. Eine Reaktion blieb aus. Zumindest eine merkliche. Zamorra wusste jedoch, wie er das Geistergewächs aus der Reserve locken konnte. Dazu war der erneute Einsatz des Amuletts nötig, der nicht ganz unbedenklich war. Schon die Rekonstruktion von Hogarths Erinnerung hatte nicht nur die Silberscheibe Kraft gekostet – sie hatte sich dafür auch an Zamorra gütlich getan. Jeder Einsatz schwächte ihn. Und je mehr Magie das Amulett aufwenden musste, desto kritischer wurde es für seinen Träger. Dennoch – manchmal blieb ihm keine Wahl, und dementsprechend handelte er auch jetzt. Er aktivierte die Magie, die in der Silberscheibe wohnte. Mit geübten Bewegungen verschob er die über das Amulett verteilten Glyphen. Auf Gedankenbefehle verzichtete er. Die manuelle Befehlserteilung kostete am wenigsten Kraft. »Sei bitte noch vorsichtiger als sonst!«, hörte er Hogarth zurufen, verzichtete aber auf eine Antwort. Sein Geist verschmolz mit dem Amulett, und ebendieser Geist, nicht seine für Täuschungen anfälligen Augen, wandte sich dem seltsamen Baum zu, der sich ausgerechnet das Fundament des Tate Britain ausgesucht hatte, um daraus hervorzusprießen. Er hoffte, mithilfe der Amulettmagie das wahre Wesen des Dings
ergründen zu können, das kurz davor war, sich durch die nächste Decke zu sprengen. Er glaubte, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Doch was er zu sehen bekam, übertraf alles, was er erwartet hatte. Messerscharf zählte sein Verstand eins und eins zusammen. »So viele …«, rann es über seine Lippen, so leise, dass nur er selbst es hörte, »so viele Geister …«
6. Nicole hatte diesen Aspekt aus Neles Erzählungen, den sie schon bei ihrer ersten Begegnung in der Pension preisgegeben hatte, fast schon vergessen gehabt – dabei war es einer der wirklich einschneidenden Momente im Leben einer jeden Frau. »Du hattest ein Kind – von ihm, von Nikolaus?«, fragte sie, zögerte kurz und fügte hinzu: »Wollen wir uns irgendwohin setzen, wo es ein wenig bequemer für dich ist?« Bislang saßen sie auf harten Küchenstühlen – was Nele Großkreutz aber nicht im Geringsten zu stören schien. Sie lehnte auch sofort ab. »Nein, bitte, hier ist es wunderbar. Vieles hier erinnert mich an früher. Na ja, vielleicht nicht der ultramoderne Backofen und Herd da drüben, aber die Wände, die kleinen Accessoires.« »Wenn es dir gefällt, ist es gut. Also noch einmal: Du und Nikolaus, ihr hattet ein gemeinsames Kind? Oder …« Sie zögerte, weil der Gedanke, der ihr kam, sie selbst überrumpelte. »Oder lebt es sogar noch – wie du?« »Ich fürchte«, sagte Nele, »ich weiß nicht, was aus ihm wurde – aber ausschließen kann ich es nicht, dass Aaron noch lebt. Bis zum Erwachsenenalter begleitete er mich auf all meinen Wegen – als er flügge war, verlangte es ihn nach Abnabelung. Ein schmerzhafter Prozess, das kann ich dir sagen. Aber keine Mutter der Welt, die das Beste für ihr Kind will, darf sich dessen Selbstständigkeit in den Weg stellen.« »Ja«, sagte Nicole, »das glaube ich. Aber hast du ihn wirklich aus den Augen verloren, kaum dass er auf eigenen Beinen stehen konnte?« »Er wollte sich die Welt ansehen – ohne seine Mutter. Die großen Metropolen. Ferne Länder. Ich habe ihn damals ermutigt. Und die ersten Jahre hat er mir oft geschrieben.«
»Später nicht mehr?« Nele schüttelte den Kopf. Ihre Augen wirkten dabei feuchter als noch kurz zuvor. Und etwas gerötet. Aber sie versuchte, es zu überspielen. »Wir haben uns wohl verloren. Es war damals nicht so wie heutzutage. Es gab keine …« Sie lachte. »… Handys. Oder Meldebehörden, bei denen man einfach eine Suchanfrage einreichen konnte. Ich spreche vom tiefsten Mittelalter. Solange ich selbst an ein und demselben Ort verweilte, erreichten mich seine Depeschen relativ sicher, und ebenso erreichten ihn meine Antworten. Aber ich war auch schon immer ein Zugvogel, den es nicht lange an einem Flecken hielt. Und irgendwann muss wohl mein Brief, in dem ich ihm meine neue Adresse mitteilte, unterwegs verloren gegangen sein. Danach brach jede Kommunikation zwischen uns ab. Möglich, dass ihm auch etwas zugestoßen ist. Es waren unsichere Zeiten. Daran hat sich aber bis heute nicht wirklich viel geändert.« Wieder versuchte sie ein Lächeln. »Ich habe natürlich nach ihm gesucht – aus der Ferne. Aber all meine Anstrengungen blieben vergeblich. Als ich Nikolaus viele Jahrzehnte später von dem Jungen erzählte, den wir in der letzten Nacht unseres Zusammenseins an den Gestaden des Heiligen Landes gezeugt hatten – was ich selbst erst bei der Ankunft im Hafen von Genua bemerkte –, war er völlig konsterniert – aber auch erfreut. Er versprach mir, die verlorene Fährte aufzunehmen und nach Aaron zu suchen – seinem Sohn, der inzwischen biologisch fast dreimal so alt sein musste wie der Erzeuger, der immer noch so unglaublich jung daherkam wie bei unserer Trennung.« Sie schluckte, sah Nicole an. »Kannst du dir vorstellen, wie das ist, der Liebe deines Lebens nach so langer Zeit gegenüberzustehen – sie fast um keinen Tag gealtert und du eine Greisin?« »Es muss furchtbar gewesen sein.« »Ja, das war es. Und doch auch so unendlich beglückend, ihn überhaupt wiederzusehen.« »Für ihn muss es auch schwer gewesen sein. Du sagtest, er habe praktisch seit … seit Eden nach dir gesucht, um dich an dem teilha-
ben zu lassen, was ihm widerfuhr.« Sie nickte. »So sagte er. Und damals hielt ich ihn für verrückt – wer hätte das nicht getan. Wobei seine bloße Gegenwart ja das Gegenteil bewies. Es war verwirrend, mehr als das. Und dann gab er mir die Frucht, von der ich die hier …« Sie zeigte noch einmal den Schmuck aus Bernstein, in dem Samenkerne eingeschlossen waren. »… übrig ließ.« »Hatte er noch mehr dieser Früchte?« »Das glaube ich sicher. Er sagte, sie hielten ewig. Er trug sie ja schon Jahrzehnte mit sich herum, aber sie sahen noch immer aus, als hätte er sie gerade erst gepflückt.« »Und von Rostock aus machte er sich auf, nach seinem Sohn zu forschen, von dem er bis dato noch nichts geahnt hatte?« Nele nickte. »Ich zeigte ihm die alten Briefe. Er wollte nicht, dass ich sie ihm überlasse, dafür war und bin ich ihm dankbar. Aber er notierte sich akribisch jede Adresse, von der sie kamen, vor allem die des letzten Schreibens, das mich erreichte. Dann nahm wir Abschied voneinander. Und ich verlor ihn ebenso aus den Augen wie mein Fleisch und Blut, wie Aaron …« Der Schmerz veränderte Neles Stimme. Eine Weile legte sich Schweigen über die Schlossküche. Schließlich stellte Nicole eine Frage, die ihr schon eine Weile auf der Seele brannte. »Einige Jahre, nachdem du die Frucht aus Eden gegessen hattest«, sagte sie, »die Frucht, die nach Nikolaus’ Überzeugung vom Baum des Lebens stammte, stelltest du fest, dass du zwar nicht mehr älter und gebrechlicher wurdest, aber dass ab einem bestimmten Moment ein Fluch auf dir zu lasten begann.« »Das ist richtig, wir sprachen kurz darüber. Plötzlich wurden Menschen in meinem Umfeld Opfer von grausigen Morden, hinter denen – wie ich auch erst nach und nach herausfand – Ausgeburten der Hölle steckten. Dämonen. Vorher ahnte ich nicht einmal etwas von ihrer realen Existenz. Ich hielt sie für Märchen, für Erfindungen
von Menschen, die damit ihre Ängste vor Dingen kompensierten, die sie einfach nicht verstanden. Aber ich wurde eines Besseren belehrt.« »Die Dämonen töteten alle, die dir nahe waren – aber sie kamen nicht an dich heran.« »Du hast es selbst erlebt. In der Pension. So ist es seit Jahrhunderten. Und ich glaube, es begann, als meine natürliche Lebensspanne endete und sich der Tod um mich betrogen fühlte. Seither bietet er alles auf, was er mobilisieren kann, um mich für meinen Frevel büßen zu lassen. Er fügt mir Schmerz und Qual zu, indem er mir wieder und wieder demonstriert, dass Menschen nur meinetwegen schreckliche Tode sterben müssen. Nur weil ich selbst nicht bereit bin, ins Jenseits überzugehen. – Das klingt sehr … gewöhnungsbedürftig, ich weiß. Aber ich weiß auch, dass ich darüber zu jemandem spreche, der genug erlebt hat, um selbst eine solche These zumindest in Erwägung ziehen zu können.« Nicole nickte. »Es gibt Flüche, keine Frage. Aber wenn du mit deiner Vermutung recht hättest, müsste es dann nicht wenigstens noch einen weiteren Menschen geben, der dein Schicksal teilt – dem die Dämonen auch jeden Tag auf den Fersen sind, sofern er es bis ins Heute geschafft hätte?« »Nikolaus?« »Nikolaus.« Nele zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Das kann, aber es muss nicht sein. Ich sagte ja, für mich war Nikolaus immer ein Auserwählter. Vielleicht ist ihm im Gegensatz zu mir die Unsterblichkeit vergönnt. Er durfte sie vielleicht nur nicht weitergeben an Menschen, die nicht erleuchtet sind.«
* Nele suchte Williams Nähe. Der Butler gefiel ihr, seine korrekte und
doch freundliche Art. Als sie ihm gegenüber erwähnte, dass sie gern etwas Sonne tanken wolle, bot er sich sofort an, sie in den Schlossgarten zu begleiten, wo ein Gärtner damit beschäftigt war, die Rosen zurückzuschneiden. Der ältere Mann schaute kurz verwundert auf, als Nele in Williams Begleitung durch das Tor in den Garten trat. Aber nachdem er mürrisch gegrüßt hatte, widmete er sich wieder seiner Arbeit. »Miesepeter«, murmelte Nele. William lächelte. »Soll ich Sie jetzt allein lassen?« »Sie haben keine Zeit – ich halte Sie von Ihrer Arbeit ab. Es tut mir leid.« »Für Gäste des Hauses habe ich immer Zeit«, versicherte der Butler. Sie schlenderten zwischen Blumenbeeten umher. An eine der Innenmauern war ein kleiner Anbau geschmiegt, der auf kunstvolle Weise ein altertümliches Gewächshaus darstellte. Allein die Eisenkonstruktion hätte heutzutage ein Vermögen gekostet. Aber der Professor, dem das Schloss gehörte, schien ohnehin vermögend zu sein. »William?« Nele blieb stehen. Ihr Blick hing an einem Strauch, dessen fingernagelgroßen Blüten zitronengelb leuchteten. »Ja?« »Darf ich etwas Indiskretes fragen?« »Solange es keine streng geheimen Dinge betrifft, gern.« »Die gibt es hier?« »Aber ja.« Er lächelte unverändert freundlich. »Nun, was ich fragen will – ist es nicht sehr seltsam, bei Leuten angestellt zu sein, die es sich aufs Banner geschrieben haben, gegen Gespenster und Dämonen zu kämpfen?« William schüttelte den Kopf. »Sie haben Vampire vergessen. Schade, dass Monsieur Gryf gegenwärtig nicht auf dem Schloss weilt. Er hätte Ihnen dazu ein paar nette Anekdoten erzählen können.« »Sie nehmen mich nicht ernst.«
»Natürlich tue ich das«, verwahrte sich William sofort. »Ich wollte das Thema nur ein wenig … entkrampfen, sagt man wohl.« »Das brauchen Sie bei mir nicht. Mich begleiten Dämonen und anderes Gezücht, seit ich in diesem Körper …« Sie zeigte an sich herunter. »… angekommen war.« Sie sah ihn an. »Sie haben mitbekommen, was mit mir los ist? Wie alt ich wirklich schon bin?« William lächelte zurückhaltend – was wohl ja bedeutete. »Ich wünschte, er hätte mich früher gefunden – zwanzig, dreißig Jahre früher. Dann stünde jetzt eine Frau im besten Alter vor Ihnen, William. Und ich war einmal hübsch.« »Das glaube ich. Sie sind auch jetzt noch eine gut aussehende –« »Hören Sie auf!« Diesmal kam ihre Geste harsch. »Ich bin eine alte Schachtel – das ist wohl keiner anderen alten Schachtel so bewusst wie mir.« »Sie gehen zu hart mit sich ins Gericht, wenn ich das sagen darf. Sie …« William sprach weiter. Aber Nele hörte ihn nicht mehr. Ihre Wahrnehmung veränderte sich schlagartig. Im ersten Moment glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Das war ihr noch nie passiert in all den Jahrhunderten nach der Eden-Frucht. Und auch jetzt passierte etwas anderes, das aber auch neu und … und beängstigend für sie war. Sie fühlte sich wie unter einer dicken Glasglocke, durch die sie keinen Ton ihrer Außenwelt mehr auffangen konnte. Der Butler stand immer noch bei ihr und schien nichts von ihrem veränderten Bewusstseinszustand zu bemerken. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass sie ein Wort auffing. Und offenbar war auch dies nur ein Übergangsstadium, denn im nächsten Moment … verwandelte sich der gepflegte Garten um sie herum. Nele stand plötzlich nicht mehr zwischen Blumenbeeten, sondern in dichtem Dschungel. Die Wildnis produzierte keinerlei Geräusch, aber allein, was Nele
sah, genügte schon, ihr eisige Schauer über den Rücken zu jagen. Plötzlich wurde sie nach oben katapultiert, als hätte sie Flügel, und dann sah sie den Urwald, in dem sie eben noch gestanden hatte, aus der Vogelperspektive. Er erstreckte sich zu beiden Seiten eines breiten Flusses. Nele wusste sofort, wo sie war. Aber die Erkenntnis an sich erschreckte sie nicht halb so sehr wie der Ausblick, der sich ihr von hier oben bot. Der Blick auf ein Heer menschlicher Marionetten, das die kaum noch erkennbaren Straßen zwischen den überwucherten Häuserschluchten bevölkerte …
7. Auf ganz eigene Art, mit magischen Sinnen sozusagen, betrachtete Zamorra das aberwitzige Gebilde, das aus dem Erdreich unter dem Tate hervorgesprossen war, erst die Bodenplatte des Kellers, dann dessen Decke durchbrochen hatte und sich nun bereits mit seinen Ästen und Zweigen gegen die Decke des Erdgeschosses drückte. Zamorra fühlte die unbändige Kraft, die von dem Baum ausging – und dass er sich durch nichts und niemand von seinem Vorhaben, weiter zu wachsen, abbringen lassen wollte. Aber die magischen Sinne Zamorras enthüllten noch etwas, das bislang selbst den Sehenden – jenen also, die den Baum wahrzunehmen vermochten und für deren Augen er sichtbar war – verborgen geblieben war. Die Amulettmagie weihte Zamorra in ein dunkles Geheimnis ein, das ihn murmeln ließ: »So viele Geister …« Etwas Unfassbares spielte sich im Tate ab. Aus allen Richtungen strömten geisterhafte Gestalten in den Saal, in dem sich auch Zamorra befand. Sie waren nur über das Amulett sichtbar und schienen keine Notiz von dem Parapsychologen zu nehmen. Der Baum war ihr Ziel. Sie gingen darauf zu, schmiegten sich kurz so innig an ihn wie an einen geliebten Menschen … lösten sich wieder von ihm und gingen wankend wieder davon; eine Weile wirkten sie orientierungslos, doch kurz bevor sie die Wände passierten, als wäre der Stein des Mauerwerks nur Luft, schienen sie sich wieder zu fangen und glitten entschlossener und sicherer dahin. Endlose Ströme von Geistern. Männer, Frauen, Kinder. Sie kamen, berührten den Baum, und gingen wieder. Im ersten Moment war Zamorra unsicher, ob er nicht nur einer Sinnestäuschung erlag. Aber nach einer Weile stand für ihn fest, dass sich das Ungeheuerliche tatsächlich abspielte.
Er erweiterte den Radius seines Amulett-Sehens, um einigen der Geister aus dem Tate heraus zu folgen. Dort draußen erwartete ihn die nächste Überraschung. Aus Geistern wurden … Menschen. Ganz normale Menschen aus Fleisch und Blut. Zuvor hatte Zamorra den Eindruck, etwas Haarfeines löste sich von ihnen, aber er konnte es nicht richtig erkennen. Noch einmal erhöhte er das Leistungslevel seiner magischen Augen. Sein Blickfeld gewann an Schärfe … … und jetzt wurde es deutlich: Diejenigen, die aus dem »GeistModus« in die Normalität zurückglitten, verloren den Kontakt zu etwas, das wie Medusenhaare aus dem Tate herauszüngelte und seinen Ursprung, wie sich leicht verfolgen ließ, bei dem unheimlichen Baum hatten, der sich dort manifestierte. Das Ganze funktionierte auch umgekehrt: Von überallher näherten sich Menschen der Galerie – noch vor der Absperrung, die errichtet worden war, erlangten sie Kontakt mit einem der »Fäden« – und wurden zu jenen geisterhaften Schemen, die kurz darauf den Baum aufsuchten. Je länger Zamorra diesem gespenstischen Treiben zuschaute, desto flauer wurde ihm im Magen. Er hatte eine vage Ahnung, was hier geschah – und womit es in Zusammenhang stand. Ich muss etwas unternehmen, dachte er. Ich muss diesen … Baumvampir, der sich an der Lebenskraft jener labt, die seinem Lockruf erliegen, STOPPEN! Je länger er zögerte, desto schwieriger würde es werden, dem Gewächs zu Leibe zu rücken. Ohne Zeit darauf zu vergeuden, Hogarth in seine Absicht einzuweihen, verschob er erneut die Glyphen des Amuletts. Zunächst versuchte er einen Schirm um den Baum zu errichten, der den Nachschub an »Geistern« abstellte. Doch sie passierten den Schild mühe-
los. Zamorra begriff, dass es noch schwieriger werden würde als gedacht. Und so griff er die Wurzel des Übels selbst an – ohne, wie zunächst beabsichtigt, Rücksicht auf daran klebende Geister zu nehmen. Er dosierte den magischen Schlag so, dass er die persönlichen Folgen – den unvermeidlichen Tribut, den das Amulett von ihm verlangen würde – gerade noch verkraften konnte. Es war die höchste Dosis Vernichtung, die er in diesem Moment, bereits geschwächt von der Geisterschau, noch aufbieten konnte. Lautlos schmetterte die Welle der Zerstörung gegen den Baum. Sie war exakt auf ihn fokussiert und sollte durch seine Substanz bis in die fernste Wurzel fahren, sie in Asche verwandeln. Doch der Baum … wollte nicht sterben. Der Baum sah das Unheil kommen und schaffte es auf eine für Zamorra nicht nachvollziehbare Weise, sich in einen Reflektor zu verwandeln, der sämtliche aufgebotene Energie dorthin zurückwarf, von wo sie gekommen war. Ins Amulett! Merlins Stern begann vor Zamorras Brust aufzuglühen. Zamorra selbst wankte, als hätte ihn der Blitz getroffen. Die Silberscheibe kämpfte wie selten zuvor um die eigene Fortexistenz. Aber am Ende hielt sich die vernichtende Kraft von ihrem Träger fern und absorbierte sie. Wie um sich selbst weiter stabilisieren zu können, griff sie dann auf Zamorras Kräftehaushalt zu. Dem Parapsychologen wurde schwarz vor Augen. Er kämpfte um sein Gleichgewicht. Die Knie wurden butterweich, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Hogarth tauchte neben ihm auf. »Was um Himmels willen …« »Raus!«, keuchte Zamorra. »Erst mal … raus hier …«
Der Freund stützte ihn, indem er Zamorras Arm um die eigene Schulter schlang und ihn wie einen von einer Kugel Getroffenen aus dem Saal führte. Als Hogarth die Tür zuwarf und stehen bleiben wollte, trieb Zamorra ihn weiter. »Das reicht nicht. Wir müssen … aus dem Gebäude … Ich brauche … Abstand …«
* Immer noch benommen, verließ Zamorra an Hogarths Seite das Tate Britain. »Soll ich dich nicht doch lieber in ein Hospital bringen?«, fragte der Inspector besorgt. Zamorra winkte ab. »Geht schon, danke. Es sieht dramatischer aus, als es ist – also genau anders herum als da drinnen.« Er wies mit dem Daumen hinter sich. »Da drin sieht es für die Augen der meisten Leute völlig unspektakulär aus, dabei ist – verzeih mir die Ausdrucksweise – die Kacke am Dampfen.« Hogarth nickte und leitete Zamorra dorthin, wo der Inspector seinen Wagen geparkt hatte, den Vauxhall, den Zamorra von seinen früheren Besuchen bereits kannte. Hogarth entriegelte die Beifahrerseite auf der linken Seite auf altmodische Art, indem er den Schlüssel ins Schloss schob und umdrehte. Dann öffnete er Zamorra die Tür, wartete, bis er eingestiegen war und drückte sie sanft in die Arretierung. »Ich komme mir vor wie ein Invalide mit Rundumbetreuung«, sagte Zamorra, als Hogarth sich rechts von ihm hinter das Steuer klemmte. »Übertreib nicht!« »Dasselbe wollte ich dich gerade bitten. Ich möchte nicht, dass du mir alles abnimmst. Ich bin schon wieder so gut wie neu. Die Attacke hat mir einiges abverlangt, zugegeben, aber Unkraut vergeht
nicht. Ich fühle mich schon besser.« »Darüber reden wir später.« Hogarth blieb unerbittlich in seiner Fürsorge. »Bringst du mich in ein Hotel?« »Auf gar keinen Fall.« »Was heißt das?« »Das müsstest du doch wissen, schließlich hast du mir die Erinnerung an deinen letzten Besuch zurückgegeben. Damit müsste klar sein, wohin die Fahrt geht.« »Zu dir nach Hause?« »Zu mir nach Hause.« »Hast du immer noch keine Freundin?« »Und du?« »Wieder.« Hogarth lächelte. »Das freut mich. Damals warst du ziemlich geknickt.« »Das hättest du vielleicht gerne.« »Es war so.« Zamorra schwieg, obwohl er damit eingestand, dass Hogarth recht hatte. Damals war Nicole in Japan gewesen, und eigentlich hatte es nicht danach ausgesehen, als würden sie jemals wieder zusammenfinden. Er verdrängte die Erinnerung. »Ich hoffe, ich muss nicht wieder auf der Couch schlafen.« »Ich hatte dir das Bett angeboten, aber du wolltest es nicht annehmen. Und diesmal biete ich dir erst gar nichts anderes an.« »Wenn du so alle deine Freunde behandelst …« Hogarth schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Nur die, die es verdienen.« Zamorra lächelte ebenfalls. Er nutzte die Fahrt nach Chelsea, wo Hogarth Zuhause war, um zum einen wieder zu Atem zu kommen und zum anderen, um die noch reichlich unausgegorenen Gedanken
in seinem Kopf einigermaßen zu sortieren. »Der Baum wird weiterwachsen«, sagte er. »Und offenbar wird er zunehmend materieller. Er gewinnt an Substanz, und ich habe die Ursache dafür gesehen.« »Die Geister«, sagte Hogarth. »Menschen«, verbesserte ihn Zamorra, »die wie Geister kommen und gehen, für das bloße Auge unsichtbar.« »Und weder Türen noch Wände können sie stoppen?« »So hat es den Anschein. Ich habe ihre Wege magisch verfolgt«, sagte Zamorra. »In einiger Entfernung zum Tate werden die, die das Gebäude hinter sich lassen, wieder sichtbar und stofflich. Der seltsame leuchtende ›Faden‹, von dem ich dir erzählte, erlischt. Viele rennen dann, bis ihnen fast die Lunge aus dem Hals kommt. Sie kommen völlig erledigt dort an, von wo sie vorher zum Tate aufbrachen. Und dann sind da die, die das Gebäude erst anlaufen. Sie werden außerhalb des Tate von einem der Lichtfäden, die das Gebäude umzüngeln, berührt und regelrecht damit verbunden. Sobald dies stattgefunden hat, verschwinden die Betroffenen aus dem normalen Sehspektrum. Sie gleiten durch feste Wände ins Innere des Gebäudes, hin zu den Räumen, in denen sich der Geisterbaum erhebt. Dort schmiegen sie sich an seine Rinde. Immer nur eine bestimmte Zeit lang. Offenbar hinterlassen sie Lebenskraft, die der Baum dazu nutzt, sich weiter zu verfestigen und zu wachsen. Irgendwann, davon bin ich überzeugt, wird er für jedermann sichtbar werden, nicht nur für ein paar Auserwählte. Das kann in Tagen oder Wochen oder schon morgen sein.« »Das hört sich nicht gut an.« »Das sollte es auch nicht. Das Schlimmste wäre jetzt, die Gefahr zu unterschätzen. Noch scheint nichts wirklich Böses passiert zu sein. Die ›Geister‹, die kommen, um den Baum zu ›nähren‹ scheinen alle wieder heimzukehren. Aber ehrlich gesagt bezweifle ich, dass sie nach dieser Aktion noch so sind wie davor.«
»Du meinst, der Baum verändert sie nachhaltig?« »Alles andere würde mich überraschen.« Sie erreichten das Haus, in dem Hogarths Junggesellenbude untergebracht war. Schon auf dem Weg die Treppe hinauf fühlte Zamorra sich etwas besser als noch beim Verlassen des Tate. »Du hast gar kein Gepäck dabei«, fiel Hogarth erst jetzt auf. »Doch.« Zamorra kramte in der Innentasche seines Jacketts und holte eine Zahnbürste hervor. »Das Wichtigste hab ich. Und gleich um die Ecke ist ein Bekleidungsgeschäft, wenn ich das richtig gesehen habe. Dort kann ich mir alles kaufen, was sonst noch nötig ist. Ich gebe zu, mein Aufbruch aus dem Schloss war etwas überstürzt. Ich hätte nur Nicole oder William bitten müssen, aber …« Er zuckte mit den Achseln. »Es ist gut, wie es ist. Wir sind hier in England, nicht irgendwo in einem nepalesischen Bergdorf oder noch abgeschiedener – du bekommst hier alles, was der Mann von Welt so braucht.« Zamorra grinste ihn an, während er die Wohnungstür aufschloss. »Und warum hast du es dir dann nicht längst schon mal besorgt?«
* »Mann von Welt« war nicht das Prädikat, auf das Paul Hogarth gesteigerten Wert legte. Zamorra wusste das längst – und auch, dass der Inspector Spaß verstand. Nachdem die Wohnungstür hinter ihnen zugefallen war, gab es erst einmal etwas, was Hogarth trotz seiner frühkindlichen Prägung, die ihn eher auf Tee konditioniert hatte, perfekt hinbekam: Kaffee. Und während besagter Kaffee in altmodischem Brühverfahren durch den Filter tröpfelte, zog Zamorra sich ins Wohnzimmer – oder besser gesagt: das improvisierte Gästezimmer – zurück und zückte sein Handy. Er hatte es vor Betreten des Tate abgeschaltet und gab erst jetzt wieder den PIN-Code ein.
Kaum war es hochgefahren und hatte sich ins örtliche Funknetz eingeloggt, erschien der Hinweis auf etliche vergebliche Versuche, ihn telefonisch zu erreichen. In allen Fällen war Nicole die Anruferin. Seit etwa zwei Stunden probierte sie offenbar alle paar Minuten, ihn an die Strippe zu kriegen. Er hatte schon beim ersten Mal Glück. »Nici!« »Gut, dass du endlich anrufst! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Große Sorgen. Da sind diese Meldungen in den Nachrichten – es gibt sogar Sondersendungen im Fernsehen, die sich damit befassen …« »Du meinst das Tate?«, fragte Zamorra. Er war irritiert. Hatte das Geschehen dort etwa doch schon größere Wellen geschlagen? Er war bislang davon ausgegangen, dass sie es mindestens solange unter der Decke würden halten können, bis das unheimliche Gewächs irgendwann auch das Dach des Gebäudes durchbrach und die Ersten, die in der Lage waren, es zu sehen, öffentlich Alarm schlagen würden. »Das Tate?« »Nein, Unsinn. Hast du noch nicht davon gehört? Es muss das Thema bei dir sein.« »Was muss das Thema bei mir sein?« »Die Menschen, die stundenlang verschwinden und irgendwann wieder ohne Erklärung auftauchen. Die Medien sind voll davon.« »Ach das.« Zamorra erinnerte sich an seine Taxifahrt vom Flughafen zur Innenstadt. »Das birgt Konfliktpotenzial, keine Frage. Ich bin dran. Es hat mit dem Tate zu tun, mit dem Grund, weshalb Paul mich herzukommen bat. Aber momentan ist es noch zu keinem Gewaltausbruch oder dergleichen gekommen. Es könnte allerdings die berühmte Ruhe …« »… vor dem Sturm sein«, ergänzte Nicole von der anderen Seite aus.
»Du betonst das so seltsam.« »Ich versuche ja auch nicht nur, weil ich dich vermisse, schon die ganze Zeit, zu dir vorzudringen.« »Was ist los bei euch? Geht es um unseren Gast aus der Pension?« »Ich habe den ganzen Vormittag mit ihr verbracht. Vor zwei Stunden wollte sie ein bisschen im Schlossgarten spazieren gehen. Sie bat William, sie zu begleiten.« »Und?« »William schlug irgendwann Alarm. Nele stand stocksteif im Garten und rührte sich minutenlang nicht. Ihre Augen waren offen, auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein Riesenschrecken.« »Und dann?« »Dann kam sie ebenso plötzlich, wie sie in diese Supertrance verfallen war, wieder zu sich. Seither ist sie völlig aufgelöst. Ich habe sie in ihr Zimmer gebracht und ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.« »Was war denn mit ihr?« »Sie sagte, sie hatte eine Vision.« »Welcher Art?« »Offenbar ein Blick in die Zukunft – aber auch sie weiß nicht, wie weit das, was sie sah, vom Jetzt entfernt liegt.« »Und was hat sie so aufgeregt?« »Das Gesamtbild, würde ich sagen. In ihrer Vision fühlte sie sich dorthin versetzt, wo du gerade bist.« »Nach London?« »Ja, aber ein London, das …« Sie zögerte. »Erzähl.« »Es war völlig verändert. Nur noch Ruinen, soweit das Auge blickte. Verfallene Häuser und Straßen, alles überwuchert von Dickicht und Unkraut – Nele verglich es mit einer alten Maya-Tempelanlage im südamerikanischen Dschungel. Die Wahrzeichen waren verfallen und nur noch rudimentär erkennbar, Big Ben, die Tower Bridge, Buckingham Palace …«
»Eine Fantasie«, wiegelte Zamorra ab. »Vielleicht, aber es hat sie zu Tode erschreckt. Und ich persönlich glaube nicht, dass es nichts zu bedeuten hat. Es sind mir ein paar Zufälle zu viel.« »Worauf spielst du an?« »Nun, wir fanden Nele, weil du unbedingt wissen wolltest, wer von den Londoner Mysterien ein halbes Jahr zuvor wissen konnte, obwohl nur du dich daran hättest erinnern dürfen. Inzwischen wissen wir, dass Nele neben dir die zweite große Ausnahme ist, die nicht von dem magischen Vergessen betroffen ist. Was wir immer noch nicht wissen, ist, warum sie diese Ausnahme von der Regel darstellt.« »Okay, soweit kann ich dir folgen.« »Und jetzt hat dich Paul Hogarth nach London beordert, weil im Tate wieder Dinge passieren, die sich nicht mit dem normalen Menschenverstand in Einklang bringen lassen. Korrekt?« »Korrekt.« »Ein Baum soll in der Galerie wachsen – wie ist da der Stand der Dinge?« Zamorra berichtete ihr, was er herausgefunden hatte. Danach war Nicole noch besorgter. »Das gefällt mir nicht. Und was, wenn dieser Baum der Anfang ist?« »Der Anfang wovon?« »Von dem Dschungel, den Nele in ihrer Vision gesehen hat.« Zamorra wollte diese Idee ins Reich der Fantasie verweisen. Doch etwas ließ ihn zögern. In seinem Kopf schienen sich Relais zu schließen und bislang nur lose herumliegende Gedankenfäden miteinander zu verknüpfen. Die Art und Weise, wie die Bewohner Londons in der Nähe des Tate unsichtbar wurden und sich schließlich geisterhaft mit dem Baum, der aus dem Kellerboden der Galerie hervorspross, verbanden, erinnerte ihn in ihrem Charakter an das, was Nele Großkreutz
ihnen über ihre Gabe berichtet hatte. Und was sie an eigenem Leibe bei Verlassen der Pension erfahren hatten, um den dortigen Dämonen aus dem Weg zu gehen. Aber in welcher Verbindung sollte die alte Frau zu dem Treiben im Tate stehen? »Gibst du mir Nele mal an den Apparat?« »Wie ich schon sagte, sie sollte sich hinlegen, ausspannen. Aber ich seh gleich mal nach, bleib bitte dran. Und sprich weiter. Ich will deine Stimme hören.« Zamorra tat ihr den Gefallen. Nach der zurückliegenden langen Trennung erging es ihm ähnlich; auch er sog alles, was sie ihm näher brachte, und sei es nur ihre Stimme über ein Telefon, in sich auf wie ein Schwamm. »Moment noch«, unterbrach sie ihn schließlich. »Ich klopfe.« Er hörte, wie sie ihre Ankündigung in die Tat umsetzte, aber offenbar keine Antwort aus dem Gästezimmer erhielt. »Vielleicht versuchst du es –« »Geh bitte rein und weck sie. Es ist wichtig.« Nicole war davon offenbar nicht erbaut, gehorchte aber. Kurz darauf hörte er sie einen erstickten Schrei ausstoßen. »Was ist?«, fragte er. »Sie ist weg! Das Zimmer ist verlassen.« »Vielleicht ist sie wieder raus an die frische Luft?« »Es ging ihr nicht gut. Ich habe ihr das Versprechen abgenommen, sich auszuruhen und nach mir zu rufen, wenn etwas ist.« »Such bitte nach ihr und ruf mich an, sobald du sie gefunden hast. Ich will mit ihr über das Phänomen im Tate sprechen. Vielleicht kann sie etwas mit dem anfangen, was ich festgestellt habe.« »In Ordnung, Chérie. Bis später.« Hogarth kam mit zwei Kaffeetassen herein. Offenbar las er an Zamorras Miene ab, dass etwas nicht stimmte. »Schlechte Neuigkeiten?«, fragte er und reichte Zamorra eine der
dampfenden Tassen. Er hatte mitbekommen, dass Zamorra telefonierte. »Das wird sich herausstellen – danke für den Kaffee.« Er erzählte dem Yard-Mann, was er von Nicole erfahren hatte. »Soll ich den Fernseher anmachen? Seit ich im Tate ermittele, habe ich mich um nichts anderes mehr gekümmert.« »Ja, bitte.« Schon der erste Sender, den Hogarth einschaltete, beschäftigte sich mit den Londoner Bürgern, die zeitweilig verschwanden, aber jedes Mal nach ein paar Stunden wieder auftauchten. Eine »Expertenrunde« diskutierte die verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten, die von Entführungen durch Außerirdische über Untreue in der Partnerschaft bis hin zu vorübergehender Amnesie infolge starker Sonnenaktivitäten reichte. Zamorra konnte darüber nur mitleidig lächeln. »Die Wahrheit ist – der Baum im Tate ›tankt sich auf‹. Da wäre mir die Alien-Variante fast willkommener. Was meinst du, Paul? Übrigens hatte die Frau, von der ich dir erzählte, die im Schloss untergekommen ist, eine Vision. Darin existierte London nicht mehr. Jedenfalls nicht in der Weise, dass man es noch London hätte nennen können.« Er schilderte Nele Großkreutz’ Vision im Detail. Hogarths Gesicht nahm die Farbe kalter Asche an. »Es muss nichts bedeuten«, tröstete ihn Zamorra. »Aber ich denke, es gibt ein paar Dinge, die ich mit der Frau besprechen muss – je früher, desto besser.« Kurz darauf rief Nicole an. »Sie ist unauffindbar«, sagte sie. »Wir haben das ganze Schloss auf den Kopf gestellt.« »Eine alte Frau kann nicht einfach so verschwinden«, sagte Zamorra. »Es sei denn …« »Es sei denn, sie hat die Gabe – und setzt sie ein«, griff Nicole seine Worte auf. »Aber wo könnte sie hin sein?«
8. Sie hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Aber die Vision war von einer solchen Absolutheit gewesen, dass Nele keinen anderen Gedanken mehr fassen konnte, als den Dingen auf den Grund zu gehen. Lange hatte sie sich gegen die Idee gesträubt, er könnte etwas damit zu tun haben. Aber es gab Hinweise, Indizien, denen sie sich nicht länger verschließen konnte. Gewissheit war neben Freiheit und Selbstbestimmung etwas, das Nele im Laufe der Jahrhunderte vielleicht am meisten schätzen gelernt hatte. Und Gewissheit trieb sie fort vom Château, dessen »M-Abwehr« – wie Nicole den Schild genannt hatte, der magische Feinde daran hinderte, ins Schloss zu gelangen – Nele nicht aufzuhalten vermochte. Offenbar war es keine Magie, auf die ihre Gabe fußte. Was aber dann? Sie hatte sich Jahrhunderte den Kopf über dieser Frage zerbrochen, ohne auch nur den Hauch einer Antwort zu finden. Sie würde auch jetzt das Rätsel nicht lösen. Was sie wusste, war, dass der Einsatz der Gabe an ihren Kräften zehrte – fast so, wie es Nicole von Zamorras Amulett erzählt hatte. Und das bedeutete, dass sie sie nicht pausenlos nutzen durfte. Nur in Situationen, in denen es anders kein Vorankommen gab. Und wenn sie außerhalb des Schutzes ihrer besonderen Kräfte zu lange an einem Ort verweilte, zog sie dämonische Geschöpfe an, die wiederum all denen, die sich gerade in ihrer Nähe aufhielten, den Tod brachten. Zuletzt hatte sie darauf kaum noch Rücksicht genommen. Doch die Begegnung mit Zamorra und besonders Nicole hatte Nele neu für die Leben anderer sensibilisiert. Wie selbstsüchtig sie durch die Welt gegangen war. Für lange Zeit hatten sie die Schicksale ihrer Mitmenschen kaum noch etwas geschert. Dass andere Leute ihr mit offener Sympathie begegneten, obwohl sie von
ihrem Fluch und Umgang damit wussten, hatte eine fast vergessene Saite in ihr neu zum Klingen gebracht. Sie hatte ihre Verantwortung für ihr Handeln wiederentdeckt. Und deshalb achtete sie auf ihrem Weg, den sie einschlug, darauf, anderen nicht zu schaden. Sie benutzte öffentliche Verkehrsmittel, ohne dass irgendein anderer Fahrgast sie im Schutz ihrer Gabe bemerkte. Mit verschiedenen Bussen gelangte sie schließlich zum nächstgelegenen großen Flughafen. Dort bestieg sie eine Maschine, die sie in Windeseile dem Ort entgegentrug, an dem sie sich Antworten erhoffte. An ein Wiedersehen mochte sie nicht glauben. Aber Gewissheit wäre ihr schon genug. Mehr konnte sie nicht hoffen zu finden – am Ort ihrer düsteren Vision. Kurz vor der Landung flog die Maschine noch eine Schleife über der Millionenstadt, die, das glaubte sie fest, so nicht mehr lange existieren würde. Sie hatte gespürt, wie nahe der Moment des Untergangs und Zerfalls schon war. Es würde nicht einmal mehr Jahre dauern bis dahin, allenfalls Tage – oder auch nur Stunden …
* Paul Hogarth hörte sich die Neuigkeit vom Verschwinden der Frau an, die von sich behauptete, vor rund 800 Jahren unsterblich geworden zu sein, nach dem Verzehr einer Frucht, die angeblich aus dem Garten Eden stammte. »Und jetzt hat sie sich abgesetzt?«, fragte er. »So sieht es aus.« »Wohin?« »Das wissen wir nicht. Aber sie hatte diese Vision, die London betraf, und ich könnte mir vorstellen …« »Dass sie hierher unterwegs ist?«
»Es ist nicht auszuschließen.« »Wäre sie dazu denn in der Lage? Von Frankreich aus, dem LoireTal, bis hierher auf die Insel …« »Ein weiter Weg, aber ihr stehen alle technischen Mittel offen. Sie braucht nicht einmal dafür zu bezahlen.« Zamorra dachte an die übernatürliche Gabe, die in Nele Großkreutz schon erwacht war, lange bevor sie vom »Baum des Lebens« aß. Hogarth schien seine Argumente nachvollziehen zu können. »Ich war übrigens auch nicht untätig«, sagte er, während er an seinem Kaffee nippte. »Ich habe vorhin von der Küche aus mit dem Yard telefoniert.« »Worum ging es?«, fragte Zamorra. »Um das Phänomen, dass manche Menschen den Baum sehen und andere nicht.« »Und was hast du herausgefunden?« »Ich habe schon vor deinem Eintreffen die Personalien derer überprüfen lassen, die, wie du und ich, das vermaledeite Ding sehen können. Vorhin erhielt ich die Bestätigung, dass sie alle einen gemeinsamen Nenner haben.« »Und der wäre?« »Sämtliche Polizisten oder Beschäftigten der Galerie, die den Baum wahrnehmen können, waren auch schon an dem Tate-Einsatz vor zwei Jahren beteiligt beziehungsweise damals im Haus tätig.« Zamorra nickte. »Das könnte es sein«, sagte er. »Auch wenn ungeklärt ist, warum diejenigen von damals, also auch wir beide, auserkoren sind, den Baum zu erkennen, während andere …« »Weißt du, was mich interessieren würde«, unterbrach ihn der Inspector. »Was?« »Ob diejenigen, die du mithilfe des Amuletts gesehen hast, wie sie sich kurz mit dem Baum … hm, vereinigten, ob diejenigen danach auch in der Lage sind ihn zu sehen.«
»Das ließe sich wahrscheinlich leicht herausfinden«, sagte Zamorra. »Aber würde es uns in irgendeiner Weise weiterbringen?« Hogarth überlegte, zuckte dann mit den Schultern. »War mir nur gerade eingefallen.« »Wenn du willst, verfolge den Gedanken ruhig. Das Tate bleibt weiterhin für die Öffentlichkeit gesperrt – richtig?« »Unbedingt. Das ist längst veranlasst.« »Okay, dann schnapp dir doch ein, zwei von den Typen, die gerade die Talkshows oder Sondersendungen mit ihrer Geschichte beglücken. Auch wenn es die Partner oder Freunde Betroffener sind, die an die Öffentlichkeit gehen, lässt sich die Identität derer, um die es eigentlich geht, leicht herausfinden.« »Du hast recht.« Hogarth nickte. »Ich glaube, das werde ich tun, während du dich erst einmal –« Zamorra schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich habe das ungute Gefühl, dass uns die Zeit wegrennt – und das, was ich in der Galerie erlebte, war ein Warnschuss vor den Bug. Ich habe wirklich mächtig viel aufgeboten, um dem Baum den Garaus zu machen – es hat ihn nicht einmal gekratzt. Er hat mir im Gegenteil meine Magie einfach selbst um die Ohren gehauen. Das steigert nicht gerade das Selbstbewusstsein, kann ich dir sagen.« »Glaub ich.« Hogarth lächelte müde. »Was geht da nur vor, mein Freund? Gerade auf dein Amulett war doch immer Verlass. Es kann doch nicht plötzlich so schwach geworden sein.« Zamorra nickte. »Aber das Schlechte unter dem Tate könnte erstarkt sein – wie und warum … keine Ahnung. Und warum die Halls nicht einschreiten – noch mal keine Ahnung. Ich neige normalerweise zu Optimismus, egal, gegen welchen Gegner es geht. Aber in dem Fall …« »Du gibst doch nicht schon auf?« Hogarth schien ehrlich bestürzt. »Unsinn«, beruhigte ihn Zamorra. »Soweit wird es nie kommen. Jeder, ganz gleich ob Freund oder Feind, hat Schwachstellen. Es geht
nur darum, sie zu finden und den Hebel richtig anzusetzen.« »Was hast du vor?« »Darüber denke ich noch nach.« »Gerade sagtest du noch, es könnte sein, dass uns die Zeit davonläuft.« »Das zu ahnen, war leichter, als eine Patentlösung auf den Tisch zu legen«, erwiderte Zamorra leicht gereizt. Hogarth nickte. »Entschuldige, ich –« Fanfarenstöße aus der Küche unterbrachen ihn. Während Zamorra noch leicht irritiert war, sagte Hogarth: »Das ist mein Telefon – Moment, bitte.« Er eilte nach nebenan. Zamorra hörte ihn mit einem Unbekannten sprechen. Hogarth klang erst ungläubig, dann betroffen, schließlich energisch, indem er sein sofortiges Kommen avisierte. Zamorra stand auf und ging in die Küche. »Neue Hiobsbotschaften? Das Tate?«, fragte er angespannt. »Ja. Nein«, sagte Hogarth. »Ja, eine neue Hiobsbotschaft. Aber nein, es betrifft nicht das Tate – nicht erkennbar jedenfalls. Kommst du mit? Pläne schmieden kannst du auch unterwegs.« »Du klingst, als hättest du Angst, allein zu gehen«, sprach Zamorra aus, was er in dem Augenblick dachte. Hogarth wirkte ziemlich verunsichert. »Ich wage mir kaum vorzustellen, was uns am Tatort erwartet«, sagte Hogarth. »Schon die kurze Beschreibung des ermittelnden Beamten, mit dem ich gerade sprach, treibt mir den Schweiß auf die Stirn.« »Worum geht es?« »Um Grünzeug – irgendwie. Also vielleicht doch ein Bezug zum Tate.« Kopfschüttelnd fischte sich Hogarth seinen Trenchcoat vom Garderobenhaken. Zamorra folgte ihm etwas langsamer als gewohnt. Er war immer
noch vom Amuletteinsatz geschwächt – aber entschlossen, jeder noch so kleinen Spur, die sie weiterbringen konnte, nachzugehen.
* Zwei Stunden zuvor Cybil Haseltine zupfte nervös am freizügigen Ausschnitt ihrer Bluse. Seit sie im Scheinwerferlicht des Fernsehstudios saß und sich den Fragen einer schmallippigen Moderatorin mit Haaren auf den Zähnen, aber wenig Grips in der Birne ausgesetzt sah, hatte sie es mehr als einmal bereut, dem Aufruf Folge geleistet zu haben. Aber mit irgendjemandem hatte sie sprechen müssen, und aus Mangel an Freundschaften hatte sie sich schließlich entschlossen, die Nummer anzurufen, die seit den frühen Morgenstunden immer und immer wieder in die laufenden Sendungen von Canal Eight, ihrem lokalen Lieblingssender, eingeblendet wurden. »Und sie hat kein Wort dazu gesagt, den ganzen Tag nicht?«, fragte die Moderatorin nun schon zum dritten Mal einen sommersprossigen Gnom, der zwei Stühle weiter zu Cybils Rechten saß. »Nein«, bestätigte der Gnom. »Sie schweigt. Aber noch schlimmer: Sie liegt nur noch auf der faulen Haut, kocht nicht, putzt nicht …« »Seit sie verschwunden war.« »Seit sie verschwunden war.« »Waren Sie schon mit ihr bei einem Arzt?« Der Gnom schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht krank.« »Wie können Sie sich da so sicher sein?« Der Gnom glotzte hilflos in die Kamera, die ihn in Großaufnahme heranzoomte. Die Moderatorin ließ ihn noch ein bisschen zappeln, dann setzte sie zum Resümee der 60-Minuten-Sendung an und dankte allen Teilnehmern an der Gesprächsrunde, die dazu beigetragen hatten,
dass etwas Licht ins Dunkel um das rätselhafte Verschwinden und Wiederauftauchen von mittlerweile Hunderten Londonern hatte gebracht werden können. Wurde es das? Cybil erhob sich und verließ das Studio. An der Kasse holte sie sich ihre Aufwandsentschädigung ab, hundert Pfund, die sie gut gebrauchen konnte, und stieg wenig später in den Bus, der sie zurück in die Innenstadt brachte. Eine Dreiviertelstunde später schloss sie die Tür ihrer Wohnung auf und rief: »Darling? Wo bist du? Hast du mich im Fernsehen gesehen? Sei nicht böse. Es war bescheuert von mir, mich vor den Karren dieser Armleuchter spannen zu lassen. Ich weiß, dass es einfach nur peinlich war. Ich mach’s wieder gut, ich versprech’s. Aber sei wieder gut mit mir … Wo steckst du? Gib doch Antwort!« Er war weder im Wohnzimmer noch in der Küche oder dem angrenzenden Bad. Blieb nur noch das Schlafzimmer. Auch gut, dachte Cybil. Dann hat er mich wenigstens nicht gesehen. Wenn er pennt, erholt er sich vielleicht schneller. Im Schlafzimmer gab es keinen Fernseher. Cybil öffnete leise und rücksichtsvoll die Tür – eigentlich ein Unding, nachdem sie zuvor laut herumgeschrien hatte. Aber das war ihr nicht bewusst. Mit Frank verband sie eine Art Hassliebe. Sie konnten nicht so recht miteinander, aber noch weniger ohneeinander. Dass er vergangene Nacht stundenlang weg gewesen und erst im Morgengrauen völlig durchgeschwitzt wieder heimgekommen war, hatte sie auf irgendein heimliches Techtelmechtel geschoben – bis sie aus den Nachrichten erfahren hatte, dass es in der ganzen Stadt drunter und drüber ging mit Männern und Frauen, die sich vorübergehend absetzten, dann aber wieder auftauchten. Sie hatte Frank zur Rede gestellt, aber nur sinnloses Gebrabbel zur Antwort bekommen. Gegen Mittag war ihr der Kragen geplatzt, und sie hatte bei einer
TV-Hotline angerufen. Schon zwei Stunden später hatte sie im Studio vor dieser grenzdebilen Tante gesessen, die sich einbildete, moderieren zu können. Cybil schnaubte verächtlich. »Frank …« Er hatte die Jalousien heruntergelassen, an beiden Fenstern. Cybil tastete nach dem Lichtschalter, zögerte aber. Er würde unleidlich sein, wenn sie ihn jetzt weckte. Sie entschied sich, ihn noch eine Weile ausspannen zu lassen. Vielleicht würde er danach endlich mit der Sprache herausrücken, wo er gewesen war. Sie trat zurück und zog dabei die Tür wieder ins Schloss. Eine Stunde später wurde ihr die Warterei dann doch zu viel. Sie entschied sich, Frank aus seinem unverdienten Schlummer, den er ja auch in der Nacht hätte haben können, zu reißen und von ihrem Fernsehauftritt zu erzählen. Spätestens das musste ihn so in Rage bringen, dass er endlich die Klappe aufmachte. »Frank!« Sie streckte den Kopf ins Schlafzimmer. Ihre Hand fand den Lichtschalter. Und dann hörte sie sich nur noch schreien.
* Als sie vor dem roten Backsteinhäuschen in einem der typischen Arbeiterviertel eintrafen, standen schon drei Polizeiautos und ein Rettungswagen auf dem Bürgersteig – und jede Menge Schaulustige. Die Beamten hatten alle Hände voll zu tun, die Neugierigen fernzuhalten. Hogarth wies sich aus und wurde kurz darauf zusammen mit Zamorra vom ranghöchsten Police Officer vor Ort ins Haus geführt. »Es ist nichts für schwache Nerven, Sir«, sagte der Officer.
»Haben Sie Angst, ich kippe um?«, spöttelte der Inspector. »Ich wäre beinahe«, wartete der Officer mit einem unerwarteten Geständnis auf. »Was ist mit der Frau?«, fragte Zamorra. »Der Inspector sagte auf der Herfahrt, sie habe den Notruf abgesetzt.« »Korrekt«, bestätigte der Uniformierte. »Sie wird im Wohnzimmer medizinisch versorgt. Sie hat einen Schock erlitten. Eigentlich gehört sie ins Krankenhaus. Aber ich wollte warten, bis Sie …« Er blickte zu Hogarth. »… sich einen Eindruck von ihr verschaffen konnten. Momentan scheint sie ansprechbar zu sein. Aber das klären Sie besser mit dem Doc, Sir.« Hogarth nickte. »Und das Opfer?« »Schlafzimmer.« Ein kurzer Gang. Rechts ging es offenbar ins Wohnzimmer. Zamorra sah eine Frau mit tränenverwischtem Make-up in einem Sessel sitzen. Vor ihr kniete ein Mann mit einer Sicherheitsweste, die ihn als Arzt oder Sanitäter auswies. Er hatte der Frau eine Manschette um den Oberarm gelegt und pumpte sie gerade auf, um den Blutdruck zu messen. Links lag eine weitere Tür, sie war angelehnt. Davor stand ein Polizist, der irgendwie belämmert aussah. Als hätte er gerade einer Autopsie beigewohnt, die nichts, aber auch gar nichts ausgelassen hatte. »Danke, Detective Sergeant«, sagte der Police Officer zu seinem Kollegen, schob ihn etwas zur Seite und öffnete die Tür komplett für Hogarth und Zamorra. »Noch einmal – machen Sie sich auf das Übelste gefasst, was Sie jemals zu sehen bekommen haben«, sagte der Officer. Zamorra sah es ihm nach, dass er nicht einmal ahnte, was der Parapsychologe in seinem Kampf gegen die Mächte der Finsternis schon alles gesehen hatte. Er glaubte nicht, dass ausgerechnet in diesem Haus etwas wartete, das ihn aus der Bahn werfen würde.
Und dann wurde er doch … überrascht. Er sah, wie Hogarth im Eintreten kurz stockte und hörte, wie dem Inspector ein gepresstes Stöhnen entwich. Dann stand er neben Hogarth und dem Officer in dem Raum, in dem die Deckenlampe brannte, weil es noch niemand für nötig erachtet hatte, die Fensterjalousien hochzuziehen. »Alles ist noch genauso, wie wir es vorgefunden haben, Sir«, sagte der Officer. »Ich habe schon überlegt, ob ich das Seuchenkommando alarmieren soll … Immerhin sieht es aus, als hätte ihn etwas …« Er suchte nach dem passenden Wort, fand es aber offenkundig nicht, denn er sagte: »… kontaminiert.« Zamorra sparte sich einen Kommentar. Er sah, wie Hogarth ihm einen Hilfe suchenden Blick zuwarf. Zamorra reagierte mit einem unmissverständlichen Handzeichen, worauf Hogarth den Officer aufforderte: »Lassen Sie uns bitte allein.« »Allein, Sir?« »Drücke ich mich unverständlich aus?« »N-nein, Sir.« »Dann …?« Hogarth blickte zur Tür. Der Officer schluckte und verließ das Schlafzimmer. Zamorra drückte hinter ihm die Tür ins Schloss. »Was sagst du dazu?«, fragte Hogarth. »Auf der Herfahrt sagtest du, die Frau, die euch benachrichtigte, die Frau, die drüben behandelt wird, sei heute in einer dieser Fernsehsendungen aufgetreten, bei der über das Verschwinden und die anschließende Wiederkehr Londoner Bürger diskutiert wird. Demnach handelt es sich bei ihm …« Zamorra zeigte zum kaum noch sichtbaren Bett, auf dem der kaum noch erkennbare Ehemann lag. »… um einen der vormals Verschwundenen?« »Davon ist auszugehen – aber ich werde die Frau noch persönlich danach befragen.«
»Ich glaube«, sagte Zamorra, »das kannst du dir sparen. Das hier spricht eine eindeutige Sprache.« Ohne ihm zu nahe zu kommen, besah er sich den Toten, aus dem alle möglichen Pflanzen hervorsprossen. Der Körper war an etlichen Stellen aufgeplatzt, aber es war kein Blut zu sehen. Aus sämtlichen Öffnungen traten Ranken, Stiele, Halme, sogar Zweige hervor. Die meisten hatten Blätter. Der Leichnam sah aus, als hätte ihn ein geisteskranker Gärtner in ein Blumenbeet verwandelt. Und am Absurdesten muteten die beiden voll erblühten orchideenartigen Gewächse an, die in seinen Augenhöhlen wurzelten.
9. Als sie wieder in Hogarths Vauxhall saßen und sich vom Heim des bizarren Toten entfernten, redete eigentlich nur einer: Paul Hogarth. Auf diese Weise kompensierte er das Grauen, das der Anblick des Leichnams in ihm ausgelöst hatte. Zamorra verarbeitete es auf seine Weise. Er überlegte fieberhaft, wie er den Wahnsinn stoppen konnte, der nach der Stadt und ihren Bewohnern zu greifen begonnen hatte. »Das war erst der Anfang, Paul«, sagte er irgendwann, als Hogarth an einer roten Ampel stoppte. »Ich habe einen schlimmen Verdacht. Sollte er sich bestätigen …« In der rechten Abzweigung der Straßenkreuzung setzte in diesem Moment ein wildes Hupkonzert ein. Offenbar hatte der zuvorderst stehende Fahrer noch nicht bemerkt, dass er Grün hatte. Allerdings reagierte er auch nicht auf das eigentlich unüberhörbare Hupen. Schließlich kam für Zamorra und Hogarth wieder die Grünphase, was bedeutete, dass die Schlafmütze es nicht geschafft hatte, auch nur selbst noch bei eigenem Grün rüberzukommen. Zamorra merkte, dass Hogarth zögerte. »Was ist?«, fragte er den Yard-Mann. »Ich weiß nicht. So ein komisches Gefühl.« Aus dem Auto hinter dem nun wieder vor Rot haltenden Vehikels stieg ein erboster Fahrer und marschierte zur Fahrerseite des Autos, das den Verkehr aufhielt. Er klopfte gegen die Scheibe, bückte sich, um hineinsehen zu können – und prallte völlig entgeistert zurück. Hogarth reagierte endlich, nachdem auch hinter ihm die erste Hupe losging. Aber anstatt über die Kreuzung zu fahren, lenkte er den Vauxhall vor das Auto, bei dem ein fassungsloser Mann stand und in Richtung seines eigenen Wagens gestikulierte. Offenbar wollte er, dass dort jemand ausstieg und sich die Sache ansah, die er ent-
deckt hatte. Hogarth war schneller als irgendein anderer draußen. Er wies sich mit gezückter Dienstmarke vor dem völlig Verdatterten aus und fragte: »Was ist da drin? Hat der Fahrer einen Infarkt? Dann müssen wir –« »Bleiben Sie lieber zurück! Gott im Himmel – ich war zwei Jahre in Afghanistan … hallo! Aber nicht mal dort hab ich so was jemals gesehen! Gehen Sie weg da! Das ist – Allmächtiger, ich weiß nicht, was es ist, aber …« Hogarth riss bereits die Tür auf. Zamorra war ihm gefolgt und sah den Fahrer den liegen gebliebenen Wagens im selben Moment wie der Inspector. Hogarth zuckte nicht ganz so heftig zurück wie der AfghanistanVeteran. Das mochte daran liegen, dass er Minuten zuvor einen Toten gesehen hatte, bei dem die Symptome dieses Mannes hier bereits sehr viel ausgeprägter gewesen waren. Auch aus dem Fahrer spross über den ganzen Körper verteilt pflanzliches Material hervor; an einigen Stellen beulte es erst den Stoff der Kleidung aus, an anderen hatte es ihn bereits durchstoßen. »Verdammt«, fluchte Hogarth. Sein Blick suchte Zamorra. »Woher wusstest du das?« »Was?« »Du sagtest vorhin, der Tote im Haus sei erst der Anfang.« »Ich wusste es nicht, ich habe es befürchtet.« »Wieso?« Während er mit Zamorra redete, winkte Hogarth den Kriegsveteranen in dessen Auto zurück. »Wir kümmern uns darum. Warten Sie die nächste Grünphase ab und lenken Sie Ihren Wagen dann um den hier herum. Die anderen werden Ihnen folgen!« »Aber –« »Sie können hier nichts tun. Ich kümmere mich darum!« Hogarth sprach in so energischem Ton auf den Mann ein, dass die-
ser tatsächlich in sein Auto zurückkehrte, wo er von einer Frau und einem jungen Mädchen erwartet und sofort gelöchert wurde. Trotzdem fuhr er kurz darauf bei Grün an dem Auto mit dem Toten und Hogarths Vauxhall vorbei. Andere folgten ihm, bis wieder Rot kam. Ein Neugieriger, der aussteigen wollte, hatte keine Chance. Hogarth »verarztete« ihn aus der Distanz. Auch das saß. Gleichzeitig telefonierte er und forderte ein Einsatzkommando samt Abschleppdienst an. Zamorra scannte inzwischen unbemerkt von den sonstigen Verkehrsteilnehmern den Mann, der offenbar während der Autofahrt von seinem Schicksal überrascht worden und hier vor der Ampel gestorben war. Der Samen unbekannter Pflanzen, der sich in seinem Körper befunden hatte, war explosionsartig gekeimt und hatte sich seinen Weg an die Oberfläche gesucht. Zamorra sah sich um. Unwillkürlich erwartete er, dass sich in der Nähe weitere Fälle wie dieser ereigneten. Aber zu seiner Erleichterung blieb es ein Einzelfall. Minuten später tauchte bereits der Abschleppwagen auf, kurz darauf ein Streifenwagen, der Hogarth half, die Situation unter Kontrolle zu halten. Hogarth veranlasste, dass der Wagen samt Inhalt zur Gerichtsmedizin transportiert wurde. »Tut mir leid, aber ich muss da jetzt dran bleiben«, sagte er zu Zamorra, als er sich mit dem Vauxhall hinter dem Abschlepper einfädelte und ihm zur Pathologie folgte. Für Zamorra gab es daran nichts zu entschuldigen. Es war klar, dass Hogarth das tun musste und es war klar, dass er sich näher mit dem Toten befassen musste. Oder mit den Gewächsen, die aus ihm hervorbrachen. »Ich wurde vorhin unterbrochen, als ich einen Verdacht äußern wollte«, sagte er. »Erinnerst du dich?« »Ich erinnere mich«, sagte Hogarth. »Es ging um den anderen To-
ten – bezieht dein Verdacht den hier ein?« Er zeigte geradeaus auf den Abschlepper. »Der erhärtet ihn.« »Und – was vermutest du in Bezug auf diese … Art des Sterbens?« »Es könnte mit der Vision von Nele zu tun haben. Nele Großkreutz, du weißt schon.« »Die, die London in völlig überwuchertem Zustand sah. Verstehe.« Zamorra nickte. »Bislang war nicht klar, wie so etwas passieren könnte. Ich meine, wie ein Szenario aussehen sollte, an dessen Ende als Resultat London unter Dschungel stehen könnte.« »Und jetzt ist es klar?« »Du hast die beiden Toten gesehen. Zumindest der eine war im Tate und hat sich dort vermutlich die Sporen oder die Samen abgeholt, die ihn letztlich umgebracht haben.« »Du meinst, der Geisterbaum nimmt sich bei den Besuchen nicht nur etwas von den Angelockten, sondern gibt ihnen auch etwas mit auf den Rückweg?« »Für diese These gibt es klare Anhaltspunkte.« »Aber das würde bedeuten …« »… dass wir mit einem epidemieartigen Ausbruch von weiteren solchen Fällen rechnen müssen, und dass dies der Grundstein für die völlige Zerstörung – oder Überwucherung – Londons sein könnte.«
* Der Gerichtsmediziner war eine Frau. Sally Hargrave. Mitte Vierzig. Schwarze, kurze Haare. Ausdrucksvolle Augen. Und mit einem gewissen Zynismus ausgestattet, der ihr das Überleben unter Leichen wahrscheinlich erst möglich machte. Sally Hargrave überraschte zunächst damit, dass sie zwar erstaunt
über den »erblühten« Toten war, aber sich schon im nächsten Moment auf die praktische Erforschung des Kandidaten konzentrierte. Dabei ließ sie durchblicken, dass sie auch ein paar Semester Biologie, Sonderfach Kryptobotanik, besucht hatte. »Sie wissen, was das Besondere an diesen Pflänzchen ist?«, fragte sie Hogarth, der gebeten hatte, der Vivisektion beiwohnen zu dürfen. »Dass sie immer noch weiterwachsen, obwohl der Befallene längst tot ist?«, fragte der Inspector, der Sally Hargrave gedrängt hatte, bei der Untersuchung auf sich selbst aufzupassen, damit sie nicht ebenfalls mit dem »Zeug«, wie er sich ausdrückte, infiziert wurde. Sie hatte auf eine Antwort verzichtet, aber ihr Blick hatte klar gemacht, dass sie es hasste, wenn ihr jemand in die Ausübung ihres Berufes hinein quatschte. Spätestens ab dem Moment war sie Zamorra außerordentlich sympathisch. »Ha-ha-ha«, machte die Gerichtsmedizinerin. »Was sollte daran besonders sein. Für die ist und bleibt der Leichnam erst einmal bester Nährboden. Für den Typen mag es einen Unterschied machen, ob er lebt oder tot ist, für die Pflänzchen garantiert nicht.« »Was dann?«, fragte Hogarth angesäuert. »Das Besondere an jedem einzelnen dieser Gewächse ist«, sagte Sally Hargrave, wobei ihr Blick zu Zamorra schweifte, der sich bewusst im Hintergrund hielt, »oder können Sie es mir vielleicht sagen, Monsieur?« Hogarth hatte ihn vorgestellt, aber die Frau im lachsfarbenen Kittel schien seinen Namen schon wieder vergessen zu haben. »Zamorra.« »Nun, Monsieur Zamorra?« »Bedaure, ich muss leider ebenfalls passen.« »Schade. Sie wirken ganz intelligent.« »Der äußere Schein kann täuschen.«
»In dem Fall …« Sie nickte zu der blühenden Leiche auf ihrem Tisch. »… nicht.« »Soll heißen?« »Soll heißen, dass die hier – die Pflanzen – ein Vermögen wert sind.« »Was soll dieser Unsinn?«, mischte sich Hogarth ein. »Es ist kein Unsinn. Kryptobotanik ist bis heute mein Steckenpferd geblieben. Und das hier sind garantiert allesamt Pflanzen, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte – sie sind uns nur noch aus Versteinerungen, Bernsteineinschlüssen oder Überlieferungen bekannt.« »Das lässt sich sicher überprüfen«, sagte Zamorra, den dieser neuerliche Fingerzeig nur in seinem unguten Verdacht bestätigte. »Natürlich. Ich habe Adressen von Koryphäen. Mit denen werde ich umgehend Kontakt aufnehmen und deren Meinung einholen. Sie müssen sich nur ein paar Stunden gedulden. Ich mache Fotos und versende sie per E-Mail.« »Sehr gut«, sagte Hogarth. »Und jetzt bitte – mit aller Vorsicht – zu dem Toten. Ich möchte wissen, wie sein Innenleben aussieht. Wie stark verseucht er mit dem Zeug ist.« Eine halbe Stunde später wussten sie es. In dieser halben Stunde war jeder Quadratzentimeter Haut aufgeplatzt und hatte neue Gewächse hervortreten lassen. Manche der Pflanzen, mit denen er schon eingeliefert worden war, hatten bereits eine Länge von über einem Meter erreicht, was die Autopsie natürlich erschwerte. Aber Sally Hargrave ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie enthüllte, dass der Tote bis in die Organe hinein mit lebensund keimfähigen Samen verseucht war, die nun nach und nach ausschlugen. »Das größte Rätsel daran ist für mich«, formulierte sie eine erste Zwischenbilanz, »wie er überhaupt noch hat in sein Auto steigen
und soweit kommen können.«
* »Und jetzt?«, fragte Hogarth, als sie das zu Scotland Yard gehörige Institut verließen. »Und jetzt bringst du mich zurück zum Tate.« »Mit welcher Absicht?« »Das muss dir doch klar sein.« »Ich will es aber von dir hören.« »Ich muss es stoppen.« »Das hast du heute schon mal versucht, und es hätte dich fast umgebracht.« »Seither glaube ich auch nicht mehr, dass ich es alleine schaffen kann.« »Ich helfe dir, wo ich kann – und der Apparat hinter mir auch.« »Danke für das Angebot, aber hier müssen andere ran.« »Andere? Wer?« »Andere, die ein wenig mehr Ahnung haben von dem, was uns bedroht, als du.« »Das klingt nicht nach sonderlicher Wertschätzung meiner Person.« »Im Gegenteil. Aber deine Stärken liegen auf anderen Gebieten als der Magie.« »Das mag sein.« »Eben.« Zwei Kilometer vor dem Tate geriet der Verkehr plötzlich ins Stocken und kam völlig zum Stillstand. »Hoffentlich nicht schon wieder ein Fall von tödlichem Erblühen«, seufzte Hogarth. Vor ihnen stiegen die ersten Autofahrer aus. Sie zeigten nach vorn
– aber auch schräg nach oben. »Lass uns auch aussteigen«, sagte Zamorra. Ein Kleinlaster verstellte ihnen weitgehend die Sicht. Schweigend hebelte Hogarth die Fahrertür auf, Zamorra stieg auf seiner Seite aus. Hinter, vor und neben ihnen kamen jetzt immer mehr Stauopfer aus ihren Fahrzeugen. Sie alle blickten in dieselbe Richtung. Und dann waren auch Zamorra und Hogarth um den Laster herum und hatten freie Sicht. Das Gemurmel ringsum war weit davon entfernt, Ausdruck von Panik zu sein. Vielmehr transportierte es die grenzenlose Verblüffung, gepaart mit einer Faszination, die nur das Unerklärliche auf Menschen auszuüben vermochte. »O … mein … Gott …«, stöhnte Hogarth. Zamorra hatte das Gefühl, mit siedend heißem Wasser übergossen und im nächsten Moment arktischer Kälte ausgesetzt zu werden, die die Nässe auf seiner Haut in einen Eispanzer verwandelte. Selbst seine Tränenflüssigkeit schien sich in Eisblumen wie vor einer Fensterscheibe zu verwandeln. Er blinzelte, um die Trübung wegzubekommen. Es gelang. Er atmete tief durch. Das Amulett vor seiner Brust begann sanft zu pulsieren. Es war nicht einmal ein richtiger Alarm, sondern fast so, als wäre auch Merlins Stern gebannt von dem Geschehen, einen Kilometer Luftlinie entfernt. Erste Schreie und Sirenengeheul drangen an Zamorras Ohr, aber er schaute immer noch regungslos auf den riesigen Baum, der aus dem geborstenen Dach der altehrwürdigen Tate Gallery herausragte. Zamorra versuchte die Höhe des Giganten zu schätzen, der nun offenbar für aller Augen sichtbar geworden war.
Waren es hundert oder noch mehr Meter, die er sich in den kränklich verfärbten Himmel schraubte? »Wieso wurde ich darüber nicht alarmiert?«, keuchte Hogarth. »Wahrscheinlich«, erwiderte Zamorra, »weil es gerade erst passiert ist. Versuch, deine Leute beim Tate zu erreichen, während wir uns zu Fuß dorthin aufmachen. Den Wagen kannst du vergessen. Der Stau wird sich so schnell nicht wieder auflösen.«
* Rings um sie brachen Leute auf offener Straße zusammen; andere, die sich um sie kümmern wollten, schreckten zurück, weil sie Veränderungen an den Gestürzten bemerkten, die ihnen das Entsetzen auf die Gesichter schrieben. Die Scheiben stehen gebliebener Autos zerplatzten rasch hintereinander – an weit auseinander liegenden Stellen. Wann immer Zamorra oder Paul Hogarth ihren Blick in die Richtung eines Vorfalls lenkten, sahen sie ähnliche Bilder: Menschen, die eigentlich zu Hilfe eilen wollen, wichen schockiert zurück, und aus zerplatzten Scheiben wucherten wie im Zeitraffer Ranken und Blätter … »Es geht jetzt rasend schnell«, rief Hogarth Zamorra zu. Helle Panik brach aus. Der Baum in der Ferne, der über Hausdächern aufragte und einen eigenartigen Schimmer verströmte, der den umliegenden Himmel vergiftete, rückte aus dem Fokus der Leute. Um sie herum war der Horror in noch greifbarerer, noch handfesterer Form erwacht. »So rasend«, gab Zamorra zurück, »wie dieser verdammte Baum gerade einen Schub gemacht hat – und sieh nur, er wächst immer noch!« Sie trieben sich zu noch größerer Eile an. Aber es war nur schwer durchzukommen. Hogarth hatte mehrmals versucht, einen seiner
Leute, die das Tate sichern sollten, ans Handy zu bekommen, aber das Netz war komplett zusammengebrochen. So musste es bei Einsturz der Twin Towers in Manhattan gewesen sein, als alle Welt gleichzeitig versucht hatte, zu telefonieren. Aber während Zamorra weiterhetzte, schob sich immer wieder das vor sein Sehen, was Nicole ihm über Neles Vision eines von Wildnis überwucherten London erzählt hatte – seine Fantasie trieb das, was in ersten Auswüchsen bereits zu erkennen war, auf die Spitze. Endlich – nach einer halben Ewigkeit – tauchte vor ihnen das Tate Britain auf. Das, was davon noch übrig war. Selbst Zamorra, der nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war, rang um ebendiese, als ihm bewusst wurde, dass von dem Gebäude, in dem sie noch Stunden zuvor gestanden und den über zwei Etagen reichenden »Geisterbaum« bestaunt hatte, nur noch Trümmer übrig waren. Der Stammdurchmesser des Baumriesen, der sich über ihnen erhob und dessen Krone den Bereich, wo sie kurz innehielten – etwa hundert Meter vom ehemaligen Eingang der Galerie entfernt – bereits überspannte, hatte das Tate Britain förmlich gesprengt. Der massive Bau war in sich zusammenstürzt. Menschen, überwiegend Uniformträger, kamen ihnen mit blutenden Köpfen und Gesichtern entgegen. Sie flüchteten vom Ort des Geschehens, und Schaulustige, die eben noch dorthin unterwegs gewesen waren, wendeten plötzlich und flohen ebenfalls, weil ihnen allmählich dämmerte, dass sie es nicht nur mit einem Phänomen, sondern einer tödlichen Bedrohung zu tun hatten. »Komm, weiter«, drängte Zamorra Hogarth, der sich einen seiner Kollegen geschnappt hatte, aber nur wirre Erklärungen von ihm bekam. In der Nähe bereitete sich ein Fernsehteam auf den Rückzug vor. Und aus allen Richtungen war das typische Klicken von Kameraver-
schlüssen zu hören. Zamorra glaubte nicht, dass irgendjemand irgendwann große Freude an den geschossenen Bildern haben würde. In diesem Moment hatte er ein Gefühl, wie eigentlich noch niemals zuvor, wenn er gegen das Böse in all seinen Facetten vorgegangen war. Es war das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen – und eigentlich schon längst verloren zu haben. Wenn jetzt auch noch sein letzter Trumpf versagte …
* »Das Gebäude ist einsturzgefährdet«, versuchte Hogarth, Zamorra zurückzuhalten. »Das meiste ist ja schon eingestürzt, und der Rest kann jeden Moment nachrutschen!« Dumpfes Motorengrollen lenkte ihre Aufmerksamkeit in die Richtung, wo jenseits der Themse ein Aufklärungsjet der britischen Luftwaffe auftauchte und offenbar über den riesigen Baum hinwegfliegen wollte. Zwischen dem oberen Rand der Krone und dem Düsenjet wäre genug Abstand gewesen, um gefahrlos den Luftraum zu kreuzen – allerdings machte der Baumgigant in dem Moment, als der Jet ihn fast erreicht hatte, einen erneuten Schub durch, der seine Größe schlagartig verdoppelte. Während weit oben eine Explosion aufblitzte, weil die Maschine im Geäst des Riesen zerschellte, mussten sich tief unten auch Zamorra und Hogarth zu Boden werfen und Deckung hinter einem abgestellten Auto suchen, weil auch der Stamm sich binnen einer Sekunde in seinem Umfang erweiterte und dabei Betonteile des Tate wie Legobausteine durch die Gegend schleuderte. »Glaubst du mir jetzt, dass du da nicht reinkannst?«, rief Hogarth dem Parapsychologen atemlos zu.
»Du verstehst es nicht«, gab Zamorra zurück. »Ich muss da hinein. Hier draußen werde ich den Kontakt nicht aufbauen können.« »Kontakt zu wem? Dem Baum?« Kopfschüttelnd erhob sich Zamorra hinter ihrer Deckung. Das Tate Britain sah wie nach einem V2-Angriff im Zweiten Weltkrieg aus. Eine rauchende Ruine – mehr war von dem stolzen Gebäude nicht geblieben, ganz zu schweigen von den unersetzlichen Kunstschätzen, die in seinem Innern vor die Hunde gegangen sein mussten. Wieder schwoll Lärm an, hoch über ihnen. Aus verschiedenen Richtungen näherten sich nun ganze Geschwader von Kampfjets. Sowohl Zamorra, als auch Hogarth ahnten, was gleich passieren würde – aber sie hatten beide wenig Hoffnung, dass es der Gefahr ernsthaft und nachhaltig Paroli bieten würde. Kondensstreifen verrieten den Abschuss erster Fernlenkraketen. Sekunden später dann die Einschläge weit oben im Kronenbereich. »Sie explodieren, bevor sie auf treffen – siehst du das?«, rief Hogarth aschfahl. Die Geschwader drehten ab … und bei einem geschah etwas Merkwürdiges: Mitten im Flug platzte die Glaskanzel weg, und der Pilot wurde samt Sitz herauskatapultiert, obwohl vorher nichts darauf hindeutete, dass die Maschine einen Schaden genommen hatte. Dafür wirkte aber selbst auf die Entfernung der Schleudersitz, der sofort von sich automatisch entfaltenden Fallschirmen abgebremst wurde, überaus ungewöhnlich. Nicht nur ein Mensch schien darin festgeschnallt zu sitzen, nach allen Seiten flatterten auch Gebilde durch die Luft, die – »Noch einer«, keuchte Hogarth. »Wie bei den Autofahrern. Es muss ihn mitten im Flug erwischt haben, ohne vorherige Warnsignale. Demnach hat er den Baum auch schon mal besucht, und vielleicht war es ihm gar nicht mehr bewusst …« Es wurde immer bizarrer. Zamorra fühlte sich in ein hart umkämpftes Kriegsgebiet versetzt,
und wenn er es genau nahm, war das auch absolut der Fall. »Bleib hier!«, richtete er seine eindringliche Bitte an Hogarth. »Das Amulett schützt mich. Aber du bleibst besser hier, sonst muss ich zu viel Kraft opfern, um auch auf dich aufzupassen!« »Aber –«, setzte Hogarth an. »Hier draußen gibt es genug zu tun!« Zamorra verschwendete keine weitere Zeit mehr für Überzeugungsarbeit. Er löste sich von dem Wagen und rannte auf die Ruine des Tate zu. Wenig später tauchte er in die Trümmer ein.
10. Sein mentaler Ruf wurde durch die Kraft des Amuletts verstärkt. »Könnt ihr mich hören? Seid ihr da? Dann gebt Antwort – ich bitte euch, Halls! Arsenius …« Die Halls waren das geistige Siegel, das die furchtbare Macht unter dem Tate über all die Jahrhunderte im Zaum gehalten hatte. Von Generation zu Generation hatten sie ihre Pflicht an Familienangehörige weitergegeben. Arsenius war der Letzte dieser Tradition gewesen. Die Blutlinie hatte nach ihm keine Nachkommen mehr. Hatte es deshalb jetzt zu diesem Ausbruch kommen können, der alles Vergangene weit in den Schatten stellte? Der wahrscheinlich noch die Eruption des Bösen vor sechs Monaten an Urgewalt und Zerstörungswut übertreffen würde? Keines der im Laufe der Zeit ins Siegel aufgegangenen Bewusstseine war verloschen. Bei Arsenius’ Eintritt hatten ihn die Stimmen von Vater und Großvater und wer weiß noch alles willkommen geheißen. Und auch Zamorra war streiflichtartig mit den Hüte-Geistern aus der Vergangenheit konfrontiert worden, als sie dringend erforderliche Kraft aus dem Amulett gezogen und für sich verwertet hatten. Bei alldem hatten sie stets bewiesen, dass der Schutz der Metropole ihr vorrangiges Ziel war. Zu sehen, wie die Stadt nun in Chaos und Schrecken versank, konnte nur bedeuten, dass die Macht der Halls, ihre Siegelkraft, in einer Weise versagt hatte, wie noch niemals zuvor. Aber hieß es auch, dass die Halls für immer schweigen würden? Waren sie von der Urgewalt des Bösen im Boden unter London, unter dem Tate, hinweggefegt worden wie von der Eruption eines Supervulkans?
»Meldet euch – gebt mir ein Zeichen, dass es euch noch gibt!« Er bahnte sich den Weg durch den Schutt und durch eine fahle Aura, die sich lähmend über ihn zu breiten versuchte. Sie ging von dem Baumgiganten aus, dessen Geäst sich mittlerweile über große Teile des Häusermeers breitete und das Sonnenlicht dämpfte, das den Boden nur noch geschwächt erreichte, als sauge jeder einzelne Zweig, jedes Blatt an ihm. Zamorra stoppte seinen Vorwärtsdrang kurz, als er mit der Schuhspitze gegen etwas Weiches stieß. Als er hinabsah, entdeckte er unter einer Staubschicht, grau wie Knochenmehl, die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Er bückte sich, wischte den Staub beiseite und legte Teile einer Polizeiuniform frei. Der Mann war tot, ihm war nicht mehr zu helfen. Zamorra spürte, wie sich sein Herz kurz schmerzhaft zusammenzog. Irgendwie fand er es tröstlich, dass keine Gewächse aus ihm hervorsprossen. Offenbar hatte er den Geisterbaum nie umarmt. Gestorben war er trotzdem. Eine kalte Wut begann sich in Zamorra zu formieren. Er wusste nicht, was in der übrigen Stadt vor sich ging, aber er befürchtete, dass das unglaubliche Wachstum des Baumes aus dem Fundament des Tate wie ein Initialzünder auf die Menschen wirkte, die ihn irgendwann als »Geister« besucht und genährt und sich von ihm hatten anstecken lassen mit einer Krankheit, die nun auch die Stadt selbst befiel, ihre Straßen, ihre Parks, ihre Gebäude. Die Sterbenden waren wie explodierende Samenkapseln. Sie verstreuten Leben, wie es, glaubte man Sally Hargrave, eigentlich schon seit Urzeiten ausgestorben gewesen war. Prähistorische Pflanzen, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit Gebiete eroberten. Zamorra entfernte sich von dem toten Polizisten. Er erreichte eine halb unter Trümmern begrabene Treppe, die abwärts führte. Er wusste, dass er irgendwie nach unten musste. Näher zu den
Punkt, wo der Wahnsinn seinen Anfang genommen hatte. Mühsam kletterte er über Hindernisse, die ihn aber nicht nachhaltig aufhalten konnten. Der Silberschein des Amuletts leuchtete ihm den Weg durch einen dunklen Treppenschacht, in den kein Tageslicht mehr vordrang. »Halls!«, riefen seine Gedanken dabei unablässig. »Meldet euch! Ich brauche Hilfe – eure Hilfe! Die Stadt ist dem Untergang geweiht, wenn ihr nicht –« Er unterbrach seinen Ruf. Unweit vor ihm war kurz Bewegung gewesen. Genaueres hatte er jedoch nicht erkennen können. »Hallo?« Diesmal rief er laut. Ein leises Grollen pflanzte sich durch die Unterwelt des Tate. Wahrscheinlich neue Jets, die mit neuem Beschuss gegen den Baumgiganten vorzugehen versuchten, der Zamorra inzwischen mehr und mehr an die Weltenesche Yggdrasil erinnerte. Oder … Da! Da war der Schemen wieder gewesen! Zamorra aktivierte die Radarfunktion des Amuletts. Ein Radar, der nur den Namen mit der Erfindung gemein hatte, mit der man den Luftraum überwachen konnte. Das magische Echolot war in der Lage, dem Verborgenen Dinge und Kreaturen zu entreißen, die Teil der anderen Schöpfungskraft, des Chaos und Bösen also, waren. Mochten sie sich noch so geschickt verhüllen, der Scannerwelle konnten sie nicht entgehen … Normalerweise. Zu Zamorras Verwunderung brachte aber auch diese Maßnahme keinen Erfolg. Er schien immer noch allein zu sein. Und doch WWWUUUUUUSSSCVCCHHH! – wischte plötzlich etwas über seinen Hals. Er hatte es noch im Ansatz bemerkt, deshalb einen Schritt seit-
wärts gemacht, und wahrscheinlich rettete ihm das das Leben. Nur die Spitze einer Klaue schrammte noch über seinen Hals. Aber selbst sie schaffte es noch, eine millimetertiefe Furche zu ziehen, die die Halsschlagader haarscharf verfehlte. Zamorra warf sich in die Deckung einer Nische. Er ließ das Silberlicht des Amuletts wie eine kleine Sonne in der Finsternis erstrahlen. Und da endlich sah er sie – die Kreatur. Sie war Dunkelheit – und sah sich jetzt ihres Chamäleonschutzes beraubt. Im gleißenden Schimmer zeichneten sich die Konturen eines Knäuels ab, das nur aus Zähnen und Klauen zu bestehen schien. Das Knäuel rollte durch den halb eingestürzten Gang, streckte sich dabei und zog sich wieder zusammen, als wäre es ein Muskel, ein Herz gar, das irgendetwas durch Arterien zu pumpen versuchte, die längst von ihm abgetrennt worden waren. Für einen Moment kam Zamorra ein absurder Gedanke: Was, wenn es sich wirklich so verhielt, wenn das Monster vor ihm … das Herz der Finsternis wäre, die das Silberlicht gerade von ihr abgetrennt hatte, amputiert gleichsam? Aber wie immer es sich verhalten mochte, es erklärte nicht, warum das Amulett solche Mühe hatte, die Kreatur zu orten und sie unschädlich zu machen. Nachdem sie sich kurz von Zamorras Standort entfernt hatte, rollte sie jetzt wieder heran, die Zähne gefletscht, die Klauen wie poliertes Elfenbein blitzend. Die drehende Bewegung war nicht nur blitzschnell, sondern verursachte auch etwas bei dem Betrachter, zumindest sofern er menschlich war. Zamorra fühlte einen Einfluss, der an seinen geistigen Schilden kratzte, die Gedanken verwirbelte und ihn in die Nähe eines Demenzkranken rückte. Er suchte nach Wissen, das ihn hätte schützen können. Aber er war zu langsam, zu … unentschlossen. Nur noch wenige Momente und das Monstrum … Etwas packte
ihn. Riss ihn mit sich. Zerrte ihn hinter eine Deckung, an der auch das Schattenbiest sich die Zähne ausbeißen und verzweifeln musste. »Das war knapp, oder?«, fragte die alte Frau, die von der EdenFrucht gegessen hatte.
* Dass Nele Großkreutz einmal seine Retterin aus höchster Not werden könnte, hatte Zamorra nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Dass sie es gerade geworden war, bereitete ihm aber keine Probleme. Es versetzte ihn nur in Erstaunen. Auch er ließ sich von ihrem Aussehen täuschen. Aber hätte sie all die Jahrhunderte in diesem greisen Körper überdauern können, wenn sie nicht zäh wie Leder gewesen wäre? »Wo kommen Sie her?« »Das weißt du doch.« »Nicole war ganz erschrocken, als Sie –« »Ich wollte niemanden erschrecken. Aber ich musste herkommen. Die Vision, die ich hatte. Der Baum, von dem die Sprache in Zusammenhang mit diesem Gebäude hier – na ja, was davon übrig ist – war. Und natürlich, vor allem anderen, das Gefühl, er könnte hier sein. Und mir die Vision geschickt haben.« Zamorra blickte auf die Hand, die seine eigene hielt. Der Körperkontakt ermöglichte es Nele Großkreutz, ihn in ihre Sphäre, die sie vor Entdeckung jedweder Art schützte, mit einzubeziehen. »Sie reden jetzt aber nicht von …« »Doch. Von Nikolaus.« »Warum sollte er hier sein? In welcher Verbindung sollte er zu all dem stehen?« »Der Baum. Ich sah ihn bei meiner Ankunft. Er ist so gewaltig, wie … wie Nikolaus ihn mir damals beschrieb.«
Zamorra begriff, worauf sie hinaus wollte. »Aber das hier ist nicht der Garten Eden – bestimmt nicht. Es kann nur Zufall sein, dass der Baum Ähnlichkeit mit jenem hatte, den Ihr Geliebter einst fand. Bäume sehen sich allgemein sehr ähnlich, und sobald sie eine Größe entwickeln, die so abnorm ist wie die hier.« »Hör auf, es mir ausreden zu wollen, Jüngelchen. Ich spüre es. Ich spüre auch die persönliche Verbindung zu etwas hier unten. Ich täusche mich nicht.« Zamorra überlegte, was mehr Sinn machte – weiter gegen Neles Idee zu argumentieren oder sie als letzten Hoffnungsstrohhalm zu betrachten. Die Halls hatten sich immer noch nicht gemeldet. Allmählich musste er davon ausgehen, dass die Macht, die London gerade wie ein Tsunami überrollte, auch sie, die Siegelwahrer, in den Untergang gerissen hatte. »Begleitest du mich?«, fragte Nele. »Wohin?« »Zu ihm.« »Wo willst du ihn finden? Ich kann einfach nicht glauben –« »Begleitest du mich?« »Ja. Verdammt, ja!«
* Seit die Nachrichtensendungen nicht anderes mehr übertrugen als Bilder aus dem Epizentrum des Wahnsinns – Bilder aus London –, klebte Nicole förmlich vor dem Fernseher. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie versucht hatte, Zamorra an die Strippe zu bekommen. Aber nicht nur das Festnetz, auch die Handyverbindung war unter dem Ansturm besorgter Menschen, die Angehörige in London hatten, zusammengebrochen. So ähnlich musste es gewesen sein, als die britische Hauptstadt in
verschiedene Epochen ihrer Geschichte zerbrochen war – aber daran erinnerte sich Nicole, ebenso wie alle anderen, die jetzt gebannt in die Fernseher starrten, nicht mehr. Und etwas nur berichtet zu bekommen, war immer anders, als es in Form einer selbst erlebten Erinnerung in sich zu tragen. Aber daran dachte sie kaum. Sie hatte nur ein tiefes Mitgefühl für all die bedauernswerten Bürger der Stadt, die gerade etwas zum Opfer fielen, von dem bis zu dieser Stunde kaum einer geglaubt hatte, dass es wirklich existierte. Sie alle hatten sich im Laufe ihres Lebens von Filmen oder Romanen unterhalten lassen, in denen Übersinnliches und Monströses für Nervenkitzel sorgten. Für wohlige Schauer an einem wärmenden Kaminfeuer oder bei einem Glas gutem Wein. Aber wohl keiner von ihnen hätte noch tags zuvor auch nur in Erwägung gezogen, dass sich sein Leben und seine Umgebung innerhalb von 24 Stunden radikal verändern und dass sämtliche zivilisatorischen Errungenschaften im Großraum London einem magischen Gewaltexzess von unvorstellbarer Wucht erliegen könnten. Was Nicole via Satelliten-TV ins Château Montagne übermittelt bekam, waren Bilder, die kalte Schweißausbrüche und Schockmomente im Sekundentakt garantierten. Und über allem thronte ein Baum, der mittlerweile selbst die Ausmaße einer Stadt angenommen hatte. Seine Krone zumindest – und der eigentlich ins Reich der Fabeln gehört hätte. Aber das hier ist die Realität, dachte Nicole, und diesmal, das ahnte sie, würde nichts und niemand die Situation wieder auf den Ausgangspunkt zurückfahren. Dieser Tag würde sich in die Annalen der Menschheit brennen. Denn es war der Tag, an dem jedem vernunftbegabten Bewohner dieses Planeten, der an das moderne Nachrichten- und Kommunikationsnetz angeschlossen war, klar geworden sein musste, dass sein bis dato gegen alle Angriffsversuche verteidigtes Weltbild nicht länger haltbar war.
Es gab Kräfte, die sich die Schulweisheit nicht träumen ließ. Es gab Mächte, die aus dem Geheimen heraus die Herrschaft über die Welt anstrebten – oder zumindest ihre Zerstörung. Nicole fühlte sich am Boden zerstört. Zamorra meldete sich nicht mehr. Zamorra steckte mittendrin in diesem Irrsinn. Vermutlich würde er sich seiner Haut erwehren können – als einer der Wenigen, die mit ansehen mussten, wie unmittelbar neben ihnen Menschen starben und zu Brutstätten seltsamer Pflanzen wurden, die sich von ihnen aus rasend schnell über die Umgebung ausbreiteten. Aber einer Macht wie dieser konnte wahrscheinlich nicht einmal ein geübter Streiter gegen das Übersinnliche, wie er es war, noch Einhalt gebieten. Nicole zitterte wie Espenlaub, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gedacht hatte. Und sie fragte sich, wann sie aufgehört hatte, an die Unfehlbarkeit und Unbesiegbarkeit des Mannes zu glauben, der bislang noch jede Krise gemeistert hatte. Etwas an der jetzigen Situation war anders als jemals zuvor. Nicole Duval konnte nicht aufhören, sich die Bilder aus der untergehenden Stadt anzusehen. Bis die Bilder von selbst versiegten, und London endgültig den Nimbus verlor, für den Rest der Welt vorstellbar zu sein …
11. Nele Großkreutz ging nicht einfach nur durch Wände. Sie ging durch massiven Beton und Fels. Sie benötigte keine Gänge und Treppen, nicht, während sie ihre Gabe bemühte, und sie nahm Zamorra mit hinunter in Bereiche, von denen in der Gegenwart vermutlich kein Mensch mehr Kenntnis hatte, dass sie überhaupt existierten. Unterirdische Katakomben. »Wer hat das erbaut?«, fragte Zamorra, als er sah, wohin Nele ihn wie in Halbtrance schleppte. »Ich – weiß es – nicht.« Sie sprach abgehackt, und sie hatte die Augen halb geschlossen, als folge sie einer Witterung, die Zamorra nicht einmal ansatzweise wahrzunehmen vermochte. Aber plötzlich hörte er fremde Stimmen. Sie streiften seinen Geist. Und eine von ihnen elektrisierte ihn besonders. Arsenius? Keine Antwort. Aber Nele schien ihre Bewegung noch zu beschleunigen. Wieder glitten sie durch Fels, und als dieser wich, fand sich Zamorra in einem Raum wieder, der einmal eine Art Gruft, eine Art Mausoleum gewesen sein mochte. Doch etwas hatte ihn verwüstet, in weiten Teilen förmlich erdrückt. Reste von deckellosen Granitsärgen waren zwischen gewaltigem Wurzelwerk zu erkennen, und in einigen dieser Behältnisse lagen tatsächlich … Gestalten. Keine bis zur Unkenntlichkeit verwesten Toten, sondern makellos erhaltene. Doch auch wenn sie aussahen, als würden sie nur schlafen, haftete ihn spürbar der Tod an. Nele sagte: »Hier ist es. Von hier … wurde ich … angezogen.« Zamorra sah sich um. »Wie tief sind wir?« »Das weiß ich nicht.« Sie hatte sich offenbar wirklich nur von ihrem Gefühl, ihrer Intuiti-
on leiten lassen, um hierher zu gelangen. Zamorras Aufmerksamkeit wurde von einem der halb zwischen Wurzeln eingeklemmten Toten angezogen. Er ging zu ihm. »Arsenius«, murmelte er. »Hier hast du also deinen Körper zur Ruhe gebettet, als du dich in das Siegel einreihtest. Dann sind das hier …« Er blickte sich um. »Meine Vorfahren«, sagte eine Stimme in seinem Kopf, und als er neben sich blickte stand dort noch einmal Arsenius, aber durchscheinend wie ein Geist. »Flieht! Dieser Ort ist verdammt! Ihr dürft hier nicht sein! Vor allem …« Er wies zu Nele. »… sie nicht!« »Was ist mit ihr?« »Was mit ihr ist? Ohne sie …« Neles Schrei unterbrach die geistige Verbindung zu Arsenius. Zuerst glaubte Zamorra, sie habe auf Arsenius’ Worte reagiert. Aber entweder sah und hörte sie ihn nicht, oder etwas anderes war so dominant in ihrer Wahrnehmung geworden, dass es alles andere überstrahlte. Zamorra sah sie vor einem der anderen, von der Kraft der Wurzeln verschobenen und halb umgekippten Steinsärge stehen. Sie zitterte am ganzen Leib. Hatte sie Nikolaus gefunden? Zamorra ließ Arsenius stehen und eilte zu ihr. »Nele!« Ein Blick über ihre Schulter zeigte ihm einen Toten, der nicht aussah wie ein Jüngling, für den die Zeit aufgehört hatte, seinen Körper zu verändern, noch bevor er zwanzig geworden war. Der Mann, auf den Nele so heftig reagierte, war vielleicht vierzig Jahre alt. Als Zamorra die Hände auf Neles Schulter legte, fuhr sie herum und sah ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an. »Das … ist er«, wisperte sie. Glaubte sie doch, Nikolaus in dem Toten wiederzuerkennen? Ihre nächsten Worte brachten Klarheit. »Das ist mein geliebter Sohn, den ich für immer verloren glaubte.«
Und aus dem Hintergrund, wo die Geister derer, die hier lagen, rumorten, seufzte eine Stimme mindestens ebenso ergriffen: »Mutter …!«
* Für einen Moment war Zamorra sprachlos. Dann legte er seine Hand auf Neles Schulter und sagte: »Du bist die Begründerin der Hall-Linie! Die Mutter des Ersten, der es sich einst zur Aufgabe machte, London zu schützen – gegen eine Macht, die hier irgendwo in der Tiefe ihren Sitz hat?« »Ich wusste es selbst nicht …« Das kaufte er ihr ab. »Dann haben sie dir möglicherweise die Vision des sterbenden London geschickt«, fuhr Zamorra fort. Er blickte sich nach Arsenius’ Geist um. »War es so?« »Wenn, dann unbewusst«, sagte der Geist, der nahte. »Aber auch uns wurde eine Vision zuteil – sie kam von diesem … Ding hier.« Er zeigte mit halbtransparentem Arm auf die mächtigen Wurzelausläufer. »Offenbar ist sie identisch mit der von … ihr.« Er wandte sich Nele zu, die ihn unendlich zu faszinieren schien. »Wenn sie das Schicksal der Stadt zeigt …« »Was ist hier passiert?«, fragte Zamorra, der sich von Minute zu Minute ohnmächtiger – und ausgelieferter fühlte. Gehörten diese Wurzeln zu dem Baumgiganten, der sich über London erhob? Dann waren sie hier in immenser Gefahr. Ein anderer Geist, der Ähnlichkeit mit dem Toten hatte, vor dem Nele stand – offenbar ihr verlorener Sohn –, schob sich an Arsenius vorbei und wisperte: »Wir wissen es nicht. Nicht genau. Nur dass wir versagt haben. Die Stadt ist schutzlos ausgeliefert. Wir konnten uns gerade noch hierher zurückziehen, als der Einschlag erfolgte. Nur noch in dieser winzigen Enklave gelingt es uns, das Böse fernzuhalten. Trotzdem wütete
es auch hier und nahm sich …« Er zeigte auf die Wurzeln. »… Vaters Geschenk. Machte es sich zu eigen. Ließ es wachsen und wachsen.« »Der Baum«, sagte Zamorra. »Du redest von dem Baum?« »Vaters Geschenk«, keuchte Nele wie elektrisiert. »Ich rede von … der Frucht, die er mir daließ … als er ging.« Nele wankte einen Schritt auf den Geist ihres Sohnes zu. »Nikolaus war hier? Er fand dich damals?« »Er fand mich«, bestätigte ihr Sohn, »als ich meine Bestimmung bereits angenommen hatte. Er wollte mir ewiges Leben schenken. Aber wozu hätte ich es noch gebraucht? Ich war schon der, den du jetzt vor dir siehst. Damals glaubte ich, meine Existenz sei ohnehin unangefochten. Und draußen in der Welt hatte ich vor meinem Rückzug schon meinen eigenen Sohn mit einer lieben Frau gezeugt.« »Die Hall-Linie«, bekräftigte Zamorra noch einmal, was für ihn endgültig zur Gewissheit geworden war. Er wandte sich an Aaron: »Was meintest du mit ›Einschlag‹?« »Ich kann es dir nicht sagen. Nur dass wir von einem Moment zum anderen die Veränderung zu spüren bekamen. Das Böse hier erhielt – ich weiß es nicht anders zu beschreiben – Zuwachs. Von ›außen‹. Und dann war es nicht mehr zu halten, nicht mehr einzudämmen. Vaters Geschenk, das er mir daließ, begann zu entarten. Wir versuchten, sein Wachstum zu stoppen, aber es fing sofort an, auch uns auszuzehren. Seitdem sind wir an den Ort des Ursprungs gefesselt.« »Wenn das die Wurzeln des Geisterbaumes – ich nenne ihn so – sind«, sagte Zamorra, »warum greift er uns dann nicht an? Hat er uns nicht bemerkt? Er müsste doch –« »Wir schützen euch, Zamorra. Das sind wir dir schuldig – oder nicht?« Diesmal war es Arsenius, der die Stimme in Zamorras und Neles Geist erhob. »Aber das ist keine Dauerlösung. Ihr müsst gehen! Ihr hättet nie kommen dürfen. Wir sind gescheitert. Das Siegel ist zerbrochen. Diese Stadt – kann nichts mehr retten.« Das glaube ich nicht, dachte Zamorra. Er wollte es nicht glauben!
Dennoch nagten Arsenius’ Worte an seinem Verstand. Er hatte auch nicht für möglich gehalten, dass die Hölle unterging – und genau das war passiert. »Der Ursprung des Baums liegt hier?«, fragte er. »Ja, aber …« »Wo genau? Zeig mir die Stelle! Schnell, Arsenius! Du weißt, wozu ich in der Lage bin! Es wäre unverzeihlich, einfach zu fliehen. Du musst mir zeigen, wo es begann!« Arsenius gehorchte fast widerwillig, halbherzig. Zamorra sah nichts, was einer Frucht geähnelt hätte, dennoch aktivierte er das Amulett und verödete die Stelle. Als sie verpuffte, glaubte er kurz doch noch so etwas wie eine apfelartige Kontur zu sehen, wo gerade knorriges Wurzelwerk verging. »Ich glaube, ich habe es –« Arsenius zeigte keinerlei Erleichterung. »Es hat sich längst verselbstständigt. Geht jetzt, geht! Ihr müsst! Sonst seid ihr ebenso verloren wie wir! Das hier ist unsere letzte Zuflucht – und zugleich unser Kerker!« Zuletzt vereinigten sich die Stimmen sämtlicher Halls zu einem Flehen, das sich vor allem an Nele zu richten schien – die Frau, die das erste der besonderen Kinder zur Welt gebracht hatte.
* »Weißt du, wohin dein Vater wollte – als er wieder ging?« Zamorra beobachtete Nele genau, während sie ihrem nach so langer Zeit wiedergefundenen Sohn die Frage stellte. »Er wirkte wild entschlossen, noch einmal dorthin zurückzukehren, wo er selbst ewige Jugend gefunden hatte.« »Nach Eden?« Nele schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber warum?« »Er wollte es unbedingt wiedergutmachen.« »Was wiedergutmachen?«
»Was er dir angetan hat.« »Er hat mir nichts ›angetan‹!« »Das empfand er offenbar anders.« »Ich verstehe nicht.« »Er wollte nach Eden zurück, um dort etwas zu finden, was …« Der Geist ihres Sohnes zögerte, doch dann sprach er weiter. »… dir deine verlorene Jugend zurückgeben könnte. Er gab sich die Schuld, dich ›zu spät‹, wie er es nannte, aufgespürt zu haben. Und auch mich fand er, wenn man so will, erst, als ich mich von meinem physischen Körper und dessen Bedürfnissen bereits losgesagt hatte.« Der Erste der Halls trat so nah an Nele heran, dass er fast in ihren Körper kroch; offenbar verlieh er seinem Drängen damit noch mehr Nachdruck. »Geht jetzt, bitte! Hier könnt ihr nichts mehr ausrichten – wenn überhaupt noch Rettung möglich ist, dann sucht in sicheren Gefilden nach ihr! Flieht aus der Stadt, solange sie es noch zulässt – und kehrt erst wieder, wenn ihr fest überzeugt seid, etwas gegen das hier«, er zeigte zu den Wurzeln, »tun zu können.«
* Als sie die Unterwelt des Tate verließen, war an der Oberfläche das Chaos noch größer geworden. Der größte Schock stand Zamorra aber noch bevor. Er hielt Ausschau nach Hogarth und fand ihn nach einigem Suchen in einem Gebüsch, unweit der Stelle, wo sie sich voneinander getrennt hatten. Weit schien er nicht gekommen zu sein. Seine Verletzungen erinnerten Zamorra an das Biest im Keller des Tate – dem er nur mit Neles Hilfe entronnen war. Aber obwohl er Unmengen an Blut verloren haben musste, schien noch Leben in ihm zu sein. Als Zamorra neben ihm kniete und es kaum ertragen konnte, den Mann vom Yard sterbend vor sich zu sehen, schlug Hogarth die Augen auf, als hätte er sich den Tod nur noch solange vom Hals halten
wollen, bis Zamorra zurückgekehrt war. »Freund …« Kein Vorwurf, nur Erleichterung lag in seiner Stimme, Erleichterung, es noch »geschafft« zu haben. Zamorra und Nele tauschten Blicke. Auch sie wusste, wie es um ihn stand. »Ganz ruhig«, wandte sich Zamorra an Hogarth. »Das kriegen wir wieder hin. Dein … dein Trenchcoat hat das meiste von dir abgehalten.« Hogarth verzog das Gesicht zu einem blutigen Lächeln. »Danke.« »Wofür?« »Dass du …« Er hustete. Ein Schwall von Blut löste sich aus seinem Mund. »… so überzeugend … lügen … kannst …« Zamorra spürte Neles Hand auf der Schulter. Sie hielt etwas darin. Er wandte ihr das Gesicht zu. »Jetzt nicht«, zischte er. Dann erkannte er, was sie ihm hinhielt. »Ich weiß nicht, ob es … ob es helfen könnte. Aber wenn du willst – versuch es. Ich habe gerade meinen Sohn wiedergefunden. Und so viele Enkel, Urenkel … Du weißt schon. Wenn ich irgendetwas tun kann, um jetzt dir zu helfen … Ihr steht euch nahe, das merke ich. Kannst du … kannst du es öffnen?« Zamorra überlegte nur einen winzigen Moment. Hogarth bäumte sich bereits wieder hustend vor ihm auf. Zamorra aktivierte das Amulett … und löste mittels Magie vorsichtig die Bernsteinkapsel um die Kerne herum, die darin verwahrt wurden. »Gib sie ihm …« Das tat er. Er legte sie Hogarth in den Mund, zwischen Blut, das ihn zu ersticken drohte. Und dann traute er seinen Augen nicht. Die Kerne der Eden-Frucht töteten Hogarth auf der Stelle.
*
»Ich habe ihn umgebracht.« »Er wäre ohnehin gestorben – aber … es tut mir leid. Ich wollte nur … helfen«, sagte Nele. Zamorra löste die Finger von der Halsschlagader des Freundes. Er hatte keinen Puls mehr gefühlt. Müde richtete er sich auf, blickte hinauf zur Krone des pervertierten Gewächses, das offenbar aus dem hervorgegangen war, was Nikolaus in den Katakomben zurückgelassen hatte. Was die Halls mit »Einschlag« gemeint hatten, war ihnen selbst nicht möglich gewesen zu verstehen – aber irgendetwas war von außerhalb gekommen und hatte das Böse unter dem Tate von einem Moment zum anderen in seiner schlummernden Macht potenziert. »Zamorra!« Er blickte zu Nele Großkreutz, die wild mit den Armen zu fuchteln begonnen hatte. »Da!« Sie zeigte zum Boden. Dorthin, wo Hogarth plötzlich nicht mehr blutüberströmt lag, sondern so, als hätte ihn jemand komplett gesäubert. Wo war das Blut hingekommen – und wo waren seine Verletzungen? Er hatte keine Schramme mehr. Nur die Kleidung war unverändert zerfetzt. »Wie …« Zamorra war schon wieder unten. »Hast du gesehen, wie das passierte?«, fragte er Nele, während er seine Fingerkuppen erneut auf Hogarths Hals legte. »Nein«, sagte die alte Frau. »Ich hatte ihn nur kurz aus den Augen verloren, dann war er schon so!« »Puls!« Zamorra konnte es nicht fassen. Da schlug der Freund auch schon die Augen auf, und wenig später stand er neben Zamorra und Nele Großkreutz, schüttelte sich
und fragte: »Was ist passiert? Irgendetwas kam über mich …« »Später! Wir müssen hier weg!« »Weg?« »Das erklären wir dir unterwegs – komm schon!« Benommen ließ Hogarth sich mitreißen. Zu einem in der Nähe stehenden, herrenlosen Polizeiwagen, in dem sogar noch die Schlüssel steckten. Weit kamen sie damit nicht. Am Ende blieb ihnen nur die Flucht zu Fuß. Es dauerte Stunden, bis sie aus der Stadt heraus waren. Eine Stadt, die unaufhaltsam dem Untergang entgegen torkelte.
* »Geht jetzt, geht! Ihr müsst! Sonst seid ihr ebenso verloren wie wir! Das hier ist unsere letzte Zuflucht – und zugleich unser Kerker!« Die Worte von Arsenius und all den anderen Hall-Geistern verfolgten die Fliehenden noch über die Grenze der Stadt hinaus – und auf ihrem ganzen langen Weg nach Frankreich, ins Château. Nur Neles Gabe war es zu verdanken, dass sie London überhaupt noch hinter sich bringen konnten. Das erfuhren sie aber in aller Deutlichkeit erst im Schloss, wo Nicole aber erst einmal ihrer Erleichterung Ausdruck verlieh. »Gott sei Dank!«, empfing sie Zamorra. »Ich bin nicht sicher, ob er ihn verdient hat«, erwiderte Zamorra. »Wer, Gott? Meinen Dank?« Sie machte große Augen. Doch dann nickte sie. »Du hast recht. Ihr habt es sicher mitbekommen – lange genug wart ihr ja unterwegs.« Ihr Blick ging zu dem zweiten Mann des Trios. »Paul! Du hast Paul mitgebracht!« Sie begrüßten einander. Aber Hogarth war immer noch nicht wieder der Alte. Er wirkte geistesabwesend, als stünde er völlig neben sich. Bevor sie mit einem Mietwagen durch den Eurotunnel gefahren
waren, hatte Zamorra zum ersten Mal wieder mit Nicole telefonieren können. Auf der britischen Insel herrschte ein Chaos, das jeder Beschreibung spottete. Aber wann in der Geschichte war es auch schon einmal vorgekommen, dass eine Millionenstadt komplett von der Landkarte verschwunden war – oder genauer gesagt: sich jeglichem Zugang entzogen hatte? »Ich habe das Wichtigste für euch aufgezeichnet«, sagte Nicole. »Wollt ihr es sehen – oder euch erst einmal ausruhen?« »Schlafen kann ich noch genug, wenn ich tot bin«, sagte Nele. »Falls das jemals geschieht.« Nicole schwieg dazu. Sie schien noch nicht genau zu wissen, wie sie mit Nele umgehen sollte. »Ja, zeig«, antwortete Zamorra. »Wir sind nonstop unterwegs gewesen. Und das Wenige, das aus dem Radio zu erfahren war … Wie sieht es aktuell in London aus?« »Das weiß niemand. Aber sieh dir die Bilder an. Ich habe die ergiebigsten Sondersendungen ausgewertet.« Sie gingen in Zamorras Arbeitszimmer, das einem Hightech-Studio ähnelte. Nicole startete die Aufzeichnungen. Fast kommentarlos sahen Zamorra und Nele Großkreutz sich die Luftaufnahmen an, die zeigten, wie London sich im Schatten des nun kilometerhohen Baumes immer mehr in eine für ihre Bewohner lebensfeindliche Wildnis verwandelte. Nele schien ihre Vision wiederzuerkennen. Nur den Baum hatte sie nicht erwähnt gehabt. Militärfahrzeuge patrouillierten durch die Straßen der Stadt, versuchten die Ordnung wiederherzustellen. Gleichzeitig versuchten Menschen, das Urwalddickicht zu roden, was aber keinerlei bleibenden Erfolg hatte. Der Asphalt war vielerorts aufgeplatzt. Es war abzusehen, wann kein Fahrzeug mehr unter diesen Bedingungen vor-
ankommen würde. Nach langen Minuten deprimierender Szenen sagte Nicole: »Achtung, gleich geschieht es.« Und dann passierte es auch schon. Der gewaltige Baum, der als Schössling im Keller des Tate begonnen hatte, begann zu verschwimmen, unscharf zu werden … … und mit ihm die Stadt darunter. Sekunden später war beides verschwunden. Baum und Stadt. Etwas, das wie eine in seiner Dichte so noch nie erlebte Nebelbank aussah, nahm den Platz ein, wo bis eben noch Häuser und Menschen zu sehen gewesen war. »Wann – ist das geschehen?«, fragte Zamorra bleich. »Etwa eine Stunde vor eurer Ankunft.« »Das ist ein Trick, oder?«, fragte Nele. »London kann nicht einfach verschwunden sein. Nicht mit allem, was mir lieb und teuer ist …«
Epilog Auch Tage später war die Lage unverändert. Und doch schien der Rest der Welt ganz langsam wieder zu einer nicht für möglich gehaltenen Normalität zurückzufinden. Paul Hogarth hatte sich einigermaßen auf dem Schloss eingelebt, aber für ihn war der Verlust der Heimat am schwersten zu verkraften. Nele kümmerte sich viel um ihn. Und offenbar schmiedeten sie schon gemeinsame Pläne, denn eines Tages überraschten sie Zamorra mit der Ankündigung: »Wir werden demnächst fortgehen.« »Fortgehen? Das halte ich für keine –« »Das Tagesgeschäft wird dich bald wieder einholen, Freund«, unterbrach ihn Hogarth. »Und ich glaube auch nicht, dass es mit London abgetan ist. Es rumort sicher noch an anderen Orten der Welt. Nele und ich sind fest entschlossen, auf eigene Weise zu versuchen, das Unheil in seine Schranken zu verweisen. Aber dazu müssen wir verreisen.« »Wohin?« »Dorthin, wohin vermutlich auch Nikolaus damals ging.« Zamorra schüttelte ungläubig den Kopf. Doch dann nickte er. »Ihr wollt es wirklich tun«, sagte er. »Nun, meinen Segen habt ihr – vielleicht hilft es uns ja tatsächlich weiter. Findet Eden – und meinetwegen eine Wunderwaffe gegen das, was London verschlungen hat! Aber lasst mich vorher noch etwas gegen Neles Fluch unternehmen, der euch überall nur Probleme bereiten würde – und all denen, die um euch sind. Ich wälze meine Bücher und sichte mein Arsenal. Gegen alles ist ein Kraut gewachsen, ich bin zuversichtlich!« Hoffnung machte sich auf den Gesichtern der beiden breit. Sie nickten und verschwanden in die Bibliothek, um sich auf ihre Reise vorzubereiten. Zamorra wandte sich zu Nicole. »Ich frage mich immer noch, wie es dazu hat kommen können. London verschwunden!«
Nicole starrte neben ihm zum Fenster hinaus und umklammerte ihren Kaffeebecher. »Und ich frage mich, ob das etwas mit dem Untergang der Hölle zu tun hat«, murmelte sie dann. »Du glaubst, das Böse unter der Tate Gallery ist deshalb so massiv ausgebrochen, weil es keine Hölle mehr gab?« Zamorra dachte nach. Er war den Kampf gegen das Böse so gewohnt, dass er sich noch nicht daran gewöhnt hatte, dass es den »großen Gegner« gar nicht mehr gab. Nicole zögerte. »Merlins Tod scheint das Universum wesentlich stärker erschüttert zu haben, als wir dachten.« »Merlins Tod?« Für einen Moment war Zamorra verwirrt. »Die Waage zwischen Gut und Böse«, erklärte Nicole. »Seit Merlins Tod scheint sie mir aus dem Gleichgewicht geraten. Asmodis wurde an seiner Stelle bisher den Aufgaben nicht gerecht – und jetzt ist die Hölle untergegangen. LUZIFER vernichtet. Das Gute hat Übergewicht.« »Und du meinst, es hat sich unter London ausbreiten können, weil niemand eingegriffen hat. Weder auf der Seite der Hölle, wie es ein starker Fürst der Finsternis hätte tun können, noch ein Diener des Wächters der Schicksalswaage.« Zamorra nickte langsam. »Irgendwie scheint das plausibel.« »Und jetzt ist eine ganze Stadt verschwunden. Eine Weltstadt! Wir werden etwas unternehmen müssen.« Sie seufzte. »Als ob wir nicht schon genug auf der Agenda hätten! Ein wildgewordener Tan Morano, Ted auf Maiisaros Planeten, die kleinen Kämpfe hier und da …« Zamorra lächelte schief. »Da ist die Hölle schon einmal untergegangen und wir haben mehr Arbeit als vorher.« Nicole beugte sich vor und küsste Zamorra auf die Nasenspitze. »Ich kann gar nicht genug betonen, wie gut es ist, dass ich wieder hier bin«, sagte sie dann und lächelte. »Sieht so aus, als würdest du mich in nächster Zeit brauchen.« ENDE
Blutiger Dschungel von Volker Krämer Artimus van Zant hat dem Team um Zamorra und der Dämonenjägerei den Rücken gekehrt. Denkt er! Er will sich nur seiner inneren Berufung widmen – Kindern zu helfen. Die Arbeit führt den Ingenieur von Tendyke Industries nach Kolumbien und was er dort entdeckt, glaubt er schon lange hinter sich gelassen zu haben …