IRENE KORDT
Das kleine Paradies
FRANZ SCHNEIDER VERLAG
War dies bezaubernde Land das erhoffte Paradies?
Inhalt
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IRENE KORDT
Das kleine Paradies
FRANZ SCHNEIDER VERLAG
War dies bezaubernde Land das erhoffte Paradies?
Inhalt
Ein Ferienhaus in der Provence ...........................
6
Was ist das Paradies? ..........................................
17
Nizza ....................................................................
25
Eine Freundschaft wird geschlossen ...................
34
Fremd und doch vertraut .....................................
44
Pierre van Rijk .....................................................
56
Das Paradies ist kein Schlaraffenland .................
67
Warum haßt mich Madame Tirande? ..................
76
Auch Feinde sind Menschen ...............................
85
Pierre und die Burg bei Nacht .............................
93
Wie läßt sich Unrecht wiedergutmachen? ........... 102 Auch Win ist anders ............................................ 111 Dies ist das Paradies! ........................................... 121
Ein Ferienhaus in der Provence Als das Auto, von Cannes kommend, das Schild »Nizza 30 km« passiert hatte, begann Thomas Sahlmann aufgeregt mit dem Finger auf der Landkarte herumzusuchen. »Kennst du dich aus?« fragte sein Vater, der den Wagen lenkte. »Irgendwo muß jetzt die Straße nach links abbiegen«, murmelte Thomas. »Irgendwo ist gut«, sagte seine Schwester Margret, die hinter ihm saß, und beugte sich vor. Ihr Haar berührte dabei Thomas' linke Wange. Er drehte das Gesicht ab und kratzte sich nachdrücklich und auffällig. »Ich kann schließlich nichts dafür, daß du den Weg nicht findest«, sagte Margret ungerührt. Sie beugte 6
sich noch weiter vor. Nach einer Weile rief sie laut: »Hier ist es!« Sie deutete auf einen Wegweiser mit der Aufschrift: »Cagnes, 20 km.« Er zeigte landeinwärts, auf einen steilen Hügel, auf dem ein kleines Städtchen wie eine graue Mütze saß und auf dessen Spitze eine alte, zinnenbewehrte Burg thronte. Frau Sahlmann seufzte ein bißchen erleichtert auf, während ihre Älteste, Renate, in der Handtasche zu kramen begann. »Zwanzig Kilometer, das sind nicht viel mehr als fünfzehn Minuten«, sagte sie und suchte ihren Kamm. Der Weg führte nun schmal, steil und in vielen Windungen bergauf. Schließlich mußte Herr Sahlmann sogar auf den ersten Gang umschalten. »Wenn das noch lange so weitergeht, verbrauchen wir schön viel Benzin!« brummte Thomas. Aber da waren sie schon oben, direkt unter dem Torbogen mit dem Schild »le petit paradis« - das kleine Paradies. Der Wagen ging gerade durch die schmale Einfahrt. Er rollte eine von Rosen umrankte Mauer entlang bergab, glitt um eine Kurve und blieb dann mit zitterndem Motor dicht vor einem niedrigen, langgestreckten Haus stehen. Margret sprang als erste heraus. Sie hüpfte eine Weile von einem ihrer steif gewordenen Beine aufs andere und hielt plötzlich still. Vor der einen Tür des Hauses, vor der ein Fliegengitter in grünem Rahmen 7
lehnte, sonnten sich zwei Hunde; ein deutscher Schäferhund und ein drolliger, kleiner Cairnterrier. Zwischen ihnen lag, ritterlich beschützt, eine rötlich getigerte Katze. Sie blinzelte zu den Zweigen einer Pinie empor, auf deren unterstem Ast eine schöne junge Siamkatze saß. Sie verfolgte aufmerksam das Geflatter der kleinen bunten Vögel in den Zweigen des Baumes, aber ihre blauen Augen waren ohne eine Spur von Begehrlichkeit. »Es ist hier wirklich wie im Paradies!« rief Margret begeistert. Sie merkte gar nicht, daß niemand auf sie hörte. Herr und Frau Sahlmann gingen mit Renate am Haus vorbei den schmalen Gartenweg hinunter, der sich in einem wildnisähnlichen Dickicht von Büschen und Bäumen verlor. Thomas aber steckte bis zu den schlacksigen Beinen im Kofferraum des Autos und polterte geräuschvoll darin herum. Die Hunde drehten die Köpfe zu ihm hin. Margret wollte sich gerade bücken, sie zu streicheln, als Thomas ihr mit brüderlicher Ungalantheit zwei Koffer in die Kniekehlen schob. »Du wartest wohl darauf, daß paradiesische Geister aus der Luft herniederflattern und dir dein Gepäck an Ort und Stelle schaffen«, knurrte er. Der rauhe Ton riß sie jäh in die Wirklichkeit zurück. Sie warf Thomas einen vernichtenden Blick zu. Jünglinge, insbesondere Brüder, hatten eben keine Spur von Sinn für Romantik! Ihr Verständnis pflegte 8
über Auto- und Flugzeugtypen nicht hinauszugehen! Margret seufzte, nahm aber doch die Koffer in ihre beiden Hände. »Wohin soll ich sie denn schaffen?« fragte sie. Thomas antwortete nicht. Er kramte eben das kleine Gepäck hinter den Rücksitzen hervor. Ratlos ging Margret die weißgetünchte Hausmauer entlang. Gleich neben der schmalen Tür, vor der die drei Tiere lagen, hing ein Briefkasten. Etwa zwei Meter daneben lief ein dunkler Streifen von oben bis unten über die Wand, gleich einer Naht. »Später angebaut«, stellte Margret sachlich fest. Sie schlenderte, noch immer die beiden Koffer schleppend, weiter. Der Schäferhund war nun aufgestanden. Mit aufmerksam gespitzten Ohren verfolgte er jeden ihrer Schritte. Weitere zwei Meter neben dem dunklen Streifen war eine zweite Tür. Sie war ganz aus Glas; aber auch hinter ihr lehnte ein Fliegengitter und verwehrte die Sicht. Margret versuchte, durch das große, blumengeschmückte Fenster einen Blick in das Innere der Räume zu werfen. Sie beugte sich vor. Aber der Hund, der sie keinen Augenblick aus den Augen gelassen hatte, stellte sich knurrend davor. Ärgerlich ließ Margret die Koffer auf die Kieselsteine niederfallen. »Das ist ja das reinste Dornröschenschloß!« brummte sie. In diesem Augenblick hörte sie Stimmen. An der Hausecke tauchten Herr und Frau Sahlmann 9
auf. Vor ihnen her ging eine dunkelhaarige, zierliche Frau. Sie hatte einen weißen Strandanzug an, eine große Sonnenbrille auf der schmalen Nase und an den Füßen eine Winzigkeit bunter Sandalen. Hier kann man ja zu Ostern schon herumlaufen wie bei uns zu Hause im Hochsommer, dachte Margret erstaunt. Sie wechselte einen Blick mit Renate, die hinter der Fremden stand und sie wohlgefällig musterte. »Dies, Frau van Rijk, ist meine jüngste Tochter Margret«, sagte Herr Sahlmann, »und dies mein Sohn Thomas.« Frau van Rijk lächelte. Sie gab jedem der beiden die Hand. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier bei uns«, sagte sie in tadellosem Deutsch. Margret stellte befriedigt das »Sie« fest. Sie nickte begeistert. Zufällig streifte ihr Blick in diesem Augenblick Thomas, der mit hochrotem Kopf und sichtlich geschwellter Brust dastand. Er bildet sich doch wohl nicht ein, mit seinen lächerlichen fünfzehn Jahren als Erwachsener angesprochen zu werden? dachte Margret; sie vergaß ganz, daß sie selbst nur ein knappes Jahr älter war. Frau van Rijk hatte inzwischen die Tür des Anbaues geöffnet. Als erste spazierte, wie selbstverständlich, die rote Katze hinein. »Petite ist neugierig wie ein kleines Kind«, sagte Frau van Rijk lächelnd. Renate verzog unwillig das Gesicht. Sie hatte eine geradezu krankhafte Abneigung gegen Katzen. Sie 10
wollte etwas sagen, aber dann vergaß sie es vor Überraschung. Der Raum, in dem sie standen, wirkte auf eine seltsame Art bezaubernd, trotz seiner geradezu verblüffenden Schlichtheit. Vor dem Schrank, der die ganze Wand hinter der Tür einnahm, hing ein Vorhang in leuchtendem, purpurnem Rot. Seine Farbe spiegelte sich in den blanken Fliesen des Fußbodens und züngelte wie Flämmchen über den hellen Marmor des Kamins gegenüber. Er war in die Ecke eingebaut und auf seinem Sims stand eine riesige Vase mit blühendem Ginster. Lautlos, gleich goldenen Tränen, tropften seine Blüten auf die Erde nieder. Neben dem Kamin, vor dem Fenster, stand ein Tisch mit zwei bequemen Sesseln davor. Gegenüber waren die Betten wie in der Kajüte eines Schiffes übereinandergestellt. Türkis- und erdbeerfarbene Decken lagen darüber. »Hübsch ist das!« sagte Margret. Frau van Rijk drehte sich zu ihr um. »In diesem Raum werden wohl die beiden jungen Damen schlafen.« Margret warf Thomas einen triumphierenden Blick zu. Jetzt bestand ja wohl kein Zweifel mehr darüber, wer mit dem »Sie« gemeint war. Aber Thomas ging bereits dicht hinter Frau van Rijk her durch die nächste Tür, die aus dem Zimmer hinaus in einen kleinen Flur führte. »Hier links ist das Bad, rechts ein kleiner Raum mit einem einzelnen Bett«, erklärte Frau van Rijk. 11
Bevor noch alle dazugekommen waren, den Kopf in den winzigen Raum zu stecken, hatte Thomas bereits besitzergreifend seinen Koffer mitten hineingestellt. Frau Sahlmann betrachtete prüfend den großen Schrank und den Gasboiler auf dem Flur, als Frau van Rijk die vierte Tür öffnete. »Wohnzimmer - Schlafzimmer - Küche«, sagte sie lächelnd. Dabei deutete sie zuerst auf den runden Tisch in der Mitte mit geblümter Decke und einem Rosenstrauß darauf, dann auf die Ecke, in der ein riesiges flaches Bett unter einer Wolldecke stand, dann auf die andere Ecke, die mit Spültisch, Regalen und Gaskocher einer Art Teeküche glich. Thomas warf sich quer über das fast quadratische Bett. »Ein richtiges Familiensofa ist das«, sagte er lachend. Er blinzelte im Licht der Sonnenstrahlen, die durch die beiden Fenster über ihn herfielen. Währenddessen ging Renate auf die Tür zu, die von diesem Raum ins Freie führte. »Hier geht es zur Terrasse«, sagte Frau van Rijk, »sie steht ganz zu Ihrer Verfügung.« Sie neigte den Kopf, lächelte auf eine unnachahmlich liebenswürdige Art und stieg die Verandastufen hinunter. Renate schaute bewundernd hinter ihr her. »Es scheint sich nicht schlecht zu leben im Paradies«, sagte sie. »Nun, dafür ist sie auch die Herrin hier; Eva sozu12
sagen. Ich ließe mir jedenfalls gern jeden Tag einen Apfel von ihr schenken!« Thomas grinste. Renate achtete nicht auf ihn; sie probierte sachverständig jeden der fünf Liegestühle aus. Als sie den besten gefunden hatte, lehnte sie sich behaglich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute aufmerksam um sich. Die Veranda war auf der einen Seite, zum Garten hin, von einem niedrigen Steinmäuerchen eingefaßt, auf dem Riesensteintöpfe mit Geranien standen. Die drei anderen Seiten wurden von den Mauern des Hauses umschlossen. Sämtliche Fenster reichten beinahe bis zum Boden. Renate begann sie zu zählen. »Es scheint eine große Familie zu sein, den Räumen nach zu schließen«, sagte sie halblaut zu Margret. »Von wem sprichst du denn?« Margret stand auf der Türschwelle und liebkoste zärtlich die rote Katze auf ihrem Arm. »Von den van Rijks natürlich«, antwortete Renate ungeduldig. Sie schaute dabei beharrlich an Petite vorbei. »Wohnen sie hier, in unserem Haus?« fragte Margret zerstreut. »Nicht sie wohnen in unserem, sondern wir in dem ihren«, berichtigte Renate in dem belehrenden Ton, den sie zuweilen der um vier Jahre jüngeren Schwester gegenüber anschlug. 13
Margret lachte. Dann drehte sie sich um und ging zusammen mit Petite ins Haus zurück. Frau Sahlmann war gerade dabei, den Inhalt eines großen Koffers in den Schrank am Gang zu verstauen. »Wollt ihr beide denn nicht auch anfangen, auszupacken?« fragte sie. Sie selbst war längst damit fertig, als Renate und Margret immer noch vor ihren Betten standen und berieten, wer oben und wer unten schlafen sollte. »Bedenke doch, wie praktisch das ist, unten zu liegen: man braucht nicht auf und ab zu klettern, kann nicht herausfallen und hat obendrein den Lichtschalter direkt vor der Nase!« Margret zählte die Vorzüge des unteren Bettes so eindringlich auf, daß kein Zweifel darüber bestehen konnte, daß sie selbst lieber das obere gehabt hätte. Renate hatte sie zwar längst durchschaut, überlegte aber immer wieder von neuem, was weniger unangenehm wäre: zweimal am Tag wie ein Affe den Bettpfosten entlang zu klettern oder ständig sozusagen mit einem lebendigen Dach über dem Kopf zu schlafen. Schließlich siegte ihr angeborener Hang zur Bequemlichkeit. »Gut«, entschied sie, »du kannst oben liegen!« Dann machte sie sich daran, ihre Kleider auszupakken. Sie hatte nur die besten mitgenommen und zu Hause allen Einwänden ihrer Mutter entgegengehalten: »Schließlich ist Nizza nur fünf Kilometer entfernt!« 14
Einmal hatte Thomas mit dem unverschämtesten Grinsen, das ihm zu Gebote stand, gesagt: »Am Ende wirst du dort für den Film entdeckt!« Zu seiner Verblüffung hatte Renate geantwortet: »Wer weiß?« Wer weiß? dachte sie auch jetzt, als sie ihr neues Tanzkleid über den Bügel streifte und in den Schrank hängte. Margret dagegen stopfte, unordentlich wie immer, ihre Sachen in die hinterste Ecke und schob den Vorhang vor. »Fertig?« fragte Herr Sahlmann vom Eingang her. Er und Thomas hatten sich vor all der Unordnung nach draußen geflüchtet. »Fertig!« antworteten Renate und Margret wie aus einem Munde. »Gut«, sagte Herr Sahlmann, »dann wollen wir uns noch ein bißchen im Paradies umsehen, bevor es dunkel wird.« Der Garten zog sich einen weiten sanften Abhang hinunter. Sie gingen hintereinanderher einen schmalen Weg entlang, der von Agaven, Kakteen und Ginster gesäumt wurde. Unerwartet tauchte an jeder seiner Krümmungen ein niedriges, weißes Häuschen auf. Gruppen dichter Pinien hielten schützend ihre Zweige davor. Auf den Balkonen baumelten bunte Wäschestücke und aus den offenen Fenstern scholl helles Kinderlachen. »Wir scheinen nicht die einzigen Gäste hier zu sein«, sagte Herr Sahlmann. »Aber wir werden uns gegenseitig nicht stören«, 15
setzte seine Frau zufrieden hinzu. Sie schaute über die große Wiese hin bis zur Straße, die weit unten am Ende des Gartens vorüberführte und über die unhörbar, gleich emsigen Ameisen, die Autos hin und her eilten. Weder ihr Lärm noch ihr Staub konnten die große Entfernung durchdringen. »Es wird eine wunderbar ruhige Zeit werden hier!« Margret zog die kleine, von drei Sommersprossen verzierte Stupsnase hoch. Ruhige Zeiten waren ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack!
16
Was ist das Paradies? »Seht doch, die Burg!« rief Thomas, als die ganze Familie am nächsten Morgen aufbrach, um das Städtchen und seine nähere Umgebung zu erkunden. Sie standen am Wegrand, ein paar Meter vom Eingang zum kleinen Paradies entfernt. Der dichte Laubwald, der die Straße an ihrer rechten Seite säumte, lichtete sich hier zu einer schmalen Öffnung: Zwischen den Baumstämmen erschien, von ihnen eingerahmt wie ein Bild, die Burg mit ihren mächtigen Mauern, eckigen Türmen und trotzigen Zinnen. Sie ragte von der Spitze des Hügels aus hoch in den tiefblauen Himmel. Zu ihren Füßen drängten sich die grauen Dächer des Städtchens eng aneinander, gleich einer Herde ängstlicher Lämmer. »Eine richtige, alte Ritterburg ist das!« rief Margret begeistert. Ihre Augen strahlten. »Ob man wohl hineingehen darf?« »Wir wollen es versuchen«, sagte Herr Sahlmann. Die Straße führte gerade und sehr steil bergab. Über die Gartenmauern an ihrer linken Seite quollen Rosen in dichten Büscheln und zwischen den Ritzen der Steine drängten sich Mauerpfeffer und Thymian. Wo der Wald endete, stand ein schmales Haus aus roten Backsteinen, kaum sichtbar unter den dichten Zweigen eines Pfefferstrauches. Hier mündete die Straße in einen kleinen Platz, an dem die Wege sich kreuzten; der eine führte bergauf zur Burg, der andere 17
bergab in die Neustadt und zum Strand, der dritte fast eben an dem alten Haus vorbei zum Friedhof. »Erst klettert man mühsam hinunter, dann klettert man ebenso mühsam wieder hinauf«, seufzte Frau Sahlmann. »Dabei spürt man jeden Stein unter den Füßen!« pflichtete Renate ihr bei. Die beiden trugen dünnsohlige Sandalen mit hohen Absätzen. »Wir hätten mit dem Wagen fahren sollen, Vater«, meinte auch Margret. Aber Herr Sahlmann wies auf die Verkehrsschilder an jeder Ecke, die die Autos zwangen, zu parken oder zu wenden. »Wir kämen nicht weiter als bis hierher«, sagte er. Thomas blieb stehen. Ein Straßenkreuzer kam heraufgekrochen, wollte wenden und konnte es nicht. Seine Vorderräder standen in einem der engen Gäßchen, die Hinterräder im anderen. Hinter ihm stauten sich Fußgänger, Eselskarren und eine Reihe von Autos, die sich hupend zu einer Kette reihten. »Seht ihr«, triumphierte Thomas, »wie gut, daß wir nicht gefahren sind!« Er lief voran, dem Aufgang zur Burg entgegen. »Weißt du, wem sie gehört, Vater?« fragte Margret. »Jetzt gehört sie der Stadt Cagnes-sur-Mer, früher den Grimaldis.« »Denen von Monaco?« »Ihren Vorfahren, ja.« Margret stieß Renate an. »Hast du gehört? Am 18
Ende haben Fürstin Gracia und Fürst Rainier schon mal hier gewohnt!« Renate hob gleichgültig die Schultern. Wer auch hier gewohnt haben mochte, es war und blieb doch eine finstere, alte, modrige Burg! Beinahe widerwillig ging sie hinter den anderen her durch die geöffnete Tür. Aber dann blieb auch sie überrascht an der Schwelle stehen. Da war, inmitten der düsteren Mauern, ein lichtdurchfluteter Vorhof. Dichtes Blattwerk rankte an den Wänden und sein zitternder, grüner Schatten tanzte über die Steine. Darüber floß das Sonnenlicht wie ein sprudelnder, goldener Bach. Eine breite steinerne Treppe führte von der Mitte dieses Vorhofes zu den säulengeschmückten Galerien der oberen Stockwerke. Mit einem Jubelruf lief Margret hinauf. Sie steckte den Kopf weit durch eines der Fenster. Draußen staffelten sich, Dach an Dach, die sonnenüberfluteten Häuser von Cagnes. Hinter ihnen, weit unterhalb des Hügels, lag glänzend und silberblau das Meer. »Kommt herauf«, rief Margret, »kommt schnell herauf!« Sie winkte mit der Hand. Aber als sie, sich umwendend, das Treppengeländer hinunterschaute, blieb ihre erhobene Hand wie leblos in der Luft hängen. Unten, neben der Säule, die die Galerie stützte, stand ein Mann in dunkelblauer, 19
goldbetreßter Uniform. Seine Schirmmütze beschattete ein schmales, bärtiges Gesicht. Dieses Gesicht war Margret starr zugewandt und der Blick seiner überraschend hellen Augen hielt die ihren mit einem forschenden, fast erschreckten Ausdruck fest. Warum sieht er mich so an, dachte Margret beklommen, warum sieht er mich bloß so an? »Was hast du denn entdeckt?« fragte Thomas und setzte, indem er ihrem Blick folgte, hinzu: »Der sieht aus wie ein Schiffskapitän, was?« Margret antwortete nicht. Sie war noch immer nicht fähig, sich zu bewegen. Da wandte sich die blaue Gestalt unten ab. Neue Besucher waren eingetreten. Der Kastellan ging ihnen entgegen. Die goldenen Knöpfe seiner Uniform leuchteten noch einmal in der Sonne auf, ehe sie im Schatten der Galerie verschwanden. Inzwischen war auch Herr Sahlmann die Treppen heraufgekommen. »Hast du das Schloßgespenst gesehen?« neckte er. Mit einer ruckartigen Bewegung schüttelte Margret die Beklemmung von sich ab. »Gibt es eines hier?« fragte sie, schon wieder lachend. Sie hing sich an den Arm des Vaters, während sie die Galerie entlanggingen. »Warum soll es keines geben? Ein Schloß mit so viel Vergangenheit hat selbstverständlich auch sein Gespenst.« »Erzähl doch, Vater!« drängte Margret. 20
»Ich vermute, es hat sich da oben eingenistet«, sagte Herr Sahlmann mit übertrieben gedämpfter Stimme; »da oben, im zweiten Stockwerk, lagen nämlich die Wohnräume der Grimaldis.« »Wann war das?« »Von etwa 1309 bis zur Revolution von 1790.« »Und jetzt? Was ist jetzt da oben?« fragte Thomas dazwischen. »Ein Museum für moderne Kunst am Mittelmeer.« Margret schüttelte ärgerlich den Kopf. Daß Thomas mit seinen nüchternen Fragen doch immer alles zerstören mußte! Mit einem raschen Schritt stellte sie sich zwischen ihn und den Vater. Aber Thomas ließ sich nicht beirren. »Gehen wir doch 'rauf!« rief er. Als nun auch noch Frau Sahlmann beipflichtete, ließ Margret jäh den Arm des Vaters los. Jetzt bekomme ich die Geschichte der Grimaldis ja doch nicht mehr erzählt! dachte sie enttäuscht. In diesem Augenblick faßte Renate nach ihrer Hand. »Komm«, flüsterte sie, »unten gibt es Musik! Was hast du schon von diesen alten, muffigen Mauern, und den Grimaldis, die längst tot sind?« Sie konnte nicht einsehen, warum man sich mit dem Schicksal früherer Geschlechter befassen sollte, solange man das eigene noch vor sich hatte! Sie zog Margret hinter sich her, die Treppen hinunter, hinaus auf den weiten, von Platanen beschatteten Schloß21
platz. »Dort spielen sie«, sagte sie und deutete auf eine Tür in der Ecke des Platzes, über der in goldenen Buchstaben »Restaurant, Bar« stand. »Glaubst du, daß hier getanzt wird?« Margret hob die Schultern. Ihr war es gleichgültig. Sie machte sich nichts aus Tanzen. Sie setzte sich auf das Geländer der Brüstung. Weit unten sah man die Straße nach Vence sich wie ein weißes Band durch die Wälder schlingen. Zu ihrer rechten Seite hoben und senkten sich, gleich den Wellen des Meeres, die grünen Hügel. Dahinter aber ragten, stolz und unnahbar, die schneegekrönten Gipfel der Alpen zum Himmel. »Die Berge«, rief Margret, »man kann von hier aus die Berge sehen!« Sie deutete hinüber. Renate wandte flüchtig den Kopf. Dann neigte sie ihn wieder lauschend zur Seite. »Jetzt spielen sie ›Petite fleur‹, hörst du?« Sie stand auf und ging hinüber. Da kam Thomas angestürmt. »Wo steckt ihr denn? Vater sucht euch schon eine ganze Weile!« Er ging den beiden Mädchen voran bis zu dem von einem Mäuerchen eingefaßten Halbrund vor der Schloßkapelle. Sie schauten hinunter auf das Gewirr der verblichenen grauen Dächer über altersgekrümmten Häusern; auf die engen Gäßchen, aus denen die mannigfaltigen, schweren Dünste eines südlichen Küstenortes stiegen, 22
auf die Schar Kinder, die kreischend und schreiend über viele wackelige Steinstufen sprangen, auf die dunklen Torbogen, um die lautlose Katzen und magere Hunde huschten. Unterhalb des Hügels, da, wo seine Ausläufer sich sanft dem Meer entgegensenkten, begann der neue Teil des Städtchens. Er zog sich mit seinen roten Dächern und bunten Fassaden bis zum Strand hin, wo moderne Hochbauten weit in den Hintergrund des blauen Meeres ragten. »Nun«, sagte Herr Sahlmann, »wie gefällt es euch, das Paradies?« »Es ist schön«, antwortete seine Frau, »es ist wunderschön!« Sie strich mit liebevoller Hand über die zarten Köpfe der Steinnelken, die sich in bunter Fülle zwischen den Ritzen der steinernen Wände hervordrängten. »Und eine Fundgrube für Geschichtsprofessoren, nicht wahr?« Sie schaute lächelnd zu ihm auf. In diesem Augenblick hob Thomas den Arm und deutete aufgeregt auf eine Rauchfahne, die weit draußen am Horizont über dem Wasser schwebte. »Schiffe, Vater, siehst du sie?« Seine Stimme überschlug sich vor Begeisterung. Die beiden Mädchen schwiegen. »Na?« forderte ihr Vater sie schließlich auf. »Ich habe mir das Paradies anders vorgestellt«, sagte Renate und fügte, da eine Erklärung ihr zu mühsam schien, hinzu: »Überall gibt es Katzen, wohin man auch 23
schaut!« Herr Sahlmann lachte. »Es gibt eben nichts Vollkommenes auf der Welt, siehst du, nicht einmal im Paradies!« Dann wandte er sich Margret zu. »Und du«, fragte er, »bist du enttäuscht wie deine Schwester oder zufrieden wie wir?« »Ich weiß nicht, was ich bin«, erwiderte Margret langsam, »ich kenne es noch nicht, das Paradies.« Sie konnte nicht erklären, daß für sie das Paradies nichts Sichtbares, nichts mit den Sinnen Wahrnehmbares bedeutete, sondern einen Zustand, ein Erlebnis, das sie hier erwartete, von dem sie sich aber noch keine rechte Vorstellung machen konnte. »In einer Woche vielleicht«, sagte sie zuversichtlich, »werde ich es dir sagen können!«
24
Nizza Thomas saß mit sorgenvoll gerunzelter Stirn beim gemeinsamen Frühstück auf der Terrasse. Er hatte sich ausgerechnet, daß vierzehn Tage Osterferien eine geradezu lächerlich kurze Zeit waren für all die Abenteuer, die er erleben wollte; zumal, wenn das Tagesprogramm weiterhin so ruhig verlaufen würde wie bisher. Es war höchste Zeit, sich auf eigene Füße zu stellen! »Kann man sich hier eigentlich selbständig machen, ich meine, erlaubst du das, Vater?« fragte er. Herr Sahlmann wischte sich die Brotkrümel mit der Serviette vom Mund und lehnte sich behaglich in seinen Sessel zurück. »Natürlich kannst du das, Thomas«, sagte er dann, »vorausgesetzt, daß du vernünftig genug bist und deine Grenzen kennst.« »Selbstverständlich!« Thomas sagte es in einem Ton, als hätte er noch nie in seinem Leben etwas Unvernünftiges getan. Dann stand er eiligst auf. »Bis Mittag also!« Ehe noch jemand antworten konnte, war er bereits um die Ecke der Veranda verschwunden. »Ich wette, er läuft zum Meer«, sagte Margret. Frau Sahlmann seufzte. »Glaubst du nicht, Alfred, es ist ein bißchen gefährlich für ihn, so allein herumzulaufen?« meinte sie besorgt. Herr Sahlmann suchte nach dem Lesezeichen in seinem Buch. »Einmal«, sagte er ein wenig zerstreut, »muß Thomas es schließlich lernen, auf sich selbst 25
aufzupassen. Außerdem hat jeder von uns seinen Teil zu diesem Urlaub beigetragen, also hat auch jeder das Recht, ihn nach seinem Geschmack zu genießen.« Er hatte das Lesezeichen gefunden. Mit sorgfältiger Hand strich er über die Seiten seines Buches. Jeder in der Familie wußte, daß es ziemlich sinnlos war, jetzt noch ein Wort an ihn zu richten. Stumm begann Frau Sahlmann, den Tisch abzuräumen. Margret half ihr dabei. »Findest du, Mama«, sagte sie, während sie das Geschirr ins Haus trug, »findest du, daß Thomas sich mit seinem Urlaubsbeitrag so besonders angestrengt hat? Seine fünfzig Mark reichen nicht einmal fürs Benzin aus!« »Aber er hat sie sich doch so mühsam zusammengespart, Margret!« »Mühsam, sagst du? Er hatte doch nichts anderes zu tun, als nur dem Parkwächter ein bißchen zu helfen. Es hat ihm sogar einen Riesenspaß gemacht; er hat mir das selbst erzählt!« »Trotzdem wäre er sicherlich in dieser Zeit lieber auf den Sportplatz gegangen.« »Glaubst du, Renate wäre nicht auch lieber ihrem Vergnügen nachgegangen«, entgegnete Margret aufgebracht, »statt während der wohlverdienten Ferien nach dem Abitur kleine Kinder zu hüten? Du mußt doch zugeben, daß Autos sich tausendmal leichter bewachen lassen als Kinder; sie laufen nicht weg, fallen nicht von Stühlen und verderben sich 26
keine Mägen!« »Nun, jeder hat schließlich das Beste auf seinem Gebiet getan«, beschwichtigte Frau Sahlmann. Margret überhörte es. »Daß ich ein ganzes Jahr über wie besessen Französisch gebüffelt habe«, fuhr sie lautstark fort, »davon spricht kein Mensch; dabei sind Vater und ich die einzigen, die sich hier verständigen können. Was würdest du zum Beispiel tun, wenn ich nicht einkaufen ginge?« Sie schwenkte das Einkaufsnetz herausfordernd ein paarmal vor den Augen ihrer Mutter hin und her. Frau Sahlmann lächelte. »Ich wäre hilflos wie ein kleines Kind. Und ich werde heute mittag alle daran erinnern, daß wir jede Mahlzeit im Grunde genommen dir zu verdanken haben.« Margret nickte zufrieden. Stets geriet sie schnell in Zorn, war meist aber auch ebenso schnell wieder versöhnt. Außerdem hatte sie ihre heimliche Freude daran, daß es ihr so gut gelang, sich in den Läden zu verständigen und sie die langen, hellen Weißbrotstangen bereits wie eine richtige Französin zu tragen wußte. »Kommst du mit?« rief sie Renate zu, die vor dem Spiegel stand und wohlgefällig ihr langes, blondes Haar betrachtete. Sie trug es seit neuestem offen und auf der einen Seite tief in die Stirn gekämmt. »Warte noch einen Augenblick!« Sorgfältig zog sie ihre Lippen nach. Endlich war sie soweit. 27
Der Schäferhund Prinz und die Katze Petite lagen vor der Tür in der Sonne. Der Terrier Patty wühlte zwischen den Agaven und die schöne Siamkatze Sao lag auf dem untersten Zweig der großen Pinie nahe dem Haus. Margret tätschelte jedem von ihnen im Vorbeigehen den Kopf. »Deutscher - Schotte Französin - Siamesin - eine ziemlich internationale Gesellschaft, findest du nicht?« sagte sie im Weitergehen. »Gesellschaft ist gut«, brummte Renate. Sie war nicht gerade bester Laune. Aber Margret beachtete es gar nicht. »Mit den Gästen ist es ebenso«, fuhr sie eifrig fort, »es wohnen Italiener, Schweden und Engländer hier.« Renate drehte sich um. »Wie hast du das nur herausgebracht? Ich bin noch keinem einzigen Menschen begegnet in diesem Dornröschengarten!« »Das kommt davon, weil du den größten Teil der Zeit verschläfst«, neckte Margret. Sie gingen dicht hintereinander den Wiesenweg hinunter, der den Bogen der Straße abschnitt. An den Wegrändern wuchsen Aloen und Callas so selbstverständlich wie anderwärts Gänseblümchen und Wiesenschaumkraut. Margret blieb stehen. »Sieh mal, hier!« rief sie. In einem der Gärten stand ein Orangenbaum, über und über mit duftenden weißen Blüten besternt; dazwischen aber leuchteten rund und golden die reifen Früchte. Renate nickte 28
flüchtig. Ihr Blick ging über die Gärten, die Dächer und weinbewachsenen Hügel hinweg bis zum Meer. Da unten, das wußte sie, rollten pausenlos die Autos über die breite Küstenstraße; nach Nizza und Monte Carlo, nach Cannes und St. Tropez. »Ich fahre heute nachmittag nach Nizza«, sagte sie, »kommst du mit?« Margret warf überrascht den Kopf herum. »Wie willst du denn hinkommen?« »Es geht ein Omnibus. Er kommt von Vence. Er hält an der Ecke, genau vor der Bäckerei ›Tirande‹. Es ist gar nicht weit von hier.« Margret vergaß vor Staunen, den Mund zu schließen. »Und wie hast du das herausgebracht?« fragte sie endlich. Renate lächelte nur. »Kommst du mit?« wiederholte sie. »Klar!« Margret pfiff vor sich hin. Nach einer Weile sagte sie: »Glaubst du, Vater wird das erlauben?« Renate warf den Kopf zurück. »Schließlich bin ich bald zwanzig; außerdem - Gleichberechtigung, verstehst du?« Sie lachten beide. Sie freuten sich sehr auf Nizza. Margret malte sich schon aus, wie sie ihren Freundinnen zu Hause erzählen würde: »Einmal waren wir auch in Nizza; wißt ihr, das ist da, wo Romy Schneider und Curd Jürgens und Brigitte Bardot ihre Ferien machen!« Aber als sie dann, ein paar Stunden später, mit Renate die »Promenade des Anglais«, die Prachtstraße von Nizza, entlangging, da war sie auf eine merkwür29
dige Art enttäuscht; so, als hätte jemand ihr einen ganzen Weihnachtsbaum versprochen und ihr dann doch nur eine einzige, vergoldete Nuß geschenkt. Gewiß wirkte Nizza unvergleichlich elegant mit seinen schneeweißen Mauern gegen den makellos blauen Himmel, mit der unübersehbaren, von Tausenden goldener Lichtpünktchen übersäten grünen Platanenallee, mit dem glitzernden, tiefblauen Meer, in dem sich ein Teil dieser Pracht widerspiegelte. Aber Margret konnte keinen Sinn dahinter finden, diese endlose Straße entlang zu promenieren, die eleganten Kleider der Damen zu bewundern, oder vor den Fassaden der Luxushotels stehenzubleiben und zu raten, wieviel Geld die Leute wohl verdienten, die es sich leisten konnten, hier abzusteigen. »Weißt du«, sagte sie ungeduldig, »mir ist das im Grunde ganz gleichgültig, was andere Leute verdienen und was sie mit ihrem Geld anstellen. Ich jedenfalls würde es nicht für solchen Unsinn hinauswerfen!« Renate lächelte überlegen nachsichtig. »Komm«, sagte sie dann. Sie schob den Arm unter den der Schwester und überquerte mit ihr die breite, belebte Fahrbahn. Drüben, im gedämpften Licht schattiger Arkaden, lagen die Geschäfte mit Kleidern, Schuhen, Sportausrüstungen und Kosmetikartikeln in Luxusausführung. »Das Kleid müßte man haben!« seufzte Renate und deutete auf einen Traum aus weißem Tüll mit eingewebten rosa Blütenranken; »darin sähe man aus wie 30
wie -«, da ihr kein passender Vergleich einfiel, ergänzte sie achselzuckend: »Na, jedenfalls anders als so!« Sie blickte mißbilligend an sich hinab. Margret war es im Augenblick vollkommen gleichgültig, wie sie aussah. Sie hatte Hunger und Durst und außerdem drückten sie die neuen Schuhe, die sie auf Renates Wunsch eigens für Nizza angezogen hatte, ganz unausstehlich. Sie versuchte, wenigstens aus einem ein wenig herauszuschlüpfen. Aber da Renate sie gerade in diesem Augenblick weiterzog, konnte sie nicht schnell genug wieder hineinfinden; der Schuh kollerte weg und blieb einsam mitten auf dem Pflaster stehen. Margret humpelte zurück und angelte sich den Ausreißer mit der großen Zehe wieder heran. Tief errötend und entsetzt schüttelte Renate den Kopf. »Du benimmst dich wie ein kleines Kind«, tadelte sie, »während andere Mädchen deines Alters schon richtige junge Damen sind!« Margret warf den Kopf so heftig zurück, daß ihr kastanienbraunes, kurzgeschnittenes Haar sich aufplusterte wie das Gefieder eines kampflustigen Vogels. »Andere Mädchen meines Alters«, äffte sie zornig nach, »hätten längst von ihrer Schwester wenigstens ein Eis bekommen, wenn sie ihretwegen stundenlang mit vertrocknetem Gaumen vor langweiligen Läden gestanden hätten!« Renate mußte wider Willen lachen. 31
»Gut«, sagte sie, »du sollst dein Eis haben.« Das Eis kostete genau dreimal soviel, als es zu Hause gekostet hätte; aber es wurde in blitzenden, hochstieligen Schalen serviert, und der Ober, der es brachte, sah wie ein Fürst aus. »Das ist aber mal vornehm hier!« raunte Margret. Sie schaute ein bißchen unbehaglich um sich.
Luxushotels, elegante Menschen - das war Renates Welt 32
Über den kleinen, weißgedeckten Tischen lag der stille Fächerschatten sorgsam gepflegter Palmen. Gepflegt und vornehm war die Kleidung der Damen und Herren, die darunter saßen, gepflegt und vornehm war die Art, wie sie sich unterhielten, und selbst die Luft, die über ihnen schwebte, roch vornehm und teuer. Renate lehnte sich zurück, breitete die Arme aus allerdings nicht weiter, als es in dieser Umgebung schicklich war -, atmete tief und sagte: »Siehst du, das ist das Paradies!« Margret nickte. Im stillen aber dachte sie, daß die blumenumrankten Mauern von Cagnes, der Garten, der nach Sonne und Erde duftete, ja selbst Pattys struppiger Kopf zwischen den bunten Beeten doch unvergleichlich schöner seien! Es mag Renates Paradies sein, sagte sie sich, ganz gewiß aber ist es nicht das meine!
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Eine Freundschaft wird geschlossen Nachts regnete es. Es rauschte in den Bäumen und Büschen, es trommelte auf dem flachen Dach des Hauses, es prasselte und zischte über dem Kies. Margret starrte mit ungläubigen Augen in die undurchdringliche Finsternis. Wie hatte es doch im Prospekt geheißen? »Die Provence, das Reich der Sonne...« Und nun drang der Dunst von Wasser und nasser Erde durch die offene Tür, zugleich mit einem Strom feuchter Kälte. Fröstelnd zog Margret die Decke enger um sich. »Reich der Sonne - Paradies -, daß ich nicht lache!« schimpfte sie enttäuscht vor sich hin. Dann hob sie lauschend den Kopf. »Hörst du das, Renate?« flüsterte sie. Von der Tür her kam ein merkwürdiges, kratzendes Geräusch. »Was mag das sein?« Renate preßte vor Aufregung beide Hände vor den Mund. Steil aufgerichtet saßen sie in ihren Betten und horchten. Das Fliegengitter, wie immer nur angelehnt, begann in seinen Angeln zu knarren. Obwohl sie es nicht sehen konnten, bemerkten sie doch deutlich, wie es langsam, vorsichtig geöffnet wurde. »Mach das Licht an!« schrie Margret. Petite, von der plötzlichen Helligkeit geblendet, blieb mitten auf der Schwelle stehen. »Eine Katze!« hauchte Renate. 34
»Es ist Petite«, sagte Margret erleichtert, »komm, Petite, komm!« Petite schob ihren geschmeidigen Körper vollends durch die selbstgeschaffene Öffnung, duckte sich und sprang in zwei langen Sätzen zuerst auf den Stuhl und von dort auf Margrets Bett. »Wirf sie 'raus!« kreischte Renate, angeekelt von dem Gedanken, den Schlafraum mit einem Tier, noch dazu mit einer Katze, teilen zu müssen. Margret aber schlug mitleidig die Decke um Petites feuchtes Fell. »Sie zittert vor Kälte, die Arme«, sagte sie. Renate schob ihren Kopf über den Rand der Matratze. »Du kannst sie doch nicht zu dir ins Bett nehmen!« entrüstete sie sich. »Man darf sie nicht frieren lassen; Petite ist sehr empfindlich; sie wurde mit der Flasche aufgezogen.« Margret strich liebevoll über Petites kleine, rosige Schnauze. »Woher weißt du das denn?« »Frau van Rijk hat es mir erzählt. Sie spricht von Petite wie von einem kränklichen, kleinen Kind. Es ist rührend, wie sie sich um sie sorgt.« »Ich finde es widerlich. So gut mir Frau van Rijk sonst gefällt, aber dieses alberne Getue mit all dem Viehzeug ist widerlich.« Margret lachte. »Mir gefällt es«, sagte sie. Dann schlang sie, unbekümmert um Renates weitere Einwände, den Arm um Petites weichen Körper und schloß 35
die Augen. »Schließlich sind wir hier im Paradies«, sagte sie noch, »es gehört dazu, daß Menschen und Tiere sich gut vertragen.« »Es sollte mich nicht wundern, wenn du mal Tierwärterin in einem Zoo wirst oder eines Tages zum Zirkus gehst«, brummte Renate. Dann löschte sie das Licht und zog seufzend ihre Decke hoch über den Kopf. So konnte sie nicht hören, wie Margret - es mochte gegen halb sieben Uhr morgens sein - aus ihrem Bett kletterte, in den Badeanzug schlüpfte und zusammen mit Petite über den Kies davonlief. Genau in der Mitte zwischen Garteneingang und Haus machte der Weg eine scharfe Krümmung. Unterhalb dieser Krümmung lag ein Schwimmbecken. Margret hatte festgestellt, daß sich am Vormittag hier so ziemlich sämtliche Einwohner des Paradieses zu treffen pflegten. Jetzt, um diese Zeit, lagen Becken, Bänke, Liegestühle und Sandspielplatz leer und verlassen da. Um so besser, dachte Margret, dann gehört einem wenigstens alles allein. Sie kletterte über die Mauer, die den Weg abstützte, hinunter und setzte sich auf den Rand des Beckens. Das Wasser war still, klar und grün vom Schatten der Bäume, die sich darüber neigten. Blätter und Blüten taumelten wie träumende Schiffchen über die Oberfläche. Vorsichtig tauchte Margret den Fuß hinunter, zog ihn aber rasch wieder zurück. 36
Ich will doch lieber warten, bis die Sonne höher steht und das Wasser sich ein bißchen erwärmt hat, dachte sie. Sie schlenderte zum Haus zurück. Sie setzte sich auf einen breiten Stein am Wege und überlegte, was sie nun tun sollte. Ich könnte, dachte sie, an den Wäschestangen hinter dem Haus turnen; aber sie sind aus Eisen und werden klappern und am Ende wacht Frau van Rijk davon auf. Ich könnte zur Straße hinauflaufen und nachsehen, wohin man kommt, wenn man oberhalb der Mauer am Paradies entlanggeht; aber ich habe ja nur den Badeanzug an. Ich könnte Trotz angestrengtem Nachdenken wollte ihr nichts Vernünftiges einfallen. Sie stand auf und ging langsam, Schritt für Schritt, den Garten hinunter. Die Feuchtigkeit der Nacht lag wie ein silberner Schleier über den Büschen; sie haftete, unzähligen winzigen Perlen gleich, auf den breiten Blättern der Agaven und löste sich Tropfen für Tropfen von den Bäumen. Ein paar Bienen kreisten, noch taumelnd vor Schlaftrunkenheit, um den süßen Duft des verblühenden Ginsters. Margret blieb stehen und beobachtete einen winzigen, bunten Vogel, der von Zweig zu Zweig flatterte und schließlich mit einem spitzen Jubelruf in die Luft schoß. Sie verfolgte ihn mit den Augen, bis er als kleiner, dunkler Punkt am Himmel verschwand. Dann schrak sie zusammen; eine Hand hatte ihr 37
Knie berührt. Sie war, ohne es zu merken, bis dicht an das erste Ferienhäuschen herangekommen. Nun stand der kleine, schwarzhaarige Italiener Peppino vor ihr, streckte ihr seine runden Händchen entgegen und lachte. »Du willst wohl wieder Schokolade haben?« fragte Margret. Den vergangenen Abend war Peppino laut weinend hinter Sao hergejagt, die sich vor ihm auf die Pinie vor dem Haus flüchtete und sich durch nichts dazu bewegen ließ, sich das Glöckchen, das Peppino ihr zugedacht hatte, umbinden zu lassen. Schließlich war es ihr und dem Hausmädchen Marie gelungen, ihn mit Kuchen und sehr viel Schokolade zu trösten. »Du willst wohl wieder Schokolade haben«, wiederholte Margret, »aber heute hab' ich keine - siehst du?« Sie zeigte ihre leeren Hände. Peppino verzog schmollend die dicken, roten Lippen. Er machte einen Schritt auf das Haus zu, kehrte dann aber wieder um und sprang schließlich, als Margret weiterging, wie ein kleiner, übermütiger Geißbock hinter ihr her. Er plapperte in einem fort. Sie konnte kein Wort davon verstehen. Aber sie lachte und nickte und Peppino schien damit zufrieden. An der Biegung, von der aus man das zweite Ferienhäuschen durch die Bäume schimmern sah, blieb er stehen. »Sören! Maren!« rief er. Er legte seine beiden Hände vor den Mund wie einen Trichter. »Sören! Maren!« Zwei dunkelhaarige, kleine Mädchen beugten sich aus einem der Fenster. Sie kreischten auf, als sie 38
Peppino erblickten und kamen bald darauf, ungekämmt und nur halb angezogen, aus dem Haus gestürzt. Sie nahmen Peppino in ihre Mitte und verschwanden mit ihm um die Ecke. Hinter den Büschen hervor hörte man sie kichern und in unverständlichen Worten reden. Sicher verstanden sie ebensowenig italienisch wie Peppino schwedisch verstand. Trotzdem schienen sie sich sehr gut zu unterhalten. Margret lächelte, als sie weiterging. Sie kam nun zu dem Haus, in dem die Engländer wohnten. Es war sehr still. Die Vorhänge hingen dicht geschlossen und reglos vor den Fenstern. In den Pfützen, die der nächtliche Regen auf der Veranda hinterlassen hatte, badeten geräuschlos kleine Vögel. Auf dem Balkon standen zwei leere, vergessene Stühle. Sie schlafen alle noch, dachte Margret und kräuselte verächtlich die Lippen. Engländer waren ihrer Meinung nach schrecklich langweilige und temperamentlose Geschöpfe und es paßte gut zu dieser Art, bis in den hellen Tag hinein zu schlafen! Ich will sie lieber nicht stören, dachte sie spöttisch und verließ den Weg. Sie versank bis über die Knöchel in dem harten, feuchten Gras. Es breitete sich als schimmernder, grüner Teppich über den ganzen Garten bis hinunter zur Straße. Die Orangenbäume hatten ihre reifen Früchte abgeworfen; sie lagen, großen goldenen Blüten gleich, zwischen den Halmen. Längs der einen Seite des Zaunes zogen sich Tomatenpflanzen in 39
breiten Beeten den Hang herauf. An der anderen bildeten blühende Büsche, Schlingpflanzen und dichtbelaubte Bäume eine bunte, dämmerige Wildnis. Margret lief hinüber. Sie schlüpfte unter den tiefhängenden Zweigen hindurch, die dicht hinter ihr sofort wieder zusammenschlugen. Es roch nach feuchter Erde, vermoderndem Laub und sich öffnenden Blüten. Die flinken Füße unsichtbarer Tiere raschelten im Gebüsch. Vögel flatterten in den Zweigen und Eichhörnchen huschten an den Stämmen der Buchen auf und nieder. Immer tiefer drang Margret in das Dickicht ein. Brombeerranken versuchten, sich an sie zu klammern und zeichneten blutige Striemen in ihre Haut. Mühsam kämpfte Margret sich Schritt für Schritt voran. Endlich entdeckte sie eine Lichtung. Aufatmend lief sie darauf zu. Als sie schließlich, zerkratzt, erhitzt und zerzaust, oben ankam, fand sie sich zu ihrem Erstaunen an ihrem Ausgangspunkt, dem Schwimmbecken, wieder. Lachend warf sie die Arme hoch und sprang hinein. »Hallo«, rief eine Stimme, als sie endlich wieder auftauchte. Auf dem Rand des Beckens saß ein ellenlanger, junger Mann. Er hatte rötlichblondes Haar, ein langes, schmales Gesicht, grünliche Augen und ein spitzes, sehr energisches Kinn. An seiner Aussprache erkannte Margret den Engländer. Sie nickte flüchtig. Dann stieg sie heraus. Sie nahm das Handtuch, das sie 40
vorhin über einen der Stühle geworfen hatte und frottierte ihr Haar. Es war noch längst nicht trocken und stand in spitzen, steifen Strähnen wie die Stacheln eines Igels um ihren Kopf, als sie das Tuch sinken ließ. Vom Weg her hörte sie Schritte, Stimmen und Hundegebell. Neugierig kletterte sie auf die Lehne der Bank und spähte über den Mauerrand nach oben. Vom Garteneingang her kam Marie, das Hausmädchen, rotbackig und lachend wie immer. Neben ihr ging ein etwa siebzehnjähriger, junger Mann, untersetzt, breitschultig und ein bißchen kleiner als sie. Er glich mit seinen schwarzen Cordsamthosen und dem gestreiften Pullover ein wenig den jungen Fischverkäufern vom Markt. Aber sein Gesicht unter dem weizenblonden Haar war hell und breit, mit einem schmalen Mund und klaren, grauen Augen darin, und sah ganz und gar nicht französisch aus. Jetzt hob er den Arm. »Hallo, Win!« rief er. Er winkte dem Engländer unten am Wasser zu. In diesem Augenblick drehte Patty sich um. Er erspähte die stachelige Halbkugel, die Margrets Kopf war, stürzte hin und schlug wie besessen mit der Pfote darauf ein. Margret fiel vor Schrecken beinahe rücklings von der Bank. Win brach in dröhnendes Gelächter aus, in das die beiden oben am Weg laut einstimmten. »Ich möchte wissen, was es da zu lachen gibt!« 41
empörte sich Margret. Win und Marie schienen sie nicht zu verstehen. Sie lachten weiter. Der junge Mann aber trat dicht an die Mauer heran, schaute hinunter und sagte in einem fremdartigen, aber gut verständlichen Deutsch: »Du siehst so komisch aus, daß man einfach lachen muß!« »Wieso sehe ich komisch aus?« Margret schob ihre Unterlippe nach vorne, wie immer, wenn sie versuchte, sich gegen eine aufkommende Unsicherheit zu wehren. Sie blickte an sich herunter, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdekken. Trotzdem lachten Marie und Win noch immer, und selbst der Hund, der sich inzwischen beruhigt hatte, schien hinter seinem zottigen Haar hervor zu grinsen. »Wieso sehe ich komisch aus?« wiederholte Margret. Kampfbereit blickte sie in die klaren, grauen Augen über ihr. »Es ist dein Haar, weißt du. Es steht zu Berge wie die Stacheln eines Igels.« Wieder lachten sie alle drei. Wütend griff Margret nach ihrem Handtuch, schlang es sich um den Kopf und drehte sich um. Sie war gerade im Begriff, wegzulaufen, als der junge Mann die Mauer heruntersprang und dicht vor ihr landete. »Habe ich dich beleidigt?« fragte er, »das wollte ich nicht! Wirklich, ich wollte es nicht und es tut mir leid.« 42
Er streckte ihr eine breite, sonnverbrannte Hand entgegen. »Schon gut!« murmelte Margret und legte die ihre hinein. Er schüttelte sie so heftig, daß sie in allen ihren Gelenken knackte. »Übrigens - ich bin Albert van Rijk«, sagte er dann. Er machte einen Kratzfuß wie ein Huhn, das im Sande scharrt. Margret verbiß das Lachen. »Ich heiße Margret Sahlmann«, sagte sie. »Ich weiß es; ihr unterhaltet euch ja nicht gerade leise, dein Bruder Thomas und du!« Wieder lachte Albert und diesmal fiel Margret fröhlich ein. Die Freundschaft war geschlossen.
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Fremd und doch vertraut Margret nahm gerade die Morgenpost aus dem Briefkästen am Haus, als nebenan die Tür aufging. Albert kam heraus, gefolgt von Prinz und Patty. Er trug unter dem rechten Arm einen dicken Packen Tücher, und in der linken Hand einen großen Korb, den er unbeholfen weit von sich abhielt. »Hallo!« rief Margret. Albert drehte den Kopf nach ihr. »Ach, du bist es«, sagte er. Es klang nicht besonders freundlich. »Schlechte Laune?« fragte Margret. Albert hob die Schultern. »Marie ist krank«, sagte er, »sie hat sich den Fuß verstaucht. Jetzt muß ich hin und - laß doch, Patty!« Er rettete den Korb so heftig vor Pattys Ansprung, daß es verdächtig darin klirrte und eine braune Flüssigkeit durch das Geflecht zu sickern begann. »Na, da haben wir's!« Er schnitt ein Gesicht wie ein kleines Kind, das nicht weiß, ob es lachen oder weinen soll. Mit Mühe verbiß sich Margret das Lachen. Sie steckte die Post einfach wieder in den Kasten zurück, und ging zu ihm hin. »Gib her«, sagte sie, »ich werde ihn tragen; ich glaube, ich kann das besser als du.« Sie nahm ihm den Korb aus der Hand. Er nickte ihr dankbar zu. »Mama hatte keine Zeit, weißt du; aber wir können Marie doch nicht einfach so liegenlassen 44
mit ihrem Hunger und ihrem verknacksten Bein!« »Nein, das können wir nicht. Aber wohnt Marie denn nicht bei euch?« »Nein, sie wohnt bei ihrem Vater. Sie kommt nur tagsüber zu uns; meist gegen acht Uhr. Vorhin, es war schon halb neun, sagte Mama, ich sollte mal hinuntergehen und sehen, wo sie bleibt. Ich ging hin und fand sie auf der Treppe vor ihrem Haus sitzen und heulen. Sie hielt den rechten Fuß mit beiden Händen fest. Zum Glück ist er nicht gebrochen, sondern nur verstaucht; aber so etwas kann auch ganz ordentlich weh tun. Ich wollte gleich den Arzt holen, aber Vater Isnard meinte -« »Wer ist Vater Isnard?« unterbrach Margret. »Er ist Maries Vater und mein Freund.« »Und was meinte er?« »Er meinte, der Arzt sei nicht nötig, weil heute mittag ohnehin Pierre käme.« »Wer ist Pierre?« »Mein Bruder; er kommt aus Avignon. Er studiert dort Medizin. Vater Isnard behauptet, Pierre verstünde mehr von Krankheiten als ein fertiger Arzt. Aber das ist natürlich übertrieben. Er sagt es nur, weil er Pierre so gut leiden mag.« Sie gingen nebeneinander die Straße hinunter. »Ist es weit?« fragte Margret nach einer Pause. Der Korb war schwerer, als sie gedacht hatte. »Nein, nur bis zur Kreuzung.« Es war das alte Haus, an dem vorbei der Weg zum 45
Friedhof führte. Es war so alt, daß man meinen konnte, nicht seine Mauern hielten die Zweige des Pfefferstrauches fest, sondern die Zweige hielten im Gegenteil die Mauern zusammen, die zu stöhnen schienen unter der Last der Jahre. Die Fenster hinter den angelehnten Läden glichen länglichen, schwarzen Strichen, die in der Sonne funkelten wie die Augen der Katze, die auf der Schwelle lag. »Gib acht«, sagte Albert, bevor er die Stufen zur Tür hinaufstieg, »sie wackeln!« Dann trat er nach kurzem Klopfen in das Haus. Marie saß angezogen auf dem Bett, den verschwollenen Fuß auf zwei dicke Kissen gebettet. »Mama schickt dir das; sie konnte nicht abkommen. Sie meint, du solltest das Bein hochlagern und kalte Umschläge machen. Mittags sieht Pierre nach dir«, sagte Albert. Er stellte den Korb auf den Tisch. Marie nickte. »Es ist lieb von dir, Albert, danke!« Dann, mit einem Blick auf Margret, fügte sie hinzu: »Nehmen Sie bitte Platz, Mademoiselle!« Margret sah sich suchend um. Die drei Stühle, die in dem kleinen Raum standen, waren vollbeladen mit Kleidungsstücken, Zeitungen und Küchengerät. Marie lachte und rückte auf ihrem Bett zur Seite. Albert zog den Tisch quer über den Raum zu ihr hin. Er goß den Kaffee ein, und während sie ihn trank und den mitgebrachten Kuchen aß, lachte und plauderte sie in einem fort. Sie sprach rasch und in einem 46
merkwürdigen Dialekt. Margret konnte kein Wort davon verstehen. Sie saß auf der Bettkante und ließ ihre Augen erstaunt durch den Raum wandern, der Küche, Diele, Wohn- und Schlafzimmer in einem war. In der einen Ecke lehnte ein winziger Herd, daneben eine rührend altmodische, hohe Kommode. Ihr eines fehlendes Bein ersetzten zwei dicke Bücher, um die ein junges Kätzchen unermüdlich mit sich selbst Fangen spielte. In der anderen Ecke, unterhalb des Fensters, standen die Stühle rund um das Viereck, in dem vorher der Tisch gestanden hatte. Ihnen gegenüber war das Bett aus weißlackierten, verschnörkelten Stangen und mit karierten, nicht mehr ganz sauberen Bezügen. Die Wand rundum schützte eine selbstgeflochtene Schilfmatte und darüber hing ein kleines buntes Bild. Es war eine Nachbildung der Madonna aus der Schloßkapelle. Die vierte Ecke bildeten zwei aneinandergrenzende Türen. Die eine davon stand einen Spalt breit offen. »Bist du das, Albert?« rief eine Stimme durch diese Ritze hindurch. Albert ging hinüber. »Ich bin es nicht allein, Vater Isnard«, sagte er, »ich habe Besuch mitgebracht.« Ein erstaunter Ausruf wurde laut, dem Gepolter und Geraschel folgte, dann das Quietschen einer Schranktür und schließlich der harte Klang von Männerschritten auf Steinboden. Im ersten Augenblick erkannte Margret ihn nicht. 47
Der Kastellan pflegte zu Hause statt der Uniform eine alte, schwarze Cordsamthose zu tragen und darüber einen dunklen, grob gestrickten und viel zu weiten Pullover; so unterschied er sich in nichts von vielen anderen Bürgern des Städtchens. Margret, die gerade über Maries Bett gebeugt stand und den kranken Fuß mit einem nassen Tuch umwickelte, richtete sich auf, wischte die Hände an der Rückseite ihrer Sporthose trocken und drehte sich um. »Das ist Vater Isnard«, sagte Albert, »und das Margret Sahlmann, unser deutscher Gast.« »Guten Tag!« Margret ließ die schon ausgestreckte Hand vor Staunen wieder sinken. »Aber das ist ja der Kastellan!« rief sie Albert zu. Der Kastellan stand da und schaute sie an. Seine Augen hatten denselben erstaunten, fast erschrockenen Ausdruck, mit dem er sie im Schloß, unterhalb der Treppe stehend, betrachtet hatte. Dann ließ er die Hand, die er noch immer ausgestreckt hielt, tastend über ihre Augen, den Ansatz ihrer Haare, den flachen Rücken ihrer Nase, ihre runden Wangen entlang bis zu ihrem Hals wandern. »Juliette«, flüsterte er schließlich, »ma petite Juliette!« Zwei Tränen lösten sich aus seinen Augen und rannen langsam die Falten seines Gesichtes entlang bis zu seinen Mundwinkeln. »Juliette!« Die Tränen versickerten zwischen den weißen Barthaaren rund um sein Kinn. Margret wagte sich nicht zu bewegen. Was ist nur 48
an mir, dachte sie, was ihn so erschreckt? Und warum nennt er mich immerzu Juliette? Ich bin Margret Sahlmann, Albert hat es ihm deutlich genug gesagt. Es muß ein Irrtum sein, ich muß es ihm erklären! Aber ehe sie noch imstande war, sich die Worte zurechtzulegen, hatte Vater Isnard sie plötzlich mit unerwarteter Heftigkeit an sich gezogen. Er drückte ihren Kopf zärtlich gegen seine Schulter. Sie spürte seinen Atem in ihrem Haar. Mühsam versuchte sie, ihren Kopf zu befreien und nach Albert hinzuschauen. Er redete heftig gestikulierend auf den Kastellan ein.
Vater Isnard glaubte, seine Tochter zu sehen
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Warum spricht er nicht langsamer, damit ich ihn verstehen kann? dachte Margret mißmutig. Sie begann, sich unbehaglich zu fühlen. Sie war nicht gern Mittelpunkt eines Gespräches, das im wahrsten Sinne des Wortes hinter ihrem Rücken geführt wurde und von dem sie nicht mehr verstand außer Juliettes und ihren eigenen Namen. Sie spürte, wie ihre Haut sich an der Stelle erhitzte, an der sie gegen die rauhe Wolle gedrückt wurde. Eine Weile hielt sie still, dann drehte sie den Kopf wieder Albert zu, schob trotzig die Unterlippe vor und fragte: »Soll ich hier erstarren wie Lots Weib?« Albert lachte. Er sagte etwas zu Vater Isnard, worauf dieser sie sofort losließ. Auch er lachte jetzt. Erstaunt betrachtete Margret die Wandlung in seinem Gesicht. Dann wanderte ihr Blick von ihm weg zu Marie und von Marie zu Albert. Sie beobachteten sie gespannt, mit dem geheimen Einverständnis Verschworener. Was haben sie bloß? dachte sie, während ihre Augen unentwegt von einem zum andern gingen. Ihre Unterlippe schob sich noch weiter als vorhin nach vorne. »Willst du mir nicht sagen, Albert, was hier vorgeht?« fragte sie schließlich. »Aber natürlich, Margret! Vater Isnard hatte eine Tochter, weißt du. Sie hieß Juliette und er sagt, sie sei dir so ähnlich gewesen, daß er im ersten Augenblick dachte, sie sei es wirklich. Natürlich ist er sich jetzt 50
über den Irrtum klar. Juliette ist tot. Sie war sechzehn, als sie starb. Es ist lange her; aber er kann sie nicht vergessen. Er möchte sich so gern einbilden können, sie sei wieder da - wenigstens für die kurze Zeit, die du noch hier bist, verstehst du?« »Ich verstehe; aber ich finde es, ehrlich gesagt, ein bißchen albern.« »Albern oder nicht«, erwiderte Albert enttäuscht und beinahe heftig, »jedenfalls würdest du ihm eine große Freude damit machen; ist das so schwer? Ich habe ihm versprochen, daß du jeden Tag wenigstens auf einen Sprung bei ihm vorbeikommst.« »Du hast das versprochen, ohne mich zu fragen?« Margret zog die Stirn in empörte Falten. Aber als sie den Ausdruck in Vater Isnards Gesicht gewahrte, der so voll von Trauer und schmerzlicher Enttäuschung war, schmolz ihr Unwille dahin wie Schnee auf einer warmen Haut. »Ich will Ihnen Ihre Tochter ersetzen, so gut ich kann«, sagte sie leise. Sie sagte es französisch; sie brachte es sogar fertig, den provenzalischen Tonfall nachzuahmen. Albert klatschte in die Hände. Marie beugte sich in ihrem Bett vor, bekam Margret an ihrem breiten Ledergürtel zu fassen, zog sie zu sich nieder und drückte ihr einen schallenden Kuß auf die Wange. Margret lachte. Sie setzte sich, vorsichtig Maries Fuß beiseite schiebend, an ihren alten Platz zurück. Währenddessen ging Vater Isnard zur Kommode, 51
kramte in einer der Schubladen und kam dann, eine kleine Photographie in der Hand haltend, zurück. Er lehnte sich gegen den Tischrand und reichte Margret das Bild wortlos zu. Sie nahm es. Die Ränder waren weich geworden und der Glanz verblichen unter den vielen Händen, die es berührt hatten. Aber das Gesicht des Mädchens, das da unter einem blühenden Orangenbaum stand, war noch klar und deutlich zu erkennen und glich so sehr dem Margrets, daß nun die Reihe an ihr war, zu erschrecken. Das war derselbe Schnitt der Augen, die dichten Brauen darüber, die breite, ein bißchen trotzig vorgeschobene Unterlippe, die kurze, leicht nach oben strebende Nase; nicht einmal die Sommersprossen fehlten. Man konnte sie deutlich als winzige, dunkle Pünktchen erkennen. »Seltsam«, murmelte Margret, als sie das Bild zurückgab. Vater Isnard hielt ihre Hand vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, in der seinen fest. Er setzte sich neben sie auf das Bett. Die Katze, ihres einsamen Spiels um die Kommode müde geworden, sprang herbei und strich schnurrend um seine Beine. Marie summte leise vor sich hin. Albert, der auf der Tischkante saß, baumelte im Takt dazu mit den Beinen. Ein Bündel Sonnenstrahlen schob sich durch das Fenster und legte sich als schmales, goldenes Band quer über den Boden. Die tanzenden Schatten 52
des Pfefferstrauches liefen wie flinke, schwarze Tierchen darauf hin und her. Das Kätzchen, buntgefleckt und rundlich, begann damit zu spielen. Während alle lächelnd diesem Spiel zusahen, ließ Margret ihre Augen langsam und nachdenklich von einem zum andern wandern. Sie betrachtete Albert, sein bäuerlich breites Gesicht mit der offenen, aufrichtigen Herzlichkeit darin; Marie, strahlend und frisch und jung und voll Freude am Leben; Vater Isnard, gebeugt, weißhaarig und mit den Spuren heimlich vergossener Tränen um die tiefliegenden, grauen Augen. Und Margret dachte, daß diese drei Menschen, so verschieden sie auch aussahen, doch irgend etwas Gemeinsames hatten, das sie verband wie die Glieder einer Familie und das - sie spürte es deutlich - auch ein Teil ihres eigenen Wesens war. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als säße sie nicht zum erstenmal hier; als wären diese Menschen und dieser Raum ihr von Ewigkeit her vertraut. Ihr war unbeschreiblich behaglich zumute. Und wohlig aufseufzend lehnte sie den Kopf gegen Vater Isnards Schulter. Da sah sie durch die halbgeschlossenen Lider hindurch Renates Gesicht vor sich auftauchen. Deutlich hörte sie die Schwester, mit einem mißbilligenden Ton in der Stimme, fragen: »Wie kannst du dich hier nur wohl fühlen; in dieser Unordnung und in all der Armut?« 53
Und ebenso deutlich hörte sie sich antworten: »Mir gefällt es aber hier. Ich sitze lieber auf diesem armseligen Bett mit Marie, die singt und lacht, als auf seidenen Sesseln in Nizza, zusammen mit Menschen, die es vor Vornehmheit nicht wagen, ihre Gefühle zu zeigen. Ich mache mir gar nichts daraus, daß Vater Isnards Pullover Flecke hat und nach Pfeifenrauch und Fischen riecht. Ich mag den alten Mann und er mag mich und das ist die Hauptsache. Laß mich, du verstehst das nicht. Ich bin eben anders als du!« Mit einer unwilligen Handbewegung wischte Margret Renates Bild beiseite. Im selben Augenblick sprang Albert mit einem Satz von der Tischkante. »Tut mir leid«, sagte er, »ich muß jetzt nach Hause!« Er begann, das leere Geschirr in den Korb einzuräumen. Margret half ihm. Dann drückte sie ihr Gesicht an Vater Isnards faltige, stachelige Wange. »Ich komme bald wieder«, flüsterte sie. Sie winkte zurück, so lange sie ihn unter der Haustür sehen konnte. Als seine Gestalt hinter den tiefhängenden Zweigen der Buchen und Akazien am Wegrand verschwunden war, fragte sie: »Woran starb sie eigentlich, seine Juliette?« »Eine Bombe hat sie getötet; sie und ihre Mutter, als sie mitsammen zu Verwandten nach Toulon reisten.« »Wie schrecklich!« 54
»Ja, es war eine schlimme Zeit für Vater Isnard. Im selben Jahr fiel auch sein Sohn Gaston. Es ist eine lange, traurige Geschichte. Ich erzähle sie dir einmal, wenn du willst. Heute habe ich wirklich keine Zeit dazu. Ich habe noch eine ganze Menge zu tun, ehe Pierre kommt!« Er begann, als sie das Gartentor erreicht hatten, zu laufen. »Salut!« rief er Margret noch über die Schulter zu. »Salut«, antwortete sie und ging langsam und nachdenklich hinter ihm her dem Hause zu.
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Pierre van Rijk Um die Mittagszeit dieses Tages saß Margret mitten auf dem Kiesweg oberhalb des Schwimmbeckens und spielte mit der Katze Sao. Ihre Eltern lagen auf der Terrasse und schliefen. Renate war wieder nach Nizza gefahren, und Thomas, der sich mit einem Fischer angefreundet hatte, kam seit neuestem nur noch zu den Mahlzeiten nach Hause. Patty und Petite waren ins Haus geflüchtet, Prinz lag vor der Haustür und klopfte sacht mit dem Schwanzende gegen den Boden. Er schien einen sehr angenehmen Traum zu haben. Einzig Sao erklärte sich bereit, Margret Gesellschaft zu leisten. Aber auch sie zeigte sich gelangweilt und ungnädig. Für die Steinchen, die Margret von Zeit zu Zeit auf ihren Kopf niederrieseln ließ, hatte sie nur einen verächtlichen Blick aus ihren schönen, blauen Augen und eine lässige Bewegung mit der Pfote übrig. Schließlich ringelte sie sich auf Margrets Schoß zu einem schimmernden, weichen Knäuel zusammen und legte mit unmißverständlicher Gebärde den Kopf auf die seidigen Pfoten. Der Schatten des Pfefferstrauches oberhalb der Mauer lag unbeweglich wie eine Spitzendecke über ihr. Die Vögel hatten sich ins Dickicht der Zweige verkrochen und schliefen. Das ganze Paradies schien in eine Art Dornröschenschlaf versunken; selbst die Rosen, die in den Abendstunden die Luft bis in die Zimmer hinein mit ihrem Duft 56
erfüllten, hielten den Atem an und hingen wie leblos an ihren Stielen. Allmählich steckte die allgemeine Schläfrigkeit auch Margret an. Sie streckte sich lang aus, legte den Kopf auf einen der Grasbüschel und schloß die Augen. Sie war gerade im Begriff, einzuschlafen, als sie dicht an ihrem Ohr Schritte hörte und ein Schatten über ihr Gesicht fiel. Ein junger Mann stand neben ihr und hob eben den Fuß, um über sie hinwegzusteigen. Als er sah, daß sie die Augen öffnete, zog er den Fuß sofort zurück. »Entschuldigen Sie, Mademoiselle,« sagte er, »ich wollte Sie bestimmt nicht stören; ich konnte nur nicht vorbei.« Er warf einen belustigten Blick auf ihre langen, blaubehosten Beine, die quer über dem Weg lagen. Sie zog sie so hastig an sich, daß Sao mit einem empörten Schrei von ihrem Schoß auf- und zur Pinie hinübersprang. Margret deutete stumm auf den frei gewordenen Weg, während sie unverwandt in das lachende Gesicht des Fremden starrte. Er ging mit einer leichten Verbeugung an ihr vorbei dem Hause zu. Sie schaute hinter ihm her, bis er hinter der Dunkelheit des Fliegengitters verschwunden war. »Menschenskind«, murmelte sie, »ist der aber schön!« Sie versuchte mit zusammengekniffenen Augen die 57
Dämmerung des Raumes zu durchdringen. Sie glaubte, seine große, schlanke Gestalt sich dicht neben dem Fenster bewegen zu sehen; aber es waren wohl nur die Schatten der Pinie, die sich in den Gläsern spiegelten. Margret lehnte sich gegen die Mauer, umklammerte mit beiden Armen ihre hochgezogenen Knie und legte den Kopf darauf. Sogleich schwebte wieder sein Gesicht über ihr: olivfarben, schmal, mit großen dunklen Augen, einer griechischen Nase und Haaren, die sich über der Stirn wie das Fell eines jungen Lämmchens lockten. Ich muß meinen Photoapparat holen und ihn knipsen, dachte sie. Zu Hause werde ich dann das Bild meinen Freundinnen zeigen und sagen: »Seht ihr«, werde ich sagen, »so sehen die Südfranzosen aus!« Wie werden sie mich beneiden! Heidi wird sagen: »Nur gut, daß ich nicht dagewesen bin, ich hätte mich jeden Tag in einen anderen verliebt.« Sie wird nicht im Traum daran denken, daß es hier auch solche junge Männer gibt, die aussehen wie Albert, untersetzt und blond und mit Sommersprossen auf der Nase oder solche wie die Fischverkäufer vom Markt, deren Hosen voll von Schuppen kleben und die bis an die Haut nach Fisch riechen! Margret sprang auf und lief ins Haus. In der Eile stolperte sie über Prinz und hielt sich gerade noch am Türpfosten fest. Sie riß den Vorhang vom Schrank zurück und wühlte zwischen Kleidern, Wäschestükken und Badezeug. Sie räumte alles aus, aber den 58
Photoapparat fand sie nicht. Zum erstenmal im Leben ärgerte sie sich selbst über ihre Unordnung in ihren Sachen und gelobte sich ernstlich Besserung, wenn sie den Apparat nur schnell, ganz schnell fand! Aber er ließ sich nicht finden. Ob Mutter ihn weggeräumt hat? überlegte sie. Auf Zehenspitzen schlich sie ins vordere Zimmer. Richtig, da lag er, mutterseelenallein mitten auf dem Schrank! Leise schob sie sich einen Stuhl zurecht. Sie wollte gerade nach dem Apparat fassen, da brach die vordere Leiste des Stuhles und sie fiel mit ihm zusammen um. »Margret«, rief Frau Sahlmann von draußen, »bist du das, Margret?«
Alles ringsum schien in einen Dornröschenschlaf versunken
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Einen Augenblick lang kämpfte sie mit der Versuchung, wegzulaufen. Aber da sah sie ihre Mutter bereits quer über die Veranda auf sich zukommen. Rasch bückte sie sich und hob den Stuhl auf. »Er ist umgekippt«, sagte sie, »es tut mir leid, daß der Krach dich geweckt hat!« »Mach dir keine Gedanken«, erwiderte Frau Sahlmann, »ich wollte ohnehin gerade aufstehen und Teewasser aufsetzen. Hilfst du mir den Tisch dekken?« Auch das noch! Margret biß sich auf die Lippen. Wütend stieß sie den Stuhl, den sie noch immer umklammert hielt, in seine Ecke zurück. Sie hatte Lust, ihn vollends zu zertrümmern. Widerwillig machte sie sich daran, das Geschirr aus dem Schrank zu räumen. Was sollte sie anderes tun? Sollte sie etwa sagen: »Ich habe leider keine Zeit; ich muß hinausgehen und auf einen jungen Mann warten, den ich unbedingt knipsen will!« Na, da hätte sie Mutters Gesicht sehen mögen! So saß sie also stumm draußen zwischen den Eltern am Teetisch, zählte verbissen die eingewebten Blümchen in der Decke und schielte ab und zu verstohlen zu der Glastür hinüber, die das van Rijksche Wohnzimmer gegen die Veranda hin abschloß. Aber es war dahinter nichts anderes zu sehen als die dunkle Rückseite der zugezogenen Gardinen. Bestimmt ist er inzwischen weggegangen, dachte sie ingrimmig. 60
Da - sie setzte gerade ihre Teetasse an die Lippen hörte sie ihn sprechen. Sie wußte sofort, daß es seine Stimme war. Sie hörte ihn am Ende eines Satzes sagen: »...wirklich, Mama!« Mit einem Ruck stellte sie die Tasse auf den Tisch zurück. Der schöne Unbekannte war Pierre, Pierre van Rijk! Sie preßte rasch die Hand vor den Mund, so daß sich der Jubelruf, den sie ausgestoßen hatte, in ein unterdrücktes Gurgeln verwandelte. »Was hast du denn?« fragte Frau Sahlmann besorgt. Margret schaute auf ihren Schoß, wo der verschüttete Tee langsam durch den Stoff ihrer Sporthose auf die Haut sickerte. »Der Tee ist so heiß«, sagte sie. »Wenn du dir die Lippen verbrannt hast - im Bad ist Vaseline!« Sie sprang auf und lief hinein. Sie saß auf dem Rand der Badewanne und sann über die Entdeckung nach, daß der schöne, junge Mann Alberts Bruder war und sie künftig Tür an Tür mit ihm wohnen würde. Unter diesen Umständen brauchte sie sich nicht mehr draußen auf die Lauer zu legen. Jetzt konnte sie ein ganzes Album voll mit Bildern von ihm anlegen! Sie lachte laut auf und ging auf die Terrasse zurück. Die Stimmen hatten sich inzwischen entfernt. Man hörte sie nur noch undeutlich. Dann wurden sie ganz vom Gesang einer Schallplatte übertönt. 61
»Der Reigen«, rief Margret begeistert, »hört ihr, sie spielen Schnitzlers Reigen!« Hingerissen trommelte sie den Rhythmus des Liedes auf die Tischplatte. Herr Sahlmann nickte zerstreut. Ihn interessierte Schnitzlers Reigen ebenso wenig wie irgendein Schlager. Er streckte sich. »Man wird müde vom Nichtstun«, sagte er; »ich möchte mir gern ein bißchen die Beine vertreten. Habt ihr Lust, mitzukommen?« Margret tat, als höre sie nicht. Sie fuhr fort, mit Hingabe den Tisch mit ihren Fäusten zu bearbeiten, wobei sie ihren Körper im Takt hin und her wiegte. Sie hörte erst damit auf, als sie ihre Eltern durch die offenen Türen hindurch den Gartenweg hinaufgehen sah und ihre Schritte droben auf der Straße verklungen waren. Sie stand auf, steckte beide Hände in die Taschen ihrer Sporthose und schlenderte hinüber bis zur Bank unter der großen Pinie. Sie setzte sich hin, schlug die Beine übereinander und starrte vor sich hin. Plötzlich öffnete sich drüben die Tür. Frau van Rijk kam heraus, gefolgt von Pierre. »Hallo, Margret«, sagte sie, »sind Sie allein? Sollen wir Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten?« Sie drehte sich zu Pierre um. »Dies ist mein Sohn Pierre. Er ist heute erst aus Avignon angekommen.« »Wir kennen uns bereits, Mama«, sagte Pierre und 62
lachte. Er sprach das Deutsch fließend, mit einem leicht singenden Tonfall. Er beugte sich nieder und küßte Margrets Hand. Sie zog sie hastig zurück. »Na, so etwas«, murmelte sie, »ich bin doch keine Dame!« Pierre wollte etwas erwidern, da kam Albert den Gartenweg heruntergestürmt. »Kommst du mit, Mama? Es ist gleich vier Uhr!« rief er.
Was gibt es bloß an mir zu sehen? überlegte Margret 63
»Oh«, sagte Frau van Rijk, »das habe ich ganz vergessen.« Sie wandte sich Margret zu. »Albert will Win das Bocciaspiel beibringen und ich selbst habe Westricks versprochen, den Tee mit ihnen zu trinken.« Sie nickte freundlich und ging mit Albert davon. Margret blieb allein zurück mit Pierre, der sich neben sie auf die Bank setzte. »Spielen Sie auch so gern Boccia«, fragte sie, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Beinahe jeder spielt es hier«, antwortete Pierre ein wenig zerstreut. Sie drehte den Kopf nach ihm. Da sah sie, wie er seine Blicke rasch von ihr weg der Pinie zuwandte. Was gibt es denn bloß an mir zu sehen? dachte sie unbehaglich. Und dann fiel ihr ein, daß sie ihr Haar beim Suchen nach dem Photoapparat vollkommen zerwühlt hatte, daß zwei Knöpfe an ihrer Bluse nur noch an einem Faden hingen und daß sie am Morgen ganz vergessen hatte, sich die Fingernägel zu reinigen. Unruhig rückte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Sie hatte sich gerade dazu entschlossen, unter einem Vorwand aufzustehen und ins Haus zu laufen, als Sao hinter einem der Rosenbüsche hervor auftauchte. »Da«, sagte Pierre, »sehen Sie Sao?« Sao zog die Augen, die sie soeben noch groß und sehnsüchtig auf Pierre gerichtet hatte, zu einem schmalen, hochmütigen Spalt zusammen. 64
Pierre lachte. »Jetzt ist sie wieder eifersüchtig, die empfindliche Dame!« Er ging hin und hob sie auf seine Arme. Zärtlich legte er beide Hände um ihren Kopf. »Ist sie nicht schön?« Er streichelte ihr seidig glänzendes, weiches Fell. »Sao haben Sie wohl lieber als Petite?« fragte Margret und es war etwas wie Vorwurf in ihrer Stimme. Natürlich hat er sie lieber, dachte sie, weil sie schöner ist! »Sie ist geduldiger als Petite«, sagte Pierre, »sie hält stundenlang still, wenn ich sie zeichnen will.« »Sie zeichnen? Sind Sie denn Künstler? Ich dachte, Sie studieren in Avignon Medizin?« Pierre lachte. »Zeichnen ist mein Steckenpferd, wissen Sie. Übrigens« - er ließ Sao plötzlich aus seinen Händen zurück auf den Boden gleiten -, »Sie würde ich auch gern einmal zeichnen.« »Mich?« Sie starrte ihn verblüfft an. »Warum gerade mich?« Sie erwartete eine Antwort etwa wie: »Weil Sie mit ihrem struppigen Haar aussehen wie ein niedlicher kleiner Igel«, oder »Weil Sie der Typ eines trotzigen, verschmitzten Lausejungen sind.« Aber Pierre sagte: »Weil Sie auf eine ganz besondere Art hübsch sind, Margret!« Seine Augen, in denen die Sonne sich als großer, 65
goldener Punkt spiegelte, schauten ernsthaft und bewundernd auf sie herunter. »Oh«, machte Margret und ihre Stimme klang wie das verwunderte Piepsen eines kleinen Vogels. Dann bückte sie sich und überschüttete Sao, die um Pierres Beine strich, mit stürmischen Liebkosungen; denn irgend jemanden mußte sie schließlich teilhaben lassen an ihrer großen Freude.
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Das Paradies ist kein Schlaraffenland Margret hatte den heldenhaften Entschluß gefaßt, jeden Morgen vor dem Frühstück im Schwimmbecken zu baden. Thomas sprach ihr dafür feierlich Lob und Anerkennung aus. »Sogar mir wäre es zu kalt«, sagte er. Und dann betrachtete er Margret über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg eingehend. Sie saß ihm gegenüber. Ihr Haar ringelte sich an den Spitzen zu winzigen Löckchen ein, wie immer, wenn es feucht war, und die Sonne, die darauf schien, verwandelte es in einen rötlich schimmernden Strahlenkranz. Ihre Haut war bereits von einer tiefen, gleichmäßigen Bräune überzogen. Über den Backenknochen vermischte sie sich mit dem Rot der Wangen zur Farbe reifer Pfirsiche, auf denen die Wimpern, immer noch feucht vom Bad, als glänzende, schwarze Halbkreise lagen. Als Margret nun die Augen hob und die Sonne sie wie dunklen Bernstein aufleuchten ließ, stellte Thomas seine Tasse ruckartig auf den Tisch zurück. »Dir bekommt das Paradies aber gut«, sagte er, »du bist ja beinahe hübsch geworden! Wenn du so weitermachst, findet sich vielleicht eines Tages doch noch ein Mann, der dich heiratet.« »Thomas!« verwies Frau Sahlmann streng. Margret lachte nur. Ihr war es vollkommen gleichgültig, ob Thomas sie hübsch fand oder nicht. Seit 67
gestern wußte sie, daß sie hübsch war; Pierre selbst hatte es ihr gesagt! Noch immer lachend stand sie auf, brach ein großes Stück von ihrem Kuchen ab, tauchte es in Milch und legte es sorgfältig auf einen frischen Teller. Dann bestreute sie es reichlich mit Zucker, und trug es zum Erstaunen ihrer Mutter davon. »Ich bringe es Sao«, sagte sie schlicht. Sao saß um diese Zeit gewöhnlich auf ihrem Lieblingsplatz, dem untersten Ast der großen Pinie vor dem Haus. Margret kletterte auf die Bank; so brauchte Sao sich nicht erst herunterzubemühen. »O la-la!« rief Marie. Sie saß vor der Haustür und schälte Kartoffeln. Ihr Bein hatte sie auf einem zweiten Stuhl hochgelagert. Es hatte eine dicke Bandage, aus der nur die Spitze der großen Zehe herausragte. »Geht es Ihnen wieder besser?« fragte Margret. Marie lächelte freundlich. »Sie kann dein Schulfranzösisch nicht verstehen«, sagte Albert, der eben aus dem Hause kam. Er hatte eine Blumenschere in der Hand und einen großen Gärtnerkorb am Arm. »Was machst du damit?« fragte Margret. »Nelken schneiden; willst du mitkommen?« Sie gingen hinter dem Haus vorbei, am obersten Ende des Gartens entlang. Er war zur Straße hin nur durch eine Böschung mit Brombeergestrüpp abgegrenzt. Die Ranken krochen kreuz und quer über den notdürftig ausgetretenen Weg, der plötzlich ganz 68
aufhörte. Albert kletterte über die Böschung zur Straße hinauf. Margret folgte ihm nach, gleich Patty auf allen vieren kriechend. Die Straße führte sanft, aber stetig bergauf. Zu ihrer linken Seite dehnten sich weite Olivenhaine, terrassenförmig angelegt, wie beinahe das ganze Land hier. Zur Rechten bedeckten Nelkenfelder die Hügel hinab bis zum Tal der Var. Wie ein silbernes Band, aus dem die weißen Flächen der Sandbänke ausgeschnitten waren, wand sich der Fluß in vielen Krümmungen dem Meer entgegen. Auf der anderen Seite zogen sich Weinhänge an seinen Ufern entlang. Und über allem lag, blau im Widerschein des Himmels, ein metallisch funkelnder Glanz. In den Nelkenfeldern begann es, sich zu regen. Zwischen den hohen Stengeln tanzten die vielen Kopftücher der Frauen und Mädchen wie kleine, bunte Punkte auf und nieder. Ab und zu kam ein Auto die Hügel herauf gekrochen. Jedes von ihnen empfing Patty mit wütendem Gekläff. Sein kleiner Körper zitterte bis in die Schwanzspitze vor Empörung. »Er kann Autos nicht ausstehen«, sagte Albert lachend. Sie bogen in einen schmalen Seitenpfad ein. Albert stellte den Korb in den Schatten einer kurzstämmigen, breiten Schirmpinie. 69
Droben stand Pierre und winkte Die Nelken standen, von einer Umzäumung aus Holzstäben und Schnüren gehalten, aufrecht unter ihren Dächern aus Schilfmatten. »Hast du Lust, mir zu helfen?« fragte Albert. Er streifte die Ärmel seines Hemdes weit über die Ellbogen zurück; dann zeigte er ihr, wie man, langsam durch die Gäßchen zwischen den Beeten schreitend, die Matten vor sich her über den Stäben zusammenrollte. Als alle Matten aufgerollt waren, begann Albert, 70
die schönsten Blumen auszusuchen. Er bückte sich, schnitt sie ab und reichte sie Margret zu. Sie lief, wenn sie einen Arm voll davon hatte, den Weg hinauf und bettete die Blüten behutsam in den Korb. Ihr Gesicht glühte vor Eifer. Unter ihrem Haaransatz hervor quollen dicke, glänzende Schweißperlen. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, daß sie das fauchende Motorengeräusch, das mit einem langen Seufzer endete, gar nicht hörte. Erst als Prinz laut bellend am Rande des Feldes erschien, blickte sie auf. Die Nelken purzelten von ihrem Arm. Droben, unter der Pinie, stand Pierre. Er lachte und winkte und war von der Sonne eingehüllt wie in einen goldenen Mantel. Er trug eine helle Cordsamthose, dazu ein weißes Hemd, das am Hals ein wenig offenstand. Er war noch schöner, als sie ihn in Erinnerung hatte. »Hallo!« rief er. Albert lief zu ihm hin. Margret sah, wie die beiden sich unterhielten und Pierre den Korb dann zum Wagen trug. Er rief ihr etwas zu, bevor er den Motor anspringen ließ. Sie konnte es nicht verstehen; denn Prinz und Patty bellten um die Wette. Sie lief hinauf. Aber als sie ankam, verschwand der Wagen bereits hinter einer mannshohen Mauer von Staub. Sie schaute hinter ihm her. »Was macht er mit den Blumen?« fragte sie. Im 71
Geist sah sie Pierre durch die Straßen der Stadt gehen, lachend, strahlend, ganze Arme voll Nelken an die schönen Mädchen von Nizza verteilend. Und ich war dumm genug, mich damit abzuplagen, dachte sie ingrimmig. Da sagte Albert: »Er verkauft sie; was dachtest denn du?« Sie antwortete nicht. Stumm schaute sie über die Felder hin, die einem blutroten Meer glichen, durch das sich weiße und rosa Streifen zogen gleich den Kiellinien eines Schiffes. Albert ließ sich laut seufzend in den Schatten der Pinie sinken. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne. »Sie machen viel Arbeit, die Nelken«, sagte er; »dabei wird es von Jahr zu Jahr schwieriger, sie günstig zu verkaufen. Aber Pierre schafft es immer wieder. Er ist sehr tüchtig darin. Er hat auch die letzte Tomatenernte besser verkauft als irgendein Händler in Cagnes.« Margret drehte sich mit einem Ruck zu ihm um. »Er verkauft Tomaten?« Sie starrte entsetzt in Alberts erstauntes Gesicht. »Warum soll er sie nicht verkaufen? Schließlich pflanzen wir sie deshalb. Was ist daran so schrecklich? Du hast doch wohl nicht geglaubt, wir lebten hier im Paradies wie im Schlaraffenland?« Albert lachte. Margret preßte die Lippen aufeinander. Sie wußte nicht, was sie geglaubt hatte; sie wußte nur, daß es 72
schwer war, sich vorzustellen, daß Pierre Tomaten verkaufte. Mühsam schluckte sie die Enttäuschung hinunter, die wie ein Fremdkörper in ihrer Kehle saß. »Willst du dich nicht setzen?« fragte Albert. Sie ließ sich mechanisch neben ihn ins Gras niedergleiten. Er richtete sich halb auf und zeichnete mit dem linken Arm eine lange, gerade Linie in die Luft. »Als meine Großeltern noch lebten«, sagte er, »gehörten ihnen die Felder von hier bis dort unten, wo die Ölmühle steht. Das ›Paradies‹ war ein einziger, riesiger Garten. Großvater zog das beste Gemüse zwischen Nizza und Cannes. Als er gestorben und Großmutter schwer krank geworden war, mußte Mama ein Stück nach dem anderen verkaufen. Was sollte sie sonst wohl tun, allein, wie sie war?« »War sie noch nicht verheiratet?« warf Margret ein. »Es war ein Jahr nach Vaters Tod, dazu mitten im Krieg. Ich war damals zwei und Pierre acht Jahre alt. Die Leute rieten Mama, zurück nach Amsterdam zu gehen, wo wir vorher gewohnt hatten und woher mein Vater stammte. Aber Mama wollte nicht; sie war nie sehr glücklich da oben, glaube ich. Sie ist Südfranzösin, weißt du, sie braucht die Sonne so nötig wie das tägliche Brot. Pierre ist wie sie.« »Und du?« fragte Margret. Albert lachte. »Eine französische Mutter - ein holländischer Vater, eine deutsche Großmutter -, das alles durcheinandergemengt, bin ich! Kaum glaublich, 73
daß Pierre und ich Brüder sind, nicht?« Margret betrachtete ihn von der Seite: seine kräftige, gedrungene Gestalt, sein hellhäutiges Gesicht, sein glattes, blondes Haar; nein, sie konnte keine Spur von Ähnlichkeit mit seinem Bruder Pierre entdecken. »Pierre ist schön, nicht wahr?« fragte Albert, als habe er ihre Gedanken erraten. Sie errötete. Aber er fuhr fort, ohne darauf zu achten: »Alle finden ihn schön und alle mögen ihn gut leiden; sogar die Dinge, verstehst du? Was er auch unternimmt, es gelingt ihm. Er war es, der Mama auf die Idee brachte, das Haus an Sommergäste zu vermieten. Er sagte: ›Laß das Gemüse, Mama; bau Rosen an und lade die Leute ein, sie sich anzuschauen!‹ Er nahm ein Schild, malte darauf die Worte ›le petit paradis‹ und nagelte es über den Eingang. Was daraus geworden ist, siehst du. Wir bekamen im Laufe der Zeit so viele Gäste, daß wir ein Häuschen nach dem andern bauen mußten. Es ist Pierres Werk, das Paradies!« Albert ließ sich zurückfallen und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Margret lehnte sich gegen den Stamm der Pinie. Die Sonne, die das Holz durchdrang, verlieh ihm einen herben Duft, der sich mit dem Geruch der warmen Erde vermischte. Es war sehr still. Man hörte nichts als Pattys wühlende Pfoten und das sanfte Aufklatschen der Erde, die sich rings um seinen Körper auftürmte. 74
Ein paar Wolkenfetzen schoben sich über den Himmel; sie bildeten eine Wand, über deren Ränder die Sonnenstrahlen wie Blitze zuckten. Dann zerteilten sie sich wieder und zogen wie eine Herde friedlicher Lämmer dahin. Im Baum, dicht über Margrets Kopf, begann eine Zikade ihr Lied. »Die erste in diesem Jahr«, sagte Albert. »Im Sommer hängen sie zu Hunderten in den Zweigen; man hört sie die ganzen Tage und Nächte hindurch. Aber merkwürdigerweise nimmt man sie erst dann wirklich wahr, wenn sie verstummen. Das geschieht, wenn ein Gewitter naht und der Mistral ihre kleinen Körper lähmt. Mama sagt, es gibt vieles, was dem Gesang der Zikaden gleicht: man nimmt es erst wahr, wenn es vorüber ist.« Albert schwieg. »...wenn es vorüber ist«, wiederhallte es in Margrets Kopf. Und plötzlich fiel eine unerklärliche Traurigkeit über sie her und hüllte ihr Herz ein, so wie die Wolken in diesem Augenblick die Sonne verhüllten. Der Nachmittag ging seinem Ende entgegen.
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Warum haßt mich Madame Tirande? Marie saß vor der offenen Haustür und putzte Schuhe. Die beiden Schwedenmädchen Sören und Maren tobten ausgelassen um sie herum. Sie versteckten sich abwechselnd hinter dem Fliegengitter und lugten dann kichernd, mit kugelrunden, braunen Augen hervor. Margret, gegen die Mauer gelehnt, schaute ihnen zu. Sie wunderte sich immer wieder von neuem darüber, daß die beiden Mädchen so dunkel waren. In ihrer Vorstellung hatten alle Schwedinnen blondes Haar und blaue, zum mindesten aber doch helle Augen. Aber diese hier sahen beinahe so aus wie ihr Freund Peppino, der eben, angelockt von dem Geschrei, um die Hausecke bog. Er schlich leise heran, stellte sich hinter Marie und legte seine beiden runden Hände über ihre Augen. Marie aber drehte sich blitzschnell um, hob ihre Schuhbürste und stupste ihn damit gegen seine Nase. Sie war nun glänzend und schwarz wie die Schnauze eines Hundes. Die Mädchen kreischten vor Vergnügen, Marie purzelte vor Lachen von ihrem Hocker und Prinz wedelte wie wild mit dem Schweif. Sao sprang von ihrem Ast und lief neugierig herbei. Als sie jedoch Margret erblickte, blieb sie mit fragenden Augen stehen. »Warte«, sagte Margret, »ich hol' dir was!« Sie ging ins Haus. 76
An der Tür stieß sie mit Renate zusammen. Renate trug ihr neues Tanzkleid, hatte ihr glänzendes, blondes Haar nach neuester Art frisiert und sah hübscher aus denn je. Margret musterte sie vom Kopf bis zu den Füßen. »Warum hast du dich denn so fein gemacht?« fragte sie. »Ich fahre mit Win nach Nizza.« »Mit Win?« Margret blieb vor Staunen der Mund offen. »Ja, mit Win Westrick, dem langen Engländer.« Renate schlenderte zur Pinie hinüber. Sorgfältig breitete sie ihr Taschentuch aus, bevor sie sich auf die Bank setzte. Margret kauerte sich auf die Lehne. »Magst du ihn?« fragte sie nach einer Weile. »Wen?« »Win natürlich.« Renate hob die Schultern. »Er tanzt gut«, sagte sie. »Und ihr versteht euch?« Renate lachte. »Schließlich habe ich in der Schule lange genug englisch gelernt; den Rest haben mir die amerikanischen Kinder beigebracht, die ich die vergangenen Ferien hüten mußte.« Margret wehrte ungeduldig ab. »So meine ich es nicht«, sagte sie. Renate schaute erstaunt zu ihr hin. 77
»Was meinst du sonst?« »Ich meine, ob ihr euch dem Wesen nach versteht. Engländer sind doch ganz anders als wir. Sogar Vater sagte neulich: ›Es ist selten, daß Engländer und Deutsche gut miteinander auskommen. In der Geschichte und in der Politik -‹« »Mir ist das gleichgültig«, unterbrach Renate, »ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Schließlich will ich mich ja auch nicht mit Win über Geschichte und Politik unterhalten, sondern will mit ihm tanzen. Und das versteht er; er versteht es sogar meisterhaft, kann ich dir sagen! Übrigens kommt er jetzt, wie mir scheint.« Sie stand auf. Win kam, elegant und wohlgepflegt vom Scheitel bis zur Sohle, den Gartenweg herauf. Er sprang mit seinen langen Beinen über einen der Ginsterbüsche und landete direkt hinter der Bank. Er verbeugte sich etwas steif vor Margret, legte Renates Arm feierlich in den seinen und ging mit ihr davon. Nachdenklich schaute Margret hinter den beiden her. Ihr fiel ein englischer Film ein, den sie vor einiger Zeit mit ihrer Freundin Heidi gesehen hatte. Es waren darin zwei Lords vorgekommen, lang, hager und so steif, daß es aussah, als hätte jeder von ihnen zum Frühstück einen Stock verschluckt. Heidi und sie hatten sich halbtot gelacht darüber. Margret kicherte noch jetzt in der Erinnerung daran. 78
Natürlich, man kann nicht alles, was man im Film sieht, für bare Münze nehmen; aber schließlich ist es allgemein bekannt, daß Engländer die steifsten, langweiligsten und eingebildetsten Geschöpfe der Welt sind! Dieses hochmütige, junge Mädchen, das damals im Cafe in Nizza am Nebentisch gesessen und fortwährend gelangweilt die violett gefärbten Fingernägel betrachtet hatte, war ja auch Engländerin gewesen! Und Win »Margret! Wo steckst du denn, Margret?« Frau Sahlmann riß Margret aus ihren Gedanken. Sie erschien im Türrahmen, Geldbörse und Einkaufsnetz in der Hand. »Kannst du noch ein paar Stangen Brot holen, Margret?« fragte sie. »Wir haben kein einziges Stück mehr im Hause.« Margret steckte das Geld in die Hosentasche und schlenderte davon. Prinz trabte hinter ihr drein. Sören, Maren und Peppino gaben ihnen bis zur Gartenpforte das Geleit. Dann kehrten sie grölend um. Margret hörte ihr übermutiges Gelächter noch, als sie bereits ein gutes Stück die Straße hinuntergegangen war. An der Ecke begegnete ihr Albert. »Wo gehst du hin?« fragte er. »Zu Tirande; ich muß Brot holen.« »Wir können zusammen gehen; ich soll welches für Vater Isnard besorgen.« »Demnächst«, sagte Margret, als sie nebeneinander die Straße hinuntergingen, »suche ich mir eine andere 79
Bäckerei, bei der ich unser Brot kaufe.« »Aber warum denn? Tirande hat das beste Brot von ganz Cagnes!« »Das mag sein; aber sie sind dort so unfreundlich, geradezu unhöflich zu mir.« »Wirklich? Bildest du dir das nicht nur ein?« »Nein, ich bilde es mir nicht ein; du wirst es gleich sehen!« Margret öffnete die Ladentür. Sie waren bei Tirande angekommen. Als sie herauskam, sagte sie, beinahe triumphierend: »Hast du nun gemerkt, wie herablassend Madame Tirande mit mir spricht und wie feindselig sie mich dabei ansieht?« »Du hast recht; ich habe Madame Tirande noch nie so gesehen.« »Warum ist sie so zu mir? Was hat sie gegen mich? Kannst du dir das erklären?« »Vielleicht«, sagte Albert zögernd, »ist es deshalb, weil du Deutsche bist.« »Mag sie denn die Deutschen nicht?« »Sie hatte während des Krieges viel unter ihnen zu leiden, weißt du. Sie haben ihren Mann vier Jahre gefangen gehalten; der eine Gehilfe wurde eingezogen und fiel, der andere ging zur Resistance. So mußte sie Jahre lang allein mit der Backstube, dem Laden und ihren drei kleinen Kindern fertig werden.« »Aber dafür kann ich doch nichts!« empörte sich Margret; »ich war noch nicht einmal geboren, als der 80
Krieg begann!« »Mach dir nichts daraus, Margret«, sagte Albert und legte seinen Arm um ihre Schultern, »es gibt Menschen, die können eben nicht vergessen!« »Was heißt hier schon - -« Margret verstummte. Prinz riß sich mit einem jähen Ruck von ihrer Hand los und stürmte laut bellend die Straße hinauf. An der Ecke stand Vater Isnard und winkte. »'allo!« rief er. Er konnte, wie die meisten Franzosen, das »h« nicht sprechen. Margret und Albert liefen zu ihm hin. Prinz hatte in seinem Ungestüm den Stuhl vor der Haustür umgeworfen. Lachend stellte Vater Isnard ihn wieder auf die Beine. »Setz dich ssu mir, Juliette«, sagte er dann. Margret starrte ihn verblüfft an, während sie sich auf die Steinstufen zu seinen Füßen niedergleiten ließ. »Seit wann sprichst du deutsch?« »'abe gelernt.« Margret schaute zu Albert auf, der lachend, die Hände in den Hosentaschen, am Türpfosten lehnte. »Hast du es ihm beigebracht, Albert?« Albert zwinkerte verschmitzt mit zusammengekniffenen Augen. »Es ist lieb von euch«, sagte Margret leise, während sie den Kopf gegen Vater Isnards Knie lehnte, »es ist sehr lieb von euch!« Es war ganz still. Die Häuser warfen ihre abendlich langen Schatten weit über die Straße. Ein warmer 81
Wind strich von der Höhe der Burg herunter und trieb eine feine Staubwolke vor sich her. Er ließ den grüngestrichenen Fensterladen neben der Haustür sanft in seinen schiefen Angeln pendeln. Er spielte mit den feingliedrigen Blättern der Akazie vor dem Haus und strich über die Zweige des Pfefferstrauches, daß es darin raschelte und rauschte. Er trug den Geruch verwesender Blumen vom nahen Friedhof her und mischte ihn mit den Küchendünsten, die aus den offenen Fenstern der Häuser strömten.
Welcher Friede an diesem sommerlichen Abend! 82
»SSeit ssu diner«, sagte Vater Isnard. »A-bend-es-sen« buchstabierte Margret lächelnd. Albert richtete sich auf. »Hast du schon zu Abend gegessen, Vater Isnard?« fragte er. Der Alte schüttelte den Kopf. Albert ging hinein. Nach einer Weile rief er durch die offene Tür: »Kannst du mir helfen, Margret?« Er kniete vor dem kleinen Herd und machte Feuer an. »Es sind Barben da«, sagte er, sorgfältig ein paar Scheite Holz über die Flammen schichtend, »ich habe sie Vater Isnard heute morgen mitgebracht. Kannst du sie ihm braten? Es wird zu spät, wenn er damit warten soll, bis Marie kommt.« Margret hatte noch nie in ihrem Leben Fische selbst gebraten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte. Aber Vater Isnard kam herein und putzte sie und Margret brauchte nur den Tisch und die Schüssel wieder sauberzumachen. Kopf und Schwanz warf sie den Katzen zu, die sich balgend damit unter den Schrank zurückzogen. Inzwischen hatte Albert Öl in die Pfanne gegossen. Sie legten die Fische hinein, beugten sich darüber, schnupperten, stießen sich an und lachten. Als sie dann um den Tisch saßen, klebten Margrets Haar und Arme voll silbriger Schuppen, auf Alberts Hemd prangte ein riesiger Fettfleck und Vater Isnard 83
mußte von Zeit zu Zeit das Blut von seinem Finger, in den das scharfe Messer geraten war, lecken; aber sie waren sich darüber einig, daß ihnen noch keine Mahlzeit so gut geschmeckt hatte wie diese. Vater Isnard schenkte jedem ein Gläschen Rotwein ein und sie tranken sich zu, lachend, strahlend und glücklich. Als Margret sich schließlich nach dem letzten Bissen mit dem Handrücken das Öl von den Lippen wischte, fiel ihr Blick zufällig auf die Kommode, auf der einsam und vergessen die Brotstangen lagen, auf die sie zu Hause sicher längst warteten. Sie sprang auf. »Ich muß ganz schnell nach Hause!« Sie küßte Vater Isnards stachelige Wange, rief Albert ein hastiges »Salut!« zu und rannte, das Brot unter den Arm geklemmt, davon.
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Auch Feinde sind Menschen Das kleine Mädchen, das den Burgweg herunterkam, blieb vor jeder der vielen Stufen einen Augenblick stehen, ehe es mit einem leisen Freudenschrei darüberhopste; das kurze Röckchen schwang dabei wie eine Glocke hin und her und die Spitzen des dunklen Haares wippten über den Schultern. Die Kleine lachte Margret fröhlich an. Die reinste Himmelsleiter ist das, dachte Margret. Es war das erste Mal, daß sie von dieser Seite her zur Burg hinaufstieg. Sie kam vom Markt und wollte, ehe sie die Sachen nach Hause trug, Vater Isnard mit einem kurzen Besuch überraschen. Die Sonne brannte mittäglich heiß in die Gäßchen. Der Schatten der Häuserreihe reichte kaum bis zur Mitte des Weges. Auf den Treppen, die zu jeder einzelnen Haustür hinaufführten, saßen vom Spiel erhitzte Kinder; sie hielten Marmeladebrote in den Händen und schauten neugierig hinter Margret her. Ein Hund kam angetrabt und schnupperte an ihrem Einkaufsnetz. »Das ist Gemüse«, sagte Margret zu ihm; »nichts als Gemüse, mein Lieber!« Sie warf das Netz über die Schultern. Sie hielt sich so nahe als möglich an die schattenspendende Häuserreihe. Dabei stieß sie vor einem dunklen Torbogen beinahe mit Albert zusammen. Er konnte gerade noch rechtzeitig seinen Fuß vor dem ihren zurückziehen. 85
»Was machst du denn ganz allein hier?« fragte er. »Ich will Vater Isnard besuchen.« »Schön von dir; dasselbe habe ich auch vor. In einer Stunde kommt nämlich ein Autobus voll amerikanischer Touristen an; ich habe Vater Isnard versprochen, ihm dabei ein bißchen zu helfen. Sein Englisch ist noch immer ziemlich holprig, weißt du.« »Kannst du es denn perfekt? Wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?« fragte Margret erstaunt. »Französisch, Deutsch und Englisch fließend, Italienisch mittelmäßig und Schwedisch ein bißchen.« »Großartig, du, das möchte ich auch können!« »So großartig ist es nun auch wieder nicht; das meiste habe ich ohnehin von unseren Gästen gelernt.« Albert lachte. Margret blieb stehen. »Was ist das denn?« Durch die offene Tür eines niedrigen Hauses drang der Dunst von Wasser, Laugen und feuchter Wäsche, zugleich mit dem Geräusch rinnender Brunnen und heller Frauenstimmen. »Das ist das Gemeindewaschhaus«, sagte Albert. Margret trat bis an die Schwelle heran. In dem dunklen Raum standen etwa acht Frauen rings um einen langen, steinernen Waschtrog und schwenkten darin ihre Wäsche wie zu Urgroßmutters Zeiten. Wie altmodisch! dachte Margret. In einem französischen Film hatte sie einmal so eine Waschküche gesehen; aber sie hatte nicht geglaubt, daß es sie in 86
Wirklichkeit gäbe. Sie trat einen Schritt näher. Da sah sie Marie, die sich gerade zu einer jungen Frau hinüberbeugte, die ihr etwas sehr Lustiges zuzuflüstern schien. Marie lachte laut auf; sie bog den Kopf zurück. Dabei erblickte sie Margret und Albert, dicht neben der Schwelle, inmitten des Schwalles der Wasserdämpfe. Sie winkte und wandte sich wieder ihrer Nachbarin zu. »Was macht Marie denn hier?« fragte Margret im Weitergehen; »warum wäscht sie ihre Sachen nicht mit eurer schönen, neuen Waschmaschine?«
Diesen Schwatz in der Waschküche wollte Marie nicht entbehren
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»Ganz einfach; weil sie auf diese Weise jede Woche mit den anderen Mädchen und Frauen zusammenkommt. Dabei erfährt sie dann, daß der Kleine des Doktors Dubois sein erstes Zähnchen bekommen hat, daß der alte Michel wieder einmal betrunken nach Hause gekommen ist und daß Pauline Tirande letzten Sonntag wieder mit Charles Minette tanzen war.« Albert lachte. »Wir leben hier wie in einer großen Familie, weißt du«, fügte er hinzu. Margret dachte daran, daß zu Hause, in dem großen Mietshaus, keiner sich um den anderen kümmerte und man von seinen Nachbarn kaum mehr als den Namen wußte. Sie wollte etwas sagen, aber da öffnete Albert bereits das Schloßportal. Vater Isnard war damit beschäftigt, einem Fremden den Mechanismus der alten Ölmühle zu erklären, die in der ehemaligen Schloßküche stand. »Wir könnten solange auf den Turm gehen, willst du?« flüsterte Albert. »Fein!« sagte Margret. Sie liefen hintereinanderher die schmale, dunkle Wendeltreppe hinauf. Eine Wildtaube flog hoch, als sie die Plattform betraten. Der Tag war so klar, daß man die Küste bis zur Bucht von Nizza überblicken konnte. Das Meer lag unbeweglich und still unter dem Himmel wie ein riesiges Stück glänzend blauer Seide. Aus den welligen Wiesen hervor leuchteten die roten Teppiche der 88
Nelkenfelder, während in den Tälern die blauen Schatten der Olivenhaine lagen. Nach Norden sah man die fruchtbaren Hügel sich bis zu den Bergen von Grasse hinziehen. Nach Osten zu erhob sich die Mauer der Meeralpen mit ihren gleißenden, schneebedeckten Gipfeln. Die Straße nach Vence, unterhalb der Burg als schmaler, weißer Streifen sichtbar, verlor sich in lichtgrünen, sonnendurchfluteten Wäldern, deren Duft nach Moos, Thymian und Rosmarin man selbst hier oben zu spüren vermeinte. Was für ein friedliches, gottgesegnetes Land, dachte Margret. Da hob Albert, dicht neben ihr, den Arm. Er deutete hinweg über das Gewoge der Wipfel, das den Hügel zu Füßen der Burg wie ein grüner Mantel umhüllte, auf eine Lichtung. »Dort drüben«, sagte er, »ist der Friedhof.« Grell leuchteten die weißen Marmorgrabsteine in der Sonne herauf. Zwischen ihnen erhoben sich, wie mahnend ausgestreckte Finger, die einsamen Spitzen dunkler Zypressen. »Da liegen sie alle drei begraben: Madame Isnard, Gaston und Juliette.« Fröstelnd trotz der Wärme zog Margret die Schultern hoch. »Es ist schwer, sich vorzustellen«, sagte sie nach einer Weile, »daß hier irgend jemand durch den Krieg umgekommen sein soll.« »Und doch ist es so.« Der Wind, der durch die Zinnen strich, faßte Alberts Haar und legte es in breiten Strähnen quer über seine Stirne. Er beachtete es nicht. Er schaute auf 89
einen bestimmten Punkt inmitten der weißen Kreuze. »Ich hatte keine Ahnung, daß auch hier, im Süden, gekämpft wurde«, sagte Margret nach langem Schweigen. »In der Schule haben wir gelernt, daß die Eroberung Frankreichs von Norden her erfolgt sei. In unserem Buch stand: ›Am 10. Mai 1940 begann der Angriff im Westen über die neutralen Länder Holland, Belgien und Luxemburg. Am 14. Juni zogen die Deutschen in Paris ein. Im Wald von Compiègne wurde der Waffenstillstand unterzeichnet.‹ Damit, dachte ich, war der Krieg für Frankreich beendet.« »Die Wirklichkeit sieht immer anders aus, als das, was in den Büchern steht. Wie geht sie denn weiter, deine Geschichte?« »Es stand nicht sehr viel mehr drin. ›Frankreich war besiegt‹, weiter nichts.« Ein Schatten legte sich über Alberts sonst so klare, helle Augen. Er betrachtete ein Flugzeug, das fern über den Bergen seine lautlosen Kreise zog, während er sagte: »Weiter nichts. Es bedeutet ja auch weiter nichts, wie Frankreich besiegt wurde; es bedeutet nichts, daß Städte zerstört wurden; daß Tausende von französischen Männern in Gefangenschaft gerieten; daß Frauen und Kinder hungern mußten; daß Knaben wie Gaston, wenig älter als dein Bruder Thomas, erschossen wurden; daß Juliette, ein Mädchen wie du, mitsamt ihrer Mutter von Bomben zerrissen wurde. Es bedeutet weiter nichts, daß -« »Hör auf«, rief Margret dazwischen, »warum sagst 90
du das alles mir? Ich bin doch nicht schuld an alldem, was geschehen ist! Und schließlich« - sie schob trotzig die Unterlippe vor -, »schließlich war nun einmal Krieg und die Franzosen waren unsere Feinde!« Albert drehte sich mit einer jähen Bewegung zu ihr hin. Er beugte sich vor und betrachtete lange ihr Gesicht, als sähe er es zum erstenmal. »Und wie erklärst du das«, sagte er schließlich, »daß meine Großmutter, eine Deutsche wie du, in ein Lager gebracht wurde und wir sie seitdem nie wiedersahen? Wie erklärst du, daß mein Vater, ein Holländer -« Er verstummte und wandte sein Gesicht wieder von ihr ab und den weißen Kreuzen auf dem Friedhof zu. Margret sah, wie seine Lippen sich aufeinanderpreßten und seine Wangen alle Farbe verloren hatten. Plötzlich, in jäher Erkenntnis, begann sie zu begreifen. »Du willst damit doch nicht sagen, daß dein Vater - -« Sie wagte nicht weiterzusprechen. »Mein Vater«, sagte Albert, und seine Backenknochen traten wie harte Striche unter seiner Haut hervor, »wurde an dem Tag, an dem die deutschen Soldaten in Amsterdam einmarschierten, erschossen.« »Aber warum -« »Wir waren Feinde.« Albert lächelte bitter. Margret preßte die Hände gegen die rauhen Steine der Brüstung. Sie starrte über die Mauern der Zinnen hinweg in die Tiefe; aber sie sah nicht mehr als den zitternden Schleier ihrer Tränen, die ihre Augen 91
verhüllten. »Es tut mir leid, Albert«, sagte sie leise, »es tut mir so schrecklich leid.« Sie schluckte mühsam. »Nie zuvor«, fuhr sie nach einer Weile fort, »habe ich über all das nachgedacht. Der Krieg war so lange vorbei! Was ging er mich an? Frankreich, Holland, die Niederlande waren bunte Flecke auf der Landkarte - mehr nicht. Es kam mir niemals in den Sinn, daß die Menschen, die dort wohnten, nicht nur Feinde waren, sondern Menschen, Menschen wie du und Pierre, wie Vater Isnard und Marie und Juliette. Wie konnte ich euch Feinde nennen, wie konnte ich das nur!« Die Tränen rannen nun wie kleine Bäche über ihr Gesicht. Behutsam wischte Albert sie mit dem Ende seines Taschentuches fort. In diesem Augenblick drangen Rufe und aufgeregte Stimmen vom Schloßpark herauf. »Komm«, sagte Albert, »der Autobus mit den Amerikanern ist da.«
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Pierre und die Burg bei Nacht Es war gegen Abend, als Margret in der Lichtung neben der Straße kauerte und die Burg knipste. Albert blieb, seine Bocciakugeln unter dem Arm, einen Augenblick hinter ihr stehen. »Am schönsten ist sie nachts«, sagte er. »Nachtaufnahmen gelingen mir selten; es ist ein ganz einfacher Apparat, weißt du«; sie zeigte ihn ihm. »Ich meine nicht, daß du sie nachts photographieren sollst, ich meine, daß du sie dir nachts ansehen sollst.« Margret schob den Apparat in die Tasche zurück. »Und was, glaubst du, würden meine Eltern sagen, wenn ich bei Dunkelheit allein durch die Gegend liefe?« »Du brauchst nicht allein hinzugehen; ich begleite dich, wenn du willst.« »Hm; ich will Vater einmal fragen.« »Wenn dir mein Schutz nicht genügt«, rief Albert im Weitergehen über die Schultern zurück, »können wir auch noch Pierre mitnehmen.« »Glaubst du, er ginge mit?« »Warum nicht? Er ist beinahe jeden Abend oben!« Margret öffnete den Mund wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Dann drehte sie sich um und rannte so hastig ins Haus, daß Petite, die auf der Schwelle lag, entsetzt beiseite sprang. Margret fand ihren Vater Zeitung lesend auf dem Sofa sitzen. Wie ein Wasser93
fall sprudelten ihr die Worte über die Lippen. »Ich darf doch, Vater, nicht wahr? Du erlaubst es doch?« sagte sie zum Schluß. Sie zitterte vor ungeduldiger Erwartung, während sie zusah, wie ihr Vater bedächtig den Streifen einer neuen Zigarettenschachtel abriß. Frau Sahlmann schob ihm die Streichhölzer über den Tisch entgegen. »Findest du nicht, Alfred«, sagte sie, »daß unsere Kinder hier zu richtigen Vagabunden werden? Thomas erscheint nur noch zu den Mahlzeiten, Renate telephoniert aus Nizza, sie käme erst um neun Uhr zurück und nun kommt auch noch Margret und will mit irgendwelchen Burschen nachts auf der Burg herumlaufen!« »Albert und Pierre van Rijk sind nicht irgendwelche Burschen, Mama!« Margret hatte es aufgebracht gerufen und nun biß sie sich nervös auf die Lippen. Ihr Vater betrachtete sie hinter seiner Brille hervor mit mißbilligenden Blicken. Sie senkte den Kopf. Wenn er es mir verbietet, gehe ich heimlich! dachte sie trotzig. Sie stand noch immer abwartend, mit hängenden Armen, mitten im Raum. Frau Sahlmann begann, den Tisch fürs Abendbrot zu decken. Margret rührte sich nicht, ihr zu helfen. Warum muß sie mir auch den Spaß verderben, dachte sie finster. Da sagte Herr Sahlmann, sich seiner Frau zuwendend: »Margret hat Recht; schließlich sind Albert und Pierre Frau van Rijks Söhne. Warum sollen wir ihnen 94
die Bitte abschlagen?« Margret verspürte eine schier unüberwindliche Lust, irgend etwas ganz Verrücktes zu tun. Mit ihrem Vater einen Cha-Cha-Cha zu tanzen zum Beispiel oder ein paar Minuten lang ganz unsinnig laut zu schreien oder wenigstens einen Teller vom Tisch zu nehmen und ihn auf den Fliesen zu zertrümmern. Sie nahm sich mit aller Kraft zusammen. Sie begnügte sich damit, auf ihrem Stuhl lebensgefährlich auf und nieder zu wippen, sich den Mund mit der Suppe zu verbrennen und über die Tomaten Zucker und in den Tee Salz zu streuen. Sie fand, daß die Sonne noch nie so spät untergegangen sei und die Zeiger der Uhr sich noch nie so langsam bewegt hätten wie heute. Sie warf Thomas, der sie fragte: »Hast du Ameisen verschluckt?« einen vernichtenden Blick zu und rannte wie ein Tiger im Käfig zwischen Veranda- und Haustür hin und her. Sie dachte gerade: Sie kommen nicht! Entweder hat Albert es vergessen oder Pierre hatte keine Lust, mich mitzunehmen - da erschienen die beiden auf der Terrasse und holten sie feierlich und in aller Form ab. Der Mond stand als leuchtende, gelbe Scheibe über den Bäumen. Er zeichnete die Umrisse ihrer Kronen wie zartes Filigran in den nächtlichen Himmel. Ein leiser Wind sang und flüsterte in den Zweigen. In den Gärten quakten die Frösche. Ab und zu huschte ein Tier über den Weg. Margret ging zwischen Albert und Pierre, rechts 95
und links eingehakt; angestrengt versuchte sie, sich den langen Männerschritten anzupassen. Pierre lächelte. »Hol nicht so weit aus«, sagte er zu Albert. Daraufhin klang der Tritt der drei Paar Füße wie einer durch die stille Straße. In Vater Isnards Haus brannte noch Licht. Man hörte Maries Lachen hinter der angelehnten Tür. Albert rief ein Scherzwort hinauf. Aber als Marie den Kopf durchs Fenster steckte, konnte sie nur noch drei Schatten erkennen, die bald darauf in der Dunkelheit der Gäßchen verschwanden. Die Häuser, an deren Mauern noch der warme Atem des Tages hing, schienen näher zusammengerückt als sonst. Ihre Umrisse verschwammen in den tiefen Schatten der Nacht; nur auf den Dächern lag das Mondlicht glatt und weiß wie zum Bleichen ausgelegte Wäsche. Die Büsche, die die Wände umrankten, rieben ihre Blätter im Luftzug aneinander. Ihr Flüstern und Raunen vermischte sich mit dem Klingen der Perlenschnüre vor den offenen Haustüren zu einer geheimnisvollen Melodie. Der matte Schein elektrischer Birnen hinter den zugezogenen Fensterläden zeichnete schmale, helle Streifen in das Holz, die Margret erschienen wie Reihen lächelnder Münder. Dazwischen hervor drangen gedämpft die mannigfaltigen Geräusche eines beendeten Tages. Lauschend, wie verzaubert, ging Margret zwischen den beiden Männern dahin. 96
Plötzlich schrak sie zusammen. Dicht vor ihnen tauchten zwei glänzende, grüne Punkte auf, die jäh aufflammten und wieder erloschen.
Wie verzaubert ging Margret mit Pierre und Albert zur Burg 97
»Es ist nur eine Katze, die auf einem Fliederbusch sitzt«, beruhigte Albert. Margret lachte ein bißchen beschämt. »Alles sieht ganz anders aus als sonst«, sagte sie. »Das macht die Nacht«, erwiderte Pierre. Sie stiegen die Stufen zum Schloßplatz empor. »Pierre behauptet«, sagte Albert, »daß es auf der ganzen Welt keine schönere Burg gibt als die von Cagnes.« »Oh!« Margret rümpfte ein bißchen die Nase. Zu Hause, in Deutschland, hatte sie schon viele Schlösser gesehen, die weitaus schöner und wertvoller waren als diese alte, zerbröckelnde Grimaldiburg. Sie konnte nicht glauben, daß Albert es ernst meinte mit seiner Behauptung. Aber dann, als sie die letzte der vielen Stufen erreicht hatten, blieb sie mit einem erstaunten Ausruf stehen. Die Strahlen der Scheinwerfer gossen ein helles, strahlendes Licht über die Mauern der Burg. Makellos schön, wie eine unirdische Erscheinung, trat sie aus der Dunkelheit des nächtlichen Himmels hervor. »Ist sie es denn wirklich?« fragte Margret erstaunt. »Ich sagte dir doch: nachts ist sie am schönsten«, erwiderte Albert, und Pierre fügte hinzu: »Das kommt daher, daß man nachts ihre Flecken und Sprünge nicht sieht.« Er lachte. Margret schwieg. Sie schaute in die Kronen der 98
Platanen, deren Blätter hell und zart und durchsichtig waren wie Glas. Sie glaubte nicht daran, daß allein die Nacht die Dinge so sehr veränderte, daß sie kaum noch imstande war, sie wiederzuerkennen; es mußte noch irgend etwas anderes sein. Sie konnte nur nicht darauf kommen, was es war. In ihre Gedanken hinein sagte Pierre: »Sie trinken doch ein Gläschen Wein mit uns?« Sie nickte stumm. Sie gingen auf die Bar zu. Wenn Mama mich sähe! dachte Margret, als sie, dicht hinter Pierre, über die Schwelle trat. Der Raum war angefüllt mit Musik und Rauch und den Farben der bunten Blumen auf jedem Tisch. »Wollen wir tanzen?« fragte Pierre, kaum daß Margret sich hingesetzt und an ihrem Wein genippt hatte. Sie stand auf. Er legte den Arm um sie. Sie tanzten. Die Bilder an den Wänden, die rote Glut im Kamin, die wippenden Stengel der Blumen tanzten mit. Alberts Gesicht in der Ecke schwebte als heller Kreis über dem Tisch auf und nieder. Der Boden begann, sich zu heben und zu senken wie der eines Schiffes auf stürmischer See. Wenn Margret die Augen schloß, tanzten winzige, bunte Punkte aus der Dunkelheit auf sie zu. Sie bildeten Ringe und Kreise und drehten sich mit ungeheurer Geschwindigkeit um sich selbst. Sie verschwanden, wenn sie die Lider wieder öffnete. Dann sah sie nur noch die beiden glänzenden Punkte 99
in Pierres Augen dicht über den ihren. Sie tanzte und tanzte. Noch nie zuvor hatte sie solche Freude daran gehabt. Sie gönnte sich nur kurze Pausen, in denen sie zwischen Albert und Pierre saß, an ihrem Wein nippte und selbstvergessen vor sich hin sang. Es ging schon gegen Mitternacht, als Albert schließlich sagte: »Mußt du nicht nach Hause, Margret?« Sie schaute ihn an, wie aus einem schönen Traum erwacht, und stand auf. Draußen, in der Dunkelheit, stolperte sie über die vorstehende Wurzel einer Platane. Fürsorglich legte Pierre den Arm um ihre Schultern. Und wie sie so mit ihm die engen Gäßchen hinunterschritt, da wußte sie plötzlich, warum alles so ganz anders war als sonst. Es ist, weil Pierre bei mir ist, dachte sie und lachte glücklich. Stumm ging sie dahin, den Kopf ein wenig gesenkt unter dem Druck seines Armes, und wünschte nichts so sehr, als daß dieser Weg niemals ein Ende nähme. An der Lichtung blieben sie noch einmal stehen. Die Schatten der Bäume hüllten den Hügel in undurchdringliche Finsternis, so daß die Burg frei und schwerelos über dem schwarzen Abgrund zu schweben schien. »Sie ist wirklich so schön wie keine andere sonst«, sagte Margret. 100
Albert lachte. Pierre schwieg. Dann, schon halb im Gehen, sagte er: »Damals, als die deutschen Soldaten auf der Burg waren, sah man nachts nicht mehr von ihr als die Zinnen, die wie weiße Würfel in der Luft hingen.« »Soldaten?« fragte Margret erstaunt, »was in aller Welt trieben denn die deutschen Soldaten auf der Burg?« »Sie hatten auf dem Turm eine Flak aufgebaut.« »Eine Flak? Hatten sie denn das Recht dazu? Ich denke, die Burg steht unter Denkmalschutz!« »Danach, Mademoiselle, hat keiner gefragt.« Pierres Stimme klang so bitter, wie Alberts Lächeln gewesen war, als er gesagt hatte »...wir waren Feinde.« Margret spürte, wie zugleich seine Hand von ihrer Schulter glitt und der Nachtwind, kalt wie das Wort »Mademoiselle«, ihren Nacken berührte. Ihr war, als stürze sie, von ihm gestoßen, aus der Höhe eines sonnenumstrahlten Gipfels in die Tiefe einer schwarzen, eisigen Schlucht. »Pierre«, wollte sie rufen, »Pierre!« Aber kein Laut kam aus ihrer Kehle, die zugeschnürt war vor Entsetzen und Angst. Das Schweigen wuchs um sie her wie eine Mauer. Und obwohl Pierre nun dicht neben ihr den Weg zum Haus hinunterging, war ihr doch, als wäre er Meilen von ihr entfernt. »Gute Nacht«, würgte sie hervor, ehe sie ins Haus lief und sich drinnen laut schluchzend über ihr Bett warf.
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Wie läßt sich Unrecht wiedergutmachen? Nachdem die Sonne den grauen Dunst des Morgenhimmels durchbrochen hatte, breiteten sich ihre Strahlen mit goldenem Glanz über das ganze »kleine Paradies«. Sie lockten die kleinen Vögel aus den Büschen und Bäumen hervor in die Luft, sie öffneten die Blüten der Rosen rund um das Haus und ließen die Feuchtigkeit von den Wiesen als dünnen, weißen Nebel aufsteigen. Die Tomatenpflänzchen am Rande des Gartens versuchten, ihr die Köpfe entgegenzuheben; aber die Stengel, schwach vom allzu raschen Wachstum, sackten müde in sich zusammen. »Höchste Zeit, sie aufzubinden; wenn ein Mistral kommt, knickt er sie mir alle um«, murmelte Albert. Er strich sich mit dem Handrücken die breite Haarsträhne zurück, die in sein Gesicht gefallen war. Dann kniete er sich nieder, steckte einen Holzstab in die Erde, lehnte eines der Pflänzchen dagegen und band es mit behutsamer Hand fest. Neben ihm auf dem Boden lag ein großes Bündel sorgfältig aufgeschichteter, zurechtgeschnittener Bastfäden. Er steckte einen Teil davon in seinen Gürtel. Sie reichten für eine ganze, lange Reihe aus. Aber als er aufstand, um sich neue zu holen, sah er Patty schnaufend, niesend und vor Wonne hüpfend, darin herumwühlen. »Patty!« rief er empört. Patty schaute auf, ließ die Bastfäden noch einmal 102
wie Luftschlangen in die Höhe wirbeln und sprang dann mit einem mächtigen Satz davon. Albert schickte wütende Drohungen hinter ihm her. Aber sein Zorn half nichts; das Durcheinander war nun einmal da. Er besah es sich mit tiefen Unmutsfalten auf der Stirn. In diesem Augenblick kam Margret die Wiese heruntergelaufen. »Albert!« rief sie schon von weitem; »ich muß dir etwas sagen, Albert!« Nach Atem ringend und mit hochrotem Kopf blieb sie dicht vor ihm stehen. »Ich muß dir etwas sagen!« Albert, der, ohne aufzusehen, wütend an dem Bast zupfte, hob ein bißchen ungeduldig die Schultern. »So sag es doch!« »Du hast wohl keine Zeit für mich?« Margrets Stimme klang enttäuscht, traurig und ungewöhnlich leise. Albert schaute erstaunt auf. Ihr Gesicht war nun blaß, beinahe fahl unter der Bräune, und unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Schatten. Mit einer raschen Bewegung warf Albert das Knäuel beiseite. »Was ist mit dir, Margret?« Er breitete seine Jacke auf dem Wiesenrande aus, setzte sich darauf und zog sie neben sich. »Komm, setz dich! Was wolltest du denn sagen?« Margret grub die Zähne in die Unterlippe. 103
»Ich wollte dir sagen«, begann sie stockend, »daß ich jetzt endlich weiß, warum Pierre gestern abend so sonderbar war.« »Fandest du ihn sonderbar?« unterbrach Albert sie erstaunt. »Mir schien er bester Laune, wie immer.« »Ich weiß jetzt, warum«, fuhr Margret unbeirrt und ohne auf seinen Einwand zu achten, fort; ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich weiß jetzt, daß -« Sie schlug plötzlich beide Hände vors Gesicht und begann laut und hemmungslos zu weinen. »- daß er mich haßt«, schluchzte sie hinter ihren zusammengepreßten Fingern hervor. Starr vor Staunen hörte Albert sich diesen Ausbruch eine Weile schweigend an. Dann warf er den Kopf zurück, stützte beide Arme hinter sich ins Gras und lachte, daß es ihn nur so schüttelte. Er hörte überhaupt nicht wieder damit auf. Patty kam herbeigelaufen und schaute hinter einem Erdwall hervor neugierig zu ihm hin. Margret ließ die Hände sinken. Ihr Gesicht war rot und fleckig von Tränen und ihr Mund zitterte vor Kummer. »Du lachst«, stammelte sie, »du lachst...« Albert versuchte, ernst zu werden. »Entschuldige, Margret«, sagte er, »aber es ist so komisch von dir, dir einzubilden, daß Pierre dich haßt! Ich finde, es sieht eher nach dem Gegenteil aus!« Sie sprang auf. Sie starrte ihn an. Sie zog die Stirne, hinter der die Gedanken sich jagten wie streitende Vögel, in tiefe Falten. Dann, während sie errötend und 104
verwirrt die Augen niederschlug, öffnete sich ihr Mund zu einem glücklichen Lächeln. Sie ließ sich ins Gras zurücksinken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte selbstvergessen in die Luft. Albert betrachtete sie eine Weile besorgt. Dann wandte er beruhigt den Kopf von ihr ab und seine Gedanken kehrten zurück zu den Tomaten. Bis mittag werde ich wohl kaum damit fertig, überlegte er, noch dazu, da der Bast Er holte ihn sich her und begann von neuem, ihn zu entwirren. Da richtete Margret sich auf, legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »Warum, wenn Pierre mich nicht haßt, glaubst du wohl sonst, daß er so sonderbar war?«
»Ihr alle könnt nicht vergessen, was geschehen ist«, grübelte Margret 105
Wie hartnäckig Mädchen doch darin sind, sich selbst zu quälen, dachte Albert; sie sind wahrhaftig die merkwürdigsten Geschöpfe der Welt. Aufseufzend legte er seinen Bast wiederum beiseite. »Ich fand ihn keineswegs sonderbar«, sagte er sanft, aber entschieden. »Er war sonderbar«, beharrte Margret, »als er von den Soldaten auf der Burg sprach und mich ›Mademoiselle‹ nannte und seine Stimme dabei klang wie die von Madame Tirande.« Albert hob verständnislos die Schultern. »Pierre liebt die Burg«, sagte er, »und er kann nicht vergessen, daß sie besetzt war; das ist alles.« Margret starrte eine Weile nachdenklich vor sich hin. »Pierre«, murmelte sie dann, »kann nicht vergessen, daß die Burg besetzt war; du kannst nicht vergessen, daß sie deinen Vater erschossen haben; Vater Isnard kann nicht vergessen, daß Juliette tot ist; Madame Tirande -« Ihre Stimme brach mit einem kleinen, heiseren Ton ab. »Fang nicht wieder an zu weinen«, sagte Albert, »denk nicht mehr daran!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich muß daran denken! Es läßt mir keine Ruhe mehr. Glaubst du, ich könnte noch wie früher sagen: ›der Krieg ist längst vorüber! Was geht er mich an?‹ wenn ich Tag für Tag erlebe, wie gegenwärtig er euren Gedanken noch immer ist!« 106
»Du mußt begreifen«, warf Albert ein, »daß vieles geschehen ist, was sich schwer vergessen läßt; viel Unrecht, weißt du.« »Ich weiß«, antwortete Margret und wieder versank sie in ein langes, nachdenkliches Schweigen. »Mein Vater«, ließ sie sich endlich vernehmen, »sagt oft: ›kein Unrecht läßt sich ungeschehen machen; aber beinahe jedes läßt sich wiedergutmachen‹.« »Das ist sehr schön«, sagte Albert ein bißchen zerstreut, denn es war ihm eingefallen, daß die Tomaten ja auch noch gegossen werden mußten. Margret warf den Kopf zurück. »Was nützt es mir, daß das schön ist«, rief sie ungeduldig, »wenn ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll? Oder kannst du mir sagen, wie ich dir helfen könnte -« »O ja, das kann ich«, unterbrach Albert sie lebhaft; »du könntest mir zum Beispiel helfen, die Tomaten aufzubinden!« Er sprang auf, übersah ihr verdutztes Gesicht und ging mit verschmitztem Lächeln zu den Beeten hin. »Du brauchst mir nur den Bast zuzureichen«, rief er ihr über die Schultern zu. Mühsam schluckte Margret das unausgesprochene Ende ihres Satzes hinunter und stand auf. Albert kniete bereits inmitten der Pflanzen, nahm gerade eine von ihnen auf und lehnte sie gegen das Holz. Ohne aufzusehen streckte er die Hand nach dem Bast. Er arbeitete flink und stumm, ganz der Sorge um 107
die Pflänzchen hingegeben. Erst am Ende einer langen Reihe richtete er sich auf. Er betrachtete ihr gesenktes, gerötetes Gesicht, in dem die Unterlippe trotzig und gefährlich weit vorgeschoben war. »Dein Beitrag zur Wiedergutmachung gefällt dir wohl nicht recht, was?« Sie hob unsicher die Schultern. »Ich helfe dir gern, Albert, ich kann nur nicht verstehen, was das mit Wiedergutmachung zu tun hat, wenn ich dir Bastfäden zureiche?« »Mir sind kleine Taten lieber als große Worte, weißt du«, sagte Albert. Dann ließ er sich von neuem auf die Knie nieder. Die Stelle an seiner Stirn, an der er von Zeit zu Zeit die Haare zurückschob, war schon ganz schwarz von Erde und Schweiß. Margret dachte über seine Worte nach, während sie seinen gebeugten Nacken betrachtete, der so breit und kräftig war wie der eines erwachsenen Mannes. Das kommt von all der Arbeit, die viel zu schwer ist für ihn! Eine Welle von Mitleid stieg heiß wie Tränen in ihr hoch. »Es ist wenig, was ich für dich tue«, sagte sie leise. »Sag das nicht, Margret! Du glaubst gar nicht, wie wertvoll mir deine Hilfe ist. Allein wäre ich mit dem Bast niemals zurechtgekommen!« Sie begann mit doppeltem Eifer an dem Knäuel herumzuzupfen. »Was meinst du«, fragte sie nach einer Weile, »könnte ich wohl für Pierre tun?« 108
»Vielleicht könntest du morgen mit ihm nach Nizza fahren und ihm helfen, die Nelken zu verkaufen.« Margret nickte. Ernsthaft fuhr sie fort: »Für Vater Isnard weiß ich eine ganze Menge: ich kann einen Pullover für ihn stricken; er braucht ihn dringend. Und wenn ich abends koche, kann er mir nebenbei von Juliette erzählen, und, obendrein findet Marie dann Zeit, zu ihren Freundinnen zu gehen und braucht nicht eigens deshalb Waschtag zu halten.« »Du bist aber eifrig!« lobte Albert. »Findest du? Ich habe das Gefühl, das, was ich tue, ist viel zuwenig; man sieht kaum etwas davon.« Albert richtete sich ein bißchen aus seiner gebückten Haltung auf. »Ein zerschossenes Haus wiederaufzubauen, das würde dir wohl besser gefallen, was?« Margret schüttelte ungeduldig den Kopf. »Mach dich nicht lustig über mich, Albert; du weißt, daß ich das nicht mag!« »Ich mache mich doch nicht über dich lustig! Im vergangenen Jahr hat wirklich eine Gruppe junger Deutscher ein paar Monate lang unentgeltlich beim Wiederaufbau eines Hauses in Norwegen geholfen, und in Holland entstand ein ganzes Kinderheim auf diese Weise.« »Woher weißt du das?« »Es stand in den Zeitungen. Dieses Jahr, so habe ich gelesen, will eine Schulklasse für ein Jahr nach Griechenland und dort ein ganzes Dorf wiederaufbauen.« 109
»Ein ganzes Jahr nach Griechenland!« Margret glühte vor Begeisterung. Alles, was sie je über Griechenland gehört und gelesen hatte, stand plötzlich wie ein leuchtendes, lockendes Bild vor ihren Augen. »Nach Griechenland!« wiederholte sie seufzend, um gleich darauf heftig den Kopf zu schütteln. »So, wie ich unseren Lehrer kenne, läßt der sich niemals dazu überreden!« Albert lachte. »Dann geh doch in ein Ferienlager!« »Gibt es das denn?« »Natürlich; eine ganze Menge. Die ›Aktion Sühnezeichen‹ zum Beispiel führt welche durch oder -« Albert unterbrach sich, um nach Patty zu spähen, der in diesem Augenblick am anderen Ende des Beetes aufgetaucht war. »...oder?« forschte Margret und rüttelte in ihrer Ungeduld so heftig an einem der Stäbe, daß er sich mitsamt der angebundenen Pflanze aus der Erde löste und wie eine Waffe in ihrer Hand lag. »...oder der ›Internationale Zivildienst‹«, ergänzte Albert; er entwand ihr Stock und Pflanze und steckte beide sorgfältig wieder an ihren Platz zurück. »Du mußt Pierre danach fragen, er war schon mal dabei«, sagte er noch, ehe er einen wohlgezielten Erdklumpen neben Patty landen ließ, der gerade anfing, in den frischen Beeten zu wühlen.
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Auch Win ist anders Margret fand Pierre auf dem Hügel von »Les Collettes«, dem Landsitz des Malers Auguste Renoir. Er saß im Schatten eines uralten, knorrigen Ölbaumes, dessen Zweige weit über den Zaun und beinahe bis zum Boden reichten. Auf seinen hochgezogenen Knien lag ein Zeichenblock, den er mit schräg geneigtem Kopf betrachtete, während seine Finger mit dem Stift in seiner rechten Hand spielten. Er zeichnet, dachte Margret, ich sollte ihn lieber ungestört lassen! Aber da stand sie schon dicht vor ihm. Ihr Schatten fiel wie ein schwarzer Balken quer über sein weißes Zeichenblatt. Er hob den Kopf und lächelte. Er hatte das unwiderstehliche und unnachahmlich liebenswürdige Lächeln seiner Mutter. Margret übersah es zum erstenmal. Mit einer Stimme, die schwankend war vom Laufen und hell vor Begeisterung, stieß sie hervor: »Pierre, ich muß Sie etwas fragen. Albert erzählte mir, Sie wären in einem Arbeitslager gewesen. Wann war das und wo? Wie sind Sie dorthin gekommen? Wie lange waren Sie da? Ich muß es wissen, weil -« Ihre Stimme überschlug sich und sie mußte innehalten, um Atem zu schöpfen. »Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte Pierre in die Pause hinein. Sie kauerte sich auf die Stelle im Gras, 111
Jetzt war die rechte Zeit für viele Fragen auf die seine Hand wies und fuhr gleich darauf ebenso hastig wie vorhin fort: »...weil ich nämlich selbst gern in ein Arbeitslager gehen möchte. Ich weiß nur noch nicht recht, in welches. Wo waren Sie, Pierre?« »Ich war in Madras, in Indien.« »In Indien?« Margret schrie es beinahe. »Wissen Sie, daß ich für Indien schwärme, Pierre? Ich finde das Land so romantisch!« Sie breitete begeistert die Arme aus. 112
Pierre hob die Schultern. »Es ist nicht besonders romantisch«, sagte er, »von früh bis spät Wasser und Steine und Lehm zu schleppen, wenn man sich die Finger dabei blutig reißt und die Augen sich vor Hitze entzünden und tränen.« Margret wandte den Kopf und ließ ihre Blicke über Pierres hübsche, klare Augen und seine Hände wandern, die schmal und weiß und wohlgepflegt auf seinen Knien lagen. Dann schüttelte sie ungläubig den Kopf und fuhr, mit unverminderter Begeisterung in der Stimme, fort: »Ich habe zu Hause eine Menge Bilder von Indien; es sind auch welche von Madras dabei. Es muß eine zauberhaft schöne Stadt sein mit all den Felsenpagoden, den Hindutempeln und dem Hafen am Bengalischen Meer!« Sie schaute verzückt die Hügel hinunter, als tauchten vor ihren Augen bereits die schlanken, weißen Türmchen eines orientalischen Tempels aus dem Dunst der Ferne auf. »Besonders abends«, fügte sie verträumt hinzu, »wenn die untergehende Sonne alles mit ihrem roten Schein übergießt und die Geräusche und die Düfte der Tropennacht einem den Atem rauben.« »Vielleicht«, sagte Pierre nach einer Weile, »kann man all dies wahrnehmen, wenn man als Passagier eines Vergnügungsdampfers die Küste entlangfährt oder in einem der Luxushotels am Strande wohnt. Wir in unserem Lager sahen nachts nicht mehr als die schwarze Dunkelheit rings um unsere Moskitonetze 113
und wir schlossen die Fenster vor den Dünsten der Straße, die der Monsun mit sich trug. Man kennt die Düfte der Tropennacht nicht in den Elendsvierteln, wo die Menschen auf dem bloßen Pflaster liegen, wo Kinder die Abfalltonnen nach ein paar Körnchen Reis durchwühlen, und die Fliegen, zu dichten Knäueln zusammengeballt, wie schwarze Wolken über den Rinnsteinen hängen.« Margret hob sich auf die Knie und starrte Pierre mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an. »Das ist nicht wahr«, stammelte sie, »das ist nicht wahr!« »Doch«, erwiderte Pierre, »es ist wahr. Es ist ebenso wahr wie die Zerstörungen und die Schrecken des Erdbebens, die wir vergangenes Jahr in Griechenland erlebten. Diese Lager, wissen Sie, entstehen überall da, wo Not herrscht, und sie sind nichts für Leute, die Romantik oder Abenteuer suchen.« Margret schluckte. Sie schluckte das zusammengestürzte Kartenhaus ihrer Träume von mondhellen Nächten am Meer, von Feiern rund um das Lagerfeuer und Abenteuern in fremden Ländern mit einer einzigen, heftigen Bewegung hinunter. Dann warf sie entschlossen den Kopf zurück. »Jetzt gerade möchte ich hin!« sagte sie. Pierre lächelte ein bißchen, dann nickte er. Er beugte sich vor. Er legte seine Hand auf ihren Arm, während er sagte: »Sie werden es nicht bereuen - trotz allem. Auch ich habe es nicht bereut. Noch 114
heute sehe ich die Gesichter dieser indischen Hafenarbeiter vor mir, als sie in ihre neuen Häuser zogen: diesen Glanz wiedererstandener Hoffnung in Augen, in denen jede Hoffnung für immer erloschen schien. Ich war sehr glücklich darüber.« Er lehnte sich zurück. Er legte den Kopf gegen den Zaun, hinter dem die bunte Wildnis des Gartens duftete und blühte. Sein Haar, vom Wind in Hunderte von winzigen Löckchen zerpflückt, lag wie feine, gekräuselte Wolle um seinen Kopf. Er hatte die Augen geschlossen und lächelte. Margret wagte nicht, sich zu bewegen. Sie spürte die Wärme seiner Hand in ihren Körper strömen. Sie dachte, während sie ihn betrachtete, darüber nach, warum wohl Pierre, für den es doch nichts gutzumachen gab, die Mühsal dieses Lagers auf sich genommen hatte, und wie er es fertigbrachte, um nichts anderes als den »Glanz wiedererstandener Hoffnung« auf fremden Gesichtern glücklich zu sein. In ihre Gedanken hinein sagte Pierre: »Unvergeßlich bleibt mir übrigens auch Wins Gesicht, damals, in Madras. Der arme Kerl konnte die Sonne so schlecht vertragen. Sie brannte ihn rot wie einen gesottenen Krebs, und die Salbe, die er darauf schmierte, verwandelte ihn in den schönsten Zirkusclown.« Pierre schüttelte sich vor Vergnügen. Margret starrte ihn ungläubig an. »Sie sprechen doch nicht etwa von Win Westrick?« »Doch; genau von ihm. Wir waren zusammen in 115
Madras.« Margret vergaß vor Staunen, den Mund zu schließen. Sie versuchte, sich Win in Arbeitshosen, mit zerzaustem Haar und schmutzigen Händen inmitten einer Schar farbiger, zerlumpter Hafenarbeiter vorzustellen. Es wollte ihr nicht gelingen. »Win war in Madras?« murmelte sie fassungslos. »Ja«, sagte Pierre; »wir waren zwei Franzosen, drei Schweden, zwei Deutsche und sechs Engländer. Es war der ›internationale Zivildienst‹, wissen Sie.« »Sechs Engländer!« Margret sagte es in einem Ton, als habe sie soeben von der Landung des ersten Menschen auf dem Mond gehört. Pierre lachte. »Sie glauben es wohl nicht?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, sagte sie, »Engländer sind viel zu vornehm und viel zu sehr auf ihre Würde bedacht, als daß sie sich zu solcher Arbeit herbeiließen! Sie glauben, keiner sei so gut und so tüchtig und so rechtschaffen wie sie. Sie haben einen Dünkel - alle!« Sie begleitete jedes ihrer Worte mit einer harten, entschiedenen Bewegung ihrer Hände. Pierre richtete sich jäh aus seiner hingestreckten Haltung auf. »Merkwürdige Vorstellungen haben Sie da! Und woher, wenn ich fragen darf, beziehen Sie diese Weisheit?« Seine Stimme klang streng, beinahe schroff. Noch nie zuvor hatte Margret ihn so reden 116
hören. Sie warf den Kopf zurück und streckte ihre kleine Nase trotzig in die Luft. »Ich denke es mir so; nach allem, was ich von den Engländern gehört und gelesen habe.« Pierre beugte sich zu ihr hinüber. Seine Augen zogen sich zu einem glitzernden, schwarzen Spalt zusammen, während er sie betrachtete und sagte: »Sie sehen gar nicht danach aus, als ob Sie alles glaubten, was Sie hören und lesen.« Margret schob die Unterlippe vor. »Wie soll ich wissen, ob es stimmt oder nicht? Ich war noch nie in England und ich hatte noch nie Gelegenheit, Engländer kennenzulernen.« Sie stockte. Sie dachte daran, daß sie gelegentlich sogar auf ihr Morgenbad verzichtet hatte, nur um dort nicht mit Win zusammenzutreffen. Sie wandte den Kopf ab und begann verlegen, den Saum ihres Kleides zwischen den Fingern auf- und abzurollen. Sie hörte, wie Pierre hinter ihr sich eine Zigarette anzündete. Dann sagte er: »Ich kenne viele Engländer; keiner ist so, wie Sie ihn schildern. Und ich kenne keinen anderen Menschen, der so bescheiden wäre wie Win. Ich mag ihn gern. Er ist mein Freund.« Margret hob erstaunt den Kopf. Nie hätte sie geglaubt, daß gerade Pierre Bescheidenheit an einem Menschen schätzen würde. Für wie unbescheiden mußte er sie selbst halten! Sie, die dasaß, mit nichts als ihren unausgeführten Vorsätzen im Kopf und über 117
Win urteilte, der sich um fremder Menschen willen so sehr abgequält hatte und der Pierres Freund war! Sie holte ein paarmal Luft, ehe sie sagte: »Sind Sie mir sehr böse, Pierre?« Pierre lächelte. »Warum sollte ich Ihnen böse sein? Sie hatten ein Vorurteil, aber Sie wissen jetzt, daß es falsch war.« Er betrachtete eine Weile den Rauch seiner Zigarette, der in dünnen, geraden Linien in die Luft stieg, ehe er fortfuhr: »Keiner von uns ist frei von Vorurteilen; es kommt nur darauf an, daß wir sie überwinden. Sehen Sie, ehe ich nach Indien fuhr, rümpfte ich die Nase über die Trägheit und Gleichgültigkeit der Orientalen, die, wie ich glaubte, ihre Not selbst verschuldet hatten. Aber als ich das mörderische Klima am eigenen Leib verspürt und die Lebensbedingungen mit eigenen Augen gesehen hatte, urteilte ich anders. Es ist sehr wichtig, Margret, daß wir die Probleme der Menschen da aufspüren, wo sie entstanden sind.« »Ich glaube aber kaum, daß meine Eltern mir eine so weite Reise erlauben würden«, warf Margret verzagt ein. Pierre lachte. »Sie dürfen das nicht wörtlich nehmen. Ich meine damit, daß wir uns die Mühe machen sollten, uns in einen anderen Menschen hineinzuversetzen und zu versuchen, ihn zu verstehen. Wir sollten endlich damit 118
aufhören, uns selbst nach Herkunft, Hautfarbe, Nation und allem möglichen anderen einzuteilen und versuchen, Mensch zu sein; Mensch unter Menschen, verstehen Sie?« Sie nickte. Ihr war ganz wirbelig im Kopf von all diesen neuen, und, wie ihr schien, recht schwierigen Gedanken. »Es ist schwer, glaube ich«, sagte sie. »Man kann es lernen«, erwiderte Pierre. Margret schaute nachdenklich in das Gewirr der Blätter des Ölbaumes über ihr, die ihre silbrig schimmernden Unterseiten leise rauschend aneinanderrieben. »Lernt man es im Lager, Pierre?« fragte sie nach einer Weile. Pierre lächelte. »Man lernt zum mindesten, es zu begreifen. Man lernt, seinen Hochmut und seine Unduldsamkeit zu überwinden, und das ist schon etwas«, sagte er. Dann sprang er auf und half auch ihr, aufzustehen. »Ich glaube, es ist höchste Zeit für uns beide, nach Hause zu kommen«, meinte er, während er seine Sachen am Boden zusammensuchte und sie sich unter den Arm klemmte. In ihre Gedanken versunken ging Margret neben ihm her die Hügel hinunter. »Pierre«, sagte sie plötzlich besorgt, »sind Sie ganz sicher, daß in die Lager auch Mädchen aufgenommen werden?« »Aber natürlich, Margret; wer sollte wohl sonst kochen und putzen, Hemden bügeln und abgerissene Knöpfe annähen?« 119
Er zwinkerte vergnügt mit den Augen. Sie übersah es. Es verschlug ihr den Atem vor Entsetzen. Sollte sie dazu ihre Ferien opfern, daß sie ausgerechnet alle die Arbeiten verrichtete, die sie bis auf den Grund ihrer Seele haßte? Sie schluckte mühsam. Ihre Unterlippe zitterte ein wenig, als sie sagte: »Kochen, das kann ich nicht!« Pierre lachte laut. Er legte seine Hand auf ihren Nacken und spielte mit den Spitzen ihrer Haare, die der Wind über seine Finger blies. »Nur nicht verzagen, Margret«, sagte er, »schließlich leben wir im Zeitalter der Gleichberechtigung. Warum also sollten da nicht die Mädchen Steine schleppen und die Männer am Kochtopf stehen dürfen?« Sie lachten beide. Dann faßten sie sich an den Händen und liefen die Straße hinunter; singend und lärmend wie Kinder.
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Dies ist das Paradies! »Aber das ist doch nicht möglich«, sagte Margret und ließ das Messer, mit dem sie soeben die Butter auf ihr Brot gestrichen hatte, so plötzlich fallen, daß es klirrte und die Sonnenstrahlen wie blitzende Pfeile von der Klinge schossen. Sie starrte ihren Vater ungläubig an. »Übermorgen ist unser letzter Tag im ›kleinen Paradies‹«, wiederholte Herr Sahlmann zwischen zwei Zügen aus seiner Frühstückszigarette. Verwirrt schaute Margret um sich. Alles war wie jeden Tag um diese Zeit. Der helle, grüne Morgenschatten lag wie ein zitternder, von goldenen Lichtpunkten durchsetzter Schleier über der Terrasse. In den Zweigen der Pinien hüpften zwitschernde kleine Vögel und äugten begehrlich nach den Brotkrümeln unter dem Tisch. Von der Küche her hörte man Maries Lachen und Pierres weiche, noch ein wenig verschlafene Stimme. Oben am Garteneingang, wo sie Albert erwarteten, bellten Prinz und Patty um die Wette. Und Petite strich schnurrend, mit hoch erhobenem Schwanz, um Tisch- und Sesselbeine. Das alles kann doch nicht plötzlich zu Ende sein! dachte Margret und ihre Augen füllten sich, ohne daß sie es bemerkte, mit Tränen. Thomas beugte sich erstaunt zu ihr hinüber. »Seit wann hast du denn so nahe ans Wasser ge121
baut?« fragte er und versetzte ihr einen brüderlichzärtlichen Puff. Dann schob er, plötzlich wütend, den gesamten Rest seines Brotes auf einmal in den Mund. »Osterferien sind eben viel zu kurz!« schimpfte er. Angestrengt kauend und Beifall heischend blickte er in die Runde. Niemand antwortete ihm. Frau Sahlmann betrachtete wehmütig die rote Pracht der Geranien in den Steintöpfen, die kleine Eidechse, die sich auf dem efeuumrankten Mäuerchen sonnte und das rauschende, grüne Dach der Bäume, zwischen deren Stämmen hindurch der duftende, kühle Atem des Gartens drang. »Schade«, sagte sie schließlich und seufzte. »Schade«, sagte auch Renate, »ich hatte mich gerade so gut mit Win eingetanzt.« Sie ließ gönnerhaft die Krumen von ihrer Serviette auf Petites kleine Schnauze niederrieseln. Ein Schweigen, schmerzhaft und schwer von Erinnerungen, senkte sich über den Tisch. »Nun«, sagte Herr Sahlmann endlich, »schließlich hat ja alles einmal sein Ende. Es war eine schöne Zeit hier im Paradies; aber gerade deshalb wollen wir den letzten Tag nicht vertrauern, sondern feiern. Er soll so schön werden wie keiner zuvor. Wie wäre es, wenn wir ihn gemeinsam verbringen würden? Was meint ihr dazu?« »Einverstanden«, rief Thomas und die andern nickten. »Damit ihr auch wirklich zufrieden seid«, fuhr Herr Sahlmann fort, »hat jeder von euch einen Wunsch frei 122
für diesen Tag.« »Ich weiß etwas, Vater, ich weiß etwas!« Thomas fiel vor Begeisterung beinahe über den Tisch. Lachend wehrte Herr Sahlmann ab. »Immer schön der Reihe nach, Thomas! Zuerst ist Mutter dran!« Frau Sahlmann schaute nachdenklich von einem zum andern. »Ich wünsche mir nichts weiter«, sagte sie, »als jeden von euch da zu sehen, wo er in dieser Zeit am glücklichsten war.« »Gut«, sagte Herr Sahlmann, »dann fahren wir also morgen nach ›La Turbie‹. Ich zeige euch die ›Via Julia‹, eine uralte Römerstraße. Man sieht von dort die ganze Küste bis hin zu den Maurischen Bergen und hinunter auf das ganze Fürstentum Monaco. Das Wichtigste aber ist die ›Trophée des Alpes‹. Dieses Riesendenkmal stammt noch aus der Zeit, als Augustus mit seinen Feldherrn über die Alpen zog und Italien, Gallien und Germanien vereinigte.« »Und dann«, warf Renate, die ein bißchen gelangweilt zugehört hatte, ein, »dann fahren wir zum Mittagessen nach Nizza. Ich weiß ein piekfeines Restaurant direkt am Strand.« Sie fuhr sich schon jetzt genießerisch mit der Zungenspitze über die Lippen. »Und hernach?« rief Thomas ungeduldig aufspringend. Wiederum wehrte sein Vater lachend ab. »Jetzt ist Margret an der Reihe.« »Laß ihn, Vater«, sagte Margret und lächelte ge123
heimnisvoll. Sie brauchte den Abend für den Plan, den sie sich, während die anderen redeten, ausgedacht hatte. »Laß ihn.« »Hernach also«, rief Thomas triumphierend, »fahren wir alle zusammen auf einem richtigen, großen Passagierdampfer über das Meer nach Cannes - ja, Vater?« Er stützte sich mit weit ausgebreiteten Armen auf die Tischkante, als stünde er bereits jetzt an der Reling eines Schiffes. »Wird das alles nicht ein bißchen zu kostspielig?« warf Frau Sahlmann besorgt dazwischen. »Es ist schließlich der letzte Tag«, beruhigte Herr Sahlmann sie, worauf Thomas in ein wildes Indianergeheul ausbrach. Dann wandte er sich Margret zu. »Na, und was wünschst du dir?« Er war nicht besonders gespannt. Etwas noch Schöneres als eine Schiffahrt konnte es ja schließlich nicht mehr geben. »Ich wünsche mir«, sagte Margret langsam und feierlich, »daß abends alle, die zum ›kleinen Paradies‹ gehören, hier zusammenkommen: van Rijks und Westricks, die Schweden und Peppino mit seinen Eltern, Vater Isnard und Marie und Madame Tirande, die Bäckerin.« Herr Sahlmann lachte schallend. »Willst du nicht auch noch den Metzger, bei dem du einkaufst, und die Gemüsehändlerin und die Fischverkäufer vom Markt einladen?« 124
»Leider ist für so viele kein Platz auf der Terrasse«, erwiderte Margret ernsthaft. Renate schüttelte den Kopf. »Du bist wohl ganz und gar verrückt geworden«, tadelte sie, »Mutter für den letzten Abend noch so viel Arbeit aufzubürden! Soll sie denn so abgespannt nach Hause kommen, wie sie weggefahren ist? Nein, du verlangst wirklich zuviel!« »Und denke doch, was die alles essen werden! Das kostet eine schöne Stange Geld«, sagte Thomas. Margret sprang auf. Ihr Gesicht überzog sich mit brennender Röte und ihre Augen wurden dunkel vor Zorn und Enttäuschung. »Aber was verlange ich denn?« rief sie empört; »nur, daß ihr euch hinsetzt und einen gemütlichen Abend habt! Keiner von euch braucht auch nur einen Finger zu rühren. Ich mache alles ganz allein. Und das bißchen Wein und die paar Brote, die wir brauchen, kosten bestimmt nicht halb soviel wie das Mittagessen in Nizza und die Schiffskarten nach Cannes!« Sie warf trotzig den Kopf zurück und dann hob sie ganz plötzlich die Arme und schlang sie leidenschaftlich um Frau Sahlmanns Hals. »Sag ja, Mutter, bitte, sag doch ja!« Sie kämpfte mit Tränen. Lächelnd machte Frau Sahlmann sich aus der Umklammerung frei. »Gut«, sagte sie, »zwar verstehe ich noch immer nicht, warum wir alle die Leute einladen sollen, aber schließlich hat jeder von uns seinen Wunsch erfüllt bekommen - warum nicht auch du?« 125
Einen Augenblick lang starrte Margret sie ungläubig an, dann brach sie in ein Jubelgeschrei aus, das an Lautstärke und Ausdauer alles übertraf, was Thomas je geleistet hatte. Hernach versank sie in nachdenkliches Schweigen. Sie mußte überlegen, wie viele Tische und Stühle wohl auf der Veranda Platz hatten, woher sie die vielen Weingläser nehmen sollte, und wieviel Brot, Wurst und Kuchen sie wenigstens besorgen mußte. Sie lief den ganzen Tag mit einem Zettel in der Hand herum, auf dem sie alles notierte, was ihr für die Erfüllung ihrer Hausfrauenpflichten notwendig erschien. Zum Schluß bekam sie regelrechtes Lampenfieber, das erst wich, als endlich alle Gäste da waren und Frau van Rijk bewundernd sagte: »Dies ist das schönste Abschiedsfest, das wir je hier erlebt haben.« Der Mond fiel in breiten Streifen über die Terrasse mit ihren bunt gedeckten Tischen und den Lichtern, die in Flaschen steckten und tanzende Schatten über die lachenden Gesichter warfen. Die Kinder, Sören, Maren und Peppino, saßen auf Kissen auf dem Boden, ausgelassen und glücklich über die Süßigkeiten, den verlängerten Abend und die ungewohnte Art, von umgestürzten Blumentöpfen statt von Tischen zu essen. Sie fütterten abwechselnd Patty, Sao und Petite mit den Resten ihres Kuchens und neckten Prinz, der zwischen ihnen thronte und sie aufmerksam und freundlich wie ein Kindermädchen bewachte. Zufrieden lehnte Margret sich in ihrem Stuhl zu126
rück. Sie legte den Kopf auf Vater Isnards Schulter und lauschte dem Gewirr der Stimmen, das wie das fröhliche Summen von Bienen über den Tischen hing. »Denk doch, Herr Westrick ist Geschichtsprofessor wie ich«, hörte sie ihren Vater sagen, der dicht neben dem Engländer saß. Frau Sahlmann nickte lächelnd. Dann wandte sie sich wieder Peppinos Mutter zu, die gerade gebärdenreich versuchte, ihr die Schwierigkeiten in der Erziehung kleiner Italienerjungen klarzumachen. Als sich schließlich herausstellte, daß sie denen aus Thomas' Kinderzeit aufs Haar glichen, lachte die junge Frau so herzlich, daß es klang, als schüttele jemand einen Baum voll silberner Glöckchen. Marie, die eifrig herumlief und leere Gläser und Teller nachfüllte, lachte mit. Dann blieb sie schmunzelnd hinter Thomas stehen, der als einziger stumm blieb, und, noch ganz erfüllt von den Erlebnissen der Schiffsreise, achtlos in sich hineinstopfte, was Marie unermüdlich auf seinen Teller häufte. Frau van Rijk unterhielt sich mit den Schweden und Albert ging herum und dolmetschte, wo es mit der Verständigung nicht mehr so recht klappen wollte. »Am liebsten würde ich für immer hierbleiben«, sagte Margret und wandte Vater Isnard ihr strahlendes Gesicht zu. Er küßte zärtlich jede einzelne ihrer kleinen Sommersprossen. »Ma petite Juliette«, sagte er. In seinen Augen, die hell und durchsichtig waren 127
wie Glas, schimmerte ein Licht wie das einer Kerze, die sich dem Luftzug beugt. Noch nie zuvor hatte Margret Glück und Schmerz zugleich sich so deutlich im Antlitz eines Menschen widerspiegeln sehen. »Ich komme wieder«, flüsterte sie überwältigt, »ich komme ganz bestimmt wieder!« Im Haus ging Licht an. Im Rahmen der hell erleuchteten Tür erschien Pierre. Er stellte den Plattenspieler an. Renate und Win begannen zu tanzen. Eine Weile schaute Pierre ihnen zu, dann ging er, um die Tische herum, auf Margret zu. Er setzte sich auf den freien Stuhl neben dem ihren. »Mama«, sagte Albert, ihm gegenüber, gerade, »erzähle Larsens doch, warum wir unseren Besitz ›das kleine Paradies‹ getauft haben!« »Ist es denn keines?« fragte Pierre Margret. Lächelnd wies er auf Sören und Peppino, die, dicht an Prinz geschmiegt, auf dem Boden eingeschlafen waren, während Maren, mit Petite im Arm, sich ernsthaft mit den roten, nickenden Geranienblüten rings um sie unterhielt. »Es ist eines«, antwortete Margret. Sie betrachtete nachdenklich die Hand ihres Vaters, die bestimmt öfter als einmal das Gewehr gegen einen Engländer gehoben hatte, und nun freundschaftlich auf Herrn Westricks Schulter lag. Sie lauschte dem Gewirr der Stimmen, die in fünf 128
verschiedenen Sprachen redeten und sich trotzdem so gut verstanden. »Es ist eines«, wiederholte sie, »jetzt weiß ich es. Einmal, an einem der ersten Tage, da fragte mich mein Vater: ›Gefällt es dir im Paradies? Bist du zufrieden?‹ Ich antwortete: ›Ich weiß nicht; ich kenne das Paradies noch nicht.‹ Jetzt kenne ich es. Daß alle hier sich so gut vertragen und wie eine einzige, große Familie sind, das ist das Paradies! Es hat seinen Namen zu Recht. Nur« sie seufzte -, »daß Madame Tirande nicht kommen wollte« - »Vergessen Sie nicht, Margret«, warf Pierre lächelnd dazwischen, »es heißt ›le petit‹ - das kleine Paradies!«
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