Das dunkle Tor Version: v1.0
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Das dunkle Tor Version: v1.0
Die beiden Männer, die auf so seltsam unterschiedliche Wei se tot waren, schritten andächtig und schweigend durch den unterirdischen Korridor. Tief in sich spürten sie, daß dies hier das eigentliche Ziel ihrer langen Reise war. Sie waren nicht gemeinsam hierher nach Uruk – jener ural ten Ruinenstadt im Staatsgebiet des heutigen Iraks – gekom men, sondern einzeln und unabhängig voneinander. Ihr Ziel war dennoch dasselbe gewesen: ein Bauwerk, das seit Tau senden von Jahren im Wüstensand begraben lag. Hier hatten sie sich getroffen. Ein innerer, übermächtiger Drang, der sich nicht mit Worten beschreiben ließ, hatte sie hergeführt und veranlaßt, mit Grabungen zu beginnen.
Was bisher geschah Duncan Luther und George Romano haben eines gemeinsam: Sie sind tot und wurden von Lilith gebissen. Nun gehorchen sie einem magischen Programm, das sie nach Uruk in den Irak zieht. Als sie dort mit Grabungen beginnen, er wacht in Schottland die Kelchdiebin Felidae aus langem Schlaf. Die Vampirin erkennt, daß sich Lilith ihrer Bestimmung nicht bewußt ist. Sie bietet ihr die fehlenden Erinnerungen – Lilith muß nur aus dem Lilienkelch trinken. Daß sie damit ihre menschliche Seite aufgeben würde, verschweigt ihr Felidae. Die Toten in Uruk haben mittlerweile eine unterirdische Höhle freigelegt, die in einen schier endlosen Gang mündet. Luther und Romano machen sich auf den Weg … Auch Landru spürt, daß der Kelch wieder da ist, und platzt, dank Beth’ Ver rat, mitten in die Zeremonie. Er und Felidae stehen sich nach 268 Jahren wieder gegenüber. Denn damals stahl Felidae das Unheiligtum vom Kelchhüter Land ru. Beim Kampf werden beide Vampire schwer verletzt. Der siegreiche Landru zieht sich mit dem Kelch nach Polen zurück. Hier schafft er Lazarus, den ersten neuen Vampir, mit seinem eigenen Blut. Doch sein Sohn mißrät – dank einer »Diebstahlsicherung« Felidaes. Lazarus folgt ei nem Zwang: den Lilienkelch zu ihr zurückzubringen! Nichts und niemand kann ihn stoppen, denn sein Körper verbrennt die Energien unglaublich schnell und entwickelt dabei riesige Kräfte. Er zieht eine blutige Spur auf War schau zu. Dort stellen sich ihm Landru und Lilith entgegen, doch er umhüllt sie mit Kelchmagie und reist mit einem Flugzeug in Richtung Australien. Landru befreit sich schneller als Lilith aus dem Kokon, kann Lazarus aber nicht mehr einholen. Als schließlich Lilith Sydney erreicht, ist der Kelch wieder in Felidaes Besitz, die sich damit zurückgezogen hat, um ihn zu reinigen. Zuvor hat sie Beth, die in ihrem veränderten Zustand Felidae töten wollte, von den Auswirkungen des Pestkeims endgültig geheilt. Landru erfährt dies, als er Beth kontaktet, im Glauben, sie wäre ihm noch untertan. Beth brüllt die Flughafenpolizei herbei, und während Landru als Sitten strolch verhaftet wird, macht sie sich mit Lilith davon …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Va ter. Seit 268 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheilig tum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Duncan Luther und George Romano – der Ex-Priesteranwärter und der ehemalige Chefarzt sind lebende Tote, allerdings keine Dienerkreaturen, denn sie wurden von Lilith gebissen, deren Keim eine andere Wirkung hat. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Gleichge schlechtlich veranlagt, hat sie sich in Lilith verliebt. Dies wurde jedoch durch eine magische Pest ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Der einzige Weg, einen neuen Vampir zu schaffen, besteht darin, ein Menschenkind schwar zes Blut aus dem Lilienkelch trinken zu lassen. Der Kodex verbietet Vampi ren, sich gegenseitig umzubringen. Lilith verstößt dagegen und wird gna denlos gejagt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Sie – das waren George Romano und Duncan Luther. Letzterer war ein ehemaliger Priesteranwärter, dessen Leben gründlich durcheinander geraten war, seitdem er einem schatten haften Wesen namens Lilith Eden begegnet war, das in Gestalt der verführerischsten und erotischsten Frau agierte, die er je gesehen hatte. Er hatte sie davor bewahrt, exorziert zu werden, und von da an waren ihre Schicksale auf geheimnisvolle Weise miteinander ver knüpft gewesen. So war er in einen Strudel unheimlicher Ereignisse hineingerissen worden und hatte sich an Liliths Seite gegen Vampire zu erwehren, die sie zu töten trachteten, obwohl auch sie selbst eines dieser Wesen war. Zumindest zur Hälfte. Ihr Vater war ein Mensch gewesen. Vor einigen Monaten war Duncan Luther in Indien in eine Falle ih rer Gegner geraten und dabei ums Leben gekommen. Was danach mit ihm geschehen war, entzog sich seiner Kenntnis. Er war irgendwo in Afrika wieder erwacht und wußte nicht, wem er sein zweites Leben zu »verdanken« hatte. Aber dieses neue Leben war nicht mehr dasselbe, das er zuvor ge führt hatte. Er fühlte sich zwar wie ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut, konnte jedoch nicht verdrängen, daß er tot gewesen war. Und nachdem er von Lilith gebissen worden war, hatte er zudem Spiegelbild und Schatten verloren. Zur selben Zeit, als ihn auch der Ruf nach Uruk ereilte. Es war ein Zustand, unter dem er litt. Er wußte nicht mehr so recht, was er eigentlich war. Und wer das alles arrangiert hatte. Und zu welchem Zweck. Sein Begleiter, der ehemalige Chefarzt der St. Margarete’s Clinic, ei ner angesehenen Privatklinik in Sydney, schien sich mit solchen Ge danken nicht herumzuplagen. Auch er hatte Bekanntschaft mit Li
lith gemacht, die als Patientin in sein Krankenhaus eingeliefert wor den war. Als er versucht hatte, sie für medizinische Forschungszwe cke zu mißbrauchen, war er tödlich verletzt worden und hatte mit letzter Kraft eine Phiole mit dem Blut der Patientin getrunken – in der Hoffnung, daß dessen besondere Zusammensetzung ihn genau so heilen würde wie seine Patientin zuvor. Doch es hatte ihn nicht zu retten vermocht. George Romano war gestorben. Dann jedoch hatte die Blutprobe eine gänzlich unerwartete Wir kung gezeigt. Er war aus dem Reich der Toten zurückgekehrt und zu neuer, untoter Existenz erwacht. Nicht als Dienerkreatur. Sondern als ein Bote mit einem Auftrag. Genau wie Duncan besaß auch er nun weder Spiegelbild noch Schatten. Dennoch unterschied sich sein Gesamtzustand in vielem erheblich von dem Duncans. Denn im Gegensatz zu dem ehemali gen Priesteranwärter benötigte George Romano in seiner neuen Existenz keine Nahrung und keinen Schlaf, und er besaß auch kei nen Herzschlag und keinen Blutkreislauf mehr. Was ihn »am Leben« hielt und seinen Körper vor der Verwesung bewahrte, war ein Rät sel. Denn ihn dürstete – im Gegensatz zu den Dienerkreaturen – nicht einmal nach Blut. Dafür machte ihm das Sonnenlicht zu schaffen. Wenn er ihm aus gesetzt war, versiegte ein Teil seiner Kräfte, und er war nicht mehr zu größeren Anstrengungen fähig. Diese Empfindlichkeit nahm von Tag zu Tag zu. Bald würde er sich gar nicht mehr ins Licht wagen dürfen. Duncan Luther wußte nicht, ob ihn der Gedanke, daß er ange sichts dessen noch sehr viel menschlicher war, trösten sollte oder nicht. Es gab Augenblicke, in denen er sich wünschte, wieder so leben zu
können wie in der Zeit, bevor er Lilith kennengelernt hatte; in einer Zeit, da er noch fest daran geglaubt hatte, genau zu wissen, wie die Wirklichkeit beschaffen war, und in der er noch nichts von den fins teren Abgründen geahnt hatte, die sich inmitten der Welt auftaten. Doch dieser Wunsch war unerfüllbar. Was er oder Romano früher einmal gewesen waren, spielte hier und jetzt keine Rolle mehr. Längst waren sie zum Spielball von geheimnisvollen Mächten ge worden, von denen sie kaum mehr als eine blasse Vorstellung hat ten. Nachdem sie ihr innerer Drang nach Uruk geführt hatte, hatten sie unter demselben Zwang in wochenlanger, zäher Arbeit im Wüsten sand ein Tor freigelegt, das in das alte Bauwerk hineinführte. Anfänglich war noch ein dritter Mann bei ihnen gewesen: Paul Kravetz, ein ehemaliger Callboy aus Sydney und einer von Liliths ersten »Blutspendern«, der zum Untoten geworden war, nachdem Vampire ihn zerrissen hatten. Er war sogar als erster hier eingetrof fen, doch eine Wächterkreatur, auf die sie hinter dem Tor gestoßen waren, hatte seiner untoten Existenz endgültig ein Ende bereitet. Duncan Luther und George Romano war es gelungen, die Kreatur zu überlisten und zu vernichten. Danach war der Weg ins Innere des Bauwerks frei gewesen, und sie waren in den dunklen Korridor eingedrungen, durch den sie sich nun bewegten. Er war so breit wie ein U-Bahn-Tunnel, so daß sie keine Schwierig keiten hatten, bequem nebeneinander zu gehen. Die Wände rings herum bestanden aus einer glatten, undefinierbaren Masse. Als Duncan Luther tastend mit der Hand darübergefahren war, hatte sie sich kühl – beinahe ein wenig zu kühl – und irgendwie unangenehm angefühlt. Hier drinnen schien es kein Licht und kein Dunkel zu geben. Ob wohl sie keine Lampe mitgenommen hatten und kein Sonnenstrahl
bis hierher drang, konnten sie problemlos alles erkennen. Vor ihnen verlief der Korridor leicht abfallend scheinbar bis in die Unendlich keit. Duncan Luthers Verstand sagte ihm, daß dieser Eindruck täuschen mußte. Das Bauwerk war trotz seiner Größe viel zu klein, als daß es einen derart langen Korridor hätte beherbergen können. Sein Gefühl hingegen versicherte ihm, daß dies alles trotzdem sei ne Richtigkeit hatte. Es gab einen Plan – eine verborgene Gesetzmä ßigkeit – hinter diesen offensichtlichen Widersprüchen. Zu beiden Seiten des Hauptkorridors zweigten alle zehn oder zwölf Meter Seitengänge ab. Sie hatten einen wesentlich geringeren Durchmesser und waren gerade so breit, daß man zu zweit dicht ne beneinander hindurchgehen konnte. Im Gegensatz zum Haupttunnel war der Blick in sie hinein be schränkt. Schon nach fünf, sechs Metern schienen sich die Gänge in undurchdringlicher Schwärze aufzulösen – einer solch verschlingen den Schwärze, daß bislang keiner von ihnen beiden auf die Idee ge kommen war, sich in einen davon hineinzuwagen. Statt dessen gingen sie weiter geradeaus. Duncan Luther wußte nicht, wie lange sie schon durch den Korri dor schritten – der Eingang hinter ihnen war vor Stunden aus ihrem Blickfeld verschwunden –, als er plötzlich bemerkte, daß der Drang, der ihn bisher vorangetrieben hatte, verschwunden war. Er blieb ste hen und lauschte in sich hinein, um sich dessen zu vergewissern. Kein Zweifel, die geistige Klammer, die ihn in den letzten Wochen eisern in ihrem Griff gehalten hatte, war nicht mehr vorhanden. Er fragte sich unwillkürlich, ob er jetzt, in diesem Augenblick, in der Lage gewesen wäre, das Bauwerk zu verlassen, seines Weges zu gehen und das zu tun, wozu immer er Lust verspürte, ohne daß ihn irgendein innerer, unbezähmbarer Zwang antrieb, bestimmte Dinge
zu tun, von denen er selbst nicht wußte, wozu. George Romano bemerkte erst einige Schritte später, daß Duncan zurückgeblieben war, und blieb ebenfalls stehen. »Was ist?« »Der Drang … Er ist verschwunden.« Nun schien auch George Romano in sich hineinzulauschen. »Ja, du hast recht.« Er atmete tief durch – eine im Grunde sinnlose Hand lung, da er ja über keinen Blutkreislauf verfügte, dem er auf diese Weise mehr Sauerstoff hätte zuführen können. Es war wahrschein lich nur ein Überbleibsel alter, eingefahrener Verhaltensweisen. »Ich fühle mich auf einmal seltsam frei. So frei wie seit Wochen nicht mehr.« »Mir geht es genauso.« Duncan zögerte. »Aber … da ist noch et was anderes …« »Was?« »Mir ist, als ob …« Duncan zögerte. »Als ob ich plötzlich wüßte, daß dieser Korridor hier nicht das eigentliche Ziel unserer Reise ist.« »Nicht? Aber ich dachte …« »Nein! Nicht dieser Korridor.« Duncan wandte sich zur Seite und streckte die Hand aus. »Es sind die Seitengänge. Sie sind das wirk lich Bedeutsame an diesem Ort.« Romano hob die Schultern – wieder so ein Überbleibsel aus alten Zeiten. »Wie kommst du darauf?« »Das kann ich nicht genau sagen.« Duncan ertappte sich dabei, wie er ebenfalls die Schultern hob, und fragte sich, ob es auch in sei nem Fall nicht mehr als eine automatisierte Handlungsweise aus sei nem früheren Leben war. Nein! schrie es stumm in ihm. Ich bin noch immer ein Mensch. Ich atme, und ich muß essen und trinken. Und ich habe einen Herzschlag. Nein, ich bin kein solch verdammter Zombie wie …
Er schob diese Gedanken mit aller Gewalt beiseite. »Ich … ich weiß es einfach!« sagte er laut. »Irgendwie weiß ich es.« George Romano warf einen skeptischen Blick in den Seitengang, der sich direkt neben ihnen auftat. Die undurchdringliche Schwärze, die dort auf sie lauerte, schien ihm Unbehagen zu bereiten. »Scheint, als würde der Gang nirgendwohin führen«, sagte er schließlich. »Als würde er im Nichts enden.« »Das werden wir erst wissen, wenn wir es versucht haben«, mein te Duncan Luther entschlossen. »Wenn ein Weg ins Nirgendwo führt, dann ist es der Hauptkorridor. Womöglich könnten wir ewig weiterlaufen, ohne je an sein Ende zu kommen. Oder kannst du ei nes erkennen?« Eine Zeitlang stand George Romano unentschlossen da, dann nickte er. »Also gut. Versuchen wir es.« »Welchen der Seitenkorridore wollen wir nehmen?« Romano deutete lakonisch auf den, neben dem sie standen. »Wie wär’s mit dem hier?« So erfreut Duncan Luther darüber war, daß Romano eingelenkt hatte, soviel Überwindung kostete es ihn, endlich den ersten Schritt in den Seitengang zu tun. Auch der zweite fiel kaum leichter. Trotzdem ging Duncan Luther weiter, und als er sich nach fünf, sechs Metern umdrehte, sah er, daß Romano keine Anstalten mach te, ihm nachzukommen. Es schien, als wolle er erst abwarten, ob Duncan etwas Ähnliches zustieß wie Kravetz hinter dem Tor. »Was ist? Warum kommst du nicht?« Romano setzte sich in Bewegung. »Schon gut, ich komm ja schon.« Duncan Luther wartete, bis Romano ihn erreicht hatte, dann dran gen sie zusammen weiter vor – direkt in die undurchdringliche
Schwärze vor ihnen hinein. Je weiter sie kamen, desto mehr schienen sich die Mauern um sie herum aufzulösen. Es war nicht einfach nur ein optischer Eindruck, weil die Wände von der Dunkelheit überdeckt wurden. Nein, zu gleich schienen sie auf eine seltsame Art und Weise ihre innere Sub stanz zu verlieren, mit jedem Schritt mehr. Aber nicht nur die Mauern. Es war, als würde sich der Raum selbst auflösen. Raum und Zeit. Alles schien auf einmal zu einem winzig kleinen Punkt zusam menzuschrumpfen, der alles umfaßte, was es jemals gegeben hatte und jemals geben würde. Duncan Luther spürte, daß diese Empfindung ihn ganz dicht an ein tieferes Weltgeheimnis heranbrachte. Das einzig Reale, das es jetzt noch gab, schien – so widersprüch lich das klang – der Grund zu sein, auf dem ihn seine Füße weiter in die undurchdringliche Schwärze hineintrugen. In dem Augenblick, da er glaubte, endgültig jeglichen Bezug zur Realität zu verlieren, erkannte er irgendwo vor sich so etwas wie ein flackerndes Licht. Es sah wie der weit, weit entfernte Lichtschein ei ner Fackel aus, der wie durch eine Milchglasscheibe heranwehte. Duncan Luther mußte unwillkürlich an Berichte über Menschen denken, die Nah-Todes-Erfahrungen durchlebt hatten. Sie alle be richteten übereinstimmend, daß sie einem warmen, hellen Licht ent gegengestrebt wären. War dies hier etwas Vergleichbares? Er wollte sich nach George Romano umschauen oder ihn rufen, war aber nicht dazu in der Lage. Zu sehr zog ihn das helle Flackern in seinen Bann.
Und mit jedem Schritt, den er darauf zu tat, wurde die Lichtquelle heller, deutlicher und schien an Kontur zu gewinnen. Noch ein weiterer Schritt – und dann war die Milchglasscheibe mit einem Male zerbrochen. Duncan Luther fand sich unvermittelt in einem klaren Umfeld wieder. Die Schwärze war verflogen, nur der flackernde Lichtschein, auf den er zugegangen war, war noch immer vorhanden. Er stammte von einer brennenden Fackel, die vor ihm in einer Wandfassung an gebracht war. Links und rechts entdeckte Duncan Luther weitere Fackeln. Sie säumten in regelmäßigen Abständen den Korridor, in dem er nun stand – ein Korridor, der in nichts dem glich, in den sie in Uruk ein gedrungen waren. Die Wände ragten vier, fünf Meter auf und waren aus glattem, poliertem Stein. Vor allem jedoch – dies hier war kein jahrtausendelang verwaister Gang, sondern einer, der bewohnt war und gepflegt wurde! Das belegten nicht nur die brennenden Fackeln. An den Wänden hingen bunte Tücher, und in den Nischen standen große, buntbe malte Keramikgefäße mit grünen, hochaufragenden Pflanzen. Der Boden war so sauber, daß man den Eindruck hatte, als befände sich kein einziges Staubkorn darauf. Auch die Luft war frisch und nicht so abgestanden wie in dem Bauwerk in Uruk. Ein würziger Duft wie nach Weihrauch lag in der Luft. Einen Augenblick später erschien George Romano. Wie aus dem Nichts ausgespuckt stand er plötzlich neben Duncan Luther. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Verwirrung, während er sich umsah. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, doch noch ehe er dazu kam, hallte eine Stimme zu ihnen heran.
»Wache! Zu mir! Wache!« Die Stimme klang befehlsgewohnt, gleichzeitig aber auch wie in höchster Not. Die Worte selbst muteten irgendwie fremdartig an, waren aber deutlich zu verstehen. Duncan Luther und George Romano warfen sich einen kurzen Blick zu, wie um sich zu vergewissern, daß sie dasselbe dachten, dann bewegten sie sich in die Richtung, aus der die Stimme gekom men war. Der Korridor mündete in eine kleine, säulengesäumte Halle, die offenbar über keinen zweiten Ausgang verfügte. Auf der gegenüberliegenden Seite waren drei von Kopf bis Fuß in schwarze Umhänge gekleidete Gestalten zu erkennen, die ihnen den Rücken zuwandten und einen jungen Mann in die Lücke zwischen zwei Säulen gedrängt hatten. Der Mann war vielleicht Mitte Zwanzig und trug ein hemdähnli ches Gewand mit prächtigen Stickereien, das ihm bis knapp ober halb der Knie reichte. Seine Füße steckten in Sandalen. Er hatte schwarzes Haar, ein edel geschnittenes Gesicht, und der kräftige Bronzeton seiner Haut deutete auf einen Bewohner südlicher Gefil de hin. »Wache!« rief er noch einmal. »Es wird Euch niemand hören, Herr!« antwortete einer der Ver mummten. »Es wurde dafür gesorgt, daß die Wachen anderweitig beschäftigt sind.« Er sprach leise, aber so bestimmt, daß der junge Mann es ihm vorbehaltlos zu glauben schien. »Was wollt ihr von mir?« fragte er. »Wer schickt euch?« Der Vermummte hob eine Hand. In ihr war die glitzernde, nur fin gerlange Klinge eines Dolches zu erkennen. »Erkennt Ihr dies? Man nennt es den Giftzahn der Schlange.« »Der Giftzahn der Schlange! Die Waffe hinterlistiger Attentäter.«
»Ganz recht, Herr. Und dies ist der Giftzahn, der für Euch be stimmt ist. Seid unbesorgt. Der Tod kommt schnell und schmerzlos. Kaum eine Sekunde, nachdem die Klinge auch nur Eure Haut ge ritzt hat.« Es war selbst über diese Entfernung zu sehen, wie das bronzefar bene Antlitz des jungen Mannes erbleichte. Er versuchte, weiter zu rückzuweichen, als der Mann mit erhobenem Dolch auf ihn zukam, doch er stand bereits mit dem Rücken an der Wand. »Wo zum Teufel sind wir hier?« flüsterte Romano in Duncans Richtung. Obwohl er leise gesprochen hatte, trug die Architektur der Halle seine Stimme weiter, und die Köpfe der drei Vermummten ruckten zu ihnen herum. Eine lange Sekunde geschah gar nichts, dann wies derjenige, der den jungen Mann bedroht hatte, mit dem Arm auf sie und murmelte einen leisen Befehl. Sofort setzten sich seine beiden Begleiter in Bewegung und zogen unter ihren Umhängen ebenfalls solch fingerlange Dolche hervor, wie ihr Anführer ihn in der Hand hielt. Während sie mit flatternden Gewändern auf Duncan Luther und George Romano zukamen, nutzte der junge Mann auf der anderen Hallenseite die Gelegenheit, um aus der Nische zwischen den Säu len zu schlüpfen. Er eilte ein paar Meter weiter und riß eine Lanze von der Wand, die dort zur Zierde angebracht worden war. Mit ihr hielt er sich den dritten Mann vom Leib. Die beiden anderen Vermummten hatten sich getrennt. Duncan Luther sah einen von ihnen mit erhobenem Dolch auf sich zukom men und wünschte sich, er hätte etwas Ähnliches wie einen Speer in der Nähe entdecken können. Doch das einzige, was sich in seiner Reichweite befand, war eine armlange Amphore mit kunstvoll ge
schwungenen Henkeln, die auf einem kleinen steinernen Podest stand. Schnell griff er danach und holte zum Wurf aus. Der Vermummte, der es auf ihn abgesehen und ihn fast erreicht hatte, stoppte abrupt, als das Wurfgeschoß auf ihn zugeflogen kam. Behende wich er aus, und während die Vase irgendwo hinter ihm auf dem Boden zerschellte, wollte er weiter in Duncans Richtung stürmen. Doch da war dieser bereits auf ihn zugesprungen und umklam merte seine Handgelenke. Die Wucht seines Ansturms warf sie bei de zu Boden. Miteinander um den Dolch ringend, wälzten sie sich über den polierten Stein. Der dritte Vermummte hatte inzwischen George Romano erreicht. Der ehemalige Chefarzt einer Sydneyer Klinik, der im Kampf nicht sehr geübt war, versuchte eine Ausweichbewegung, doch der An greifer hatte sie vorausgesehen, machte die Bewegung mit – und stach zu. Die Klinge traf George Romano in den Oberarm. Sofort zog der Angreifer den Dolch wieder zurück und ging ein paar Schritte auf Distanz, ohne Anstalten zu machen, erneut anzu greifen. Er schien sich sicher zu sein, daß dies nicht mehr nötig sein würde. Der Ansturm hatte die schwarze Kapuze um seinen Kopf etwas zurückgeworfen und sein Gesicht enthüllt, auf dem ein zufriedenes Lächeln lag. Fast mitleidig sah er sein Opfer an. Sein Lächeln gefror, als ein paar Sekunden verstrichen, ohne daß der Mann vor ihm Anstalten machte, tot zu Boden zu fallen oder sonst irgendwie auf die Wunde zu regieren.
Und als sein Opfer sogar noch einen Schritt auf ihn zu machte und ihn trotz des vergifteten Dolches in seiner Hand anzugreifen ver suchte, stolperte er entsetzt zurück. Dabei kam er ins Straucheln und stürzte zu Boden. Der Dolch löste sich aus seiner Hand und schlitterte klimpernd über die Steinplat ten. Sofort sprang der Mann wieder auf und wollte der Waffe hinter herstürzen, als er plötzlich innehielt. Stirnrunzelnd blickte er auf den dünnen, fingerbreiten Schnitt her ab, der mit einemmal auf seinem Handgelenk zu sehen war. Seine Augen weiteten sich entsetzt, als er begriff, woher die Wun de rührte. Da ging auch schon ein vehementer Ruck durch seinen Körper. Er wollte sich ans Herz greifen, schaffte es aber nicht mehr. Mitten in der Bewegung brach sein Blick. Er kippte vornüber und blieb reglos liegen. Duncans Gegner war es derweil gelungen, sich aus der Umklam merung zu lösen. Den Dolch noch immer in den Händen, kam er wieder auf die Beine. Er wollte sich gerade erneut auf Duncan stürzen, als vom anderen Ende der Halle her ein schmerzerfüllter Todesschrei erklang. Er stammte von dem dritten Vermummten. Der junge Mann in dem knielangen Hemd hatte ihm die Lanze in den Leib gestoßen. Der Attentäter umklammerte den Schaft mit beiden Händen, als könne er damit etwas an der Tödlichkeit des Stoßes ändern, und sank röchelnd zu Boden. Als Duncans Gegner begriff, daß sich das Blatt gewendet hatte und er nunmehr alleine dastand, wandte er sich ab und flüchtete den Korridor hinunter. Duncan Luther erwägte kurz, ihn zu verfolgen, ließ es dann aber
sein. Solange sie keine Ahnung hatten, in was sie hier hineingeraten waren, war es besser, nicht zu weit zu gehen – sofern das überhaupt noch möglich war. Der junge Mann auf der anderen Seite der Halle kniete neben dem Vermummten nieder, den er mit der Lanze getötet hatte, und zog dessen Kapuze zurück. »Non-Schefus!« stieß er verächtlich hervor. »Ein Meuchelmörder, nach dem im gesamten Reich gesucht wird. Aton lasse sein Ka in Gestalt einer Kröte wiederkehren!« Er erhob sich und machte ein paar Schritte auf Duncan Luther und George Romano zu. »Und wen habt Ihr dort seinem gerechten Schicksal zugeführt?« Duncan hob ratlos die Schultern. »Dirkh Ofman«, stellte der junge Mann fest, als er nahe genug ge kommen war, um den Toten zu Romanos Füßen, dessen Gesicht nun vollständig freilag, genauer in Augenschein zu nehmen. »Auch ein bekannter Meuchelmörder.« Duncan Luther wurde sich abermals der Fremdartigkeit der Worte bewußt. Obwohl er jedes einzelne klar und deutlich verstand, war irgend etwas daran nicht richtig. Der Blick des jungen Mannes richtete sich auf Duncan und Roma no. Er kreuzte die Hände vor der Brust und verneigte sich leicht. Die Geste hatte etwas Aristokratisches an sich. »Ich habe Euch zu danken«, sagte er. »Ohne Euch wäre ich in die Gefilde Ptahs hinübergegangen. Die Götter haben Euch im richtigen Moment geschickt. Seid Euch gewiß, daß Ihr dafür königlich belohnt werdet. Darf ich fragen, wer Ihr seid?« Erst jetzt, als Duncan Luther direkt angesprochen wurde, erfaßte er, was ihm an den Worten des anderen so unwirklich vorkam. Der junge Mann sprach auf eine eigentümliche Art und Weise nicht syn chron. Seine Lippenbewegungen stimmten nicht mit den Worten
überein, die bei Duncan ankamen. Was er hörte, war ein gut ver ständliches Englisch, während der Mann vor ihm ganz offensichtlich in einer anderen, fremden Sprache redete. »Wir sind … Reisende«, antwortete er ausweichend. Der Spracheffekt schien auch in der umgekehrten Richtung zu funktionieren. Obwohl er die Antwort in Englisch gegeben hatte, verstand der andere ihn offenbar ausgezeichnet. »Reisende?« »Ja.« »Und woher kommt ihr?« Duncan räusperte sich. »Nun, von … ähm … weither.« Der junge Mann nickte und blickte an ihnen beiden herab. »Das müßt Ihr wohl, denn eine solche Kleidung, wie Ihr sie tragt, habe ich im ganzen Reich noch nie gesehen. Seid Ihr Gäste hier im Palast?« »Nein, nicht direkt …« Duncan zögerte. »Aber wie kommt Ihr dann hier herein? Wer hat Euch Eintritt ge währt?« Duncan warf Romano einen hilfesuchenden Seitenblick zu, doch der schien es nicht einmal zu bemerken. Was sollte er antworten? Er wußte ja selbst nicht, wie sie hierhergekommen waren. Oder wo sie sich überhaupt befanden. »Nun, unsere Art der Reise ist etwas … etwas ungewöhnlich. Ehr lich gesagt, auch wir wissen nicht genau, wie …« Er wurde glücklicherweise weiterer Erklärungsversuche enthoben, als hinter ihnen am anderen Ende des Korridors plötzlich ein halbes Dutzend Männer auftauchte: allesamt muskulöse Schwarze von hü nenhaftem Wuchs, deren Haut ölig glänzte und deren einziges Klei dungsstück aus einer Art weitem Lendenschurz bestand. Duncan Luthers Erleichterung über die Ablenkung wandelte sich
in Schrecken, als die Schwarzen die langen Lanzen, die sie in den Händen hielten, erhoben und im Laufschritt auf sie zustürmten. Im ersten Augenblick dachte er, daß es sich abermals um Attentäter handelte, die es auf den jungen Mann abgesehen hatten, doch die Art und Weise, wie sich näherten und wie sie dabei Duncan und Ro mano anvisierten, ließ keinen Zweifel daran, daß sie beide ihr Ziel waren. Dann waren die Männer heran und hätten sicherlich kurzen Pro zeß gemacht, wenn ihnen der junge Mann nicht Einhalt geboten hät te. Ein kurzes Heben seiner Hand reichte aus, um die hünenhaften Schwarzen wie ein Mann stoppen zu lassen. »Nein«, sagte er laut, »vor diesen beiden müßt Ihr mich nicht be schützen. Sie haben im Gegenteil das getan, was eigentlich eure Auf gabe gewesen wäre. Wären sie nicht gewesen, läge ich jetzt anstelle dieser beiden Meuchelmörder dort auf dem Boden.« Er stellte sich vor einen der Männer und sah ihn scharf an. »Was hast du dazu zu sagen?« Der Schwarze, dessen Lendenschurz sich von denen der anderen durch eine goldfarbene Stickerei unterschied, verneigte sich demü tig. »Verzeiht, Herr, aber in einem anderen Teil des Palastes ist ein Feuer ausgebrochen. Es hieß, man hätte Eindringlinge gesehen, und die dortige Wache hat uns zur Unterstützung angefordert. Wir wuß ten nicht, daß Ihr Eure Gemächer verlassen habt und hierher gegan gen seid, sonst hätten wir …« »Schweigt! Anstatt die Zeit mit Reden zu vergeuden, solltet ihr euch lieber beeilen, den Palast nach dem dritten Meuchelmörder zu durchsuchen. Er konnte entkommen. Aber seid vorsichtig! Er trägt einen Giftzahn der Schlange bei sich. Laßt nicht zu, daß er sich da mit das Leben nimmt. Ich will ihn lebend. Bevor ihn seine gerechte Strafe ereilt, will ich wissen, wer seine Auftraggeber sind.« Seine Stimme erhob sich. »Ich will wissen, wer es wagt, mich – mich – er
morden lassen zu wollen.« Der Schwarze nickte ergeben. Als er sich zusammen mit den ande ren entfernen wollte, deutete der junge Mann auf zwei seiner Män ner. »Nein, ihr beide nicht«, bestimmte er. »Ihr bleibt hier. Für euch habe ich eine andere Aufgabe.« Die beiden blieben gehorsam stehen und erwarteten weitere An weisungen, während sich die anderen im Laufschritt entfernten. »Bitte verzeiht«, wandte sich der junge Mann wieder an Duncan Luther und George Romano, »wenn ich jetzt nicht in der Lage bin, Euch meine Dankbarkeit in angemessener Form zu erweisen. Mich erwarten dringende Pflichten. Aber ich würde mich gerne ausführli cher mit Euch unterhalten und erfahren, aus welchem Land Ihr kommt und wie es dort aussieht. Bitte seid meine Gäste und erweist mir die Ehre, Euch Unterkunft zu gewähren.« Da sie bis jetzt noch nicht einmal wußten, wo sie waren, war die Aussicht, sogleich über ein komfortables Quartier zu verfügen, eine angenehme Aussicht. Zumindest für Duncan Luther, der im Gegen satz zu Romano darauf angewiesen war, seinem körperlichen Wohl ergehen Rechnung zu tragen. »Wir sind gerne Eure Gäste«, antwortete er. »Gut. Und bevor ich Euch jetzt verlasse – bitte verratet mir noch, wie Ihr heißt. Ich möchte wissen, wem ich mein Leben zu verdanken habe, wenn ich nachher meinem Vater davon berichten werde.« Sie nannten ihm ihre Namen. »Duncan Luther und George Romano«, wiederholte der junge Mann, und diesmal stimmten seine Lippenbewegungen zum ersten Mal mit den gesprochenen Worten überein. »Das sind wahrhaft Na men, die ebenso fremdartig sind wie Eure Kleidung.« Er wandte sich an die beiden verbliebenen Wachen.
»Ihr bringt die beiden in ein Gästequartier. Und zwar in eines im gleichen Seitenflügel des Palastes, in dem auch meine Unterkunft liegt. Ihr seid mir dafür verantwortlich, daß es Ihnen an nichts fehlt und Ihnen nichts zustößt.« Er wandte sich ab, als wäre damit alles gesagt, und wollte sich ent fernen. »Nur noch eine Frage«, hielt Duncan ihn zurück. Er bemerkte, wie die beiden Schwarzen neben ihnen erschrocken zusammenzuckten. Der junge Mann drehte sich langsam um und musterte Duncan mit irritiert erhobenen Augenbrauen. Es war an scheinend nicht üblich, daß ihn jemand zurückhielt. Dann schien er sich daran zu erinnern, daß er es mit Fremden zu tun hatte, und seine Miene entspannte sich wieder. Er nickte groß zügig. »Sie sei Euch gewährt.« »Dürfen wir auch erfahren, wie Euer Name lautet?« Die beiden hünenhaften Schwarzen erstarrten regelrecht, als ob Duncan eine derartig vulgäre Beleidigung ausgesprochen hätte, daß sie nur mit einer sofortigen Enthauptung gesühnt werden könne. Der junge Mann selbst ließ sich nichts anmerken. »Aber sicher«, antwortete er. »Mein Name lautet Akhenati.« Er sprach das letzte Wort mit einer solche Betonung aus, als müß ten sie spätestens jetzt wissen, wem sie gegenüberstanden, und als sie das ganz offensichtlich nicht taten, erschien ein amüsiertes Fun keln in seinen Augen. »Ich bin mir gewiß«, sagte er, »es wird sicherlich sehr interessant werden, mit Euch zu reden.« Damit verschwand er endgültig. »Kommt!« sagte einer der Schwarzen. »Wir geleiten Euch in Euer Quartier.«
Während sie den Korridor entlang gingen, versuchte Duncan, die beiden Wachen in ein Gespräch zu verwickeln. Er mußte mehr dar über herausfinden, wo sie hier gelandet waren. Doch die beiden ließen sich auf nichts ein. »Es ist uns nicht gestat tet, uns mit den Gästen des Palastes zu unterhalten.« »Aber euer Gebieter hat euch doch ausdrücklich angewiesen, da für zu sorgen, daß es uns an nichts fehlt. Und woran es uns mangelt, sind ein paar kleine Auskünfte.« Die Miene des Schwarzen blieb abweisend. So einfach war er of fensichtlich nicht auszutricksen. Schweigend schritt er weiter. »Dann sagt uns wenigstens, wer dieser Akhenati überhaupt ist!« Der hünenhafte Schwarze blieb abrupt stehen und sah ungläubig auf den fast einen Kopf kleineren Duncan Luther herab. »Ihr wollt sagen, daß Ihr das wirklich nicht wißt?« fragte er. »Nein, tun wir nicht. Was ist so schlimm daran? Wer ist er denn nun?« Der Schwarze atmete tief durch, ehe er antwortete. »Er ist der Sohn des Pharaos!«
* Das Gästequartier, in das man Duncan Luther und George Romano brachte, erwies sich eines königlichen Palastes als wahrhaft würdig. Es bestand aus drei weitläufigen Räumen, die noch prachtvoller aus gestattet waren als die Korridore, durch die sie hierher gekommen waren. Einer der Räume war ein Schlafzimmer mit mehreren dick gepols terten Betten und Liegen, die mit prächtigen Tüchern und Decken
bespannt waren. Der zweite Raum bestand fast zur Gänze aus ei nem in den Boden eingelassenen Becken von der Größe eines klei nen Swimmingpools, das mit glasklarem Wasser gefüllt war. An den Wänden standen kleine Amphoren, aus denen der verführerische Duft kostbarer Öle und erlesener Essenzen drang. Der dritte Raum war eine Art Aufenthalts- oder Wohnraum mit mehreren Tischen und Sitzgelegenheiten. Die Inneneinrichtung mu tete wie ein Sammelsurium der kostbarsten Dinge verschiedenster Länder an. Es gab goldene Leuchter, die Wände waren mit kostba ren Tüchern geschmückt, in den Nischen standen Statuen oder große Vasen. An diesen Raum schloß sich eine weitläufige Hochterrasse an, auf die sie getreten waren. »Ägypten«, murmelte George Romano kopfschüttelnd, als müsse er sich selbst davon überzeugen. »Dies ist eindeutig Ägypten.« »Und bei weitem nicht nur das«, ergänzte Duncan Luther. »Es ist nicht das Ägypten unserer Zeit. Wir sind irgendwo in der Vergan genheit gelandet. Beziehungsweise irgendwann.« Der Anblick, der sich ihnen von der Terrasse bot, ließ keinen ande ren Schluß übrig. Das Palastgelände reichte vom Rand der Hochterrasse noch gute zweihundert Meter weit. Der ausgedehnte Innenhof war mit park ähnlichen Grünanlagen gefüllt, durch die sich gepflasterte Wege schlängelten. Es gab kleine Zierteiche, und unter schattenspenden den Palmen und Bäumen luden weiße marmorne Bänke und Sitz schemel zum Verweilen ein. Ein ganzes Dutzend Bedienstete war mit der Gartenpflege beschäftigt. Die braungebrannten Männer wa ren allesamt nur mit Sandalen und Hüfttüchern bekleidet. Die hoch sommerlichen Temperaturen machten keine weitere Bekleidung nö tig.
Jenseits der Palastmauer erstreckte sich ein schier unüberschauba res Meer aus hellen Lehmhäusern mit flachen Dächern, das sich über ein sanft absteigendes Tal bis zum Ufer eines breiten Stromes ergoß, der in einigen Kilometern Entfernung vorüberzog. Trotz der Entfernung beeindruckte der Strom durch seine majestä tisch anmutende Breite. Auf seinen grauen Fluten waren Segelboote verschiedener Größe zu erkennen, deren Segel im Licht der unterge henden Sonne rötlich leuchteten. Dorthin reichten die Sonnenstrahlen noch. Der Palast selbst, der sich am Fuß einer mindestens hundert Meter hoch steil aufsteigen den, kahlen Felswand befand, und der Großteil des diesseitigen Häusermeeres, bis dicht an den Strom heran, lagen im Schatten. »Der Nil«, sagte George Romano leise. Duncan Luther nickte stumm. Auf der gegenüberliegenden Flußseite, wo das Tal wieder sanft anstieg, setzte sich das Häusermeer fort, soweit der Blick reichte. Am beeindruckendsten jedoch war der Anblick der rechteckigen, langgezogenen Palastanlage, die sich dort am anderen Ufer erstreck te und deutlich erkennbar noch sehr viel größer und prächtiger war als diejenige, in der sie sich befanden. Das gesamte dortige Gelände umfaßte, soweit sich das von hier aus abschätzen ließ, gut und gerne einen ganzen Quadratkilometer. Innerhalb der Palastmauern erhoben sich mehrere kolossale Ge bäude, des weiteren einige mächtige Obelisken, Säulengänge und Standfiguren. Doch um Details zu erkennen, war die Entfernung zu groß. Duncan Luther ahnte, daß es sich dabei nur um eine Tempelanlage handeln konnte. Welcher anderen Instanz als den Göttern würde der Herrscher eines Landes schon ein prächtigeres Haus zugestehen als sich selbst?
Aber Duncan war sich darüber im klaren, daß all diese Schlußfol gerungen äußerst vorläufig waren, solange sie nichts Näheres wuß ten. »Dieser dunkle Korridor in Uruk …«, meldete George Romano sich irgendwann stockend zu Wort. »Er … er muß eine Art Zeittun nel sein.« »Ja«, bestätige Duncan Luther gedankenverloren. Er war zu dem selben Schluß gekommen. »Das ist … einfach unglaublich! Das kann einfach nicht sein!« »Gilt das nicht für nahezu alles, was wir in den letzten Monaten erlebt haben? Für alles, was uns widerfahren ist, seitdem wir Lilith begegnet sind?« Der Gedanke an die schwarzhaarige Vampirin – und die Vorstellung, nicht nur Tausende von Meilen, sondern zu gleich auch Tausende von Jahren von ihr getrennt zu sein – bereitete ihm seelische Schmerzen. Er flüchtete sich in Heftigkeit. »Oder hät test du vor einem Vierteljahr etwa geglaubt, daß du als putzmunte rer Zombie durch die Gegend laufen könntest?« Im gleichen Moment begriff er, daß er Romano unrecht tat. Schließlich war der ehemalige Chefarzt an seinem jetzigen Zustand ebenso wenig selbst schuld wie er auch. Wenn man Romano etwas vorwerfen konnte, dann, daß er versucht hatte, Lilith selbstsüchtig für medizinische Forschungen und Experimente zu mißbrauchen – aber ein Schicksal wie dieses hatte er trotzdem nicht verdient. Romano gab nicht zu erkennen, ob er von den Worten getroffen war oder nicht. Er sah wieder zum Nil hinab. »Ich würde gerne wissen, wo genau wir uns hier befinden«, sagte er. Duncan Luther begriff es als Angebot, über seine heftige Äuße rung hinwegzugehen. »Entschuldige. Ich habe es nicht so gemeint.« »Nein!« widersprach Romano, ohne sich umzuwenden. »Du hast
es genau so gemeint. Und du hast verdammt recht damit. Glaub nur nicht, daß es mir leicht fiele, mich mit meiner Existenz abzufinden! Du weißt nicht, welche inneren Qualen ich leide. Aber wenn es et was gab, das ich in meinem Leben immer getan habe, dann ist es, aus jeder Situation stets das Bestmögliche zu machen.« Und mit ei nem Hauch von Zynismus ergänzte er: »Und ich wüßte nicht, warum ich es nach meinem Tod nicht ebenso halten sollte!« Duncan Luther nickte verständig. Er konnte nachempfinden, wie Romano sich fühlte. Ihm selbst erging es ja schließlich kaum besser. Und wie schlimm würde er sich erst an Romanos Stelle fühlen! Er drängte diese Gedanken mit aller Gewalt aus seinem Kopf. Er wußte, daß sie ins Nichts führten. Es galt, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren – wo und wann auch immer das war! Er rief sich Romanos Frage in Erinnerung zurück und sah eben falls zum Strom hinab. »Der Fluß macht nicht den Eindruck, als würde er bald in ein Delta münden. Ich denke, daß wir uns irgend wo mitten am Nillauf befinden müssen.« »Ganz meine Meinung. Ich tippe auf Luxor. Oder Theben, wie es damals genannt wurde. Jedenfalls von den Griechen. Und soweit ich weiß, haben in Theben auch die meisten Pharaonen residiert.« »Außer diejenigen der Pyramiden-Ära.« »Ja«, räumte Romano ein, »aber siehst du hier etwa irgendwo Py ramiden? Nein, das hier dürfte Theben sein.« Duncan Luther schloß sich der Schlußfolgerung an, aber in seinen Gedanken war etwas anderes viel, viel wichtiger. »Ich frage mich«, sprach er aus, was ihm durch den Kopf ging, »wie wir wieder von hier aus in unsere Zeit zurückkommen sollen!« Romano erstarrte. Genau das schien die Frage gewesen zu sein, die er sich auch schon die ganze Zeit über gestellt, aber nicht auszu sprechen gewagt hatte.
»Wir müssen zurück in den Teil des Palastes, wo wir aufgetaucht sind«, sagte Duncan, als sein Begleiter schwieg. »Vielleicht gibt es dort irgend etwas, das uns den Rückweg ermöglicht. Irgend etwas, auf das wir vorhin nicht geachtet haben.« »Und wenn wir nichts finden?« Duncan Luther atmete tief durch. »Das muß nichts Endgültiges zu bedeuten haben. Vielleicht gibt es irgendeinen anderen Mechanis mus, der uns nach einer gewissen Zeit zurückbringt. Denk daran, daß wir keine Schwierigkeiten haben, die Leute hier zu verstehen, obwohl sie ganz eindeutig in einer fremden Sprache reden. Dieser Effekt muß mit dem Bauwerk in Uruk zu tun haben. Und er beweist, daß wir noch immer damit in Verbindung stehen. So lange müßte auch eine Rückkehr möglich sein.« George Romano wirkte nicht besonders überzeugt. »Wie du meinst«, sagte er. »Dann sollten wir also als erstes den Korridor in Augenschein nehmen, in dem wir herausgekommen sind.«
* Der dritte Attentäter verließ den Palast auf demselben Wege, auf dem er ihn zuvor mit seinen beiden Begleitern betreten hatte: durch eine Seitenpforte in der Palastmauer am Rand der königlichen Gär ten. Ihre Auftraggeber hatten einen der königlichen Bediensteten, einen Gärtner, bestochen. Er hatte sich gegen ein fürstliches Honorar bereit erklärt, ihnen die Pforte zu öffnen. Allerdings hatte er anschließend nicht sehr lange Freude an sei nem Geld gehabt. Nachdem er sie eingelassen hatte, hatten sie ihn
mit einem kleinen Stich ihrer vergifteten Dolche getötet und seine Leiche in einem nahen Vorratshaus unter Stapeln von Getreidesä cken versteckt. Kaum hatte der Attentäter den Palastbereich verlassen, entledigte er sich seines schwarzen Umhangs. Jetzt nur noch mit einem übli chen dünnen Leinengewand bekleidet, mischte er sich unter die Menschen, die die schmalen Straßen zwischen den flachen Lehm häusern bevölkerten. Während sich langsam die Dämmerung über die Stadt legte, eilte er zielstrebig dem Nilufer entgegen. Auf dem mächtigen Strom waren zu dieser Tageszeit Dutzende von Booten unterwegs. Die Fischer, Nilpferd- und Krokodiljäger, die in den Nilsümpfen nach Beute gesucht hatten, kehrten zum Abend hin in die Hauptstadt des Reiches zurück. Einer der vielen Fährmänner, die beiderseits auf Kunden warteten, brachte ihn gegen ein paar kleine Münzen hinüber ans andere Ufer. Dort ging der Attentäter zum Palastgelände des Ammon-Tempels, das sich unweit des Nilstromes erhob. Er wandte sich nicht zur Vorderfront, wo eine breite Treppe zwi schen mächtigen Säulen hindurch den Zugang zum Tempelgelände bildete. Es wäre zu auffällig gewesen, diesen Weg zu nehmen, denn das Gelände durfte normalerweise ausschließlich von den Priestern und deren Personal betreten werden. Gewöhnlichen Bewohnern der Stadt hingegen war der Zutritt nur an bestimmten Feiertagen gestat tet, an denen die sonst sorgsam gehütete Statue des Horus in einer feierlichen Prozession aus ihrem Schrein geholt und durch den Tem pelhof getragen wurde. Dennoch war das Gelände auch an normalen Tagen wie diesem nicht unbelebt. Es gab alles in allem fast zwanzigtausend Bedienste te: Diener, Köche, Wäscher, Verwalter, Stallmeister und – nicht zu
letzt – Soldaten. Es gab sogar Stimmen, die behaupteten, daß sie sich an Zahl durchaus mit den königlichen Garden des Pharaos messen konnten. Der Attentäter ging an der Seitenmauer entlang zur Rückfront des Geländes, bis er schließlich eine kleine Seitenpforte erreichte. Nach dem er sich vergewissert hatte, daß niemand ihn beobachtete, klopf te er in einem bestimmten Rhythmus gegen das Holz der Tür. Es dauerte eine Weile, ehe sie einen Spaltbreit geöffnet wurde und das Gesicht eines Ammon-Priesters erschien. Unwillig sah er auf den Ankömmling herab. Der Attentäter nannte das vereinbarte Geheimwort. Die Priester ließ ihn ein, und nachdem auch er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, daß ihnen niemand zugesehen hatte, schloß er die Pforte wieder. Quer über den weitläufigen Innenhof führte er den Attentäter zum Hauptgebäude. Sie gingen aber nicht in eine der großen, prächtigen Hallen, sondern in einen Nebenraum, der von Kerzenschein nur mä ßig erleuchtet wurde. Dort wartete in der Mitte des Raumes ein Mann. Er war in einen kostbaren, tiefroten Umhang gehüllt und wandte ihnen den Rücken zu. Der Priester, der den Mann hergefügt hatte, verneigte sich schwei gend und verließ den Raum wieder. Als der Mann in dem roten Umhang sich umwandte und der At tentäter erkannte, wer ihm da gegenüberstand, fiel er unwillkürlich auf die Knie. Es war der Hohepriester! Zwar hatte sie ein anonymer Mittelsmann angeworben, aber den drei Attentätern war dennoch klar gewesen, daß irgend jemand aus der Priesterschaft hinter dem Auftrag steckte. Warum sonst hätten
sie nach seiner Erledigung hierher kommen sollen? Außerdem war es ein offenes Geheimnis, daß der älteste Sohn des Pharaos nicht viel Sympathien für die Ammon-Priesterschaft hegte. Er huldigte – wenn überhaupt – anderen Göttern. Sobald er seinem Vater auf den Thron nachfolgte, würden für die Priester schwere Zeiten anbre chen. All das hatte nahegelegt, daß jemand aus dem Tempelbereich hin ter dem Auftrag steckte, doch daß es der Hohepriester höchstper sönlich sein würde, hatte niemand von ihnen für möglich gehalten. Der alte Mann mit den tief eingefallenen Wangen und den dichten, tiefschwarzen Augenbrauen, die seinem Blick einen geierhaften Ausdruck verliehen, trat an den auf dem Boden knienden Attentäter heran. »Erhebe dich!« sagte er mit befehlsgewohnter Stimme. Zögernd kam der Attentäter der Anweisung nach. Er hatte Scheu, dem anderen in die Augen zu blicken. »Sprich! Was hast du mir zu berichten? Habt ihr Erfolg gehabt? Und warum kommst du allein? Wo sind deine beiden Begleiter?« »Sie … sie sind tot. Ich bin der einzige, der entkommen konnte.« Der Hohepriester atmete tief ein. »Und der Sohn des Pharaos? Ist er …?« »Nein. Es ist uns nicht gelungen, ihn zu töten. Ich bitte Euch, ver gebt mir!« »Ihr habt also versagt«, sagte der Hohepriester schwer. »Wie konnte das geschehen?« »Es war nicht unsere Schuld. Zuerst ist alles gutgegangen. Wir ha ben Akhenati genau dort gefunden, wo Ihr es uns gesagt habt. Und die Wachen waren auch abgelenkt. Wir hatten ihn schon in eine Ecke gedrängt und den Dolch angesetzt, als plötzlich zwei Fremde aufgetaucht sind.«
»Fremde?« »Ja. Es waren zwei Männer. Sie hatten helle Haut und trugen Klei dung, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Sie sahen aus wie Menschen. Aber es waren keine Menschen.« Die Stimme des Atten täters hatte sich erhoben. »Es waren Dämonen, die aus der Hölle ge kommen sein müssen, um dem Sohn des Pharaos zur Hilfe zu eilen!« »Wie kommst du darauf?« »Zuerst dachten wir natürlich auch, daß es normale Menschen wä ren. Wir haben versucht, sie ebenfalls zu töten. Aber …« Er schüttel te den Kopf, als erschiene ihm die Erinnerung zu furchtbar, um sie in Worte zu kleiden. »Aber man konnte sie nicht töten!« »Wie meinst du das?« »Einer meiner Gefährten hat einen von ihnen mit dem Giftzahn der Schlange gestochen. Doch der hat darüber nur gelacht.« »Das Gift war von der Klinge abgewischt«, sagte der Hohepriester ärgerlich. »Ihr wart unachtsam, das war alles. Und du willst mir er zählen, daß …« »Nein, Herr, das Gift war nicht abgewischt. Denn als mein Gefähr te sich kurz darauf damit beim Kampf die Haut ritzte, war er binnen Sekunden tot.« Der Hohepriester schwieg ein paar Sekunden lang nachdenklich. »Und du bist dir sicher, daß die Dolchspitze den Fremden wirklich getroffen hat?« fragte er dann. »Ja, Herr, das bin ich. Ich habe ganz deutlich gesehen, wie die Klinge bis zum Heft in seine Haut eingedrungen ist.« »Und was ist dann geschehen?« »Diese beiden Dämonen haben sich gemeinsam gegen mich ge stellt. Mutig wie ein Löwe habe ich gekämpft und versucht, sie mir
vom Leib zu halten und dennoch den Auftrag zu erfüllen, den Ihr uns gegeben habt. Doch sie waren einfach zu stark. So blieb mir nur die Flucht.« Mit herabhängendem Kopf hielt er inne. »Ich hoffe, Ihr vergebt mir, Herr. Jede Armee der Welt hätte gegen diese beiden Teufel nichts auszurichten vermocht.« »So wie du es mir schildert, muß ich es dir wohl glauben. Hast du sonst noch etwas über diese beiden Fremden zu berichten?« »Ja, etwas gab es da noch. Etwas, das mich vollends überzeugt hat, es mit zwei leibhaftigen Ausgeburten der Hölle zu tun zu haben.« »Wovon sprichst du?« »Ich habe es erst bemerkt, als ich mich endgültig zur Flucht ge wandt habe. Es war etwas, was ich noch nie in meinem Leben gese hen habe. Diese beiden Fremden … sie hatten … sie haben nahe der Wand gestanden, und ringsum gab es genügend Fackeln … aber trotzdem hatten sie keinen … keinen Schatten!« Der Hohepriester erstarrte geradezu. Er sah den Attentäter mit durchdringendem Blick an. »Was sagst du da? Keine Schatten?« »Ja, Herr. Ich weiß, es klingt unglaubwürdig. Aber ich bitte Euch, Ihr müßt mir das glauben. Ich würde Euch niemals belügen.« »Schon gut, schon gut. Ich glaube dir ja.« Der Hohepriester ver sank in düsteres Schweigen. Zum ersten Mal wagte der Attentäter, seinen Blick zu heben und ihm ins Angesicht zu sehen, aber er vermochte nicht zu erkennen, welche Gedanken hinter der Stirn des alten Mannes vorgingen. Als dieser ihn erneut ansah, wich er einem direkten Blickkontakt aber mals aus. »Sag mir, ist dir an den beiden Männern sonst irgend etwas Au ßergewöhnliches aufgefallen? Hatten Sie vielleicht übermenschliche Kräfte und seltsam lange Eckzähne?«
»Übermenschliche Kräfte. Ja, ganz sicher. Aber lange Eckzähne … Nein, Herr. Ich bitte Euch, bestraft mich nicht. Ich habe alles getan, was in unseren Kräften stand.« »Warum sollte ich dich bestrafen?« erwiderte der Hohepriester milde. »Selbst wenn du deinen Auftrag nicht erfüllt hast, so hast du mir doch wertvolle Informationen geliefert. Man wird dir an der Tempelkasse den vereinbarten Lohn geben. Und nun komm und empfange meinen Segen, bevor du gehst.« Der Hohepriester legte ihm feierlich den Arm auf die Schulter, und als er sie wieder zurückzog, verspürte der Attentäter einen klei nen Stich am Hals. Ungläubig und entsetzt sah er den Hohepriester an und starrte auf die kleine Nadel in dessen Händen. Er öffnete den Mund wie zu ei ner Frage, doch kein Wort kam über seine Lippen. »Hast du wirklich geglaubt, ich könnte dich am Leben lassen, wo du doch versucht hast, den Sohn des Pharaos zu ermorden?« sagte der Hohepriester ironisch. »Weißt du nicht, daß es ein Frevel gegen die Götter ist, sich gegen die königliche Familie zu stellen?« Der Attentäter brach zusammen. Der Hohepriester klatschte kurz in die Hände, woraufhin ein an derer Mann in einem priesterlichen Gewand aus einer dunklen Ni sche am Rand des Raumes hervortrat. Yaschir, so sein Name, befahl über den priesterlichen Geheim dienst und war einer der engsten Vertrauten des Hohepriesters. Für den toten Attentäter hatte er nur einen kurzen Blick übrig. »Habt Ihr alles mitangehört?« erkundigte sich der Hohepriester. »Das habe ich.« »Zwei Fremde!« Der Hohepriester sah sein Gegenüber durchdrin gend an. »Warum weiß ich nichts von zwei Fremden, die im Palast des Pharaos wohnen?« rief er ungehalten. »Sind unsere Spitzel dort
nicht zuverlässig?« »Bis jetzt war mir ebenfalls nichts von zwei Fremden bekannt. Aber ich werde mich sofort darum kümmern, mehr über sie heraus zufinden.« »Ja, tu das. Aber ich befürchte, daß ich mich um diese Sache auch persönlich kümmern muß. Diese beiden könnten all unsere Pläne stören.« Und nach einer kurzen Pause fügte der Hohepriester un heilschwanger hinzu: »Zwei Männer ohne Schatten und mit über menschlichen Kräften. Wenn sie tatsächlich das sind, was ich be fürchte, ist rasches Handeln geboten.« »Ihr glaubt, es handelt sich um jene mysteriösen Nachtwesen, von denen in den Legenden berichtet wird? Ich habe schon von ihnen gehört. Sie sollen ebenfalls keinen Schatten haben, bei Nacht wie Vö gel durch die Lüfte fliegen und ihren Opfern das Blut nehmen. Ihr glaubt, solche Wesen könnte es wirklich geben?« »Es sind keine Legenden. Diese Wesen gibt es tatsächlich. In den geheimen Papyri und Schrifttafeln der Priesterschaft wird über sie berichtet. Sie leben bereits seit Menschengedenken unter uns. Aber sie sind sehr scheu und wollen nicht erkannt werden.« »Und Ihr glaubt, daß zwei davon jetzt am Hof des Pharaos aufge taucht sind?« »Ich werde es herausfinden«, sagte der Hohepriester entschieden. »Wenn es stimmt, was Ihr da sagt, dann kann es kein Zufall sein, daß die beiden ausgerechnet in diesem Augenblick aufgetaucht sind. Und daß sie dem Sohn des Pharaos das Leben gerettet haben.« »Das denke ich auch.« Der Hohepriester sah seinen Vertrauten eindringlich an. »Ich brauchte unbedingt eine Audienz beim Pharao. Kümmere dich sofort darum, daß mir schnellstmöglich eine gewährt wird.« Yaschir nickte bestätigend.
»Und sorg dafür, daß der Leichnam dieses Versagers von hier ent fernt wird!« Damit verließ der Hohepriester den kleinen Raum und eilte zu ei nem anderen Gebäude, in dem sich die gesammelten Schrifttafeln und Papyri der Priesterschaft befanden. Dort gab es in einem hinteren Winkel einen gesonderten Raum, der nur ihm und einem weiteren Priester, der sich um die Pflege und Archivierung kümmerte, vorbehalten war. Hier lagerten die ge heimsten Dokumente der Priesterschaft – darunter auch diejenigen, in denen über die geheimnisvollen Nachtwesen berichtet wurde. Und der Hohepriester wußte, daß darin nicht nur allgemeine In formationen über diese Wesen, enthalten waren, sondern auch die speziellen Mittel und Wege, ihnen zu begegnen und sie zu besiegen. Er mußte gewappnet sein, wenn er diesen beiden Fremden gegen übertrat.
* Der Versuch, das Gästequartier zu verlassen, scheiterte. Der Eingang wurde links und rechts von je zwei Wachen gehütet – ebenfalls großgewachsene Männer mit tiefschwarzer Haut, aber die jenigen, die sie hergebracht hatten, befanden sich nicht darunter. Als Duncan Luther und George Romano an ihnen vorbei nach draußen gehen wollten, kreuzten die beiden ihre Speere. Die Geste wirkte nicht feindselig, aber sehr bestimmt. Duncan Luther versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Ver geblich. Die Männer ließen sich auf nichts ein. »Dann befinden wir uns wohl in so einer Art goldenem Käfig«, knurrte George Romano, nachdem sie sich wieder in ihr Quartier
zurückgezogen hatten. »Das hat nicht viel zu sagen. Wenn du hier der Gastgeber wärst, würdest du wahrscheinlich genauso handeln. Wir müssen nur ab warten. Früher oder später wird man sich schon ein Bild von uns machen wollen. Wir sollten absprechen, was wir dann sagen. Den ken wir uns eine hübsche Geschichte aus, woher wir kommen.« »Und wie wir hierhergekommen sind. Das wird der weitaus schwerere Teil.« Kurze Zeit später betrat ein halbes Dutzend weiblicher Bedienste ter den Raum – allesamt außergewöhnlich schöne junge Frauen von zierlichem Wuchs mit verführerisch dunklen Augen und olivfarbe ner Haut. Duncans Augen weiteten sich, als er sah, daß sie alle lediglich ein luftiges Seidengewand am Leibe trugen, das keinen Zentimeter ihrer schlanken Körper wirklich verhüllte. Die Höfe ihrer Brustwarzen leuchteten dunkelrot durch den hauchdünnen Stoff und weckten Begierden in ihm, derer er auch nach seinem »Tod« nicht verlustig gegangen war. Die Frauen trugen silberne Tabletts herein, auf denen sich Schalen mit erlesensten Speisen und verschiedene Amphoren mit Wein be fanden. Schweigend brachten sie die Schalen in den Aufenthalts raum und stellten sie dort ab. Duncan versuchte, die Frauen in ein Gespräch zu verwickeln, als sie das Gästequartier nach einer unterwürfigen Verneigung wieder verlassen wollte. Er hatte den Eindruck, daß sie ihn sehr wohl verstanden, aber im mer, wenn er irgend etwas sagte, sahen sie ihn nur freundlich lä chelnd an. Duncan wußte nicht, ob sie stumm waren oder nur den ausdrücklichen Befehl hatten, sich auf keine Unterhaltung mit ihnen einzulassen. Für die Frauen hoffte er letzteres.
Während sich Duncan Luther über die Speisen hermachte, als sie wieder allein waren, blieb Romano etwas abseits stehen. Er benötig te keine Nahrung. Duncan tat gut, sich den Magen zu füllen. Es ließ ihn sich fast wie ein richtiger Mensch fühlen. »Ich frage mich«, sagte er, während er einen edelsteinverzierten Trinkbecher mit schwerem, süßen Rotwein aus einer Karaffe füllte, »ob wir woanders aufgetaucht wären, wenn wir in dem dunklen Korridor einen der anderen Seitengänge genommen hätten. Hätten sie uns in andere Zeiten und an andere Orte geführt, oder wären wir ebenfalls hier und jetzt herausgekommen?« »Hoffen wir, daß wir überhaupt je die Gelegenheit bekommen, das herauszufinden. Aber bis dahin ist diese Frage für mich eher un wichtig.« »Das finde ich ganz und gar nicht. Denn sie führt unweigerlich zu einer ganz anderen Frage.« »Und welche wäre das?« Duncan Luther setzte den Trinkbecher ab und sah Romano ernst an. »Ist es einfach nur Zufall, daß wir ausgerechnet jetzt und hier aufgetaucht sind? Oder steckt irgendein Sinn oder eine Absicht da hinter? Haben wir hier irgend etwas zu erfüllen oder zu beeinflus sen?« George Romano erwiderte Duncans Blick erstaunt. Darüber hatte er sich bis jetzt noch gar keine Gedanken gemacht.
* Zwischenspiel: Drei Wochen zuvor in der Hauptstadt der nördlichen Nil provinz Maaza, etwa 300 Kilometer nilaufwärts
Der kleine Palast des Nomarchen, wie der Titel des Statthalters des Pharaos lautete, lag auf einer kleinen Anhöhe unweit des Nils, etwas entfernt von den Lehmhäusern der kleinen Stadt, die sich zu beiden Seiten des Stromes ausbreitete. Die Untertanen dort hatten sich dar an gewöhnt, daß sie ihren Herrscher und seine Angehörigen so gut wie nie zu Gesicht bekamen und daß der Palast tagsüber wie ausge storben dalag, während die ganze Nacht hindurch die meisten Fens ter von Kerzenschein erleuchtet waren. Das gesamte Leben am Hof schien sich nur des Nachts abzuspielen. Natürlich gab es unten in der Stadt das ein oder andere Gerücht, daß dort teuflische Riten vollzogen und Menschen geopfert wurden, aber solange es den Bewohnern gutging, der Nomarch nicht über mäßig ungerecht war und vor allem die Tribut- und Steuerzahlun gen nicht zu hoch waren, war niemand bereit, diesen Gerüchten wirklich nachzugehen. Der Nomarch weilte an einer abendlichen Festtafel im Kreis seiner Sippe, als ihn die Nachricht ereilte, daß von der Stadt her eine Sänfte mit einem wichtigen Besucher herangetragen wurde. Und als er hör te, um wen es sich handelte, verließ er sofort die Tafel und eilte in den Innenhof, um ihn persönlich zu empfangen. Die Sänfte wurde von acht Männern getragen, und vier weitere schritten mit Fackeln voran, um in der mondlosen Schwärze der Nacht den Weg zu finden. Als die Prozession die Mitte des Innenhofes erreicht hatte, setzten die Männer die Sänfte ab und knieten sich demütig nieder. Obwohl die Gestalt, die der Sänfte würdevoll entstieg, körperlich nicht besonders groß und in ein eher schlichtes weißes, ärmelloses Gewand gekleidet war, handelte es sich um eine Erscheinung, die die Blicke aller Umstehenden wie magisch anzog.
Eine Erscheinung, die von einer ganz besonderen Aura umgeben zu sein schien. Der Nomarch wußte, daß dieser Eindruck nicht nur daher rührte, daß der Ankömmling ebenso wie er ein Vampirwesen war. Nein, er war darüber hinaus ein Hermaphrodit – ein Zwitter, der sowohl weibliche wie auch männliche körperliche Merkmale aufwies. So zeichneten sich unter dem weißen Gewand leicht die sanften Rundungen zweier Brüste ab, während sich in seinem Gesicht wei che und sinnliche Züge mit harten, entschlossenen vereinigten. Nicht zuletzt diese Mischung verlieh dem Gesicht seine besondere Ausstrahlung. Mit dem Ohrschmuck und dem blauweißen Kopftuch wirkte es so geheimnisvoll und erhaben wie das eines Pharaos. Die Träger nahmen die Sänfte wieder auf und verließen den In nenhof in dumpfem Gleichschritt. Der Nomarch gab den umstehen den Bediensteten mit einem Wink zu verstehen, daß ihre Gegenwart nicht erwünscht war, und sofort leerte sich der Hof. Erst jetzt wandte sich der Gastgeber dem Ankömmling zu und breitete die Arme aus. »Seid gegrüßt, Hüter! Willkommen in meinem Haus.« Der Angesprochene verneigte leicht den Oberkörper. »Seid auch Ihr gegrüßt, Harlorkis! Habt Dank für Eure Gastfreundschaft.« »Ihr kommt sehr viel früher als erwartet«, sagte der Nomarch. »Ich war sehr überrascht, als ich von Eurer Ankunft erfuhr. War es nicht vereinbart, daß Ihr erst in einigen Wochen mit dem Lilienkelch kommt, um unserer Sippe neue Mitglieder zuzuführen?« »Ja, das war es«, bestätigte der Hüter. »Aber ich bin jetzt auch nicht aus diesem Anlaß hier.« »Weshalb dann?« »Es gibt wichtige Dinge zu besprechen. Wichtige und ernste Din ge, die ein außergewöhnliches und schnelles Handeln nötig ma
chen.« Harlorkis, der Nomarch, spürte, daß der Hüter nicht bereit war, an Ort und Stelle darüber weiterzureden. Er machte eine einladende Handbewegung. »Kommt. Ich führe Euch an einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können. Oder möchtet Ihr nach der Reise erst eine kleine Stärkung zu Euch nehmen?« »Nein, das kann warten. Laßt uns erst reden.« Der Nomarch brachte den Hüter in seine privaten Gemächer, wo sie im Kerzenschein am Ende einer kleinen Tafel Platz nahmen. Der Nomarch schenkte ihnen beiden Wein ein und wartete, bis der Hüter von sich aus das Wort ergriff. »Ihr habt schon von einem Wesen namens Nexius gehört?« fragte er. »Ich kenne nur Gerüchte. Genaueres weiß ich nicht.« »Dieses Wesen ist einst, vor einigen Jahrhunderten, bei einer miß glückten magischen Zeremonie dem Lilienkelch entsprungen. Es war mein Vorgänger, der damals den Ritus geleitet und dabei verse hentlich die tödlichste Gefahr geschaffen hat, die je für unser Volk auf der Erde gewandelt ist. Er und die anderen, die der Zeremonie beiwohnten, sind ihm als erste zum Opfer gefallen.« »Ich habe gehört, daß es später dann aber vernichtet wurde.« »Das ist nicht ganz richtig. Wir haben es zwar unter hohen Verlus ten besiegt und eingekerkert, aber vernichten, nein, vernichten konnten wir es nicht.« »Wo ist das Wesen jetzt?« »Es ist eingesperrt in einem magisch abgesicherten Gefängnis in den Ländern nördlich des großen Meeres, von denen ich gerade komme«, sagte der Hüter. »Es ist damals eigens zu diesem Zweck errichtet worden. Unsere Brüder dort haben mir bei meinem letzten
Besuch berichtet, daß der magische Schutz allmählich mehr und mehr seine Wirkung verliert, und ich habe mich mit eigenen Augen davon überzeugt, daß dem leider tatsächlich so ist.« »Wie ist das möglich?« »Damals, als man den Nexius eingesperrt hat, geschah alles in großer Eile. Das Wesen war nur betäubt und konnte jeden Augen blick wieder die Oberhand gewinnen. Dabei ist man offenbar nicht sorgfältig genug vorgegangen. Aber es gibt noch etwas anderes. Et was, das den Prozeß noch beschleunigt.« Der Hüter atmete tief durch. »Der Nexius wächst! Er wächst immer noch weiter. Und mit ihm wachsen auch seine Kräfte.« »Ist es nicht möglich, den magischen Schutz zu verstärken oder zu erneuern?« Der Hüter schüttelte den Kopf. »Bei dieser Art der Magie nicht. Das einzige, was ihn auf Dauer zu halten vermag, ist ein neues Ge fängnis.« »Wieviel Zeit bleibt noch, ehe dieses Wesen … ehe es sich befreien kann?« Harlorkis wußte nicht, wann in seinem langen Leben er je Angst verspürt hatte – aber bei diesem Gedanken erschauderte er unwill kürlich. Er war zuvor niemandem begegnet, der den Nexius persön lich kannte, aber wenn nur ein Bruchteil der Erzählungen darüber stimmte, wie er vor Jahrhunderten unter den Vampiren gewütet hat te, kamen schlimme Zeiten auf sie zu. Der Hüter machte eine vage Geste. »Das vermag niemand genau zu sagen. Vielleicht nur ein, zwei Jahre, im besten Fall auch noch ei nige Jahrzehnte. Die Magiekundigen unter uns, mit denen ich ge sprochen habe, meinten, daß die derzeitige Magie noch ausreichen würde, den Nexius sicher an einen anderen Ort zu bringen, aber so bald er es erst einmal geschafft hat, die magischen Fesseln zu spren
gen, ist es zu spät. Jede Woche, vielleicht sogar jeder Tag zählt.« Harlorkis versank einige Momente lang in grüblerisches Schwei gen. »Weshalb erzählt Ihr das alles ausgerechnet mir?« fragte er dann. »Wir brauchen jemanden, der die gewaltige Aufgabe übernimmt, das neue Gefängnis für den Nexius zu errichten. Und diesmal muß es ein ganz besonderes Gefängnis sein. Eines, das seinen steigenden Kräften gerecht wird und ihn bis in alle Ewigkeiten gefangenhält.« »Aber weshalb ausgerechnet ich? Ich verstehe mich weder auf die Baukunst noch auf die besondere Magie, die in diesem Fall einge setzt werden muß. Und auch aus meiner Sippe tut das niemand.« »Ihr versteht mich immer noch nicht richtig. Es geht hier um keine Sache, die von ein paar Baumeistern und Magiekundigen zu bewäl tigen wäre. Es geht um weitaus mehr.« Der Hüter erzählte, was für eine Art Gefängnis vonnöten wäre. Nachdem er geendet hatte, schwieg der Nomarch eine Zeitlang ehr fürchtig. »Das ist eine Aufgabe, die gut und gerne ein Jahrzehnt und ein ge samtes Volk erfordern würde«, sagte er dann. »Ganz recht. Und es gibt nur wenige Völker auf dem Erdenrund, die dazu in der Lage wären. Eines davon ist das hiesige.« »Der einzige, der solch ein Bauvorhaben – noch dazu, wenn es ab solut geheim bleiben soll – anordnen könnte, wäre der Pharao per sönlich.« Der Hüter nickte. »Ich sehe, langsam beginnt Ihr zu begreifen. Und ich habe mir sagen lassen, daß Ihr von allen hiesigen Brüdern derjenige seid, der am besten über die Vorgänge am königlichen Hof informiert ist. Ihr werdet einen Weg finden, den Pharao dazu zu bringen, dieses Bauvorhaben anzuordnen.«
»Wie habt Ihr Euch das vorgestellt? Wollt Ihr, daß ich ihn zu einer Dienerkreatur mache? Die Ammon-Priesterschaft würde sie schnell entlarven.« »Nein«, beschied der Hüter. »Eine Dienerkreatur ist nicht das, was wir in diesem Fall brauchen. Sie wäre zu anfällig und zu leicht zu enttarnen. Nein, was wir brauchen, ist etwas anderes.« »Ihr …« Die Stimme des Nomarchen zitterte. »Ihr wollt einen Vampir auf dem Pharaonenthron?« »Ganz genau.« »Es wird uns nie gelingen, einen der unseren auf den Thron zu he ben. Die Regierungsreihenfolge ist streng erblich festgelegt.« »Ich spreche nicht von solcherart Regierungsübernahme. Ihr ver geßt, daß wir über Mittel und Wege verfügen, unsere Familie um neue Mitglieder zu erweitern. Schließlich bin ich der Hüter des Lili enkelches!« Harlorkis nickte bedächtig. Das stimmte wohl. »Habt Ihr an je mand Bestimmten gedacht?« »In der Tat. Das habe ich.« Und dann legte der Hüter seinen Plan dar. Je mehr er erzählte, de sto mehr wurde Harlorkis sich bewußt, wie gut der Hüter des Kel ches über die familiären Angelegenheiten der königlichen Familie informiert war. »Um das zu erreichen, brauchten wir einen Köder«, wandte Har lorkis ein. »Einen Köder, dem kein Mann dieser Welt widerstehen könnte.« »Diesen Köder zu beschaffen«, sagte der Hüter feierlich, »ist Eure Aufgabe.« Harlorkis versank abermals in Schweigen, ehe er sich schließlich erhob und entschlossen nickte.
»Ich denke«, sagte er, »ich werde Euch mit dem dienen können, woran Ihr denkt. Ich werde Euch einen Köder beschaffen, wie er für eine Aufgabe wie diese nicht besser geeignet sein könnte.« Der Hüter stand ebenfalls auf, kreuzte die Hände vor der Brust und verneigte sich leicht, zum Zeichen, daß damit alles gesagt war. »Ich werde Euch diesen Köder gleich persönlich vorstellen«, fuhr der Nomarch fort. »Doch zuvor – gestattet, daß ich Euch eine kleine Stärkung anbiete. Und wenn Ihr Euer Mahl beendet habt, werdet Ihr sehen, daß ich Euch nicht zuviel versprochen habe.« »So sei es.« Harlorkis führte den Hüter aus dem Raum hinaus und weiter durch gemauerte Gänge, die sich unterhalb des Palastes tief in der Erde erstreckten. Vor einem Eingang, der mit schweren Brokat verhängt war, blieb er stehen. Er schob den Stoff zur Seite und gab den Blick auf die kleine Kammer frei, die sich dahinter befand. Das einzige Möbel stück darin bildete eine hölzerne Liege, auf die eine nackte junge Frau gefesselt war – fast noch ein Mädchen, das ihnen mit furchter füllten Augen entgegensah. »Stärkt Euch«, sagte Harlorkis gönnerhaft, als würde er seinem Gast einen guten Tropfen Wein kredenzen. »Und wenn Ihr damit fertig seid, werde ich Euch die Lösung unserer Probleme präsentie ren.« Damit ließ er den Hermaphroditen allein, der die Kammer betrat. Das junge Mädchen auf der Liege zerrte an den Fesseln, als er langsam näherkam. Dennoch war sie nicht in der Lage, den Blick von ihm abzuwenden. So sehr sie sich auch vor ihm zu fürchten schien, so sehr schien er sie zugleich zu faszinieren. Dazu mußte der Hüter des Kelches nicht einmal seine hypnoti schen Fähigkeiten anwenden, wie sie allen Vampiren zu eigen wa
ren. Er wußte, daß es an seiner doppelgeschlechtlichen Erscheinung lag. Der Hüter streckte den Arm aus und strich mit der Hand über die nackte Haut des Mädchens und durch das Tal zwischen ihren kaum entwickelten Brüsten. Diese Geste schien sie zu beruhigen. Jeden falls ließ das Beben ihres Körpers ein wenig nach. »Hab keine Angst«, flüsterte er zärtlich. »Ich werde dir nichts zu leide tun.« Der Hüter hatte keine Lust, dem Mädchen Angst zu bereiten oder es länger als nötig zu quälen. Zwar schlummerte auch in ihm die unbändige Animalität, die immer wieder in den Vampiren durch brach, aber jetzt stand ihm nicht der Sinn danach, sich diesem Drang zu ergeben. Dafür war er nach der langen Reise zu erschöpft, und seine Gedanken waren zu sehr bei der Gefahr, die ihre gesamte Ras se bedrohte. »Schließ deine Augen«, sagte er, diesmal unter Zuhilfenahme sei ner hypnotischen Fähigkeiten. Das Mädchen gehorchte ihm aufs Wort. Fast liebevoll strich er über ihre Wange, dann beugte er sich hinab und schlug seine spitzen Eckzähne in ihren Hals. Sie schrie erstickt auf, als er ihre Schlagader zerfetzte, und wäh rend sie sich zuckend und stöhnend unter dem Hermaphroditen wand, schlürfte er das klebrig-warme Blut, das daraus hervorquoll. Als er schließlich von ihr abließ und sich mit dem Handrücken das Blut aus den Mundwinkeln wischte, war sie nur noch eine wächser ne Puppe, die leblos und wie erstarrt auf der Liege lag. Mit kundigen Griff ergriff er ihren Kopf mit beiden Händen und brach ihr das Genick, um sie nicht zu einer Dienerkreatur werden zu lassen. Ein solches Schicksal hatte sie in seinen Augen nicht ver dient. Für sie war es besser, unschuldig, jung und in Ehre zu ster
ben. Als er die Kammer wieder verließ, erwartete ihn der Nomarch be reits draußen auf dem Gang. »Ich hoffe, die Speise hat Euch gemundet?« »O ja. Es war sehr … erfrischend.« Der Hüter sah den Nomarchen ernst an. »Und Ihr? Habt Ihr das, was Ihr mir versprochen habt?« »Ja, das habe ich, Hüter. Und Ihr werdet sehen, daß ich nicht über trieben habe. Vielleicht erinnert Ihr Euch sogar noch an sie. Sie wur de zur Vampirin, als Ihr das letzte Mal mit dem Kelch hier wart und unserer Sippe neue Mitglieder zugeführt habt.« Er klatschte in die Hände, woraufhin hinter der nächsten Gangbie gung eine junge Frau hervortrat. Sie war so atemberaubend schön, daß selbst der Hüter des Kelches unwillkürlich den Atem anhielt. Sie war von schlanker Gestalt, hatte tiefschwarzes Haar, uner gründlich dunkle Augen und hohe Wangenknochen, die ihr trotz ih rer Jugend aristokratische Züge verliehen. Äußerlich wirkte sie wie Anfang Zwanzig, doch der Hüter wußte, daß sein letzter Besuch, bei dem er sie mit dem Lilienkelch zur Vampirin gemacht hatte, bereits über drei Jahrzehnte zurücklag. In ihm regte sich eine verschwom mene Erinnerung an ein halbwüchsiges Mädchen, das ihm bereits damals durch seine Anmut und sein edles Antlitz aufgefallen war. »Tritt heran und erweise dem Hüter deine Ehrehrbietung«, sagte Harlorkis. Sie trat mit federnden Schritten näher, blieb ein paar Meter vor dem Hüter stehen und verbeugte sich auf eine Art und Weise, die zugleich unterwürfig als auch anmutig, keck und herausfordernd wirkte. Vielleicht lag es daran, daß sie sich zwar verneigte, dabei aber ihren Blick um keinen Deut senkte, sondern den Hüter stets im Auge behielt.
Sie war nicht nur atemberaubend schön, sondern wirkte zugleich auch hellwach und sich ihrer selbst wohl bewußt. Dem Hüter gefiel, was er sah. In der Tat! Wenn jemand eine Chance hatte, ihr Vorhaben zu ver wirklichen, dann war es diese junge Frau! »Dir wurde gesagt, welche Aufgabe dir zukommt?« erkundigte er sich. Sie nickte knapp, mit einem unergründlichen Lächeln auf den Lip pen, das zu besagen schien, wie sehr sie sich einerseits durch die Aufgabe geschmeichelt fühlte und wie sehr sie anderseits gewillt war, sie zu erfüllen. »Es wird eine Aufgabe sein, die so gewaltig ist, daß dein Name in die Geschichte eingehen wird, sofern dir Erfolg beschienen ist«, fuhr der Hüter fort. »Eine Chance wie diese wird im Leben nur ganz, ganz wenigen geboten. Bist du bereit, sie zu erfüllen?« »Ja, Hüter, das bin ich.« »Gut. So nenne mir denn deinen Namen, an den man sich noch in Jahrtausenden erinnern wird!« Die Augen der jungen Vampirin leuchteten auf. »Nofretete«, antwortete sie.
* Akhenati, der Sohn des Pharaos, kam erst am späten Abend dazu, sich wieder den beiden Fremden zu widmen, die ihm das Leben ge rettet hatten. Er verzichtete darauf, sein Kommen durch einen Boten ankündi gen zu lassen oder in Begleitung eines kleinen Hofstaates – Wachen,
Diener und Zeremonienmeister – zu erscheinen. Dieser Pomp, wie er am Hof des Pharaos üblich war, war ihm zuwider. Wann immer es möglich war, verzichtete er darauf. Und nicht nur in seiner Ein stellung dieser Sache gegenüber unterschied er sich von den ande ren Mitgliedern des königlichen Hauses. Als er das Gästequartier betrat, tat er es lediglich in Begleitung ei ner zweiten Person: ein distinguiert wirkender Mann in den Fünfzi gern mit wachen Augen, dessen Gesicht nach hiesiger Sitte glattra siert war. Die beiden Fremden erhoben sich überrascht, als sie eintraten, und er glaubte zu hören, wie der ältere von ihnen leise so etwas wie »Endlich!« hervorstieß. Aus dem Mund jedes anderen Besuchers des königlichen Hofes würde eine solche Äußerung eine unentschuldba re Respektlosigkeit darstellen, doch Akhenati wußte, daß er die bei den nicht nach üblichen Maßstäben messen durfte. Es machte ihm erneut klar, wie sehr sie sich von allen anderen Menschen unterschieden, denen er bislang begegnet war. Und es zeigte ihm, wie intensiv er sich mit ihnen auseinandersetzen mußte, um sie kennenzulernen. Es würde mehr Zeit und Geduld erfordern, als er jetzt aufzubrin gen in der Lage war. »Ich bedauere, daß es so lange gedauert hat, ehe ich dazu komme, Euch einen Besuch abzustatten«, eröffnete er das Gespräch, ohne Anstalten zu machen, Platz zu nehmen. Sein Begleiter blieb mit aus druckslosem Gesicht neben ihm stehen. »Die erfolglose Suche nach dem dritten Attentäter und die Untersuchung dieses Vorfalls haben meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.« »Wißt Ihr mittlerweile, wer die drei Männer beauftragt hat?« frag te Duncan Luther. »Nein. Wir wissen zwar, auf welchem Weg sie in den Palast einge
drungen sind und der dritte Mann ihn auch wieder verlassen hat, und es gibt auch einen Hinweis, der auf die Ammon-Priesterschaft deutet, aber das kann genauso gut nur ein Zufall sein. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß sie zu einem solchen Mittel grei fen würde, um mich aus dem Weg zu räumen. Es wäre ein Frevel gegen die Götter, einem Mitglied der königlichen Familie etwas zu leide zu tun.« »Dann muß hinter der Sache eben jemand stecken, der mit den Göttern hier nicht besonders viel am Hut hat«, bemerkte George Ro mano despektierlich. Duncan Luther fragte sich, ob der Sohn des Pharaos überhaupt verstand, was mit der Formulierung »am Hut haben« gemeint war, aber der geheimnisvolle Effekt, der eine gegenseitige Verständigung möglich machte, schien den Sinn der Worte anstandslos zu übertra gen. Akhenati nickte nachdenklich. »Und er muß Spitzel hier im Palast haben. Sonst hätte er nicht so genau gewußt, wo ich mich heute am frühen Abend aufhalten würde.« Er sah Duncan Luther und George Romano an. »Aber bitte habt Verständnis dafür, daß mir jetzt nicht der Sinn nach einer langen Unterhaltung steht. Der Tag hat mich er schöpft, und ich möchte mich zur Ruhe begeben. Darf ich Euch bit ten, über Nacht meine Gäste zu bleiben und unser Gespräch auf den morgigen Tag zu verschieben?« Duncan versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu las sen. »Ja, selbstverständlich.« Was gab es da auch sonst zu sagen? »Da Ihr hierzulande offensichtlich fremd seid und Euch sicherlich viele Fragen auf der Zunge brennen, habe ich jemanden mitge bracht, der sie Euch mit Freude beantworten wird, sofern es in sei ner Macht steht.« Akhenati deutete auf seinen Begleiter. »Dies ist Kharim, der Wesir des königlichen Hofes. Er wird Euch alles erklä ren.«
Der Wesir verneigte sich leicht, und Duncan und Romano erwi derten den Gruß auf dieselbe Art und Weise. »Und er wird Euch auch in die Sitten einführen, die am Tisch des Pharaos gelten«, fuhr Akhenati fort. »Damit Ihr meinen Vater beim morgigen festlichen Anlaß nicht durch Achtlosigkeit oder Unwis senheit erzürnt. Er legt sehr hohen Wert auf Dinge wie diese.« »Was für ein festlicher Anlaß?« Sicherlich war allein diese Frage ein Beispiel für das, was der Sohn des Pharaos gemeint hatte, aber die Worte waren einfach aus Duncan hervorgeplatzt, ehe er sich Ge danken über eine wohlfeile Formulierung hatte machen können. »Habe ich das zu erwähnen vergessen? Morgen beim höchsten Stand der Mittagssonne findet Euch zu Ehren ein Festbankett statt. Mein Vater ist schon gespannt darauf, diejenigen kennenzulernen, die seinem Sohn das Leben gerettet haben. Freut Euch, denn eine solche Ehre wird nicht vielen gewährt. Es werden die höchsten Wür denträger des Reiches dabei sein, auch der Hohepriester. Daher ist es wichtig, daß Ihr Euch richtig zu bewegen wißt.« Akhenati nickte ihnen noch einmal freundlich zu, dann verließ er das Gästequartier wieder. Duncan war etwas enttäuscht, daß sich der Sohn des Pharaos so schnell wieder verabschiedet hatte, aber um so froher war er, daß er ihnen wenigstens einen kompetenten Gesprächspartner dagelassen hatte. Es zeugte von dem Einfühlungsvermögen dieses jungen Man nes. Er bedeutete dem verbliebenen Wesir, zusammen mit ihnen an ei nem der Tische Platz zu nehmen, und kaum hatten sie das getan, er öffnete er auch schon das Gespräch. In den nächsten Stunden erfuhren sie mehr als erhofft. Der Wesir erwies sich als äußerst auskunftsfreudig. Duncan Luther hatte dabei trotzdem den Eindruck, als sei der We
sir nicht allein aus dem Grund hier, um ihnen ihre Fragen zu beant worten, sondern auch, um mehr über sie herauszufinden – wenn gleich er dabei sehr vorsichtig vorging, direkte Fragen vermied und seine Erkenntnisse wohl in erster Linie daraus zog, wie sie ihre Fra gen stellten. Auf jeden Fall handelte es sich um einen wachen und klugen Menschen. Nachdem ihr erster Wissenshunger gestillt war, begann der Mann ihnen zu erläutern, welches Verhalten morgen an der königlichen Tafel von ihnen erwartet wurde. Duncan stöhnte innerlich über die Vielzahl der Vorschriften – in welcher Reihenfolge die Gläser erhoben oder die Speisen eingenom men werden durften, wann man das Wort ergreifen durfte oder wie man zu antworten hatte, wenn man vom Pharao angesprochen wur de. Dennoch bemühte er sich, sie alle genau im Kopf zu behalten. Er ahnte, daß das Bankett nicht nur dazu da war, sie zu ehren. Nein, es diente sicherlich zugleich auch dazu, sie ganz genau in Au genschein zu nehmen. Und darauf mußten sie so gut wie möglich vorbereitet sein. Sie durften keine Fehler machen.
* Nachdem Akhenati in seine privaten Gemächer gegangen war, nahm er vor einem Waschtisch aus schwarzem Edelholz Platz, wo er sich Wasser aus einer goldenen Schüssel ins Gesicht spritzte. Er hoffte, es würde ihm helfen, Klarheit über die Ereignisse des heuti gen Tages zu erlangen. Er trocknete sich das Gesicht ab, blieb aber weiterhin am Tisch sit zen und betrachtete sein Ebenbild in dem großen metallenen Spiegel
aus poliertem Silber, der vor ihm angebracht war. Ob er je herausfinden würde, was hinter all diesen Ereignissen steckte? Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er das Rascheln, das hinter ihm zu hören war, erst wahrnahm, als es sich wiederholte. Erschrocken fuhr er herum. Da stand plötzlich sie – die faszinierendste Frau, der er in seinem Leben je begegnet war. Sie hatte tiefschwarzes Haar, geheimnisvolle Augen, und ihre hochstehenden Wangenknochen verliehen ihr einen ausgeprägten aristokratischen Zug. Und einen Zug von Unnahbarkeit und Überle genheit. Sie stand genau zwischen den Vorhängen, die den offenstehenden Durchgang zum Balkon einrahmten, und ein verborgener Wind, von dem er selbst nichts spürte, ließ die Vorhänge und das schwarze Ge wand und Haar der Frau flattern. Dabei schmiegte sich der dünne Stoff dicht an ihre Haut, und was er sah, ließ sie nur noch um so be gehrenswerter erscheinen. »Wer … bist du?« fragte er stockend. Ihre Antwort bestand einzig aus einem ebenso anmutigen wie spöttischen Lachen, wobei sie ihr tiefschwarzes Haar, das sie entge gen der landläufigen Sitte nicht hochgesteckt oder zu einer kunst vollen Frisur angeordnet, sondern offen trug, fast hochmütig zu rückwarf. »Wie bist du hier hereingekommen?« fragte er weiter. Sie deutete in einer unnachahmlich anmutigen Geste auf den Bal kon hinter sich. »Ich bin aus der Nacht gekommen, und ich bin gekommen, um bei dir zu sein«, erreichte ihn ihre verführerisch weiche Stimme.
Sein Blick hing wie magisch an ihren Lippen, dennoch wurde er aus ihren Worten nicht recht klug. Was ihn aber noch mehr verwirrte: Wie hatte sie an den Wachen vorbei in sein Quartier kommen können? Außer der Türöffnung, in der sie gerade stand, gab es keinen anderen Zugang zu dem dahin terliegenden Balkon. »Was willst du von mir?« fragte er. Sie lächelte auf eine unergründliche Art und Weise, die ihn vollends in seinen Bann zu ziehen drohte. »Dich!« Das Wort erreichte ihn wie ein honigsüßer Hauch. Doch als sie danach langsam auf ihn zuzukommen begann, brach der Bann plötzlich, und unwillkürlich wich er vor ihr zurück und stieß mit dem verlängertem Rückgrat gegen den Waschtisch hinter ihm. Polternd landete die Waschschüssel auf dem Boden. Akhenati schoß der Attentatsversuch vom frühen Abend durch den Kopf. War dies womöglich ein neuer Versuch, ihm das Leben zu nehmen? Die lautlose Art, wie sie hinter ihm aufgetaucht war, legte es nahe. Er hob abwehrend die Hand. »Halt, bleib stehen! Komm nicht nä her!« Doch sie hielt nicht inne. Lediglich ihr Lächeln verstärkte sich um eine Nuance. Nur noch ein paar Schritte, dann würde sie ihn erreicht haben. Sein Blick richtete sich zum Ausgang. »Wachen!« rief er laut. »Wachen! Zu mir!« Die geheimnisvolle Frau blieb abrupt stehen, und für einen winzi gen Augenblick war so etwas wie Überraschung auf ihrem schmalen Gesicht zu erkennen, dann war dieser Eindruck auch schon wieder
verflogen. »Narr!« stieß sie hervor, wandte sich zur Flucht und rannte auf den Balkon hinaus. Akhenati war von dieser Reaktion vollkommen überrascht. Er stieß sich vom Waschbecken ab und eilte ihr hinterher. »Warte!« rief er ihr nach. Er konnte sich sein Handeln kaum selbst erklären. Eben hatte er sich noch von ihr bedroht gefühlt, und jetzt bereitete ihm die Vor stellung, sie könne so unvermittelt und spurlos wieder verschwin den, wie sie aufgetaucht war, soviel Sorge, daß er ihr blindlings hin terherstürmte. Da kam auch schon ein halbes Dutzend Wachen in den Raum ge stürzt. »Was habt Ihr, Herr?« rief der Wortführer. »Was ist geschehen?« Akhenati hielt inne und deutete auf den Durchgang zum Balkon. »Da war eine Frau!« rief er. »Sie ist ganz plötzlich hier aufgetaucht. Wie aus dem Nichts. Und sie ist dort hinaus geflohen.« Zusammen mit den Wachen trat er auf den Balkon hinaus. Dieser war von solch beträchtlichen Ausmaßen, daß man hier mit einigen Dutzend Gästen eine Feier hätte veranstalten können. Aber das än derte trotzdem nichts daran, daß er leer war. Zwei der Wachen hatten Fackeln mitgenommen, mit denen sie je den Winkel ableuchteten, ohne etwas zu finden. Und auch die Wa chen, die unterhalb des Balkons stationiert waren, gaben auf einen entsprechenden Zuruf die Antwort, daß sie weder jemanden kom men noch gehen gesehen hätten. Der Anführer der Wachen wandte sich an Akhenati und breitete die Arme aus. »Wer auch immer hier eingedrungen ist, jetzt besteht keine Gefahr
mehr.« Der Sohn des Pharaos nickte verdrossen. Er konnte sich gut vor stellen, daß der Mann den Eindruck hatte, er wäre nicht ganz bei Sinnen – wenn er es natürlich auch niemals wagen würde, so etwas auch nur anzudeuten. Akhenati konnte ihm das gut nachempfinden. Schließlich hatte er sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, daß hier drau ßen von einem Eindringling nichts zu sehen oder zu hören war. Nur ganz am Anfang, als sie alle auf den Balkon herausgetreten waren, hatte er über sich so etwas wie ein Flattern zu hören geglaubt. Doch als er daraufhin in den Nachthimmel emporgeblickt hatte, hatte er dort nichts entdecken können. »Wenn Ihr wollt, können wir die Wachen rings um diesen Palast teil verstärken«, erbot der Anführer der Wache. »Oder zur Sicher heit ein paar Männer in Euren Gemächern lassen.« »Nein«, beschied Akhenati. »Ich denke, das wird nicht nötig sein. Ich glaube, ich habe mich nur getäuscht. Die Ereignisse des Tages haben mich sehr erschöpft.« »Wie Ihr wünscht, Herr.« Der Anführer war sichtlich erleichtert und gab seinen Männern das Zeichen, zusammen mit ihm die Gemächer wieder zu verlassen. Nachdem Akhenati wieder allein war, ging er zum Waschtisch zu rück, stellte die zu Boden gefallene Schüssel wieder an Ort und Stel le und verweilte erneut bei seinem Spiegelbild. Hatte er sich den Besuch der jungen Frau vielleicht nur eingebil det? Konnte man sich etwas einbilden, was man derart intensiv – mit jeder Faser des Körpers, mit jedem Eindruck der Sinne – gespürt hatte? Er jedenfalls hatte deutlich das Gefühl gehabt, daß die Frau kein
Trugbild, sondern aus Fleisch und Blut gewesen war, und daß er den Arm hätte ausstrecken und sie wirklich berühren können, wenn er sie nur noch etwas näher an sich herangelassen hätte. Selbst jetzt, da sie wieder verschwunden war, schien noch immer ein süßlicher Hauch in der Luft zu liegen, der von ihrer Anwesen heit zeugte. Sogar das Rascheln, das vorhin ihre Ankunft begleitet hatte, ver meinte er wieder zu hören. »Glaub nicht, ich sei so einfach zu vertreiben.« Akhenati erstarrte erschrocken, als er in seinem Rücken ihre äu ßerst reale Stimme hörte. Anstatt sich gleich umzudrehen, sah er zuerst in den Spiegel vor sich. Aber dort war niemand zu entdecken. Der Raum hinter ihm war leer. »Was ist?« erreichte ihn ihre spöttische Stimme. »Reicht dein Mut nicht aus, um mir ins Angesicht zu sehen? Oder hältst du mich etwa für ein Gespenst?« Erst jetzt wandte er sich langsam um – und da stand tatsächlich sie. Wie bei ihrem ersten Auftauchen stand sie im Durchgang zum Balkon, und ihr Kinn war leicht hochmütig erhoben, als sie ihn an sah. Wie war das möglich? Er hatte doch eben noch im Spiegel nieman den hinter sich … Er fuhr herum und sah abermals in den Spiegel. Dort war sie noch immer nicht zu sehen. Alles war vorhanden, al les war richtig – nur sie fehlte! »Irgendwann wirst du verstehen«, sagte sie, als könne sie seine Gedanken erraten. Als er sich ihr erneut zuwenden wollte, entdeckte er, daß sie jetzt
auch dort verschwunden war. »Wir werden uns wiedersehen«, hörte er ihre Stimme vom Balkon zu ihm heranwehen. Er rannte hinaus und war diesmal kaum überrascht, als er dort abermals niemanden vorfand. Nur über ihm – irgendwo am Nacht himmel – war wieder ein dumpfes Flattern zu hören. Nachdenklich kehrte er in sein Quartier zurück. Diesmal verschloß er die Tür zum Balkon sorgfältig, ehe er sich nach nebenan in sein Schlafgemach begab. Die geheimnisvolle junge Frau wollte ihm nicht aus dem Kopf ge hen. Ob es stimmte, daß die Götter besondere Ereignisse immer durch besondere Vorboten ankündigten? Und was für Geschehnisse würden es sein, die die Götter in die sem Fall vorherbestimmt hatten?
* Duncan Luther und George Romano betraten den Saal, in dem das Festbankett zu ihren Ehren stattfand, mit äußerst gemischten Gefüh len. Eine kleine Delegation von Dienern und anderen Bediensteten des königlichen Hofes hatte sie kurz vor der Mittagsstunde aus dem Gästequartier abgeholt und hierher geleitet. In den mit bunten Sti ckereien verzierten toga-artigen Gewändern, die ihnen für den heu tigen Anlaß überlassen worden waren, fühlten sie sich so ausstaf fiert und auffällig wie zwei Papageien. Doch dieses Gefühl schwand wieder, als sie in den Saal geführt wurden. Der Raum war erfüllt mit mehreren Dutzend Gestalten, die überall
in kleinen Grüppchen zusammenstanden und zumeist noch sehr viel schmuckvoller gekleidet waren als Duncan und Romano. Die meisten der Leute hielten Trinkbecher in den Händen, und George Romano fühlte sich unwillkürlich an die vielen Cocktail-Parties der Sydneyer High-Society erinnert, auf denen er früher ein gerngesehe ner Gast gewesen war. Der Raum war abgedunkelt und die Fenster mit schweren Tü chern verhangen, aber die Fackelreihen an den Wänden und die vie len Leuchter auf der Festtafel sorgten für mehr als ausreichende Hel ligkeit. Romano nahm diesen Umstand mit Dankbarkeit zur Kenntnis. Es kostete ihn in seiner jetzigen Daseinsform erhebliche Anstrengung, sich im hellen Sonnenlicht zu bewegen, das jetzt überall draußen herrschte. Glücklicherweise waren fast alle Räumlichkeiten des Palastes tags über abgedunkelt – allein aus klimatischen Gründen. Die Tempera turen stiegen um die Mittagszeit gut und gerne auf vierzig Grad im Schatten. Ein Teil der Gespräche erstarb, als sie den Raum betraten. Die meisten Köpfe wandten sich einmütig in ihre Richtung, und von al len Seiten nahm man sie eingehend in Augenschein. Hier und da setzte verstohlenes Geflüster und Getuschel hinter vorgehaltenen Händen ein. Duncan Luther hatte den Eindruck, als würden sich dabei Ehr furcht und Skepsis die Waage halten. Demnach schien man am Hof mittlerweile darüber informiert zu sein, daß zwei seltsame Gäste aufgetaucht waren. Dennoch sprach sie niemand an, nachdem ihre Begleiter sie zu ih ren Plätzen an der ausgedehnten Festtafel geführt hatten und da nach wieder verschwunden waren. Keiner schien sich so recht in
ihre Nähe zu wagen. Sie beschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Da bislang nie mand an der Festtafel Platz genommen hatte, unterließen sie es ebenfalls, das zu tun – zumal ihnen aus den gestrigen Erläuterungen des Wesirs noch die deutliche Ermahnung im Kopf hing, daß es als sehr schwerer Affront gelten würde, falls jemand das tat, bevor der Pharao sich gesetzt und das Mahl eröffnet hatte. Duncan Luther sah sich um. Die einzigen bekannten Gestalten, die er entdeckte, waren Akhenati und der Wesir, die etwas abseits stan den und in ein Gespräch mit einer Gruppe anderer Leute vertieft waren. Der Sohn des Pharaos sah kurz in ihre Richtung und machte eine knappe grüßende Geste, ehe er sich wieder auf seine Ge sprächspartner konzentrierte. Duncan hatte das Gefühl, als würde er ihnen damit signalisieren wollen, daß sie bei dem, was nun auf sie zukam, ganz auf sich allein gestellt sein würden. Der Pharao selbst war ganz offensichtlich noch nicht anwesend. So sehr Duncan und Romano sich auch umsahen, sie konnten nirgend wo im Saal jemanden erkennen, der in ihren Augen dafür in Frage kam. Dafür entdeckten sie einen hohlwangigen älteren Mann mit einge fallenen Wangen und dichten schwarzen Augenbrauen, der eine kostbare, dunkelrote Robe trug. Er stand etwas abseits inmitten ei ner Traube ähnlich – wenngleich nicht ganz so prunkvoll – bekleide ter Männer und blickte mit unverhohlener Feindseligkeit zu ihnen herüber. Sie wurden abgelenkt, als ein mächtiger Gong erklang. Sofort erstarben sämtliche Gespräche, und alle Augen wandten sich in die Richtung des Saales, wo ein säulenumrahmter Durch gang zu erkennen war.
Im nächsten Augenblick betrat der Pharao den Raum – und ihm folgten mindestens zwei Dutzend Diener, die ihn zu seinem Platz am Ende der Tafel begleiteten. Jedermann im Saal verneigte sich, manche mehr, manche weniger. Um nicht unangenehm aufzufallen, folgten Duncan und Romano dem Beispiel, doch ihre Blicke waren weiterhin nach vorne gerichtet. Wenn Duncan erwartet hatte, eine beeindruckende Gestalt zu er blicken, so sah er sich getäuscht. Der Mann war klein und dicklich, fast aufgeschwemmt. Seine Wangen leuchteten hochrot, als bereite ihm jeder Schritt Anstren gung. Beeindruckend war allerdings seine Kleidung. Auf seinen Schul tern lag ein goldbestickter Umhang, und seinen Kopf schmückte die prächtige Pharaonenkrone, aus der über seiner Stirn eine goldene Kobra in Angriffsstellung hervorwuchs. Auch in sein Kopftuch wa ren goldene Fäden eingewebt, die im Kerzenschein bei jeder Kopfbe wegung funkelten und glitzerten. Und in der Hand hielt er ein gol denes Zepter, dessen Knauf eine ägyptische Gottheit darstellte. Doch all dieser Pomp konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei dem Pharao um einen alten, kränklichen Mann handelte. Sein Atem war heiser und rasselnd, sein Gang schwer und schlep pend, und er mußte sich von einem Diener stützen lassen, um zum Tisch zu kommen. Schwer ließ er sich in den für ihn bestimmten thronartigen Stuhl am Ende der Tafel fallen, ohne irgendeinen der Umstehenden eines Blickes zu würdigen. Erst auf eine gelangweilte Geste vom ihm wagten es nun auch die anderen Anwesenden, an der Tafel Platz zu nehmen. Duncan Luther fiel auf, daß Akhenati und auch der Wesir am Ende der Tafel direkt neben dem Pharao saßen. Und auch der Mann
in dem dunkelroten Gewand, der sie so feindselig gemustert hatte, saß ganz in der Nähe. Auch jetzt warf er ihnen wieder einen finsteren Blick zu. Sie selbst hatten mehr als zwanzig Meter vom Pharao entfernt Platz genommen, was es ihnen unmöglich machte, etwas von dem zu erlauschen, was dort gesprochen wurde. Erst recht nicht, als der Pharao das Mahl eröffnete und Scharen von Dienern in den Saal kamen und sowohl Wein wie auch Speisen auftrugen. Was das Fleisch betraf, so schien man eine Vorliebe für alle Arten von Geflügel zu haben, die auf die verschiedensten Wei sen zubereitet worden waren. Selbst wenn an der königlichen Tafel sehr strenge Sitten herrsch ten, so wurde die Atmosphäre bald lockerer und die Stimmung bes ser. Der Pharao selbst sagte nur selten etwas. Und auch das Essen rührte er kaum an. Die meiste Zeit über saß er einfach nur in sich versunken da und starrte auf den Tisch vor sich. Und ab und zu wurde sein Körper von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Auch die Musikanten und die wunderschönen Tänzerinnen, die den Saal betraten und das Festgelage mit ihren Darbietungen unter malten, entlockten ihm kaum mehr als einen flüchtigen Blick. Und in die Richtung der beiden Fremden sah er schon gar nicht. Es schien, als sei all dieser Prunk für ihn gar nicht vorhanden. Er machte einen gelangweilten und desinteressierten Eindruck. Duncan Luther begriff, daß für den Pharao Anlässe wie dieser nur eine lästige Pflichtübung waren. Es beruhigte ihn ein wenig. Er hatte erwartet, einem hellwachen und mißtrauischen Monar chen gegenüberzustehen, dessen Fragen sie in Verlegenheit bringen würden. Jetzt wußte er, daß sie nur ein äußerst nebensächlicher Ta
gesordnungspunkt sein würden. Doch er sollte sich täuschen. Es dauerte gute zwei Stunden, ehe das Mahl beendet war und die Tafel von den Dienern wieder abgedeckt wurde. Die Trinkbecher al lerdings blieben stehen, und auch die Diener, die überall entlang der Tafel mit Amphoren bereitstanden, um auf ein Handzeichen herbei zueilen und nachzuschenken, verließen den Raum nicht. Die Gespräche erstarben, als der mächtige Gong abermals ange schlagen wurde. Im Saal wurde es so still, daß man die sprichwörtli che Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können. Duncan und Romano bemerkten, daß der Sohn des Pharaos aufge standen war und in ihre Richtung sah. »Und jetzt«, begann er, »ist es an der Zeit, den beiden Männern zu danken, zu deren Ehren dieses heutige Mahl gegeben wurde. Ich bitte Euch, erhebt Euch.« Die letzten Worte galten ihnen beiden. Zögernd kamen sie der Aufforderung nach. Duncan begann sich etwas unwohl zu fühlen, als er sich im Blick punkt aller Augen wußte. Selbst der Pharao, der kurze Zeit zuvor noch den Eindruck gemacht hatte, jeden Augenblick einzuschlafen, hatte seinen Kopf gehoben und musterte sie mit Interesse. »Es sind zwei Fremde, die aus einem sehr weit entfernten Land zu uns gekommen sind«, sprach Akhenati weiter. »Ihre Namen sind Duncan Luther und George Romano. Es sind Magier, und sie sind gekommen, um unser Volk kennenzulernen und uns ihre Ehrerbie tung zu erweisen.« Das entsprach genau der Geschichte, die Duncan und Romano sich zurechtgelegt hatten. Duncan begriff, daß der Wesir den Sohn des Pharaos über ihr gestriges Gespräch informiert haben mußte. »Und als Gastgeschenk haben sie etwas äußerst Kostbares mitge bracht«, fuhr dieser fort. »Sie haben mir ein zweites Leben ge
schenkt. Denn sie haben mich nach ihrer Ankunft davor bewahrt, das Opfer dreier Attentäter zu werden, die mir vom Giftzahn der Schlange zu kosten geben wollten!« Überall ringsum erhob sich Gemurmel, das erst erstarb, als der Pharao seine Hand hob. »Ich habe Euch zu danken«, sagte er an Duncan und Romano ge wandt. Seine Stimme war dünn und brüchig. »Das Leben meines Sohnes ist mir mehr wert als mein eigenes. Denn er wird das fort führen, was ich begonnen habe. Möge seine Herrschaft genauso glorreich werden wie die meine.« Er wurde erneut von einem hefti gen Hustenanfall geschüttelt. »Ihr seid mir willkommen, solange Ihr wollt. Seid meine Gäste, und wenn Ihr einen Wunsch habt, so äußert ihn, und er wird Euch erfüllt werden.« Duncan verneigte sich. »Wir danken Euch«, antwortete er. »Einstweilen ist uns Eure Gast freundschaft Dank genug. Es reicht uns, wenn wir uns überall umse hen können, damit wir daheim so viel wie möglich über Euch, Eure glorreiche Herrschaft und Euer stolzes Volk zu berichten haben.« Er schien den richtigen Tonfall getroffen zu haben. Der Pharao wirkte geschmeichelt und nickte großzügig. »Es sei Euch gewährt!« Da sprang plötzlich der Mann in der dunkelroten Robe auf. »Lüge!« schrie er zornig. »Hört nicht auf sie! Glaubt ihnen nicht! Das sind keine Reisenden und auch keine Magier. Es sind nicht ein mal Menschen, sondern Teufelswesen. O ja, sie mögen magische Fä higkeiten besitzen, aber diese entstammen der Hölle! Und sie sind nicht hier, um Euch zu ehren, sondern um Unglück über das Kö nigshaus zu bringen!« »Unglück?« fragte Akhenati, der von diesem Auftritt wenig beein druckt schien. »Es wäre ein Unglück geschehen, wenn sie nicht ge
kommen wären!« »So mag es durchaus scheinen«, schränkte der Hohepriester ein. »Aber das gehört nur zu ihrem teuflischen Plan. Sie wollen Euer Vertrauen erschleichen, um Euch dann um so hinterhältiger in den Rücken zu fallen.« Er machte eine dramatische Pause. »Vielleicht sind sie sogar hier, um Euch Eures königlichen Blutes zu berauben. In den alten Schriften steht geschrieben, daß das vor vielen Jahrhun derten schon einmal geschehen ist. Wenn sie jetzt wieder aufge taucht sind, hat dies nichts Gutes zu bedeuten!« Überall ringsum setzte erregtes Geflüster ein. Aufregung machte sich breit. Duncan Luther und George Romano sahen sich besorgt an. Was so erfreulich begonnen hatte, entwickelte sich urplötzlich in eine be drohliche Richtung. Was wußte dieser Mann über ihre Existenzform? Der Pharao sorgte schließlich mit einem Handzeichen wieder für Ruhe. »Das sind schwere Anschuldigungen, die Ihr da erhebt, Hohe priester«, sagte er. »Ich hoffe, Ihr habt Beweise für Eure Worte.« »Beweise? Ihr wollt Beweise?« Der Hohepriester straffte sich und atmete tief durch. Offenbar hatte er seinen theatralischen Auftritt gut vorbereitet. »Gut, ich werde Euch Beweise geben. Denn es gibt Mittel und Wege, um diese Unglücksboten zu entlarven und ihr teuflisches Wesen zu offenbaren.« Er nickte einem anderen Mann in dunkelroter Robe zu, der ihm daraufhin eine Fackel brachte. Damit in der Hand kam er gemessenen Schrittes auf Duncan Lu ther und George Romano zu, wobei er sie so durchdringend anstarr te, als wolle er sie allein mit seinem Blick in Grund und Boden ram men.
Währenddessen trugen zwei weitere Priester einen mannshohen, mit weißem Tuch bespannten Holzrahmen herbei, den sie hinter Duncan und Romano aufstellten. Der Priester bewegte die Fackel vor ihnen hin und her, wobei er je doch respektvollen Abstand wahrte, so daß sie mit keinem direkten Angriff rechneten. Dennoch waren sie auf alles gefaßt. »Seht Ihr?« fragte der Hohepriester in die Richtung des Pharaos. »Sie haben keinen Schatten! Habt Ihr schon jemals einen Menschen gesehen, der keinen Schatten wirft? Beweist allein das nicht deut lich, daß es sich bei diesen beiden um keine Menschen handeln kann?« Der Pharao sah nachdenklich drein. Dann sah er Duncan an, zum Zeichen, daß er reden sollte. Duncan begriff, daß er jetzt kein falsches Wort sagen durfte. »Es hängt mit der Art unserer magischen Reise zusammen. Um wieder auf gleiche Weise in unsere Heimat zurückzukehren, mußten wir unsere Schatten dort zurücklassen. Sie sind der Anker, der uns mit unserer Heimat verbindet und uns den Weg zu ihr zurück weist.« Ein paar Sekunden verstrichen schweigend. »Hm«, machte der Pharao dann und blickte sich unter den ihm Nächstsitzenden um. »Ich finde, das klingt einleuchtend. Ich verste he zwar nicht allzu viel von Magie, aber für mich klingt es einleuch tend.« Duncan bemerkte mit Erleichterung, daß sich die meisten im Saal zügig der Meinung ihres Herrschers anschlossen und beifällig nick ten. »Lüge! Alles Lüge!« kreischte der Hohepriester wütend. »Aber ich werde sie entlarven. Denn es gibt etwas, das diese Gestalten so sehr scheuen wie wilde Tiere das Feuer. Das Licht der Sonne!«
Duncan und Romano hatten bemerkt, daß die Priester im Saal zu den verhängten Fenstern getreten waren. Auf einen Wink des Hohe priesters hin zogen die Männer einmütig den schweren Stoff beisei te. Gleißendes Sonnenlicht fiel in den Saal. Duncan Luther hörte, wie George Romano kurz aufkeuchte, als ihn die Helligkeit traf. Doch keiner sonst im Saal bemerkte es, weil jedermann instinktiv die Hände vor die Augen hob und das überall ertönende Rascheln des Stoffes das kurze Aufkeuchen überdeckte. Der Hohepriester sah irritiert drein, als das Sonnenlicht offenbar keinen Eindruck auf Duncan und Romano machte. Damit schien er nicht gerechnet haben. »Also, Hohepriester«, meldete sich Akhenati zu Wort. »Was habt Ihr uns damit zeigen wollen?« Der Hohepriester hatte sich schnell wieder im Griff. »Ich hatte damit gerechnet, daß bereits dieser Lichtschein genügen würde, um sie zu entlarven. Aber diese beiden sind stark. Dennoch wird sie diese Prüfung überführen. Warum weist Ihr Eure beiden Lebensretter nicht an, direkt in den Lichtschein zu treten?« »Warum sollte ich das tun?« Duncan warf Romano einen kurzen Seitenblick zu, und als dieser unmerklich nickte, meldete er sich zu Wort. »Schon gut«, sagte er. »Wenn es Eurem Hohepriester so wichtig ist, werden wir gerne tun, was er verlangt. Vielleicht wird ihn das überzeugen, daß er in uns etwas sieht, das wir gar nicht sind.« Die Sonne stand noch immer sehr hoch am Himmel, und so reichte der direkte Lichtschein nicht weit in den Raum hinein. Der Hohepriester sah erstaunt zu, wie sie auf eines der großen Fenster zugingen, und er wirkte gänzlich konsterniert, als sie schein
bar unbeeindruckt in den Lichtschein hineintraten. Duncan bemerkte, wie Romano mit sich zu kämpfen hatte, weil ihm das Sonnenlicht seine Kräfte raubte. Doch nach außen hin ließ er sich nichts anmerken. »So«, sagte Duncan zum Hohepriester, um Romano nicht länger der Belastung auszusetzen. »Haben wir Eure Zweifel jetzt endlich zerstreut und dürfen an unsere Plätze zurückkehren?« Sie wollten dorthin zurückgehen, doch der Hohepriester hatte noch immer nicht genug. Entschlossen stellte er sich ihnen in den Weg. »Halt!« rief er. »Selbst wenn Ihr auch diesen Test bestanden habt, so wird Euch etwas anderes doch überführen.« Er zog unter seinem Gewand einen hölzernen Krummstab hervor, den er wie ein Kreuz vor sich hielt. Mit feurigem Blick kam er auf sie zu. Duncan und Romano sahen eher erstaunt drein, als er mit dem Stab vor ihren Augen herumfuchtelte. Von Sekunde zu Sekunde schien er mehr und mehr seinen Glau ben zu verlieren. »Nein, nein, das ist nicht möglich«, stotterte er, um sich im nächs ten Augenblick wieder zu fangen. Er wandte sich an den Pharao und stieß wütend hervor: »Aber eines wird sie entlarven. Eines wird ihnen nicht möglich sein. Nie werden sie den Stab berühren können, ohne daß ihr Fleisch wie unter Feuer verbrennt.« Damit warf er ihnen seinen Stab zu. Duncan fing ihn geschickt auf, ließ ihn geschickt einmal um sein Handgelenk kreisen, ehe er innehielt und den Pharao fragend ansah. Dieser nickte wohlgefällig, als hätte er von Anfang an keinen Zweifel daran gehabt, daß sie diese Prüfung überstehen würden.
Duncan wandte sich dem Hohepriester zu und warf ihm seinen Stab wieder zurück. Der Hohepriester war so überrascht, daß er den Stab zu Boden fal len ließ, und als er sich danach bückte, stieß er mit einem seiner un tergebenen Priester zusammen, der herbeigestürzt war, um den Stab für ihn aufzuheben. Unwillig scheuchte er ihn beiseite. Mit zorngerötetem Gesicht kam er wieder hoch und setzte zu einer erneuten wortreichen Tirade an, doch der Pharao kam ihm zuvor. »Schluß jetzt! Unsere Gäste haben unter Beweis gestellt, daß es kei nen Grund gibt, ihnen zu mißtrauen. Sie haben meinem Sohn das Leben gerettet, und sie haben all Euren Prüfungen widerstanden. Also gesteht Eure Niederlage ein und schweigt! Daß sie keinen Schatten haben, beweist aber zugleich, daß sie zweifellos große ma gische Fähigkeiten besitzen. Ich wünsche mich eingehender mit ih nen zu unterhalten. Ihr …« Dabei nickte er dem Wesir, seinem Sohn sowie Duncan und Romano zu. »… folgt mir in meine privaten Ge mächer.« »Ich bestehe darauf, ebenfalls dabei zu sein«, rief der Hohepries ter. »Mit Euch allein zu sein ist genau das, was sie gewollt haben.« Der Pharao seufzte und hob die Schultern. »Also leistet uns Gesell schaft.« Die Dienerschaft, die den Pharao in den Saal geleitet hatte, brachte ihn auch wieder hinaus. Duncan, Romano und die anderen Benann ten schlossen sich an. Der Hohepriester schien seine Niederlage nicht verwinden zu kön nen. Immer wieder musterte er sie mit finsterem Blick. Die Dienerschar brachte den Pharao in seine Privatgemächer, und nachdem er sich auf einen Schemel gesetzt und sich seiner königli chen Insignien entledigt hatte, verließ sie wieder den Raum. Erst jetzt aus der Nähe war zu sehen, wie schlecht es um den Pha
rao stand. Und seine Gesundheit war auch das Thema, auf das er unumwunden zu sprechen kam. »Wenn es stimmt, daß Ihr über magische Kräfte verfügt, die den hiesigen Priestern unbekannt sind, so frage ich Euch, ob Ihr auch in der Heilkunst über besondere Kräfte verfügt.« Duncan wußte erst nicht, was er darauf erwidern sollte, als er plötzlich begriff, daß ihm mit George Romano der wohl kompe tenteste Begleiter zur Seite stand, der sich denken ließ. Schließlich war dieser der Chefarzt einer angesehenen Sydneyer Privatklinik gewesen. Vor seinem Tod. »Das werde ich erst nach einer eingehenden Untersuchung fest stellen können«, übernahm George Romano auch schon die Ant wort. »Und es hängt davon ab, ob es in Eurem Land diejenigen Mit tel gibt, aus denen sich eine wirksame Medizin zusammenstellen läßt.« Und so leise, daß nur Duncan Luther es hören konnte, fügte er hinzu: »Auf so was wie eine modern ausgestattete Apotheke kann ich hier ja wohl nicht hoffen.« Der Pharao nickte. »Jeder Arm, jedes Auge und jeder Verstand in diesem Land wird Euch helfen, das zu bekommen, was Ihr erbittet.« »Ich flehe Euch an, hört nicht auf sie!« mischte sich der Hohepries ter aufgeregt ein. »Begebt Euch nicht in solche Gefahr! Sie werden Euch umbringen!« Der Pharao schien eher gelangweilt. Die Aussicht, Hilfe für seine Leiden zu bekommen, war verlockender. »Eure Medizin, Hohepriester, hat mir in den letzten Jahren jeden falls kaum mehr zu helfen vermocht. Habt Ihr mir nicht vor wenigen Wochen noch versprochen, daß es mir bald besser gehen würde?« »Das wird es auch. Unsere Priester beten Tag für Tag für Euer Wohl. Aber Ihr dürft Euch nicht in die Hände dieser Teufel begeben. Es sind keine Menschen. Habt Ihr denn nicht gesehen, daß sie kei
nen Schatten tragen? Und sie sind unempfindlich gegen Gift!« »Unempfindlich gegen Gift?« wiederholte Akhenati aufhorchend. Er sah den Hohepriester durchdringend an. »Woher wißt Ihr denn davon?« Der Hohepriester hielt erschrocken inne. »Nun, äh, in den alten Schriften steht das geschrieben.« »Stand dort nicht auch, daß sie das Licht nicht ertragen oder den Ammon-Stab nicht zu berühren vermögen?« fragte Akhenati. Der Hohepriester preßte die Lippen aufeinander und schwieg. »Kann es nicht sein, daß Ihr von anderer Stelle davon wißt?« bohr te der Sohn des Pharaos weiter. Duncan Luther zog zum ersten Mal in Erwägung, daß auch Akhe nati bei ihrem gestrigen Kampf gesehen hatte, daß der Dolchstoß mit der vergifteten Klinge George Romano nicht zu töten vermocht hatte. »Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Hohepriester lauernd. »Nichts. Ich frage mich nur, ob es Zufall war, daß wir in den Ta schen der Attentäter Münzen gefunden haben, wie sie nur von der Priesterschaft geprägt werden.« »Unsinn. Ihr wißt, daß zahlreiche Münzen davon in Umlauf sind.« »Ja, nur waren es in diesem Fall ganz neue Münzen.« »Was wollt Ihr mir da unterstellen?« rief der Hohepriester unge halten. »Glaubt Ihr etwa, ich würde mich gegen die Götter versündi gen und …« »Ruhe! Ruhe!« rief der Pharao mit sich überschlagender Stimme. »Das alles interessiert mich nicht. Macht Eure Streitigkeiten unter euch aus.« Er sackte etwas in sich zusammen und seufzte traurig. »Ich fühle mich erschöpft und müde. Ich will meine Ruhe. Und ich will, daß es mir besser geht. Es ist beschlossene Sache. Dieser Mann
dort wird mich untersuchen. Heute abend. Vielleicht schafft er, was Ihr mir nicht zu geben vermocht habt.« Sein Blick schweifte in weite Fernen, und sein feistes Gesicht nahm fast kindliche Züge an. »Nur noch einmal in den Nilsümpfen auf Krokodiljagd gehen. So wie in alten Tagen.« Damit schloß er sehnsüchtig die Augen. Sein Kopf sank nach vor ne herab, und ein paar Sekunden später zeugte ein kräftiges Schnar chen davon, daß er eingeschlafen war.
* Als Duncan Luther am Abend abermals versuchte, das Gästequar tier zu verlassen, versperrten die Wachen ihm nicht mehr den Weg. Statt dessen traten zwei der vier Männer einen Schritt auf ihn zu und verneigten sich. »Wir werden Euch begleiten, Herr, wohin auch immer Ihr geht.« Duncan merkte, daß sich sein und Romanos Status geändert hatte. Ihr Auftritt heute mittag und das Versagen des Hohepriesters hatte dazu geführt, daß man sie jetzt sozusagen nicht mehr an der kurzen, sondern an der langen Leine hielt. Zwar konnten sie sich nun im Pa lastbereich frei bewegen, aber ihre Aufpasser hatten sie stets dabei. Da George Romano vor einer Viertelstunde von einer Dienerschar abgeholt und zur Untersuchung des Pharaos geführt worden war, beschloß Duncan, die Zeit zu nutzen, um eine andere dringende Fra ge zu klären. Erfreut erkannte er bei den Wachen einen der Männer wieder, die sie gestern hierhergeführt hatten. Das ersparte es ihm, selbst den Weg zu suchen. »Bringe mich zu der Halle, wo du uns gestern mit dem Sohn des
Pharaos gefunden hast«, wies er ihn an. Die beiden Männer führten ihn durch die labyrinthartigen Gänge und Korridore des Palastes, bis sie den Gang erreichten, in dem Duncan Luther und George Romano gestern aufgetaucht waren. »Das reicht«, sagte Duncan und blieb stehen, als sie den Durch gang zur Halle erreicht hatten. »Weiter braucht ihr mich nicht zu be gleiten. Laßt mich nun allein und wartet hinter der nächsten Bie gung auf mich.« Die Männer sahen ihn verwundert an. »Wir haben strikte Anweisung, Euch nicht allein zu lassen. Keine Sekunde lang. Wir sind für Euer Wohl mit unserem Leben verant wortlich.« Duncan breitete die Arme aus. »Was sollte mir hier schon passie ren? Hier ist niemand. Und außerdem ist dieser Korridor der einzige Zugang hierher. Ich kann mich also nicht entfernen. Es reicht voll kommen aus, wenn ihr ein Stück weiter auf mich wartet.« Die beiden Männer wußten noch immer nicht so recht, was sie tun sollten. »Ich bin hierher gekommen, um ein Gebet zu verrichten«, erklärte Duncan weiter. »Es ist meine Pflicht, um den Göttern für ihren Schutz auf unserer Reise zu danken, und das muß ich an dem Ort machen, an dem wir hier angekommen sind. Bei diesem Gebet muß ich jedoch allein sein, und es darf mir niemand zusehen, sonst wür de es die Götter erzürnen. Also, was ist jetzt? Oder muß ich erst zum Pharao gehen und ihn persönlich um die Erlaubnis bitten, meinen Göttern allein meinen Dank abzustatten?« Das endlich schien die Wachen zu überzeugen. Sie zogen sich hin ter die nächste Biegung zurück, nachdem er ihnen noch einmal ein geschärft hatte, unter keinen Umständen einen Blick in den Korridor zu werfen und jedermann aufzuhalten, der versuchen sollte, hierher
zu gelangen. Kaum waren sie aus seiner Blickweite verschwunden, sah Duncan sich suchend nach allen Seiten um und versuchte sich zu erinnern. Wo genau hatte er gestanden, als er gestern hier angekommen war? Er betrachtete die Amphoren, Statuen und großen Töpfe mit Grün pflanzen, die in den Nischen standen, und ging langsam hin und her. Aus welchem Blickwinkel hatte er sie nach seiner Ankunft gese hen? Irgendwann glaubte er die Stelle wiedergefunden zu haben, an der er hier erschienen war – und neben der einen Moment später auch Romano aufgetaucht war. Doch weder der Boden noch die Wände des Korridors sahen in ir gendeiner Weise ungewöhnlich aus. Duncan fing an, an seiner These von gestern zu zweifeln. Hier gab es nichts, was nach einem Durch gang aussah. Er begann die Wände des Korridors abzutasten. Zuerst erfühlten seine Hände nur kühlen polierten Stein. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten gewesen. Doch dann, als er über eine ganz bestimmte Stelle fuhr, drangen seine Hände plötzlich in den Stein ein, als wäre dieser gar nicht vor handen. Duncan hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre vorn über gefallen, als er plötzlich keinen Halt mehr fand. Im letzten Mo ment konnte er sich fangen. Mit klopfendem Herzen tastete er den gesamten Bereich ab, in dem die Mauer dieses merkwürdige Verhalten zeigte, und entdeck te, daß das ungefähr auf einer Fläche von zwei mal zwei Metern der Fall war. Zu den Rändern hin wurde der Widerstand stärker, und es
fühlte sich an, als fasse man in zähen Sirup hinein. In der Mitte hin gegen verspürte er so gut wie gar nichts. Der gemauerte Stein ließ sich durchdringen wie Luft. Duncan Luther verharrte kurz und blickte zur Korridorwandung, hinter der die Wachen standen. Er glaubte nicht, daß sie gegen seine Anweisung verstoßen und sich hierher wagen würden, ehe er wie der bei ihnen auftauchte oder sie zu sich rief. Damit stand seine Entscheidung fest. Entschlossen trat er auf die gemauerte Wand zu – und in sie hin ein. Im nächsten Augenblick fand er sich von undurchdringlicher Schwärze eingehüllt – derselben Schwärze, die sie auch schon auf dem Hinweg umgeben hatte. Er folgte seinem Instinkt und ging einfach weiter nach vorne. Ir gendwann nahm die undurchdringliche Dunkelheit rings um ihn herum ab, und dann trat er aus dem Seitengang wieder in den dunklen Hauptkorridor zurück, der das Bauwerk in Uruk durchzog. Alles war noch genau so, wie es ausgesehen hatte, als sie in den Seitengang eingedrungen waren. Als Duncan an sich herabsah, entdeckte er, daß er mit einem Male keinen Fetzen Stoff mehr am Körper trug. Auch die Sandalen, die er gestellt bekommen hatte, waren von seinen Füßen verschwunden. Das einzige, was er noch am Körper hatte, war die goldene Kette mit einem kleinen Kreuz, die er um den Hals trug. Doch die hatte er im Gegensatz zu allem anderen auch schon getragen, als er in die Vergangenheit gekommen war. Er begriff, daß es offenbar einen Mechanismus gab, der bewirkte, daß man nichts mit sich zurück in dieses Bauwerk nehmen konnte. In die andere Richtung hingegen schien es keine Beschränkungen zu geben. Sonst hätten sie bei ihrer Ankunft in Ägypten ebenfalls
nackt sein müssen. Eigentlich hatte Duncan sich vorgenommen, gleich wieder in den Seitengang hineinzugehen und in die Vergangenheit zurückzukeh ren. Er hatte einzig und allein ausprobieren wollen, ob es diese Mög lichkeit der Rückkehr für sie gab. Doch seine Nacktheit und ein Gedanke, der ihm plötzlich in den Kopf kam, ließen ihn seine Absicht ändern. Er nahm die Kette und legte sie vor den Seitengang, aus dem er getreten war. Auf diese Weise konnte er ihn später wiederfinden. Eine andere Möglichkeit, ihn zu markieren, hatte er nicht. Dann machte er sich auf den Weg zurück zum Ausgang. Es waren etliche Kilometer, und obwohl er zügig ausschritt, benö tigte er fast drei Stunden für die Strecke, aber er legte sie in dem Be wußtsein zurück, etwas Wichtiges und Notwendiges zu tun. Als er das Bauwerk verließ und in das Camp trat, hielt er über rascht inne. Es sah aus, als hätte es im Laufe der letzten vierund zwanzig Stunden einen heftigen Sandsturm gegeben. Das Zelt, in dem sie die Ruhestunden verbracht hatten, das Materialdepot und der Jeep waren halb unter Sanddünen verborgen. Wenn er es nicht besser gewußt hätte, hätte er den Eindruck ge habt, als wären Wochen vergangen, seitdem er das letzte Mal hier gewesen war. Duncan holte aus dem Zelt eine zweite Garnitur Kleidung, die er anlegte, bevor er zum Jeep ging und im Laderaum nach etwas Be stimmten Ausschau hielt. Dann hatte er es entdeckt, nahm es an sich und kehrte in den dunklen Korridor zurück. Ohne die hinterlegte Kette hätte er es bestimmt nie geschafft, den richtigen Seitengang wiederzufinden. Einer sah wie der andere aus, und auf dem Weg dorthin passierte Duncan einige hundert.
Duncan legte die Kette wieder an und betrat dann entschlossen den Seitengang. Die undurchdringliche Dunkelheit machte ihm diesmal weitaus weniger zu schaffen. Ein paar Augenblicke später war er wieder zurück in dem Korri dor im Königspalast des Pharaos. Er bereitete sich darauf vor, den Wachen eine logische Erklärung für sein langes Verweilen aufzuti schen – schließlich war er über sechs Stunden fort gewesen. Aber zu seinem Erstaunen sprachen ihn die Männer nicht darauf an. Sie standen da, als hätte er sie eben erst verlassen. Dafür staunten sie nicht schlecht über die gänzlich andere Klei dung und das kleine Köfferchen in seinen Händen. Doch auch hier unterließen sie jede Nachfrage. Duncan ließ sich von ihnen zurück in das Gästequartier bringen, wo George Romano, der die Untersuchung des Pharaos beendet hat te, bereits auf ihn wartete. »Da bist du ja endlich!« stieß er hervor und riß überrascht die Au gen auf. »Woher hast du diese Kleidung?« »Du wirst es kaum glauben.« Duncan mußte sich Mühe geben, nicht übers ganze Gesicht zu strahlen. »Aber ich habe den Rückweg gefunden.« Er erzählte, was er entdeckt hatte. »Dann laß uns von hier verschwinden. Laß uns meinetwegen vor her noch soviel wie möglich von dem einstecken, was hier an Kost barkeiten herumsteht. Das wird uns in unserer Zeit zu reichen Män nern machen.« »Nein, das wird es leider nicht. Es ist leider nicht möglich, etwas von hier aus in den Korridor mit zurückzunehmen. Was glaubst du, warum ich mich umgezogen habe? Die Kleidung von hier, die ich bei der Rückkehr anhatte, war urplötzlich verschwunden.« Romano machte ein enttäuschtes Gesicht. »Trotzdem«, beharrte er. »Wir sollten nicht länger hier bleiben,
sondern schleunigst zurückkehren. Je eher, desto besser.« »Der Meinung bin ich nicht. Ganz und gar nicht. Findest du es denn überhaupt nicht interessant, all dies hier mit eigenen Augen zu sehen? Es ist eine Chance, nach der sich jeder Archäologe oder Al tertumsforscher die Finger ablecken würde.« »Meinetwegen. Aber ich bin keines von beidem. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich noch ein Mensch bin.« Duncan ließ sich nicht beirren. »Außerdem bin ich noch immer überzeugt davon, daß unsere Anwesenheit hier eine bestimmte Be deutung haben muß.« »Vielleicht die, daß wir beide demnächst unsere Köpfe verlieren. Der Pharao ist nämlich sehr krank. Und ich bin kein Naturheilkund ler. Ohne ein Minimum an moderner Medizin werde ich ihm kaum helfen können. Und ich glaube nicht, daß es ihn freuen wird, das zu hören.« Duncan lächelte geheimnisvoll und zog das kleine Köfferchen her vor, das er aus dem Camp geholt und bislang hinter seinem Rücken verborgen hatte. »Dagegen kann etwas getan werden«, sagte er. »Schließlich kön nen Gegenstände aus unserer Gegenwart durchaus in diese Zeit mit genommen werden.« George Romano nahm das kleine Medizinköfferchen entgegen und öffnete es. »Antibiotika, Breitbandseren, Betäubungsmittel«, murmelte er, während er den Inhalt überflog. Dann blickte er auf und grinste. »Ich glaube, du hast mich gerade überredet, doch noch etwas länger hierzubleiben.«
*
Akhenati war beinahe erleichtert, als die geheimnisvolle schwarz haarige Frau am nächsten Abend wieder bei ihm auftauchte. Er hatte sie insgeheim sogar herbeigesehnt. Den gesamten Tag über hatte er ihr Abbild vor seinem geistigen Auge gesehen, und der verführerische Klang ihrer Stimme war durch seine Gedanken ge hallt. Er hatte einen Schemel auf den Balkon hinausgestellt und draußen Platz genommen – in der Hoffnung, er würde beobachten können, auf welch mysteriöse Weise es diese Frau schaffte, so lautlos zu er scheinen. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Er wartete fast zwei volle Stunden, und je mehr Zeit verstrich, de sto mehr ließ seine Aufmerksamkeit nach und desto tiefer versank er in seinen Gedanken. »Ich sehe, du hast auf mich gewartet«, riß ihn ihre Stimme irgend wann unvermittelt aus seinen Gedanken. Er sprang überrascht hoch. Wie aus dem Nichts aufgetaucht stand sie vor ihm, mitten auf dem Balkon, keine fünf Meter entfernt. Auch heute trug sie ein schwarzes Kleid, jedoch nicht dasselbe von gestern, sondern eines, das vorne von einem Band in der Hüfte zusammengehalten wurde. Obwohl es bei weitem schlichter aussah als das, in dem er sie gestern gesehen hatte, betonte es jeden Zug ihres grazilen Körpers. Wahrscheinlich hätte sie sogar das zerlumpte Gewand einer Bett lerin tragen können, ohne dadurch eine Spur ihrer Schönheit und Anmut zu verlieren. Sie stand mitten in dem erleuchteten Streifen, den das Licht aus dem Innenraum auf die polierten Bodenplatten des Balkons warf, und der Sohn des Pharaos hielt unwillkürlich den Atem an, als ihm
erstmals noch etwas anderes an ihr auffiel. Auch sie warf keinen Schatten – genau wie die beiden Fremden, die ihm gestern das Leben gerettet hatten. Ein gutes Omen? Ob sie womöglich sogar aus dem gleichen Land stammte wie die beiden Fremden? Und wenn ja, war auch sie eine Magierin? Sie mußte es sein – wie sonst könnte sie so unvermittelt aus dem Nichts auftauchen? »Äh, ja«, brachte er mühsam als Antwort auf ihre Frage heraus. Sie lächelte ihn auf ihre unergründliche Art an. »Und du siehst, ich habe dich nicht enttäuscht.« Er hatte so unendlich viele Fragen im Kopf gehabt, die er ihr hatte stellen wollen, sobald sie wieder auftauchte, aber jetzt, da sie ihm gegenüberstand, war seine Zunge wie gelähmt, und er konnte nichts anderes tun, als sie einfach nur anzublicken. Eines aber wollte er, wenn ihm schon die Stimme versagte, auf je den Fall tun. Er wollte sie berühren und fühlen, daß dieses bezauberndste Ge schöpf, das er je gesehen hatte, nicht nur ein Trugbild war. Er machte einen Schritt auf sie zu. Diesmal war sie es, die abwehrend die Hand hob und leichtfüßig einen Schritt zurücktrat. Doch es lag keinerlei Angst vor ihm in ihrer Bewegung. »Nicht«, sagte sie. Es klang wie eine Bitte und Warnung zugleich. Er hielt inne, aus Angst, er könne sie verscheuchen wie einen scheuen Vogel. Sie dankte es ihm mit einem zufriedenen Lächeln. Er fragte sich, ob sie es genoß, daß ihr der älteste Sohn des Pharaos gehorchte wie ein dressiertes Haustier.
»Wer bist du?« fragte er. »Was willst du von mir?« Sie wirkte beinahe enttäuscht. »Das habe ich dir doch schon ge sagt«, antwortete sie sanft. »Erinnerst du dich denn nicht mehr? Ich will dich!« »Aber wie …? Ich verstehe nicht, was du …« »Und ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu machen«, sprach sie weiter, ohne sich von seinem Gestotter im geringsten stören zu lassen. »Es ist ein Angebot, das eines kommenden Herrschers wahr haft angemessen ist. Ein Angebot, wie es dir sonst niemand auf der Welt zu unterbreiten vermag, keine Menschen, keine Priester und keine Götter. Und wenn du es annimmst, werden sich deine kühns ten Träume erfüllen.« Ihre Worte klangen ebenso geheimnisvoll wie ihre Stimme. »Was weißt du von meinen Träumen?« fragte er schnell. Sie lachte und warf ihren Kopf auf dieselbe spöttische Art und Weise zurück, wie er es bereits gestern bei ihr gesehen hatte. »Hast du denn nicht schon immer davon geträumt, Unsterblich keit zu erlangen? Und ich spreche von echter Unsterblichkeit und nicht nur von der Erinnerung an von dir vollbrachte Taten! Hast du nicht davon geträumt, wie ein Vogel durch die Nacht zu fliegen und alles dennoch klar wie bei hellem Tageslicht zu sehen? Oder davon, Macht zu haben? Macht, wie kein Mensch sie haben kann!« Ihre dunklen Augen funkelten geheimnisvoll. »Und ich bin die Frau, die dir all diese Träume erfüllt!« »Woher weißt du soviel über mich? Bist du eine Botin der Götter?« Sie lachte laut und auf eine jugendliche, unbeschwerte Art, als hät te er einen guten Witz gemacht. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, bekannte er hilflos. »Sag mir, was das alles zu bedeuten hat!«
»Nein!« beschied sie mit einer Entschlossenheit, die in krassem Ge gensatz zu ihrer gerade noch an den Tag gelegten Unbeschwertheit stand. »Nicht jetzt. Nicht heute und nicht hier, an diesem Ort.« »Wo dann? Und wann?« »Ich weiß, daß es einen Platz gibt, an dem du dich regelmäßig mit den Anhängern des Aton-Kultes triffst. Draußen in den Sümpfen entlang des Nils, ein Stück südlich von Theben. Dort gibt es eine kleine Holzhütte mit einem Versammlungsplatz davor.« »Woher weißt du davon?« »Das ist unwichtig. Wichtig ist nur, daß ich es weiß. Komm in drei Tagen kurz vor Mitternacht dorthin. Dort wirst du die Antworten auf all deine Fragen erhalten.« Sie sah ihm bei diesen Worten geradewegs in die Augen, und ir gend etwas in ihrem Blick schien sich dabei zu verändern. Es war nun nicht länger nur der verführerisch-bestimmte Blick ei ner bezaubernden jungen Frau, sondern plötzlich schien eine nicht in Worte zu kleidende, unwiderstehliche Macht von ihren Augen auszugehen. Eine Macht, die ihn einhüllte und an Ort und Stelle bannte. »Und du wirst mich bekommen!« fügte sie verheißungsvoll hinzu. Es klang wie ein Versprechen. Er merkte, daß er plötzlich nicht mehr imstande war, sich von der Stelle zu rühren. Es war, als hätte ihr Blick ihn in eine steinerne Sta tue verwandelt. Und er hatte den Eindruck, als würde sie das nicht nur wissen, sondern es sogar genießen, eine solche Macht über ihn zu haben. Ihr Blick glitt von ihm ab, ohne daß er dadurch die Gewalt über seinen Körper zurückerhalten hätte. Ihre Hände wanderten an ih rem Körper herab und lösten wie spielerisch das Band, das ihr Kleid
auf der Vorderseite geschlossen hielt. Der Stoff klaffte nicht gleich auseinander, sondern blieb aufeinan der liegen. Sie hob ihre rechte Hand zum Hals, ließ die Finger unter den Stoff gleiten und bewegte sie dann langsam nach unten, wobei die beiden Hälften des Kleides auseinanderglitt. Allerdings nur eine Handbreit weit. Es reichte aus, um den Ansatz ihrer kleinen zierlichen Brüste bloß zulegen, die vollendet zu ihrer gertenschlanken Gestalt paßten, aber es reichte nicht aus, um ihre Brustwarzen zu enthüllen. Ihre Hand glitt bedächtig weiter nach unten, bis das Kleid der ge samten Länge nach offenstand. Dann breitete sie die Arme leicht zur Seite hin aus. Die Bewegung offenbarte, daß sie unter dem Gewand vollkommen nackt war. Wie hypnotisiert starrte Akhenati auf das dunkle Dreieck ihrer Scham, das sich seinen Blicken darbot. Wie selbstverliebt und in ihre eigenen Gedanken versunken legte sie den Kopf in den Nacken und bewegte sich mit leicht pendelnden Armen hin und her, wie ein Schilfrohr im Wind. Es war, als tanze sie zu einer unhörbaren Melodie, und die Bewegung ließ die Hälften ih res Kleides noch ein Stück mehr auseinanderklaffen. Als wolle sie ihm damit einen Vorgeschmack auf das geben, was ihn in drei Ta gen erwartete. Ein paar Sekunden lang zeigte sie sich ihm so, dann schien sie aus ihrem Traum zu erwachen. Mit einer beinahe abrupt anmutenden Bewegung schloß sie das Kleid wieder, ehe sie ihren Blick wieder hob und ihn anblickte. Dabei lag fast so etwas wie ein Zug von Bedauern auf ihrem edlen Antlitz. »Nun muß ich dich wieder verlassen«, sagte sie. Die Worte klan
gen endgültig. »Nein!« kam es wie von selbst über seine Lippen. Seine Stimme zitterte vor Erregung und vor Furcht, sie könnte jetzt tatsächlich so einfach gehen. Er versuchte, auf sie zuzueilen, um sie zu halten, doch seine Füße wollten sich nicht vom Boden lösen. »Geh nicht! Nicht bevor …« Sie war bereits im Begriff gewesen, in der Dunkelheit zu ver schwinden, als sie noch einmal innehielt und ihn ansah, halb interes siert, halb unentschlossen. Er freute sich, daß er sie trotz ihres überlegenen, kühlen Auftre tens dazu brachte, seiner Bitte zu entsprechen. »Ja, bleib«, sagte er aufatmend. »Ich will … ich will, daß du …« Er vermochte nicht weiterzusprechen. Wie konnte er in Worte fas sen, was er wollte? Sie nahm es ihm ab. »Du willst wissen, ob ich Wirklichkeit bin, nicht wahr?« fragte sie lockend, und es hatte den Anschein, als fühle sie sich geschmeichelt. »Du willst einen Beweis haben, daß es mich wirklich gibt?« Er wollte nicken, doch nicht einmal eine solch kleine Bewegung war ihm vergönnt. »Nun gut, du sollst ihn bekommen.« Sie kam mit grazilen Bewegungen auf ihn zu, wobei ihr Blick nicht von seinem Antlitz wich. Sie brachte ihren Kopf ganz dicht an den seinen heran, bis sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, mußte sie sich auf die Zehenspitzen stellen, doch es bereitete ihr keinerlei Mühe, dabei perfekt das Gleichgewicht zu halten. Kein noch so kleines Zittern, nicht die geringste Unsicherheit ließ sie schwanken.
Er roch den süßlichen Duft ihrer Haut, und er hätte vor Freude schier aufschreien können, als er ihren Atem wie einen sanften Hauch auf seinem Gesicht spürte. Er sehnte sich danach, die Arme um sie zu legen, sie ganz fest an sich zu ziehen und seine Lippen auf die ihren zu pressen. Doch es war ihm nicht vergönnt. Dann endlich löste sie den Blick von seinem. Sie beugte ihren Kopf zur Seite, tauchte herab zu seinem Hals, und er hatte den Eindruck, als würde sich dabei ihr Atem beschleunigen, als würde sie erstmals ihre kühle Selbstbeherrschung verlieren. Er hatte plötzlich das Gefühl, bedroht zu sein, als sie ihren Mund an seine Haut heranbewegte und sich so etwas wie ein animalisches Keuchen aus ihrer Kehle löste. Doch dann, einen Augenblick später, drückte sie ihm lediglich einen Kuß auf die Wange. Ein Kuß, der ebenso leidenschaftlich wie – ja, das war das richtige Wort – unschuldig war. »Ich hoffe, das ist dir Beweis genug«, hauchte sie, während sie endgültig aus seinem Blickfeld verschwand. »Warte!« rief er. »Bitte geh nicht!« Er bekam keine Antwort. »Dann nenn mir wenigstens deinen Namen!« rief er hinterher, ohne große Hoffnung, daß sie ihm überhaupt noch antworten wür de. »Das werde ich«, versprach sie von irgendwo hinter ihm. »In drei Tagen.« Dann hörte er wieder ein Flattern, das sich schnell entfernte, und auf alle weiteren Fragen, die er in die Nacht hinausrief, blieb ihm die Antwort verwehrt.
Es dauerte einige Minuten, ehe er sich wieder zu bewegen ver mochte, und als er tapsig und noch immer wie benommen die ersten Schritte tat, verspürte er im gesamten Körper ein Gefühl, als würden Millionen und Abermillionen Ameisen unter der Haut entlangkrie chen. Auch diesmal war die junge Frau spurlos verschwunden. Aber etwas war anders. Auf seiner Wange verspürte er im sanften Abendwind ganz deut lich die Feuchtigkeit, die ihre Lippen dort hinterlassen hatten. Gedankenversunken strich er sich mit den Fingern über diese Stel le. O ja, in drei Tagen würde er ganz sicher an dem bezeichneten Ort sein.
* »Dieser Idiot!« schimpfte George Romano, als er drei Tage später in ihr Gästequartier zurückkam, wo Duncan schon auf ihn wartete. »Dieser verdammte Kindskopf! Dieser Blödmann! Ich habe in mei ner Praxis als Prominentenarzt ja schon viele Einfaltspinsel behan delt, aber dieser übertrifft wirklich alle.« »Von wem sprichst du?« fragte Duncan Luther. Romano stemmte die Arme in die Hüften und sah Duncan empört an. »Rat mal!« Duncan hob die Augenbrauen. »Du meinst …?« »Genau der. Kaum geht es ihm ein bißchen besser, wird er auch schon übermütig. Kaum kann er wieder auf eigenen Beinen stehen und halbwegs frei durchatmen, schon hält er sich für Superman.«
»Das heißt, deine Behandlung hat angeschlagen?« »Anscheinend hat sie das zu gut. Stell dir vor, was dieser Idiot jetzt angeordnet hat! Eine Krokodiljagd! Und zwar schon für morgen. Wir beide sind als Ehrengäste dazu eingeladen. Wir sollen auf dem Boot mitfahren, das die königliche Barke begleitet.« »Was hast du gegen eine romantische Jagd?« scherzte Duncan Lu ther. Seitdem er wußte, daß sie jederzeit in ihre Gegenwart zurück kehren konnten, nahm er alles etwas leichter. »Ich habe einfach nur Angst, daß dieser Idiot sich überschätzt. So kränklich, wie der Pharao ist, wird er schon beim bloßen Anblick ei nes Krokodils einen Herzinfarkt erleiden.« »Ist das wirklich so? Oder hast du nur selbst Angst vor diesen Vie chern?«
* »Eine Krokodiljagd?« wiederholte der Hohepriester ungläubig, als sein Vertrauter Yaschir ihm die Nachricht überbrachte. »Der Pharao hat für morgen eine Krokodiljagd angeordnet? Wie ist es möglich, daß es ihm so schnell so gut geht?« »Die Medizin der beiden fremden Magier scheint sehr wirksam zu sein.« Der Hohepriester schlug wütend mit der Faust auf den Tisch, vor dem er saß. »Das ist nicht möglich. Diese beiden Teufel können über keine wirksamere Magie verfügen als wir.« Er verfiel in trübsinniges Schweigen und brütete eine Zeitlang dumpf vor sich hin. »Wir müs sen unbedingt dafür sorgen, daß diese beiden Fremden schnellst möglich aus der Umgebung des Pharaos verschwinden. Am besten,
sie würden ganz vom Antlitz der Erde verschwinden.« »Wie wollt Ihr das erreichen? Der Pharao hält große Stücke auf sie und hütet sie wie seinen eigenen Augapfel.« »Es wird sich eine Gelegenheit ergeben«, bestimmte der Hohe priester. »Morgen bei der Jagd. Hast du vorhin nicht gesagt, daß die beiden zusammen mit dem Sohn des Pharaos auf dem Begleitboot der königlichen Barke unterwegs sein werden?« »Ja, ganz recht.« »Dann werden wir einen Weg finden, uns ihrer zu entledigen. Vielleicht sogar zusammen mit dem Sohn des Pharaos. Das wird je dermann lehren, daß es unklug ist, sich gegen die Götter zu stellen. Und gegen die Priesterschaft, die deren Stellvertreter auf Erden sind.«
* Akhenati ließ sich von einem Fährmann, um dessen Verschwiegen heit er wußte, kurz vor Mitternacht nilaufwärts zu dem Ort bringen, den die geheimnisvolle junge Frau ihm benannt hatte. Er wußte, daß er sich auf den Mann verlassen konnte. Er brachte ihn schon seit Jah ren zu den Treffen der Aton-Anhängerschaft hier draußen, und er würde sicherlich nichts unternehmen, um sich seine gute Einnahme quelle zunichtezumachen. Zumal er eine große Familie zu versorgen hatte. Akhenati drückte ihm einen kleinen Beutel mit Silbermünzen – für hiesige Verhältnisse ein kleines Vermögen – in die Hand, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Fährmann hatte das Boot längsseits eines kleinen, inmitten des Schilfes verborgenen Steges gebracht, der vom Nil aus nicht einzusehen und von einem Uneingeweihten
kaum zu finden war. »Du wartest hier auf mich«, schärfte er dem Mann ein. »Was im mer auch geschehen mag, du bleibst im Boot, bis ich hierher zurück kehre. Auf keinen Fall betrittst du das Land.« Der Mann verbeugte sich tief. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Herr!« Akhenati verließ das Boot und ging über einen kleinen, gewunde nen Pfad durch den Schilfgürtel zu der kleinen Hütte, bei der alle vier Wochen Versammlungen der hiesigen Aton-Anhängerschaft stattfanden. Dann hielten sich hier weit über hundert Personen auf, und heller Fackelschein erleuchtete die Lichtung vor der Hütte. Heute jedoch lag der Platz einsam und verlassen da, und einzig und allein das Sternen- und Mondlicht spendete etwas Helligkeit. Doch die Augen Akhenatis hatten sich längst genügend an die Dunkelheit gewöhnt, um sich ausreichend zu orientieren. Er sah sich suchend um, ohne irgendwo eine Spur der jungen Frau entdecken zu können. Anscheinend war es noch nicht an der Zeit, daß sie sich ihm zeigte. Er hatte einige Minuten gewartet, als er irgendwo in der Nähe wieder jenes Flattern hörte, das bislang jeden ihrer Auftritte beglei tet hatte. Er drehte sich im Kreis. »Bist du hier irgendwo?« rief er. »Wenn ja, dann laß mich nicht länger warten. Zeige dich!« Die einzige Antwort war ein Rascheln irgendwo in den Büschen hinter ihm. Akhenati fuhr herum. Wieder war nichts zu sehen. Dafür hatte er das Gefühl, als würde von irgendwoher ein leises Lachen zu ihm heranwehen. Ein spöttisches Lachen, wie es gut zu
der jungen Frau passen würde. Gleich darauf erklang es abermals, und zwar direkt hinter ihm. Als er sich umwandte, sah er sie auf der anderen Seite der kleinen Lichtung stehen. Sie trug dasselbe Kleid wie vor drei Tagen. »Hier bin ich«, sagte sie schlicht. »Das sehe ich.« »Und? Gefällt dir, was du siehst?« Ohne seine Antwort abzuwarten, öffnete sie das Hüftband ihres Kleides, und einen Moment später floß der Stoff wie von selbst von ihren Schultern herab und blieb zu ihren Füßen am Boden liegen. Er schluckte. Das Mondlicht ließ ihren nackten Körper in einem seltsam unwirklichen Licht leuchten. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. »Du … du bist wunderschön«, sagte er. »Ich weiß«, sagte sie, als handle es sich um das Selbstverständ lichste der Welt. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, als wolle sie zu ihm eilen, doch als er ihr entgegenging, wandte sie sich um und verschwand mit spiele rischen Sätzen zwischen den Schilfrohren am Rand der Lichtung. Er lief zu der Stelle, wo sie in das Dickicht hineingetaucht war. »Warum läufst du vor mir weg?« rief er. »Das verstehst du falsch. Ich fliehe nicht vor dir.« Er wirbelte herum, als die Antwort von irgendwo hinter ihm kam. Dabei hatte er die junge Frau immer noch vor sich vermutet. Auf der anderen Seite der Lichtung konnte er gerade noch jeman den schattenhaft durch die Dunkelheit huschen sehen. »Du hast gesagt, du würdest mir deinen Namen verraten.« »Nofretete!«
Er bewegte den Kopf hin und her. War ihre Antwort diesmal von rechts oder links gekommen? Zu beiden Seiten erstreckte sich nichts als Dunkelheit. Was bezweckte sie mit diesem Spiel? »Warum kommst du nicht zu mir?« Er fühlte eine Berührung an der Schulter, und als er sich umwand te, sah er sie dicht hinter sich stehen. »Ich bin dir doch längst nahe«, hauchte sie. »Ich bin dir viel näher, als du denkst.« Er nahm sie schnell, fast hastig in seine Arme, so als hätte er Angst, sie könne erneut vor ihm fliehen. Doch diesmal ergab sie sich seinen Händen, und als er ihren Kör per ganz dicht an seinem verspürte, war der Augenblick gekommen, von dem an jedes weitere Wort überflüssig war. Sie ließen sich zu Boden sinken, und sie löste die Bänder, die sein Gewand hielten, so geschickt, daß er es erst merkte, als er ebenso nackt wie sie war. Ihre Haut fühlte sich trotz ihrer samtenen Weichheit etwas kühl an, aber er verlor keinen weiteren Gedanken darüber. Eng umschlugen, mit leidenschaftlich aufeinandergepreßten Mün dern rollten sie über den Boden. Irgendwann wurde er sich bewußt, daß er in ihr war, ohne daß er zu sagen vermochte, wann es dazu gekommen war. Unter ihm liegend, beugte sie ihm den Oberkörper entgegen. Ihre Brustwarzen hatten sich verhärtet und berührten seine eigene Brust bei jedem Stoß seiner Lenden. Sie umklammerte seinen Rücken mit ihren Beinen und bewegte sich mal mit, mal entgegen seinem Rhyth mus. War sie dabei zuerst nur verführerisch und anschmiegsam, so
wurden ihre Bewegungen mit der Zeit immer fordernder, und ein wilder Wesenszug, den er in ihrer grazilen, zierlichen Gestalt nicht vermutet hätte, brach mehr und mehr in ihr durch. Sie umschlang seinen Nacken mit ihren Händen und zog seinen Kopf zu sich herab. Keuchend fletschte sie die spitzen Eckzähne, ohne daß er es sehen konnte, da ihre Wangen sich Seite an Seite be fanden. Alles in ihr schrie danach, diesem Mann die Zähne in den Hals zu schlagen und sein warmes Blut zu trinken, doch sie wußte, daß sie sich beherrschen mußte. Es hätte alles zunichte gemacht. Mit übermenschlicher Kraft hielt sie an sich. Doch noch etwas anderes hielt sie davon ab, ihrem Blutrausch nachzugeben – etwas, das sie schon in dem Moment gespürt hatte, da sie ihm in seinem Gemach zum erstenmal gegenübergetreten war. Es war das Wissen, daß sie in ihm nicht nur ein Opfer sah. Sie wußte, daß er ihr weit mehr zu geben vermochte als nur diese eine Nacht der Leidenschaft. Nein, er war der Mann, den sie zum Gefährten haben wollte. Irgendwann, als auch ihre Schreie den Höhepunkt erreichten, er goß er sich in sie. Ein warmes, beglückendes Gefühl, mit keinem an deren vergleichbar, durchflutete seinen Körper und ebbte lange nicht wieder ab. Es dauerte noch Minuten, bis sein Glied erschlaffte und aus ihrem Schoß glitt. Erschöpft kamen sie zur Ruhe. Lange Minuten des Schweigens vergingen. »Du hast gesagt, du würdest mir ein Angebot machen«, brach er es schließlich. »Ein Angebot, das alle meine Träume verwirklicht.« »Ja. Aber du wirst es nicht ohne Gegenleistung bekommen. Du wirst einen Preis dafür zu bezahlen haben.«
»Sag mir, was das für ein Angebot ist.« Sie erzählte, was man ihm zu bieten hatte. Aus dem Mund jedes anderen Menschen hätte es wie eine wahnwitzige Ausgeburt eines kranken Hirnes geklungen, aber ihr glaubte er jedes einzelne Wort. »Was ist der Preis, den ich dafür zu bezahlen habe?« fragte er, nachdem sie geendet hatte. Sie lächelte ihr unergründliches, herausforderndes Lächeln und sah ihm tief in die Augen. »Der Preis bin ich.« Er sah sie überrascht an. »Ja, du hast richtig gehört«, sagte sie. »Mache mich zu deiner Kö nigin, und du wirst alles bekommen, was ich dir versprochen habe.« Lange Zeit herrschte Schweigen, und Akhenati war froh, daß No fretete ihn nicht weiter drängte oder zu beeinflussen versuchte, son dern einfach nur in seinen Armen lag und ihn seinen Gedanken überließ. Diesmal war er es, der die Initiative ergriff, sich erhob und sie ebenfalls auf die Beine zog. »Es gibt keinen Preis, der mir lieber wäre«, sagte er feierlich. »Gib mir, was du mir versprochen hast, und ich werde ihn bezahlen.«
* Die Krokodiljagd, die der Pharao angeordnet hatte, geriet zu einer Staatsaktion. Ein halbes Dutzend königliche Barken waren daran be teiligt, und zwei weitere gehörten der Priesterschaft. Auf einer da von befand sich auch der Hohepriester, an seiner prächtigen Robe, die er trotz der mittäglichen Gluthitze nicht abgelegt hatte, gut zu erkennen.
Das größte Schiff war natürlich das, auf dem der Pharao mitfuhr. Er saß etwas erhöht auf einem thronähnlichen Sessel, der auf einem Podest am Heck des Bootes montiert war. Von dort aus hatte er den besten Überblick. Des weiteren begleiteten noch etliche Dutzend anderer Boote den Troß, jedoch in einigem Abstand. Auf ihnen befanden sich wohlha bendere Bewohner der Stadt oder Fischer, die ihre Arbeit heute hat ten ruhen lassen, um diesem Spektakel als Zuschauer beizuwohnen. Diese Boote blieben auch dann noch in respektvoller Entfernung, als man ungefähr eine Stunde später das Zielgebiet erreichte. Der Schilfgürtel wich hier zu beiden Ufern einem breiten Sand streifen, auf dem zahllose Krokodile in der Mittagssonne schlum merten. Es waren mehr, als Duncan auf Anhieb zu überschauen ver mochte. Der Boden an den Ufern war niedergetrampelt und wies zahlrei che Hufspuren auf. Das zeugte davon, daß der Nil an dieser Stelle von zahlreichen Tieren als Tränke genutzt wurde. Doch das war vor allem in den Morgen- und Abendstunden der Fall. Nachdem die Boote ihre Position erreicht hatten, wurden aus ei nem Boot aus blutige Fleischbrocken und ganze Tierhälften ins Was ser geworfen, um die Krokodile ins Wasser zu locken. Doch nur ein kleiner Teil von ihnen folgte der Einladung und schlüpfte mit schnellen Bewegungen in den Nil. Die meisten verharrten auch wei terhin am Ufer und hatten anscheinend beschlossen, sich die ganze Sache erst einmal aus der Ferne anzusehen. Bald entbrannte in der Mitte des Stromes ein wilder Kampf um die Beutestücke. Langsam steuerte der Führer des Bootes mit Duncan und Romano sie an den Ort heran. Am Bug machten sich Akhenati und die anderen Krokodiljäger, die die eigentliche Jagd ausführten, bereit und nahmen lange Lanzen in die Hände.
Als Königssohn gebührte Akhenati der erste Stoß. Er ließ sich lan ge Zeit, ehe er sich ein besonders großes Tier herausgesucht hatte. Sein Stoß, der die Lanzenspitze in den geschuppten Rücken trieb, ließ das Tier wie wild herumschnellen und versuchen, sich von der Lanze zu befreien. Doch Akhenati ließ das nicht zu. Im Gegenteil. Im richtigen Mo ment stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Lanze, um sie noch tiefer in das Tier zu bohren. Duncan Luther war so fasziniert von dem Spektakel, daß er die Gefahr, die von hinten kam, zu spät bemerkte. Eine Barke der Priesterschaft hatte Kurs auf ihr Boot genommen und kam im rechten Winkel auf sie zu. »Vorsicht!« schrie Duncan ihrem Bootsführer zu, der die Gefahr nun ebenfalls erkannte und noch versuchte, die Barke zu wenden, um der Kollision auszuweichen oder sie zumindest abzumildern. Vergeblich. Der Bug der priesterlichen Barke bohrte sich bereits in ihre Seite. Der Stoß war so stark, daß Akhenati, die Krokodiljäger, die ihm zur Seite standen, und ein ganzes Dutzend anderer Männer über Bord gingen. Duncan, der sich innerlich auf den Zusammenstoß hatte vorberei ten können, versuchte den Stoß auszupendeln, verlor aber dennoch das Gleichgewicht und fiel ebenfalls über Bord, allerdings auf der anderen Seite des Bootes. Als er wieder an die Oberfläche kam, herrschte überall ringsum aufgeregtes Geschrei, in das sich immer wieder schmerzerfülltes Brüllen mischte. Die Krokodile hatten ihre ersten Opfer gefunden. Und alle übrigen Tiere, die noch am Ufer verweilt hatten, schlüpf ten nun ebenfalls wie auf ein gemeinsames Signal hin ins Wasser.
Doch damit des Unglücks noch nicht genug. Die führerlos gewordene, gerammte Barke schlingerte herum und prallte gegen das Boot des Pharaos. Zwar war der Aufprall bei weitem nicht so stark wie beim ersten Zusammenstoß, aber er reichte aus, die Barke heftig ins Schwanken zu bringen. Der Bootskörper pendelte nach links und rechts, und plötzlich war der thronartige Sessel auf dem Podest leer! »Der Pharao! Der Pharao!« ertönten entsetzte Stimmen. »Er ist über Bord gegangen!« Sofort stürzten sich einige der königlichen Bediensteten hinterher in die Fluten – teils in der Absicht, ihren Herrscher zurück an Bord zu ziehen, und teils, um sich selbst an seiner Stelle den Krokodilen zum Fraß anzubieten. Duncan hatte keine Gelegenheit zu verfolgen, ob diese Versuche von Erfolg gekrönt waren, denn gleich von mehreren Seiten strebten schlängelnd die Körper etlicher Krokodile auf ihn zu. Und dort, wo er sich gerade aufhielt, war er der einzige weit und breit im Wasser. Er kraulte auf die Barke zu, die ihm am nächsten war, und ver suchte sich an Bord zu ziehen. Doch dabei machte er einen verhängnisvollen Fehler. Denn er hat te sich die falsche Barke ausgesucht. Es war diejenige, die sie ge rammt hatte. Das Boot der Priesterschaft! Er hätte es sicherlich geschafft, rechtzeitig sicher an Bord zu kom men, doch da tauchte plötzlich der Hohepriester über ihm auf und versetzte ihm einen heftigen Tritt, der ihn zurück ins Wasser schleu derte. Prustend kam Duncan wieder an die Oberfläche.
»Jetzt wirst du bekommen, was du verdienst!« hörte er den Hohe priester über sich triumphierend kreischen. Duncan fuhr herum, um vielleicht noch rechtzeitig zu einem ande ren Boot zu kommen – und sah sich geradewegs dem aufgerissenen Maul eines Krokodils gegenüber, das nach seinem Kopf schnappte. Doch als es seine Zahnreihen nur noch zu schließen brauchte und er bereits mit seinem Leben abgeschlossen hatte, hielt es plötzlich inne und verharrte mit offenem Maul. Duncan glaubte zu spüren, daß es plötzlich unsicher geworden war, was für eine Art Beute es zu verschlingen gedachte. Er begriff, daß dies mit seiner jetzigen Daseinsform zusammenhing. Zwar merkte das Krokodil mit Sicherheit nicht, daß er keinen Schatten hatte, aber es spürte instinktiv, daß etwas an ihm anders war. Etwas, das es lieber eine andere Beute suchen ließ. Mit einer ruckhaften Bewegung fuhr die Bestie herum und ent fernte sich wieder von ihm, und auch die anderen herbeigeschwom menen Tiere machten einen Bogen um ihn. »Nein! Nein!« Der Hohepriester stolperte entsetzt zurück, als er mitansehen mußte, welch unglaublicher Vorgang sich vor seinen Augen abspielte. Dabei kam er ins Straucheln. Er ruderte wild mit den Armen um her, ohne das Gleichgewicht halten zu können, und plumpste plat schend in Wasser. »Zu Hilfe, zu Hilfe!« Seine schwere Robe behinderte seine Schwimmbewegung, und er tauchte kurz unter. »Warum hilft mir denn kei … Aargh!« Sein letztes Wort endete in einem Schrei. Das Krokodil, das eben noch Duncan verschmäht hatte, hatte eine bessere Beute gefunden. Und als es sie unter Wasser zog, erstarb der Schrei des Hohepries ters.
Duncan Luther schwamm zur Barke des Pharaos, ohne dabei von den anderen Krokodilen angegriffen zu werden. Ein paar schwam men kurz in seine Richtung, machten aber wieder kehrt, als sie merkten, daß mit dieser Beute irgend etwas nicht stimmte. Er zog sich an Bord der Barke des Pharaos und entdeckte eine dichte Traube von Menschen, die um irgend jemandem herumstan den. Duncan wollte sich Zugang verschaffen, als George Romano mit ernstem Gesicht auf ihn zukam. »Was ist mit dem Pharao?« fragte Duncan. »Ist er ein Opfer der Krokodile geworden?« »Nein, das nicht.« »Was ist dann mit ihm?« Romano preßte die Lippen aufeinander. »Er ist ganz einfach ertrunken.«
* Akhenati wurde in einer gewaltigen Krönungsfeier zum neuen Pha rao Amenophis IV. gekrönt. Die Zeremonie fand auf dem Platz des Ammon-Tempels statt, und die gesamte Stadt schien sich auf dem riesigen Areal versammelt zu haben, um der Feier beizuwohnen. Duncan Luther und George Romano hatten einen hervorragenden Platz inmitten der engsten Berater der königlichen Familie. Sie stan den unweit des Thrones, der auf einem Podest im Freien aufgebaut war und an dem eine endlose Prozession von Würdenträgern aus fremden Ländern vorbeizog, um dem neuen Pharao ihre Referenz zu erweisen und ihm kostbare Gastgeschenke zu überreichen.
Die Zeremonie dauerte nun schon seit Stunden an, als Duncan plötzlich wie unter einem Stromschlag zusammenzuckte und keu chend die Arme an den Leib preßte. Irgend etwas schien seine Ein geweide zerreißen zu wollen, und eine übermächtige Beklemmung breitete sich in ihm aus. Als der Schmerz endlich etwas nachließ und er wieder einigerma ßen klar sehen konnte, entdeckte er zu seinem Entsetzten, daß die Haut seiner Hände durchsichtig geworden zu sein schien. Er warf einen Blick zur Seite und entdeckte, daß es George Roma no nicht anders erging. Auch er hatte beide Arme an den Leib ge preßt, und sein Kopf war halb durchsichtig. Und ein Teil seiner Schulter verschwand für Sekunden fast vollständig. »Der dunkle Korridor!« stöhnte Duncan Luther. »Wir müssen zu rück!« Der Wesir des alten Pharaos, der in der Nähe stand, bemerkte ih ren Zustand und kam herbeigelaufen. »Was ist mich Euch? Was hat …« Seine Tonlage veränderte sich unvermittelt, und im nächsten Augenblick hörten Duncan und Ro mano nur noch unverständliches Kauderwelsch aus seinem Munde. »Wir müssen zurück in den Palast!« versuchte Duncan ihm zu er klären. »Schnell!« Der Wesir sah sie an, als würde er kein Wort verstehen. Duncan begriff, daß dies wahrscheinlich tatsächlich der Fall war. Der Effekt, der sie bislang in der Vergangenheit gehalten und für ihre Verständigung gesorgt hatte, ließ nach. Duncan Luther verspürte eine beklemmende Todesangst in sich. Die Angst, daß sie sich buchstäblich ins Nichts verflüchtigen wür den, wenn sie nicht sofort in den Tunnel zurückkehrten. Und er spürte instinktiv, daß diese Angst keineswegs unbegründet war.
»Hahlem be nachlet ibisi?« erreichte sie die fragende Stimme des Wesirs. »Me hammet ne …« Abermals veränderte sich sein Tonfall. »… für Euch tun kann, und ich werde es tun.« Duncan ergriff die Gelegenheit beim Schopfe. »Bringt uns zurück in den Palast«, sagte er. »Sofort! Der Zeitpunkt ist gekommen, da wir in unser Land zurückkehren müssen.« Es war dem Wesir zugute zu halten, daß er vermutlich zwar nicht begriff, was sich hier abspielte, aber dennoch augenblicklich handel te. Er winkte ein paar Begleitern zu. Zusammen mit ihnen geleitete er Duncan und Romano hinaus aus dem priesterlichen Areal hinunter zum Nil. Mit einer Barke setzten sie ans andere Ufer über. Der nächste Anfall war weitaus schwerer als der erste. Duncan schrie gepeinigt auf, und Romano, dem zusätzlich das Sonnenlicht zu schaffen machte, stürzte zu Boden. Da sie auf eigenen Beinen nicht mehr weiterkamen, rief der Wesir eine Sänfte herbei, auf der man sie zum königlichen Palast brachte. In einem der immer kürzer werdenden Momente zwischen den Anfällen, da eine Verständigung möglich war, erklärte Duncan ihm, in welchen Korridor sie gebracht werden sollten. Als sie den Palast erreichten, waren die Räume und Gänge dort fast menschenleer. Nur ein kleiner Teil der Dienerschaft hielt sich noch hier auf. Alle anderen Personen wohnten der Krönungszere monie auf der anderen Nilseite bei. Die Träger brachten die Sänfte direkt in den bezeichneten Korri dor. Mit ihrer Hilfe stiegen Duncan Luther und George Romano aus und hielten sich mit allerletzter Kraft schwankend auf den Beinen. Duncan Luther bedauerte, daß sie keine Gelegenheit mehr hatten,
sich von dem neuen Pharao zu verabschieden. Er trug dem Wesir auf, ihm noch einmal ihre besten Wünsche zu übermitteln. »Und nun laßt uns bitte allein«, bat er, ehe eine Verständigung wieder unmöglich wurde. »Wir müssen ungestört sein, um in unse re Heimat zurückzukehren.« Der Wesir nickte. Er gab den Sänftenträgern ein Zeichen, und zu sammen mit ihnen verließ er den Korridor. »Wo?« preßte Romano hervor, als sie allein waren. Duncan deutete auf die Wand direkt vor ihnen. Unsicher tappte er darauf zu und streckte zitternd die Hand aus, in der Furcht, die ge heimnisvolle Pforte im Stein könnte nun verschlossen sein. Aber diese Angst bewies sich als unbegründet. Seine Hand glitt leicht in den Stein hinein. Er spürte, wie ein neuer Anfall nahte – diesmal vielleicht der letzte –, und trat entschlossen nach vorn. Romano folgte ihm nur eine Sekunde später. Er schloß die Augen und warf sich regelrecht in die Wand hinein. Kurz darauf betrat der Wesir den Korridor. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, doch einen verstohlenen Blick um die Korridorwan dung auf das zu riskieren, was die beiden Fremden dort machten. Und mit geweiteten Augen hatte er zugesehen, wie sie einfach in der Mauer verschwunden waren. Sofort eilte er dorthin und tastete die Korridorwand an der betref fenden Stelle mit beiden Händen ab, doch so sehr er sich auch be mühte, seine Finger ertasteten nur harten und unnachgiebigen Stein. Die Wand war so undurchdringlich wie immer.
*
Als Akhenati, der neue Pharao, abends in seine Gemächer zurück kam, wurde er bereits erwartet. Die Müdigkeit und Mattheit, welche die anstrengende Zeremonie in ihm hinterlassen hatte, war mit einem Male wie weggeblasen, als er Nofretetes anmutige Gestalt auf sich zukommen sah. »Willkommen, Pharao«, begrüßte sie ihn lächelnd. Zärtlich nahm er sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Ein paar Ewigkeiten lang ergab er sich einfach nur ihrer Nähe, ehe er über ihre Schulter hinweg die anderen Gestalten sah, die sich im Hintergrund des Raumes aufhielten. Es handelte sich um eine Reihe festlich gekleideter Gestalten, die allesamt dieselbe unnahbare Kühle auszustrahlen schienen, die ihn auch an Nofretete so faszinierte. Eine der Personen kannte er sogar: Harlorkis, der Nomarch der nördlichen Provinz Maaza. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte er ihn vorhin noch bei den Krönungsfei erlichkeiten gesehen, wo dieser ihm ebenfalls seine Aufwartung ge macht hatte. Zu Harlorkis’ Füßen kniete eine entkleidete junge Frau mit kerzen gerade erhobenem Oberkörper. Ihre Hände waren auf den Rücken gebunden, und ein dunkles Tuch verdeckte ihre Augen. Am seltsamsten jedoch mutete eine festlich gekleidete Person an, in der sich sowohl männliche wie auch weibliche Wesenszüge ver einten. Akhenati spürte, daß sie eine ganz herausragende Rolle bei dem spielen würde, was auf ihn zukam. »Nun ist es also soweit?« fragte er, als er sich langsam wieder von Nofretete löste. Sie hatte seinen Blick bemerkt und sah sich ebenfalls um. »Ja«, sagte sie. »Jetzt werden all deine Träume wahr!« Sie nahm ihn bei der Hand wie ein kleines Kind und führte ihn auf die Gruppe zu.
Der Hüter trat vor und hob feierlich den Kelch, den er in den Hän den hielt. »Dies ist der Lilienkelch, der dich zu einem der unseren machen wird«, sagte der Hermaphrodit mit leiser, aber bestimmter Stimme. »Aus ihm wirst du das Blut dieses Mädchens trinken, und sobald es dein Inneres erfüllt, wirst du spüren, wie ein neues Leben dich durchdringt.« Der Nomarch trat vor und reichte dem neuen Pharao eine lange Klinge mit juwelenverziertem Griff. »Doch du mußt sie eigenhändig ihrer Bestimmung zuführen«, sag te Harlorkis. Akhenati nahm die Klinge entgegen und sah auf das Mädchen hinab, das auf dem Boden kniete. Sie machte einen geistesabwesen den, fast entspannten Eindruck, als ob sie unter Drogen gesetzt wor den war, um es ihr einfacher zu machen. Harlorkis ergriff ihr Haar und bog ihren Kopf zurück, so daß ihre Kehle freilag. Akhenati fühlte, wie er angesichts dessen, was von ihm verlangt wurde, unsicher wurde. Hilfesuchend blickte er zu Nofretete. Sie lächelte ihr geheimnisvolles, anmutiges Lächeln, für das er al les in der Welt getan hätte, und nickte ihm aufmunternd zu. Er straffte sich und sah den Hüter ernst an. »Ich werde es tun.«
* Epilog Kurze Zeit, nachdem Akhenati zum Pharao gekrönt wurde, nahm er
Nofretete (was soviel wie »Die Schöne ist gekommen« bedeutet) zu seiner Frau. Den Namen Amenophis IV. (»Ammon ist zufrieden«) legte er ab und nannte sich fortan Echnaton (»Das gefällt Aton«). Unter diesem Namen ging er als sogenannter Ketzerkönig in die ägyptische Geschichte ein. Er entmachtete die allmächtige Ammon-Priesterschaft und ließ überall im ganzen Reich die Symbole dieses Gottes ausmeißeln und entfernen – aus allen Tempeln, Gebäuden und Schrifttafeln. Er zog aus Theben fort und ließ sich an einer bis dahin völlig unbewohnten Stelle eine neue Hauptstadt namens Echtaton (»Der Horizont des Aton«) errichten, die er der Legende nach in den restlichen Jahren seines Lebens nie wieder verließ. Insgesamt regierte Echnaton siebzehn Jahre, ehe er starb – auf wel che Weise, ist bis heute unbekannt. Die letzten Porträts zeigen ihn als verzweifelte, tragische Gestalt. Unter seinem zweiten Nachfolger Tutenchaton (»lebendiges Ab bild des Aton«) wurden alle Veränderungen rückgängig gemacht: Der Regierungssitz wurde nach Theben zurückverlegt, die AmmonPriesterschaft wieder in ihre alten Ehren eingesetzt, alle ausgeschla genen Zeichen ersetzt, und der Pharao änderte seinen Namen in Tu tenchamon (»lebendiges Abbild des Ammon«). Dennoch gerieten Echnaton und seine außergewöhnlichen Taten nie in Vergessenheit – außer einer, die niemals niedergeschrieben oder in Bildern verewigt worden war. Echnaton ließ eine weitere, unterirdische und auf dem Kopf stehen de Pyramide errichten, die nicht als Grabmal, sondern als Gefängnis dienen sollte. Als Kerker für ein Wesen, das zehn Jahre nach seiner Krönung unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen herbeigebracht und in das Bauwerk eingeschlossen wurde. Den Baumeistern und Arbeitern wurde bei Höchststrafe untersagt, je über diese Vorgänge zu sprechen, und nach drei Generationen war auch die letzte Erin
nerung daran aus den Köpfen der Menschen getilgt. Ebenfalls in die Geschichte ging Nofretete ein, die geheimnisvolle Königin an Echnatons Seite. Sicher ist, daß sie ihn überlebt hat, doch über ihr weiteres Schicksal ist ebenso wenig bekannt wie darüber, wer sie war und woher sie gekommen ist. Sie verschwand wieder so spurlos aus der Geschichte, wie sie in sie hineingetreten war … ENDE
Der Hexer von Michael Schönenbröcher Er ist ein Suchender auf der Spur des Ewigen Lebens. Ein Reisender, dessen verwegene Abenteuer in fast jedes Land der Erde führten. Ein Wissender, der ein Geheimnis hütet, das die Welt, wie wir sie kennen, vernichten könnte. Und ein Sterbender, dem nicht mehr viel Zeit bleibt. Sein Leben währt seit nunmehr hundertsiebenunddreißig Jahren, doch seine Be stimmung hat sich noch nicht erfüllt. Er darf nicht sterben, denn nie mand ist da, um sein Erbe anzutreten. Der Vampirkeim gäbe ihm Zeit, aber auch Verdammnis. Es gibt nur zwei Wesen, die ihm helfen können. Eines ist die Halbvampirin Lilith Eden …